Gesundheitswissenschaften [1. Aufl. 2019] 978-3-662-58313-5, 978-3-662-58314-2

Dieses Referenzwerk bietet einen umfangreichen Überblick zu den zentralen Themen der Gesundheitswissenschaften. Die einz

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German Pages XIX, 837 [810] Year 2019

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Gesundheitswissenschaften [1. Aufl. 2019]
 978-3-662-58313-5, 978-3-662-58314-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIX
Front Matter ....Pages 1-1
Gesundheitswissenschaften – eine Einführung (Birgit Babitsch)....Pages 3-13
Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften (Annette Nauerth)....Pages 15-28
Grundlagen der Gesundheitspsychologie (Irmgard Vogt)....Pages 29-36
Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften (Nico Vonneilich, Olaf von dem Knesebeck)....Pages 37-47
Genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit (Heike Bickeböller)....Pages 49-57
Front Matter ....Pages 59-59
Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe (Steffen Schulz)....Pages 61-75
Quantitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung (Luzi Beyer)....Pages 77-89
Qualitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung (Heike Ohlbrecht)....Pages 91-102
Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften (Wolfgang Ahrens, Lothar Kreienbrock, Iris Pigeot)....Pages 103-117
Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften (Margarethe Woeckel, Regina Pickford, Alexandra Schneider)....Pages 119-131
Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung (Philipp Mayring)....Pages 133-141
Gesundheitsberichterstattung in Deutschland (Thomas Elkeles)....Pages 143-152
Front Matter ....Pages 153-153
Soziale Ungleichheit und Gesundheit (Thomas Lampert, Jens Hoebel, Benjamin Kuntz, Julia Waldhauer)....Pages 155-164
Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung (Simone Pfeffer)....Pages 165-176
Sozialkapital und Gesundheit (Susanne Hartung)....Pages 177-188
Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem (Wolfgang Seger)....Pages 189-199
Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse (Ines Buchholz, Bianca Biedenweg, Thomas Kohlmann)....Pages 201-211
Identität und Gesundheit (Renate Höfer, Florian Straus)....Pages 213-224
Gesellschaftliche Konstruktion von Gesundheit und Krankheit (Bettina Schmidt)....Pages 225-232
Soziale Online-Netzwerke und Gesundheit (Philip Adebahr, Peter Kriwy)....Pages 233-243
Front Matter ....Pages 245-245
Modelle von Gesundheit und Krankheit (Svenja Roch, Petra Hampel)....Pages 247-255
Gesundheits- und Risikokommunikation in den Gesundheitsberufen (Anne Reinhardt, Simone Jäger, Constanze Rossmann)....Pages 257-267
Gesundheitskompetenz (Nicole Ernstmann, Jochen Sautermeister, Sarah Halbach)....Pages 269-277
Zur Bedeutung der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin in den Gesundheitswissenschaften (Markus W. Haun, Till Johannes Bugaj)....Pages 279-287
Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten (Johann Carstensen)....Pages 289-296
Front Matter ....Pages 297-297
Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung (Sonia Lippke, Benjamin Schüz)....Pages 299-310
Bewältigung und Umgang mit chronischen Krankheiten (Karin Lange)....Pages 311-321
Ernährung und Gesundheit (Reinhard Pietrowsky)....Pages 323-332
Bewegung und Gesundheit (Eszter Füzéki, Winfried Banzer)....Pages 333-346
Stress und Gesundheit (Lena Werdecker, Tobias Esch)....Pages 347-359
Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen (Tatjana Crönlein)....Pages 361-373
Front Matter ....Pages 375-375
Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen (Monika Rausch)....Pages 377-389
Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung (Ulla Walter, Dominik Röding)....Pages 391-402
Prävention und Gesundheitsförderung in Settings und Lebenswelten (Kevin Dadaczynski)....Pages 403-412
Aufgaben und Bedeutung der Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen (Britta Wulfhorst)....Pages 413-422
Partizipation, Teilhabe und Gesundheit (Knut Tielking)....Pages 423-431
Apps in der digitalen Prävention und Gesundheitsförderung (Urs-Vito Albrecht, Ute von Jan)....Pages 433-441
Front Matter ....Pages 443-443
Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit (Tilman Brand)....Pages 445-456
Diversität und Gestaltbarkeit von Gesundheit und Krankheit im Alter (Stefan Pohlmann)....Pages 457-465
Diversität von Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendalter (Horst Hackauf, Gudrun Quenzel)....Pages 467-475
Behinderung und Gesundheit (Tanja Sappok)....Pages 477-485
Arbeitslosigkeit und Gesundheit (Karsten I. Paul, Andrea Zechmann)....Pages 487-496
Bildung und Gesundheit (Benjamin Kuntz, Julia Waldhauer, Claudia Schmidtke, Thomas Lampert)....Pages 497-515
Sozialraum und Gesundheit (Heike Köckler)....Pages 517-525
Migration und Gesundheit – Gestaltungsmöglichkeiten von Gesundheitsversorgung und Public Health in diversen Gesellschaften (Jacob Spallek, Maria Schumann, Anna Reeske-Behrens)....Pages 527-538
Front Matter ....Pages 539-539
Grundlagen der Versorgungsforschung (Neeltje van den Berg, Wolfgang Hoffmann)....Pages 541-545
Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen des deutschen Gesundheitssystems (Ralf Tebest, Andreas Bergholz, Stephanie Stock)....Pages 547-559
Ambulante Versorgungsleistungen (Dominik Graf von Stillfried)....Pages 561-585
Stationäre Versorgungsleistungen (Johannes Staender)....Pages 587-596
Versorgungsleistungen in der Rehabilitation (Franziska Becker, Matthias Morfeld)....Pages 597-608
Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in Deutschland (Frank Jacobi, Stefanie L. Kunas, Maria L. D. Annighöfer, Stefan Sammer, Thomas Götz, Gabriel Gerlinger)....Pages 609-626
Versorgungsleistungen in der Pflege (Elke Peters, Sascha Köpke)....Pages 627-641
Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide (Bernhard Borgetto, George S. Tomlin, Susanne Max, Melanie Brinkmann, Lena Spitzer, Andrea Pfingsten)....Pages 643-654
Front Matter ....Pages 655-655
Grundlagen der Gesundheitsökonomik (Steffen Flessa)....Pages 657-668
Gesundheitsökonomische Evaluation (Thomas Hammerschmidt)....Pages 669-680
Evidenzbasierung in den Gesundheitsberufen (Gabriele Meyer, Sascha Köpke)....Pages 681-687
Ethik im Gesundheitswesen (Marcel Mertz)....Pages 689-700
Public Health Ethik (Julia Inthorn, Lukas Kaelin, Christian Apfelbacher)....Pages 701-708
Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (Rainer Petzina, Kai Wehkamp)....Pages 709-723
Betriebliches Gesundheitsmanagement (Adelheid S. Esslinger)....Pages 725-734
Front Matter ....Pages 735-735
Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland (Dirk Sauerland)....Pages 737-747
Finanzierung der Gesundheitsversorgung (Stefan Greß)....Pages 749-760
Gesundheitsrecht (Peter Kostorz)....Pages 761-778
Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung (Michael Lauerer, Daniel Negele, Eckhard Nagel)....Pages 779-790
Entwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland und ihr Beitrag zu einer bedarfsorientierten Gestaltung des Gesundheitssystems (Heidi Höppner, Monika Zoege)....Pages 791-801
Professionalisierung und Handlungsfelder in den Gesundheitsfachberufen (Susanne Klotz)....Pages 803-811
Global Health – Entwicklung, Akteure und Herausforderungen (Silke Gräser)....Pages 813-818
Back Matter ....Pages 819-837

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Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit

Robin Haring  Hrsg.

Gesundheits­ wissenschaften

Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit

Aufgrund der voranschreitenden Akademisierung und des wachsenden Angebots an Studiengängen im Bereich Pflege-, Therapie- und Gesundheitswissenschaften wächst auch der Bedarf an relevanten Nachschlagewerken. Viele Studiengänge sind interdisziplinär aufgebaut und setzen fachgebietsübergreifendes Denken und Arbeiten voraus. Springer bietet für Studierende und Wissenschaftler dieser Fachgebiete nun Referenzwerke an, die dem akademischen Anspruch der Zielgruppe gerecht werden. Unser neues Publikationsangebot beinhaltet die Qualität, die man von Springer kennt, aber mit dem Vorteil, dass das Wissen ständig aktualisiert wird und die Leser immer auf dem neuesten Stand sind. Denn zusätzlich zum Buch bieten wir auch dynamische online Publikationen an. Der Vorteil der dynamischen online Publikationen liegt auf der Hand: Wer ein LiveReference abonniert, muss sein Bücherregal nicht in regelmäßigen Abständen erneuern – jetzt sind die Informationen jederzeit online abrufbar: schnell, übersichtlich und mobil. Zudem hat die neue Publikationsform den großen Vorteil, dass alle Kapitel, die fertig geschrieben und einem Peer-Reviewing unterzogen wurden, sofort online gestellt werden und für alle Leser sichtbar und vor allem zitierbar sind. Außerdem können unsere Autoren ihre Kapitel jederzeit aktualisieren – neue Erkenntnisse können dann sofort online publiziert werden. Springer Reference Pflege – Therapie - Gesundheit wächst kontinuierlich um neue Kapitel und Themen. Alle deutschsprachigen Referenzwerke – auch anderer Fächer – finden Sie unter www.springerreference.de. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit: Gesichertes Wissen auf dem neuesten Stand der Forschung. Weitere Bände in der Reihe: http://www.springer.com/series/15406

Robin Haring Hrsg.

Gesundheitswissenschaften mit 137 Abbildungen und 76 Tabellen

Hrsg. Robin Haring FB Angewandte Gesundheitswissenschaften Europäische Fachhochschule (EUFH) Rostock, Deutschland

ISSN 2522-820X ISSN 2522-8218 (electronic) Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit ISBN 978-3-662-58313-5 ISBN 978-3-662-58314-2 (eBook) ISBN 978-3-662-59304-2 (Bundle) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Dieses Referenzwerk bietet einen umfangreichen Überblick zu den zentralen Themen der Gesundheitswissenschaften. Es folgt dem Konzept von New Public Health, dass Gesundheit in komplexen Systemen multifaktoriell vermittelt und in individuellen Lebenskontexten subjektiv erfahren wird. Mit dem Ziel, die vielfältigen Disziplinen, Theorien und Methoden der Gesundheitswissenschaften darzustellen und zu integrieren, ist die Themenbreite entsprechend umfangreich angelegt. Eingeteilt in 10 Sektionen, mit mehr als 60 Kapiteln bietet das Referenzwerk eine ideale Grundlage für die Beschäftigung mit dem Thema Gesundheit. Die einzelnen Sektionen ermöglichen sowohl einen Überblick zu beteiligten Disziplinen, als auch einen gezielten Einstieg in spezielle Fachgebiete und -themen, wie zum Beispiel Grundlagen und Methoden der Gesundheitswissenschaften, Elemente der Gesundheitssoziologie und -psychologie, Strukturen der Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung oder die wichtigsten Anwendungsbereiche in Prävention, Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik. Berücksichtigt werden dabei die Mikro-Ebene der handelnden Akteure, die Meso-Ebene von Unternehmen und Organisationen sowie die Makro-Ebene von Gesundheitssystemen, Gesundheitspolitik und Global Health. Damit richtet sich das Referenzwerk an Studierende und Wissenschaftler gesundheitsbezogener Fächer, im Gesundheitswesen tätige Professionen sowie Experten der Gesundheitsberatung und -politik. Die Idee zu diesem Referenzwerk reicht zurück in meine Zeit als Post-Doc an der Boston University im Jahr 2010/2011 und der kontrastreichen Erfahrung der strukturellen Defizite der deutschen Public Health Landschaft. Seitdem ist es mir ein inneres Anliegen, die Lehre, Praxis und Wahrnehmung von Public Health in Deutschland zu stärken. Vor allem meine regelmäßigen Forschungsaufenthalte an der Monash University, School of Public Health and Preventive Medicine, eröffnen dazu den geschätzten Raum für einen lebendigen und gehaltvollen kollegialen Austausch. Auf dem Weg von der Idee bis zur Publikation möchte ich allen Autorinnen und Autoren dieses Referenzwerks herzlich für ihre wertvolle Expertise, ihr Engagement und ihre Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit danken. Ebenso gilt mein Dank dem Springer Verlag, der mit der Referenzwerkreihe Pflege – Therapie – Gesundheit von der Produktion über ein digitales Redaktionssystem und die umgehende Online-Bereitstellung gesetzter Beiträge bis zur selektiven Online-Verfügbarkeit von Einzelbeiträgen und deren kontinuierlicher Aktualisierung als Live Reference, neue Maßstäbe in der Fachliteratur der Gesundheitsberufe setzt. Besonders danken möchte ich dabei der Projektmanagerin Frau Sigrid Janke, für die hervorragende Zusammenarbeit und ihren außerordentlich hilfsbereiten, konstruktiven und freundlichen Einsatz. Der Kürze und besseren Lesbarkeit wegen, wird in der Regel die „männliche“ Form verwendet, wobei mit allen Formulierungen selbstverständlich immer Personen jeden Geschlechts gemeint sind.

V

VI

Vorwort

Ich wünsche dem vorliegenden Referenzwerk eine breite Leserschaft, die mit Freude den größtmöglichen Nutzen aus der Lektüre zu ziehen vermag, um die Inhalte und Relevanz von Public Health und den Gesundheitswissenschaften in die Zukunft zu tragen. Melbourne, im Frühjahr 2019

Robin Haring

Inhaltsverzeichnis

Teil I Grundlagen der Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1

Gesundheitswissenschaften – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Babitsch

3

2

Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . Annette Nauerth

15

3

Grundlagen der Gesundheitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmgard Vogt

29

4

Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften . . . Nico Vonneilich und Olaf von dem Knesebeck

37

5

Genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit . . . . Heike Bickeböller

49

Teil II

Methoden der Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe . . . . . . . Steffen Schulz

61

7

Quantitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung . . . . . . . Luzi Beyer

77

8

Qualitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung . . . . . . . . Heike Ohlbrecht

91

9

Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften . . . . . . . Wolfgang Ahrens, Lothar Kreienbrock und Iris Pigeot

103

10

Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margarethe Woeckel, Regina Pickford und Alexandra Schneider

119

Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mayring

133

11

12

Gesundheitsberichterstattung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Elkeles

Teil III 13

143

Gesundheitssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Soziale Ungleichheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Lampert, Jens Hoebel, Benjamin Kuntz und Julia Waldhauer

155

VII

VIII

14

Inhaltsverzeichnis

Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Simone Pfeffer

165

15

Sozialkapital und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Susanne Hartung

16

Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Seger

189

Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ines Buchholz, Bianca Biedenweg und Thomas Kohlmann

201

17

177

18

Identität und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Höfer und Florian Straus

213

19

Gesellschaftliche Konstruktion von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . Bettina Schmidt

225

20

Soziale Online-Netzwerke und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philip Adebahr und Peter Kriwy

233

Teil IV

Gesundheitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

21

Modelle von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Svenja Roch und Petra Hampel

247

22

Gesundheits- und Risikokommunikation in den Gesundheitsberufen . . . Anne Reinhardt, Simone Jäger und Constanze Rossmann

257

23

Gesundheitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Ernstmann, Jochen Sautermeister und Sarah Halbach

269

24

Zur Bedeutung der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin in den Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus W. Haun und Till Johannes Bugaj

25

Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Carstensen

Teil V

279 289

Gesundheitshandeln und -verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

26

Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung . . . . Sonia Lippke und Benjamin Schüz

299

27

Bewältigung und Umgang mit chronischen Krankheiten . . . . . . . . . . . . Karin Lange

311

28

Ernährung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Pietrowsky

323

29

Bewegung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eszter Füzéki und Winfried Banzer

333

30

Stress und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lena Werdecker und Tobias Esch

347

31

Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen . . . . . . . . Tatjana Crönlein

361

Inhaltsverzeichnis

IX

Teil VI

Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

32

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen . . . . Monika Rausch

377

33

Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . Ulla Walter und Dominik Röding

391

34

Prävention und Gesundheitsförderung in Settings und Lebenswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kevin Dadaczynski

403

Aufgaben und Bedeutung der Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Britta Wulfhorst

413

35

36

Partizipation, Teilhabe und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knut Tielking

423

37

Apps in der digitalen Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . Urs-Vito Albrecht und Ute von Jan

433

Teil VII

Diversität von Krankheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

443

38

Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tilman Brand

445

39

Diversität und Gestaltbarkeit von Gesundheit und Krankheit im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Pohlmann

457

Diversität von Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Hackauf und Gudrun Quenzel

467

40

41

Behinderung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanja Sappok

477

42

Arbeitslosigkeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karsten I. Paul und Andrea Zechmann

487

43

Bildung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benjamin Kuntz, Julia Waldhauer, Claudia Schmidtke und Thomas Lampert

497

44

Sozialraum und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Köckler

517

45

Migration und Gesundheit – Gestaltungsmöglichkeiten von Gesundheitsversorgung und Public Health in diversen Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jacob Spallek, Maria Schumann und Anna Reeske-Behrens

Teil VIII

527

Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung . . . . . . . . . . . .

539

46

Grundlagen der Versorgungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neeltje van den Berg und Wolfgang Hoffmann

541

47

Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen des deutschen Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralf Tebest, Andreas Bergholz und Stephanie Stock

547

X

Inhaltsverzeichnis

48

Ambulante Versorgungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominik Graf von Stillfried

561

49

Stationäre Versorgungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Staender

587

50

Versorgungsleistungen in der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franziska Becker und Matthias Morfeld

597

51

Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in Deutschland . . . . . . . Frank Jacobi, Stefanie L. Kunas, Maria L. D. Annighöfer, Stefan Sammer, Thomas Götz und Gabriel Gerlinger

609

52

Versorgungsleistungen in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Peters und Sascha Köpke

627

53

Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide . . . . . Bernhard Borgetto, George S. Tomlin, Susanne Max, Melanie Brinkmann, Lena Spitzer und Andrea Pfingsten

643

Teil IX

Gesundheitsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

655

54

Grundlagen der Gesundheitsökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Flessa

657

55

Gesundheitsökonomische Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Hammerschmidt

669

56

Evidenzbasierung in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Meyer und Sascha Köpke

681

57

Ethik im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcel Mertz

689

58

Public Health Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Inthorn, Lukas Kaelin und Christian Apfelbacher

701

59

Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen . . . Rainer Petzina und Kai Wehkamp

709

60

Betriebliches Gesundheitsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adelheid S. Esslinger

725

Teil X 61

Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Sauerland

737

62

Finanzierung der Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Greß

749

63

Gesundheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Kostorz

761

64

Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung . . . . . . . . Michael Lauerer, Daniel Negele und Eckhard Nagel

779

Inhaltsverzeichnis

XI

65

66

Entwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland und ihr Beitrag zu einer bedarfsorientierten Gestaltung des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidi Höppner und Monika Zoege

791

Professionalisierung und Handlungsfelder in den Gesundheitsfachberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Susanne Klotz

803

Global Health – Entwicklung, Akteure und Herausforderungen . . . . . . Silke Gräser

813

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

819

67

Der Herausgeber

Robin Haring Prof. Dr. rer. med. habil. Robin Haring, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Europäischen Fachhochschule (EUFH) und Adjunct Professor an der Monash University, School of Public Health and Preventive Medicine. Diplom-Studium der Demografie an der Universität Rostock (2006), Promotion mit Auszeichnung im Fach Epidemiologie an der Universitätsmedizin Greifswald (2010), Post-Doc in der Framingham Heart Study, Boston University (2010/2011), als Stipendiat der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Habilitation im Fach Epidemiologie an der Universitätsmedizin Greifswald (2013), Berufung Professur für Vergleichende Gesundheitswissenschaften an der EUFH (seit 2014), Berufung Adjunct Professor an der Monash University, School of Public Health and Preventive Medicine (seit 2016), Dekan des Hochschulbereichs Gesundheit an der EUFH (seit 2018). Gutachterliche Tätigkeit für zahlreiche nationale und internationale Fachzeitschriften, Stiftungen und Drittmittelgeber. Herausgeber von Themenbändern zur Evidenzbasierung und Digitalisierung der Gesundheitsversorgung, Autor populärwissenschaftlicher Sachbücher zu aktuellen Gesundheitsthemen bei Ullstein, C.H. Beck und Braumüller, Herausgeber des Major Reference Work „Handbook of Global Health“ bei SpringerNature.

XIII

Autorenverzeichnis

Philip Adebahr Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland Wolfgang Ahrens Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, Mathematik/Informatik, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Urs-Vito Albrecht Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Maria L. D. Annighöfer Psychologische Hochschule Berlin (PHB), Berlin, Deutschland Christian Apfelbacher Medizinische Soziologie, Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin, Fakultät Medizin, Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland Birgit Babitsch FB 8 – Humanwissenschaften, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland Winfried Banzer Institut für Sportwissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Franziska Becker Hochschule Magdeburg-Stendal, Stendal, Deutschland Neeltje van den Berg Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald, Deutschland Andreas Bergholz Universität zu Köln, Köln, Deutschland Luzi Beyer Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland Heike Bickeböller Institut für Genetische Epidemiologie, Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland Bianca Biedenweg Institut für Community Medicine, Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald, Deutschland Bernhard Borgetto HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/ Holzminden/Göttingen, Hildesheim, Deutschland Tilman Brand Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie - BIPS, Bremen, Deutschland Melanie Brinkmann Fachbereich Informatik, Fachrichtung Therapiewissenschaften, Hochschule Trier, Trier, Deutschland Ines Buchholz Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG), Hamburg, Deutschland Till Johannes Bugaj Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Johann Carstensen Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung GmbH, Hannover, Deutschland

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Tatjana Crönlein Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland Kevin Dadaczynski Fachbereich Pflege und Gesundheit, Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland Thomas Elkeles Hochschule Neubrandenburg, Neubrandenburg, Deutschland Nicole Ernstmann Forschungsstelle für Gesundheitskommunikation und Versorgungsforschung (CHSR), Klinik/Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Tobias Esch Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland Adelheid S. Esslinger Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland Steffen Flessa Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland Eszter Füzéki Institut für Sportwissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Gabriel Gerlinger Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, Deutschland Thomas Götz Landesbeauftragter für Psychiatrie, Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Berlin, Deutschland Silke Gräser Graeser Health Consulting, Oldenburg, Deutschland Stefan Greß Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland Horst Hackauf Institut für Soziologie, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich Sarah Halbach Forschungsstelle für Gesundheitskommunikation und Versorgungsforschung (CHSR), Klinik/Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Thomas Hammerschmidt Fakultät für Angewandte Gesundheits- und Sozialwissenschaften, Technische Hochschule Rosenheim, Rosenheim, Deutschland Petra Hampel Institute of Health, Nutrition, and Sport Sciences, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland Susanne Hartung Fachbereich Gesundheit Pflege Management, Hochschule Neubrandenburg, Neubrandenburg, Deutschland Markus W. Haun Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Jens Hoebel Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland Wolfgang Hoffmann Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald, Deutschland Renate Höfer Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), München, Deutschland Heidi Höppner Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland Julia Inthorn Zentrum für Gesundheitsethik, Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Hannover, Deutschland Frank Jacobi Psychologische Hochschule Berlin (PHB), Berlin, Deutschland

Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

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Simone Jäger Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland Lukas Kaelin Institut für Praktische Philosophie/Ethik, Katholische Privat-Universität Linz, Linz, Österreich Susanne Klotz Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Heike Köckler Hochschule für Gesundheit, Bochum, Deutschland Thomas Kohlmann Institut für Community Medicine, Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald, Deutschland Sascha Köpke Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck, Lübeck, Deutschland Peter Kostorz Fachbereich Gesundheit, FH Münster, Münster, Deutschland Lothar Kreienbrock Institut für Biometrie, Epidemiologie und Informationsverarbeitung, Tierärztliche Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Peter Kriwy Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland Stefanie L. Kunas Psychologische Hochschule Berlin (PHB), Berlin, Deutschland Benjamin Kuntz Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert KochInstitut, Berlin, Deutschland Thomas Lampert Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert KochInstitut, Berlin, Deutschland Karin Lange Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Michael Lauerer Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Sonia Lippke Department of Psychology and Methods; Health Psychology & Behavioral Medicine, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland Susanne Max AG Forschung Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Hildesheim, Deutschland Philipp Mayring Institut für Psychologie und Zentrum für Evaluation, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich Marcel Mertz Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Gabriele Meyer Medizinische Fakultät, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland Matthias Morfeld Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland Eckhard Nagel Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Annette Nauerth Interaktion 1, FH Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Daniel Negele Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Geltendorf, Deutschland

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Heike Ohlbrecht Institut für Gesellschaftswissenschaften, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Karsten I. Paul Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland Elke Peters Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck, Lübeck, Deutschland Rainer Petzina MSH Medicalschool Hamburg, Hamburg, Deutschland Simone Pfeffer Technische Hochschule Nürnberg GSO, Nürnberg, Deutschland Andrea Pfingsten Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften, Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg, Regensburg, Deutschland Regina Pickford Helmholtz Zentrum München-Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Neuherberg, Deutschland Reinhard Pietrowsky Abteilung Klinische Psychologie, Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Iris Pigeot Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, Mathematik/ Informatik, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Stefan Pohlmann Hochschule für Angewandte Wissenschaften, München, Deutschland Gudrun Quenzel Institut für Bildungssoziologie, Pädagogische Hochschule Vorarlberg, Feldkirch, Österreich Monika Rausch Kath. Klinikum, Koblenz Montabaur, Deutschland Anna Reeske-Behrens Prävention und Gesundheitsförderung, Landeszentrum Gesundheit NRW, Bochum, Deutschland Anne Reinhardt Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland Svenja Roch Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland Dominik Röding Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Constanze Rossmann Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland Stefan Sammer Psychologische Hochschule Berlin (PHB), Berlin, Deutschland Tanja Sappok Königin Elisabeth Herzberge, Evangelisches Krankenhaus, Berlin, Deutschland Dirk Sauerland Lehrstuhl für Institutionenökonomik und Gesundheitspolitik, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland Jochen Sautermeister Katholisch-Theologische Fakultät, Moraltheologisches Seminar, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland Bettina Schmidt Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum, Deutschland Claudia Schmidtke Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert KochInstitut, Berlin, Deutschland Alexandra Schneider Helmholtz Zentrum München-Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Neuherberg, Deutschland

Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

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Steffen Schulz FB Angewandte Gesundheitswissenschaften, EUFH Campus Rostock, Rostock, Deutschland Maria Schumann Determinanten der Gesundheit (FG28), Robert Koch-Institut, Berlin, Deutschland Benjamin Schüz Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Wolfgang Seger Wennigsen, Deutschland Jacob Spallek Fachgebiet für Gesundheitswissenschaften, Institut für Gesundheit, Brandenburgische TU Cottbus-Senftenberg, Senftenberg, Deutschland Lena Spitzer Klinik für Neurologie, Sektion Klinische Kognitionsforschung, Uniklinik RWTH Aachen, Aachen, Deutschland Johannes Staender Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland Dominik Graf von Stillfried Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, Deutschland Stephanie Stock Universitätsklinikum Köln, Köln, Deutschland Florian Straus Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), München, Deutschland Ralf Tebest Institut für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie, Universitätsklinikum Köln, Köln, Deutschland Knut Tielking Hochschule Emden/Leer, Emden, Deutschland George S. Tomlin School of Occupational Therapy, University of Puget Sound, Tacoma, USA Irmgard Vogt Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main, Deutschland Ute von Jan Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Olaf von dem Knesebeck Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Nico Vonneilich Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland Julia Waldhauer Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert KochInstitut, Berlin, Deutschland Ulla Walter Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland Kai Wehkamp MSH Medicalschool Hamburg, Hamburg, Deutschland Lena Werdecker Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland Margarethe Woeckel Helmholtz Zentrum München-Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Neuherberg, Deutschland Britta Wulfhorst Health Education, MSH Medical School Hamburg, Hamburg, Deutschland Andrea Zechmann Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland Monika Zoege Diakovere Fachschulzentrum Gesundheitsberufe, Hannover, Deutschland

Teil I Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Gesundheitswissenschaften – eine Einführung

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Birgit Babitsch

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Was ist Public Health? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Welche zentralen Grundannahmen hat Public Health? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 4.1 4.2 4.3 4.4

Welche Fragestellungen und Vorgehensweisen finden sich in Public Health? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beschreibung der Verteilung von Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Identifikation von Einflussfaktoren auf die Gesundheit (resp. Krankheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung bzw. die Evaluation von gesundheitsbezogenen Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gestaltung gesellschaftlicher Systeme im Sinne gesunder Lebenswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wie forscht und arbeitet man in Public Health? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Was kann man mit Public Health erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

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Wo liegen die Stärken und Schwächen von Public Health? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

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Wozu muss Public Health zukünftig beitragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

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Einleitung

Blickt man mit einer Public Health Perspektive auf die täglichen Nachrichten, so wird einem die Vielzahl der Public Health relevanten Themen und ihre Durchdringung des Alltages bewusst. Neben offensichtlichen Beiträgen zur Gesundheit und zur Gesundheitsversorgung, bestehen auch zu anderen Themenbereichen, wie der Altersarmut, dem Klimawandel, den Agrarsubventionen oder dem Dieselfahrverbot, direkte und unmittelbare Bezüge zu den in Public Health bearbeiteten Fragestellungen. Allerdings gelingt es nur speziell Qualifizierten und Interessierten bei letztgenannten wie auch bei vielen anderen Themen, die Perspektive der Gesundheit in allen Facetten mitzudenken. Hieran wird exemplarisch die Problematik deutlich, dass, obgleich sich

B. Babitsch (*) FB 8 – Humanwissenschaften, Institut für Gesundheitsforschung und Bildung, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]

die Public Health Community in den letzten Jahren in Deutschland deutlich vergrößert hat, die Verankerung von Public Health in der Bevölkerung und im gesellschaftlichen Diskurs sowie in den administrativen und politischen Entscheidungsstrukturen bis dato noch nicht zufriedenstellend gelungen ist. Aktuell stehen national wie international Fragen auf der gesellschaftlichen und politischen Agenda, die als Folgen, der sich in der Moderne entwickelnden Gesellschaften, zu betrachten sind und Kernthemen von Public Health berühren, wie u. a. den demografischen Wandel, den Infrastrukturwandel, die Prävention und Kuration von chronischen Erkrankungen, die nachhaltige und personzentrierte Gesundheitsversorgung sowie die technologische und digitale Transformation. Wie würde man sich diesen Feldern aus der Public Health Perspektive nähern? Auf eine Kurzformel gebracht: beschreibend, analysierend und intervenierend. Die Beschreibung der Verteilung und der Entwicklung von Gesundheit und Krankheit in Bevölkerungen einschließlich der gesundheitsrelevanten Einflussfaktoren (Expositionen) stellt eine zentrale Aus-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_2

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gangslage in Public Health dar. Bezogen auf die oben genannten Herausforderungen wären u. a. folgende Fragen von Public Health Relevanz: Wie verändert sich das Krankheitspanorama in einer alternden Gesellschaft? Wie verbreitet sind Risikofaktoren für das Auftreten bestimmter Erkrankungen? Wie häufig werden neue Technologien genutzt? Angestrebt wird dabei, ein möglichst präzises und detailliertes Bild zu Gesundheits- und Krankheitsphänomenen in Bevölkerungen sowie deren zeitliche Trends zu erhalten, diese zu bewerten und angemessene Schlussfolgerungen abzuleiten. Obgleich zentrale Hinweise für die Entwicklung von Public Health Strategien damit vorliegen, können diese jedoch erst wirksam werden, wenn zugrunde liegende Wirkmechanismen verstanden sind. Entsprechend werden in Public Health umfangreiche Analysen durchgeführt, auf deren Basis u. a. Wirkzusammenhänge zwischen Expositionen und Gesundheit bzw. Krankheiten sowie Erkenntnisse zur Beurteilung gesundheitlicher Interventionen ermittelt werden. In Bezug auf die oben genannten Themenfelder ließen sich folgende Fragen exemplarisch anführen: Wie kann gesundes Altern gelingen? Welche gesundheitlichen Effekte hat die Nutzung sozialer Medien? Wie partizipativ sind Entscheidungsstrukturen in der gesundheitlichen Versorgung? Wie effektiv ist das zu beurteilende Angebot gesundheitlicher Versorgung? Public Health zielt neben der Wissensgenerierung auch auf die Gestaltung und Veränderung unterschiedlicher Lebensund Versorgungsbereiche. Interventionen können damit zu Recht als zentrales Handlungsfeld von Public Health betrachtet werden. Abgeleitet werden Interventionen aus dem aktuellen Forschungsstand und bestmöglich unter Einbeziehung wissenschaftlicher Theorien und Konzepte. Für die oben genannten Schwerpunkte wären folgende Fragen abzuleiten: Wie können ältere Menschen dabei unterstützt werden, ihre Mobilität bis ins hohe Alter aufrechtzuerhalten? Wie müssten Gemeinden und Kommunen gestaltet werden, dass sie zu einem Leben in Gesundheit und Wohlbefinden beitragen? Wie können neue digitale Technologien genutzt werden, dass sich die Gesundheitskompetenz bei Einzelnen, in bestimmten Bevölkerungsgruppen bzw. in der Bevölkerung erhöht? Bereits die wenigen aufgeführten Fragen geben einen ersten Einblick in die in Public Health relevanten Fragestellungen und stecken zugleich die Breite der inhaltlichen Themenfelder und die potenziellen Herangehensweisen zu deren Bearbeitung ab. Dies soll nun im Rahmen des Kapitels vertieft und der Gegenstandsbereich von Public Health detailliert werden. Hierzu werden einfache W-Fragen genutzt, die die einzelnen Abschnitte strukturieren. Beginnend mit einer Darstellung der theoretisch-konzeptionellen Annahmen, folgen Ausführungen zur methodischen Vorgehensweise in der Public Health Forschung und Praxis. Abgerundet wird dieses Kapitel durch einen Ausblick, der sowohl zentrale Entwicklungslinien als auch zukünftige Herausforderungen umfasst.

B. Babitsch

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Was ist Public Health?

Zu Public Health als Gegenstand liegen unterschiedliche Definitionen vor. Als weithin akzeptierte Definitionen werden die Ausführungen von Winslow (1920, S. 30) und des Acheson Report (Acheson 1988), die auch von der WHO rezipiert wurde (WHO Europe 2018), betrachtet: " Definition Public Health (Winslow) „Public Health is the

science and the art of preventing disease, prolonging life, and promoting physical health and efficiency through organized community efforts for the sanitation of the environment, the control of community infections, the education of the individual in principles of personal hygiene, the organization of medical and nursing service for the early diagnosis and preventive treatment of disease, and the development of the social machinery which will ensure to every individual in the community a standard of living adequate for the maintenance of health.“ (Winslow 1920, S. 30). " Definition Public Health (Acheson) „Public health is the

science and art of preventing disease, prolonging life, and promoting health through the organized efforts of society.“ (Acheson 1988). Deutlich wird dabei der Anspruch, der sich in der Differenzierung von „science“ und „art“ ausdrückt, dass Public Health über eine ausschließliche Generierung von empirischen Ergebnissen hinausgeht, indem die Nutzung derselben zur Ableitung und Umsetzung von Interventionen, die der Verbesserung der Gesundheit dienen, ebenso konstitutiv ist. Allerdings würde eine Einordnung von Public Health als ausschließlich anwendungsbasiert zu kurz greifen, und die Forschungsansätze, die zu einem grundlegenden Verständnis Public Health relevanter Sachverhalte beitragen, außer Acht lassen, wenngleich der Beitrag zur Theorieentwicklung im Umfang deutlich geringer ausgeprägt ist, was zugleich ein Manko in Public Health darstellt. In den Public Health Definitionen von Detels und Breslow (2002, S. 3) sowie der American Public Health Association (APHA 2018) werden zudem der Kontextbezug und der gesellschaftspolitische Auftrag sowie die spezifische Rolle von Public Health im Gesundheitssystem auch in Abgrenzung zur Medizin herausgestellt: " Definition Public Health (Detels und Breslow) „Public

health is the process of mobilizing and engaging local, state, national, and international resources to assure the conditions in which all people can be healthy.“ (Detels und Breslow 2002, S. 3).

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Gesundheitswissenschaften – eine Einführung

" Definition Public Health (APHA) „Public health promotes

and protects the health of people and the communities where they live, learn, work and play. While a doctor treats people who are sick, those of us working in public health try to prevent people from getting sick or injured in the first place. We also promote wellness by encouraging healthy behaviors.“ (APHA 2018). Die aufgeführten Definitionen umspannen zugleich nahezu ein Jahrhundert der Auseinandersetzung um und der Profilierung von Public Health. Standen bei Winslow (1920) noch die Hygiene- und Umweltbedingungen im Vordergrund (Kolip 2002), so sind für die jüngeren Definitionen der Systembezug sowie die Gestaltung gesunder Lebenskontexte maßgeblich. Begrifflich lässt sich diese Entwicklung auch mit dem Wandel von „Old Public Health“ zu „New Public Health“ fassen (siehe z. B. Rosenbrock 2001; Hurrelmann et al. 2012), der auch Auswirkungen auf ein weiteres Kernmerkmal von Public Health, der Multidisziplinarität, hat. So haben sich mit dem Paradigmenwechsel von Old zu New Public Health auch die Bezugsdisziplinen, die sich grundlegend in „zwei wissenschaftlichen Denktraditionen, dem medizinisch-naturwissenschaftlichen und dem verhaltensund sozialwissenschaftlichen Paradigma“ (Hurrelmann 1999 zit. in Hurrelmann et al. 2012, S. 32) zuordnen lassen, verändert und deutlich erweitert. Waren es bei Old Public Health in den Vereinigten Staaten von Amerika primär die Prävention, die Epidemiologie, die Hygiene und die Mikrobiologie, so kamen bei New Public Health weitere Einzeldisziplinen wie die Sozial- und Umwelthygiene, Gesundheitssystemforschung und die Versorgungsforschung hinzu (Hurrelmann et al. 2012). Schwartz und Walter (1996) nehmen eine etwas andere Zuordnung der Einzeldisziplinen zu Old und New Public Health vor, indem sie bspw. die Soziologie und Psychologie bereits in Old Public Health als relevante Einzeldisziplinen benennen; auch ist der Kanon für New Public Health mit u. a. der Ökonomie und den Politikwissenschaften umfangreicher. Heute kennzeichnet die (New) Public Health Forschung und Praxis eine breite Basis an Einzelwissenschaften von den Sozial-, Gesellschafts-, Bildungs-, Erziehungs-, Organisationsund Wirtschaftswissenschaften, der Medizin und den Naturwissenschaften bis hin zu den Umwelt- und Agrarwissenschaften (siehe auch Schwartz und Walter 1996). Diese Erweiterung ist nicht nur eine Konsequenz der theoretisch-konzeptuellen und methodischen Entwicklungen in Public Health, sondern auch ein Spiegel der sich für die Gesundheit von Bevölkerungen wandelnden Anforderungen. Entsprechend war Old Public Health vordergründig an einer Gefahrenabwehr für die Gesundheit der Bevölkerung durch gezielte Maßnahmen der Prävention und medizinisch orientierten Intervention ausgerichtet, im Unterschied zu New Public Health, bei der soziale Determinanten der Gesundheit, die Gesundheitsförderung und

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damit einhergehend die Lebenswelten als Ort der Herstellung von Gesundheit sowie die an der Gesundheit von Bevölkerungen orientierte Gestaltung des Gesamtsystems adressiert werden. Auch lassen sich hinsichtlich der in Old bzw. in New Public Health primär adressierten Zielgruppen Differenzen ausmachen: wird bei Erstgenanntem der Fokus auf vulnerable Problemgruppen gelegt, so steht die gesamte Bevölkerung und die politische Steuerung bei Letztgenanntem im Zentrum (Schwartz und Walter 1996). Intensiv wurde im Rahmen des Aufbaus von Public Health in Deutschland die Frage diskutiert, ob Public Health konstitutiv als inter- oder multidisziplinär zu charakterisieren ist. Grundlegend stützt sich die Unterscheidung dabei auf die Art des Zusammenwirkens der unterschiedlichen Disziplinen und dem zu erreichenden Ziel der Kooperation. Während bei der multidisziplinären Zusammenarbeit die unterschiedlichen Disziplinen eher parallel an Fragestellungen arbeiten und punktuell ihren Erkenntnisgewinn in die gemeinsame Forschungs- bzw. Projektarbeit hineintragen, sind bei der interdisziplinären Zusammenarbeit gemeinsame Ziele und Fragestellungen sowie eine übergreifende Methodik zu finden. Letztgenanntes setzt einen intensiven Dialog zu den unterschiedlichen Grundannahmen und konzeptuell-methodischen Vorgehensweisen voraus, was in Anbetracht der zahlreichen und sehr heterogenen Bezugsdisziplinen in Public Health herausfordernd ist. Vor diesem Hintergrund wird Public Health als Multidisziplin verstanden, deren Forschung und Praxis sowohl interdisziplinäre als auch multidisziplinäre Forschungs- und Praxiszugänge aufweist. Neben dem Begriff Public Health findet sich in Deutschland auch der Begriff der Gesundheitswissenschaften, der in der Regel synonym genutzt wird (Hurrelmann et al. 2012). Gesundheitswissenschaften werden dabei von Hurrelmann et al. (2012, S. 16) definiert als: " Definition Gesundheitswissenschaften „. . . ein Ensem-

ble von wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die auf einen gemeinsamen Gegenstandsbereich gerichtet sind, nämlich die Analyse von Determinanten und Verläufen von Gesundheits- und Krankheitsprozessen und die Ableitung von bedarfsgerechten Versorgungsstrukturen und deren systematische Evaluation unter Effizienzgesichtspunkten.“ (Hurrelmann et al. 2012, S. 16). " Public Health ist definiert als Multidisziplin, bei der Gesundheit von Bevölkerungen in Forschung und Praxis im Vordergrund stehen. Mit dem Übergang von Old zu New Public Health haben sich die Ansatzpunkte und die beteiligten Einzeldisziplinen erweitert. Wesentlich ist der Bezug auf die sozialen Determinanten der Gesundheit sowie auf die Gestaltung von gesundheitsförderlichen Lebenskontexten und Systemen.

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B. Babitsch

Welche zentralen Grundannahmen hat Public Health?

Bereits in der Definition werden zentrale Grundannahmen von Public Health deutlich, von denen eine Auswahl im Folgenden näher vorgestellt werden soll. Im Mittelpunkt stehen dabei zunächst der Bevölkerungsbezug und das Konstrukt Gesundheit sowie deren Verknüpfung. Diesbezüglich sind weitere zentrale Begriffe zu klären, wie die Adressatenorientierung, die gesundheitliche Chancengleichheit, das Empowerment und die Partizipation sowie die Verhaltensund Verhältnisorientierung, die gesundheitlichen Ressourcen bzw. Risiken sowie die Lebenswelten. Public Health fokussiert auf Bevölkerungen und unterscheidet sich damit von der auf Individuen zentrierten Medizin und Psychologie. Ziel ist es, wie die Definitionen von Public Health deutlich machen, den Gesundheitszustand in der Bevölkerung gegenwärtig und bestmöglich auch zukünftig einschätzen und folgerichtige Ansätze zur Verbesserung der Gesundheit in der Bevölkerung ableiten zu können. Hierdurch können kollektive Muster in Gesundheit und Krankheit erfasst und bewertet, für diese relevante Einflussfaktoren identifiziert und eine an der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Bevölkerung orientierte Gesamtstrategie entwickelt werden. Die Perspektive auf Gesundheit ist die einer Querschnittsaufgabe, die sämtliche Lebensbereiche und damit als Gegenstand alle gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozesse tangiert. Konzeptuelle Ansätze und Umsetzungsstrategien liegen hierzu vor, wie z. B. „Health in All Policies“ bzw. „Gesundheit 2020“ (WHO Europe 2013a; WHO 2013, 2015). Folglich ist auch die Auseinandersetzung zum Verständnis von Gesundheit ein zentrales Anliegen von Public Health. Gesundheit wird als komplexes Phänomen mit körperlichen, physischen, seelischen und sozialen Komponenten verstanden. Wichtige Orientierungspunkte sind die Gesundheitsdefinition der WHO (1948) und der Ansatz der Salutogenese von Antonovsky (1987). Eine verbindliche Gesundheitsdefinition liegt für Public Health jedoch nicht vor, so dass sich in der Literatur unterschiedliche Bezüge finden, die jedoch zentrale Kernmerkmale miteinander teilen. In der WHO-Strategie „Gesundheit 2020“ wird neben der Gesundheit parallel auch das Wohlbefinden als wichtiges zu erreichendes Ziel gesetzt (WHO Europe 2013a, b). Der Bezug auf das Wohlbefinden besteht bereits in der Gesundheitsdefinition der WHO (1948), ohne jedoch näher bestimmt zu werden. Im Rahmen der WHO-Strategie „Gesundheit 2020“ wurde nun eine Schärfung des Begriffs „Wohlbefinden“ vorgenommen und Instrumente zur Messung vorgelegt. „Well-being“ wird dabei im Deutschen mit zwei Begriffen, dem „Wohlbefinden“ für die Ebene des Individuums und dem „Wohlergehen“ für die Ebene der Gesellschaft, übersetzt (WHO Europe 2013b). Beim Wohlbefinden werden eine subjektive und eine objektive Dimension unterschieden (WHO Europe 2013b, S. 2).

Zur Umsetzung der Public Health inhärenten Zielsetzungen und Anforderungen bedarf es konkreter theoretisch-konzeptioneller Ansätze, die auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werden bzw. nutzbar sind. Als übergeordnete Leitidee lässt sich der Anspruch, einen Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit zu leisten, verstehen. Entsprechend setzt sich Public Health mit seinen Methoden und Interventionen dafür ein, diese in Bevölkerungen zu erhöhen. Gesundheitliche Chancengleichheit geht dabei grundlegend davon aus, dass aus ungleichen Lebensbedingungen in Bevölkerungen, ungleiche Möglichkeiten, ein Leben in Gesundheit zu verbringen, resultieren (Babitsch 2005; Richter und Hurrelmann 2009). Diese Benachteiligung zeigt sich unabhängig von individuellen Dispositionen, da sie aus einem gesellschaftlichen Mechanismus der Ungleichheit resultiert. Kaum ein Befund kann wissenschaftlich als so abgesichert betrachtet werden, wie der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit, der in der Mehrzahl gesundheitlicher Outcomes auf eine Schlechterstellung von sozial Benachteiligten verweist. Jedoch ist der soziale Status nur ein Aspekt, der gesundheitliche Ungleichheiten bedingt; weitere sind bspw. der kulturelle Hintergrund und das Geschlecht. Um die gesetzten Ziele zu erreichen, werden die unterschiedlichen Lebensbedingungen und Lebenskontexte und ihre Bedeutung für die Gesundheit in den Fokus von Public Health gestellt. Dies findet u. a. seinen Ausdruck in der Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung von 1986 (WHO Europe 1986), die als Begründungsdokument der Gesundheitsförderung gilt und zu einem Paradigmenwechsel in der Prävention von Erkrankungen geführt hat. Gesundheitsförderung wird dabei als Prozess verstanden, mit dem Ziel „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. (. . .) In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel.“ (WHO Europe 1986). Hervorzuheben ist die explizite Bezugnahme auf die Lebenswelten von Menschen, die Gesundheit als Querschnittsaufgabe im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verortung begründet, und damit einen konzeptuellen Rahmen schafft, der fortan als konstitutiv für Public Health zu betrachten ist. Settings stehen dabei für die unterschiedlichen Lebensorte von Menschen, die dazu beitragen können, ein gesundes Leben zu führen. Der Gestaltung dieser Settings kommt damit eine zentrale Rolle zu, da sie unabhängig von individuellen Interessen und Möglichkeiten, gesundheitliche Risiken reduzieren und gesundheitsrelevante Ressourcen fördern können. Alternativ wird auch der Begriff der Lebenswelten genutzt, der je nach theoretischem Hintergrund sich definitorisch vom Begriff Setting unterscheidet; allerdings ist kritisch festzuhalten, dass diesbezüglich keine begriffliche Stringenz in der einschlägigen Literatur besteht (Dadaczynski et al. 2018).

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Gesundheitswissenschaften – eine Einführung

Die Ressourcenorientierung, das Empowerment und die Partizipation wurden ebenfalls in der Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung benannt und kennzeichnen wichtige Strategien von Public Health (WHO Europe 1986). Gesundheitliche Ressourcen, die eine prominente Bedeutung in verschiedenen Modellen zur Gesundheit wie bspw. die Salutogenese (Antonovsky 1987) haben, sind ein zentraler Referenzpunkt in Public Health. Ressourcen sind zu verstehen, als Expositionen, die eine direkte positive Wirkung auf die Gesundheit bzw. eine indirekte oder puffernde Wirkung auf die im Leben vorhandenen Stressoren haben. Ressourcen wurden zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, aus denen z. T. umfangreiche theoretische Konzepte, wie z. B. zur sozialen Unterstützung, hervorgingen. Ziel des Empowerments ist es, Einzelne, Bevölkerungsgruppen und Bevölkerungen zu befähigen, sich selbst für ihre Belange einsetzen und ihr Leben selbst gestalten zu können (Brandes und Stark 2016). Dies setzt voraus, dass im Dialog mit den Adressaten, spezifische Voraussetzungen für ihr Empowerment ermittelt und Möglichkeiten zur Umsetzung bereitgestellt werden. In der Gesundheitsförderung ist das Empowerment eine der Schlüsselstrategien (siehe z. B. Rosenbrock 1998; Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2017). Ein weiteres zentrales Leitprinzip ist die Partizipation. Nicht nur in der Gesundheitsförderung, sondern auch in der Forschung finden sich zunehmend Ansätze der Beteiligung von Adressaten, wie z. B. dem Ansatz der „user-led research“ (siehe z. B. Involve 2018). Nach Wright et al. (2007) lassen sich neun Stufen der Partizipation differenzieren und erst auf den höheren Stufen kann von einer „wahren“ Beteiligung der Adressaten gesprochen werden. Dies impliziert eine kritische Reflexion der Rollen der „Laien“ und der „Professionellen“ und der damit verbundenen Definitionsmacht. Konkret: Wer entscheidet, was wem/welcher Gruppe für seine/ihre Gesundheit gut tut? Wer entscheidet, was richtig bzw. falsch ist und was gemacht wird/werden soll? (Babitsch et al. 2018b) Wichtige Handlungsimpulse bzw. Umsetzungsstrategien ergeben sich aus dem Bevölkerungsbezug, der Adressatenorientierung sowie aus einer auf das Verhalten und/oder die Verhältnisse bezogene Intervention. Durch den dezidierten Bevölkerungsbezug gelingt es, Verteilungsmuster in Bezug auf relevante Merkmale der Gesundheit erkennen und in ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung einschätzen zu können. Dabei gilt es, die Bevölkerungen in ihrer Zusammensetzung, bspw. nach Alter und Geschlecht oder auch nach gesundheitlichen Bedarfen bzw. Risiken, zu differenzieren, um ein möglichst genaues Verständnis prioritärer Handlungsanforderungen zu erlangen und mit geeigneten Maßnahmen zu flankieren. Dies stellt auch die Grundlage für eine gelingende Adressatenorientierung dar, die als Gegenstück eines Gießkannenprinzips verstanden werden kann, ohne dass hierdurch jegliche bevölkerungsweiten Maßnah-

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men ausgeschlossen werden. Eine schlichte Reduktion auf die Identifikation von Subgruppen würde der Adressatenorientierung jedoch in keiner Weise gerecht werden, da diese implizit auch die Berücksichtigung der Interessen und bestmöglich die Beteiligung der Adressaten umfasst. Veränderungen in der Gesundheit von Bevölkerungen lassen sich durch Interventionen erreichen. Dabei können die Interventionen sich primär auf das Verhalten des Einzelnen bzw. von Subgruppen oder sich primär auf die konkreten Lebensverhältnisse, wie bspw. dem Stadtteil, beziehen. Im ersten Fall spricht man von verhaltensbezogenen und im zweiten Fall von verhältnisbezogenen Interventionen. Letztgenanntes wurde bereits in der Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung (WHO Europe 1986) als konstitutives Element aufgenommen. Darin heißt es: „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“ (WHO Europe 1986). Seitdem hat eine intensive Auseinandersetzung zu den Voraussetzungen und Anforderungen sowie zur Realisierung gesunder Settings („healthy settings“) stattgefunden, wie z. B. „Gesunde Städte“, „Gesunde Kommunen“, „Betriebliche Gesundheitsförderung“ und „Gesunde Schule“ (WHO 2018). Die Bedeutung verhältnisbezogener Interventionen für die Gesundheit in Bevölkerungen gilt als unbestritten, gleichwohl dominieren in der Umsetzung bis dato verhaltensbezogene Ansätze (Präventionsbericht 2017). Die Gründe hierfür sind vielfältig (Babitsch et al. 2016, 2018a). " Zentrale Komponenten für die Public Health Forschung und Praxis sind: der Bevölkerungs- und der Kontextbezug, der zu einer spezifischen Ausformung der Public Health Strategien beiträgt. Dabei spielt die Beteiligung und die Befähigung von Menschen und Systemen eine ebenso große Rolle wie die nachhaltige Gestaltung von gesunden Lebenswelten. Inzwischen liegen umfangreiche Erkenntnisse und Umsetzungsbeispiele vor.

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Welche Fragestellungen und Vorgehensweisen finden sich in Public Health?

Kennzeichnend für die Vorgehensweisen in Public Health sind ihr multidisziplinärer Ansatz sowie der Blick auf Bevölkerungen. Entsprechend der dargestellten, breiten Bezugswissenschaften können Themen trotz ähnlicher Aus-

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B. Babitsch

richtung, theoretisch-konzeptuell und methodisch sehr unterschiedlich bearbeitet werden. So stehen bei der Frage nach geeigneten Maßnahmen der Gesundheitsförderung in Schulen aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive die sozialen Strukturen und Beziehungen, wie z. B. Organisationsstrukturen oder die Heterogenität und Adressierbarkeit der unterschiedlichen Akteure, im Vordergrund; während aus der Perspektive der Psychologie die Verhaltensänderungen bzw. aus der Perspektive der Erziehungswissenschaften der Einfluss auf den Unterricht und das Lernen primäre Bezugspunkte wären. Die Vorgehensweisen von Public Health lassen sich grob mit vier unterschiedlichen Ansätzen charakterisieren. Public Health Vorgehensweisen

1. Die Beschreibung der Verteilung von Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung 2. Die Identifikation von Einflussfaktoren auf die Gesundheit (resp. Krankheit) 3. Die Entwicklung bzw. die Evaluation von gesundheitsbezogenen Interventionen 4. Die Gestaltung gesellschaftlicher Systeme im Sinne gesunder Lebenswelten

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Die Beschreibung der Verteilung von Gesundheit und Krankheit in der Bevölkerung

Eine wichtige Grundlage für Public Health stellt eine differenzierte, systematisch angelegte und dauerhafte Erhebung und Beschreibung relevanter Parameter zur Gesundheit in Bevölkerungen dar. Mit der Gesundheitsberichterstattung (GBE) liegt ein Instrument vor, welches in den letzten 30 Jahren in Deutschland umfänglich – sowohl hinsichtlich seines Methodenrepertoires und regelmäßiger Datenerhebungen als auch hinsichtlich ihrer strukturellen Verankerung – aufgebaut wurde. So stellt das Gesundheitsmonitoring des Robert Koch-Instituts (RKI 2018) den Nutzern Ergebnisse zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (KiGGS) sowie von Erwachsenen (DEGS; GEDA) in unterschiedlichen Formaten, wie Faktenblättern, Kurzberichten und Spezialberichten, zur Verfügung. Auch durch die interaktive Präsenz „http://www.gbe-bund.de“ (siehe z. B. GBE-Bund 2018) und dem schlagwortbasierten Suchmodus stehen umfangreiche epidemiologische Daten bereit. Darüber hinaus liegen Gesundheitsinformationen auch aus der GBE in den Kommunen und Ländern, den Berichten der Sozialversicherungsträger bzw. den Leistungserbringern sowie der in geringerer Zahl in Deutschland vorhandenen, krankheitsspezifischen Register (z. B. bei bösartigen Neubildungen, Herzinfarkt) vor.

4.2

Die Identifikation von Einflussfaktoren auf die Gesundheit (resp. Krankheit)

Die Epidemiologie ist zentral für Public Health, da sie grundlegende Erkenntnisse zur Verteilung von gesundheitlichen Risikofaktoren, den Ursachen für die Entstehung von Krankheiten sowie zur Verteilung und Verbreitung von Erkrankungen liefert. Epidemiologische Daten stellen die Basis für die Gesundheitsberichterstattung sowie für die Identifikation von gesundheitsrelevanten Einflussfaktoren und damit für deren Prävention bzw. Behandlung dar. Des Weiteren kann die Effizienz gesundheitlicher Versorgungsleistungen (wie u. a. Diagnostik, Therapie) geprüft werden. Am Beispiel der Herz-Kreislauf-Erkrankungen kann der Beitrag der epidemiologischen Forschung zum grundlegenden Verständnis der Krankheitsursachen besonders gut dargestellt werden. Eine Studie, die unser Verständnis zu Risikofaktoren erheblich erweitert und maßgeblich geprägt hat, ist die „Framingham Heart Study“, die mittlerweile seit 70 Jahren durchgeführt wird (National Heart, Lung, und Blood Institute, und Boston University 2018). Erkenntnisse, die inzwischen als Allgemeingut angesehen werden, wie z. B. die Bedeutung des Zigarettenkonsums (1960) und des Bluthochdrucks (1970) für kardiovaskuläre Erkrankungen bzw. Schlaganfall, zählen zu den ersten Ergebnissen (National Heart, Lung, und Blood Institute, und Boston University 2018). Neben einer Vielzahl von nationalen und internationalen Studien widmen sich in Deutschland auch Großstudien diesem Krankheitsspektrum(z. B. MONICA/ KORA-Projekt Augsburg, Nationale Kohortenstudie).

4.3

Die Entwicklung bzw. die Evaluation von gesundheitsbezogenen Interventionen

Ein Kernanliegen von Public Health ist es, zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von der Gesundheitsförderung bis hin zur Palliativmedizin beizutragen. Dies setzt voraus, die Prozesse und Strukturen der Gesundheitsversorgung zu kennen und hinsichtlich der Bedarfe der zu versorgenden Bevölkerung abschätzen zu können. Je nach Fragestellung lässt sich die Studie bspw. der Präventionsforschung (Walter et al. 2012), der Gesundheitssystemforschung (Schwartz und Busse 2012) oder der Versorgungsforschung (Pfaff et al. 2017) zuordnen. Neben einer Bewertung und Verbesserung vorhandener Versorgungsstrukturen ist auch die Entwicklung neuer Versorgungsansätze eine wichtige Aufgabe. Den Nutzern und den Fachkräften des Gesundheitswesens kommt damit eine besondere Rolle zu. Dabei erfolgt der Blick auf die Nutzer aus mehrfacher Perspektive: 1) Analyse der Mechanismen der Inanspruchnahme und der Nutzung von Gesundheitsleistungen, 2) Bewertung der Interaktionen zwischen Nutzenden und Professionellen sowie der gesundheitlichen Versorgungsstrukturen durch die Nutzenden und 3) Bewertung der gesundheitlichen Outcomes von

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Gesundheitswissenschaften – eine Einführung

Gesundheitsdienstleistungen sowie der Befähigung im Umgang mit der Krankheit. Spiegelbildlich lässt sich diese Differenzierung auch auf die Fachkräfte anwenden.

4.4

Die Gestaltung gesellschaftlicher Systeme im Sinne gesunder Lebenswelten

In Public Health wird Gesundheit als eine Querschnittsaufgabe verstanden und damit ist sie für alle Politikfelder von Relevanz. Unterschiedliche Ansätze, wie z. B. die Gesundheitsförderung, „Health in All Policies“ und „Gesundheit 2020“ der WHO (2015; WHO Europe 1986, 2013a, b), wurden entwickelt, die dazu beitragen, dass in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen die Akteure befähigt sowie Prozesse und Strukturen in Organisationen gestaltet werden. Wie bereits beschrieben, sind hierbei die Schaffung gesundheitlicher Chancengleichheit sowie nachhaltiger gesunder Lebenswelten zentrale Leitprinzipien, die sich auch in anderen Strategien internationaler und nationaler Organisationen finden. Bereits in der Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung (WHO Europe 1986) wurde deutlich, dass Gesundheit als Bestandteil des alltäglichen Lebens verstanden wird. Gesundheit ist damit ein zentraler Gegenstand gesellschaftlichen Handelns, ohne dass sich hieraus normative Setzung, Erwartungen und Verpflichtungen zu einem gesunden Handeln ergeben dürfen. Trotz unterschiedlicher Gesetzesinitiativen, wie z. B. dem Präventionsgesetz (PrävG 2015), die Elemente einer Public Health orientierten Systemgestaltung aufgreifen, ist die Gesundheitspolitik und das Gesundheitswesen in Deutschland noch in fester Hand der Medizin und damit im Wesentlichen an einer Abwehr von Risiken und der Krankenversorgung orientiert (Babitsch et al. 2018b). Eine solche Ausrichtung ist offensichtlich vor dem Hintergrund der bestehenden und der zukünftigen Herausforderungen nicht ausreichend und müsste im Sinne einer Public Health Policy erweitert werden, die Neudefinitionen in den Verantwortlichkeiten für Gesundheit sowie Restrukturierungen der Gesundheitspolitik, den Entscheidungsprozessen und Verantwortlichkeiten sowie der Finanzierungsvolumina und Allokationen impliziert. " Public Health ist durch eine Breite von Fragestellungen gekennzeichnet, die wichtige Erkenntnisse zur Gesundheit in Bevölkerungen, zu Wirkzusammenhängen sowie zur Versorgungs- und Systemgestaltung liefern. Die Bearbeitung der Themenstellungen profitiert dabei von der Vielzahl der Einzeldisziplinen und von den zunehmend umfangreichen Forschungs- und Praxiserkenntnissen. Eine Verankerung in die politischen Gestaltungssysteme – im Sinne einer Public Health orientierten Systemgestaltung – steht hingegen noch in den Anfängen.

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Wie forscht und arbeitet man in Public Health?

Das Methodenrepertoire in Public Health ist breit, wozu auch die Vielfalt der Bezugsdisziplinen beiträgt. Neben quantitativen Methoden haben sich in den letzten Jahren zunehmend auch qualitative Methoden in der Public Health Forschung sowie gesundheitsökonomische Methoden und systematische Reviews etabliert. Die Methodenpluralität ist nicht nur ein wichtiges Kennzeichen der Public Health Forschung, sondern auch eine wesentliche Voraussetzung, die Breite der Forschungsfragen adäquat bearbeiten zu können. Im Mittelpunkt quantitativer Public Health Forschung stehen Fragestellungen zur Verbreitung und Verteilung von Erkrankungen sowie der Analyse von Einflussfaktoren auf die Gesundheit (resp. Krankheiten). Zudem wird im Rahmen quantitativer Evaluationen die Wirksamkeit von Interventionen mit unterschiedlichen Studiendesigns ermittelt. Konkrete Fragestellungen können sein: 1) Wie verteilen sich chronische Erkrankungen in der Bevölkerung? 2) Welche Expositionen sind mit dem Auftreten einer Erkrankung, z. B. dem Myokardinfarkt, assoziiert? 3) Trägt die Intervention zu einer Risikoreduzierung bei den betroffenen Personen bei? 4) Werden durch die Intervention die erwarteten Effekte erreicht? Die qualitative Public Health Forschung befasst sich mit der sozialen Wirklichkeit und ihren Repräsentationen bei Individuen, in Gruppen sowie in gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen insbesondere des Gesundheitssystems. Ihre Stärke ist es damit, zugrunde liegende Erklärungsmuster und Sinnzusammenhänge herauszuarbeiten und diese im biografischen, sozialen und gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Folgende Fragestellungen charakterisieren einen qualitativen Forschungszugang in Public Health: 1) Was bedeutet für den Einzelnen subjektive Gesundheit? 2) Wie werden gesundheitliche Risiken für die Gesundheit bewertet? 3) Wie wird die Gesundheitsversorgung aus Sicht der Nutzer erlebt? 4) Welche Erwartungen haben die Nutzer an die Gesundheitsversorgung? Public Health kann inzwischen auf eine reiche Forschungsbasis zunächst vor allem quantitativer, zunehmend auch qualitativer Studien zurückgreifen. Darüber hinaus haben sich auch Multi-Methoden-Studien etabliert, die in unterschiedlicher Abfolge quantitative und qualitative Forschungsansätze miteinander kombinieren, deren Daten triangulieren und so die Stärken beider Forschungsansätze nutzen. Systematische Reviews haben mit der Forderung nach Evidenzbasierung zunächst in der Medizin später auch in den Gesundheitswissenschaften einen hohen Stellenwert erhalten, mit dem Ziel, wissenschaftlich begründete Entscheidungen unter Einbeziehung des jeweils aktuellen Forschungsstandes zu treffen. Dies wird in der Medizin unter dem Ansatz der Evidence-Based Medicine (Greenhalgh 2015) und in Public Health unter dem Ansatz der Evidence-Based Public Health subsumiert (Gerhardus et al. 2010). Als Entscheidungsgrund-

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B. Babitsch

lage dienen systematische Reviews, deren Erstellung einer spezifischen Methodik folgt (siehe The Cochrane Collaboration 2018a). Inzwischen hat die Anzahl systematischer Reviews im weiten Feld der Gesundheitsforschung zugenommen (siehe z. B. The Cochrane Collaboration 2018b), die sich in der Mehrzahl auf medizinische Interventionen und Fragen der therapeutischen Wirksamkeit beziehen, jedoch auch inzwischen einige Public Health orientierte Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention umfasst. Neben der Public Health Forschung wurden auch für die Public Health Praxis eine Vielzahl unterschiedlicher methodisch-konzeptueller Ansätze entwickelt. Einer davon ist der Public Health Action Cycle (PHAC), der sich als Modell für die Public Health Praxis insbesondere zur Entwicklung von Interventionen sowie für Programme und Strategien auf allen gesellschaftlichen Entscheidungsebenen (Mikro-, Meso- und Makro-Ebene) weithin etabliert hat. Darüber hinaus eignet sich der PHAC ebenfalls sehr gut zur Qualitätssicherung (Rosenbrock und Hartung 2015). Im PHAC werden vier Phasen unterschieden, die in der Bearbeitung nacheinander folgen und kontinuierlich fortgesetzt werden. Die vier Phasen sind: 1) die Problemdefinition, 2) die Strategieformulierung, 3) die Umsetzung und 4) die Evaluation/Bewertung. In der Problembestimmung (Phase 1) wird eine Definition und Konkretisierung der Problemstellung vorgenommen, für die in der Strategieformulierung eine geeignete Strategie oder Maßnahme konzipiert wird. Auf dieser Basis erfolgen in der dritten Phase die Umsetzung und eine abschließende Bewertung hinsichtlich der Zielerreichung und der erreichten Wirkungen in der vierten Phase. Der PHAC beginnt erneut mit dem Abgleich der Ausgangssituation und den durch die Intervention erzielten Ergebnissen. " Die Public Health Forschung nutzt ein breites Spektrum an Forschungsansätzen. Vielfältige Ergebnisse liegen nicht nur zu Einflussfaktoren für Gesundheit (resp. Krankheit), sondern auch zur Bewertung von Versorgungsstrukturen vor. Die Public Health Praxis profitiert von diesen Erkenntnissen sowie von den verschiedenen methodisch-konzeptionellen Ansätzen zur Entwicklung und Implementierung von Maßnahmen mit dem Ziel, zur Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten und einer angemessenen, qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung beizutragen.

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Was kann man mit Public Health erreichen?

Bereits im 19. Jahrhundert konnte aufgezeigt werden, welche Bedeutung die Lebensumstände auf die Gesundheit von Menschen haben. Dabei können diese sowohl Ursache als auch Moderator/Mediator für das Entstehen von Krankheiten sein. Anhand von wenigen Beispielen, die zum Teil schon lange zurückliegen, wird der spezifische Beitrag von Public

Health durch Forschung und Praxis deutlich. So konnte Dr. John Snow mit seinen statistischen Methoden, die als Vorläufer die Epidemiologie begründeten, den Zusammenhang zwischen Wasser und Cholera während der CholeraEpidemie in London 1848 bis 1849 anhand eines kontaminierten Brunnens in der Broad Street nachweisen (The John Snow Archive and Research Companion 2018; siehe auch Razum et al. 2017; Egger et al. 2018). Abgeleitet aus diesen Erkenntnissen ergaben sich erste Ideen zur Krankheitsentstehung, eine Erklärung zur Verbreitung der Erkrankung und effektive Maßnahmen der Intervention. Das zweite Beispiel sind die Arbeiten von Mosse und Tugendreich (1981 zit. in Mielck 1991) aus dem Jahre 1913, die auf den engen Zusammenhang zwischen Krankheit und Armut im 19. Jahrhundert hinwiesen und damit den Grundstein für sozialmedizinische und sozialepidemiologische Arbeiten legten. In dem fast 900-seitigen Werk werden „eine Fülle von empirischen und theoretischen Analysen zur Frage der >sozialen Ätiologie und sozialen Therapie von Krankheiten< vorgestellt“ (Mielck 1991, S. 36), wie z. B. Tuberkulose und Alkoholismus. Darin finden sich Belege für den Einfluss sozialer Faktoren (Beruf und Schulbildung) und in Abhängigkeit davon der Lebensumstände auf die Entstehung sowie Progression von Erkrankungen. So ist bspw. die Tuberkulose nicht nur häufiger in ärmeren und bildungsschwachen Bevölkerungsgruppen vertreten, sondern auch deren Sterblichkeit deutlich höher. Die Frage, welche Faktoren bzw. Interventionen den stärksten Effekt auf die Gesundheit von Bevölkerungen haben, wurde von McKweon (1982 zit. in Waller 2007) für medizinische Interventionen bei häufigen Infektionskrankheiten untersucht. Anhand seiner Analysen konnte er aufzeigen, dass die „bedeutendsten Einflüsse zur Gesundheitsverbesserung im letzten Jahrhundert primär umwelt-, ernährungs- und verhaltensbedingt waren und dass der Beitrag individuenbezogener Maßnahmen dagegen von drittrangiger Bedeutung ist“ (Waller 2007, S. 16). Mit der Einrichtung der Commission on Social Determinants of Health der WHO (CSDH 2008) wurde den sozialen Einflussfaktoren für Gesundheit, der Relevanz von Interventionen im Lebensumfeld von Menschen sowie der Herstellung von Chancengleichheit besonderer Ausdruck verliehen und umfangreiches Material aus Wissenschaft und Praxis zusammengetragen. Darauf aufbauend wurden mit der „Rio Political Declaration on Social Determinants of Health“ (WHO 2011), die am 21. Oktober 2011 verabschiedet wurde, die Nationalstaaten dazu aufgefordert, mit nationalen Strategien und Maßnahmen die sozialen Determinanten der Gesundheit verstärkt zu adressieren und zur Erzielung gesundheitlicher Chancengleichheit aktiv beizutragen. Somit trägt Public Health sowohl dazu bei, die erforderlichen Grundlagen, seien es Daten oder Analysen zu Wirkzusammenhängen für die Gestaltung gesunder Lebenswelten,

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Gesundheitswissenschaften – eine Einführung

bereitzustellen, als auch geeignete Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit und der Reduzierung von gesundheitlichen Risiken zu entwickeln und zu implementieren sowie vorhandene Versorgungsangebote und -strukturen zu evaluieren und – so erforderlich – zu optimieren. " Public Health konnte in seiner Geschichte wichtige Beiträge zur Erhaltung der Gesundheit von Bevölkerungen liefern und neue Ansätze in der Systemgestaltung weit über das Gesundheitssystem hinaus anregen und z. T. nachhaltig implementieren. Bis heute ist die gesundheitliche Chancengleichheit ein Kernthema von Public Health, zu deren Erzielung weiterhin erhebliche Anstrengungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen (Mikro, Meso, Makro) erforderlich sind.

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Wo liegen die Stärken und Schwächen von Public Health?

Public Health bietet mit seinem Fokus auf die Gesundheit von Bevölkerungen, nicht nur Einsichten in relevante Gesundheitstrends, sondern auch die Basis zur Gestaltung des Gesundheits- und Gesamtsystems. Durch die breite Fokussierung auf Gesundheit und Krankheiten, deckt es analog den Gesundheitsvorstellungen im Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1987) die komplette Bandbreite dieser beiden Pole (Gesundheit und Krankheit) ab. Zu den Stärken von Public Health zählt es, Gesundheit als Querschnittsaufgabe zu definieren und hierdurch in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Ebenso gelingt es durch Public Health, die Gesundheit von Menschen differenziert beschreiben und folglich adressieren zu können, sowie adäquate Handlungsoptionen abzuleiten, die weit über das Gesundheitssystem hinausgehen (können). Individuen und ihre Lebenszusammenhänge werden durch die explizite Orientierung an den Bedarfen von Adressatengruppen sichtbar und können in die Ausgestaltung von Versorgungsstrukturen einfließen. Hierzu hat Public Health in den letzten Jahren eine Fülle von Erkenntnissen aus Forschung und Praxis erarbeitet und unterschiedlichen Stakeholdern zur Verfügung gestellt. Allerdings darf dieser Erfolg nicht über die bestehende Theoriearmut von Public Health hinwegtäuschen. Diese zeigt sich im doppelten Sinne: bei der Rezeption von Theorien aus den Bezugswissenschaften bzw. bei der Entwicklung von Theorien aus dem Public Health Kontext. An diesem Punkt bleibt Public Health weit hinter seinen Möglichkeiten zurück, was nicht nur den vorliegenden Studienergebnissen, sondern auch der in Public Health dominierenden Kultur wissenschaftlicher Auseinandersetzung geschuldet ist. Zugleich gerät Public Health mit seinen Ansätzen selbst in die Kritik (Babitsch et al. 2018b). Insbesondere der Anspruch von Public Health zur Chancengleichheit beizutragen, ist als

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ein großer Wert zu betrachten. Jedoch lässt sich eine paternalistische Prägung in der Public Health Forschung und Praxis nicht gänzlich von der Hand weisen, wodurch Normen formuliert werden, denen eine grundlegende Zustimmung sowie eine ubiquitäre Gültigkeit unterstellt werden. Dies gilt auch für die normativen (Vor-)Entscheidungen, die z. B. in gesundheitsförderlichen Interventionen getroffen werden müssen. Hierdurch können jedoch die Autonomierechte des Individuums beeinflusst und im schlechtesten Fall eingeschränkt werden (Bittlingmayer und Ziegler 2012). Das heißt, die Kerndebatte zwischen Willen und Wollen oder auch Freiheit und Gleichheit ist auch in Public Health ein spannungsgeladenes Feld. In diesem Zusammenhang sind für Public Health Ansätze andere Disziplinen, wie z. B. der gerechtigkeitstheoretische „Capability Approach“ (siehe u. a. Sen 2013), interessant, da der individuell verfügbare Fähigkeiten-, Möglichkeits- und Handlungsspielraum als Maßstab für gesundheitliche Chancengleichheit in den Fokus gerät. Ob das Individuum eine für das gesundheitliche Wohlergehen zuträgliche Option aus den verfügbaren positiven Freiheiten auswählt, ist dabei nicht zwingend der erste Anspruch einer gerechtigkeitsorientierten Public Health Forschung (Nussbaum und Sen 1993). Somit kann Public Health von einer Einbeziehung weiterer Perspektiven, wie z. B. aus philosophischen und gesellschaftstheoretischen Disziplinen, stark profitieren und diese zur kritischen Selbstreflexion nutzen. Public Health kann mit seiner zugrunde liegenden Konzeption auf wesentliche Stärken zurückgreifen und einen wichtigen Beitrag zu relevanten Fragen der Gesundheit von Bevölkerungen leisten. Schwächen ergeben sich durch die stark empirische Ausrichtung von Public Health und damit dem Mangel an Theorieentwicklung und kritischer (Selbst-) Reflexion.

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Wozu muss Public Health zukünftig beitragen?

Bereits eingangs wurden große gesellschaftliche Herausforderungen skizziert, zu denen Public Health einen zentralen Beitrag leisten kann und auch sollte. Dies gilt auch für die immer bedeutender werdenden Fragen der globalen Gesundheit (DGPH 2018) und der Nachhaltigkeit. Ob dies erfolgreich gelingen kann, wird von dem Grad der systematischen Einbettung von Public Health in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse abhängen. Neben dem Gesundheitssystem schließt dies alle anderen Politikbereiche ein. Ein guter Ausgangspunkt besteht hierfür mit dem Konzept der Salutogenese. Legt man bspw. das darin formulierte GesundheitsKrankheits-Kontinuum für die Systemgestaltung zugrunde, könnten die Entscheidungskaskaden im Sinne einer Spirale konzipiert werden, welche bei der Gesundheit startet, sich dann auf gesundheitliche Risiken und Erkrankungen bezieht

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und bei der letzten Lebensphase mit dem Tod endet. In der Konsequenz wäre das Gesundheitssystem aus der Perspektive der Gesundheit zu organisieren, was auch die Restrukturierung von Entscheidungs- und Allokationsprozessen sowie die Neuverteilung der Ressourcen bedingen würde. Eine solche Dachperspektive würde es jedoch erlauben, alle gesundheitsrelevanten Fragen in ihrer Komplexität zu betrachten und die jeweils erforderlichen Impulse im Gesamtsystem zu setzen. Public Health käme als Multidisziplin mit seinen Akteuren hier eine tragende Rolle des „Gestaltenden“ zu. Neben der Meso- und Makroebene wird es zukünftig von Relevanz sein, den/die Einzelnen stärker zu beteiligen – sei es als Health Professional oder als Nutzer bzw. Bürger. Dabei kommt es darauf an, die Gesundheitskompetenz des/r Einzelnen zu unterstützen und damit begründete Wahlmöglichkeiten und die Voraussetzungen für eine echte Partizipation zu schaffen. Insbesondere wird hier der Umgang mit digitalen Daten und den Möglichkeiten der Digitalisierung eine zentrale Rolle spielen müssen und sollte dementsprechend im Sinne einer Digital Health Literacy bereits in der Schule adressiert werden. Auch auf Seiten der Fachkräfte wird eine Erweiterung der Kompetenzen erforderlich sein, die auch zu einem reflektierten Umgang befähigt. Public Health kann hierbei in der Rolle als „Ermöglicher“ wichtige Aufgabe übernehmen. Public Health sollte dabei die Rolle eines „kritischen Wächters“ nicht verlieren und dafür sorgen, dass die individuelle Wahl und Freiheit, sich für Gesundes oder Ungesundes zu entscheiden, dem/r Einzelnen dauerhaft zur Verfügung steht. Hierzu ist es auch erforderlich, dass Deutschland seine Public Health Landschaft in Ausbildung, Forschung und Praxis entsprechend internationaler Maßstäbe ausbaut und nachhaltig sichert (DGPH 2012). " Public Health hat sich in Deutschland seit den 1990erJahren breit etabliert und es kann als unbestritten angesehen werden, dass Public Health zu zentralen aktuellen und zukünftigen Themen, wie bspw. der Digitalisierung, in der Gesundheit von Bevölkerungen einen wichtigen Beitrag leisten kann. Dies spiegelt sich jedoch in den Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen des Gesundheitssystems noch unzureichend wider.

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Gesundheitswissenschaften – eine Einführung

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften Annette Nauerth

Inhalt 1 Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2 Aktivität und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3 Stoffwechsel und Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 4 Steuerung und Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 5 Wachstum, Entwicklung und Regeneration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 6 Sexualität und Reproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 7 Abgrenzung von und Kommunikation mit der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 8 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften angemessen zu beschreiben, ist eine anspruchsvolle Herausforderung mit einer Vielzahl thematischer Ansätze (vgl. z. B. Stock und Kaiser 2012; Trautner 2012; Schnabel 2003 u. v. m.). Deutlich wird dabei, dass alle Zusammenstellungen von Themengebieten der Gesundheitswissenschaften, von Public Health über New Public Health bis hin zu Health Sciences (vgl. Hurrelmann und Razum 2012), die Bereiche Humanbiologie und Medizin als Bezugsdisziplinen ausweisen genutzt. Im Folgenden wird für diese Bezugsdisziplinen die Formulierung „naturwissenschaftliche Grundlagen“ genutzt, da sie die umfassendste Bezeichnung darstellt und eine auch begrifflich klare Unterscheidung von sozialwissenschaftlichen und rechtlichen Grundlagen erlaubt. Welches ist die spezifische Perspektive, die sich von diesem Ausgangspunkt in Bezug auf die Gesundheitswissenschaften

A. Nauerth (*) Interaktion 1, FH Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]

ergibt? Anders gefragt, welche Funktion(en) können und sollen naturwissenschaftliche Grundlagen im Zusammenspiel der verschiedenen Bezugsdisziplinen einnehmen? Was kann diese Bezugsdisziplin für das Verständnis und die Praxis der Gesundheitswissenschaften insgesamt beitragen? Im Folgenden sollen diese Fragen vor allem unter zwei wichtigen Aspekten näher entfaltet und dabei grundlegende Funktionen, die naturwissenschaftlichen Grundlagen zukommen, aufgezeigt werden: 1. Naturwissenschaften liefern eine Hilfe zum Verstehen von Körper und Umweltphänomenen und von der Beziehung zwischen beiden im Rahmen ökologischer Verbindungen. 2. Naturwissenschaften liefern in wichtigen Teilbereichen eine Begründung für Interventionen, die im Rahmen der verschiedenen Disziplinen in den Gesundheitswissenschaften diskutiert werden. Als Leitdisziplin wird in den folgenden Ausführungen vor allem auf die Physiologie zurückgegriffen, um ausgehend von der normalen Funktion des Organismus unterschiedliche Beiträge zur Gesundheit zu erläutern.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_3

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Für die Strukturierung des Feldes „Naturwissenschaftliche Grundlagen“ wird dabei auf einige Kennzeichen des Lebens (vgl. Koops 2016; Campbell und Reece 2009) zurückgegriffen, die häufig genannt werden, ohne dass damit der Anspruch verbunden wird, die noch immer in der Diskussion befindliche Frage nach den Kennzeichen des Lebens abschließend zu beantworten. Diesen Aspekten jeden Lebens werden dann thematisch wichtige Bereiche aus den Naturwissenschaften zugeordnet. Entlang dieser so bestimmten naturwissenschaftlichen Bereiche sollen im Folgenden grundlegende Aspekte im Hinblick auf Gesundheit allgemein erörtert und beispielhaft anhand geeigneter Phänomene dargestellt und erläutert werden.

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Aktivität und Bewegung

Menschen sind auf Bewegung hin ausgelegt. Bewegung eines Körpers entsteht durch Muskeln, die in der Regel an Knochen ansetzen und über die beweglichen Verbindungen (Gelenke) hinweg die Knochen gegeneinander bewegen (Silverthorn 2009, S. 590 f.). Hinzu kommen Zusatzstrukturen in den beweglichen Verbindungen, die die Bewegung modifizieren (Gelenkkapseln, Bänder, Menisken, Bandscheiben etc.). Abhängig ist die Beweglichkeit von allen Teilstrukturen und deren optimaler Funktion auch im Zusammenspiel. Um Bewegung zu ermöglichen, benötigen diese Strukturen jedoch eine Energieversorgung, sie müssen also mit Nährstoffen und Sauerstoff zur Energiegewinnung versorgt werden. Diese Stoffe müssen aus der Umwelt entnommen werden (Boutellier und Ulmer 2007, S. 930 f.). Also sind ein Aufnahme- und Verteilsystem sowie ein Entsorgungssystem notwendig, um Bewegung zu ermöglichen. Die zentrale Verteilstruktur, ohne die Bewegung und Leistungsfähigkeit nicht möglich sind, ist das Herz-Kreislauf-System (Busse 2007, S. 619 f.). Bewegung ist somit nicht denkbar ohne die Verbindung zu Kreislauf und Atmung. Der arbeitende Muskel benötigt Energie, diese gewinnt er aus der Oxidation von Nährstoffen. Beides muss herantransportiert werden. Mit dem Blut im Kreislauf erfolgt die Versorgung aller Körperzellen mit Sauerstoff und Nährstoffen (Jelkmann 2007, S. 524 f.). Das Herz als Pumporgan sorgt für die Bewegung des Blutstromes im Körper. Der Sauerstoff wird aus der Umgebung aufgenommen, daher erfolgt über die Ventilation die Belüftung der Alveolen mit Sauerstoff, per Diffusion erfolgt die Aufnahme von Sauerstoff aus der Alveole in die Erythrozyten des Blutes, mit den Erythrozyten gelangt der Sauerstoff in alle Gewebe des Körpers und verlässt erneut per Diffusion die Kapillaren und erreicht die Körperzellen (vgl. Jelkmann 2007, S. 804 ff.). Fein abgestimmte Regulationsprozesse sorgen dafür, dass Bewegung, Kreislauf und Atmung aufeinander abgestimmt

werden. Die Beanspruchung dieser Systeme lässt sich steigern durch Trainingsmaßnahmen. Eine solche Leistungssteigerung ist – so ist inzwischen klar – noch in jedem Alter möglich und zeigt insgesamt gute Effekte für die Gesundheit. Leistungsminderung ist die automatische Folge, sobald Störungen in diesen Prozessen auftreten. Fallbeispiel

Frau Fröhlich ist eine 68-jährige, 163 cm große Patientin und wiegt 67 kg. Frau Fröhlich hatte vor 35 Jahren einen Zwischenfall bei der Geburt ihres dritten Kindes und ist seitdem halbseitig spastisch gelähmt. Die Ärzte hatten ihr keine Hoffnung gemacht, je wieder laufen zu können. Mit enormer Willenskraft hat sie es geschafft, laufen zu lernen und Haushalt und Familie zu versorgen. Mittlerweile hat Frau Fröhlich immer wieder enorme Rückenprobleme, da sie aufgrund der Behinderung schief geworden ist und den Rücken nicht richtig belastet. Linderung bringt ihr ein regelmäßiger Aufenthalt in einem Kurort. Besonders gut tun ihr immer die Bewegungsübungen mit der Physiotherapeutin in warmem Wasser, auf die sie sich besonders freut. Auch jetzt ist sie wieder zur Kur. Frau Fröhlich hat in den letzten Wochen 3 kg an Gewicht zugenommen und will in der Kur auch auf ihr Gewicht achten. Insbesondere abends sind ihre Füße oft geschwollen. Bei diesem Aufenthalt im Kurort jedoch bemerkt sie, dass sie jedes Mal Herzklopfen und Angst bekommt, wenn sie im Wasser ist. Sie wundert sich über diese Sache, aber da sie gewohnt ist, nicht auf jedes Zipperlein zu reagieren, kämpft sie gegen diese Angst an. In den nächsten Tagen kommt noch Luftnot hinzu. Ihre Tochter hört am Telefon, dass Frau Fröhlich sehr kurzatmig ist und schickt sie zum Arzt. Dieser schickt sie zum Röntgen. Von dort wird Frau Fröhlich akut ins Krankenhaus des Kurortes eingewiesen und dort auf die Intensivstation des Krankenhauses aufgenommen. Was ist passiert? Wie lassen sich diese Phänomene erklären? Frau Fröhlich hat geschwollene Füße als Zeichen einer Herzinsuffizienz. Die kurzfristige schnelle Gewichtszunahme resultiert aus einer sich verschlechternden Herzfunktion und einer dadurch bedingten Wassereinlagerung. Das Herz ist rechtsseitig in seiner Pumpfunktion geschwächt, daher transportiert es nicht die gesamte Blutmenge in den Lungenkreislauf. Es kommt zu einem Rückstau von Blut im venösen System. Der erhöhte Druck im venösen Schenkel des Kapillarsystems führt zu einer verminderten Rückresorption von Flüssigkeit aus dem Gewebe in den tief gelegenen Körperpartien. Flüssigkeit im Gewebe (Ödeme) ist die Folge (Abb. 1).

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Abb. 1 Darstellung der Flüssigkeitsbewegung im Kapillargebiet. Die Kapillare verbindet die Arteriole und Venole. Im arteriellen Teil der Kapillare ist die treibende Kraft für den Flüssigkeitsaustausch der Blutdruck (pc), der den interstitiellen Druck im Gewebe (pis) übersteigt. Im venösen Teil der Kapillare ist die treibende Kraft der kolloidosmotische Druck im Plasma (πpl) der Kapillare, der zu einem Rückstrom der Flüssigkeit aus dem Interstitium (πis) in die Kapillare führt. (Aus: Busse 2007; in: Schmidt und Lang 2007)

Aber auch linksseitig scheint das Herz von einer Herzschwäche betroffen zu sein. Denn bei Bewegung kommt es zu Kurzatmigkeit (Dyspnoe). Bei Bewegung ist eine stärkere Nutzung von Sauerstoff und Nährstoffen im Muskel erforderlich, der Sauerstoffspiegel im Blut sinkt und es entsteht vermehrt Kohlendioxid im Gewebe, das ins Blut abgegeben wird. Damit steigt die CO2-Konzentration im Blut. Eine solche CO2-Konzentrationssteigerung dient als Atemantrieb (vgl. Thews und Thews 2007, S. 796 ff.) und sorgt via Sympathikus (vegetatives Nervensystem) für eine Beschleunigung der Atmung und führt zu einer Steigerung des Herzantriebs (Abb. 2), somit einer Pulsbeschleunigung. Welche Folgen hat das Bewegungsbad bei dieser Situation? Durch das Eintauchen in das Wasser wird von allen Seiten Druck auf den Körper aufgebaut (abhängig von der Eintauchtiefe). Die Druckerhöhung im umgebenden Wasser führt zu einer Gewebskompression und somit zu einer Bewegung der Flüssigkeit aus dem Gewebe in das venöse und lymphatische System und somit zu mehr Volumen im Kreislaufsystem. Das Herz reagiert hierauf in der Regel mit einer verstärkten Anspannung und beschleunigten Kontraktion und transportiert die Flüssigkeit weiter. Die verstärkte Nierendurchblutung führt dann in der Regel zu einer verstärkten Ausscheidung von Urin. Wenn jedoch eine Herzschwäche

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Abb. 2 Blutdruckregulation. Die kreislaufsteuernden Neurone der Medulla oblongata sind auf einen Sollwert eingestellt. Kommt es zu einer Störung (z. B. Blutverlust als Störgröße), reagieren die Pressorrezeptoren in den großen Gefäßen und melden über die Hirnnerven IX und X den Druckverlust an die Medulla oblongata. Diese steuert über vegetative Neurone (Sympathikus) einerseits die Herzmuskulatur an und erhöht die Herzfrequenz, wodurch das Herzzeitvolumen ansteigt. Andererseits wird die glatte Gefäßmuskulatur in den kleinen und mittleren Arterien erregt, was eine Engstellung zur Folge hat. Damit steigen der periphere Widerstand und der Blutdruck in den zentralen Gefäßen. (Aus: Busse 2007, S. 663; in: Schmidt und Lang 2007)

besteht, kann die Pumpfunktion nicht wie normal gesteigert werden, da das Herz schon am Limit arbeitet und nicht alle Flüssigkeit transportieren kann. Das Herz kann die Kraft nicht erhöhen, sondern nur den Herzschlag beschleunigen (Gefühl des Herzklopfens). Somit verstärkt sich die Belastung des Herzens und die Herzinsuffizienzsymptome verstärken sich hier bis zum akuten Lungenödem. Frau Fröhlich und ihre Physiotherapeutin haben die Anzeichen des Körpers nicht richtig gedeutet und dadurch eine Dekompensation des geschwächten Herzens herbeigeführt. Kreislaufprobleme gehören in der Todesursachenstatistik zu den hochrangigen Gesundheitsproblemen. Sie sind die häufigste Todesursache von Frauen und Männern in Deutschland und stellen hohe Anforderungen an Prävention und Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig verursachen Herz-KreislaufErkrankungen im Vergleich zu allen anderen Krankheitsgruppen die höchsten Kosten (Robert Koch-Institut 2015, S. 32). Im Themenfeld Aktivität und Bewegung sind neben Kreislauferkrankungen Bewegungsbeeinträchtigungen insgesamt ein großes Gesundheitsproblem: Epidemiologisch betrachtet gehören Muskel-Skelett-Erkrankungen zu den häufigsten chronischen Erkrankungen in Deutschland und sind damit der Hauptgrund für Arbeitsunfähigkeit. Sie belasten die Betroffenen und ihre Angehörigen erheblich, da sie die körperliche Funktions-

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fähigkeit und damit die Teilhabe an Aktivitäten des täglichen Lebens stark beeinträchtigen können. Zu den häufigsten und kostenträchtigsten Erkrankungen zählen Arthrose, Osteoporose und rheumatoide Arthritis. Sie treten mit zunehmendem Alter deutlich häufiger auf: Ein Großteil der älteren und alten Bevölkerung leidet unter einer oder mehreren Muskel-Skelett-Erkrankungen. Chronische Rückenschmerzen, an denen etwa ein Viertel der Frauen und 17 % der Männer in Deutschland leiden, betreffen aber oft schon jüngere Menschen im Erwerbsalter. Muskel- und Skelett-Erkrankungen verursachen die meisten Arbeitsunfähigkeitstage, in Vorsorge- oder Reha-Einrichtungen sind sie die häufigste Diagnose und der zweithäufigste Grund für gesundheitlich bedingte Frühberentungen (Robert KochInstitut 2015, S. 36). Wenn man den Blick von Krankheitsprozessen auf Gesundheitsförderung richtet, dann gehört der Bereich Aktivität und Bewegung zu dem Bereich, dem in Bezug auf Prävention und Gesundheitsförderung große Potenziale zugeschrieben werden können. Gesundheitsförderungsprogramme setzen daher sehr häufig in diesem Bereich an und zwar sowohl auf der Ebene der Verhaltensprävention (Bewegung regelmäßig und moderat) als auch auf der Ebene der Verhältnisprävention im Bereich z. B. der Arbeitsplatzgestaltung. In Bezug auf die Frage, wie Bewegung die Gesundheit beeinflusst, sind noch längst nicht alle Fragen geklärt, vielmehr ist an dieser Stelle ein deutlicher Forschungsbedarf auszumachen. Es ist inzwischen nachweisbar, dass Bewegung Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen nimmt, auf Erkrankungen des Bewegungssystems, selbst auf Tumorerkrankungen (vgl. Mensink 2003). Fast kein Organsystem bleibt unbeeinflusst. Bei manchen Krebserkrankungen kann Sport sogar die Mortalitätsrate deutlich senken.1

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im Gegensatz zu den Pflanzen die Sonnenenergie nicht nutzen kann, um Verbindungen von Kohlendioxid und Wasser (Kohlenhydrate) herzustellen, um also Nährstoffe aufzubauen, lebt der Mensch davon, dass er vorhandene Nährstoffe aufnimmt und in seinem Körper abbaut. Die im Rahmen der Abbauprozesse frei werdende Energie speichert der Körper in Form von energiereichen Phosphaten (ATP) und kann mit dieser Speicherform für jede Zelle die notwendige Energie zur Verfügung stellen (Biesalski 2007, S. 848 ff.). Der Wechsel zwischen Nahrungsaufnahmezeiten (zur Füllung der Speicher) und Nicht-Nahrungsaufnahmezeiten (Energielieferung aus den Speichern) führt im Körper jeweils zu einer Umsteuerung des Stoffwechsels, die mehrfach am Tag durchlaufen wird. Dabei wird kurzfristiger Energiemangel von längerfristigem Energiemangel (Hungern) deutlich unterschieden. Optimal ist es, wenn die beiden Prozesse im Gleichgewicht stehen und regelmäßig wechseln. Mit den beiden Prozessen sind im Körper unterschiedliche Hormonkonstellationen verbunden, die den Gesamtorganismus auf die eine oder andere Situation einstellen. Während mindestens vier Hormone (Cortisol, Thyroxin, Glukagon, Somatotropin) zuständig sind, um den Blutzuckerspiegel zu erhöhen, steht dem nur ein Hormon (Insulin) gegenüber, das den Blutzuckerspiegel senkt. Damit wird sichtbar, dass der Körper eher darauf eingerichtet ist, Mangel zu verwalten und den Körper vor allem bei körperlicher Arbeit mit Energie zu versorgen als ein Überangebot im Nahrungsbereich zu bearbeiten (vgl. Boutellier und Ulmer 2007, S. 939 f.; Abb. 3).

Stoffwechsel und Ernährung

Ein lebender Organismus steht im Austausch mit der Umgebung. Er nimmt Stoffe aus der Umwelt auf, verarbeitet sie und verwendet sie für den eigenen Bedarf und gibt dann erneut Stoffe an die Umwelt ab (vgl. z. B. Silverthorn 2009; Schmidt und Lang 2007). Neben der Atmung, die man auch als einen grundlegenden Stoffwechsel- und Austauschprozess beschreiben könnte, gehören zu diesem Kennzeichen des Lebens vor allem die Ernährung und Ausscheidung. Wie beeinflusst Ernährung die Gesundheit? Nährstoffe sind lebenswichtig. Sie liefern die Energie, die der Körper für seine Lebensäußerungen auf allen Ebenen benötigt (Biesalski 2007, S. 848 ff.). Da der menschliche Organismus

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So beschäftigt sich beispielsweise das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg mit der Abteilung Bewegung, Präventionsforschung und Krebs genau mit diesem Thema.

Abb. 3 Blutzucker bei der Arbeit: Die Abbildung zeigt (nach Berger et al. 1977) den Einfluss von körperlicher Arbeit auf die Glukosekonzentration von Diabetikern (Mittelwerte mit Standardabweichung). (Aus: Boutellier und Ulmer 2007; in: Schmidt und Lang 2007)

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Gesundheitsprobleme entstehen immer, wenn dieses Gleichgewicht gestört ist. Ein Zuwenig an Nahrung oder auch Mangelernährung führt ebenso zu Problemen wie ein Zuviel an Nahrung. Je nach geografischer Region ist die Problemlage dabei sehr unterschiedlich. Mangelernährung ist zunächst ein Mangel an energieliefernden Substraten und zieht entsprechende Krankheiten nach sich. Mangelernährung kann sich jedoch auch auf einzelne Substrate beziehen und ist dann mit spezifischen Symptomen gekoppelt, die zu diesem Mangel passen (z. B. Eisenmangel, Vitamin-B-Mangel etc.). In den reichen Industrienationen ist Mangelernährung eher ein Problem des höheren Lebensalters, das daher besonderer Aufmerksamkeit bedarf (vgl. z. B. Volkert 2015; Volkert et al. 2004). Dabei ist dies Problem leicht zu diagnostizieren, da die erforderlichen Daten, um das Problem einzuschätzen, Größe und Gewicht, leicht zu erheben sind. Zudem stehen verschiedene Screening-Instrumente zur Verfügung (z. B. Mini Nutritional Assessment (MNA) und Nutritional Risk Screening (NRS 2002). Auf der anderen Seite führt ein Überangebot an Nahrungsmitteln zu den bekannten Problemen vor allem von Übergewicht und Diabetes mellitus. Die AOK Familienstudie stellt hierzu 2018 fest: „Insgesamt war mehr als jeder dritte befragte Elternteil übergewichtig oder jeder fünfte sogar adipös. Nur 42 Prozent der Eltern hatten ein normales Gewicht. Als übergewichtig gilt, wer einen Body-Mass-Index (BMI) von 25 überschreitet. Zur Gruppe der stark übergewichtigen, also adipösen Menschen zählt, wer einen BMI über 30 hat. Bei den Vätern waren fast drei Viertel übergewichtig oder adipös. Dies trifft nur auf 50 Prozent der Mütter zu.“ (AOK 2018). Gesundheitsprogramme zur Senkung von Übergewicht sind ein sehr aktuelles Thema der Krankenkassen. Hinzu kommt, dass Adipositas einer der Risikofaktoren für Diabetes mellitus ist. Dieser ist ebenfalls seit vielen Jahren als ein Problemfeld zu bezeichnen. Denn der Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) betrifft beinahe jeden zehnten Erwachsenen. So ist bei 7 % der 18- bis 79-Jährigen gegenwärtig ein Diabetes mellitus diagnostiziert, bei weiteren 2 % der Menschen dieser Altersspanne liegt ein unentdeckter Diabetes mellitus vor (Robert Koch-Institut 2015, S. 35). Im Übrigen sind auch im Bereich Übergewicht und Diabetes die Vorteile von Bewegung unbestritten, so dass hier ein hohes Präventionspotenzial zu verzeichnen ist. Aber auch die Versorgung mit Flüssigkeit ist ein Thema in diesem Zusammenhang.

Fallbeispiel

Frau Baske lebt allein und wird von einem ambulanten Pflegedienst morgens betreut. Sie ist 85 Jahre alt, aber (Fortsetzung)

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noch gut orientiert und an allem interessiert. Sie trinkt regelmäßig ca. 1 Liter Schwarzen Tee und abends Kräutertee. Regelmäßig nimmt sie ihre Medikamente ein: 1-mal 1 Digoxin 0,5 und 1-mal 20 mg Furosemid. In den letzten Tagen hatte sie einen Magen-Darm-Infekt, musste mehrmals erbrechen und hatte 3- bis 6-mal täglich dünnen Stuhl abgesetzt. Sie hatte wenig gegessen und getrunken. An diesem Tag fällt dem Pflegedienst auf, dass Frau Baske müde ist und „wirres“ Zeug redet. Sie ist zu Zeit und Ort nicht orientiert. Der Mund steht offen und die Zunge fühlt sich trocken an. Hautfalten am Handrücken verstreichen nach dem Loslassen nicht sofort. Frau Baske ist offensichtlich dehydriert. Faktoren für ihre Dehydration sind: Flüssigkeitsverlust über den MagenDarm-Infekt ohne entsprechende gegenläufige Trinkmenge. Flüssigkeitsverlust aufgrund der Medikation (Diuretikum). Die normale Trinkmenge befindet sich ebenfalls im unteren Sollbereich. Eine solche Dehydratation führt zu einem Volumenmangel im Gefäßsystem, dies resultiert in einem Abfall des Blutdrucks mit einer verringerten zerebralen Durchblutung, was ein Faktor für die akute Verwirrtheit sein könnte. Die Dehydratation kann zudem zu einer Flüssigkeitsverschiebung im Gehirn zwischen Extrazellulärraum und Intrazellulärraum führen, was ebenfalls eine Funktionsbeeinträchtigung des zentralen Nervensystems bedingen kann (Abb. 4 und 5). Schließlich ist nicht auszuschließen, dass aufgrund des Diuretikums und des Durchfalls ein Kaliumverlust eingetreten ist, der zu einer Hypokaliämie geführt hat. Diese wiederum führt zu einer erhöhten Digitalisempfindlichkeit des Herzmuskels. Herzrhythmusstörungen könnten die Folge sein. Auch ein erhöhter Digitalisspiegel im Blut könnte zu der Symptomatik der Verwirrtheit beitragen. Therapeutisch ist eine Rehydrierung angezeigt, eine Überprüfung des aktuellen Infektes und der aktuellen Medikation. Pflegerisch kommt der Sturzprophylaxe eine hohe Bedeutung zu wie auch orientierenden Hilfen. Im Vordergrund steht jedoch die Gestaltung der akuten Versorgungssituation.

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Steuerung und Regulation

Ein weiteres Kennzeichen des Lebens wird mit dem Wort Reizbarkeit umschrieben. Dies bedeutet, dass der Mensch Wahrnehmungsfähigkeit für seine Umgebung besitzt und seine Reaktionen auf die dadurch erhaltenen Informationen ausrichten kann. Darüber hinaus kann der Mensch auch Reize aus seiner Innenwelt, also aus dem Körper, selbst verarbeiten und sein System darauf anpassen. Die Wahrnehmung, Verarbeitung und Reaktion auf innere und äußere Reize erfolgt einerseits durch das Nervensystem – insbeson-

20 Abb. 4 Regelung des Volumens und der Osmolalität: Der Körper verfügt über Rezeptoren für die Wahrnehmung des Volumens, des Drucks und der Osmolalität im Kreislauf. Damit können Zufuhr und Ausscheidung reguliert werden (SO: supraoptischer Kern, ADH: antidiuretisches Hormon, EZF: extrazelluläre Flüssigkeit). (Aus: Persson 2007, S. 728; in: Schmidt und Lang 2007)

Abb. 5 Hypovolämischer und osmotischer Durst bei Wassermangel. (Aus: Persson 2007, S. 730; in: Schmidt und Lang 2007)

A. Nauerth

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

dere die sofortige Reaktion – und andererseits durch das Hormonsystem, was vor allem längerfristige Anpassungen steuert. Für die Gesundheit ist der Austausch mit der Umgebung in all seinen Facetten von grundsätzlicher Bedeutung. Bezogen auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit bestehen allerdings natürliche Beschränkungen: Wir nehmen nur das wahr, für das wir Rezeptoren haben, und nur in der Qualität, die unsere Rezeptoren zulassen. Für Radio und Funkwellen z. B. haben wir keine Rezeptoren, sondern benötigen entsprechende Verstärker, um das Übermittelte zu hören. Auch unsere Nasen sind deutlich weniger empfindlich als Nasen von Hunden, sodass wir auch auf diesem Gebiet der Wahrnehmung eingeschränkt sind (vgl. Silverthorn 2009, S. 483). Alles, was wir wahrnehmen, wird darüber hinaus gefiltert in Bezug auf subjektive Relevanz in der aktuellen Situation und somit werden viele Eindrücke nicht zugelassen, die in komplexen Situationen ebenfalls vorhanden sind. Hier dient eine Struktur in unserem Zwischenhirn (der Thalamus) als große Filterstation, als „Tor zum Bewusstsein“. Wir können auf diese Weise auch selektiv empfindlicher auf bestimmte Laute und Töne reagieren (z. B. Eltern hören die Stimme ihres Kindes aus einem Stimmengewirr heraus etc.). Fallbeispiel

Frau Schulze fährt mit dem Fahrrad zur Arbeit. 200 Meter vor ihrer Arbeitsstätte rutscht ihr das Fahrrad auf einer vereisten Stelle weg. Sie stürzt zu Boden und kommt im Vierfüßlerstand auf. Das rechte Knie schmerzt. Langsam erhebt sie sich, hebt das Fahrrad auf, schiebt dieses auf den Bürgersteig. Nach einigen Metern steigt sie auf und fährt zur Arbeit, schließt das Fahrrad an und begibt sich in ihr Büro. Dort wird sie angesprochen, dass sie so blass aussähe. Erst jetzt realisiert sie das Ausmaß des Geschehenen. Das Knie hat Schürfwunden und ist bei Inspektion sehr geschwollen. Frau Schulze lässt sich zur Abklärung in die Ambulanz des nächsten Krankenhauses fahren. Der Reiz des Aufpralls auf das Knie hat zu einer Verletzung geführt und ist mit Schmerz verbunden. Es kommt zu einer Reizung der Schmerzrezeptoren im Gewebe. Die Rezeptorenreizung führt zur Entstehung eines Aktionspotenzials, das auf der afferenten Faser zum Rückenmark geleitet wird. Im Hinterhorn des Rückenmarkes erfolgen einerseits eine reflektorische Anspannung der Muskulatur im Verletzungsgebiet über motorische Fasern aus dem Alpha-Motoneuron sowie eine über vegetative Fasern geleitete Beeinflussung der Durchblutung im Verletzungsgebiet. Andererseits wird der Impuls umgeschaltet auf ein zweites Neuron, dessen Neurit zur Gegenseite kreuzt und im Tractus spinothalamicus anterior zum Thalamus zieht. Im Thalamus erfolgt eine Umschaltung auf weitere Neuronen. Es ergeben sich Verbindungen zur

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Großhirnrinde (gyrus postcentralis) für die bewusste Wahrnehmung, zum limbischen System für die affektive Wahrnehmung und zum Hypothalamus für die vegetative Mitreaktion. In allen Systemen wird die Verarbeitung des Reizes fortgeführt und beeinflusst die Reaktion der betroffenen Person. Auf der Ebene der Reizverarbeitung im Großhirn ist die Vielfalt der Möglichkeiten unbegrenzt. Das Gehirn ist dauerhaft veränderungsbereit und damit lernfähig. Dank seiner Plastizität passt es sich dem Gebrauch und der jeweiligen Nutzung an. Aufbau und Ausbau von Kontakten der Nervenzellen untereinander, Verbesserung der Informationsleitung über die bestehenden Verbindungen oder Abbau von Verbindungen bei Nichtnutzung sind Optionen, die das Gehirn lebenslang nutzt (vgl. Treede 2007, S. 323). Die Relevanz dieser Optionen für den Bereich Gesundheit darf nicht unterschätzt werden (vgl. Hüther 2012; vgl. Stock und Kaiser 2012). Bei Erkrankungen im Bereich des Nervensystems vom Schlaganfall über Multiple Sklerose bis hin zu psychischen Erkrankungen muss mit diesen Bedingungen gearbeitet und das darin liegende Rehabilitationspotenzial genutzt werden. Fallbeispiel

Frau Neu (Pflegefachkraft) fährt mit dem Auto zu einer Patientin zum Hausbesuch. Sie fährt langsam und bremsbereit auf die Hauptstraße zu, in die sie nach rechts einbiegen will, und schaut nach links. In diesem Augenblick hört sie einen Aufprall und ein Kind rollt über ihre Kühlerhaube. Das Kind ist mit dem Fahrrad schnell vom Bürgersteig rechts gekommen, gegen das Auto gefahren und gestürzt. Frau Neu, steigt aus und läuft zu dem Kind. Das Kind steht auf. Es hatte einen Helm auf dem Kopf und es scheint nichts passiert zu sein. Frau Neu begleitet das Kind nach Hause und schiebt das Fahrrad. Dabei merkt sie, dass sie ganz kalte Hände hat, dass ihre eigenen Knie zittern. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Auch als sie nach 15 Minuten bei der Patientin ankommt, zittern ihre Hände noch deutlich. Diese sagt: „Da brauchen sie wohl erst mal einen Schnaps“. Ob ihr das helfen wird? Frau Neu hat eine klassische Stressreaktion erlebt. Ihr ist ein Schreck in die Glieder gefahren und hat eine Alarmreaktion ausgelöst (Abb. 6). Die optische Wahrnehmung (Kind auf der Kühlerhaube) und die akustische Wahrnehmung (Aufprall) wurden zum Großhirn geleitet und als Gefahr eingestuft. Es läuft eine Aktivierung auf allen Ebenen: Alarmreaktion im limbischen System, Aktivierung des Hypothalamus als übergeordnete Steuerzentrale des vegetativen Systems, Weckreaktion an das Großhirn. Vom Hypothalamus aus erfolgt eine Aktivierung des Stammhirns über noradrenerge Transmittersysteme (Kreislaufzentrum, Atemzentrum). Von dort erfolgt eine Aktivierung via Sympathikusbahn zum Herz (Herzfrequenzer-

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A. Nauerth

Abb. 6 Ablauf der Stressreaktion: Die Abbildung zeigt den Weg der Stressreaktion im Körper. Blaue Pfeile beschreiben nervöse Reaktionen, rote Pfeile stehen für Transport auf dem Blutweg

Reiz aus der Außen- oder Innenwelt Wahrnehmung

Verarbeitung im Gehirn : Alarmreaktion

Hypothalamus

Nervaler Weg

Hormoneller Weg:

Veg. Zentren Stammhirn

Ausschüttung von CRH

Seitenhorn Rückenmark (Thorakal) Hypophyse Ausschüttung von ACTH Sympathikus 1. Neuron

Nebennierenmark Ausschüttung von Adrenalin ins Blut:

Sympathikus 2. Neuron

Wirkung an allen Organen / Zellen mit adrenergen Rezeptoren

Nebennierenrinde: Ausschüttung von Cortisol: Sensibilisierung für Catecholamine

Erfolgsorgan: Herz: Herzfrequenz steigt

Erhöhung Blutzuckerspiegel

Haut: Durchblutung sinkt

Lipolyse

Pupille: erweitert Muskel: Durchblutung steigt

Leistungsstoffwechsel erhöht höhung), zu den Blutgefäßen der Haut und des Darmes (Engstellung), zu den Pupillen (Weitstellung), zur Atemmuskulatur (Antrieb). Auch das Nebennierenmark wird über den Sympathikus aktiviert und schüttet Adrenalin in den Blutkreislauf aus. (Abb. 7 und 8) Dies führt ebenfalls zu einer längerfristigen Gefäßkontraktion und zum Herzantrieb (vgl. Jänig 2007, S. 441 und 445). Diese akute Stressreaktion klingt schnell wieder ab, wenn das zirkulierende Adrenalin abgebaut ist. Wenn die Gefahrensituation länger dauern sollte, erfolgt eine längerfristige Stressreaktion mit einer Aktivierung des Hypothalamus-Hypophysären-Systems und der Ausschüttung des Stresshormons Cortisol durch die Nebennierenrinde. Eine Cortisolerhöhung führt zu vielfältigen Wirkungen: Der Blutglukosespiegel wird erhöht, das Immunsystem wird geschwächt, die Produktion der schützenden Magenschleimhaut wird erniedrigt und die Produktion von Salzsäure im Magen erhöht. Längerfristiger Stress

stellt sich somit als ein die Gesundheit bedrohendes Phänomen dar, das zu Folgeerkrankungen führen kann. Auf der Ebene der vegetativen Reaktionen des Organismus ist die Frage des Stresses eine wichtige Frage im Bereich Gesundheit. Über den Weg des vegetativen Nervensystems und des Hormonsystems wird der ganze Körper mit einbezogen in das, was auf der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsebene im Gehirn passiert. Herz-Kreislauf, Durchblutung, Atmung und Verdauung sind betroffen, aber auch muskuläre Anspannung kann über diesen Weg verändert werden. Laut RKI tragen chronische Stressbelastung, Burn-outSyndrom und Schlafstörungen zum Entstehen von psychischen Störungen bei. Insbesondere von chronischem Stress sind knapp 14 % der Frauen und 8 % der Männer zwischen 18 und 64 Jahren betroffen und berichten über eine starke Belastung. Hinzu kommt, dass eine chronische Stressbelastung häufig mit weiteren Beeinträchtigungen wie Depression

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

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Abb. 7 Aufbau des peripheren vegetativen Nervensystems: Der Sympathikus entspringt in den thorakolumbalen Segmenten des Rückenmarks, der Parasympathikus entspringt mit dem Kopfteil im Stammhirn, mit dem Beckenteil in den sakralen Segmenten des Rückenmarks (fette

rote und grüne Linien: präganglionäre Axone, schwache rote und grüne Linien: postganglionäre Axone). (Aus: Jänig 2007, S. 441; in: Schmidt und Lang 2007)

oder Burn-out-Syndrom einhergeht. Dabei kann ein Burn-out ein Risiko für weitere psychische Störungen oder körperliche Erkrankungen sein, beispielsweise Angststörungen oder Bluthochdruck (Robert Koch-Institut 2015, S. 45). Aktivität und Bewegung können hier präventiv genutzt werden, da die muskuläre Spannung über den Weg der Bewegung abgebaut werden kann und die zur Verfügung gestellte Energie in muskulärer Arbeit verbraucht wird. Insgesamt ist allerdings zu beobachten, dass der Bereich der psychischen Erkrankungen erhöhter Aufmerksamkeit bedarf. Das RKI beschreibt mit Blick auf die Datenlage in Deutschland eine widersprüchliche Entwicklung für psychische Störungen: Sie werden zunehmend relevanter für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem, obwohl Bevölkerungsstudien keine Hinweise für eine Zunahme ergeben. Psychische Belastungen und Störungen gehören seit 20 Jahren mit steigender Tendenz zu den häufigsten Ursachen

krankheitsbedingter Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Die Zahl der Ausfalltage ist für Personen mit der Diagnose einer psychischen Störung höher und auch die Zahl der Frühberentungen aufgrund von psychischen Störungen steigt insgesamt (Robert Koch-Institut 2015, S. 43).

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Wachstum, Entwicklung und Regeneration

Fallbeispiel

Lisa ist 10 Jahre alt und gesund. Beim Spielen im Gelände stürzt sie unglücklich auf den rechten Ellen(Fortsetzung)

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Abb. 8 Überträgerstoffe und Rezeptoren im peripheren vegetativen Nervensystem: Bei Sympathikus und Parasympathikus ist der Überträgerstoff des präganglionären Neurons Acetylcholin. Die Überträgerstoffe des postganglionären Neurons sind beim Sympathikus Noradrenalin und beim Parasympathikus Acetylcholin. (Aus: Jänig 2007, S. 445; in: Schmidt und Lang 2007)

bogen. Der Ellenbogen wird geröntgt, es ist eine kleine Fissur an der Elle zu sehen. Der Arm wird drei Wochen ruhig gestellt. Nach drei Wochen wird die Schiene entfernt. Der rechte Unterarm ist deutlich dünner als der linke. Lisa kann den Arm nicht mehr ganz strecken und auch die Beugung ist eingeschränkt. Das Prinzip, dass die Nutzung von Funktionen zu Ausbau und Aufbau von Strukturen führt, ist im ganzen Körper präsent. Der Körper befindet sich in einem ständigen Auf-, Umbau- und Abbauprozess. Der Umbau- und Neubauprozess wird ganz eindeutig an der jeweiligen Nutzung ausgerichtet. Muskulatur wird abgebaut, wenn sie nicht mehr genutzt wird. Dies betrifft die Muskelfasern. Das in der Muskelzelle vorhandene kontraktile Element sind Filamente aus den Eiweißen Aktin und Myosin. Auch diese werden ständig nachproduziert und eingebaut. Wenn der Muskel nicht benutzt wird, baut er weniger Eiweiß in seine Strukturen ein. Dieses Phänomen führt zu einer Abnahme der Dicke des Muskels und zeigt sich in der Umfangreduktion. Aber warum ist die Bewegung eingeschränkt? Dies ist zunächst ein Problem eines Gewebes, das ubiquitär anzutreffen ist und ebenfalls schnell reagiert: das Bindegewebe. Das Bindegewebe ist im gesamten Körper vorhanden. Es befindet sich ebenfalls ständig in einem Abbau- und Umbauprozess. Die Bindegewebszellen (Fibroblasten) produzieren Fasermaterial, das außerhalb der Zellen gelagert und eingebaut wird. Die Einbindung dieses Fasermaterials erfolgt je nach Zug-

und Druckbelastung, also wiederum in Abhängigkeit von der Nutzung (vgl. van den Berg 2011). Fehlt in diesem Gewebe der Bewegungsreiz, werden die Fasern anders eingebaut, vorhandene Fasern verknüpfen sich zu veränderter Formation und es entstehen zusätzliche Verknüpfungen (crosslinks) von Fasern, die vorher nicht verbunden waren, sondern sich gegeneinander verschieben konnten (vgl. van den Berg 2011). Geschieht dies innerhalb des Muskels, dann verringert sich die Verschieblichkeit der Muskelfasern untereinander. Auch die anderen Strukturen, wie z. B. die Gelenkkapsel, werden weniger beweglich und geben weniger nach. Es kommt zu Beeinträchtigungen der Beweglichkeit. Aufgabe insbesondere der Physiotherapie ist es, durch entsprechende Übungen Impulse zu setzen, sodass die normale Beweglichkeit wieder aufgebaut werden kann. Am eindrücklichsten ist jedoch der Wachstums- und Entwicklungsprozess in der kindlichen Entwicklung vom Säugling zum Jugendlichen zu beobachten. Dabei ist jede Entwicklung individuell. Trotzdem wird im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen ein Vergleich angestellt, über die Entwicklungskurven, in denen Wachstum und Entwicklung insgesamt vonstattengehen. Damit wird es möglich, auf Verzögerungen aufmerksam zu werden und präventiv einzugreifen, um Entwicklungsverzögerungen gravierender Art zu vermeiden. Kinderärzte sind hier eine entscheidende Größe, unterstützt auch im Öffentlichen Gesundheitsdienst durch Kindergarten- und Schuluntersuchungen. In der Prävention von Entwicklungsproblemen spielen Familie und Schule eine wichtige Rolle, Resilienzfaktoren auszubilden durch soziale Unterstützung und die Ermöglichung von Erfolgserlebnissen. Die vom Robert Koch-Institut durchgeführte „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) zeigt, wie wichtig die Stärkung von Schutzfaktoren ist: Demnach zeigt ein Fünftel der gesamten Altersgruppe ein Risiko für eine psychische Störung. Auffällig ist auch, dass Jungen davon mit 23 % häufiger betroffen sind als Mädchen (17 %) und Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus mit 33 % mehr als drei Mal so oft wie solche aus Familien mit hohem Sozialstatus (10 %) (Robert Koch-Institut 2015, S. 22). Die Gestaltung gesunder Lebensverhältnisse unabhängig vom Sozialstatus ist eine Aufgabe, die auch in Deutschland noch unzureichend gelöst ist. Hier zeigen sich große Anforderungen an die Politikgestaltung von Seiten der Gesundheitswissenschaften.

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Sexualität und Reproduktion

Die Familie und ihr Nachwuchs sollten unter einem besonderen Schutz stehen. So greift u. a. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) das Thema Sexualität und Beratung schon sehr früh auf und gestaltet Informationsmaterial für unterschiedliche Alters- und Bildungsgruppen.

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Die Vermeidung von sexuell übertragbaren Erkrankungen durch sichere Sexualpraktiken steht dabei ebenso im Fokus wie der Umgang mit Verhütungsmitteln. Bei älteren Paaren ist oft eine Beratung zum Thema Kinderwunsch erforderlich. Ist eine Schwangerschaft eingetreten, greifen weitere Vorsorge- und Beratungsmöglichkeiten. Das Hintergrundwissen zu Sexualität und Familienplanung wird ebenfalls im Bereich der Naturwissenschaften zur Verfügung gestellt, aber gerade hier ist eine Betonung der sozialwissenschaftlichen Wissensbereiche unabdingbar, um Beratung und Edukation an die jeweiligen Zielgruppen anzupassen. Fallbeispiel

Teresa Müller ist 28 Jahre alt und hat vor 3 Tagen ihr erstes Kind bekommen. Es war eine Spontanentbindung. Sie hat ambulant in der Klinik entbunden und ist am gleichen Tag nach Hause gegangen, denn sie fühlte sich sehr gut. Zu Hause wird sie von einer Hebamme betreut, die täglich vorbeikommt. Ihr Mann hat Urlaub genommen, damit sie die ersten Tage gemeinsam die neue Situation gestalten können. Teresa Müller möchte ihr Kind stillen. Sie hat es gleich nach der Geburt angelegt und auch in den letzten Tagen das Kind regelmäßig an der Brust trinken lassen. An diesem Morgen begrüßt sie die Hebamme mit sorgenvollem Gesicht. Ihre Brüste fühlen sich voll und hart an, unter der linken Brustwarze ist eine kleine Fissur sichtbar, die beim Anlegen des Kindes sehr schmerzt. Das Kind ist außerdem von der Hautfarbe her gelblich geworden. Teresa Müller ist zum Heulen zumute und sie fühlt sich sehr überfordert. Als die Hebamme ihr nach Untersuchung des Kindes mitteilt, das Kind solle in die Kinderklinik zur Fototherapie, bricht Frau Müller in Tränen aus. Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt sind abhängig von der fein abgestimmten Hormonregulation im weiblichen Körper. Östrogen und Progesteronspiegel, die während der Schwangerschaft auch von der Plazenta gebildet werden und dauerhaft erhöht sind, sinken nach der Geburt nach der Ausstoßung der Plazenta rasch ab. Unter die noch immer erhöhten Prolaktinspiegel im Blut setzen an den Brustdrüsen die Milchproduktion in Gang. Das Anlegen des Säuglings führt zu einer mechanischen Reizung der Mamille. Die dadurch gereizten Mechanorezeptoren melden den Saugreiz an den Hypothalamus, der wiederum die Prolaktin- und Oxytocinproduktion steuert. Prolaktin bewirkt die Milchproduktion, Oxytocin bewirkt einerseits die Kontraktion der glatten Muskulatur in den Milchgängen und damit den sog. Milchejektionsreflex und andererseits die Kontraktion des Uterus und trägt somit zur Rückbildung der Gebärmutter bei. Am dritten/vierten Tag nach der Geburt wirken sich diese Hormonumstellungen im Organismus der Frau aus

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und führen zu einer erhöhten psychischen Labilität und gleichzeitig auch zu einem Ansteigen der Milchproduktion (auch Milcheinschuss genannt), was zu einer erhöhten Spannung in den Brüsten führt (vgl. z. B. Wuttke 2007). Ein Neugeborenenikterus mit einer Gelbfärbung der Haut des Säuglings ergibt sich in der ersten Woche bei mehr als 50 % aller Neugeborenen physiologisch. Die Ursache liegt in der verkürzten Lebensdauer der Erythrozyten der Neugeborenen einerseits und der unzureichenden Verstoffwechselung des Hämoglobins aus den Erythrozyten andererseits. Letzteres liegt an der noch nicht ausreichend ausgeprägten Fähigkeit der Leber des Säuglings, das Abbauprodukt des Hämoglobins, das indirekte Bilirubin (wasserunlöslich) in direktes Bilirubin (wasserlöslich) umzuwandeln, denn das dafür notwendige Schlüsselenzym (UDP-Glucuronyltransferase) ist vermindert aktiv (vgl. Herold 2012, S. 507). Somit kann das Bilirubin nicht ausgeschieden werden, verbleibt im Körper und führt zu einer Gelbfärbung der Haut und der Skleren. Eine Fototherapie, sorgt durch das spezielle Licht dafür, dass das wasserunlösliche Bilirubin in der Haut in wasserlösliches Bilirubin umgebaut wird und dann über die Nieren ausgeschieden werden kann. Ein weiteres Problem besteht beim Stillen. Rhagaden im Bereich der Brustwarze entstehen ggf., wenn die Mutter das Kind zu lange am Stück anlegt, den Saug-Unterdruck nicht beendet, bevor sie das Kind von der Brust nimmt und die Stillposition des Kindes nicht variiert. Dadurch entsteht eine zu hohe mechanische Belastung an nur einer Stelle, die zu einer Gewebsverletzung führen kann. Für die Hebamme stellt sich somit die umfassende Aufgabe, Frau Müller in dieser psychisch labilen Phase aufzuklären, sie psychisch zu stabilisieren, ihre Kompetenzen in der Fürsorge für das Kind zu optimieren, einen Klinikaufenthalt vorzubereiten und andererseits die Brustwarze zu inspizieren und ggf. Behandlungsmaßnahmen für Frau Müller zu empfehlen. Schließlich ist noch indiziert, die Still- und Anlegetechnik von Frau Müller zu verbessern. Diese Aufgaben werden in Deutschland zurzeit von Hebammen in der Nachsorge übernommen. Daneben steht das System der frühen Hilfen zur Verfügung, das Familien mit Kindern von 0–3 Jahren ein multiprofessionelles Angebot zur Gesundheitsförderung anbietet und Problemlagen aufgreift. In anderen Ländern wird in diesem Zusammenhang auch von Familiengesundheitspflege gesprochen und dieser Aufgabenbereich der Pflege zugeordnet (Family Health Nurse). Auch für Deutschland liegt hierzu ein erprobtes Konzept (DBfK 2009) vor, das jedoch noch nicht umgesetzt ist.

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Abgrenzung von und Kommunikation mit der Umwelt

Schließlich geht es bei den Phänomenen des Lebendigen auch um die Themen Abgrenzung von der Außenwelt und Kommunikation mit der Umwelt. Die äußere Umhüllung ist

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A. Nauerth

hier ein zentraler Baustein: für die kleinste lebendige Funktionseinheit ist dies die Zellmembran, für den Menschen sind es Haut und Schleimhäute, die diese Grenzschicht bilden. Bezogen auf den Menschen soll in diesem Kontext noch einmal auf die Bedeutung der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt hingewiesen werden. Diese Bedeutung führt auch zu den ökologischen Themen der Gestaltung der Umwelt, um die Lebensbedingungen so zu gestalten, dass ein großes Ausmaß an Gesundheit und Partizipation für alle Personen gewährleistet werden kann. Die Unterscheidung zwischen erwünschten und unerwünschten Reizen, Stoffen und Mikroorganismen ist ein in diesem Zusammenhang wesentlicher Aspekt. Der Mensch kann nicht in einem keimarmen Raum existieren. Er ist umgeben von Lebewesen aller Art und lebt mit vielen in Symbiose. Der Magen-Darm-Trakt ist im Bereich des Mundes und des Kolons von Mikroorganismen besiedelt, die Haut des Menschen ist von Mikroorganismen überzogen und diese sorgen für ein Milieu, das einen Austausch mit der Umwelt ermöglicht und gleichzeitig einen Schutz gegen schädliche Einflüsse bietet. Die Merkmale des „Eigenen“ liegen damit in den Eigenschaften der abgrenzenden Zellschichten. An der Abwehr des „Fremden“ ist vor allem das im Inneren arbeitende Immunsystem beteiligt, das für die Abwehr von nicht erwünschten Stoffen zuständig ist. Der Körper hat zunächst Barrieren (intakte Haut und Schleimhaut) geschaffen, damit Mikroorganismen nicht in den Körper eindringen können. Sind diese Barrieren durchbrochen, tritt das Immunsystem in Aktion mit dem Ziel, die eingedrungenen Schadstoffe zu zerstören und unwirksam zu machen (Abb. 9).

Fallbeispiel

Frau Schmidt ist 72 Jahre alt und hat seit 3 Jahren einen Altersdiabetes, der medikamentös eingestellt ist. Sie geht zum Hausarzt, weil sie sich nicht gut fühlt. Sie hat hohes Fieber (39,2  C) und Rückenschmerzen, außerdem Brennen beim Wasserlassen. Der Puls ist 110/min, die Atmung 20/min, das Gesicht ist gerötet. Frau Schmidt fühlt sich müde und schlapp. Frau Schmidt hat sich einen aufsteigenden Harnwegsinfekt zugezogen im Sinne einer akuten Pyelonephritis. Bakterien sind vermutlich über die Harnröhre im Sinne einer Schmierinfektion in die Harnblase gelangt: Die Feuchtigkeit, die Wärme und der Zuckergehalt im Urin bilden einen idealen Nährboden. Die Bakterien kolonisieren an der Blasenschleimhaut, vermehren sich und zerstören dabei auch das Blasenepithel. Die Botenstoffe aus den zerstörten Zellen induzieren eine lokale Entzündung. Im Rahmen der lokalen Entzündungsreaktion werden Botenstoffe frei, die auch die Schmerzsensoren reizen und die Rückenschmerzen auslösen. Die Entzündungsmediatoren locken Abwehrzellen (Makrophagen) aus den Blutgefäßen an den Ort des Geschehens. Diese Makrophagen phagozytieren Bakterien und senden Botenstoffe (Interleukine) aus, die einerseits zu einer lokalen Entzündungsreaktion führen und andererseits den Gesamtorganismus über die Infektion informieren (vgl. z. B. Gulbins und Lang 2007). Sie führen im Gehirn zu Müdigkeit und Abgeschlagenheit und setzen im Hypothalamus den Sollwert der Körpertemperatur herauf. Der Körper produziert daraufhin eine höhere Körpertemperatur durch Verminderung der

Abb. 9 Abwehrsystem

• Unspezifisch zellulär

• Unspezifisch humoral

Monozyten, neutrophile Granulozyten, nat. Killerzellen

Interleukine, Komplementsystem, Lysozym

Immunglobuline: IgG, T-Lymphozyten B-Lymphozyten

IgA, IgM IgD IgE

• Spezifisch zellulär

• Spezifisch humoral

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Biomedizinische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Wärmeabgabe (Engstellung der Blutgefäße) und Erhöhung der Wärmeproduktion im Fettgewebe. So entsteht Fieber im Rahmen eines Infektes. Akute Infektionen, die früher einen Großteil von tödlichen Erkrankungen ausmachten, sind inzwischen gut beherrschbar geworden. Hygienische Maßnahmen vor allem im Bereich der Umwelthygiene haben die Lebensbedingungen so verbessert, dass eine höhere Lebenserwartung die Folge war. Träger dieser Verbesserungen waren vor allem Städte und Gemeinden, sowie staatliche Organisationen (vgl. ausführlich Labisch und Wölk 2012). In den letzten Jahrzehnten hatte hierzu auch die Entwicklung von Antibiotika beigetragen, sodass man Infektionen beinahe für besiegt hielt. Mit der zunehmenden Resistenzentwicklung gegen Antibiotika ergibt sich allerdings eine neue Problematik, die heute einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Zugenommen haben jedoch auch andere Probleme im Zusammenhang mit dem Immunsystem. Ein überaktives Immunsystem führt bekanntlich zu dem wachsenden Phänomen der Allergien. Auch hier gibt die KiGGS-Studie des RKI Anhaltszahlen an: So wurden bei 26 % der Kinder und Jugendlichen Asthma bronchiale, Heuschnupfen oder Neurodermitis festgestellt (Robert Koch-Institut 2015, S. 25). Damit zählen allergische Erkrankungen durchaus zu den häufigen Problemen. Auch wenn noch nicht alle Zusammenhänge von Umwelt und Immunreaktionen aufgeklärt sind, lässt sich laut RKI (2015) festhalten, dass allergische Reaktionen sowohl durch Umwelteinflüsse als auch erblich bedingt ausgelöst werden können. Eine erbliche Anlage erhöht das Risiko zu erkranken bei Kindern. Auffällig ist, dass Kinder, deren Eltern in der Landwirtschaft arbeiten, die ältere Geschwister haben oder die schon früh eine Kindertageseinrichtung besuchen, ein geringeres Heuschnupfenrisiko als andere haben. Somit sind Risikofaktoren für Asthma bronchiale auch ein städtisches Lebensumfeld sowie Rauchen im familiären Umfeld (Robert Koch-Institut 2015, S. 25). Schon auf der Basis dieser Ausführungen lassen sich Maßnahmen auf der Verhaltensebene (z. B. Rauchen) wie auf der Verhältnisebene (soziales und Wohnungsumfeld) ableiten, die unmittelbar zu einer Verbesserung der Situation beitragen können.

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Fazit

Diese grundlegenden Ausführungen, die sich enzyklopädisch um alle Teilgebiete der Medizin erweitern ließen, lassen erkennen, wie vielfältig und vernetzt die biomedizinischen Grundlagen der Gesundheitswissenschaften zu denken sind. Es dürfte deutlich geworden sein, dass naturwissenschaftliche Grundlagen hilfreich sind, um Phänomene von und am Menschen zu verstehen und diese Phänomene auf dem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit einzuordnen.

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Naturwissenschaftliche Grundlagen liefern ebenso hilfreiche Ansätze, um Umgebungsphänomene in ihren Auswirkungen auf die Gesundheit einzuschätzen. Beide Aspekte unterstützen somit wirkungsvoll die diagnostische Kompetenz im Bereich Gesundheit. Darüber hinaus liefern Naturwissenschaften auch Hinweise für das Eingreifen von Fachkräften im Hinblick auf eine Steigerung der Gesundheit. Dies gilt insbesondere, wenn von den Fachkräften im Gesundheitswesen individualspezifische Maßnahmen zur Förderung von Gesundheit und Abwehr von Krankheit zu entwickeln sind. Aber auch verhältnispräventive Interventionen auf der Ebene der Institution oder Gesellschaft können und sollten auf naturwissenschaftlicher Basis geplant werden, mit dem Ziel, zu gesunden Lebensverhältnissen beizutragen. Das bedeutet nicht, dass die Naturwissenschaften einen allumfassenden Erklärungsanspruch erheben, aber dass sie eine wichtige Stimme im Orchester all der Einflussfaktoren spielen, die mit einer gemeinsamen Zielsetzung Wohlbefinden und Gesundheit in ganzen Bevölkerungsgruppen fördern wollen. Ohne Kenntnisse der naturwissenschaftlichen Grundlagen kann daher auch keine nachhaltige Kompetenz im Bereich der angewandten Gesundheitswissenschaften aufgebaut werden.

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Grundlagen der Gesundheitspsychologie Irmgard Vogt

Inhalt 1 Gesundheit und Modelle des Gesundheitsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.1 Begrifflichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Modelle des Gesundheitsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Salutogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle rationalen Gesundheits- und Entscheidungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozessmodell des gesundheitlichen Handelns (HAPA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transtheoretisches Stadienmodell (TTM) zur Verhaltensänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell der Rückfallprävention (relapse prevention) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 30 31 31 31 32 32

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Krankheitsverhalten, Krankenrolle und Patientenkompetenz (expert patient) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

4

Gesundheitskompetenz (health literacy) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

5

Intersektionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

1

Gesundheit und Modelle des Gesundheitsverhaltens

1.1

Begrifflichkeiten

" Definition Gesundheitspsychologie „Gesundheitspsycho-

logie umfasst die Gesamtzeit der pädagogischen, wissenschaftlichen und professionellen Beiträge der Psychologie zur Förderung und Aufrechterhaltung von Gesundheit, zur Prävention und Behandlung von Krankheit sowie zur Identifikation der ätiologischen und diagnostischen Korrelate von Gesundheit, Krankheit und der damit verbundenen Dysfunktionen“ (Matarazzo 1980, zitiert nach Faltermaier 2005, S. 15).

I. Vogt (*) Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected]

Bis heute hat diese sehr breite Definition von Gesundheitspsychologie ihren Platz und ihre Berechtigung. Die Gesundheitspsychologie geht vom biopsychosozialen Modell aus, in dem Gesundheit und Krankheit als aufeinander bezogene und dynamisch miteinander verflochtene Prozesse verstanden werden, die in komplexer Weise ineinandergreifen. Gesundheit und Krankheit sind Zustände, die sich als Folge der Intersektionen von biologischen, psychischen und sozialen Prozessen einstellen, und die mehr oder weniger lang anhalten können. Ergeben sich Veränderungen in einem Sektor oder in allen Bereichen, ändern sich auch die Zustände: Menschen fühlen sich je nach somatischen, psychischen und sozialen Gegebenheiten besonders wohl und sehr gesund oder eher weniger gesund bis krank und sehr krank. Anders gesagt sind es niemals allein biologische Faktoren, auf die Gesundheit gründet, vielmehr stehen diese immer im Verbund mit psychischen und sozialen Faktoren und Prozessen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_4

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I. Vogt

Historisch knüpft die Gesundheitspsychologie an der Gesundheitsdefinition der World Health Organisation (WHO) von 1946 an: " Definition Gesundheit „Gesundheit ist der Zustand des

völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“. Mit gutem Grund wird darauf hingewiesen, dass es sich eher um eine gesundheitspolitische Deklaration handelt und weniger um ein wissenschaftliches Modell. Dennoch ist die WHO-Definition von Gesundheit wegweisend, insofern sie Gesundheit als positiven Begriff definiert, der für Wohlbefinden und Lebensqualität steht. Subjekt einer so definierten Gesundheitspsychologie ist das Individuum mit seinen Motivationen, Emotionen, Kognitionen und konkreten Verhaltensweisen in unterschiedlichen Altersphasen und im jeweiligen sozialen Kontext auf der Mikro-, Meso- und Makroebene.

2

Modelle des Gesundheitsverhaltens

2.1

Salutogenese

Die Salutogenese (Antonovsky 1997) knüpft an die Definition der WHO von Gesundheit an und beschreibt diese als Prozess, der sowohl im Verlauf eines Tages als auch im Leben Veränderungen unterliegt. Faktisch handelt es sich um ein Gesundheitskontinuum, das von „extrem gesund“ bis zu „extrem ungesund“ bzw. (schwer oder chronisch) krank reicht. Auf diesem Kontinuum ordnen sich Menschen je nach der eigenen subjektiven Wahrnehmung ihres gesundheitlichen Befindens und unter Berücksichtigung ihrer (aktuellen) Lebenslage ein. Vier zentrale Einflussgrößen bestimmen das Modell, nämlich Stressoren, Bewältigung (coping), Widerstandsressourcen und das Kohärenzgefühl. Ob Stressoren als belastend erlebt werden oder nicht, hängt u. a. davon ab, welche Bedeutung sie für eine Person haben. Pathogen wirkt der Distress, bei dem es sich sowohl um langfristige und chronische Belastungen handeln kann als um akute Krisen und täglichen Ärger. Werden Stressoren von einem Individuum als Distress erfahren, also als psychische und physische Spannungszustände, werden alle verfügbaren Ressourcen und Kompetenzen zur Bewältigung der Situation aktiviert. Je besser die Bewältigungsstrategien (coping) sind, mit denen eine Person auf Spannungen reagieren kann und je mehr Ressourcen ihr zur Verfügung stehen, umso größer sind die Chancen, dass sie Spannungen ausbalancieren kann. Das Ergebnis der Bewältigungshandlungen wird als Feedback gespeichert und moduliert auf diesem Wege die zukünf-

tige Bewältigungsstrategie. Zudem beeinflussen die allgemeinen Widerstandsressourcen (generalized resistance resources) die Wahrnehmung und das Erleben von Stress. Antonovsky versteht darunter das genetische, konstitutionelle, körperliche, sozioökonomische und emotionale Potenzial, über das eine Person oder eine Gruppe von Personen verfügt. Konstitutionelle Widerstandsressourcen wirken per se salutogen, weil sie die Bewältigung von Distress erleichtern. Das ist unmittelbar einleuchtend: Individuen, die über eine robuste genetische Ausstattung verfügen, haben ein besseres Potenzial gegenüber Distress als Individuen, die genetisch beeinträchtigt sind. Wie eine Vielzahl von Studien belegt, gilt dies auch für personenbezogene und ökologische Ressourcen. Zu den wichtigsten personenbezogenen Ressourcen gehören neben anderem das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeitserwartung, persönlicher Optimismus und die Bewältigungsstrategien. Der Begriff Selbstwirksamkeit bezieht sich auf die subjektive Überzeugung einer Person, dass sie über Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, um z. B. gesundheitsrelevant zu handeln. Als weitere Ressourcen gelten Bildung, Beruf und Prestige, Einkommen und andere materielle Ressourcen und die daraus abgeleitete Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bzw. einer Statusgruppe mit den spezifischen Netzwerken. Personale und sozio-ökonomische Ressourcen bedingen sich gegenseitig: Wer eine hohe Bildung hat, verfügt in der Regel nicht nur über mehr materielle und oft auch über mehr ökologische Ressourcen, sondern auch über ein besseres Selbstwertgefühl, bessere Selbstwirksamkeitserwartungen und optimalere Bewältigungsstrategien als Personen mit geringer Bildung. Auch das Geschlecht steht in einer systematischen Beziehung mit den personalen, materiellen und ökologischen Ressourcen: Im Vergleich zu Frauen verfügen Männer über mehr materielle und oft auch über mehr ökologische Ressourcen. Allerdings haben Frauen im Vergleich zu Männern trotz geringerer materieller Ressourcen besser funktionierende personale und soziale Netzwerke, was für ihr Gesundheitsverhalten und für die Bewältigung von Distress von erheblicher Bedeutung ist. Dieser Hinweis macht darauf aufmerksam, dass Gesundheitsmodelle, die Männer im Blick haben, nicht einfach auf Frauen generalisiert werden sollten. Entscheidend für das subjektive Gesundheitsbefinden ist nach Antonovsky das Kohärenzgefühl (sense of coherence, SOC). Er definiert das so (1997, S. 36): " Definition Kohärenzgefühl „Das SOC (Kohärenzgefühl)

ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass (1) die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; (2) einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den

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Grundlagen der Gesundheitspsychologie

Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; (3) diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen“. Nach Antonovsky reagieren Personen mit einem hohen Kohärenzgefühl auf Belastungen anders als Personen mit einem geringen Kohärenzgefühl; erstere versuchen, die Ereignisse zu verstehen, ihnen einen Sinn zu geben. Sie aktivieren damit ihre personalen und ökonomischen Ressourcen und Bewältigungskapazitäten. Personen mit niedrigem Kohärenzgefühl tendieren dazu, angesichts von Stress und (neuen) Belastungen zu resignieren, weil sie meinen, dass die Anforderungen an sie zu groß sind, um sie bewältigen zu können. In einer Vielzahl von Studien konnte gezeigt werden, dass das Modell in wesentlichen Teilen funktioniert und in der Lage ist, das Verhalten von Individuen und Gruppen vorauszusagen. Ausführliche Darstellungen zu allen Themenbereichen, in denen der salutogenetische Ansatz angewendet und weiterentwickelt worden ist, findet man bei Mittelmark et al. (2017).

2.2

Modelle rationalen Gesundheits- und Entscheidungsverhaltens

Seit den 1970er-Jahren wurden im Rahmen der sich entwickelnden Gesundheitspsychologie verschiedene Modelle zum Gesundheitsverhalten (health behavior) erarbeitet. Ziel sowohl des Modells der gesundheitlichen Überzeugungen (health belief model) als auch das der Theorie des geplanten Verhaltens (theory of planned behavior) war und ist es, gesundheitliches Verhalten als im Kern rationales Entscheidungsverhalten zu erklären (ausführlich vgl. Knoll et al. 2011). Das Individuum, so wird postuliert, hat positive Einstellungen hinsichtlich aller Verhaltensweisen, die Gesundheit erhalten und Krankheit vermeiden. Daher wägt es jeweils den Nutzen und die Risiken bzw. die Kosten verschiedener Verhaltensweisen ab und entscheidet sich für diejenigen, die der Gesundheit zugutekommen. Empirische Studien haben gezeigt, dass sich aus Einstellungen nur sehr bedingt Vorhersagen über Verhalten ableiten lassen. Das gilt auch für das Gesundheitsverhalten. Zudem treffen Menschen, wenn es um Gesundheit in Abwägung von anderen Bedürfnissen geht, keineswegs immer rationale Entscheidungen. Vielmehr ziehen viele Individuen den sofortigen Genuss vor, auch wenn sie über die langfristigen Risiken sehr gut informiert sind. Das zeigt sich u. a. am Beispiel des Zigarettenrauchens oder des Konsums von Schokolade oder generell von stark gezuckerten Speisen und Getränken: Viele Menschen lassen sich nicht davon abbringen, zu rauchen oder Schokolade zu essen, obwohl sie über die gesundheitlichen Risiken Bescheid wissen.

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2.3

Prozessmodell des gesundheitlichen Handelns (HAPA)

Eine weitere Variante dieser Ansätze ist das Prozessmodell des gesundheitlichen Handelns (health action process approach, HAPA). Das Modell greift Konstrukte bestehender Modelle zum Gesundheitsverhalten auf und integriert sie in ein Volitionskonzept. Gesundheitliche Bedrohungspotenziale werden in einem Kosten-Nutzen-Prozess daraufhin abgewogen, ob es sich lohnt, ein spezifisches Verhalten beizubehalten oder es zu verändern. Ist letzteres der Fall, werden entsprechende Intentionen gebildet, die rückgekoppelt sind mit Selbstwirksamkeitserwartungen. Glaubt eine Person, dass sie in der Lage ist, bestimmte Verhaltensweisen dauerhaft auszuführen (z. B. täglich zu joggen) oder Verhaltensänderungen anzugehen (z. B. das Zigarettenrauchen aufzugeben), dann folgen die Phasen der Planung, der Handlungsinitiierung und der Durchführung. „Im Volitionsprozess kommt es darauf an, dass die Person situative Barrieren überwindet und Ressourcen erschließt“ (Faltermaier 2005, S. 184). Subjektive Normen, d. h. ein Netzwerk Gleichgesinnter sowie Verhaltenskontrollen durch Peers, können solche Ressourcen sein. Das Modell ist vielfach geprüft worden; es konnte erfolgreich in der Gesundheitsforschung eingesetzt werden (vgl. Schwarzer 2004).

2.4

Transtheoretisches Stadienmodell (TTM) zur Verhaltensänderung

Einen Schritt weiter geht das transtheoretische Modell zur Verhaltensänderung (TTM), das von einem Stadienmodell ausgeht. Es wurde ursprünglich im Kontext von Studien zum Ausstieg aus süchtigen Verhaltensweisen (z. B. Tabakrauchen) entwickelt, wird jedoch heute allgemein für gesundheitsrelevante Verhaltensänderungen herangezogen. Von zentraler Bedeutung für das TTM ist die Vorstellung, dass Menschen, die sich auf die Veränderung von (problematischem oder gesundheitsschädlichem) Verhalten einlassen, zunächst einmal eine entsprechende Motivation aufbauen müssen, die dann in Handlung umgesetzt werden kann. Dieser Prozess verläuft in Stadien, in denen jeweils unterschiedliche Widerstände zu überwinden bzw. unterschiedliche Ressourcen zu aktivieren sind. Stadium der Absichtslosigkeit (precontemplation) Menschen in diesem Stadium denken nicht oder fast nicht über gesundheitsbezogene Verhaltensänderungen nach, obgleich sie sich durchaus bewusst sein können, dass ihr Umgang z. B. mit Suchtmitteln oder ihre Abstinenz von körperlichen Aktivitäten auf lange Sicht gesehen gesundheitsschädlich sein kann.

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Stadium der Absichtsbildung (contemplation) Typisch für diese Phase ist eine ambivalente Haltung gegenüber den bislang eher selbstverständlichen Verhaltensweisen: Einerseits möchte man so weitermachen wie bisher, andererseits weiß man um die Gesundheitsgefahren. Man beginnt, die Kosten und den Nutzen dieser Verhaltensweisen gegeneinander abzuwägen. Stadium der Vorbereitung (preparation) Man nimmt sich vor, in den nächsten 30 Tagen mit ganz konkreten Schritten zur Verhaltensänderung anzufangen, z. B. regelmäßig 3 Stunden Sport pro Woche zu treiben, und macht Pläne, wie man das anpacken soll (wo und mit wem geht man in ein FitnessCenter usw.). Stadium der Handlung (action) Man geht in den Sportverein und trainiert dort; man hört mit dem Rauchen auf und hat keine Zigaretten mehr zur Hand. Stadium der Aufrechterhaltung (maintenance) Das neue Verhalten (Sport treiben, nicht mehr Rauchen) wird fest eingeübt und für wenigstens 6 Monate durchgehalten. Diese Phase geht gleitend über in das Stadium der Stabilisierung. Stadium der Stabilisierung (termination) Das gesundheitsförderliche Verhalten wird selbstverständlich. Empirische Studien z. B. zur Veränderung von süchtigen Verhaltensweisen (z. B. Reduzierung des Konsums von alkoholischen Getränken, der Zeit für PC-Spiele usw.) haben wiederholt gezeigt, dass dies oft nicht auf Anhieb gelingt. Vielmehr benötigen viele, die sich gesundheitsförderliche Ziele vornehmen, mehrere Anläufe, um diese zu erreichen. Darauf haben Marlatt und Mitarbeiter (Marlatt und Gordon 1985) seit den 1970er-Jahren hingewiesen. Rückfall (relapse) Die Aufrechterhaltung des neuen Verhaltens funktioniert eine Zeit lang, stabilisiert sich aber (noch) nicht. Man fällt in alte Verhaltensweisen zurück, hört auf mit dem Sport, fängt wieder an zu rauchen usw. Kommt es zu einem leichten Rückfall (lapse), besteht die Chance, das unerwünschte Verhalten schnell wieder aufzugeben. Bei einem schweren Rückfall (relapse) ist es schwieriger, das gesundheitsgefährdende Verhalten zu unterbrechen. Das Modell ist in einer Vielzahl von Studien auf seine theoretische und praktische Tauglichkeit überprüft worden; es hat sich bewährt. Problematisch ist allerdings, dass sich zwar das Stadium der Absichtslosigkeit und der Rückfall von allen anderen Stadien sehr gut abheben, dass jedoch die Grenzen zwischen den übrigen Stadien nicht eindeutig festzustellen sind. Vielmehr verwischen sich diese zwischen den Stadien Absichtsbildung und der Vorbereitung sowie zwischen diesem und dem der Handlung. Für die Praxis ist das

I. Vogt

allerdings weniger relevant, da es hier auf das Endergebnis sowie die Stabilisierung der Verhaltensänderung ankommt.

2.5

Modell der Rückfallprävention (relapse prevention)

Weil es im Zusammenhang von gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen, die „verlernt“ werden sollen, nach ersten Erfolgen sehr häufig zu Rückfällen kommt, soll das Modell der Rückfallprävention ebenfalls dargestellt werden. Zentral für den Rückfall sind Hochrisikosituationen. Dazu zählen Situationen mit starken negativen Affekten wie (1) Ängste, Ärger, Frustration, aber auch Langeweile sowie (2) Konflikte in der Familie, in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz. Hochriskant sind auch Situationen, in denen die Betroffenen (3) unter starken sozialen Druck geraten oder schließlich (4) Situationen mit starken positiven Affekten wie Freude, Erfolgserlebnisse und (5) Situationen, die Versuchungen darstellen und zum Austesten persönlicher Kontrollfähigkeiten reizen (Breslin et al. 2002). Menschen, die in solchen Hochrisikosituationen über nicht ausreichende Bewältigungskompetenzen verfügen, setzen gewöhnlich die Mittel ein, mit denen sie auch schon früher kritische Situationen bewältigt haben, z. B. Alkohol. Gelingt es ihnen, den Rückfall zu stoppen (lapse), stärkt das ihr Widerstandspotenzial und ihre Selbstwirksamkeit. Wer dies nicht schafft, fällt in alte Verhaltensweisen zurück; es kommt zum schweren Rückfall (relapse). Im Modell wird zunächst davon ausgegangen, dass es beim schweren Rückfall zu einem „Abstinenz- bzw. Regel-Verletzungs-Effekt“ kommt, d. h. dass die Person, die rückfällig wird, das Geschehen einordnet in das gängige Krankheitskonzept von Sucht, das unidimensional und ausweglos ist. In Weiterentwicklung des Modells wurde postuliert, dass weitere kognitive Determinanten den Rückfallprozess nachhaltig beeinflussen (Witkiewitz und Marlatt 2004). Neben der Ursachenzuschreibung (Attribution) gehören dazu die Selbstwirksamkeitserwartungen: Sind diese hoch, kommt es wahrscheinlich nur zu einem leichten Rückfall. Für die Betroffenen kommt es daher darauf an, die Selbstwirksamkeit mit Bezug auf die jeweiligen Situationen richtig einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten, da Überschätzungen ebenso zu schweren Rückfällen führen können wie Unterschätzungen.

2.6

Achtsamkeit

Die oben beschriebenen Modelle leiten über zu neuen Ansätzen von Achtsamkeit (mindfulness). " Definition Achtsamkeit Unter Achtsamkeit versteht man

eine spezifische und absichtsvolle nicht-wertende Form der

3

Grundlagen der Gesundheitspsychologie

Aufmerksamkeitslenkung auf den Moment. „Die achtsame Haltung unterscheidet sich erheblich vom Alltagsbewusstsein, das häufig in Vergangenheit oder Zukunft gefangen ist und das von intensiven Wertungen durchzogen ist . . . Achtsamkeit stellt sich somit in der Regel nicht von selbst her, sondern es erfordert Übung und Disziplin, von einem alltäglichen unachtsamen Zustand zu einer achtsamen Haltung zu gelangen“ (Heidenreich und Michalak 2013, S. 294). Obwohl alle achtsamkeitsbasierten Ansätze und vor allem alle Achtsamkeitsübungen im Buddhismus gründen, spiegelt sich das in der theoretischen Fundierung wenig bis gar nicht wider. Die wichtigsten Übungen sind die Sitzmeditation, der Body-Scan sowie Yoga-Übungen und schließlich die achtsame Ausführung verschiedenster Aktivitäten im Alltag (Gehen, Stehen, still Beobachten, Essen usw.). Achtsamkeitsbasierte Ansätze in Kombination mit Elementen aus der kognitiven Verhaltenstherapie (mindfulness-based cognitive therapy, MBCT) sind erfolgreich in der Rückfallprävention von Depressionen eingesetzt worden (ausführlich bei Michalak und Heidenreich 2009). Für einige Betroffene lösen sich in den Meditationsübungen die belastenden Gedanken auf, für andere ist es die damit verbundene Entspannung, aus der sie neue Kraft schöpfen. Achtsamkeitsübungen haben mittlerweile in einer Reihe von gesundheitsförderlichen Verfahren einen festen Platz. Dazu gehören Programme zur Stressreduktion (de Vibe et al. 2017; Meibert et al. 2009) und solche zur Rückfallprävention bei Menschen mit Substanzkonsumstörungen (Bowen et al. 2012).

3

Krankheitsverhalten, Krankenrolle und Patientenkompetenz (expert patient)

Wie im Vorhergehenden dargestellt, unterscheidet sich der individuelle Zugang, bestimmte physische und psychische Zustände als gesund und andere als ungesund bzw. krank zu erklären. Auch lernen Menschen im jeweiligen kulturellen Kontext, wie es sich anfühlen soll, wenn wir uns subjektiv als gesund, und wie, wenn wir uns als krank erleben. Nicht jeder von einer – medizinisch definierten – Norm abweichende Zustand gilt in allen Kulturen als nicht gesund bzw. krank. Aber alle Kulturen kennen Zustände, die als krank gelten. In der westlichen Welt hat Parsons (1958) darauf hingewiesen, dass Gesundheit die Norm ist und Krankheit sowie Kranksein eine Abweichung von dieser Norm. Er folgert weiter, dass Menschen, die krank sind, nicht mehr die Aufgaben erfüllen können, die sie im gesunden Zustand erledigen. Folglich können sie ihren normalen Rollenverpflichtungen nicht mehr nachkommen; sie nehmen daher die Krankenrolle ein, die sie von ihren alltäglichen Aufgaben entbindet, jedoch zugleich verlangt, dass sie sich darum

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bemühen, schnell wieder gesund zu werden. Dazu ist oft kompetente Hilfe notwendig, die in der Regel vom Fachpersonal der Medizin, der Psychotherapie, der Pflege usw. angeboten wird. Wie eingangs festgestellt, geht man heute von einem biopsychosozialen Prozessmodell von Gesundheit und Krankheit aus. Entsprechend ist die Krankenrolle modifiziert und differenziert worden. Wer krank ist und Hilfe im medizinischen System sucht, wird relativ schnell zum Patienten bzw. zur Patientin und muss sich mit den damit verbundenen Erwartungen an das Verhalten arrangieren. Unter Patientenkompetenz wird die Fähigkeit des Patienten und der Patientin verstanden, sich mit den Herausforderungen der Erkrankung auseinanderzusetzen. Stutz Steiger (2015) hat die Rollen von Gesunden, Kranken sowie Patientinnen und Patienten zusammengefasst und in Bezug gesetzt zu den Kompetenzen, die sie in die jeweiligen Situationen mitbringen bzw. die man von ihnen erwartet. Gesunde Person Laiendiagnose von Gesundheit: Einschätzung des eigenen Verhaltens in Hinblick auf gesundheitliche Risiken und gesundheitsförderliche Ressourcen. Beginn der Krankenrolle Laiendiagnose von Krankheit: Symptome, die auf Krankheit hindeuten, werden wahrgenommen und entsprechend interpretiert. Beginn der Rolle als Patient Entscheidung über Art und Inanspruchnahme des medizinischen Systems (einschließlich Psychotherapie). Sammeln von Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem (Navigieren im System). Etablierung der Rolle als Patient (Patientenrolle) In den Interaktionen mit (medizinischem) Fachpersonal: Darstellung der Symptome und der eigenen Lebenslage. Kooperation bei der Erstellung der Diagnose und deren Akzeptierung. Kooperation bei der Therapie; Compliance/Adherence mit dem Behandlungsplan. Ko-Produktion von Gesundheit. Chronische Krankheit – dauerhafte Etablierung der Patientenrolle Dauerhaftes Arrangement mit dem (medizinischen) Fachpersonal. Anpassung der Lebensweise an die Einschränkungen durch die chronische Krankheit. Selbstmanagement als chronisch kranke Person und Selbstorganisation im System (z. B. mithilfe von Patienten- und Selbsthilfeorganisationen). Die Darstellung macht deutlich, dass es mehrere Übergänge gibt, einmal den vom Zustand der Gesundheit in den von Krankheit und der damit verbundenen Krankenrolle. Menschen, die wegen ihrer Erkrankung die Dienstleistungen des medizinischen Versorgungssystems in Anspruch nehmen (müssen), finden sich wieder in der Patientenrolle. Von ihnen wird u. a. erwartet, dass sie sich gegenüber dem Fachpersonal

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I. Vogt

verständlich machen und ihre Symptome darstellen können. Das sind wichtige Schritte hin zu einer Diagnose. Liegt diese vor, wird weiterhin erwartet, dass der Patient diese akzeptiert, ebenso den Behandlungsplan, der davon abgeleitet wird. Als Patient sollen die Betroffenen den Anweisungen der Fachleute folgen (compliance) und sich an den Behandlungsplan halten (adherence), allerdings ohne dabei die eigene Befindlichkeit und die eigenen Bedürfnisse aus dem Auge zu verlieren. Im besten Fall werden sie zu Ko-Produzenten ihrer eigenen Gesundheit. Das setzt Fachpersonal voraus, das die Kompetenzen der Patienten achtet und diese bei ihren Bemühungen, sich aktiv mit ihrer Erkrankung auseinanderzusetzen, unterstützt. Patientenkompetenz ist besonders wichtig für Menschen mit chronischen Krankheiten, die sich in ihrer Lebensweise an die Einschränkungen, die damit verbunden sind, anpassen müssen. Allerdings findet man in diesen Gruppen auch besonders viele Menschen, die über ein hohes Maß an Patientenkompetenz verfügen und die ihre Kompetenzen über die eigenen Bedürfnisse hinaus einsetzen zur Verbesserung der Lage aller chronisch Kranken. Es liegt auf der Hand, dass die Patientenkompetenz von einer Reihe von Faktoren abhängt, u. a. von der Art und vom Stadium der Erkrankung sowie von den persönlichen (materiellen und psychischen) Ressourcen, der psychischen Befindlichkeit und dem fachlichen Wissen bzw. der Gesundheitskompetenz.

4

Gesundheitskompetenz (health literacy)

Der Begriff Gesundheitskompetenz (health literacy) etablierte sich in den 1980er-Jahren; er bezog sich zunächst auf die Fähigkeiten von Personen, Gesundheitsinformationen zu lesen und zu verstehen, z. B. die Beipackzettel von Medikamenten. Zur Gesundheitskompetenz gehört heute neben hinreichender Literalität die Fähigkeit, „gesundheitsrelevante Informationen finden, verstehen, kritisch beurteilen, auf die eigene Lebenssituation beziehen und für die Erhaltung und Förderung der Gesundheit nutzen zu können“ (Schaeffer et al. 2018, S. 12). Gesundheitskompetenz ist relational zu verstehen; sie geht von den persönlichen Kompetenzen und Fähigkeiten aus und bezieht sich auf die Komplexität der aktuellen Lebenskontexte der Menschen. In der Wissensgesellschaft ist Gesundheitskompetenz für den Einzelnen und sein soziales Umfeld von eminenter Bedeutung. Wer die Fähigkeiten und den Zugang hat, um Sachwissen zur Gesundheit offline (persönliche Gespräche mit Freunden und Fachleuten, Infoblätter, Broschüren, Zeitschriften usw.) oder online (Speicherung und Interpretation eigener Gesundheitsdaten auf dem Smartphone; Nutzung von Gesundheitsportalen im Internet usw.) abzurufen, verfügt über eine Fülle von Informationen, die es dann allerdings zu sortieren, einzuordnen und zu verstehen gilt. Das ist ein

komplexer Prozess, bei dem der Einzelne bislang weitgehend allein gelassen wird. Der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz (Schaeffer et al. 2018; Sørensen 2012) empfiehlt zum einen, die Kommunikation zwischen den Gesundheitsprofessionen zu verbessern, zum anderen die Gesundheitsinformationen nutzerfreundlicher zu gestalten und schließlich, die Medienkompetenz der Bevölkerung zu erhöhen. Differenzierte Analysen der Nutzung von Gesundheitsinformationen zeigen nämlich, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nur vergleichsweise selten mit Gesundheitsthemen beschäftigt und dass diejenigen, die das überhaupt tun, ihre Informationen überwiegend über traditionelle Kanäle (Informationen von Familienmitgliedern und Freunden, Ärzten und Apothekern) und aus Printmedien besorgen. Ein kleinerer Teil kombiniert diese Informationskanäle mit denen, die über das Internet bereitstehen, wobei sich zudem unterschiedliche Intensitäten und Nutzergewohnheiten abzeichnen (Bachl und Mangold 2017). Überblicksarbeiten zeigen zudem, dass für die Internetnutzung neben dem Geschlecht die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe und das Bildungsniveau wichtige Rollen spielen (Zschorlich et al. 2015). Männer und Frauen mit niedrigem Bildungsstand, die zudem Angehörige der unteren Statusgruppe sind, verfügen im Vergleich mit denjenigen mit mittlerem bis hohem Bildungsstand und Zugehörigkeit zu den mittleren oder hohen Statusgruppen über geringere Gesundheitskompetenz. Diese Differenzen nehmen mit dem Alter zu. Ausmaß und Grad der Gesundheitskompetenz stehen zudem in engem Zusammenhang mit der Lebensweise. Wer über einen mittleren bis hohen Grad der Gesundheitskompetenz verfügt, tendiert dazu, sich sportlich zu betätigen sowie auf die Ernährung zu achten. Das kommt der subjektiven Einschätzung der Gesundheit zugute, die von diesen Personengruppen durchweg besser eingeschätzt wird als von Menschen mit schlechter Gesundheitskompetenz. Es ist dringend nötig, die Gesundheitskompetenz von Individuen und Gruppen mit gezielten Interventionen zu erhöhen. Stutz Steiger (2015) weist darauf hin, dass geschulte Fachleute mit gesundheitspsychologischem Wissen wichtig sind, damit diejenigen, die an Fragen der Gesundheit interessiert sind, die Informationen erhalten, die sie benötigen, um gute Entscheidungen für sich selbst oder für Familienangehörige zu fällen.

5

Intersektionalität

Das Konzept der Intersektionalität (intersectionality) wurde in der feministischen Forschung entwickelt. Es geht darum, dass die gegenseitige bzw. mehrfache Abhängigkeit bzw. Interdependenz von Kategorien (z. B. Geschlechter, soziale Schicht bzw. Statusgruppen, Altersgruppen, Ethnie bzw.

3

Grundlagen der Gesundheitspsychologie

Migrationsstatus usw.), in denen sich Differenzen und gewöhnlich auch Diskriminierungen bündeln, in der Theorie und in der Forschungspraxis sichtbar gemacht werden. Für die Gesundheitspsychologie heißt das, dass sie in ihren empirischen Studien und Analysen wenigstens drei Geschlechter – Männer, Frauen, Transgender-Menschen – berücksichtigen muss und zwar im Kontext der Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe und zu einer Altersgruppe und weiterer Variabler. Die Berücksichtigung von zwei und mehr Variablen erhöht die Komplexität der Modelle des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens sowie der Rollen als Patient, Patientin oder Transgender-Mensch. Geht man vom Konzept der Intersektionalität aus, verschieben sich Aussagen zur Gesundheit erheblich. Gut belegt ist, dass Frauen im Vergleich zu Männern aller Altersgruppen aufmerksamer sind hinsichtlich ihres gesundheitlichen Befindens. Das bezieht sich sowohl auf physische als auf psychische Prozesse (Faltermaier und Hübner 2016). Je nach Lebenslage, Gesundheitskompetenz und Selbstwirksamkeitserwartung reagieren sie darauf mit Selbstmanagement-Techniken und mit der Inanspruchnahme von Angeboten des professionellen Gesundheitssystems. Ob und in welcher Weise das für Transgender-Menschen, die ihr Geschlecht gewechselt haben bzw. die sich als zum anderen oder keinem Geschlecht gehörig definieren, ebenfalls zutrifft, lässt sich derzeit nicht sagen, da dazu einschlägige Daten fehlen. Wir beschränken uns daher im Folgenden lediglich auf Daten und Befunde, die sich auf Männer und Frauen beziehen, wobei Unterschiede zwischen Sex und Gender vernachlässigt werden. Frauen aller Altersgruppen nutzen sowohl die präventiven als auch die kurativen Angebote des psychosozialen und medizinischen Gesundheitssystems recht häufig. Im Durchschnitt betrachtet suchen sie bis zum Alter von 65 Jahren im Vergleich zu Männern häufiger ärztlichen Rat bzw. Hilfe und meist auch schon dann, wenn die psychosomatischen Störungen noch relativ leicht sind. Ob es geschlechtsspezifische interaktionelle Unterschiede in der Kommunikation mit einem Arzt oder einer Ärztin gibt, ist bislang nicht eindeutig geklärt (Stamer und Schach 2016). Gut belegt ist allerdings, dass Frauen im Vergleich zu Männern zur Behandlung einer Reihe von Störungen mehr und zum Teil auch andere Medikamentenverschreibungen erhalten. Glaeske (2018) weist darauf hin, dass Männer mehr Arzneimittelverordnungen erhalten, die zur Behandlung von körperlichen Störungen eingesetzt werden, und dass sie z. B. bei Herz-KreislaufErkrankungen intensiver behandelt werden als Frauen. Dagegen werden Frauen mehr Psychopharmaka verschrieben, nicht selten auch zur Behandlung von körperlichen Störungen. Die Unterschiede hinsichtlich der geschlechterdifferenzierenden Verschreibungen sind so eklatant, dass sie durch die Unterschiede in den Diagnosehäufigkeiten z. B. bei psychischen Störungen nicht hinreichend erklärt werden können.

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Die größere Sensibilität der Frauen für psychosomatische Prozesse und ihre höhere Bereitschaft, präventive und kurative Angebote in Anspruch zu nehmen, hat neben den Nachteilen, die mit der höheren Verordnung von Psychopharmaka verbunden sind, auch eine Reihe von Vorteilen. Daten aus Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern belegen, dass die Lebenserwartung von Frauen über alle Altersgruppen hinweg um etliche Jahre höher ist als die von Männern (Lange und Kolip 2016). Man geht davon aus, dass die höhere Lebenserwartung der Frauen u. a. mit ihrer höheren Sensibilität für gesundheitliche Prozesse und ihrer höheren Bereitschaft, Angebote des psychosozialen und medizinischen Systems in Anspruch zu nehmen, zusammenhängt. Darüber hinaus sind aber eine Reihe weiterer Faktoren von Bedeutung. Dazu zählen Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern, die das gesamte Leben durchziehen, wie die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Pauschal genommen lassen sich Männer eher auf riskantes Verhalten ein als Frauen. Das gilt für sportliche Abenteuer und die Eroberung des Weltraums ebenso wie z. B. für Experimente mit psychoaktiven Drogen und gewalttätiges Verhalten. Aber auch wenn es um Stress geht, findet man Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Man ist lange Zeit davon ausgegangen, dass Männer im Lebenslauf mehr Stress zu bewältigen haben als Frauen, weil sie sich in der Arbeitswelt behaupten und bewähren müssen. Berücksichtigt man neben dem Stress, der mit Berufstätigkeit und dem Arbeitsmarkt verbunden ist, auch denjenigen, der durch Hausarbeit, Schwangerschaft und Geburt sowie die Kindererziehung verursacht wird, dann ergibt sich, dass der Stresslevel pauschal genommen bei Männern niedriger ist als bei Frauen. Allerdings scheinen Männer und Frauen Stress unterschiedlich zu erfahren und unterschiedlich darauf zu reagieren. Ausbleibende Erfolge bzw. Misserfolge in der Arbeitswelt sind Stressoren, die Männer stärker belasten als Frauen. Männer tendieren dazu, darauf mit Aggressionen zu reagieren. Frauen leiden dagegen mehr unter sozialem Stress durch Zurückweisungen oder bei interpersonalen Konflikten. Das kann bei ihnen zu starken emotionalen Reaktionen führen und erhebliche Ängste auslösen. Die Reaktionen auf Stress werden bei Frauen zusätzlich moduliert durch den Menstruationszyklus. Seidel et al. (2013) weisen darauf hin, dass bei beiden Geschlechtern zudem interindividuelle Unterschiede zu berücksichtigen sind. Das heißt, dass nicht alle Männer den Stress in der Arbeitswelt als Distress erleben und nicht alle Frauen wegen ihrer Doppelbelastung in Beruf und Familie oder durch Konflikte mit Arbeitskollegen bzw. -kolleginnen oder mit Familienangehörigen gestresst sind. Berücksichtigt man zudem die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe und die damit verbundenen sozial bedingten Unterschiede in der Lebenslage und der Lebensführung sowie die Altersgruppen, ergeben sich weitere Differenzierungen. Männer und Frauen aus der unteren Statusgruppe

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haben höhere Belastung mit physischen und psychischen Erkrankungen als Angehörige der mittleren und hohen Statusgruppe. Deutlich erhöht ist ihr Risiko z. B. für koronare Herzkrankheiten und für Adipositas. Für Frauen sind die Statusgruppenunterschiede auch für Diabetes und Arthrose ausgeprägt. Pauschal genommen ist bei der unteren Statusgruppe auch von einer höheren Belastung mit psychischen Störungen auszugehen, die sich jedoch im Lebenslauf und bezogen auf die beiden Geschlechter unterschiedlich ausdifferenzieren (Robert Koch-Institut 2017). Die höheren physischen und psychischen Belastungen wirken sich auf das subjektive Gesundheitsgefühl aus, das in der unteren Statusgruppe deutlich schlechter ist als in der mittleren oder hohen Statusgruppe. Objektiv ist zudem die Lebenserwartung im unteren Einkommensbereich bei Frauen um 8,4 Jahre und bei Männern um 10,8 Jahre niedriger als bei Frauen und Männern im oberen Einkommensbereich (Lampert und Kroll 2014). Wie diese Daten belegen, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Frauen haben auch in der unteren Statusgruppe eine höhere Lebenserwartung als Männer – und das, obwohl der Anteil der Frauen, die in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben, mit dem Alter überdurchschnittlich zunimmt. Zudem ist davon auszugehen, dass sie über den gesamten Lebenslauf stärker diskriminiert werden als Männer aller Statusgruppen. Obwohl sich also Diskriminierungen wegen der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht und als Angehörige der unteren Statusgruppe kumulieren, und obwohl noch dazu kommt, dass sie, weil sie länger leben als Männer, häufiger mit gesundheitsbelastenden Lebens- und Familienereignissen (wie z. B. Pflege von Angehörigen, Tod des Partners) konfrontiert werden, wirkt sich das nur relativ auf ihre Lebenserwartung aus. Das sind paradoxe Effekte, die bislang viel zu wenig untersucht und in gesundheitspsychologischen Konzepten berücksichtigt worden sind.

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Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften Nico Vonneilich und Olaf von dem Knesebeck

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2 Grundlagen der Sozialepidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3 Zentrale Erkenntnisse der Sozialepidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

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Einleitung

Sozialepidemiologie ist die wissenschaftliche Ausrichtung der Epidemiologie, welche sich mit der sozialen Verteilung von Krankheit und Gesundheit beschäftigt. Dabei nimmt sie die sogenannten sozialen Determinanten von Krankheit und Gesundheit in den Fokus. Sozialepidemiologie ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, auf dem Medizinsoziologen, Sozialmediziner, Epidemiologen und Gesundheitswissenschaftler aktiv sind. In einem 1991 von Göran Dahlgren und Margaret Whitehead entwickelten Modell werden die sozialen Determinanten dargestellt (Abb. 1). Soziale Faktoren, welche mit Gesundheit und Krankheit assoziiert sind, lassen sich hierbei in unterschiedliche Gruppen einteilen: Es gibt individuelle soziale Merkmale wie etwa Alter oder Geschlecht, mit denen jeweils bestimmte gesellschaftliche Rollen verknüpft sind. Zudem werden Faktoren des Lebensstils wie etwa Ernährung und Bewegung benannt. Auch Merkmale des sozialen Umfelds wie etwa Anzahl von Freunden oder Möglichkeiten der sozialen Unterstützung sind Teil der sozialen Faktoren. Zentrale soziale Faktoren sind zudem die Arbeits- und Lebens-

N. Vonneilich (*) · O. von dem Knesebeck Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum HamburgEppendorf, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

bedingungen von Menschen wie etwa die Wohnsituation, der Zugang zum Arbeitsmarkt (z. B. Bildung), die Verfügbarkeit zentraler Ressourcen (Nahrung, Wasser) oder auch Merkmale der Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus spielen generelle sozioökonomische und kulturelle Verhältnisse sowie Merkmale der Lebensumwelt eine Rolle. Das Modell der sozialen Determinanten verweist zudem auf die unterschiedlichen Ebenen, auf denen die Zusammenhänge zwischen sozialen Determinanten und Gesundheit betrachtet werden können. Aus sozialepidemiologischer Sicht genügt es demnach nicht, nur die Ebene der Individuen und ihrer jeweiligen Merkmale zu betrachten (Mikro-Ebene). Zusätzlich zu dieser werden Aspekte der näheren sozialen Umgebung wie etwa soziale Netzwerke, die Gestaltung der Lebensumwelt und Arbeitsbedingungen in den Blick genommen (MesoEbene). Auf einer höheren Betrachtungsebene sind Aspekte ganzer Gemeinschaften und Nationen wie etwa kulturelle Aspekte oder die allgemeine wirtschaftliche Situation ebenfalls relevant im Zusammenhang mit Gesundheit (Makro-Ebene). Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, in das Forschungsfeld der Sozialepidemiologie einzuführen und zentrale sozialepidemiologische Erkenntnisse zu präsentieren. Dafür werden, angelehnt an das Modell der sozialen Determinanten von Gesundheit, einzelne soziale Faktoren ausgewählt und die Zusammenhänge dieser Faktoren mit Gesundheit und Krankheit dargestellt. Zudem werden jeweils zentrale Ansätze zur Erklärung der gefundenen Zusammenhänge erläutert.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_5

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N. Vonneilich und O. von dem Knesebeck

Grundlagen der Sozialepidemiologie

Zentraler Forschungsgegenstand der Sozialepidemiologie ist der Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit. Es wird im Allgemeinen zwischen Protektiv- und Risikofaktoren unterschieden. Beispiele für Protektiv- oder Schutzfaktoren sind ein hoher Bildungsabschluss, regelmäßige soziale Interaktion oder ein positives Gesundheitsverhalten. Als Risikofaktoren werden Gegebenheiten bezeichnet, welche die Wahrscheinlichkeit für Erkrankungen erhöhen, beispielweise psychische Belastungen am Arbeitsplatz, geringes Einkommen oder Bewegungsmangel. In einem biopsychosozialen Verständnis von Gesundheit und Krankheit nimmt die sozialepidemiologische Perspektive eine wichtige Rolle ein. Dem biopsychosozialen Modell zufolge sind Gesundheit und Krankheit das Resultat aus einem Zusammenspiel von sozialen, individuellen und biologischen Faktoren. Die Perspektive erweitert das biomedizinische Verständnis von Gesundheit und Krankheit, demzufolge Krankheit auf endogene (körpereigene Störungen, z. B. angeborener Herzfehler) oder exogene (äußere) Faktoren wie biologische, chemische oder physische Einwirkungen (z. B. Bakterien, Viren, Schadstoffexposition oder Verletzungen) zurückzuführen ist. In Bezug auf soziale Determinanten stellt sich die Frage, wie diese Faktoren „unter die Haut“ gehen und sich körperlich oder psychisch manifestieren. Diese Frage soll in den folgenden Abschnitten beantwortet werden. Da soziale Faktoren, wie weiter oben bereits angedeutet, auf unterschiedlichen Betrachtungsebenen eine Rolle spielen, nimmt die Sozialepidemiologie neben Individuen auch ganze Gruppen oder Gesellschaften in ihre Untersuchungen auf. Individuen leben in Gesellschaften und die Krankheitsrisiken eines einzelnen Individuums können nicht losgelöst von den jeweiligen Risiken innerhalb der jeweiligen Gesellschaft

betrachtet werden (Berkman und Kawachi 2014). So ist das individuelle Risiko für Rauchen in Deutschland höher als in Schweden, da in Deutschland der Raucheranteil in der Gesellschaft auch insgesamt höher ist. Demzufolge reicht es nicht aus, nach individuellen Risikofaktoren zu fragen, sondern es sollte auch danach gefragt werden, wie bestimmte Risikofaktoren innerhalb von Bevölkerungen verteilt sind. Zur Beschreibung der Verteilung von Protektiv- und Risikofaktoren sowie von Erkrankungen im Allgemeinen wurden in der Epidemiologie eigene Begriffe entwickelt. Zentrale Begriffe hierbei sind Inzidenz, Prävalenz, Morbidität, Mortalität und Letalität. Unter Inzidenz ist die Rate der Neuerkrankungen an einer bestimmten Krankheit zu verstehen. Diese wird für eine definierte Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum angegeben. Anhand der Inzidenz lassen sich Trends eines Krankheitsgeschehens beobachten; bei sinkender Inzidenz kann mit einem Rückgang der Erkrankung insgesamt gerechnet werden. Die Prävalenz hingegen zeigt das gesamte Ausmaß einer Erkrankung oder bestimmter Risikofaktoren: sie gibt an, wie viele Personen in einer bestimmten Bevölkerung oder einer bestimmten Region erkrankt oder von Risikofaktoren betroffen sind. In der Prävalenz wird nicht zwischen bereits Erkrankten und Neuerkrankten unterschieden. Morbidität ist ein anderes Wort für Erkrankungshäufigkeit und umfasst sowohl Prävalenz als auch Inzidenz. Anhand der Mortalität wird der Anteil der Verstorbenen insgesamt (Gesamtmortalität) oder aufgrund einer bestimmten Todesursache (spezifische Mortalität) erfasst. Unter der Letalität einer Erkrankung wird das prozentuale Verhältnis der Verstorbenen zu den Erkrankten verstanden. Um die gesundheitlichen Auswirkungen von sozialen Determinanten in Bezug auf Morbidität oder Mortalität zu untersuchen, stehen unterschiedliche Studiendesigns zur Verfügung. Hierbei werden Längsschnittstudien und Querschnitt-

Arbeits- & Lebensbedingungen Erwerbslosigkeit

Arbeitsumfeld Wohnverhältnisse

Sozialer Status

Wasser & sanitäre Anlagen

Alter, Geschlecht, Erbanlagen

Abb. 1 Modell der sozialen Determinanten von Gesundheit (Dahlgren und Whitehead 1991)

Gesundheitsdienste

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Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

studien unterschieden. Wie der Name andeutet, werden im Rahmen dieser Studien Daten nicht mehrmals im Zeitverlauf, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt einmalig erhoben. Querschnittstudien ermöglichen neben der Erfassung von Prävalenzen von Erkrankungen auch die Analyse von Zusammenhängen. Jedoch muss hierbei berücksichtigt werden, dass keine zeitliche Kausalität dieser Zusammenhänge empirisch geprüft werden kann. Dies ermöglichen Längsschnittstudien. Mit Fall-Kontroll-Studien wird versucht, diese zeitlichen Zusammenhänge zu erfassen, in dem retrospektiv, also in die Vergangenheit gerichtet, Daten erhoben werden, um Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren und Erkrankungen zu ermitteln. Es werden bereits erkrankte Personen (Fälle) zu ihren jeweiligen Expositionen befragt, selbiges wird mit Personen in einer Kontrollgruppe gemacht, welche sich idealerweise nur in dem Merkmal der Erkrankung, aber nicht in weiteren Merkmalen wie etwa Alter, Geschlecht oder Bildungsstand von den Fällen unterscheiden. Unter Exposition wird hierbei das Vorhandensein von zu untersuchenden Risikofaktoren wie etwa Rauchen oder auch soziale Isolation verstanden. Fall-Kontroll-Studien sind zwar relativ einfach und schnell umsetzbar und relativ kostengünstig, haben aber den Nachteil, dass sie im Hinblick auf kausale Zusammenhänge keine eindeutige zeitliche Abfolge sichern können und dass in einem retrospektiven Design eher Verzerrungs- und Erinnerungseffekte (sog. recall bias) auftreten können. Daher haben sich als Goldstandard sozialepidemiologischer Forschung prospektive Kohortenstudien erwiesen. Dabei wird eine definierte Gruppe von Personen (=Kohorte) über einen längeren Zeitraum, zumeist über mehrere Jahre hinweg (=prospektiv) beobachtet. Prospektive Kohortenstudien bieten den Vorteil, dass mögliche Expositionen vor dem Zeitpunkt der Erkrankung gemessen werden können. Diese Beobachtungen über einen längeren Zeitraum ermöglichen es, die Erkrankungshäufigkeiten in den jeweiligen Gruppen zu untersuchen. Beispielsweise konnte so gezeigt werden, dass Raucher im Zeitverlauf häufiger einen Schlaganfall erleiden als Nichtraucher (Hackshaw et al. 2018). Ökologische Studien bieten ebenfalls die Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit zu analysieren. Hierbei wird auf höherer Betrachtungsebene, z. B. auf der Ebene von Städten, Gemeinden, Regionen oder Ländern, ein Zusammenhang zwischen bestimmten Expositionen und Gesundheitsindikatoren analysiert. Zu beachten ist hierbei, dass in ökologischen Studien keine Daten von Individuen (im Sinne von Teilnehmern an einer Befragung oder Beobachtung) vorliegen, sondern es liegen Daten für bestimmte Regionen vor, sog. Aggregate (z. B. die Müttersterblichkeit in unterschiedlichen Regionen). Diese wiederum werden dann mit anderen Merkmalen der jeweiligen Region (z. B. Anzahl von Krankenhäusern mit Geburtsstationen) in Verbindung gesetzt, um Zusammenhänge zu analysieren.

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Zentrale Erkenntnisse der Sozialepidemiologie

Nach dieser kurzen Einführung zu den Grundlagen der Sozialepidemiologie sollen im Folgenden angelehnt an das Modell der sozialen Determinanten zentrale Erkenntnisse sozialepidemiologischer Forschung am Beispiel der Faktoren Geschlecht, soziale Beziehungen, psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz, sozialer Status und Migration vorgestellt werden. Diese Faktoren sind im Rahmen von sozialepidemiologischer Forschung immer wieder in Verbindung mit Gesundheit und Krankheit untersucht worden und haben sich teilweise zu eigenen Forschungsschwerpunkten entwickelt. Geschlecht Das Geschlecht wird als soziale Determinante von Gesundheit genannt, weil es neben einer biologischen auch eine soziale Komponente beinhaltet. Neben den biologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen (sex) lassen sich auch soziale und kulturelle Differenzen zwischen den Geschlechtern identifizieren (gender). Männern und Frauen werden gesellschaftlich unterschiedliche soziale Rollen zugewiesen, Frauen werden häufiger Betreuungsaufgaben in der Familie zugewiesen, während Männer immer noch häufiger Berufsrollen übernehmen. Deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen finden sich in der beruflichen Stellung. Frauen nehmen deutlich seltener als Männer Führungspositionen ein, dafür ist der Anteil an Frauen in Berufen mit geringer Bezahlung und einfacher Ausbildung höher (Destatis 2018). Zwischen den Geschlechtern finden sich in Bezug auf Gesundheit einige Unterschiede. Die Lebenserwartung von Frauen ist höher: In Deutschland leben Frauen mit knapp 83 Jahren aktuell 5 Jahre länger als Männer. Gleichzeitig weisen Studien aber darauf hin, dass ein längeres Leben nicht gleichbedeutend mit einem gesünderen Leben ist, da die altersbezogene Krankheitslast im Leben von Frauen im Durchschnitt höher ist als die von Männern. Dies zeigt sich beispielsweise in der Analyse von in Gesundheit verbrachten Lebensjahren („quality adjusted life years“, sog. QUALYS). Hierbei werden von der gesamten Lebensspanne die Jahre abgezogen, die aufgrund von Erkrankungen beeinträchtigt waren (Gaber und Wildner 2011; RKI 2014). Es finden sich Hinweise, dass die Anzahl der QUALYS sich zwischen Männern und Frauen nicht deutlich unterscheidet. Auch in Bezug auf wichtige Todesursachen finden sich Unterschiede. So sind sowohl die Inzidenz als auch die Prävalenz von HerzKreislauf-Erkrankungen bei Männern höher als bei Frauen. Auch für bestimmte Krebsarten findet sich eine höhere Morbiditätslast bei Männern, beispielsweise bei Lungenkrebs (Carey et al. 2007). Zur Erklärung dieser Unterschiede werden sowohl biologische Unterschiede als auch Unterschiede in den Lebens-

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bedingungen und in den Verhaltensweisen aufgeführt. Biologische Unterschiede, wie etwa die unterschiedliche hormonelle Ausstattung zwischen Männern und Frauen, können zur Erklärung der Unterschiede in der Lebenserwartung und auch in Bezug auf andere Erkrankungen beitragen. Im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen lässt sich zeigen, dass das Erkrankungsrisiko für Frauen mit Beginn der Menopause ansteigt und damit etwa 10 Jahre später als bei Männern. Für die Lebenserwartung wird geschätzt, dass der biologische Beitrag zur Erklärung der Unterschiede in der Lebenserwartung etwa 1–2 Lebensjahre beträgt (Luy 2002). Eine größere Rolle als biologische Faktoren spielen daher Lebensbedingungen und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen. Es zeigt sich, dass Männer ein höheres Risikoverhalten zeigen, beispielsweise häufiger im Straßenverkehr ums Leben kommen und sich häufiger verletzen (RKI 2014). Auch gesundheitsrelevantes Risikoverhalten findet sich bei Männern häufiger. Männer rauchen häufiger und konsumieren deutlich mehr Alkohol als Frauen (Faltermaier 2008). In Bezug auf Lebens- und Arbeitsbedingungen zeigen sich höhere Belastungen bei Männern. Sie arbeiten häufiger in körperlich belastenden Berufen mit höherer Exposition von Schadstoffen, Lärm oder Hitze und sind häufiger Alleinverdiener in Familien. In Bezug auf psychische Belastungen finden sich Hinweise, dass die Arbeitssituation von Frauen häufiger durch geringe Kontrolle und Arbeitsautonomie (s. auch „Psychosoziale Arbeitsbelastungen“) gekennzeichnet sind (Lademann und Kolip 2006). Auch die gesundheitliche Versorgung von Männern und Frauen kann eine Rolle in der Erklärung der Unterschiede spielen. Frauen nehmen häufiger an präventiven und gesundheitsfördernden Angeboten teil als Männer (RKI 2014). Inwiefern dies durch eine unterschiedliche Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Bereitschaft, erste Signale eher wahrzunehmen und entsprechend zu handeln oder durch eine geschlechtsspezifische Sozialisation in Bezug auf das Versorgungssystem bedingt ist, wird diskutiert. Zudem spielt die Perspektive der Behandler eine Rolle: Demnach nehmen Ärztinnen und Ärzte bei Männern eher somatische Ursachen für Beschwerden an, während bei Frauen mit gleichen Beschwerden eher psychosomatische Aspekte in die ärztliche Diagnostik einfließen (Lademann und Kolip 2006). Soziale Beziehungen Soziale Beziehungen stehen bereits seit längerer Zeit im Fokus sozialepidemiologischer Forschung. Dabei steht die Frage im Raum, welche gesundheitlichen Auswirkungen soziale Beziehungen haben und wie diese erklärt werden können. Um diese Fragen zu beantworten, müssen soziale Beziehungen zunächst differenziert hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer Funktion betrachtet werden. Zum einen sind soziale Beziehungen als soziale Kontakte zu verstehen

N. Vonneilich und O. von dem Knesebeck

(struktureller Aspekt). Hierbei steht die Quantität im Vordergrund, also die Frage, wie viele Kontakte eine bestimmte Person hat. Zum anderen ist jeder dieser möglichen sozialen Kontakte mit unterschiedlichen Qualitäten ausgestattet ( funktioneller Aspekt). Dabei werden verschiedene Formen der Unterstützung unterschieden. Dies bedeutet, dass einige soziale Kontakte praktische Unterstützung im Alltag bieten können (instrumentelle Unterstützung), andere hingegen stehen für das Besprechen und Diskutieren von Problemen (emotionale Unterstützung) oder zur Bereitstellung von Informationen (informationelle Unterstützung) zur Verfügung (Berkman und Krishna 2014). Im Hinblick auf gesundheitliche Effekte von sozialer Unterstützung ist es relevant, zwischen tatsächlich erhaltener und subjektiv wahrgenommener Unterstützung zu unterscheiden. Bereits das Gefühl, dass gegebenenfalls verschiedene Formen der Unterstützung zur Verfügung stehen, kann sich positiv auswirken, ohne dass tatsächlich Unterstützung in Anspruch genommen wurde (Turner und Marino 1994; Uchino 2009). Soziale Beziehungen wurden mit einer ganzen Reihe an unterschiedlichen Gesundheitsindikatoren assoziiert. Es fanden sich im Rahmen einer Metaanalyse auf Basis von 148 Einzelstudien deutliche Hinweise, dass Menschen mit ausgeprägten sozialen Beziehungen ein geringeres Mortalitätsrisiko tragen als Personen mit schwächeren sozialen Beziehungen (Holt-Lunstad et al. 2010). Ausreichend soziale Kontakte zu haben, geht mit einer besseren subjektiven Gesundheit einher. Auch eine bessere kognitive Funktionsfähigkeit und psychische Gesundheit im höheren Lebensalter konnten mit sozialen Beziehungen in Verbindung gebracht werden. Zudem sind soziale Beziehungen für den Heilungsverlauf im Anschluss an eine Behandlung relevant: Eine klassische Studie von Berkman et al. (1992) konnte zeigen, dass Patienten nach einer Behandlung wegen akuten Herzinfarkts eher überlebten, wenn sie über ausreichend emotionale Unterstützung verfügten. Soziale Isolation, also das Fehlen sozialer Kontakte, geht hingegen häufig einher mit schlechter subjektiver Gesundheit und depressiver Symptomatik (Kroll und Lampert 2007). Zur Erklärung der Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit werden zwei zentrale Erklärungsansätze diskutiert. Das Puffer-Modell besagt, dass soziale Beziehungen die gesundheitlich negativen Folgen von akutem Stress und negativen Belastungen puffern. Akute negative Ereignisse wie etwa der Verlust eines Partners oder eines nahestehenden Verwandten können zu gesundheitlichen Belastungen führen. Dem Modell zufolge wirken sich diese besonders gesundheitlich negativ bei denjenigen aus, die über wenige oder defizitäre soziale Beziehungen verfügen. Die empirischen Ergebnisse zu diesem Erklärungsansatz sind insgesamt eher uneinheitlich (Uchino et al. 2012).

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Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Im Haupteffekt-Modell wird davon ausgegangen, dass dauerhafte soziale Beziehungen langfristig einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben, unabhängig von (akuten) gesundheitlichen Stressoren. Demnach wirken sich stabile soziale Beziehungen und soziale Interaktionen positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung, das Selbstvertrauen sowie die generelle Entwicklung von Bewältigungsstrategien aus. Auch gehen mit stärker ausgeprägten sozialen Beziehungen bessere Zugangschancen zu Ressourcen im sozialen Umfeld einher. Innerhalb sozialer Beziehungen werden zudem Normen und Werte transportiert, die wiederum das gesundheitliche Verhalten beeinflussen können. Über diese Funktionen können diesem Erklärungsansatz zufolge Zusammenhänge zwischen sozialen Beziehungen erklärt werden. Die beiden Erklärungsansätze zur Wirkung von sozialen Beziehungen auf Gesundheit finden sich auch im sog. Pfadmodell wieder, welches die unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten von sozialen Beziehungen und Gesundheit illustriert (Abb. 2). In diesem Modell wird hervorgehoben, dass soziale Beziehungen stets in einem größeren Kontext eingebunden sind. Individuelle soziale Unterstützung (Mikro-Ebene) findet im Rahmen von größeren sozialen Netzwerken statt (Meso-Ebene), welche wiederum durch gesellschaftlich geprägte Normen und Werte oder

Bedingungen der Sozialstruktur (Makro) Kultur (z. B. Normen & Werte, soziale Kohäsion)

Soziale Netzwerke (Meso) Struktur sozialer Netzwerke (z. B. Größe & Dichte, Homogenität)

Sozioökonomische Faktoren

Gesetze (Makro-Ebene) beeinflusst werden (Berkman und Krishna 2014). Psychosoziale Arbeitsbelastungen Im Modell der sozialen Determinanten (Abb. 1) werden Arbeits- und Lebensbedingungen als eigenständiger Kreis hervorgehoben. Neben anderen Faktoren spielen hier das Arbeitsumfeld und Arbeitsbelastungen eine wichtige Rolle. Arbeitsbelastungen können in Form von körperlicher Belastung, Unfallgefahr oder Exposition gegenüber Feinstaub oder Lärm direkt mit Gesundheit assoziiert sein. Das Erwerbsleben in vielen entwickelten Staaten ist jedoch gekennzeichnet durch einen hohen Anteil von Berufstätigen im sog. dritten Sektor, dem Dienstleistungsbereich (dieser Prozess wird auch als Tertiarisierung der Arbeitswelt bezeichnet). Gerade im Dienstleistungssektor nimmt die Bedeutung physischer Belastungen ab, dagegen nehmen psychosoziale Belastungen (z. B. Arbeit unter Zeitdruck) zu. Psychosoziale Belastungen sind eher indirekt mit Gesundheit assoziiert. Psychosoziale Belastung im Erwerbsleben, insbesondere wenn diese über einen langen Zeitraum anhält, löst negativen Stress (Distress) aus. Dauerhafter Distress wiederum führt auf Dauer zu ungünstigen körperlichen und psychischen Reaktionen, wie etwa Bluthochdruck, erhöhtem Blutzucker, erhöhter Blutge-

Psychosoziale Mechanismen (Mikro)

Verbindungen zur Gesundheit

Soziale Unterstützung

Gesundheitsverhalten

(z. B. instrumentell, informatorisch, emotional)

(z. B. Rauchen, Ernährung, Bewegung, hilfesuchendes Verhalten)

Sozialer Einfluss

(z. B. Ungleichheit, Konflikte, Armut)

Charakteristika sozialer Netzwerke

Politik

(z. B. Dauer, Anzahl von Kontakten, Reziprozität)

(z. B. Gesetze, öffentliche Ordnung)

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(z. B. Normen, Gruppenzwänge, Vergleiche)

Psychologisch (z. B.Selbstwirksamkeit,

Soziales Engagement

Coping, emotionale Regulation)

(z. B. Stärkung sozialer Rollen und interpersonaler Beziehungen)

Physiologisch

Soziale Veränderung

Direkte Kontakte

(z. B. Urbanisierung, ökonomische Entwicklung)

(z. B. enge Beziehungen, Intimität)

(z. B. Responsivität der HPA-Achse, Immunsystem, kardiovaskuläres System)

Zugang zu Ressourcen (z. B. ökonomisch, finanziell, Gesundheitsversorgung)

Negative Aspekte (z. B. soziale Isolation, Konflikte)

Abb. 2 Pfadmodell zum Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und Gesundheit (Berkman und Krishna 2014)

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rinnung oder depressiver Symptomatik und Erschöpfungszuständen. Diese gehen ihrerseits mit einem höheren Risiko für Folgeerkrankungen wie beispielsweise der koronaren Herzerkrankung einher (Steptoe und Kivimäki 2013). Zum Zusammenhang zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen und Gesundheit gibt es eine längere Forschungstradition in der Sozialepidemiologie, mit umfangreichen empirischen Belegen für Assoziationen zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Mortalität (Dragano 2016). Höhere psychosoziale Belastung ist mit einer höheren Sterblichkeit assoziiert. Auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt deutlich an. Insbesondere zwei Modelle wurden in der Vergangenheit ausführlich untersucht und diskutiert, welche versuchen, psychosoziale Belastungen in der Arbeitswelt zu identifizieren. Das Anforderungs-Kontroll-Modell besagt, dass das Zusammenspiel von quantitativen Anforderungen und die jeweils individuellen Kontrollmöglichkeiten am Arbeitsplatz für das Ausmaß an Arbeitsbelastungen verantwortlich ist (Karasek 1979). Quantitative Anforderungen sind beispielsweise die Menge an täglichen Arbeitsaufträgen oder der Zeitdruck. Kontrollmöglichkeiten sind die individuellen Entscheidungsspielräume und das Einbringen eigener Fähigkeiten und die für die Arbeitsaufgabe erforderlichen Qualifikationen. Dem Modell zufolge sind besonders die Berufe, die durch hohe quantitative Anforderungen bei gleichzeitig geringer Kontrolle gekennzeichnet sind, mit höheren Arbeitsbelastungen und entsprechenden Gesundheitsrisiken verbunden. Diese Situation (hohe Anforderung, geringe Kontrollmöglichkeiten) wird als job strain bezeichnet. Ein weiteres Modell, welches zur Identifikation von psychosozialen Belastungen am Arbeitsplatz beitragen soll, ist das Modell der beruflichen Gratifikationskrise. Dieses besagt, dass dort psychosoziale Arbeitsbelastungen entstehen, wo Arbeitssituationen durch ein Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung gekennzeichnet sind (Siegrist 2015). Unter Verausgabung werden hier sowohl das Ausmaß der Arbeitsaufgaben als auch die unterschiedlichen Verpflichtungen der Arbeitnehmer verstanden. Die Belohnung umfasst neben dem Gehalt auch persönliche Wertschätzung, Arbeitsplatzsicherheit oder individuelle Aufstiegschancen. Wichtig ist bei diesem Modell, dass es auch eine subjektive, psychologische Komponente enthält, denn es wird berücksichtigt, dass Menschen unterschiedlich motiviert sein können für eine bestimmte Tätigkeit. Diese innere Verausgabungsneigung kann dazu führen, dass manche Personen trotz eines Ungleichgewichts zwischen Verausgabung und Belohnung den Job beibehalten. Übersteigt die Verausgabung dauerhaft die Belohnung, ist das gesundheitliche Risiko erhöht. Beide Modelle und ihre Annahmen wurden in zahlreichen sozialepidemiologischen Studien geprüft. Sowohl job strain als auch berufliche Gratifikationskrisen gehen mit höheren Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und höherer Sterblichkeit einher (Steptoe und Kivimäki 2013; Dragano et al.

N. Vonneilich und O. von dem Knesebeck

2017). Auch mit anderen Erkrankungen wie Diabetes, Schlaganfall oder Atemwegserkrankungen konnten Zusammenhänge mit solchen Arbeitsbelastungen gezeigt werden. Diese und weitere sozialepidemiologische Forschungsarbeiten haben dazu beigetragen, das Thema der psychosozialen Arbeitsbelastungen in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskurse zu bringen, wie sich an regelmäßigen Debatten rund um Arbeitsbelastung und psychische Gesundheit (Thema Burnout) oder an regelmäßigen Veröffentlichungen zum Thema (z. B. Lohmann-Haislah 2012) ablesen lässt. Sozialer Status Die Bedeutung des sozialen Status für die Gesundheit steht seit langer Zeit im Zentrum sozialepidemiologischer Untersuchungen. Der soziale Status einer Person lässt sich anhand von Bildung, Beruf und Einkommen abbilden und soll dazu dienen, die Position eines Individuums innerhalb der Gesellschaft zu verorten. Diese drei Merkmale sind in der Regel diejenigen Merkmale, die am ehesten etwas über die gesellschaftliche Stellung eines Individuums aussagen, im Hinblick auf individuelle Lebens- und gesellschaftliche Teilhabechancen. Sie werden auch als vertikale Merkmale von sozialer Ungleichheit bezeichnet, da sie sich in ein „Höher-Tiefer“-Schema einfügen (ein Universitätsabschluss ist ein höherer Abschluss als die mittlere Reife; eine Ärztin hat einen höheren Berufsstatus als eine medizinischtechnische Assistentin). Es lassen sich aber auch andere Merkmale von Ungleichheit identifizieren, die sich nicht in einem solchen vertikalen Schema einordnen lassen. Dazu zählen beispielsweise das Geschlecht, das Alter oder die Herkunft. Alleinerziehende Frauen tragen beispielsweise ein besonders hohes Armutsrisiko und Menschen mit Migrationshintergrund haben geringere Bildungs- und Einkommenschancen. Diese und andere Merkmale werden den sog. horizontalen Merkmalen von sozialer Ungleichheit zugeordnet. Arme Menschen sterben früher – dieser Zusammenhang wurde vielfach belegt. Allerdings müsste es präziser formuliert heißen: je ärmer man ist, desto früher stirbt man. Es findet sich ein sog. sozialer Gradient. Dies bedeutet, dass je höher man auf der sozialen Leiter nach oben steigt, desto höher ist auch die Lebenserwartung. So kann man in Deutschland beobachten, dass die Lebenserwartung sich nicht nur zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe deutlich unterscheidet. Bei Männer beträgt dieser Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der Gruppe, die weniger als 60 % des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung hat, und derjenigen, die über mehr als 150 % dieses Durchschnittseinkommens verfügt, etwa 10 Jahre. Der soziale Gradient der Mortalität zeigt sich daran, dass mit einem Anstieg des Einkommens auch ein gradueller Anstieg in der Lebenserwartung einhergeht (Lampert et al. 2016).

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Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Ein solcher Gradient findet sich nicht nur für die Lebenserwartung, sondern konnte für eine ganze Reihe an Erkrankungen empirisch belegt werden, darunter die wichtigsten Todesursachen wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall oder verschiedene Krebserkrankungen. Gleiches gilt für einige psychische Erkrankungen wie etwa die Depression und auch die subjektive Gesundheit folgt einem sozialen Gradienten: Menschen mit einem höheren sozialen Status schätzen auch ihre eigene Gesundheit tendenziell besser ein (Lampert et al. 2016). Die Zusammenhänge zwischen sozialem Status und Gesundheit sind für eine Vielzahl von unterschiedlichen Gesundheitsindikatoren untersucht und auch international bestätigt worden. Der soziale Gradient in der Gesundheit findet sich in unterschiedlichen Untersuchungspopulationen und Ländern immer wieder (Hu et al. 2016). Daher steht die Frage im Mittelpunkt, wie diese Ungleichheiten erklärt werden können. Zur Beantwortung dieser Frage wurden verschiedene Hypothesen entwickelt und getestet. Die sog. Drift-Hypothese besagt vereinfacht, dass Krankheit arm macht und auch die Chancen zum gesellschaftlichen Aufstieg verringert. Dies mag in bestimmten Fällen durchaus zutreffen. Studien konnten zeigen, dass Personen mit angeborenen Erkrankungen häufig geringere soziale Aufstiegschancen haben (Geyer et al. 2009). Für die Erklärung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit reicht dieser Ansatz jedoch nicht aus. Gerade in Bezug auf chronisch-degenerative Erkrankungen kann festgestellt werden, dass diese im höheren Lebensalter zu einem Zeitpunkt auftreten, wenn Bildungs- und Berufskarrieren bereits weitgehend abgeschlossen sind. Daher werden im Zusammenhang mit dem sozialen Gradienten in der Gesundheit Erklärungsansätze erforscht, die von einer sozialen Verursachung („Armut macht krank“) ausgehen. Hierzu werden neben gesundheitsrelevantem Verhalten auch materielle Lebensbedingungen, die gesundheitliche Versorgung sowie psychosoziale Faktoren diskutiert. In Bezug auf gesundheitsrelevantes Verhalten konnte gezeigt werden, dass in unteren Einkommens- und Bildungsgruppen deutlich häufiger geraucht wird. Ähnliches gilt für weitere wichtige verhaltensbezogene Risikofaktoren wie etwa Bewegungsmangel und Fehlernährung. Auch diese finden sich häufiger in unteren sozialen Schichten (RKI 2015). Die materiellen Lebensbedingungen umfassen die Wohnsituation, die Beschaffenheit von Wohngebieten wie auch Arbeitsbedingungen. Bewohner sozioökonomisch eher benachteiligter Stadtgebiete weisen z. B. häufiger kardiovaskuläre Risikofaktoren auf. Zudem konnte für die Wohnortnähe zu stark befahrenen Straßen ein Zusammenhang mit Bluthochdruck festgestellt werden (Kirwa et al. 2014). Zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten werden auch Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung angeführt. Gesundheitliche Versorgung lässt sich hierbei in

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Zugang, Inanspruchnahme und Qualität der Versorgung unterteilen. Es bestehen Unterschiede im Zugang zu medizinischer Versorgung je nach sozialem Status: In sozial schlechter gestellten Regionen mit statusschwächerer Bevölkerung ist die Dichte an Arztpraxen eher geringer und so der Zugang zu ärztlicher Versorgung erschwert. Auch in der Inanspruchnahme von gesundheitlicher Versorgung finden sich Unterschiede: Beispielsweise nehmen höhere Bildungsgruppen häufiger an Screening-Untersuchungen und präventiven Angeboten teil. In Bezug auf die Qualität der Versorgung sind die Ergebnisse der wenigen vorliegenden Studien uneindeutig (Klein und Knesebeck 2016). Unter psychosozialen Faktoren werden Aspekte wie Stressbelastungen am Arbeitsplatz oder das soziale Umfeld benannt. Menschen mit niedrigem Berufsstatus arbeiten häufiger unter Bedingungen, welche durch dauerhaften Stress gekennzeichnet sind, mit den entsprechend langfristig negativen gesundheitlichen Folgen (s. „Psychosoziale Arbeitsbelastungen“). Auch das soziale Umfeld kann sich zwischen Statusgruppen unterscheiden: In unteren Statusgruppen sind häufig weniger Unterstützungsressourcen innerhalb sozialer Beziehungen vorhanden (s. „Soziale Beziehungen“). Der Erklärungsbeitrag der unterschiedlichen Faktoren variiert je nach Gesundheitsindikator. In Bezug auf HerzKreislauf-Erkrankungen wurden Hinweise gefunden, dass gesundheitsrelevante Verhaltensweisen den größten Beitrag zur Erklärung des sozialen Gradienten liefern (Beauchamp et al. 2010). In den unterschiedlichen Modellen zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit wird darauf hingewiesen, dass die einzelnen Erklärungsansätze nicht trennscharf sind und sich jeweils gegenseitig bedingen (Lampert 2016). Die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit sollten über den Lebenslauf hinweg betrachtet werden. Denn unterschiedliche Aspekte des sozioökonomischen Status bedingen sich gegenseitig: ein niedriger Bildungsabschluss führt eher zu einer Erwerbstätigkeit, welche mit hohen Belastungen und eher geringem Einkommen verbunden ist. So kann davon ausgegangen werden, dass auch gesundheitliche Risiken im Lebensverlauf entsprechend ungleich verteilt sind. Gerade bei chronisch-degenerativen Erkrankungen mit ihren langen vorsymptomatischen Phasen ist es wahrscheinlich, dass bereits Risiken im Kindes- und Jugendalter zu einer späteren Erkrankung beitragen. Im weiteren Lebensverlauf kommen dann weitere Risikofaktoren hinzu. In diesem Zusammenhang wird häufig über eine Akkumulation von Risiken im Lebensverlauf gesprochen. Dies bedeutet, dass Expositionen und Risiken im Kindes- und Jugendalter ebenso zu einer erhöhten Erkrankungswahrscheinlichkeit beitragen wie etwa Risiken im Erwachsenenalter, und dass die Risiken häufig zusammenhängen. So fanden sich Hinweise, dass der soziale Status der Elterngeneration das Erkrankungsrisiko für Herzinfarkt im höheren Erwachsenenalter der Kinder beeinflusst (Dragano und Siegrist 2009).

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Zudem gibt es im Lebenslauf immer wieder Phasen, in denen der menschliche Körper besonders verletzlich ist. Diese kritischen Perioden sind beispielsweise die fötale Entwicklung im Mutterleib (der Fötus reagiert sensibel auf eine Störung des natürlichen Wachstums, beispielsweise auf das Rauchen der Mutter). Schädigungen innerhalb solcher Perioden, die z. T. ebenfalls sozial ungleich verteilt sind, haben gesundheitliche Konsequenzen im gesamten weiteren Lebenslauf. Migration Im Modell der sozialen Determinanten von Gesundheit (Abb. 1) werden im äußeren Ring allgemeine Bedingungen der sozioökonomischen, kulturellen und physischen Umwelt genannt. Kulturelle Aspekte in Bezug auf Gesundheit und Krankheit spielen insbesondere im Themenbereich der Migration eine Rolle. Daher werden im Folgenden Zusammenhänge zwischen Migration und Gesundheit beispielhaft dargestellt. Unter internationaler Migration wird eine auf längere Dauer angelegte, über Ländergrenzen hinweg stattfindende Bewegung von Menschen verstanden. Der Migrationsbegriff lässt sich noch deutlich weiter differenzieren, denn als Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund werden auch solche verstanden, die keine eigenen Migrationserfahrungen gemacht haben. Für Deutschland zählen dazu sowohl hier geborene Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit als auch Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, deren Eltern nichtdeutsche Staatsbürger sind oder nach Deutschland eingewandert sind. In Deutschland beträgt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung etwa 22 % (Destatis 2017). Dieser hat über die vergangenen Jahre stetig zugenommen und Prognosen deuten einen weiteren Anstieg an (BAMF 2015). Für Deutschland und für viele weitere Länder stellen Menschen mit Migrationshintergrund daher einen relevanten Anteil der Gesamtbevölkerung dar. Aus sozialepidemiologischer Perspektive stellt Migration daher einen gesundheitsrelevanten sozialen Faktor dar. Dabei spielen kulturelle Merkmale eine Rolle, die sich in unterschiedlichen Normen, Werten oder Verhaltensweisen gesundheitlich auswirken können. Auch ist Migration für sozialepidemiologische Forschung von Interesse, da mit der ethnischen Zugehörigkeit oder der Herkunft bestimmte gesellschaftliche Zuschreibungen einhergehen (Schenk 2007). Die Herkunft wurde weiter oben bereits als horizontales Merkmal von sozialer Ungleichheit benannt. Migranten sind häufiger sozial benachteiligt. In Deutschland haben Menschen mit Migrationshintergrund geringere Bildungschancen, sind überproportional häufig von Armut betroffen und haben schlechtere Chancen im Zugang zum Arbeitsmarkt (BMAS 2017). Entsprechend lassen sich für Migranten einige gesundheitliche Risiken identifizieren. So sind Migranten häufiger von Adipositas oder Diabetes betroffen, auch Infektionserkrankungen wie Hepatitis B und C oder Tuberkulose wurden

N. Vonneilich und O. von dem Knesebeck

unter Migranten überproportional häufig festgestellt. Andererseits finden sich auch Hinweise für gleiche oder sogar niedrigere Erkrankungsrisiken unter Migranten. Beispielsweise ist die Prävalenz von allergischen Erkrankungen und die Mortalität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Migranten niedriger (Ernst et al. 2016). Auch sind die Mortalitätsrisiken von Migranten im mittleren Erwachsenenalter geringer, wie in einer ausführlichen Analyse von Sterberisiken von Migranten gezeigt wurde. Im höheren Lebensalter nehmen diese Risiken aber deutlich zu und sie können die Sterberisiken der gleichaltrigen deutschen Bevölkerung übersteigen (Kohls 2015). Wie können diese relativ komplexen Zusammenhänge zwischen Migration und Gesundheit erklärt werden? In der Vergangenheit wurden unterschiedliche Hypothesen diskutiert. Die Hinweise auf eine bessere Gesundheit und geringere Sterberisiken unter erwachsenen Migranten wurde im Zusammenhang mit einer Selektions-Hypothese diskutiert. Die These des Healthy-migrant-Effekts besagt, dass viele Migranten eine jeweils selektierte Bevölkerung darstellen und diese bestimmte Gesundheitsvorteile mitgebracht hat. Dies lässt sich am Beispiel der sog. „Gastarbeiter“ verdeutlichen, welche zum Zweck der Berufsausübung in den Herkunftsländern ausgewählt wurden, vornehmlich junge und gesunde Männer. Auch unter geflüchteten Menschen lässt sich ein solcher Selektions-Effekt beobachten, da auch in dieser Gruppe überproportional häufig junge Männer vertreten sind. Verschiedene Forschungsarbeiten zum Healthymigrant-Effekt konnten zeigen, dass dieser vorübergehend ist und im Laufe der Jahre verschwindet oder sich in sein Gegenteil verwandelt, u. a. aufgrund von sozialer Benachteiligung sowie Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung (Razum 2009). Andererseits ist der Prozess der Migration mit verschiedenen Stressoren verbunden und kann als kritisches Lebensereignis betrachtet werden. In der Migrationsstress-Hypothese wird dieser Prozess als biografischer Bruch beschrieben, der mit einer sozialen und auch kulturellen Neuintegration einhergeht. Wenn im Zuge der Migration die Ziele nicht erreicht werden wie beispielsweise die Verbesserung des eigenen sozialen Status (unerfüllte Statusaspiration), kann dies dauerhaft zu einer Belastung insbesondere der psychischen Gesundheit führen (Schenk 2007). Die bereits aufgeführte soziale Benachteiligung von Migranten in den Zielländern ist mit gesundheitlichen Risiken assoziiert und kann zur Erklärung der gesundheitlichen Unterschiede zwischen Migranten und Einheimischen beitragen. Jedoch wurde wiederholt festgestellt, dass nach Kontrolle des sozialen Status weiterhin Differenzen in der Gesundheit beobachtet werden können und daher soziale Ungleichheit allein als Erklärung nicht ausreicht. Zur Erklärung können auch Unterschiede in der Gesundheitsversorgung beitragen. So ist für Migranten häufig der

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Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Zugang zu Gesundheitsversorgung erschwert, dies gilt insbesondere für bestimmte Gruppen von Migranten wie etwa Asylbewerber oder sich illegal in Deutschland aufhaltende Menschen. Auch Sprachbarrieren stellen sowohl für den Zugang als auch für die Inanspruchnahme eine Hürde dar, da bei unzureichenden Kenntnissen der Sprache eine Verständigung zwischen Versorger und Patient nur schwer möglich ist. Unterschiedliche Krankheitskonzepte und Wissensdefizite im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung können ebenfalls das Inanspruchnahmeverhalten und die Gesundheitsversorgung beeinflussen (Spallek und Razum 2008). Für die sozialepidemiologische Forschung bleibt das Thema Migration und Gesundheit eine Herausforderung, insbesondere aufgrund der Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe. Die Heterogenität wird in sprachlicher, kultureller und sozialer Hinsicht deutlich, wenn man nach Herkunftsländern oder -regionen differenziert oder auch die Migrationsursachen genauer betrachtet. Zudem ist die Erfassung der gesundheitlichen Situation bestimmter Gruppen schwierig, dies gilt insbesondere für geflüchtete Menschen und sich illegal im Zielland aufhaltende Personen.

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Zusammenfassung und Ausblick

Nach einer Einführung zur Perspektive der Sozialepidemiologie und ihren spezifischen Forschungsgrundlagen wurde aufbauend auf dem Modell der sozialen Determinanten von Gesundheit gezeigt, welche Zusammenhänge zwischen ausgewählten sozialen Faktoren und Gesundheit bestehen und welche Ansätze zur Erklärung dieser Zusammenhänge diskutiert werden. Diese Faktoren stehen stellvertretend für das breite Forschungsfeld der Sozialepidemiologie und zeigen, wie vielseitig und komplex sich die Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit darstellen. Das Charakteristische einer sozialepidemiologischen Perspektive ergibt sich nicht allein durch die empirische Beschreibung von Zusammenhängen zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit, sondern vor allem aus der Entwicklung von Erklärungsansätzen. Denn nur die wenigsten der hier betrachteten sozialen Faktoren gehen direkt „unter die Haut“ bzw. manifestieren sich körperlich. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die gesundheitlichen Auswirkungen von sozialen Beziehungen oder von psychosozialen Arbeitsbelastungen erklärt werden können. Hier finden sich in der Sozialepidemiologie einige Theorien und Modelle, welche zur Erklärung herangezogen werden können. Die Sozialepidemiologie möchte neben dem empirischen auch ein fundiertes theoretisches Verständnis für die Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit entwickeln. Ab den 1950er-Jahren wurde der Begriff „Sozialepidemiologie“ in Veröffentlichungen geprägt, bis heute hat er gerade aufgrund der vielfältigen Zusammenhänge zwischen

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Sozialem und Gesundheit stetig an Bedeutung gewonnen. Dies lässt sich nicht nur an der großen Anzahl an Fachjournalen aufzeigen, die Arbeiten rund um das Thema veröffentlichen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielen die Zusammenhänge eine größere Rolle, wie beispielsweise in der regelmäßigen Gesundheitsberichterstattung des Bundes durch das Robert Koch-Institut (Lampert et al. 2016). Praktische Konsequenzen ergeben sich aus dem Wissen um die Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit sowohl für die Behandlung als auch für die Prävention. Die Erkenntnisse aus den Studien zu sozialen Beziehungen, Arbeitsbelastungen oder zum sozialen Status haben dazu beigetragen, dass diese Faktoren beispielsweise im Rahmen der Sozialanamnese auch Eingang in die ArztPatienten-Interaktion gefunden haben. Sie lassen sich für Ärzte auch im Rahmen der Diagnostik und der Therapie einsetzen, wenn es beispielsweise um die Integration einer Therapie in den Lebensalltag der Patienten geht. Hinsichtlich der Prävention ergeben sich vielfache Verwendungsmöglichkeiten für sozialepidemiologische Erkenntnisse. Beispielsweise ist gesundheitsrelevantes Verhalten immer in einen sozialen Kontext eingebunden, wird von Normen und Werten sowie von der sozialen Umgebung beeinflusst. Prävention setzt jedoch noch zu häufig am individuellen Lebensstil und Verhalten an. Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Zum einen konnte gezeigt werden, dass verhaltenspräventive Maßnahmen eher zu einer Verstärkung von gesundheitlichen Ungleichheiten beitragen – sozial benachteiligte Personengruppen, die gesundheitlich stärker profitieren könnten, nehmen weniger häufig teil (Klein et al. 2014). Zum anderen ist aus einer Bevölkerungsperspektive der Effekt individueller Verhaltensprävention in Bezug auf das gesamte Ausmaß von Risikofaktoren in der Bevölkerung umstritten. Dementsprechend wird dafür plädiert, Präventionsansätze stärker in den Kontext der Lebenswelt zu setzen und nicht nur das Verhalten, sondern auch die Lebensverhältnisse der Menschen miteinzubeziehen. Auch kann das durch sozialepidemiologische Forschung entwickelte Wissen über die bevölkerungsbezogene Verteilung von Risikofaktoren möglicherweise stärker zu einer Verbesserung der Gesundheit beitragen als eine individuelle Perspektive, da sie weniger auf Individuen mit hohen Risiken, sondern auf die Gesamtverteilung des Risikos innerhalb der Bevölkerung fokussiert, also auch auf Gruppen mit mittleren Risiken. Dies lässt sich ebenfalls am Beispiel des Rauchens illustrieren: Individuelle Präventionsprogramme, die einzelne Personen darin unterstützen, mit dem Rauchen aufzuhören oder das Rauchen zu reduzieren, haben wahrscheinlich weniger zu einer Reduzierung des Rauchens beigetragen als bevölkerungsbezogene Strategien wie etwa Tabaksteuer, Rauchverbote und Altersbeschränkungen bei der Abgabe von Zigaretten sowie Aufklärungskampagnen (Gerhardus et al. 2015).

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Die bereits aufgeführten Ergebnisse sozialepidemiologischer Forschung zeigen, dass soziale Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen auf Gesundheit wirken und dieses Wissen in der Praxis der Prävention entsprechend umgesetzt werden sollte. Vor dem Hintergrund des entwickelten Modells der sozialen Determinanten hat das Wissen um die vielfältigen Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit dazu geführt, dass die WHO eine „health in all policies“-Strategie entwickelt hat: dies bedeutet, dass gesundheitsrelevante Fragen nicht nur im Rahmen von Gesundheitspolitik, sondern auch im Rahmen aller anderen Politikfelder eine Rolle spielen sollten (WHO 2013).

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Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

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5

Genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit Heike Bickeböller

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

2

Genetische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

3 3.1 3.2 3.3

Grundlagen der Genetik und Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Genom und seine Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mendelsche Segregation und Mendelsche Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vererbung quantitativer Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 51 53

4 4.1 4.2 4.3 4.4

Heterogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterogenität der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integration heterogener Omics-Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterogene Phänotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterogenität von Populationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 53 54 55 56

5

Genetisch-molekulare Forschung mit dem Ziel der Identifikation, Modellierung und Prädiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

6

Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

1

Einleitung

Data Science und Digitalisierung führen in vielen Gebieten zu einer rasanten Zunahme an Erkenntnissen und möglichen Anwendungen. Dies gilt auch in der Molekularbiologie mit ihren eigenen sich schnell entwickelnden Möglichkeiten. Der Erkenntnisgewinn über genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit ist enorm. Unzählige Anwendungen in Medizin, Gesundheitsfachbereichen, aber auch z. B. für Ernährung, Fitness und Lifestyle existieren bereits oder sind zumindest denkbar. Dies ist erst der Anfang dieser Entwicklung. Bestehende Anwendungen unterliegen noch starken Qualitätsschwankungen aufgrund der sehr unterschiedlichen Evi-

denz für ihren Nutzen. Dieses Kapitel beleuchtet die genetisch-molekularen Grundlagen aus Sicht der genetischen Epidemiologie. Das Genom und die Mendelsche Segregation werden erläutert, ebenso wie Mendelsche Erbkrankheiten und quantitative Merkmale. Hier gehen wir auf Genetik und Public-Health-Aspekte ein. Heterogenität befindet sich auf allen Ebenen der Molekularbiologie, aber auch bei den Gesundheitszuständen und deren Erfassung, ebenso wie bei den Studiendesigns. Sie stellt eine besondere Herausforderung dar, und ist ohne die Disziplin der Data Science nicht zu bewältigen. Letztliches Ziel im medizinischen Kontext ist die Vorhersage für Gesundheitszustände mittels Molekularbiologie, für Gruppen oder auch für Einzelpersonen (personalisierte Medizin).

H. Bickeböller (*) Institut für Genetische Epidemiologie, Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_6

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50

2

H. Bickeböller

Genetische Epidemiologie

Die Epidemiologie befasst sich im weitesten Sinne mit Gesundheit und Krankheit und auch allen dazugehörigen messbaren Zuständen und Ereignissen in Bevölkerungsgruppen oder Populationen (Bonita et al. 2013). " Die Epidemiologie ist eine zentrale Grundlagenwissenschaft der Gesundheitswissenschaften (Public Health).

Ein messbarer Zustand kann das Vorhandensein eines Bluthochdrucks bzw. der genaue Wert, das Vorhandensein von Diabetes oder das Auftreten eines Herzinfarktes als Ereignis sein. Diese messbaren Eigenschaften nennt man im genetisch-molekularen Bereich Phänotypen. Für die Phänotypen möchte man nun Erkenntnisse gewinnen über ihre Verteilung (Verbreitung in der Bevölkerung) sowie über die genetisch-molekularen Ursachen und ihr Zusammenspiel mit anderen Faktoren. Die größte Praxisrelevanz ergibt sich bei der Untersuchung der Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen im Sinne von Risiko, Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation. " Die Epidemiologie vermittelt Erkenntnisse über Gruppen von Individuen mit vergleichbaren Eigenschaften und nicht über einzelne Personen.

Hierbei trifft sie z. B. Aussagen bzw. Vorhersagen über den zu erwartenden „mittleren“ Gesundheits- bzw. Krankheitsverlauf in einer Gruppe mit bestimmten Merkmalen und kann daher nur bedingt eine Aussage über eine einzelne Person treffen. Eine individualisierte oder personalisierte Medizin gelingt immer häufiger. Im genetisch-molekularen Bereich reichen diese Aussagen von sehr präzise bis sehr unspezifisch. Daher ist es für die Praxis sehr wichtig, solche Aussagen auch im Kontext der Unsicherheit interpretieren zu können, um Maßnahmen gezielt besprechen zu können. Wahrscheinlichkeiten, erwartete Verläufe, Sicherheit und Unsicherheit verdeutlichen, dass Data Science, insbesondere die Statistik und Biometrie, fundamentale Bedeutung für die Epidemiologie sowie für die Interpretation der Erkenntnisse haben. Die genetische Epidemiologie (Bickeböller und Fischer 2007) verfolgt als Unterdisziplin der Epidemiologie die gleichen allgemeinen Ziele, legt den Fokus jedoch auf genetischmolekulare Ursachen von Gesundheit und Krankheit. In der genetischen Epidemiologie gibt es drei besondere Elemente, die es deutlich von anderen Bereichen der Epidemiologie abheben. Erstens gibt es deutliche Abhängigkeitsstrukturen in den Daten, die sonst in der Epidemiologie eher vermieden werden. In der genetischen Epidemiologie werden oft Untersuchungen in Familien (abhängige Personen) durchgeführt. Verwandtschaftsbeziehungen sind für die Aufklärung von

vererbten Merkmalen nützlich und erwünscht; sie stellen besondere Herausforderungen an Statistik und den Datenschutz. Auch die genetischen Merkmale eines Menschen (das Genom) weisen große Abhängigkeiten auf. Zweitens ist die Fülle an (voneinander abhängigen) genetischmolekularen Daten enorm. Drittens besteht die Notwendigkeit der Integration sehr unterschiedlicher Datenarten und Datenskalen. Für alle drei Elemente sind einige grundlegende Kenntnisse aus der Genetik und Molekularbiologie unabdingbar. Auch die Bioinformatik (engl. auch Computational Biology) widmet sich der Erforschung der genetisch-molekularen Grundlagen in Epidemiologie und Medizin mit hohen Datenmengen und hat ihren Stellenwert auch besonders in der Systembiologie. Daher ist eine klare Abtrennung der Disziplinen Genetische Epidemiologie, Medizinische Bioinformatik und Medizinische Biometrie für die genetisch-molekularen Grundlagen von Gesundheit und Krankheit nicht gegeben. Häufig kommen umfangreiche und sehr unterschiedliche Daten, wie z. B. Imaging-Daten von Körperregionen, hinzu. Zusammenfassend ergibt sich eine deutliche Verzahnung dieser Bereiche der Data Science. Es bedarf der Entwicklung neuer Denkweisen und Methoden, die effizient hierauf zurückgreifen. Ein Beispiel hierfür ist das FAIR-Prinzip (Wilkinson et al. 2016), das verlangt, dass Daten auffindbar (findable), zugänglich (accessible), kompatibel (interoperable) und weiter verwendbar (reusable) sind.

3

Grundlagen der Genetik und Molekularbiologie

3.1

Das Genom und seine Bestimmung

Das menschliche Genom, d .h. die Gesamtheit aller vererbbaren Informationen eines Menschen, ist in seiner Desoxyribonukleinsäure (DNS; engl. deoxyribonucleic acid, DNA) enthalten. Die DNA beschreibt die Sequenz (Abfolge) der Basen Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T). Die DNA liegt zum größten Teil als Chromosomenpaare im Zellkern und zu einem kleineren Teil in den Mitochondrien. Die Mitochondrien sind verantwortlich für die Energieproduktion im Körper, haben ihre eigene DNA und werden nur über die Mutter vererbt. " Der Mensch hat 23 Chromosomenpaare, 22 sog. autosomale Paare und das Chromosomenpaar für das Geschlecht, XX für Frauen und XY für Männer. Auf diesen sind 3,27  109 Basenpaare und geschätzt 23.000 Gene.

Die erste vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms wurde 2003 offiziell bekannt gegeben – 50 Jahre nach der Entdeckung der DNA. 2007 gelang Craig Venter die

5

Genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit

erste Komplettsequenzierung eines einzelnen Menschen, sich selbst (Der Tagesspiegel 2007). Die Komplettsequenzierung eines Menschen ist auch für einzelne Zellen seit 2013 möglich (Hills et al. 2013). Eine Komplettsequenzierung kann heute im Hochdurchsatz innerhalb weniger Tage für unter 1000 Euro durchgeführt werden; sogar 100 Dollar werden genannt (Badische Zeitung 2017). Damit kann sie technisch nicht nur zur Forschung, sondern auch zu medizinischen und sonstigen Zwecken eingesetzt werden. Die große Variabilität der menschlichen DNA, der Reichtum an Varianten bzw. Unterschieden in der DNA zwischen den Menschen, erfordert weiterhin umfangreiche Forschung. Die vorhandene Information kann häufig schon vielfältig genutzt werden. Wichtige Information ist sowohl in kodierenden als auch nicht-kodierenden Bereichen vorhanden, wobei die nicht-kodierenden Bereiche einen deutlich größeren Anteil am gesamten Genom haben als die kodierenden. Es ist allerdings weiterhin eine ungeklärte Forschungsfrage, wie groß der Anteil der nicht-kodierenden Bereiche ohne Funktion („Junk-DNA“) tatsächlich ist.

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werden bei der sog. Transkription herausgeschnitten. Bei der Translation wird nur der offene Leserahmen (open reading frame, ORF) der Exone mittels des genetischen Codes verwendet, so dass aus drei Basen der RNA-Sequenz (Basentriplett, Codon) jeweils eine Aminosäure gebildet (gelesen) wird. Gibt es alternatives Spleißen, so werden nicht immer alle Exone verwendet. Eine Veränderung der DNASequenz in diesem offenen Leserahmen kann zu einer anderen Abfolge von Aminosäuren und damit zu einem anderen Protein (frameshift mutation) oder auch deutlich verkürzten Protein (mittels verfrühtem Stop-Codon) führen. " Neben der Komplettsequenzierung des Genoms (whole genome sequencing, WGS), gibt es auch die WholeExome-Sequenzierung (WES), die nur Exone sequenziert. Für medizinische Zwecke wird häufig die Sequenzierung einzelner Gene oder einer Gruppe von Genen, eines Gen-Panels durchgeführt.

Bei dem Verfahren der RNA-Seq wird aus RNA wieder DNA (komplementäre DNA, cDNA) zurückgewonnen und anschließend sequenziert. Die cDNA enthält jedoch nur tatsächlich transkribierte DNA und entschlüsselt daher auch, welche Exome in die mRNA tatsächlich transkribiert wurden.

" Die Datenbank dbSNP des National Centers for Biotechnology Information der USA für kurze genetische Varianten (Sherry et al. 2001; NCBI 2018) enthält im September 2018 bereits ca. 35 Mio. Varianten des Menschen, einschließlich Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (single nucleotide polymorphism, SNP).

3.2

Mittels DNA-Chips ist eine Bestimmung von 500.000 bis mehreren Millionen SNPs über das Genom hinweg in einem Hochdurchsatz-Verfahren für etliche Personen gleichzeitig möglich, wobei diese SNPs teilweise direkt und teilweise mittels Abhängigkeiten im Genom und einer Referenzpopulation nur indirekt über Wahrscheinlichkeiten bestimmt (imputiert) werden. Verschiedene Chips decken das Genom bzw. Bereiche des Genoms unterschiedlich gut ab. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, einzelne SNPs oder andere Varianten im Labor zu bestimmen. Ermittelt wird bei all diesen Genotypisierungs-Verfahren der Genotyp eines Menschen, d. h. die beiden Ausprägungen (Allele) der Variante, die auf dem Chromosomenpaar eines Menschen vorhanden sind. Ein Gen ist die kleinste Einheit an Erbinformation, die zur Bildung aktiver Ribonukleinsäure (RNS; engl. -acid RNA) in einer Zelle verwendet wird. Ein Gen besteht aus dem Bereich, der zwischen Start- und Stop-Codon zur Transkription in RNA verwendet wird, und den hierzu notwendigen regulatorischen Elementen, die innerhalb und auch außerhalb dieses Bereichs (wie Enhancer und Promoter) liegen können. Aus bestimmten RNAs, den m(essenger) RNAs, werden anschließend Aminosäureketten, d. h. die Proteine, gebildet. Zwischen Start- und Stop-Codon liegen vorne und hinten die 50 und 30 UTRs (untranslated regions) und dazwischen die Introns und die Exone des Gens. Die Introns

Die Mendelsche Segregation ist das wichtigste Vererbungsmodell der Humangenetik und betrachtet ein Gen bzw. einen Genort (locus) isoliert. Dabei bezeichnet der Genort allgemein einen lokalisierten DNA-Abschnitt. Abhängigkeiten innerhalb des Genoms werden vernachlässigt. Wir betrachten nun ein Gen mit seinen Allelen. Sind die beiden Allele eines Genotyps (einer Person) identisch, so ist er homozygot; sind sie verschieden, so ist er heterozygot. Bei nur zwei Allelen A und B sind also AA und BB homozygot und AB ist heterozygot. Bei der Vererbung auf ein Kind gibt ein Elternteil, z. B. der Vater, von seinen zwei Allelen des betrachteten Genotyps eines mit Wahrscheinlichkeit ½ an sein Kind weiter. Dies gilt immer wieder erneut, unabhängig von weiteren Kindern und unabhängig vom zweiten Elternteil, hier der Mutter. Diese unabhängige identische Verteilung (Segregation) der Allele mit jeweils Wahrscheinlichkeit ½ bei jedem Vererbungsprozess von Elternteil auf Kind (Meiose) heißt Mendelsche Segregation. Die Mendelsche Segregation bildet die Grundlage zum Verständnis der Vererbung Mendelscher Erbkrankheiten bzw. monogener Merkmale, d. h. solcher Phänotypen, die nur durch ein Gen bestimmt werden. Sie bildet auch die Grundlage für die Vererbung vieler genetischer Varianten, und wird damit für genetische Marker in vielen statistischen Analyse-Verfahren vorausgesetzt.

Mendelsche Segregation und Mendelsche Erbkrankheiten

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" Ein genetischer Marker ist ein DNA-Abschnitt, dessen Position im Genom bekannt ist, dessen Allele im Labor bestimmt werden können und der genügend statistische Variabilität (in der betrachteten Population und in der betrachteten Stichprobe) aufweist. Die SNPs auf DNA-Chips wurden typischerweise als genetische Marker für bestimmte Populationen und ggf. Fragestellungen optimiert. Monogene (Mendelsche) Erbkrankheiten werden durch ein einziges Gen ausgelöst. Dies umfasst auch monogene Subtypen von Krankheiten.

Monogene Erbgänge für Krankheiten lassen sich danach unterscheiden, ob sie autosomal, gonosomal (auf den Geschlechtschromosomen) oder mitochondrial (ererbte Mitochondriopathien) sind. Für den weitaus überwiegenden Teil der monogenen Erbkrankheiten ist das Modell der Mendelschen Vererbung zunächst für die Aufklärung des Erbgangs wichtig. Das Gen und die Krankheit sind jedoch deutlich komplexer und müssen somit im Gesundheitswesen häufig (aber nicht immer) dann auch komplexer betrachtet werden. Ein Modell muss für die Fragestellung so komplex wie nötig, und nicht möglichst komplex oder vollständig und „korrekt“ sein. Die Mukoviszidose oder zystische Fibrose (Naehrig et al. 2017) ist die häufigste autosomal-rezessive Erbkrankheit und tritt somit auf, wenn beide Allele des Genotyps eine krankheitsverursachende Variante aufweisen. Es ist eine sehr schwerwiegende Multisystemerkrankung, für die es seit 2016 ein Neugeborenen-Screening in Deutschland gibt. Ziel ist durch frühzeitige Diagnosestellung und optimierte Therapie zu einer höheren Lebenserwartung bei höherer Lebensqualität beitragen zu können. Bei dem verantwortlichen CFTR-Gen gibt es über 2000 Mutationen, davon gelten 360 als krankheitsverursachend. Sie lassen sich je nach Schweregrad der Auswirkung der Mutation in verschiedene Mutationsklassen sortieren. Die bei weitem häufigste Mutation in Europa ist ΔF508, die Deletion (Fehlen) von 3 Basen, so dass eine Aminosäure an Position 508 der Aminosäurenkette fehlt. Seit 2012 gibt es für Mukoviszidose eine mutationsspezifische wirksame Therapie (Wirkstoff Ivacaftor für R117H, mit relevanten unerwünschten Nebenwirkungen). Das CFTR-Gen wurde mittels des einfachen Mendelschen Modells trotz der großen Heterogenität der Mutationen entdeckt. Die verschiedenen Mutationen haben Auswirkung auf Art der Erkrankung, Schweregrad und Behandlungsmöglichkeiten. Chorea Huntington ist eine autosomal-dominante Erbkrankheit, die bereits auftritt, wenn eines der beiden Allele des Genotyps eine krankheitsverursachende Variante aufweist. Damit sind Kinder von Betroffenen mit einer Wahrscheinlichkeit von ½ auch betroffen. Bei Chorea Huntington werden Gehirnzellen progredient abgebaut. Die Erkrankung ist fast immer spät manifest und sie ist nicht heilbar. Man beachte, dass nach dem Gendiagnostikgesetz (GenDG 2009)

H. Bickeböller

bei spätmanifesten Erkrankungen eine pränatale Diagnostik nicht erlaubt ist. Für Chorea Huntington ist derzeit keine kausale Therapie vorhanden, lediglich die Ausbildung der Symptome kann verlangsamt werden. Bei einer vorliegenden Symptomatik und positiver Familienanamnese wird eine diagnostische genetische Untersuchung empfohlen (Saft et al. 2017). Bei einer prädiktiven genetischen Untersuchung handelt es sich um eine genetische Untersuchung, ohne dass die Erkrankung bereits aufgetreten ist. Dies gilt sowohl für Wahrscheinlichkeiten für zukünftig auftretende Erkrankungen als auch für eine Anlageträgerschaft für Nachkommen. Dies impliziert bei Chorea Huntington als spätmanifester und nicht heilbarer Erkrankung enorme Anforderungen an die gesetzlich vorgeschriebene genetische Beratung und Betreuung. Für eine Person, die sich entscheiden will, ob sie eine solche Testung durchführen lässt oder nicht, oder auch wenn sie danach ein solches Testergebnis mitgeteilt bekommt, gibt es wichtige medizinische, soziale und psychische Komponenten für sich selbst zu beachten. Bei Erbkrankheiten kommen ggf. auch Auswirkungen auf Verwandte hinzu. Auch hier gibt es klare gesetzliche Vorschriften im GenDG. Verantwortlich für Chorea Huntington ist ein Drei-Basen-Repeat im Gen Huntingtin. Die Repeat-Anzahlen werden in normal, mittel und hoch eingeteilt. Personen mit normalen Anzahlen sind nicht betroffen, bei einer mittleren Repeat-Anzahl liegt unvollständige Penetranz vor, d. h. die Krankheit bricht nicht immer aus. Eine hohe Anzahl an Repeats führt sicher zur Erkrankung. Die Repeat-Anzahl des Vaters kann sich bei der Vererbung auf das Kind erhöhen. Auch hier zeigt sich eine höhere Komplexität gegenüber dem einfachen Mendelschen Modell. Muskeldystrophie vom Typ Duchenne oder vom Typ Becker-Kiener werden beide durch das Dystrophin-Gen ausgelöst, mit 2,5 Mio. Basen das größte bekannte Gen des Menschen. Es handelt sich um eine X-chromosomale rezessive Erkrankung. Frauen sind bei einer Mutation durch das andere normale Allel geschützt. Männer haben diesen Schutz nicht. So ist auch Rot-Grün-Blindheit bei Männern entsprechend häufiger zu finden als bei Frauen. Ist die Häufigkeit für die Mutation p, so erkranken Männer mit Häufigkeit p, Frauen erkranken nur mit Häufigkeit p2, also deutlich seltener. Muskeldystrophien bilden eine Gruppe von Erkrankungen, die durch einige unterschiedliche Gene mit verschiedenartigen Erbgängen ausgelöst werden, so dass es einerseits eine traditionelle Einteilung nach der betroffenen Muskulatur und andererseits auch eine Einteilung nach den Genen gibt. Ein Beispiel für einen X-chromosomal dominanten Erbgang ist das RETT-Syndrom. Die meisten krankheitsverursachenden Mutationen sind De-novo-Mutationen, also erst bei der Vererbung neu auftretende Mutationen. Wieder ist die Krankheit komplizierter, als das einfache Mendelsche Vererbungsmodell es veranschaulicht.

5

Genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit

Bisher haben wir als wichtige Abweichungen vom einfachen Mendelschen Modell die Heterogenität des Gens (viele Mutationen, Repeat-Vergrößerungen, De-novo-Mutationen), das Alter bei Krankheitsbeginn und unvollständige Penetranz kennengelernt. Weiterhin gibt es auch Erbkrankheiten, die durch mehrere Gene verursacht werden können (z. B. MODY Diabetes), sowie Krankheiten, die erbliche Unterformen aufweisen, die dann wiederum dem Mendelschen Modell folgen. So gibt es beispielsweise beim Brustkrebs erbliche Formen, die durch die Gene BRCA1 und BRCA2 verursacht werden. Weiterführende Informationen zu vielen Mendelschen Erkrankungen und Genen finden sich in der Datenbank Online Mendelian Inheritance of Man (OMIM 2018).

3.3

Die Vererbung quantitativer Merkmale

Das Mendelsche Modell kann auch bei einem quantitativen, d. h. kontinuierlichen Merkmal angewendet werden. Hierzu benötigen wir den wichtigen Begriff der Penetranz. " Die Penetranz für ein diskretes Merkmal Y ist die Wahrscheinlichkeit, dieses Merkmal (z. B. Krankheit) zu zeigen, wenn die Person einen bestimmten Genotyp hat. Bei zwei Allelen A, B gibt es drei Penetranzen: P(Y|AA), P(Y|AB) und P(Y|BB). Dies sind bedingte Wahrscheinlichkeiten, bei denen der spezifizierte Genotyp hinter dem „bedingt durch“ Zeichen | kennzeichnet, dass nur Personen mit diesem Genotyp betrachtet werden. Bei der Penetranz für ein kontinuierliches Merkmal Y wird die Wahrscheinlichkeit durch die Dichte f(Y) ersetzt, also f(Y|AA), f(Y|AB) und f(Y|BB). Bei kontinuierlichen Merkmalen, wie z. B. einem Enzym-Wert, kann man mit Hilfe der Dichte Wahrscheinlichkeiten für ein Intervall von Werten berechnen, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für den genauen Wert.

Die gesamte Verteilung eines kontinuierlichen Merkmals Y setzt sich als Mischverteilung aus den Verteilungen für die jeweiligen Genotypen zusammen, gewichtet mit der Häufigkeit der Genotypen in der Bevölkerung. Es gilt f(Y) = f(Y|AA) P(AA) + f(Y|AB)P(AB) + f(Y|BB) P(BB) bei drei Genotypen. Wir nehmen nun an, die drei Verteilungen folgen jeweils einer Normalverteilung mit Mittelwerten m(AA), m(AB) und m(BB) und gleicher Varianz. " Das Mendelsche Modell für ein kontinuierliches Merkmal mit Normalverteilungsannahme ist also das klassische ANOVA-Modell. Unterschiede zwischen den Genotypen ergeben sich durch Verschiebung der Verteilung durch den Genotyp-spezifischen Mittelwert.

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Ein Beispiel ist das TPMT-Gen, das für das Enzym Thiopurin-Methyltransferase kodiert (Fargher et al. 2007). Die Enzym-Aktivität folgt dem obigen klassischen ANOVAModell. Etwa 90% der Bevölkerung sind homozygot normal und haben eine normale Enzym-Aktivität für die Umwandlung körperfremder Stoffe. Fast 10% sind heterozygot und haben eine erniedrigte Enzym-Aktivität. Etwa 0,3 % haben eine (fast) nicht vorhandene Enzym-Aktivität. Da alle drei Ausprägungen sichtbar sind, handelt es sich um einen kodominanten monogenen Erbgang. Die faktisch fehlende Enzym-Aktivität kann bei der Einnahme bestimmter Medikamente, sog. Thiopurine, sogar lebensgefährlich werden. Diese Medikamente werden als Immunsuppressiva bei Leukämie und Organtransplantation und auch bei entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt. Daher muss bei solchen Medikamenten die Enzym-Aktivität gut kontrolliert oder vorsorglich das Gen bestimmt werden. Für die Anwendung des Gendiagnostikgesetzes ist es dabei unerheblich, ob das Gen selbst oder das Genprodukt (EnzymAktivität) getestet wird. Entscheidend ist lediglich, ob das Ziel der Untersuchung die Feststellung der genetischen Eigenschaft ist.

4

Heterogenität

4.1

Heterogenität der Genetik

Bereits im vorherigen Abschnitt haben wir gelernt, dass auch Gene die monogen, also alleinig, für eine gesundheitliche Störung oder Erkrankung verantwortlich sind, eine große Heterogenität zeigen. Es gibt häufig viele Mutationen, die auch zu sehr unterschiedlichen Phänotypen führen können. Teilweise gibt es für eine Erkrankung einzelne Gene (sog. Hauptgene), die Mendelschen Subformen entsprechen. Beispiel hierfür ist Brustkrebs mit BRCA1 und BRCA2. Wegen der Seltenheit des Auftretens segregiert in der Regel in einer Familie jeweils nur eine Mutation in einem Gen. Dies führt zu Heterogenität zwischen den Familien. Es gibt aber auch Heterogenität innerhalb einer Familie. Brustkrebs ist eine sehr häufige Erkrankung, so dass es in einer BRCA1-Familie häufig neben Betroffenen mit hoch penetranter seltener Mutation auch betroffene Familienmitglieder ohne diese Ursache geben kann. Seltene hoch penetrante Mutationen in Genen sind wichtig für die betroffenen Familien und auch für die Forschung, um die biologischen Mechanismen der Erkrankung zu verstehen. Viel wichtiger für das Gesundheitswesen sind jedoch Gene und Genvarianten, die ein moderates Risiko bedeuten, aber auch viel häufiger in der Bevölkerung sind. Sie sind insgesamt für wesentlich mehr Erkrankungsfälle verantwortlich. Auch wenn für Alzheimer mehrere Hauptgene frühmanifester Alzheimer bekannt sind, so ist nach Public-Health-

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Gesichtspunkten APOE E4 der wichtigste bekannte Risikofaktor für spätmanifeste Alzheimer (Mons et al. 2016). Das Vorhandensein führt zu einer Risikoerhöhung um den Faktor drei, ist also keineswegs „schicksalshaft“, so wie dies bei monogenen Varianten häufig ist. Im Vergleich, eine Depression erhöhte das Risiko um den Faktor zwei. Bei der Alzheimer Erkrankung und vielen anderen Erkrankungen gibt es oft einige wenige Gene eines solchen moderaten Risikos, die man daher auch als Oligogene bezeichnen kann. Heutzutage sind jedoch für sehr viele Erkrankungen zahlreiche Gene mit zahlreichen Varianten bekannt, deren Risikoerhöhung gering ist. Vielfach sind diese im NHGRI-EBI Catalog of published genome-wide association studies (GWAS) (NHGRI-EBI GWAS Katalog 2018) aufgeführt. Diese kleinen Risiken akkumulieren sich jedoch in einer Person und führen dann zu einem deutlich erhöhten Risiko. Diese Gene nennt man dann Polygene. Die Idee der Anhäufung vieler kleiner Effekte (genetisch oder nicht-genetisch) ist eine Grundannahme der Statistik, die zu der sehr häufigen Anwendung der Normalverteilung führt. Der zentrale Grenzwertsatz besagt nämlich, dass es völlig egal ist, wie die Ausgangsverteilung aussieht; solange man viele unabhängige (fast) identische verteilte Faktoren/Risiken (z. B. selektierte SNPs eines Arrays) aufaddiert, erhält man eine Normalverteilung. Daher kann man das oben vorgestellte ANOVAModell auch dazu benutzen, um ein Hauptgen und viele Polygene zu modellieren (Bickeböller und Fischer 2007). Es ist auch nicht undenkbar, dass es zahlreiche Merkmale gibt, die omnigenetisch bestimmt sind, bei denen ein sehr substanzieller Anteil des gesamten Genoms impliziert ist. Die Körpergröße eines Menschen ist ein Beispiel hierfür (Ge et al. 2017). Natürlich gibt es auch viele nicht-genetische Risikofaktoren für Merkmale. Daher spielt die Schätzung der Heritabilität h2, also des genetischen Anteils an der gesamten phänotypischen Variabilität, eine wichtige Rolle. Zu beachten ist, dass unterschieden werden muss, ob die genetische Varianz oder nur die additive genetische Varianz betrachtet wird. Will man den Einfluss auf die Krankheitsentstehung von (10–100) Varianten betrachten, die sich bei GWAS als signifikant erwiesen, kann ein additives Regressionsmodell mit diesen Varianten gebildet werden. R2 der Regression entspricht dann der Schätzung der additiven Heritabilität für diese Varianten. Die Summe der Genvarianten mit spezifischen Gewichten nennt man polygener Risiko-Score, und dieser kann für jede genotypisierte Person berechnet werden. Risiko-Scores können auch mit bis zu mehreren 10.000 Genvarianten gebildet werden. Ihre Anwendung ist im Augenblick Gegenstand intensiver Forschung. Ziel ist letztlich eine medizinisch nutzbare Risikoeinteilung. Hiervon ist man aber bis auf wenige Ausnahmen noch weit entfernt. Letztlich lässt sich die Heritabilität, die durch die Addition aller SNPs eines Arrays

H. Bickeböller

erklärt wird, auch bestimmen (Ge et al. 2017). Sie ist oft geringer als andere Schätzungen der Heritabilität. Zusammenfassend ist der Begriff der Heterogenität in der Genetik sehr breit zu verstehen: es gibt Heterogenität innerhalb eines Gens sowie monogene, oligogene, polygene und omnigene Ausprägungen. Bisher ist es nicht gelungen, mit den genetischen Daten die vorhandene Heritabilität bei Phänotypen zu erklären, was zu dem Begriff der „fehlenden Heritabilität“ geführt hat (Maher 2008).

4.2

Integration heterogener Omics-Daten

Der Teil der Molekularbiologie, der sich mit dem Genom beschäftigt, wird als Genomik (genomics) bezeichnet. Wir wenden uns nun anderen Teilbereichen der Molekularbiologie zu, die alle als -omik bezeichnet werden. Daher hat sich der Ausdruck Omics sowohl für die wissenschaftlichen Bereiche als auch für die Daten selbst etabliert. Für alle diese Bereiche gibt es analoge Wortschöpfungen zu Genom – Genomik, Transkriptom – Transkriptomik, Epigenom – Epigenomik und Proteom – Proteomik. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Wortschöpfungen, doch hier sollen nur die wichtigsten molekularen Begriffe erwähnt werden. Wie in Abschn. 3.1 beschrieben, werden bestimmte Bereiche der DNA-Sequenz in RNA überschrieben, also transkribiert. Aus der RNA kann technisch cDNA zurückgewonnen werden, die nur tatsächlich transkribierte DNA enthält. Nur transkribierte DNA kann in den Zellen exprimiert werden, also zu einem Produkt führen. Ist von einem Gen besonders viel transkribierte DNA vorhanden, so ist es überexprimiert; ist besonders wenig vorhanden, so ist es unterexprimiert. Hierbei geht es nicht um absolute Werte, sondern um relative Werte. In einem Microarray für Transkriptionsanalysen bzw. Expressionsanalysen werden dabei sehr viele Gene (ggf. alle Gene des Genoms) untersucht. Hierbei kann es von Interesse sein, in welchen Zielorganen Gene über- oder unterexprimiert oder überhaupt exprimiert sind; oder auch wie sich der zeitliche Verlauf der Expression gestaltet. Beim Epigenom handelt es sich um systematische Veränderungen an der Struktur der DNA, die einen Einfluss auf die Transkription der DNA haben. Diese Veränderungen sind altersabhängig und hängen auch von Umweltfaktoren wie dem Rauchen ab. Zwei wesentliche Elemente des Epigenoms sind Methylierung (Methylom) und Histonmodifikationen. Bei der DNA-Methylierung wird eine Methylgruppe an bestimmte Nukleotidbasen der DNA angehängt. Dies führt dazu, dass die DNA dort stillgelegt und nicht transkribiert werden kann. Da die eigentliche DNA nicht verändert wird, ist dies eine Modifikation und keine Mutation. Histone sind Proteine, die für die DNA eine Art Spule zum Aufwickeln bilden. Sie sind damit ganz wesentlich für die Chromatinstruktur, die die Packungsdichte der Chromosomen bestimmt. Histon-

5

Genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit

Azethylierung beispielsweise erleichtert das Binden von Transkriptionsfaktoren und damit die Transkription. Auch Transkriptom und Epigenom sind zum Teil genetisch bedingt. Die Wechselwirkungen zwischen den Omik-Bereichen eines Menschen sind Gegenstand umfangreicher Untersuchungen. Von großer Relevanz in den Gesundheitswissenschaften ist jedoch, inwiefern sich Daten des Genoms, des Transkriptoms, des Epigenoms und ggf. weiterer Omik auch eines individuellen Patienten effizient integrieren lassen, um Phänotypen vorherzusagen. Eine besondere Schwierigkeit ist hierbei, dass unterschiedliche Regionen der DNA bei Genom, Transkriptom und Epigenom mit unterschiedlichen Lokalitäten bzgl. der DNA und unterschiedlichen Skalenniveaus der Messergebnisse eine Rolle spielen, beim Genom der Genotyp (diskret), beim Transkriptom die relative Expressionsstärke (kontinuierlich) und bei der Methylierung wie viel Prozent der Zellen an einer Position methyliert (1) oder nicht-methyliert (0) ist. Dies ist vor allen Dingen auch angesichts der großen Datenmengen je OmikBereich herausfordernd. Die Proteomik erforscht das Proteom. Dies bezeichnet alle Proteine einer Zelle, eines Organs oder eines Menschen. Dies kann nur zu einem definierten Zeitpunkt unter definierten Bedingungen ermittelt werden. Denn vieles hat Einfluss darauf, wie viele Proteine genau vorhanden sind und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Die Metabolomik betrachtet dabei spezifisch das Metabolom, d. h. alle Stoffwechselvorgänge. Proteomik und Metabolomik sind den Gesundheitszuständen im Körper am nächsten, da sie die aktuellen Vorgänge in Zellen beschreiben. Sie unterliegen jedoch auch am stärksten den Wechselwirkungen mit äußeren Vorgängen.

4.3

Heterogene Phänotypen

In Epidemiologie und Gesundheitswesen werden zunehmend umfangreiche Daten erhoben. Dazu gehören Daten zur Demografie und zum Lebensstil einschließlich Ernährung, Rauchen, Alkohol, Bewegung. Alleine die Heterogenität dieser Daten ist bereits enorm. Betrachten wir beispielsweise das Rauchverhalten. Dies wird unterschiedlich genau erfasst. Manche Studien erfassen Raucher, Ex-Raucher und NieRaucher (letzteres lässt häufig minimales Rauchen über einen sehr kurzen Zeitraum zu). Andere Studien erfassen Rauchen sehr detailliert nach Phasen: Wann haben Sie angefangen zu rauchen? Wie viel haben Sie damals geraucht? Was haben Sie geraucht? Wann haben Sie Ihr Rauchverhalten geändert? Hieraus lassen sich dann zentrale Variablen zum Rauchbeginn, der Rauchdauer und der Rauchmenge extrahieren. Auch das Erinnerungsvermögen der Raucher spielt eine Rolle bei retrospektiver Erfassung des Rauchens. Der Konsum von E-Zigaretten hingegen fehlt in neueren Erfassungen des Rauchverhaltens häufig.

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Auch bei Untersuchungen durch den Arzt können Variablen sehr heterogen sein. Der Blutdruck hängt von der Tageszeit ab und sollte für einen validen Wert mehrfach gemessen werden. Auch hier kann wieder der Wert selbst aufgeschrieben werden oder aber der Blutdruck wird nur in Kategorien erfasst. Im Extremfall wird nur notiert, ob ein hoher Blutdruck vorhanden ist oder nicht. Wenn Daten mit hoher Variabilität nicht mehrfach gemessen werden oder nur kategorisierte Daten statt kontinuierlicher Werte erfasst werden, so führt dies unweigerlich zu einem Informationsverlust bei der Auswertung. Im statistischen Sinne führt dies zu einem Verlust an sog. Power. Will man mehrere Studien zusammenführen, so können häufig nur die Daten des kleinsten gemeinsamen Nenners ausgewertet werden. Dies ist ein großes Hindernis bei vielen Studien in der genetischen Epidemiologie, da hier oft die nicht-genetischen Faktoren nicht hinreichend ausführlich erfasst wurden. Die Ressourcen reichen häufig nicht für beides. Fehlende Daten stellen natürlich einen noch größeren Informationsverlust dar. Bisher haben wir uns mit der Heterogenität der Datenerfassung von Variablen beschäftigt. Wichtiger jedoch ist noch die Heterogenität der eigentlich interessierenden Phänotypen. So zeichnen sich beispielsweise Psychosen durch sehr vielfältige und unterschiedliche Symptomatik aus, und auch die diagnostischen Instrumente haben viele Dimensionen. Will man beispielsweise kognitive Symptome bei Psychosen untersuchen, so nutzt man standardisierte Testverfahren. Dies heißt jedoch nicht, dass es keine Untersuchervariabilität gibt. Wie motivierend ist ein Untersucher? Wird öfters frühzeitig abgebrochen, warum? Werden Symptomkomplexe oder auch einfach viele Phänotypen untersucht, so spricht man manchmal vom Phänom und der Phänomik (Ge et al. 2017). Bei der sog. Graft versus Host Disease (GvHD), die nach einer hämatopoetischen Stammzelltransplantation (HSCT) als Folge einer Leukämie entstehen kann und lebensbedrohlich sein kann, ist eine ausführliche Erfassung nicht nur für Schweregrad, sondern auch für die betroffenen Organe im zeitlichen Verlauf optimal für die Betreuung hinsichtlich Lebenserhaltung und Lebensqualität. So hat es unterschiedliche Folgen je nachdem, ob die Lunge oder die Haut betroffen ist. Man beachte, dass bei multifaktoriellen wie auch bei monogenen Phänotypen Symptomatik, Schweregrad, Beginn der Erkrankung und Verlauf extrem unterschiedlich sein können. Konzentriert man sich auf die Untersuchung spezieller für die Krankheit charakteristischer messbarer Phänotypen, so nennt man diese Endophänotypen. Die Heterogenität der Genetik trägt natürlich ebenso wie die Heterogenität nichtgenetischer Variablen zur Heterogenität der betrachteten Phänotypen bei. Hinzu kommt neben der phänotypischen Variation auch die Komplexität einer standardisierten Diagnose mit möglichen Fehlklassifikationen.

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4.4

H. Bickeböller

Heterogenität von Populationen

Phänotypen und ihre Einflussvariablen müssen immer im Kontext mit einer bestimmten Population gesehen werden. So ist beispielsweise die Verteilung des Lipoprotein(a), Lp(a), unter Kaukasiern ganz anders als unter Afrikanern (Scholz et al. 1999). Dies führt zu einer sehr unterschiedlichen Varianz des Phänotyps Lp(a) und hat unmittelbare Auswirkung auf die Heritabilität. Selbst wenn die genetische Varianz gleich bleiben sollte, unterscheidet sich die Heritabilität in den jeweiligen Populationen. Die Heritabilität ist somit populationsabhängig. Die Prävalenz vieler Erkrankungen ist unterschiedlich in verschiedenen Populationen, ebenso wie die Häufigkeit sowohl genetischer als auch nicht-genetischer Einflussfaktoren. So kann ein bestimmter genetischer Marker in einer Population geeignet sein, da verschiedene Varianten häufig genug vorkommen. In einer anderen Population ist er hingegen ungeeignet, da er dort faktisch monomorph ist, also nur eine Variante zeigt. Bei monogenen Erkrankungen können manche Mutationen in einer Population besonders häufig sein, und andere Mutationen in einer anderen Population. Hieran ist insbesondere bei einem Patienten mit Migrationshintergrund zu denken. Auch die Abhängigkeitsstruktur verschiedener Marker im Genom, die Blockstruktur, die durch das sog. Kopplungsungleichgewicht (linkage disequilibrium, LD-Block) erzeugt wird, ist unterschiedlich in Populationen. Dies führt zu unmittelbaren Auswirkungen für mögliche Studien und Analysen. Das 1000-Genome-Projekt (IGSR 2018) beschreibt fünf Superpopulationen: Afrikaner, Amerikaner gemischter Herkunft, Ost-Asiaten, Süd-Asiaten und Europäer. Superpopulationen sollten nicht gemeinsam analysiert werden. In einer einzelnen Stichprobe sollte die ethnische Herkunft getestet werden, und für sie korrigiert werden. Sonst kann es zu verfälschten Ergebnissen kommen. Beispielsweise ist bei GWAS die Adjustierung mittels Hauptkomponenten (PCA) das Mittel der Wahl. Manchmal führen die LD-Blöcke auch dazu, dass die Feinkartierung, also die genaue Lokalisierung, einer kausalen Variante in einer Superpopulation nicht möglich ist, jedoch in einer anderen durchgeführt werden kann. Man beachte, dass sich in verschiedenen Populationen Genetik, Umwelt und Phänotypen unterschiedlich darstellen können. Es stellt sich dann die Frage, ob es sich lediglich um strukturelle Unterschiede wie Häufigkeiten handelt, oder ob die Biologie der Erkrankung wesentlich unterschiedlich ist. Hierbei gibt es ein Forschungsdefizit in einigen Populationen, wie beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent, da viel Forschung sich bisher auf Personen europäischer Herkunft, sog. Kaukasier, konzentriert hat.

5

Genetisch-molekulare Forschung mit dem Ziel der Identifikation, Modellierung und Prädiktion

Genetisch-molekulare Grundlagenforschung und genetischmolekulare Epidemiologie sind wichtig für die Identifikation der eigentlichen Ursachen für Erkrankungen und Gesundheitszustände. Dabei kommt es nicht nur auf den Nachweis einer statistischen Assoziation an, sondern auch darauf, ob diese letztlich kausal ist. Hierzu wurden in der Epidemiologie frühzeitig Kriterien (Rothman et al. 2012) entwickelt, die sog. Bradford-Hill-Kriterien, die sich nur bedingt auf die Genetik übertragen lassen. Ein sehr wichtiges Kriterium ist die Plausibilität der Biologie, insbesondere ob man die Kausalität durch Tier- oder Zellexperimente tatsächlich nachweisen kann. Vermutet man z. B., dass ein bestimmter Gendefekt Übergewicht auslöst, und zeigen dann Mäuse, bei denen dieses Gen ausgeschaltet ist, (Knockout-Maus) auch Übergewicht, so ist dies ein guter Beleg. Ziel der Modellierung ist es, ein Modell zu erstellen, das den Zusammenhang zwischen Krankheit und genetischen wie nicht-genetischen Einflussfaktoren möglichst gut beschreibt. Ein solches Modell einschließlich der Testung individueller Komponenten ist wichtig, um die genetischmolekularen Zusammenhänge besser verstehen zu können. Hierbei kann man auf parametrische und nicht-parametrische Regressionsansätze und auch auf Ansätze des Machine Learning zurückgreifen. Das Modell muss entsprechend der Verteilung der Zielgröße und entsprechend den Erfordernissen der Einflussgrößen ausgewählt werden. Die generalisierten additiven Modelle für Location, Scale and Shape (GAMLSS 2018) bieten dabei einen äußerst flexiblen Ansatz, der viele Formen der Verteilung der Zielgröße zulässt. Gibt es eine sehr hohe Dimensionalität der Einflussvariablen, so kann man beispielsweise mit Kernmodellen arbeiten. SNPs der Gene eines biologischen Pfades können gemeinsam, auch mit Netzwerkstrukturen der Gene untereinander, im Kern abgebildet werden (Freytag et al. 2013). Mit dem Modell kann man sagen, ob der biologische Pfad einen Einfluss auf die Erkrankung hat, wie viel der Varianz des Phänotyps durch ihn erklärt wird. Über die einzelnen SNPs kann direkt nichts ausgesagt werden. Letztlich will man mit der Modellierung die Frage beantworten, welche Faktoren wie genau auf die Erkrankung oder den Gesundheitszustand einwirken. Demgegenüber stehen Vorhersagemodelle (prädiktive Modelle), mit dem Hauptziel einer Wahrscheinlichkeitsvorhersage. Hat jemand ein hohes, mittleres oder niedriges Risiko, z. B. i) in den nächsten 10 Jahren eine schwere Herzerkrankung zu erleiden?, ii) nach einer HSCT eine GvHD zu erleiden? oder iii) durch Sport die Symptome eine Psychose zu verbessern? Werden für diese Vorhersage Messungen aus dem genetisch-molekularen Bereich eingesetzt,

5

Genetisch-molekulare Grundlagen von Gesundheit und Krankheit

spricht man von Biomarkern. Im obigen Beispiel geht es darum, Personen mit hohem, mittlerem oder geringem Risiko zu identifizieren. Ziel ist hier nicht notwendigerweise, Komponenten zu identifizieren oder zu modellieren. Daher können auch Verfahren des Machine Learning zum Einsatz kommen, die wie z. B. Neural Networks als Black Box funktionieren. Werden in dieser Black Box mehrere versteckte Layer verwendet, so spricht man von Deep Learning. Diese Modelle sind bisher noch nicht durchschaubar, können aber gute Prädiktionen liefern. Voraussetzung dafür sind jedoch aussagekräftige Trainings- und Validierungsdatensätze. Ohne Validierung besteht die Gefahr, dass das Analysemodell sich den vorliegenden Trainingsdaten zwar gut angepasst hat, aber leider nicht auf andere Datensätze übertragbar ist (das Problem des sog. Overfittings).

6

Fazit und Ausblick

Wir leben in einem Zeitalter exponentiell wachsender Datenmengen in allen Bereichen des Lebens. Dies gilt neben gesellschaftlichen Lebensbereichen auch für Gesundheit und Medizin. Die Molekularbiologie hat einen Einfluss auf viele Merkmale, über die Daten erhoben werden. Es gilt diese Einflüsse zu identifizieren, im Zusammenhang mit anderen Einflüssen zu modellieren und diese Erkenntnisse zur Prädiktion zu nutzen. Insbesondere bei der Prädiktion ist eine massive Ausweitung der Verfahren der Data Science zu erwarten. Hiermit lassen sich dann nicht nur Vorhersagen für das allgemeine Gesundheitswesen oder Gruppen von gleichartigen Personen machen. Diese Verfahren erlauben stark individualisierte Vorhersagen – ähnlich wie Vorschläge bei OnlineHändlern –, obwohl die individuelle Konstitution von Person zu Person sehr verschieden ist. Damit wäre eine personalisierte Medizin, also eine auf die einzelne Person zugeschnittene Gesundheitsversorgung, möglich. Die zukünftigen Entwicklungen in diesem Bereich machen große Hoffnung auf eine effektive, evidenzbasierte und personenzentrierte medizinische Versorgung.

Literatur Bickeböller H, Fischer C (2007) Einführung in die Genetische Epidemiologie. Springer, Heidelberg Bonita R, Beaglehole R, Kjellström T (2013) Einführung in die Epidemiologie, 3. Aufl. Huber, Bern Der Tagesspiegel (2007) Genforschung: Genetisches Selbstporträt. Artikel vom 3. September 2007. https://www.tagesspiegel.de/wissen/ genforschung-genetisches-selbstportraet/1031826.html. Zugegriffen am 13.05.2018 Fargher EA, Tricker K, Newman W, Elliott R, Roberts SA, Shaffer JL, Bruce I, Payne K (2007) Current use of pharmacogenetic testing: a national survey of thiopurine methyltransferase testing prior to azathioprine prescription. J Clin Pharm Ther 32(2):187–195

57 Freytag S, Manitz J, Schlather M, Kneib T, Amos CI, Risch A, ChangClaude J, Heinrich J, Bickeböller H (2013) A network-based kernel machine test for the identification of risk pathways in genome-wide association studies. Hum Hered 76(2):64–75. https://doi.org/ 10.1159/000357567. Epub 2014 Jan 14 Ge T, Chen CY, Neale BM, Sabuncu MR, Smoller JW (2017) Phenomewide heritability analysis of the UK Biobank. PLoS Genet 13(4): e1006711. https://doi.org/10.1371/journal.pgen.1006711. eCollection 2017 Apr Gendiagnostikgesetz vom 31. Juli (2009) (BGBl. I S. 2529, 3672). zuletzt durch Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460) geändert. Inkraftgetreten am 01.02.2010 Generalized Additive Models for Location, Scale and Shape (GAMLSS) (2018) https://www.gamlss.com/. Zugegriffen am 14.11.2018 Hills M, O’Neill K, Falconer E, Brinkman R, Lansdorp PM (2013) BAIT: organizing genomes and mapping rearrangements in single cells. Genome Med 5(9):82 IGSR: The International Genome Sample Resource (2018) http://www.inter nationalgenome.org/category/population/. Zugegriffen am 13.11.2018 Kurlemann R (2017). Badische Zeitung. Artikel vom 1. April 2017. http:// www.badische-zeitung.de/bildung-wissen-1/mein-erbgut-fuer-100dollar%2D%2D135114073.html. Zugegriffen am 13.05.2018 Maher B (2008) Personal genomes: the case of the missing heritability. Nature 456(7218):18–21. https://doi.org/10.1038/456018a Mons U, Perna L, Brenner H (2016) Alzheimer-Risikofaktor ApoE-E4: Hat der Cholesterinspiegel Einfluss auf die Kognition? Dtsch Arztebl 113(37):28. https://doi.org/10.3238/PersNeuro.2016.09.16.06 Naehrig S, Chao CM, Naehrlich L (2017) Cystic fibrosis – diagnosis and treatment. Dtsch Arztebl Int 114:564–574. https://doi.org/10.3238/ arztebl.2017.0564 National Center for Biotechnology Information (2018) NCBI Variation Summary. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/dbvar/content/org_summary/. Zugegriffen am 12.11.2018 NHGRI-EBI Catalog of published genome-wide association studies. GWAS catalog. https://www.ebi.ac.uk/gwas/. Zugegriffen am 13.11.2018 Online Mendelian Inheritance in Man (OMIM) (2018) An online catalog of human genes and genetic disorders. https://www.omim.org/. Zugegriffen am 13.11.2018 Rothman K, Greenland S, Lash TL (2012) Modern epidemiology. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia Saft C et al (2017) S2k-Leitlinie Chorea/Morbus Huntington. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. https://www.dgn.org/leitlinien. Zugegriffen am 12.11.2018 Scholz M, Kraft HG, Lingenhel A, Delport R, Vorster EH, Bickeböller H, Utermann G (1999) Genetic control of lipoprotein (a) concentrations is different in Africans and Caucasians. Eur J Hum Genet 7(2):169–178 Sherry ST, Ward MH, Kholodov M, Baker J, Phan L, Smigielski EM et al (2001) dbSNP: the NCBI database of genetic variation. Nucleic Acids Res 29(1):308–311. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/projects/ SNP/. Zugegriffen am 13.11.2018 Wilkinson MD, Dumontier M, Aalbersberg IJ, Appleton G, Axton M, Baak A, Blomberg N, Boiten J-W, da Silva Santos LB, Bourne PE, Bouwman J, Brookes AJ, Clark T, Crosas M, Dillo I, Dumon O, Edmunds S, Evelo CT, Finkers R, Gonzalez-Beltran A, Gray Aasdair JG, Groth P, Goble C, Grethe JS, Heringa J, ’t Hoen PAC, Hooft R, Kuhn T, Kok R, Kok J, Lusher SJ, Martone ME, Mons A, Packer AL, Persson B, Rocca-Serra P, Roos M, van Schaik R, Sansone S-A, Schultes E, Sengstag T, Slater T, Strawn G, Swertz MA, Thompson M, van der Lei J, van Mulligen E, Velterop J, Waagmeester A, Wittenburg P, Wolstencroft K, Zhao J, Mons B (2016) The FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship. Sci Data 160018. https://doi.org/10.1038/sdata.2016.18

Teil II Methoden der Gesundheitswissenschaften

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe Steffen Schulz

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

2

Population und Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

3 3.1 3.2 3.3

Beschreibung von Beobachtungen und Stichproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lage- und Streuungsmaße als statistische Kennwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grafische Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62 62 64 65

4 Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.1 z-Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5

Konfidenzintervall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9

Statistisches Testen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Null- und Alternativhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothesenrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzept von Signifikanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alpha- und Betafehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein- und zweiseitiges Testen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobenverbundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Signifikanztests für bivariate Datenanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effektstärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Interpretation statistischer Signifikanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71 71 71 71 72 72 73 73 73 75

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

1

Einleitung

Die Akademisierung der Gesundheitsberufe ist verbunden mit der Zielsetzung, sog. „reflective practitioners“ hervorzubringen. Der deutsche Wissenschaftsrat formuliert dazu die Erfordernis, dass ebendiese befähigt sind, ihr „Handeln auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnis zu reflektieren, die zur Verfügung stehenden Versorgungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Evidenzbasierung kritisch zu prüfen und das

eigene Handeln entsprechend anzupassen“ (Deutscher Wissenschaftsrat 2012, S. 78). Reflektieren impliziert zunächst den Schritt des Verstehens. Neben dem Identifizieren geeigneter wissenschaftlicher Publikationen, dem Durchdringen des theoretischen Rahmens und des Forschungsdesigns ergibt sich oftmals eine Konfrontation mit deskriptiven Ausführungen zur Stichprobe. Die (statistischen) Eigenschaften der beforschten Kohorte nachzuvollziehen ist ein hilfreicher Aspekt bei der Bewertung einer Studie. Darüber hinaus wird oftmals der (Miss-)Erfolg einer wissen-

S. Schulz (*) FB Angewandte Gesundheitswissenschaften, EUFH Campus Rostock, Rostock, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_7

61

62

S. Schulz

schaftlichen Untersuchung am numerischen Ergebnis eines statistischen Verfahrens festgemacht. Mit der Etablierung der dazu benötigen statistical literacy in den Gesundheitsberufen als eine Etappe auf dem Weg zum reflective practitioner kann es gelingen, den Transfer von der Forschung in die Praxis zu gestalten.

2

Population und Stichprobe

Zu einer Population (N; Grundgesamtheit) werden alle Elemente zusammengefasst, die bestimmte Merkmale teilen. Eine solche Einteilung kann in Kombination sachlich (Angehörige der Gesundheitsberufe), räumlich (Deutschland) und/ oder zeitlich (dieses Jahr) sein. Um Aussagen über Populationen zu treffen, ist mitunter ein sehr hoher Erhebungsaufwand notwendig. Ressourcensparender ist es, eine Stichprobe zu ziehen. Hierbei sollte diese kleinere Menge an Elementen die Population so gut wie möglich repräsentieren. Dazu gehört eine hinreichend große Fallzahl (n) sowie eine im besten Fall zufällige Auswahl der Stichprobenelemente (Verhinderung eines selection bias). Kennt man weitere Merkmale, die eine spezifische Population ausmachen, sollten diese von der Stichprobe gleichermaßen repräsentiert werden (bspw. Altersstruktur, Geschlechterverhältnis). Je repräsentativer eine Stichprobe ist, desto genauer sind die Aussagen, die man mit ihrer Hilfe für die Population treffen kann.

3

Beschreibung von Beobachtungen und Stichproben

Ausgangspunkt jeder quantitativen Forschungsarbeit ist die Beschreibung der zugrunde liegenden Population/Stichprobe. Der Übersicht halber werden oft nicht alle Rohdaten im Einzelnen dargestellt, sondern spezifische Kennwerte (Abschn. 3.1) berechnet oder Grafiken (Abschn. 3.2) aufbereitet. Wird lediglich eine einzelne Stichprobe beschrieben, spricht man von univariater Statistik. Bei Korrelationen (Abschn. 3.3) werden häufig Zusammenhänge zwischen zwei Datenmengen bestimmt, daher wird dies wie auch bei den in diesem Kapitel vorgestellten Signifikanztests (Abschn. 6.7) als bivariate Statistik bezeichnet.

3.1

Lage- und Streuungsmaße als statistische Kennwerte

Statistische Kennwerte lassen sich in Lagemaße und Streuungsmaße aufteilen. Ein Lagemaß beschreibt eine Position in der Stichprobe, an der sich bestimmte Werte konzentrieren. Zur weiteren Erläuterung der Maße sollen die Angaben in Abb. 1 dienen.

Das bekannteste Lagemaß ist der Mittelwert (x¯; engl. mean; average), berechnet nach der Formel: n

x ¼

Σ xi

i¼1

n

Das griechische Sigma steht für die Summe (genauer gesagt für die Summe aller xi). Mit xi sind alle Elemente der Stichprobe gemeint. Das i steht in dem Fall als Index für die jeweils einzelnen Elemente (x1, x2, x3 usw.). Über dem Summenzeichen steht ein kleines n und unter dem Summenzeichen i = 1. Diese Spezifizierung der Summe meint, dass beim Aufsummieren mit dem ersten x-Wert begonnen wird und alle Werte (n) dabei einbezogen werden. Der Term über dem Bruchstrich soll durch n geteilt werden. Mittelwerte haben die Eigenschaft, dass sie gerade bei kleineren Stichproben leicht durch Ausreißer beeinflusst werden können. Das sieht man im Beispiel an x10 = 30. Dieser eine Wert hebt den Mittelwert stark an. Der Median (x̃) in einer Stichprobe ist der Wert, bei dem eine Hälfte der Daten kleiner oder maximal so groß ist wie dieser Wert und die andere Hälfte mindestens so groß oder größer ist. Um ihn zu bestimmen, bildet man zunächst eine Rangreihe der Daten nach ihrer Größe. Für das Beispiel sieht das so aus: 0, 0, 0, 0, 0, 4, 4, 4, 4, 30. Die Stichprobe hat zehn Elemente. Nun sucht man den Wert in der Rangreihe, der genau in der Mitte liegt. Bei zehn Werten gibt es keinen alleinigen zentralen Wert, daher wählt man die beiden mittleren (den 5. und den 6. Wert) aus und bestimmt von diesen den Mittelwert. Im Beispiel: ~x ¼

0þ4 ¼2 2

Bei Stichproben mit einer ungeraden Anzahl von Werten entspricht der Median dem Wert, der genau in der Mitte der Rangreihe liegt. " Der Median ist von Ausreißern unabhängig.

Selbst wenn in der letzten Woche 100 Stunden Lernzeit stünde, würde sich der Median nicht verändern. Der Mittelwert hingegen würde stark ansteigen (x¯ = 11,60). Der Modalwert respektive Modus (xMod) ist ein weiteres Lagemaß und beträgt im o. g. Beispiel 0. Es ist der Wert, der am häufigsten in einer Verteilung vorkommt. In Abb. 1 entspricht er auch dem Minimum (xMin), dem kleinsten Wert der Stichprobe. Der größte Wert, das Maximum (xMax), ist 30. Neben den hier beschriebenen Lagemaßen lassen sich auch Streuungsmaße (Dispersionsmaße) angeben. Sie geben Hinweise auf die Variabilität der Daten innerhalb der Stichprobe. Das einfachste Streuungsmaß ist die Spannweite (dn; engl. range: r). Sie ist die Differenz aus xMax – xMin (im Beispiel dn = 30 – 0 = 30).

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe

Abb. 1 Lernaufwand für Statistikklausur, Beispieldaten für das Beschreiben von Beobachtungen

63

Q :RFKHQ ELV .ODXVXU

[L

/HUQDXIZDQG LQ 6WXQGHQ

[L ದ [ɬ

[L ದ [ɬ 

1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHQELV]XU .ODXVXU









1RFK:RFKHELV]XU .ODXVXU









[ 

Ein Maß, das mehr über die Verteilung der einzelnen Werte innerhalb der Stichprobe aussagt, ist die Varianz:

aus der Varianz ist. Für das Beispiel ergibt sich: s = 8,67 Stunden.

n

s2 ¼

Σ ðxi  xÞ2

i¼1

n

Zur Bestimmung wird für jeden einzelnen Wert in der Stichprobe der Abstand zum Mittelwert berechnet. Anschließend werden diese Abstände quadriert (vgl. Abb. 1). Dadurch fallen größere Abstände stärker ins Gewicht als kleinere. Die quadrierten Abstände werden aufsummiert und durch die Anzahl aller Werte geteilt. Im Beispiel: s2 ¼

752,40 ¼ 75,24 Stunden2 10

Die Varianz ist aufgrund der Quadrierung ein etwas unhandliches Maß. Sie ist sehr groß, teilweise sogar größer als das Maximum der Stichprobe und hat zudem eine andere Dimension als die Rohdaten („Quadratstunden“). In der Forschung wird daher oft die Standardabweichung (engl. standard deviation: SD): vffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi un u Σ ðx  xÞ2 i t s ¼ i¼1 n angegeben. Für den formelversierten Leser ist zu erkennen, dass die Standardabweichung lediglich die Wurzel

" Die Standardabweichung ist das gängigste Streuungsmaß in der deskriptiven Statistik.

Möchte man nicht nur eine deskriptive Aussage über eine Stichprobe geben, sondern eine Schätzung hinsichtlich der Populationsparameter vornehmen (den „wahren“ Wert bzw. true score schätzen), wird in den Formeln für Varianz und Standardabweichung eine Fehlerkorrektur vorgenommen (anstelle von n wird durch n-1 geteilt): Korrigierte Stichprobenvarianz: n

s2 ¼

Σ ðxi  xÞ2

i¼1

n1

Korrigierte Stichprobenstandardabweichung: vffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi un u Σ ðx  xÞ2 i t s ¼ i¼1 n1 Ein solches Vorgehen wird beispielsweise bei der Berechnung eines Konfidenzintervalls für den Mittelwert der Grundgesamtheit (Abschn. 5) sowie mitunter auch in den Teststatistiken von Signifikanztests impliziert.

64

S. Schulz

3.1.1 Skalenniveau Das Mess- oder Skalenniveau von Daten bestimmt, welche mathematischen Operationen (vgl. Tab. 1) mit ihnen vorgenommen werden können. Hiervon hängt nicht nur ab, welche Kennwerte (Abschn. 3.1) berechnet werden dürfen, sondern auch welche Korrelationskoeffizienten (Abschn. 3.3) oder Signifikanztests (Abschn. 6.7) möglich sind. Die Angabe zur Augenfarbe im Personalausweis kann nur in voneinander unabhängigen Kategorien eingeteilt werden wie beispielsweise grün, braun oder blau. Diese Kategorien lassen sich nicht in eine Hierarchie einordnen. Es handelt sich hierbei um nominal skalierte Daten. Zur Beschreibung solcher Daten sind nur Häufigkeitsangaben oder -verteilungen möglich (z. B. wie häufig kommt welche Augenfarbe vor). Liegen Schätzskalen zu beispielsweise Schmerz, Kraft oder Kommunikationsfähigkeit vor, besteht eine Hierarchie zwischen den Ausprägungsmöglichkeiten der Variablen (höhere Zahl = höheres Schmerzempfinden). Man spricht in solchen Fällen von ordinal skalierten Daten. Anhand der Variable Körpergröße lässt sich nicht nur eine Hierarchie herstellen (größere Zahl = größerer Mensch), sondern es lässt sich exakt sagen, um wie viel jemand größer ist als jemand anderes. Diese metrisch1 skalierten Daten liegen immer dann vor, wenn zwischen den Variablenausprägungen eine sog. Äquidistanz besteht. Das bedeutet, dass die Abstände zwischen den einzelnen Ausprägungen immer gleich groß sind. Der eine Zentimeter zwischen 49 und 50 cm ist genauso groß wie der zwischen 76 und 77 cm. " Das Skalenniveau der Variablen bestimmt, welche statistischen Verfahren eingesetzt werden.

Ordinal skalierte Variablen werden häufig irrtümlich für metrische gehalten, weil der reine Punktabstand zwischen beispielsweise Punktwert 1 und 2 genauso groß ist wie zwischen 6 und 7. Bei Schätzskalen handelt es sich im Gegensatz zur Körpergröße in cm jedoch um indirekte Variablen. Der Schätzwert steht nur repräsentativ für etwas (was sich nicht ohne Weiteres direkt quantifizieren lässt). Zudem unterliegen Tab. 1 Skalenniveaus und entsprechend zur Berechnung erlaubte Kennwerte Skalenniveau Modus Median & Quartile Mittelwert Minimum & Maximum Spannweite Varianz & Standardabweichung

1

Nominal x

Ordinal x x x x x x

Metrisch x x x x x x

Eine weitere Unterteilung in intervall- und ratioskalierte Daten wird hier nicht vorgenommen.

Schätzskalen nicht selten einer gewissen Subjektivität durch den Anwender. Aus diesem Grund führen Mittelwertsbildungen oder die Anwendung statistischer Verfahren, die auf einer Mittelwertsbildung beruhen, zu einer Verzerrung des wahren Wertes. " Äquidistanz bezieht sich auf empirische Relationen, nicht auf numerische.

3.2

Grafische Darstellungen

Auf eine ausführliche Abhandlung diverser Diagrammtypen wird an dieser Stelle verzichtet. Exemplarisch wird eine Auswahl in Abb. 2 dargestellt. Diese Grafiken beziehen sich auf die Daten in Tab. 2. Darüber hinaus finden sich Streudiagramme in Abb. 2, 3 und 4. Wegen der besonderen Bedeutung und seines häufigen Vorkommens soll einzig der sog. Boxplot (Abb. 3) näher erläutert werden. Im Beispiel ist auf der y-Achse das Alter in Jahren abgetragen. Der Querstrich in der Mitte der blauen Box ist der Median bzw. das zweite Quartil (= 30). Die jeweils oberen sowie unteren 50 % der Daten werden in einem Boxplot ein weiteres Mal in zwei gleich große Hälften aufgeteilt. Das untere Ende der Box ist das 1. Quartil (= 24,50). Darunter liegen 25 % der Daten (darüber 75 %). Das obere Ende der Box gibt das 3. Quartil (= 55,50) an, über dem sich noch 25 % der Daten befinden. Die dünnen Striche mit den Querbalken, die sich oben und unten an die Box anschließen, werden als Whiskers (engl. für Schnurrhaare) bezeichnet. Ihre Enden stellen i. d. R. das Minimum bzw. 0. Quartil (=18) und das Maximum2 bzw. 4. Quartil (= 77) dar. Ein Boxplot teilt die Anzahl der Elemente einer Stichprobe in gleich große Viertel und zeigt wie dicht jeweils die Werte innerhalb dieser Viertel beieinanderliegen. Je größer ein Teil der Box oder je länger ein Whisker ist, desto weiter sind die darin enthaltenen 25 % der Daten verstreut. Manchmal kann es vorkommen, dass in den Daten Ausreißer oder Extremwerte vorkommen. Diese werden aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht in die Whisker eingeschlossen. Da andernfalls grafisch suggeriert wird, dass sich in einem sehr großen Bereich 25 % der Daten verteilen. In Abb. 3 findet sich ein solcher Ausreißer bei 102 (im dargestellten Fall = xMax). Es gibt unterschiedliche Konventionen für die Definition von Ausreißern. Eine ist, dass Werte, die sich weiter als der eineinhalbfache Interquartilsabstand (Kantenlänge Box von oben nach unten) vom jeweiligen Ende der Box befinden, als Ausreißer bezeichnet werden und dass bei einem mehr als dreifachen Abstand von einem Extremwert

2

In dieser Abbildung entspricht das Ende des oberen Whiskers nicht dem Maximum. Eine Erklärung findet sich im Text.

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe

Abb. 2 Auswahl grafischer Darstellungen auf Grundlage von Tab. 2: a) Histogramm mit Normalverteilungskurve. b) Balkendiagramm mit Kennzeichnung der Standardabweichung. c) Kreisdiagramm mit pro-

65

zentualer Aufteilung der Gewichte. d) Felddiagramm mit Angabe der Standardabweichung. e) Forest plot mit Darstellung des 95 % Konfidenzintervalls

Tab. 2 Beispieldaten einer fiktiven Metaanalyse von vier Interventionsstudien. Angaben zu Gewicht, Effektstärke (Abschn. 6.8) mit Konfidenzintervall (KI, Abschn. 5) bestimmt mit RevMan 2014 Version 5.3

Studie A Studie B Studie C Studie D Gesamt

Experimentalgruppe x¯ SD 10 2 15 3 12 2 10 3

n 50 10 20 50 130

Kontrollgruppe ¯x SD 8 3 14 3 12 3 7 2

gesprochen wird. Die in Abb. 3 dargestellte und hier beschriebene Variante reflektiert die vorgegebenen Standardeinstellungen des Statistikprogramms IBM SPSS 2016 Version 24.

3.3

Korrelationen

" Korrelationen respektive ihre Koeffizienten beschreiben Zusammenhänge3 zwischen Variablen.

3

Die Ausführungen beziehen sich auf lineare Zusammenhänge.

Gewicht [%] n 50 10 20 50 130

29,80 17,30 23,70 29,20 100,00

Effektstärke Cohens d 0,78 0,32 0,00 1,17 0,63

95 % KI [0,37–1,19] [-0,56–1,20] [-0,62–0,62] [0,74–1,59] [0,12–1,13]

Mithilfe einer Korrelation kann beispielsweise untersucht werden, ob Werte in einem Assessment auf bestimmte Weise mit Werten in einem anderen Assessment korrespondieren. Korrelationskoeffizienten können Werte zwischen 1 und 1 annehmen. Je weiter ein Korrelationskoeffizient von 0 entfernt ist, desto stärker ist der Zusammenhang. Das Vorzeichen gibt die Richtung des Zusammenhangs an: Gehen mit steigenden Werten auf der x-Achse auch steigende Werte auf der y-Achse einher, spricht man von einer positiven Korrelation, die Richtung 1 tendiert (Abb. 4). Sinken hingegen Werte auf einer Achse während

66

sie auf der anderen steigen, spricht man von einer negativen Korrelation (Abb. 5). Der Wert tendiert Richtung 1. Besteht kein Zusammenhang, geht der Korrelationskoeffizient gegen 0 (Abb. 6). In Abb. 4, 5 und 6 werden aus Daten einer Altersverteilung von 35 Personen und Daten aus bestimmten Diagnostikinstrumenten Korrelationen simuliert. Neben der Höhe des errechneten Korrelationskoeffizienten sollte beim Berichten ebenfalls das Ergebnis einer Signifikanzprüfung (Abschn. 6.3) mit einem entsprechenden p-Wert und die Anzahl der Wertepaare (n) nicht fehlen. Korrelationsko-

Abb. 3 Beispiel Boxplot einer Altersverteilung in Jahren (n = 80)

S. Schulz

effizienten lassen sich per Hand (s. unten) sowie mit üblichen Statistikprogrammen berechnen, die im Allgemeinen gleichzeitig eine korrespondierende Signifikanzprüfung vornehmen. In Orientierung an Cohen (1988) lässt sich die Stärke von Korrelationen wie folgt klassifizieren: schwacher Zusammenhang bei r = 0,10; mittlerer Zusammenhang bei r = 0,30; starker Zusammenhang bei r = 0,50. Jedoch sollte bei der Interpretation von Korrelationen auch überprüft werden, ob der Zusammenhang signifikant ist und der p-Wert unter ein entsprechendes Alphaniveau fällt (Abschn. 6.3 und 6.4). Zudem gilt: je größer die Stichprobe ist, desto bedeutender ist ein beobachteter Zusammenhang. Bei der Interpretation von Korrelationen sei davor gewarnt, kausale Rückschlüsse zu ziehen. Im Beispiel aus Abb. 4 werden Werte auf der y-Achse nicht durch Werte auf der x-Achse oder umgekehrt bedingt. Ein Einfluss kann nicht konstatiert werden. Für derartige Nachweise ist die Berechnung einer Regression notwendig. Nachfolgend wird in Orientierung an gesundheitswissenschaftliche Publikationen eine Auswahl an häufig berechneten Koeffizienten vorgestellt und deren Bestimmung mit Beispielen illustriert.

3.3.1 Phi-Koeffizient Soll ein Zusammenhang zwischen zwei dichotomen (nominal skalierten) Variablen ermittelt werden, kann der PhiKoeffizient genutzt werden.

Abb. 4 Beispieldaten für positive Korrelation zwischen dem Alter einer Person und einem Wert im „Timed Up & Go“-Test (Podsiadlo und Richardson 1991)

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe

67

Abb. 5 Beispiel Daten für negative Korrelation zwischen dem Alter einer Person und der Anzahl der transportierten Würfel im „Box and Block“-Test (Mathiowetz und Weber 1985)

Abb. 6 Beispieldaten für keine Korrelation zwischen dem Alter einer Person und ihrem Punktwert im Voice Handicap Index (Nawka et al. 2003)

Es ist bekannt, dass eine häufige Komplikation des Schlaganfalls das Auftreten einer Dysphagie mit der Folge einer Aspirationspneumonie ist (Martino et al. 2005). Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass die Durchführung eines frühen Screenings zur Detektion möglicher Schluckpatholo-

gien das Risiko zur Ausbildung einer Aspirationspneumonie senken kann (Teuschl et al. 2018). Die Untersuchung eines solchen Zusammenhangs könnte wie in Tab. 3 dargestellt aussehen. Die Korrelation wird mit folgender Formel bestimmt:

68

S. Schulz

Tab. 3 Beispiel Vierfeldertafel für Bestimmung des Phi-Koeffizienten

Aspirationspneumonie im Verlauf

Ja Nein

Frühes Screening Ja Nein 2 (a) 8 (b) 9 (c) 3 (d)

Tab. 4 Beispiel Daten für Berechnung einer punktbiserialen Korrelation (n = 9) Anzahl der Adressänderungen 5 7 3 0 6 9 4 6 11

Drogenmissbrauch Ja Ja Nein Nein Nein Ja Nein Ja Ja

adbc φ ¼ pffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi ða þ bÞ  ðc þ d Þ  ða þ cÞ  ðb þ d Þ Der Phi-Koeffizient für das Bespiel liegt bei φ = 0,55. Ein ggf. auftretendes negatives Vorzeichen bleibt unberücksichtigt. Der Zusammenhang gilt als signifikant, sofern das entsprechende χ2 ein vorher festgelegtes α trifft oder unterschreitet (vgl. Abschn. 6.4 und 6.7).

3.3.2 Punktbiseriale Korrelation Die punktbiseriale Korrelation bestimmt einen Zusammenhang zwischen einer dichotomen (nominal skalierten) und einer metrischen Variable. In einer Studie zum Drogenmissbrauch unter Schizophreniepatienten untersuchen Helmes et al. (2014) u. a. auf diese Weise den Zusammenhang zwischen der Tatsache, ob ein Drogenmissbrauch in den vergangenen fünf Jahren vorliegt und der Anzahl der Adressänderungen in diesem Zeitraum. Tab. 4 zeigt in Anlehnung an die o. g. Untersuchung entsprechend fiktive Daten. Zur Bestimmung des Korrelationskoeffizienten wird die Standardabweichung der metrischen Variable benötigt: sx = 3,10. Für alle metrischen Werte, welche demselben dichotomen Merkmal zugeordnet sind, wird ein Mittelwert gebildet (im Beispiel: Adressänderungen bei Drogenmissbrauch = x¯1 =7,60;AdressänderungenohneDrogenmissbrauch=x¯2 =3,25). Berechnet wird anschließend nach der Formel: rpb

x2  x1 ¼  sx

rffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi n1  n2 n2

Für das Beispiel ergibt sich damit: rpb = 0,71. Eine Signifikanztestung erfolgt auf Basis des t-Tests für nicht verbundene Stichproben (Abschn. 6.7).

Tab. 5 Beispiel Daten für Rangkorrelation nach Spearman (n = 10; mmHg: Millimeter Quecksilbersäule) Fiktiver Lebensqualitätsindex 120 123 134 110 115 130 140 111 125 152

Blutdruck diastolisch [mmHg] 80 75 91 70 60 83 85 69 75 97

Ränge x 7 6 3 10 8 4 2 9 5 1

Ränge y 5 7 2 8 10 4 3 9 6 1

Differenz di 2 1 1 2 2 0 1 0 1 0

3.3.3 Rangkorrelation nach Spearman Nicht selten wird das Abschneiden von Patienten in zwei unterschiedlichen Assessments miteinander korreliert. Beispielsweise setzen Kleiss et al. (2015) ein Assessment zur Beurteilung von Fazialisparesen mit einem Lebensqualitätsinventar in Beziehung. In diesem Fall liegen zwei ordinal skalierte Variablen vor. Ein geeigneter Korrelationskoeffizient ist die Rangkorrelation nach Spearman (rs, Spearmans Rho bzw. ρ).4 Mit diesem Verfahren kann ebenfalls eine metrische mit einer ordinal skalierten Variable auf einen Zusammenhang überprüft werden. Auch eine Anwendung auf zwei metrische Variablen ist möglich. Hierin besteht eine Alternative zur Produkt-Moment-Korrelation (s. unten), die für eine Signifikanzprüfung normalverteilte (Abschn. 4) Variablen voraussetzt. Die Berechnung soll am Beispiel eines fiktiven Index zur Lebensqualität (ordinal) und diastolischen Blutdruckwerten (metrisch) vorgenommen werden (Tab. 5). Zur Bestimmung des Korrelationskoeffizienten müssen zunächst die Rohdaten einer jeden Variablen in Ränge überführt werden. Anschließend wird die Differenz der jeweiligen Rangpaare gebildet. Weiter geht es mit der Formel: P 6  ni¼1 d 2i rs ¼ 1  n  ð n2  1Þ

Die Daten aus Tab. 5 eingesetzt in die Formel ergibt: rs = 0,90. Mithilfe einer Tafel wie in Bortz und Lienert (2008) wird das Ergebnis auf Signifikanz hin geprüft. Für n >30 kann mithilfe eines z-Wertes nach folgender Berechnung auf Signifikanz geprüft werden:

4 Bei strenger Betrachtung wird allerdings vorausgesetzt, dass die Abstände zwischen den Merkmalsausprägungen äquidistant sind. Ein alternativ zu verwendender Koeffizient ist Kendalls Tau. Das entsprechende Vorgehen kann Bortz und Lienert (2008) entnommen werden.

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe

z ¼ rs 

pffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi n1

Liegen innerhalb der Daten Rangbindungen (mehrere Werte teilen sich den gleichen Rang) vor, wird eine ProduktMoment-Korrelation (s. unten) der Ränge bestimmt. Zu beachten ist, dass Spearmans Rho relativ stark durch Ausreißer verzerren kann. Dies bezieht sich auf große Unterschiede in den Rangdifferenzen, die auftreten, falls ein Stichprobenelement in der einen Variablen einen relativen hohen Rang bekleidet und in der anderen einen relativ niedrigen. In solchen Fällen sollte auf die bereits erwähnte Rangkorrelation nach Kendall ausgewichen werden.

3.3.4 Produkt-Moment-Korrelation Dieser Koeffizient ist zu wählen, möchte man zwei metrische Variablen auf einen Zusammenhang hin untersuchen. Beispielsweise betrachten Ing et al. (2018) Inzidenzraten für das jeweilige Auftreten von Herpes zoster und Riesenzellarteriitis in verschiedenen Ländern (oder bestimmten Regionen in diesen Ländern) und bestimmen daraus eine Korrelation (Originaldaten in Tab. 6). Die Formel zur Bestimmung der Produkt-Moment-Korrelation (auch Pearson-Korrelation) lautet: r¼

covxy sx  sy

Dementsprechend gilt es zunächst die sog. Kovarianz aus den Datenpaaren zu bestimmen: n

covxy ¼

Σ ðxi  xÞ  ðyi  yÞ

i¼1

n1

Im Beispiel ergibt sich: covxy = 5,38 und r = 0,51. Tab. 6 Daten zur Inzidenz von Herpes zoster und Riesenzellarteriitis für verschiedene Länder (n = 14) in der Altersgruppe 50-Jähriger aus Ing et al. (2018)

Land Norwegen Finnland Schweden Vereinigtes Königreich USA Spanien Neuseeland Israel Kanada Frankreich Italien Australien Deutschland Japan

Inzidenz Riesenzellarteriitis (pro 100.000 Einwohner) 21,00 26,20 14,10 22,00

Inzidenz Herpes zoster (pro 1000 Einwohner) 2,80 2,50 2,50 4,00

19,80 10,13 12,73 11,30 9,40 9,40 5,80 3,20 3,30 0,13

4,50 4,80 6,10 5,80 3,70 4,20 3,60 6,50 6,20 3,90

69

Für eine Signifikanzprüfung entsteht als zusätzliche Voraussetzung, dass jeweils beide Variablen normalverteilt sind. Unter dieser Bedingung kann die t-verteilte Prüfgröße via pffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi r n2 t ¼ pffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi 1  r2 ermittelt werden und mithilfe einer entsprechenden Vertafelung von t-Werten abgeglichen werden (z. B. bei Bortz und Schuster 2010). Wie auch die Rangkorrelation nach Spearman reagiert die Produkt-Moment-Korrelation recht sensitiv auf Ausreißer in den Rohdaten.

4

Normalverteilung

Neben der Darstellung empirischer Verteilungen (auf Basis selbst erhobener Daten), gibt es auch eine Reihe theoretischer Verteilungen. Diese bilden häufig eine wesentliche Grundlage für Wahrscheinlichkeitsberechnungen und das statistische Testen (Abschn. 6). Eine dieser Verteilungen ist die Normalverteilung. Die Normalverteilung (vgl. Abb. 7) ist eine symmetrische Verteilung (x¯ = x̃ = xMod). Die Höhe der Kurve bzw. die (nicht eingezeichnete) y-Achse bildet die Häufigkeit der jeweiligen x-Achsen-Werte ab. Entsprechende x-Werte, die relativ nah am Mittelwert sind, kommen relativ häufig vor. X-Werte, die relativ weit vom Mittelwert entfernt sind (größer oder kleiner), kommen relativ selten vor. Insgesamt befinden sich unter der Kurve 100 % der Fläche und somit 100 % der Daten der Verteilung. Auf der rechten und auf der linken Seite sind es jeweils 50 %. Über die Dichtefunktion, auf die hier nicht näher eingegangen wird, lässt sich bestimmen, wie groß ein bestimmter Flächenanteil unterhalb der Kurve ist. So liegen im Bereich zwischen dem Mittelwert und jeweils  1 SD bei normalverteilten Daten stets 34,13 % dieser Daten. Die Kurve der Normalverteilung ist asymptotisch. Das bedeutet, dass sie sich mit wachsender Entfernung vom Mittelwert immer weiter der x-Achse annähert, diese aber nie schneidet. Der Flächenanteil zwischen zwei benachbarten Standardabweichungen wird dadurch zunehmend geringer. Ein Beispiel für normalverteilte Daten ist der Intelligenzquotient (IQ). Der Mittelwert der Bevölkerung ist hierbei 100 und die Standardabweichung 15. Wendet man dieses Wissen auf Abb. 7 an, lässt sich sagen, dass ca. 68,27 % der Bevölkerung einen IQ zwischen 85 und 115 haben. Die Größe einer empirischen Stichprobe erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Stichprobenkennwerteverteilung (Abschn. 5) von der Normalverteilung approximiert wird. In der Forschungspraxis greift dieser sog. zentrale Grenzwertsatz ab einer Stichprobengröße von n = 30. Anwendungsbezogen bedeutet dies, dass bestimmte statistische Ver-

70

S. Schulz

Abb. 7 Normalverteilung (Dichtefunktion) mit Kennzeichnung prozentualer Flächenanteile (Näherungswerte), Mittelwert (x ¯) und Standardabweichung (SD)

fahren trotzdem anwendbar sind, obgleich eine Verletzung der Normalverteilungsvoraussetzung vorliegt (Abschn. 6.7).

4.1

z-Werte

Mit der sog. z-Transformation lässt sich bestimmen, wie groß der Anteil an Daten ist, der größer (oder kleiner) als ein bestimmter empirischer Wert ist. Einen z-Wert berechnet man nach der Formel: zi ¼

ðxi  xÞ s

Jemand mit einem IQ von 139 hat ein z von: ð139  100Þ ¼ 2,60 15 Der z-Wert sagt aus, wie viele Standardabweichungen ein empirischer Wert xi vom Mittelwert der Stichprobe entfernt ist. In entsprechenden Tabellen (z. B. Eid et al. 2011) lässt sich dann ablesen, wie groß der Flächenanteil „links“ von diesem Wert ist. Im Beispiel haben somit 99,53 % der Verteilung (alle Menschen) einen IQ 139. " Die z-Transformation empirischer Werte ermöglicht es, empirische Stichproben und ihre Werte zu standardisieren. Dadurch wird ein standardisierter Vergleich von Rohwerten möglich, die aus unterschiedlichen Stichproben entstammen.

5

Konfidenzintervall

In einer Therapiestudie wird erhoben, wie lang Patienten brauchen, um vollkommen schmerzfrei zu sein (Tab. 7). Anhand der deskriptiven Statistik wird deutlich, dass nicht alle Personen

Tab. 7 Beispieldaten der Therapiestudie: Tage bis schmerzfrei Kennwert n ¯x SD x̃ xMax xMin

Ergebnis 81 20,40 6,30 22 37 5

gleichermaßen von der Intervention profitiert haben. Ein sog. Konfidenzintervall (KI, Vertrauensintervall) hilft dabei eine Schätzung abzugeben, mit der die Ergebnisse von der Stichprobe auf die Population generalisiert werden können. Es gibt unterschiedliche Arten von Konfidenzintervallen. An dieser Stelle wird auf die Berechnung eines KI für den Erwartungs- bzw. Mittelwert der Grundgesamtheit eingegangen: KI ¼ x  z1α2  σ x Interessierte Leser können beispielsweise bei Eid et al. (2011) oder Nachtigall und Wirtz (2006) weitere KI kennenlernen. Der empirische Stichprobenmittelwert ist der Schätzwert für den wahren Wert der Population. Zum einen ist er aber nur ein Punktschätzer (besteht nur aus einem Wert) und zum anderen weiß man nicht, wie nah er sich tatsächlich am wahren Wert befindet. Das Ziel einer Intervallschätzung (wie beim KI) ist es, einen Bereich zu finden, in dem der Erwartungswert μ (Mittelwert der Population) liegen sollte. Ausgehend vom Stichprobenmittelwert zeigt das KI einen Bereich von (theoretischen) Erwartungswerten, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (1 – α) den empirischen Wert hervorgebracht haben könnten. Andersherum kann die Aussage getroffen werden, dass der empirische Wert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (α) nicht in dem bestimmten Intervall liegt.

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe

Gängige Konfidenzintervalle in den Gesundheitswissenschaften sind 95 % oder 99 %. Für das Beispiel aus Tab. 7 soll ein 95 %-KI berechnet werden. Zunächst bedarf es jedoch einiger Vorüberlegungen: Theoretisch könnte man neben der vorliegenden Stichprobe noch sehr viel mehr Stichproben aus der Population extrahieren. Von der vorliegenden Stichprobe ist bereits der Mittelwert berechnet und auch von den theoretisch ziehbaren Stichproben könnte man Mittelwerte bilden. Es würde Stichproben geben, die sich sehr nah am wahren Mittelwert befinden und welche die sehr weit (größer/kleiner) vom wahren Mittelwert entfernt sind. Dieses Ensemble aus Mittelwerten von (theoretischen) Stichproben könnte man im Sinne einer Häufigkeitsverteilung sortieren. Man nimmt an, dass diese Stichprobenmittelwerte eine normalverteilte Stichprobenkennwerteverteilung bilden. Mithilfe von z-Werten lässt sich ein Intervall erheben, in dem beispielsweise 95 % (1-α) der Stichprobenkennwerte liegen und jeweils α ¼ 2,50 % 2 rechts und links davon nicht liegen. Die entsprechenden z-Werte sind 1,96 und 1,96 (KI = x¯  1,96  σbx ). Der geschätzte Standardfehler σbx wird auf Basis des bekannten Stichprobenmittelwertes nach folgender Formel geschätzt: s σbx ¼ pffiffiffi n Weiterhin ist (Abschn. 3.1): vffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffiffi un u Σ ðx  xÞ2 i t s ¼ σb ¼ i¼1 n1 Für das Beispiel bedeutet dies: 6,30 σbx ¼ pffiffiffiffiffi ¼ 0,70 ðKI ¼ 20,40  1,96  0,70Þ 81 Somit lautet das 95 %-KI: 19,03 – 21,77. In diesem Bereich liegen dementsprechend 95 % der wahren Mittelwerte, die den empirischen Mittelwert (20,40) aus den Daten der Tab. 7 hervorgebracht haben könnten. " Je größer Stichproben sind, desto zuverlässiger sind die geschätzten Konfidenzintervalle.

6

Statistisches Testen

Mithilfe statistischer Tests werden Stichproben auf (signifikante) Unterschiede hin getestet. Beispielsweise kann die Anwendung eines statistischen Verfahrens auf diese Weise untermauern, dass sich Patienten zwischen Prä- und Posttest

71

gesteigert haben oder dass in einer Therapiestudie die Experimental- der Kontrollgruppe gegenüber überlegen ist. Für die adäquate Auswahl eines Signifikanztests und dessen Interpretation sind die Überlegungen der nächsten Abschnitte relevant.

6.1

Null- und Alternativhypothese

Ein weit verbreitetes Vorgehen zum Detektieren möglicher Effekte bzw. systematischer Unterschiede ist das sog. Nullhypothesensignifikanztesten (NHST). Dabei werden ausgehend von der jeweiligen Forschungsfrage zwei konträre Hypothesen aufgestellt. Die Alternativhypothese gibt wieder, was aus empirischer Erfahrung heraus oder auf Basis der Literatur vermutet wird. Sie wird so bezeichnet, weil sie eine Alternative bzw. Erweiterung des bestehenden Wissens darstellt. Beispiel: „Nach der Therapie wird mehr gekonnt als vorher“ (statistisch ausgedrückt H1: μ1 < μ2). Die Nullhypothese sagt in dem Fall das Gegenteil: „Nach der Therapie wird nicht mehr gekonnt als vorher“ (statistisch ausgedrückt: H0: μ1  μ2).

6.2

Hypothesenrichtung

Zu prüfende Alternativhypothesen können gerichtet oder ungerichtet sein. Im Beispiel (Abschn. 6.1) wird davon ausgegangen, dass eine Richtung in Form einer Zunahme vorliegt. Es wird nicht nur gesagt, dass die Daten zwischen erstem und zweitem Zeitpunkt unterschiedlich sind, sondern es wird sogar gesagt, welche Stichprobe der anderen „überlegen“ ist. Eine ungerichtete (Alternativ-)Hypothese, bei der ein „irgendwie“ gearteter Unterschied vorliegt, wäre: Gruppe A und Gruppe B sind unterschiedlich groß (μ1 6¼ μ2).

6.3

Konzept von Signifikanz

Mit Signifikanztests werden Wahrscheinlichkeiten bestimmt. Es wird bestimmt, wie wahrscheinlich das Auftreten eines bestimmten Ereignisses (z. B. Unterschied der Daten Prävs. Posttest) ist. Je größer die Unterschiede in den Daten sind, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese durch zufällige Schwankungen bedingt sind. Für den Unterschied müsste es dementsprechend eine alternative Erklärung geben, schlussfolgernd nimmt man die Alternativhypothese an (und verwirft die Nullhypothese). Ab wann ist die Wahrscheinlichkeit für eine zufällige Schwankung sehr gering? Mit der Berechnung eines statistischen Signifikanztests wird aus den empirischen Daten (Daten der Studie) eine

72

S. Schulz

sog. Prüfgröße bzw. Teststatistik bestimmt. Diese lässt sich mit entsprechenden Verteilungen abgleichen. Daraus wird ersichtlich, wie (un)wahrscheinlich (selten) das Auftreten dieser Prüfgröße in der Verteilung ist. Im Abschn. 4 wird erläutert, dass der IQ normalverteilt ist. Ab wann ein Wert selten ist, lässt sich mit Kenntnis der zugrunde liegenden Verteilungen a priori festlegen. Es könnte gelten, dass jeder IQ selten ist, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 % oder weniger auftritt. Der IQ wäre hier die Prüfgröße und an der Verteilung der IQ-Werte ließe sich ablesen, wie selten ein empirischer IQ-Wert ist. Wird bei jemandem ein IQ von 130 gemessen, lässt sich über eine z-Wert-Tabelle ablesen, dass ca. 97,72 % aller anderen Werte in der Verteilung kleiner sind. Ein IQ von 130 (oder höher) kommt damit also seltener als zu 5 % vor. " Beim statistischen Testen wird im Voraus ein sog. Signifikanzniveau (a, Alphaniveau) festgelegt. Das ist eine Wahrscheinlichkeitsgrenze, die erreicht oder unterschritten werden soll, damit etwas als selten bzw. signifikant gilt.

Das Alphaniveau als Grenze ist willkürlich festlegbar (Abschn. 6.4). In der biomedizinischen Empirie gelten als übliche Konventionen Signifikanzniveaus von 1 % oder 5 % (α = 0,01 bzw. α = 0,05). In Pilotstudien wird mitunter auch ein moderates Signifikanzniveau von 10 % angesetzt. Die Wahrscheinlichkeit für eine zufällige Schwankung wird daher vom Untersucher selbst bestimmt und sollte dem Untersuchungsgegenstand entsprechend angemessen sein.

6.4

Alpha- und Betafehler

Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer beobachteten Zahlenkombination (als Korrelat der empirischen Daten aus z. B. Vor- und Nachtest) wird als p-Wert bezeichnet. " Für das Annehmen der Alternativhypothese sollte der p-Wert das Alphaniveau nicht überschreiten (p  a).

Die Entscheidung für die Alternativhypothese könnte jedoch auch falsch sein. Denn auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, beispielsweise fünfmal hintereinander eine sechs zu würfeln, ist es dennoch möglich. Ebenso kann ein großer Unterschied in den Daten zwischen einem Präund einem Posttest durch den Zufall bedingt sein. Entscheidet man sich (1) aufgrund der Stichprobendaten für einen signifikanten Unterschied, nimmt (2) die Alternativhypothese an und schließt (3) beispielsweise daraus, dass eine Intervention zu einer signifikanten Verbesserung geführt hat, obwohl das in Wahrheit5 nicht so ist – dann begeht man einen sog. Alphafehler. An dieser Stelle wird nun klar, dass

Tab. 8 Entscheidungsmöglichkeiten und Fehler beim statistischen Testen

Entscheidung aufgrund Stichprobendaten für

In Population gilt (in Wirklichkeit) H0 H1 H0 Richtige Entscheidung Falsche 1-α Entscheidung Sicherheitswahrscheinlichkeit β-Fehler Fehler 2. Art H1 Falsche Entscheidung Richtige α-Fehler Entscheidung Fehler 1. Art 1-β Irrtumswahrscheinlichkeit Teststärke (Power)

bei einem niedriger angesetzten Alphaniveau auch die Wahrscheinlichkeit einen Alphafehler zu begehen geringer ist. Auf der anderen Seite ist es auch möglich, sich aufgrund der Stichprobendaten sowie der entsprechenden Teststatistik gegen die Alternativhypothese zu entscheiden – obwohl in Wahrheit doch ein signifikanter Unterschied vorliegt. Diesen Fehler nennt man Betafehler. Die Teststärke (Power) gibt einen Hinweis darauf, wie gut der Test in der Lage ist, einen signifikanten Unterschied aufzudecken. Konventionell werden Werte ab 0,80 für gut befunden. In Tab. 8 sind die wichtigsten Inhalte dieses Abschnitts in einem Überblick zusammengefasst.

6.5

Ein- und zweiseitiges Testen

Die Hypothesenrichtung (Abschn. 6.2) bestimmt, ob das Alphaniveau für eine Seite eines Unterschieds gilt oder für beide. Wird gesagt, dass jemand signifikant (α = 0,05) intelligenter ist als der Durchschnitt, handelt es sich um eine gerichtete Hypothese. Es muss nun geprüft werden, ob der empirische IQ zu den seltenen 5 % oberhalb des Mittelwertes gehört (= einseitige Testung). Wird hingegen die Aussage getroffen, dass sich jemand mit seinem IQ signifikant (α = 0,05) vom Durchschnitt unterscheidet, liegt eine ungerichtete Hypothese vor. Die Behauptung muss über eine zweiseitige Testung geprüft werden: jeweils einmal unter- und oberhalb des Mittelwertes. Das Alphaniveau von 5 % muss auf beide Seiten aufgeteilt werden. Ein Ergebnis wäre damit nur signifikant, wenn es entweder im Bereich der 2,50 % seltenen Werte unter- oder derer oberhalb des Mittelwertes läge. " Die Wahrscheinlichkeit, ein signifikantes Ergebnis zu erreichen, ist beim einseitigen Testen doppelt so hoch wie beim zweiseitigen Testen.

5

Die Wahrheit (der wahre Wert) ist leider unbekannt, da leider nur die Stichprobendaten vorliegen.

6

Grundlagen der medizinischen Statistik für Gesundheitsberufe

Es gilt: pzweiseitig ¼ peinseitig 2

6.6

Stichprobenverbundenheit

Für die Auswahl eines geeigneten statistischen Tests muss erkannt werden, ob die Stichproben, die auf einen möglichen signifikanten Unterschied hin getestet werden sollen, verbunden (voneinander abhängig) oder nicht verbunden (voneinander unabhängig) sind. Besteht in Bezug auf die Fragestellung/Hypothese ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen der beiden Stichproben, dann gelten diese als verbunden. Dieser Fall tritt z. B. bei Prä-Post-Testungen derselben Gruppe von Patienten ein. Dabei werden die individuellen Leistungen eines jeden Patienten im Prätest mit der entsprechenden Leistung desselben Patienten im Posttest verglichen (vgl. Abb. 8). Besteht zwischen den einzelnen Elementen der beiden Stichproben keine Verbindung, sind diese voneinander unabhängig. So etwas tritt i. d. R. bei Fall-Kontroll-Studien auf. Hier gibt es Patienten in der Experimentalgruppe und Patienten in der Kontrollgruppe zwischen denen im Einzelnen keine (statistische) Beziehung besteht (vgl. Abb. 9).

6.7

Signifikanztests für bivariate Datenanalysen

Für das Aufdecken signifikanter Unterschiede zwischen Stichproben steht eine ganze Reihe statistischer Verfahren zur Verfügung. Da es sich vorliegend um ein Einführungskapitel handelt, soll lediglich eine grundlegende Übersicht häufig verwendeter Tests vorgestellt werden. Auf eine Beschreibung Abb. 8 Testprinzip zweier voneinander abhängiger (verbundener) Stichproben. Zugewiesene Elementepaare werden für den Test direkt miteinander verglichen

73

der Formeln und Rechenwege wird an dieser Stelle verzichtet. Die Übersicht in Tab. 9 soll einerseits als Entscheidungshilfe für die Auswahl und gezielte Vertiefung dienen und andererseits eine Stütze bei der Interpretation wissenschaftlicher Publikationen sein. Spezifische weiterführende Informationen lassen sich in entsprechender Literatur finden (Bortz und Lienert 2008; Bortz und Schuster 2010; Eid et al. 2011; Schäfer und Schöttker-Königer 2015). Die Verfahren in Tab. 9 beziehen sich auf das Testen zweier Stichproben. Allen ist gemein, dass über die entsprechenden Formeln eine Prüfgröße errechnet wird. Mithilfe dieser wird bestimmt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer gegebenen empirischen Zahlenkombination ist (z. B. Daten im Prä- vs. Posttest). Die aus den vorliegenden Daten erhobene Wahrscheinlichkeit oder empirische Prüfgröße wird dann mit dem Alphaniveau oder einem assoziierten kritischen Wert auf der zugrunde liegenden Verteilung der Prüfgröße abgeglichen.

6.8

Effektstärken

Mit den vorgestellten statistischen Tests (Tab. 9) kann geprüft werden, ob ein Effekt (im Sinne eines statistisch signifikanten Unterschieds) vorliegt. Um empirische Befunde aus Studien zu stärken, kann zudem die Frage geklärt werden, wie groß dieser Effekt ist. Dazu kann eine sog. Effektstärke (Effektgröße, effect size) bestimmt werden (Auswahl): Im Falle von Mittelwertsunterschieden, wie sie beim t-Test bestimmt werden, eignet sich Cohen’s d nach der Formel: d¼

x1  x2 spooled

Die Mittelwertsdifferenz wird durch die gepoolte (gemeinsame) Standardabweichung:

74

S. Schulz

Abb. 9 Testprinzip zweier voneinander unabhängiger (nicht verbundener) Stichproben. Zentrale Gruppenwerte werden miteinander verglichen Tab. 9 Auswahl an Signifikanztests für bivariate Daten mit entsprechenden key facts Skalenniveau der Variablen Nominal

Tests für verbundene Stichproben (z. B. bei Prä-PosttestDesign) McNemar-Test • Variablen müssen dichotom sein • Aufstellung einer Vierfeldertafel: Erwartete Häufigkeit der Zellen b sowie c sollte größer 5 sein. Formel mit Stetigkeitskorrektur wählen, falls Zellen b + c 10 %, üblich), dann halten wir die Nullhypothese für ausreichend wahrscheinlich.

4

Grenzen der empirischen Gesundheitsforschung

Die Grenzen quantitativer empirischer Verfahren könnten prinzipiell auf verschiedenen Abstraktionsebenen diskutiert werden. Die Wahrnehmung einer Person ist, wie eingangs geschrieben, immer von der individuellen Sozialisation abhängig. Die grundsätzliche Individualität vor Realität (Ist meine Wirklichkeit die gleiche Wirklichkeit wie die meines Gegenübers?) wirft dabei die Diskussion auf, ob Objektivität in den Sozialwissenschaften überhaupt möglich ist. Etwas konkreter und für alle wissenschaftlichen Ergeb-

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nisse relevant ist das Bewusstsein der Forscher, dass wir von wissenschaftlichen Prämissen geprägt sind, die wir allzu oft nicht hinterfragen. Heute werden beispielsweise die Karten der Sternbewegungen belächelt, die zu der Zeit erstellt wurden, als die Grundannahme herrschte, die Erde sei eine Scheibe. Die Wissenschaft muss sich aber bewusst machen, dass sie immer auf „der einen oder anderen Scheibe steht“, bis jemand nachweist, dass die für allgemeingültig angenommene Prämisse falsch war. Ganz pragmatisch: für das Erstellen von Befunden erheben Forscher subjektive Antworten von Personen und gehen davon aus, dass sobald Ergebnisse über Personengruppen identisch sind, objektive Befunde gefunden wurden. Überspitzt dargestellt könnte dies aber bedeuten, dass die Beobachterübereinstimmung der Anhänger der Theorie, dass die Erde eine Scheibe sei (Flat Earth Theory), diese Sicht als objektiv bestätigt. Zwar kommen sie innerhalb ihres Interpretationsrahmens zu übereinstimmenden Ergebnissen, die Übereinstimmung von Subjektivitäten ist aber nicht gleichbedeutend mit Objektivität. Selbst bei objektiven Ergebnissen ohne Fehler und Interpretationsspielraum sind statistische Ergebnisse immer vereinfachte Modelle der Realität – nicht aber die Realität selbst. Menschen sind kein Durchschnitt. Beispielsweise hat keine Frau 1,78 Kinder. Statistische Modelle ermöglichen uns lediglich, durch eine vereinfachte Darstellung komplexe Sachverhalte klarer zu sehen, Zusammenhänge zu finden oder Veränderungen zu prüfen.

Literatur Ansorge U, Leder H (2017) Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. In: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Springer, Wiesbaden, S 1–17 Balzer L (2005) Wie werden Evaluationsprojekte erfolgreich? – Ein integrierender theoretischer Ansatz und eine empirische Studie zum Evaluationsprozess. Empirische Pädagogik, Landau Hoffmann J (2013) Das aktive Gedächtnis: psychologische Experimente und Theorien zur menschlichen Gedächtnistätigkeit. Springer, Berlin/Heidelberg/New York Watzlawick P (Hrsg) (2004) Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beitrage zum Konstruktivismus. Piper, München/Zürich

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Qualitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung Heike Ohlbrecht

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Perspektiven qualitativer Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kurzgeschichte der qualitativen Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Merkmale und Grundannahmen qualitativer Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Spezifische Erhebungsinstrumente und Auswertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Erhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Auswertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Fragestellungen und Anwendungsfelder qualitativer Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arzt-Patient-Umweltinteraktionsordnungen/Patientenorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsforschung und Inanspruchnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektive Krankheits- und Laientheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewältigung von (chronischer) Krankheit und Biografiearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Professionelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fazit: Zukünftige Herausforderungen für die qualitative Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

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Einleitung

Qualitative Methoden haben sich im Bereich der Gesundheitsforschung inzwischen fest etabliert. Galten sie noch 2002 als randständig (Schaeffer 2002), hat sich diese Situation entscheidend verändert. Die Etablierung von qualitativen Methoden im Bereich der Medizin- und Gesundheitsforschung hat aufgrund der Dominanz epidemiologischer und standardisierter evidenzbasierter Forschung länger gedauert als in anderen Wissenschaftsfeldern, inzwischen sind qualitative Forschungsstrategien aus diesem Bereich jedoch nicht mehr wegzudenken. Der gewachsene Stellenwert qualitativer Forschungsstrategien und die verstärkte Nachfrage nach qualitativen Erhebungs- und Auswertungsverfahren in der

H. Ohlbrecht (*) Institut für Gesellschaftswissenschaften, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

empirischen Gesundheitsforschung erklärt sich unter anderem aus dem gesellschaftlich und demografisch bedingten Wandel im Krankheitsspektrum, etwa der Zunahme chronischer und psychischer Krankheiten und den damit verbundenen neuen Anforderungen an die gesundheitliche Versorgung sowie durch die gewachsene Bedeutung der Patientenperspektive und -autonomie. Eine besondere Qualität der qualitativen Gesundheitsforschung liegt in dem strukturellen Zusammenhang zwischen Aspekten des gesellschaftlichen Wandels auf der einen Seite und den biografischen, lebensstilbezogenen und oft gesundheitsrelevanten/-riskanten Anpassungsstrategien der Menschen an diese Veränderungen auf der anderen Seite. Darüber hinaus ermöglicht eine qualitative Gesundheitsforschung die Phänomene Gesundheit und Krankheit in ihrem jeweiligen Lebensweltbezug zu untersuchen. Phänomene, die eben nicht unproblematisch erkennbar, abfragbar und verbalisierbar sind, sondern sich erst einer multiperspektivischen und durchgehend prozessual vorgehenden, interpretierenden

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_9

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Analyse erschließen. Die neuen Herausforderungen, die mit dem epidemiologischen Übergang, mit dem Gestaltwandel und der damit verbundenen Ausdehnung der Verlaufsdauer von chronischen Krankheiten, mit veränderten Arzt-PatientenInteraktionen, mit neuen professionellen Herausforderungen für die multiprofessionellen Teams im Gesundheitssystem etc. verbunden sind, erfordern zunehmend eine prozessanalytische Perspektive und multiperspektivische Forschungsansätze. Qualitative Forschung hat durch ihre Hinwendung zur Patientenperspektive, durch die Stärkung des Lebensweltbezugs, im Aufzeigen struktureller Probleme in der gesundheitlichen Versorgung sowie in der Analyse der Interaktionssituationen von Beratung, Behandlung und Pflege ihre Leistungsfähigkeit bewiesen. Qualitative und quantitative Forschungsstrategien stehen dabei in einem spezifischen Ergänzungsverhältnis, welches nicht hierarchisch zu denken ist. Die subjektiven Perspektiven, die beispielsweise entscheidend die Arzt-Patient-Kommunikation und die Inanspruchnahme von Leistungen sowie die Zufriedenheit mit dem Versorgungssystem rahmen, können durch qualitative Verfahren stärker berücksichtigt werden. Die Entscheidung für qualitative oder quantitative Methoden erfolgt dabei ausschließlich nach Maßgabe der konkreten Forschungsfrage und des spezifischen Kontextes, in dem die Forschung durchgeführt werden soll. Bestimmte Forschungsfragen sind angemessener mit quantitativen Methoden (z. B. frequenzbasierte oder häufigkeitsanalytische Aussagen zu Bevölkerungsgruppen), andere wiederum mit qualitativen Methoden (z. B. zur subjektiven Gesundheit, zu Gesundheitstheorien etc.) zu beantworten. Viele derzeit in den Gesundheitswissenschaften auftretende Fragestellungen lassen schon deshalb keinen allein hypothesentestenden Zugriff der quantitativen Forschung zu, da sie aus der Dynamik des komplexen sozialen Wandels resultieren, welcher zunächst untersucht werden sollte, um zu verstehen, wie es zu diesen Phänomenen gekommen ist. Wenn beispielsweise Dank epidemiologischer Forschung sehr gut nachgewiesen ist, dass es sozial ungleiche Gesundheitschancen gibt (Mielck und Helmert 2012), gilt es nun zu klären, wie es zu diesen Prozessen kommt, wie diese Prozesse verlaufen. Wie also entstehen milieuspezifische Gesundheitskulturen, die dazu führen, dass ein Präventionsdilemma (Müller 2013) entsteht, d. h. dass die Schichten, die offenkundig am meisten von Gesundheitsprävention profitieren sollten, diese am geringsten in Anspruch nehmen? Sehr häufig liegen Forschungsthemen vor, in denen sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte von Forschungsfragen zu beantworten sind, sodass es zunehmend darum geht „das Beste aus zwei Welten“ zu kombinieren (Jianghong und Earnest 2015). Dies gilt für das interdisziplinäre Feld der Gesundheitsforschung in besonderer Weise. Empirische Daten müssen systematisch und methodisch kontrolliert erhoben und analysiert werden. Ohne methodische

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Reflexionen liefe jegliche Forschung Gefahr, willkürliche und nicht überprüfbare Aussagen über die Wirklichkeit zu produzieren (Kleemann et al. 2013). Dies gilt für qualitative wie quantitative Forschung in gleicher Weise: „Es ist jedoch nicht so, dass jede Forschung, die nicht quantitativ ist, daher qualitativ sein muss. Adhoc-Verfahren, die mit ungeprüften Common-Sense-Annahmen arbeiten, oder die Anwendung von Alltagswissen auf ausgewählte Phänomene ohne weitere methodisch kontrollierte Verfahren können nicht als qualitative Forschung angesehen werden.“ (SAGW 2010, S. 18). Ebenso haben die rein illustrative Verwendung von Interviewzitaten oder Einzelfalldarstellungen im Modus einer anekdotischen Evidenz nichts mit qualitativer Forschung zu tun. Der Markenkern qualitativer Forschungsstrategien lässt sich am besten anhand zentraler Prinzipien darstellen, wie sie nachfolgend beschrieben werden.

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Perspektiven qualitativer Gesundheitsforschung

Die qualitative empirische Gesundheitsforschung zeichnet sich ganz allgemein durch folgende Perspektiven aus: Erstens kann durch qualitative Forschungsstrategien eine Analyse der Situation von gesellschaftlichen Randgruppen in der gesundheitlichen Versorgung gelingen bzw. von Personengruppen, die schwer zu erreichen sind („hard-to-reach“) (z. B. Flick und Röhnsch 2008 zur Versorgungssituation von chronisch kranken obdachlosen Jugendlichen). Zweitens liegt hier eine lange Tradition vor Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten etc. eine Stimme zu verleihen und Versorgungsprobleme zu benennen. Gerade die Forschungen zum Krankheitserleben und zum Arzt-Patienten-Verhältnis legen ein beredtes Zeugnis darüber ab, wie wichtig es ist, die Perspektive der Patienten einzunehmen und deren Definition der Situation (Thomas und Thomas 1928) hermeneutisch zu verstehen. Sehr häufig steht hier das „Bestreben des giving voice [im Vordergrund A.v.A.] – dem Patienten und seiner Geschichte seiner Krankheit die Möglichkeit zu geben, gegen die Zugangsweisen der Medizin, die eigene Krankheit mit einem Sinn zu versehen und zu bewältigen.“ (Flick 2002, S. 213). Drittens gehört es zur genuin qualitativen Perspektive, die Bedeutung der Kontextualisierung von Phänomenen und Erlebnissen im Bereich von Gesundheit und Krankheit anzuerkennen und qualitative Forschung als Feld- bzw. Praxisforschung zu begreifen. Hier steht das Konzept der „intimen Bekanntschaft“, welches Herbert Blumer (2013) im Rahmen des symbolischen Interaktionismus ausgearbeitet hat, einem blinden Vertrauen in Statistiken und Experimenten gegenüber und mahnt, dass empirische Phänomene nur verstehbar sind, wenn ein Einlassen auf die soziale Situation erfolgt und

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Qualitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung

Felderkundungen mit naturalistischen Methoden die Folge sind. Viertens ist eine zentrale Perspektive einer qualitativen Gesundheitsforschung der verstärkte Ruf nach Partizipation und einer Einbindung von Betroffenen in die Forschung („nothing about us without us“), wie dieser auf die Behindertenrechtsbewegung (Schneider und Waldschmidt 2007) zurückgeht und insbesondere durch partizipative Verfahren ermöglicht werden kann (Herzberg 2019; Stamer 2019).

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Kurzgeschichte der qualitativen Gesundheitsforschung

Die qualitative Forschung hat eine lange Tradition. Frühe systematische Feldforschung gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts1 durch die Ethnologen Lewis Henry Morgan und Edward Burnett Taylor. Nach diesen Ursprüngen der qualitativen Forschung folgte eine Phase der Begründung und Institutionalisierung durch die qualitative Tradition in der Soziologie und Ethnologie. Hier sind die Arbeiten von Bronislaw Malinowski zu nennen und die Entstehung und Ausprägung der Chicagoer Schule, die in den 1930er-Jahren maßgebliche Arbeiten und Paradigmen der qualitativen Forschung hervorbrachte. Nicht zuletzt das interpretative Paradigma (Keller 2012) findet hier seinen Ursprung. Viele heute klassisch zu nennende Studien begannen zur damaligen Zeit und nutzen ein qualitatives Forschungsdesign, ohne ihre Strategien damals jedoch als solche zu bezeichnen: z. B. „The Taxi-Dance Hall“ von Cressey (1932), die Studie über die Arbeitslosen von Marienthal (Jahoda et al. 1933), die „Street Corner Society“ von Whyte (1943). Nach dieser Blütezeit gerieten die qualitativen Paradigmen und Forschungsstrategien allerdings ins Hintertreffen und wurden ab den 1950er-Jahren durch das dominante quantitative Paradigma (vor allem Surveyforschung und experimentelle Forschungsansätze) verdrängt. Die qualitative Wende (Denzin 2015) in den Sozialwissenschaften, der Trend also zu qualitativen Erkenntnismethoden vollzog sich ab den 1970er-Jahren aufgrund der Einsicht, dass soziales Handeln durch die beteiligten Akteure in einer gemeinsam geteilten, wie herzustellenden Sinnwelt stattfindet, die Relevanzhorizonte für Handlungsstrategien sich aus der Lebenswelt und ihren Sinnprovinzen ergeben und subjektive Wahrnehmungen und Sichtweisen verstanden werden müssen. Vom Aufschwung qualitativer Methoden ab den 1970erund 1980er-Jahren konnte die Gesundheitsforschung zunächst

1 Nicht eingegangen werden kann an dieser Stelle auf den Methodenstreit des späten 19. Jahrhunderts über die erkenntnistheoretischen Grundlagen von Geistes- und Naturwissenschaften. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ (Dilthey 1990).

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jedoch nicht profitieren. Die Dominanz eines Wissenschaftsverständnisses in der Medizin, welches sich ausschließlich am Modell der naturwissenschaftlichen Forschungslogik kausalem Erklärens und dem damit i. d. R. verbundenen deduktivnomologischen Vorgehen orientierte, verhinderte die Verbreitung qualitativer Methoden. Trotz der Marginalisierung qualitativer Ansätze gibt es dennoch eine reichhaltige Tradition von Forschungen (Schaeffer 2002; Morse 2012; Bartel und Ohlbrecht 2016), die den späteren Erfolg qualitativer Gesundheitsforschung erst ermöglichten und dazu beitrugen, dass sich diese Perspektive seit den letzten 15 Jahren immer stärker durchsetzt:2 • Anti-Psychiatrie-Bewegung und die Kritik an den psychiatrischen Großanstalten (Goffmans Analysen zur Struktur totaler Institutionen 1961) sowie die Analysen der Situation und Biografie von psychisch Erkrankten (Hildenbrand 1983; Riemann 1987) • Forschungen zum Alltag und zur sozialen Organisation versorgender Einrichtungen (Fengler und Fengler 1980) sowie deren Auswirkungen auf die Patienten (Glaser und Strauss 1965) • Bewältigungs- und Copingforschung, Analyse biografischer Anpassungsleistungen, Patientenkarrieren (Bury 1982; Fischer 1982; Gerhardt 1986; Corbin und Strauss 1988) • Interaktions- und Kommunikationsforschung über Arbeit und Interaktion im Krankenhaus (Siegrist 1978; Sudnow 1967) und in der Pflege, Verlauf von Beratungs- und Therapiegespräche aus Patientensicht (Chenitz und Swanson 1986; Wolff 1986).

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Merkmale und Grundannahmen qualitativer Gesundheitsforschung

Die qualitative Gesundheitsforschung ist als Oberbegriff zu verstehen, unter dem sich heterogene sowie interdisziplinäre Forschungsansätze vereinen. Wie alle Wissensgebiete hat sich auch die qualitative Forschung in verschiedene Ansätze, Schulen und Richtungen ausdifferenziert. Bei der Bezeichnung qualitative Forschung handelt es sich daher um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl verschiedener Ansätze, die sich unter diesem Label zusammenfassen lassen, wie z. B. ethnografische, hermeneutisch-wissenssoziologische, interpretative, ethnomethodologische und rekonstruktive Herangehensweisen.

In den einschlägigen Lehrbüchern z. B. „Lehrbuch: Soziologie von Gesundheit und Krankheit“, Lehrbuch „Versorgungsforschung“, Lehrbuch „Forschungsmethoden Gesundheitsförderung und Prävention“ finden sich Artikel zu qualitativen Ansätzen, im Handbuch „Gesundheitswissenschaften“ (Razum und Hurrelmann 2016) findet sich allerdings bis heute immer noch kein eigenständiger Beitrag zu den qualitativen Methoden.

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Eine grundlegende Gemeinsamkeit der meisten qualitativen Verfahren – die in so unterschiedlichen Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Pflegewissenschaft, Medizin zum Einsatz kommen – besteht darin, dass sie sich an einer rekonstruktiven Methodologie orientieren, deren Basis die Annahme der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger und Luckmann 1969) ist. Eine zweite Annahme geht davon aus, dass jegliche soziale Ordnung auf den interpretativen Leistungen der Handelnden beruht. Qualitative Forschung ist vorrangig durch eine Offenheit für subjektive Sicht- und Erlebniswelten, für deren innere Verfasstheit und deren zugrunde liegenden Konstruktionsprinzipien bestimmt, die es interpretativ zu erschließen gilt, weshalb der Begriff der interpretativen Forschung besser zutrifft als der etwas irreführende3 Begriff der qualitativen Forschung. " Die allgemeinen Prinzipien qualitativer Forschung, die als kleinster gemeinsamer Nenner der unterschiedlichen Schulen und paradigmatischen Strömungen gelten können und die qualitative Forschung von anderen Ansätzen unterscheiden, sind: Gegenstandsangemessenheit, Offenheit, Kommunikation, Prozesshaftigkeit und Reflexivität (Strübing 2013, S. 19 ff.).

Diese allgemeinen Prinzipien finden auch in der qualitativen Gesundheitsforschung ihre Anwendung und zeigen sich in folgenden Prämissen. Die Gegenstandsangemessenheit, welche sich auf die Anpassung des Forschungsdesigns und der Methoden der Datengewinnung und -analyse an die spezifischen Gegebenheiten des jeweiligen Forschungsfeldes im Bereich der empirischen Gesundheitswissenschaften vor dem Hintergrund der jeweils interessierenden Forschungsfrage bezieht, gilt es für den gesamten Forschungsprozess zu gewährleisten. Dies impliziert Fragen danach, ob die jeweiligen Erhebungs- und Auswertungsmethoden der Forschungsfrage adäquat sind und die Methoden auch geeignet sind, die aufgeworfenen Forschungsfragen zu beantworten. Beispielsweise liegen im Bereich der Gesundheitsforschung häufig Forschungsthemen nahe, die auf implizite Wissensbestände fokussieren, z. B. wenn es um subjektive Gesundheits- und Krankheitstheorien oder -kulturen geht, Wissensbestände, die eben nicht problemlos abfragbar sind. Diese Wirklichkeitskonstruktionen

3 Denn selbstverständlich geht es auch in der quantitativen Forschung um qualitative Ergebnisse und mitunter finden wir in der qualitativen Forschung quantifizierende Sichtweisen. Interpretationen und empirische Analysen spielen – mit unterschiedlichem Gewicht – in beiden Ansätzen eine Rolle. Um also den Markenkern eines qualitativen Vorgehens zu treffen und auf das dahinterstehende Forschungsparadigma zu verweisen, ist der Begriff der interpretativen Forschung (Keller 2012) der treffendere.

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sind im Regelfall des Alltagshandelns keine bewusst vorgenommenen und intentional gesteuerten Akte, sie geschehen in der Routine des Alltagshandelns unhinterfragt, quasi hinter dem Rücken der Akteure. Individuen beherrschen die Regeln des Alltags, können diese Regeln aber nicht immer benennen, können nicht genau angeben, welchen Regeln sie folgen, da es sich um implizites Wissen handelt. Dieses Wissen ist nach Giddens (1997) im Modus des praktischen Bewusstseins gegeben, im Unterschied zum diskursiven Bewusstsein. Praktisch ist das Wissen, denn die Akteure wissen i. d. R. was sie tun müssen, um auf sozial akzeptable Weise zu handeln: „Wir wissen mehr, als wir zu sagen vermögen“, so Polanyi (1985, S. 14). Da Individuen über dieses Wissen eben nicht im Modus des diskursiven Bewusstseins verfügen, können wir Untersuchungspersonen nicht einfach auffordern zu berichten, wie, nach welchen Maximen und welchen Methoden, sie ihre Welt konstruieren. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute ist, dass dieses implizite Wissen der empirischen Forschung – über gegenstandsangemessene qualitative Forschungsmethoden – zugänglich ist. Wobei hier Unterschiede zwischen den einzelnen qualitativen Ansätzen bestehen, inwiefern, d. h. bis zu welchem, Grade diese auch die Rekonstruktion impliziter Wissensbestände ermöglichen. Das Prinzip der Offenheit zählt wohl zu den bekanntesten und etabliertesten Grundannahmen qualitativer Forschung. Schon früh durch Christa Hoffmann-Riem (1980) wieder4 in die Diskussion eingebracht, verweist es auf die grundsätzliche Öffnung des Forschungsprozesses gegenüber dem im empirischen Feld vorhandenen Wissen und beinhaltet den Verzicht auf definitive Vorannahmen. Zwischen einer hypothesentestenden Vorgehensweise und einer Forschungsstrategie, die geleitet von sensibilisierenden Konzepten (Corbin und Strauss 1996) sich tentativ dem Forschungsphänomen nähert, liegt wohl einer der größten Unterschiede zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen. Das Prinzip der Offenheit verweist darüber hinaus auf einen Forschungsprozess, der flexibel auf Anforderungen im Feld reagieren kann, beispielsweise indem eine zusätzliche Rekrutierung von Interviewpartnern erfolgt und das Forschungssetting erweitert wird. So können sich Samplingstrategien und Interviewleitfäden im Zuge der Forschung verändern, da diese permanent auf die Feldgegebenheit angepasst werden. Ein immens wichtiger Aspekt ist ein offenes Datenformat, denn dieses soll sicherstellen, dass sich die Relevanzsysteme der Untersuchungsteilnehmer entfalten können. Dies schließt

4 In den klassischen Texten zur Grundlegung einer qualitativen Sozialforschung ist dieses Prinzip selbstverständlich schon präsent, geriet dann durch die hegemoniale Stellung des deduktiv-nomologischen und hypothesentestenden Forschungsparadigmas ins Hintertreffen und wurde in der kommunikativ-qualitativen Wende in den Sozialwissenschaften ab den 1970er-Jahren wieder aufgegriffen.

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Qualitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung

offene Erhebungsformate sowie eine vertrauensvolle Erhebungssituation etc. ein (Meyer und Flick 2011). Eng einher geht mit diesem Aspekt das Prinzip der Kommunikation, welches auf das zentrale Ziel qualitativer Forschung, die Ausschöpfung des spezifischen, Informationspotenzials verweist. Dies gelingt nur, wenn die Datengewinnungssituation konsequent als sozialer Prozess der Kommunikation und Interaktion betrachtet wird, in welchem die Untersuchungsteilnehmenden als deutungsmächtige Akteure aufgefasst werden (Strübing 2013). Es gehört zu den Grundannahmen qualitativer Forschung, dass die Daten im Forschungsprozess gemeinsam von den Untersuchungspersonen sowie von den Forschenden hervorgebracht werden. Dementsprechend ist auch die Datenerhebung zu gestalten, die sich an der Lebenswelt und der Alltagssprache der Untersuchungspersonen orientiert und in der Interviewsituation beispielsweise die beiderseitige Verständigung auch über Rückfragen etc. ermöglicht. Das Prinzip der Prozesshaftigkeit verweist darauf, dass Forschung „als fortgesetzter Interaktionsprozess mit den Akteuren im Feld konzipiert ist“ (Strübing 2013, S. 21). Ein vorab geplantes Forschungsdesign wird im Forschungsprozess konstituiert und modifiziert (Flick 2015, S. 257) und folgt damit einem zirkulären Forschungsverständnis im Sinne der Grounded Theory (Glaser und Strauss 1967). Empirisches Feld, gegenstandsbezogene Theorien und empirische Forschung stellen aufeinander verweisende, handelnd realisierte Prozesse dar. Prozesshaftigkeit bezieht sich darüber hinaus aber auch auf die Veränderung sozialer Phänomene selbst, die unseren Untersuchungsgegenstand darstellen. Dadurch entsteht im Rahmen der Forschung ein ständiger Prozess von Konstruktion sowie Rekonstruktion der Realität. Dies hat hohe Anforderungen an die Dokumentation des Forschungsprozesses zur Folge. Das Prinzip der Reflexivität verweist darauf, dass Bedeutung aus reziprokem Verweisungszusammenhang von Objekt, Äußerung und Kontext entsteht; Forschungsfrage und Forschungsgegenstand formen einander wechselseitig; sozialwissenschaftliches Wissen schlägt sich in gesellschaftlichem Wissensvorrat nieder und tritt uns in den Daten wieder entgegen (Strübing 2013), wie auch die Vorannahmen der Forschenden den Forschungsprozess beeinflussen und deshalb offenzulegen sind. Durch den gesellschaftlichen Wandel hin zur Wissensgesellschaft lässt sich eine wachsende Reflexivität auf Seiten der Forschenden und auf Seiten der Untersuchungssubjekte verzeichnen. Auch diese haben ihre Deutungen und Annahmen über den Forschungsprozess, dessen Ziele und Ergebnisse. „Fragen nach der Legitimität und Autorität sowohl der Wissenschaft als auch des Wissenschaftlers, und die Um- oder Neupositionierung des Forschers vom ‚allwissenden Analytiker‘ hin zum ‚zugelassenen Teilnehmer‘ bei der Generierung stets nur partiellen Wissens . . .“ (Clarke 2012, S. 29) stellen sich heute in neuer und drängender Weise.

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Spezifische Erhebungsinstrumente und Auswertungsverfahren

5.1

Erhebungsverfahren

Die qualitativen Erhebungsmethoden lassen sich grob in Interview- und Beobachtungsverfahren sowie in Verfahren zur Dokumentenanalyse unterteilen (zum Überblick: Lamnek und Krell 2016; Flick et al. 2015). Das qualitative Interview ist die bis dato wichtigste und am weitesten verbreitete Art der interaktiven Erzeugung qualitativer Daten. Bei einem Interview liegt i. d. R. eine Kopräsenz von Interviewer und Interviewpartner vor, wobei auch Telefoninterviews in der Gesundheitsforschung häufiger vorkommen und virtuelle Kommunikationen in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden. Allgemein lassen sich die vielfältigen Interviewverfahren nach ihrem Strukturierungsgrad, wie auch nach der Frage ob Einzel- oder Gruppenbefragungen getätigt werden sollen, unterscheiden. So reichen die Interviewverfahren von sehr offenen Ansätzen, wie das narrative Interview, bis zu teilstandardisierten Interviews (standardisierte Interviews sind mit dem Prinzip der Offenheit nicht vereinbar). Leitfadengestützte Interviews, offene Interviews und Gruppendiskussionen stellen die drei Hauptformen von qualitativen Befragungen dar.

5.1.1 Leitfadengestützte Interviews Bei themenzentrierten oder fokussierten Interviews steht die Einkreisung eines bestimmten Themenfeldes anhand eines Interviewleitfadens im Vordergrund, beispielsweise zum Belastungserleben von pflegender Angehöriger. Der Interviewleitfaden sollte so gestaltet sein, dass mittels verschiedener Frageoptionen die relevanten Themenbereiche abgedeckt werden, es gleichzeitig aber auch ermöglicht wird, dass die Befragten Impulse setzen können. Die Reihenfolge und Anzahl der Fragen sowie die Frageoptionen variieren daher in den Interviews. Bei einem problemzentrierten Interview (Witzel 1982) werden die Erfahrungen, Weltsichten, Wahrnehmungen und Reflexionen von Befragten zu einem bestimmten Thema beispielsweise ihres Umgangs mit e-health untersucht. Im Interview sollen Impulse für eine freie Erzählung des Interviewpartners gegeben werden und gleichzeitig soll das Interview auf das konkrete Forschungsproblem bezogen werden. Im Experteninterview (Bogner et al. 2014) steht die gezielte und strukturierte Informationsbeschaffung im Vordergrund. Experten verfügen über eine besondere Expertise/ Sonderwissen, welches oft an bestimmte sozial institutionalisierte Rollen gebunden ist. Zudem wird der Experte nicht als Einzelfall, sondern als Repräsentant einer Gruppe betrachtet, z. B. Experteninterviews mit Stakeholdern bei der Einführung neuer Gesundheitsleistungen.

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Bei teilstandardisierten Interviews steht die gezielte und ökonomische Erhebung bereichsspezifischer Informationen im Vordergrund. Dies umfasst eine detaillierte, differenzierte und spezifische Erforschung aller relevanten im Zusammenhang mit einem Thema oder Problem stehenden Aspekte. Auch wenn im Vorfeld ein Katalog von interessierenden Fragen ausgearbeitet wird, gilt es im Interview sicherzustellen, dass die Befragten ihre Ansichten und Erfahrungen, z. B. zu Aspekten der Präimplantationsdiagnostik, frei artikulieren können.

5.1.2 Offene Interviews Das Ero-epische Gespräch (Girtler 2001) oder ethnografische Interview (Spradley 1979) hat das gemeinsame Erschließen eines Forschungsgegenstandes im Gespräch, welches sich stark der jeweiligen Alltagskultur anschmiegen soll, zum Ziel. Sowohl Befragte als auch Forschende öffnen sich im Gespräch, welches weitgehend ohne Interviewleitfaden auskommen soll. Die entdeckende Neugier steht im Vordergrund, wobei die Befragten als gleichwertige Gesprächspartner und Experten des Feldes, z. B. zur Erforschung von bestimmten Subkulturen, von Selbsthilfegruppen etc., angesehen werden und sich im Interview frei erzählerisch im Dialog entfalten können. Im narrativen Interview steht die Hervorbringung einer Stegreiferzählung (Schütze 1983) im Vordergrund, d. h. die Befragten werden gebeten, ohne weitere Vorgaben zu einem bestimmten – häufig biografisch gefärbten – Themenfeld, wie z. B. dem Erleben einer Diagnoseeröffnung, dem Leben mit einer Krebserkrankung etc., zu erzählen. Durch das Erzählformat können sich die subjektiven Relevanzhorizonte der Befragten maximal entfalten und „. . . der innere Zusammenhang der Erinnerungsproduktion . . .“ kann erfasst werden, so dass Bezüge aufgedeckt werden, die einer psychologischen, ärztlichen oder professionellen Sichtweise möglicherweise sonst entgehen (von Kardorff 2000, S. 420). Bei einer Gruppendiskussion steht die Erhebung kollektiver Orientierungs- und Deutungsmuster im Vordergrund. Neben den Vorstellungen Einzelner wird die Dynamik der Gruppe für den Erkenntnisgewinn genutzt. So lassen sich Argumentationsfiguren, Diskurse, Konsensfindungsprozesse etc. untersuchen. In der Gesundheitsforschung kommen Gruppendiskussionen häufig zum Einsatz (Tausch und Menold 2015), bieten diese doch sehr gute, Gelegenheiten beispielsweise die Patientensicht zu rekonstruieren und Aushandlungsprobleme in interprofessionellen Teams etc. zu untersuchen. 5.1.3 Beobachtungen Beobachtungen stellen wichtige qualitative Erhebungsverfahren da, kommen diese doch dem eingangs aufgeworfenen Postulat der „intimen Bekanntschaft im Feld“ besonders nahe. In den letzten Jahrzehnten sind die Beobachtungsver-

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fahren etwas ins Hintertreffen geraten – wobei es insbesondere im englischsprachigen Raum dazu eine breitere Tradition gibt als in Deutschland –, in der letzten Zeit aber deutet sich eine vorsichtige Renaissance beobachtender und ethnografischer Verfahren an. Beobachtungen lassen sich in offene vs. verdeckte und teilnehmende vs. nicht-teilnehmende Beobachtungen unterscheiden. Darüber hinaus bestehen Unterschiede im Strukturierungsgrad der Beobachtung (Meyer und Flick 2011). Der unschätzbare Vorzug von Beobachtungen ist, dass es diese ermöglichen, das Handeln von Menschen in natürlichen Situationen, also gerade nicht unter Laborbedingungen, zu erfassen. Als paradigmatisches Vorbild fungiert hier die von Alfred Schütz beschriebene Rolle des Fremden. Denn gerade der distanziert-befremdende Blick ermöglicht das Erfassen der kulturspezifischen Regeln der jeweiligen Lebenswelt. Studien mit ethnografischen Designs liegen mannigfaltig vor: für die Gesundheitsforschung im Stadtteil (Falge 2018) bzw. in anderen Kulturen (Deng et al. 2007) sowie in existenziellen Grenzsituationen von Krankheits- und Therapieerfahrungen (Peter 2018) von Arztvorträgen (Kuczyk 2016). Beobachtungen werden durch Beobachtungsprotokolle, Memos, Feldnotizen, Community Mappings, Transect Walks etc. flankiert und stellen somit hohe Anforderungen nicht nur an die Empathie der Forschenden und an die forschungsethische Rahmung, sondern auch an die Kompetenzen der Datendokumentation.

5.1.4 Dokumentenanalyse Im Mittelpunkt der Dokumentenanalyse steht die Untersuchung von produzierten sozialen Daten (Tagebücher, Briefe, Krankenakten, Gutachten, Sitzungsprotokolle, Teamprotokolle, Flyer etc.). Es handelt sich hier – im Unterschied zu den davor betrachteten Erhebungsmethoden – um nicht-reaktive Verfahren, d. h. diese Daten sind ohne das Zutun der Forschenden entstanden und daher durch diese nicht beeinflusst. Allerdings spielen auch in diesen Datenmaterialien Fragen der sozialen Erwünschtheit und der professionellen Codes eine Rolle, die ebenso rekonstruiert werden können, wie latente Sinnstrukturen, die auch dieses Datenmaterial durchziehen, beispielsweise auch folgereiche Etikettierungen in Gutachten (Bartel et al. 2015). Auch visuelles Datenmaterial wie Filme und Bilder werden zunehmend untersucht, z. B. Bilder und Konzeptionen vom Ungeborenen (Tegethoff 2011).

5.2

Auswertungsverfahren

Die methodisch kontrollierten Verfahren des Fremdverstehens können hier nur kurz genannt werden. Auch hier sei auf die oben erwähnten einschlägigen Methodenbücher verwiesen. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Entwicklung eines qualitativen Studiendesigns, das Führen eines

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Qualitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung

qualitativen Interviews oder die Durchführung einer Beobachtung hohe Kompetenzen auf Seiten der Forschenden bedarf und eine intensive Vorbereitung sowie auch eine Schulung der Interviewenden voraussetzt. Gleiches gilt für die zu erwerbenden analytischen Kompetenzen. Die qualitativen Auswertungsverfahren verstehen sich i. d. R. als Kunstlehren und/oder als Forschungsstrategien, wodurch sprachlich markiert wird, dass Methoden stets auf den Forschungsgegenstand angepasst werden müssen, Interpretationen in Forschungsgruppen stattfinden sollten und es bei qualitativer Forschung vor allem um eine einzunehmende Forschungshaltung – die der Offenheit und Kommunikation – geht. Ziel qualitativer Forschung sind generalisierbare Aussagen zu bestimmten Phänomenen, sei es die Machtbeziehung in Arzt-Patienten-Interaktionen oder in Pflegeverhältnissen, sei es das Erleben von Krankheit und Behinderung, das Zustandekommen von ungleichen Gesundheitschancen etc. In der Datenanalyse wird von einer Spannung zwischen manifestem (bewusstem, reflektierten) und latentem (vorbewusst, nicht reflektiertem) Sinn ausgegangen (Marx und Wollny 2009, S. 110). Die hinter den Erscheinungen operierenden sozialen Regeln gilt es mittels interpretativer Verfahren, d. h. methodisch kontrolliert, herauszuarbeiten. Hier hält die qualitative Forschung umfangreiche Verfahren vor, die sich im Grad ihrer jeweiligen Offenheit für latente Sinnsysteme sowie u. a. in ihren Schlussfolgerungsverfahren (Abduktion, Induktion, Deduktion) unterscheiden. " Zu den prominentesten Auswertungsverfahren zählen die dokumentarische Interpretation (Bohnsack 2008), die objektive Hermeneutik (Oevermann 2000), die Grounded Theory (Glaser und Strauss 1967), narrationsanalytische Verfahren (Schütze 1983), Situationsanalyse (Clarke 2012), fallrekonstruktive Verfahren (Hildenbrand 1983) und die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 2015).

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Fragestellungen und Anwendungsfelder qualitativer Gesundheitsforschung

Unter dem Dach der qualitativen Gesundheitsforschung vereinen sich derzeit einzelne Anwendungsfelder, von denen einige auf unterschiedliche Phasen im Rehabilitationsprozess bzw. im Prozess der Krankheitsversorgung rekurrieren: Die qualitative Versorgungsforschung beispielsweise „bezieht sich per definitionem auf ein Praxisfeld der ‚letzten Meile‘“ (Meyer et al. 2012, S. 511) und fokussiert auf die Beobachtung, Evaluation und Analyse der krankheitsbezogenen Versorgung. Die qualitativen Methoden in der Rehabilitation (von Kardorff 2000) beziehen sich auf das medizinische wie berufliche System der Rehabilitation (Stichwort Teilhabeforschung). Im Bereich

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der Pflegewissenschaft und Pflegeforschung gibt es eine qualitative Tradition (siehe z. B. das Journal für Qualitative Forschung in Pflege- und Gesundheitswissenschaft), genauso wie es auch Ansätze von qualitativen Methoden in der Allgemeinmedizin (Herrmann 2019) gibt. Darüber hinaus zählen die Bereiche qualitativer Forschung zur Gesundheitsforschung, die weniger auf einen Ort bzw. eine Phase im Behandlungsprozess fokussieren, sondern sich mit übergreifenden Themen im Phänomenbereich von Gesundheit und Krankheit befassen, z. B. qualitative Gesundheitspsychologie (Faltermaier und Brütt 2013), qualitative Methoden in der Gesundheitssoziologie (Ohlbrecht 2016) oder in der Gesundheitspädagogik. Qualitative Verfahren sind in allen Feldern der Gesundheits- und Präventionsforschung prinzipiell denkbar. Abb. 1 verdeutlicht die unterschiedlichen Ebenen, auf denen qualitative Forschung verortet werden kann. Ausgewählte Anwendungsfelder sind:5

6.1

Arzt-PatientUmweltinteraktionsordnungen/ Patientenorientierung

Der empirischen Untersuchung der sich verändernden ArztPatienten-Interaktion kommt in der qualitativen Gesundheitsforschung eine große Bedeutung zu. An die Stelle eines eher paternalistisch geprägten Arzt-Patienten-Verhältnisses treten zunehmend Modelle partnerschaftlicher Beteiligung (etwa des shared-decision-making, patient-centered-care, informed-consent) bzw. von Interaktionsordnungen, die durch Aushandlungsprozesse und/oder Arbeitsallianzen geprägt sind. Dies geht mit einer Steigerung von Problemkomplexität einher, erzeugt erhöhten Kommunikationsbedarf und erfordert die Konstruktion wechselseitiger Anschlussfähigkeit zwischen Alltagswissen und lebensweltlicher Einbettung einerseits und ärztlichem Wissen, den dazugehörigen professionellen Routinen und institutionellen Praktiken andererseits (von Kardorff 2012). Vor diesem Hintergrund können qualitative Verfahren, die sich mit den sensiblen – und häufig asymmetrischen – Gesprächs- und Interaktionssituationen bei Diagnoseeröffnungen, in der ärztlichen Anamnese und Beratung, bei Therapie und in Pflegesituationen befassen, ihr Potenzial entfalten, z. B. durch ethnografische Interviews, Gesprächs- und Konversationsanalyse, teilnehmende und nicht-teilnehmende Beobachtungen etc. Die Patientenzufriedenheit kann beispielsweise im Rahmen qualitativer Evaluationsforschung untersucht werden.

5 Notwendigerweise muss hier eine Auswahl getroffen werden, sodass der Bereich der Implementationsforschung beispielsweise zu kurz kommt.

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H. Ohlbrecht

Individuum

Gesundheitssystem

Gesellschaft

Verlaufskurven & Bewältigung

Versorgungsforschung

Demografischer Wandel

Besonderheiten im Krankheitsverlauf; Auswirkungen von Krankheit auf die Identität, biografische Arbeit

Subjektive Gesundheit Einfluss auf Inanspruchnahme d. med. Systems, Interaktionen und Heilungsprozess, psychische Gesundheit und Erschöpfung

Alltags- und Laientheorien Tradierung v. Gesundheits- u. Krankheitsbildern; subjektive Kontrollüberzeugungen

Patientenorientierung; Inanspruchnameverhalten; Patientenzufriedenheit; Schnittstellen im Versorgungssystem; Versorgungsalltag

Arzt-Patienten Verhältnis Kommunikation & Interaktion; Partizipation; Rollenverständnis; Verhältnis Lebenswelt & Expertise

Professionsforschung Neues Rollenverständnis; professionelles Handeln, Gestaltung v. Interaktionsprozessen

Umgang mit medizinischem Fortschritt; Veränderung d. Krankheitsspektrums; neue Herausforderungen am Beginn und Ende des Lebens

Partizipation und Gesundheit Soziale Ungleichheit; Gesundheitschancen; soziale Determinanten d. Gesundheit, soziale Teilhabe, Gesundheitsförderung

Soziale Repräsentationen Migration und Gesundheit, gesellschaftliche und milieuspezifische Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit; Gender

Abb. 1 Ebenen qualitativer Forschung. Aus: Bartel und Ohlbrecht 2016, S. 36. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Barbara Budrich

6.2

Versorgungsforschung und Inanspruchnahme

Qualitative Studien zur Untersuchung der Vielschichtigkeit, Individualität und Variabilität von medizinischen und rehabilitativen Versorgungs- und Behandlungsergebnissen stellen ein relativ junges Phänomen dar (Meyer und Xyländer 2019). Die Versorgungsforschung umfasst die Beobachtung, Analyse, Prognose, Bewertung, Weiterentwicklung und Evaluation der gesundheitlichen bzw. im engeren Sinne krankheitsbezogenen Versorgung (Meyer et al. 2012, S. 511). Sie zielt auf Verbesserung der Versorgung und auf fundierte Beratung und Information der in diesem Feld Tätigen. Zu den Hauptanliegen gehören die Ergebnisevaluation und Wirksamkeitsforschung sowie die Patientenorientierung. Insbesondere letzteres kann durch qualitative Forschungsstrategien, aufgrund der Subjekt- und Alltagsorientierung, besonders gut erforscht werden. Die Potenziale qualitativer Forschung, wie ihre größtmögliche Offenheit, die Alltags- und Subjektorientierung, bieten einen spezifischen Blick auf die Schnittstellen im Versorgungssystem, auf die Kooperationsbeziehungen in den, Kliniken wie auch auf die Kooperationsbeziehungen zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen etc.

Diese Schnittstellen und die subjektiven Perspektiven bezüglich bestimmter Aspekte des Versorgungsalltags sind für den Behandlungserfolg von zentraler Bedeutung, ebenso wie die spezifischen Bedingungen der Nutzung des Versorgungssystems in Abhängigkeit vom sozialen Status und vom Bildungsniveau der Nutzer. Sie können durch qualitative Verfahren wie Beobachtungen, Gruppendiskussionen, qualitative Interviews, Videoanalysen, Fallstudien etc. besonders gut untersucht werden.

6.3

Subjektive Krankheits- und Laientheorien

Die Untersuchung der Entstehung und Tradierung von Gesundheits- und Krankheitsbildern in sozialisatorischer, familienbiografischer als auch individueller Perspektive ist von zunehmendem Interesse. Soziale Repräsentationen von Gesundheit und Krankheit (Flick 1998) sowie subjektive Krankheitstheorien spielen in diesem Zusammenhang eine immer größere Rolle, ergänzen und „schließen“ diese doch unsicheres oder widersprüchliches medizinisches Wissen,

8

Qualitative Methoden der empirischen Gesundheitsforschung

um kognitive und emotionale Unsicherheit in vorläufige Gewissheit zu transformieren (von Kardorff 2012). Die Fragen danach, wann wir uns gesund oder krank fühlen (Flick 1998), welche Laientheorien über Gesundheit und Krankheit Menschen entwickeln und welche Vorstellungen erkrankte Menschen über ihre Behandlung in Folge dessen ausprägen, sind in qualitativen Studien (Köhler 2018) untersucht worden. Diese qualitativen Studien zeigen auf, dass die subjektiven Krankheits- und Gesundheitstheorien nicht nur entscheidend den individuellen Umgang mit Beschwerden und die Wahrnehmung von Symptomen etc. rahmen, sondern auch eine hohe Bedeutung für das medizinische Versorgungssetting haben. Qualitative Studien haben auch die Sprachbilder und metaphorischen Konzepte aufzeigen können, die den Umgang mit dem Körper, der Krankheit und/oder der Gesundheit grundieren und zur Erfahrungsorganisation beitragen. Die Verarbeitung der Krankheitserfahrung von Patienten in metaphorischen Konzepten (Krankheit als Weg, als Reise etc.) sind mittels der qualitativen Metaphernanalyse von Schmitt (2013) ausgearbeitet worden.

6.4

Bewältigung von (chronischer) Krankheit und Biografiearbeit

Im Bereich der Bewältigungs- und Copingforschung kann die Perspektive der qualitativen Gesundheitsforschung auf eine lange Tradition zurückblicken. Biografieanalytische und fallrekonstruktive Arbeiten zeigen die Auswirkungen chronischer Krankheiten auf die biografische Identität und die biografischen Verarbeitungsmechanismen chronischer Krankheit – insbesondere die damit verbundene biografische Arbeit – auf und stehen damit in der Tradition der Trajectoryforschungen (Detka 2011). Das „Weiterleben lernen“ (Corbin und Strauss 1988) in Folge einer chronischen Erkrankung mit all den damit verbundenen Herausforderungen an biografische, identitätsbezogene sowie krankheitsbezogene Arbeiten wurde im Begriff der Trajectory von Anselm Strauss (Strauss und Glaser 1970) analytisch gefasst und von Schütze (1995) aufgegriffen, der das grundlagentheoretische Konzept der Verlaufskurve entwickelte und damit ein breites Forschungsfeld eröffnete. Uta Gerhardt hat mit ihren Forschungen zu Patientenkarrieren und zu den biografischen Verläufen nach koronarer Bypassoperation (Gerhardt 1999) viele Forschungen in diesem Bereich initiiert. Seither ist die Erforschung der „Innenseite des Erlebens von körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen“ (Lucius-Hoene 2000, S. 2) in den Vordergrund der Forschung gerückt und wird auch bei Personengruppen, die sich nicht oder nur schwer selbst äußern können (für beatmete Patienten siehe die Studie von Zepelin 2017, für Kinder Oetting-Roß et al. 2014, bei Demenzerkrankungen Behr et al. 2014) oder in spezifischen Grenzsituationen des Erlebens von existenzi-

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ellen Krankheitserfahrungen und Therapieentscheidungen untersucht (Feith et al. 2019). Zur narrativen Rekonstruktion von Krankheitserfahrungen liegen Arbeiten von Gülich (2017), zum (biografischen) Schmerzerleben von Dreßke (2016) vor.

6.5

Professionelle Herausforderungen

Die Versorgungslandschaft ist durch tief greifende strukturelle Veränderungen geprägt. Neue Professionen sind angesichts eines Bedarfs nach immer stärkerer Spezialisierung, Akademisierung und Arbeitsteilung entstanden, z. B. Operationstechnische Assistenten (OTAs). Die Professionsgrenzen verschieben sich und die interprofessionelle (integrierte) Versorgung wird immer stärker gefordert, wobei Widerstände und „Gegenbewegungen“ (in) der Praxis nicht ausbleiben. Um zu erforschen, wie sich beispielsweise Professionen abgrenzen, was professionelles Handeln ausmacht, welche Rolle die neue Mündigkeit von Patienten wie auch Formen der Partizipation des Patienten (beispielsweise auch durch internetbasiertes Informationsmanagement) spielen etc., eignen sich qualitative Verfahren, beispielsweise ethnografische Ansätze, in besondere Weise. Anknüpfend an Diskurse um neue Versorgungskonzepte, wie z. B. das Konzept shared-decision- making, bleibt qualitativ zu hinterfragen, welche Veränderungen im professionellen Rollenverständnis notwendig sind, um eine Verwirklichung der Konzepte zu befördern (Stamer 2011). Ausgehend von Hemmnissen und Widerständen in der Umsetzung der Konzepte ist beispielsweise vertiefend zu ergründen, welche Haltung gegenüber dem jeweils eigenen professionellen Wissen besteht und inwieweit diese Haltung die Gestaltung von Interaktionsprozessen (sowohl interdisziplinärer Interaktion als auch der Interaktion zwischen Professionellen und Patienten) beeinflusst. Durch die strukturellen Veränderungen im Gesundheits- und Versorgungssystem (so unterschiedliche Aspekte wie Budgetierung, Fallpauschalen und Digitalisierung etc.) und den damit verbundenen neuen Arbeitsbedingungen werden auch die Arbeitsbelastungen – angesichts eines eklatanten Mangels an Pflegefachkräften – für die in diesem Bereich Tätigen neu diskutiert.

7

Fazit: Zukünftige Herausforderungen für die qualitative Gesundheitsforschung

Die qualitative Gesundheitsforschung ist ein multi- und transprofessionelles Forschungsfeld mit vielfältigen Chancen, aber auch Problemen. In diesem Feld arbeiten u. a.: Gesundheitswissenschaftler, Mediziner, Soziologen, Sozialwissenschaftler, Pflegewissenschaftler, Pädagogen, Versorgungforscher, Psychologen etc., die mit unterschiedlichen Erfahrungen und Vorkenntnissen in der qualitativen Forschung ausgestattet

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sind. Die qualitative Methodenausbildung ist sicher im Bereich der Soziologie am weitesten professionalisiert. In vielen anderen Disziplinen ist die qualitative Methodenausbildung jedoch noch nicht in ausreichendem Maße in den Curricular verortet, d. h. dass hier eine Schulung in den Methoden der qualitativen Gesundheitsforschung im Praxisfeld erfolgen muss. In der Methodenschulung der Forschenden sowie in der Weiterentwicklung von Methoden, die auf das Forschungsgebiet der qualitativen Gesundheitsforschung ausgerichtet sind, liegen somit zukünftige Herausforderungen. In den letzten Jahren hat die partizipative Forschung, gerade im Bereich der Gesundheitsforschung, an Relevanz gewonnen. Die Weiterentwicklung und Institutionalisierung von partizipativen Ansätzen stellt einen vielversprechenden Ansatz dar, um Versorgungsqualität und -zugang untersuchen und verbessern zu können. Partizipative Forschung ist ein Oberbegriff für Forschungsansätze, die soziale Wirklichkeit partnerschaftlich erforschen und beeinflussen. Ziel ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und z. B. durch Empowermentprozesse zu verändern (von Unger 2014). Die qualitativen Forschungen zur Stärkung einer dialogbasierten Medizin (Lucius-Hoene 2008; Schütze 2016; Gülich 2017) verweisen auf ein weiteres Handlungsproblem im Gesundheitssystem und geben hier wichtige Anstöße für eine Verbesserung der Versorgungspraxis. In der Kombination von quantitativen und qualitativen Ansätzen liegt darüber hinaus eine besondere Chance der Gesundheitsforschung. Das heißt nicht, dass qualitative Methoden vorrangig in der Pilotphase der Forschung zur Entwicklung von Hypothesen oder zur Exploration einsetzbar wären, „also gewissermaßen als ‚Vorzimmer‘ zum ‚Direktionszimmer‘ der seriösen [quantitativen Forschung A.v.A.]“ (Oevermann 2000, S. 60 f.), sondern qualitative Forschung hat als Ziel die Theorieentwicklung und liefert eigenständige Forschungsergebnisse. Mixed-methods-Verfahren können gelingen, wenn sich die jeweiligen Vorteile der Forschungsstile entfalten können und die erkenntnistheoretischen Prämissen beachtet werden. Wenn beide Perspektiven von Beginn der Forschung an gleichberechtigt zusammenarbeiten, dann kann das „Beste aus zwei Welten“ (Jianghong und Earnest 2015) zusammenfinden.

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Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften Wolfgang Ahrens, Lothar Kreienbrock und Iris Pigeot

Inhalt 1

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

2 Epidemiologische Maßzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.1 Deskriptive Maßzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.2 Vergleichende Maßzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Typen epidemiologischer Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ökologische Korrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Querschnittstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fall-Kontroll-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohortenstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtende Designs zusammengefasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 107 107 108 109 109 110

4 Fehlerquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.1 Zufallsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.2 Systematische Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5 5.1 5.2 5.3

Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studienprotokoll und Operationshandbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenmanagement und -dokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 113 115 115

6

Ethik und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

1

Einführung

Epidemiologische Forschung befasst sich mit der Verteilung von Krankheiten, deren Vorstadien und Folgen sowie mit den Faktoren, die mit diesen Erkrankungen assoziiert sind oder

W. Ahrens · I. Pigeot (*) Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, Mathematik/Informatik, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] L. Kreienbrock Institut für Biometrie, Epidemiologie und Informationsverarbeitung, Tierärztliche Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]

sie sogar verursachen. Zu diesen Faktoren gehören z. B. Verhaltensweisen und Lebensbedingungen, aber auch genetische Parameter. Aus dem Wissen über diese Zusammenhänge leitet die Epidemiologie Maßnahmen zur Krankheitsprävention ab und evaluiert deren Wirksamkeit, unabhängig davon, ob es sich dabei um seltene oder sog. Volkskrankheiten, um physische oder psychische Erkrankungen handelt. Damit schließt die Epidemiologie die Lücke zwischen mechanistischer Grundlagenforschung und öffentlichem Gesundheitswesen. Beschreibende epidemiologische Maßzahlen dokumentieren dabei den Gesundheitszustand einer Bevölkerung in Bezug auf räumliche Verteilung und zeitliche Entwicklung. Vergleichende epidemiologische Maßzahlen wie das relative Risiko oder das Odds Ratio dienen der Quantifizierung von

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_10

103

104

W. Ahrens et al.

Unterschieden des Erkrankungsrisikos zwischen Bevölkerungsgruppen. Diese Maßzahlen können z. B. aus Sekundärdaten des Gesundheitswesens oder aus primär zu diesem Zweck durchgeführten Studien ermittelt werden. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, sowohl mögliche Ursachen (Risikofaktoren) als auch die interessierende Erkrankung in einer größeren Personengruppe sorgfältig zu erfassen. Die Untersuchung ätiologischer Fragestellungen stellt dabei hohe Anforderungen an die Planung, die einzusetzenden Messinstrumente, die Datenerhebung und die Qualitätssicherung einer Studie. Bei diesem Vorgehen ist zu berücksichtigen, dass man in der Regel weder in der Lage ist, ganze Populationen vollständig in die Studie einzubeziehen, noch ein kontrolliertes Experiment durchzuführen, bei dem zufällig ausgewählte Personen dem interessierenden Risikofaktor ausgesetzt werden. Letzteres verbietet sich schon aus ethischen Gründen. " Damit ist ein wesentliches Charakteristikum der Epidemiologie, dass sie aufgrund von Beobachtungen in einer Bevölkerungsstichprobe Einflussfaktoren finden und ihre Auswirkungen bewerten kann, selbst wenn ein Experiment bzw. eine zufällige Zuordnung von Expositionen auf Personen nicht möglich ist. Je nach Fragestellung sind dabei verschiedene Studiendesigns denkbar.

Allerdings sind in diesem Zusammenhang unterschiedliche Fehlerquellen zu berücksichtigen, die zu verzerrten Ergebnissen führen können. Mögliche Fehlerquellen müssen daher bereits bei der Studienplanung einbezogen werden, um aus den Ergebnissen valide Schlüsse ziehen zu können. Dabei kommt der Qualitätssicherung und der Dokumentation der Datenerhebung eine große Bedeutung zu, um Fehler zu reduzieren und deren Auswirkungen besser abschätzen zu können. Dieses Kapitel gibt eine komprimierte Darstellung der oben angesprochenen Aspekte epidemiologischer Forschung und geht dabei auch kurz auf wichtige Aspekte des Datenschutzes und der ethischen Anforderungen ein. Es basiert auf der 5. Auflage des Buches „Epidemiologische Methoden“ von Kreienbrock, Pigeot und Ahrens. Für Aspekte, die in diesem Kapitel nur angerissen bzw. gar nicht dargestellt werden können wie z. B. statistische Methoden, sei ein vertieftes Studium der entsprechenden Kapitel in dem Buch (Kreienbrock et al. 2012) empfohlen.

2

Epidemiologische Maßzahlen

In der Epidemiologie werden verschiedene Maßzahlen verwendet, um das Auftreten von Krankheiten oder auch Risikofaktoren in einer Bevölkerung zu beschreiben. Von diesen beschreibenden Maßzahlen werden wir in Abschn. 2.1 die zwei wichtigsten, die Prävalenz und die Inzidenz, einführen. Um den Zusammenhang zwischen bestimmten Risikofaktoren und einer Krankheit zu erfassen, werden in der Epidemio-

logie häufig zwei Populationen miteinander verglichen, und zwar die Gruppe derjenigen, die nicht dem Risikofaktor ausgesetzt sind, die sog. nicht-exponierten Personen, mit der Gruppe der exponierten Personen, d. h. mit der Gruppe derjenigen, die dem Risikofaktor ausgesetzt sind. In beiden Gruppen wird die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Krankheit zu entwickeln, ermittelt und diese beiden Wahrscheinlichkeiten werden anschließend ins Verhältnis zueinander gesetzt. Damit erhält man ein relatives Maß für das Risiko, an einer bestimmten Krankheit zu erkranken, wenn man dem Risikofaktor ausgesetzt ist. Beispiele für relative Risikomaße werden in Abschn. 2.2 vorgestellt.

2.1

Deskriptive Maßzahlen

Deskriptive Maßzahlen werden in der Epidemiologie dazu benutzt, die Krankheitslast, also die Morbidität einer Bevölkerung bzw. einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu beschreiben. Dazu müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: (a) Die Population, deren Individuen unter Risiko stehen, eine bestimmte Erkrankung zu erleiden, muss genau definiert werden und (b) für jedes Individuum der betrachteten Population lässt sich eindeutig feststellen, ob die interessierende Krankheit vorliegt oder nicht. In Abhängigkeit von der Fragestellung kann der Anteil einer Bevölkerung, der zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer Krankheit leidet, oder aber die Anzahl der Neuerkrankten in einem definierten Zeitraum von Interesse sein. Im ersten Fall spricht man von der Krankheitsprävalenz und im zweiten von der Krankheitsinzidenz. Damit liegt der Prävalenz das Stichtagskonzept und der Inzidenz das Zeitperiodenkonzept zugrunde. Beide Konzepte sind geeignet, die Morbiditätswahrscheinlichkeit in einer Population zu beschreiben, sind jedoch unterschiedlich zu interpretieren. Die Prävalenz gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass ein zufällig ausgewähltes Individuum in der Population unter Risiko an einem definierten Stichtag von der betrachteten Krankheit betroffen ist. Liegt also an diesem Stichtag eine Population der Größe N vor und sind in dieser Gruppe M Individuen erkrankt, so ergibt sich die Prävalenz P als Quotient der Anzahl M der Betroffenen mit Krankheit zu dieser Populationsgröße N am Stichtag durch Pr€avalenz ¼ P ¼

M , N

d. h. es handelt sich bei der Prävalenz um einen Anteil, der in der Regel in Prozent ausgedrückt wird. " Die Prävalenz dient zur Beschreibung der Verteilung von Krankheiten. Wegen dieser Krankheitszustandsbeschreibung hat die Prävalenz eine besondere Bedeutung für die Abschätzung des Versorgungsbedarfs in der Bevölkerung.

9

Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften

105

So ermöglicht die Prävalenz von Nierenversagen die Abschätzung der Anzahl an Dialysestationen, die erforderlich sind, um Patienten mit Niereninsuffizienz in einer Bevölkerung zu versorgen. Im Gegensatz dazu gibt die Inzidenz die Wahrscheinlichkeit an, dass ein zufällig ausgewähltes Individuum der Population innerhalb einer zeitlich definierten Periode neu erkrankt. Liegt zu Beginn dieser Periode eine gesunde Population der Größe N0 vor und erkranken während der Periode I Individuen neu, so ermittelt man die sog. (kumulative) Inzidenz KI als den Quotienten

die Gruppe der Erkrankten erfolgen. Gleichzeitig tritt aber auch der entgegengesetzte Prozess der Genesung auf. Daneben stehen die externen dynamischen Prozesse Geburt, Mortalität und Migration, die sowohl die gesunde Population unter Risiko wie auch die Zahl der Erkrankten verändern können und von außerhalb der definierten Population auf diese einwirken.

ðkumulativeÞ Inzidenz ¼ KI ¼

I : N0

" Da bei der kumulativen Inzidenz Fälle von Neuerkrankungen in die Berechnung eingehen, gilt sie als die Maßzahl, die die Entstehung einer Krankheit beschreibt. Damit ist sie insbesondere in der Ursachenforschung und für die Beurteilung der Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen relevant.

So müsste nach Einführung der HPV-Impfung (Humane Papillomviren) für junge Frauen nach einigen Jahren die Neuerkrankungsrate an Zervixkarzinomen in der geimpften Population im Vergleich zu einer ungeimpften Vergleichsbevölkerung sinken. Allerdings sind bei der Berechnung der Inzidenz zusätzliche Überlegungen erforderlich, die sich einerseits auf den Zähler beziehen, d. h. auf die Anzahl der Neuerkrankungen. Hier ist zu klären, inwieweit Wiedererkrankungen als Neuerkrankungen gewertet werden sollen. Betrachtet man etwa die Inzidenz von Erkältungserkrankungen über einen Zeitraum von einem Jahr, so ist zu fragen, ob eine zweimal während des Jahres erkältete Person einmal oder zweimal in den Zähler eingehen soll. Grundsätzlich sind nur die wiederholten Erkrankungsereignisse zu zählen, die unabhängig von der vorangegangenen Infektionserkrankung auftreten. Analog gilt dies auch für Krebserkrankungen, z. B. bei der Zählung von erstmals diagnostizierten primären Tumoren und Rezidiven, wobei letztere nicht als Erkrankungsereignis in die Inzidenz eingehen. Andererseits stellt der Nenner, also die Größe der Population unter Risiko ein Problem dar, da in der Regel davon auszugehen ist, dass wir es mit dynamischen, also mit sich durch Geburten, Todesfälle und sonstige Ereignisse verändernden, und nicht mit stabilen Populationen zu tun haben. Zusammengefasst kann man diese Prozesse wie in Abb. 1 verdeutlichen, in der eine Population unter Risiko vom Umfang N dargestellt ist. In dieser Population sind an einem Stichtag M Individuen erkrankt. Im Sinne des Inzidenzbegriffs ist es nun möglich, dass Neuerkrankungen (Inzidenz) aus der gesunden Population in

" Für die Interpretation der Prävalenz spielt die Krankheitsdauer und für die Interpretation der kumulativen Inzidenz die Länge der betrachteten Periode eine besonders wichtige Rolle.

So kann die Prävalenz für Krankheiten mit langer Krankheitsdauer oder chronischer Manifestation durchaus hoch sein, aber deren Inzidenz dennoch niedrig sein, während es bei akuten, kurz andauernden Krankheiten genau umgekehrt sein kann. Hier ist die Prävalenz in der Regel gering, obwohl die Inzidenz in einer Population hoch sein kann. Die kumulative Inzidenz ist abhängig von der Periodenlänge, über die sich die Krankheitsereignisse kumulieren. Weist das Auftreten einer Krankheit eine saisonale Struktur auf, kann die Wahl einer zu kurzen Periode eine Verzerrung bewirken. Beim Vergleich von Inzidenzen ist bei manchen Krankheiten deshalb neben der gleichen Periodenlänge auch die Lage der Periode zu berücksichtigen (z. B. Frühjahr bei Grippewellen). Üblicherweise werden in der Bevölkerung aber Periodenlängen von einem Jahr (bei sehr seltenen Erkrankungen auch von fünf Jahren) zur Ermittlung von Inzidenzen verwendet. Ein wichtiger Ansatz, um die Inzidenz in dynamischen Populationen (sog. Kohorten) und unbeeinflusst durch die Krankheitsdauer zu ermitteln, ergibt sich durch das Konzept der Personenzeit. Dabei werden für jedes Individuum nur die Zeiträume im Nenner aufsummiert, zu denen es unter Risiko stand, die Erkrankung zu erleiden. Krankheitszeiten, Zeiten vor Eintritt in die Population und nach Tod oder Austritt aus der Population werden dabei nicht als Zeit unter Risiko gezählt. Mit dem so definierten Nenner, aber mit demselben Zähler wie bei der kumulativen Inzidenz lässt sich die sog. Inzidenzdichte berechnen, die in der Regel als Inzidenz pro 1000 oder pro 100.000 Personenjahre ausgedrückt wird.

2.2

Vergleichende Maßzahlen

Epidemiologische Ursachenforschung zielt darauf ab, Einflussgrößen zu identifizieren, die das Risiko zu erkranken entweder vermindern oder erhöhen, um so Ansatzpunkte zur Krankheitsprävention zu finden. Diese Einflussgrößen werden als Risikofaktoren bezeichnet. Dabei bezeichnet der Begriff Risiko die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum innerhalb eines bestimmten Zeitraums erkrankt. Der Risiko-

106

W. Ahrens et al.

Abb. 1 Population unter Risiko und zugeordnete dynamische Prozesse der Veränderung. (Aus: Kreienbrock et al. 2012, Springer Spektrum, S. 21)

Neuerkrankung

Einwanderungen

Genesung

Kranke (=M)

Auswanderungen

Population unter Risiko (=N ) Geburten

Tab. 1 Risiken zu erkranken und nicht zu erkranken bei Exposition und Nicht-Exposition Status Krank K = 1 Gesund K = 0

Exponiert E=1 P11 = P(K = 1|E = 1) P01 = P(K = 0|E = 1)

Nicht-exponiert E=0 P10 = P(K = 1|E = 0) P00 = P(K = 0|E = 0)

begriff ist damit eng mit der Inzidenz verknüpft, die das absolute Risiko zu erkranken quantifiziert. Üblicherweise wird die Beurteilung des Zusammenhangs von Risikofaktoren und einer interessierenden Krankheit auf einen Vergleich von (absoluten) Risiken zurückgeführt. Im einfachsten Fall vergleicht man dabei das Risiko zu erkranken bei Vorliegen eines Risikofaktors (Exposition) mit dem Risiko zu erkranken bei Nicht-Exposition, also ohne dass der Risikofaktor vorliegt. Der Begriff der Exposition ist dabei sehr allgemein zu verstehen. Er schließt sowohl klassische Schadstoffexpositionen wie z. B. durch Feinstaub oder Rauchen ein, kann aber auch genetische Faktoren, Lebensstilfaktoren wie z. B. Bewegungsmangel oder allgemein eine Gruppenzugehörigkeit wie z. B. Geschlecht oder Wohnregion umfassen. Die Erkrankungsrisiken (Wahrscheinlichkeiten) der zu vergleichenden Gruppen lassen sich in einer sog. Vierfeldertafel (Tab. 1) anordnen, wobei z. B. E = 0 bedeutet, dass keine Exposition vorliegt, und K = 1, dass die Krankheit aufgetreten ist. Man vergleicht nun die beiden Wahrscheinlichkeiten P11 und P10. Sind diese Risiken gleich, d. h. ist die Wahrscheinlichkeit zu erkranken bei exponierten und bei nichtexponierten Personen gleich groß, so übt die zugrunde liegende Exposition keinen Einfluss auf die Erkrankungswahrscheinlichkeit aus. Andernfalls ist von einer Beeinflussung auszugehen, d. h. Exposition und Krankheit sind nicht unabhängig voneinander, und die Exposition wird – unter der Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs – als Risikofaktor bezeichnet, wenn das Erkrankungsrisiko der Exponierten erhöht ist. Um nun die Frage zu beantworten, um welchen

Todesfälle

Faktor das Risiko in der Gruppe der Exponierten im Vergleich zur Gruppe der Nicht-Exponierten erhöht ist, berechnet man das relative Risiko, das definiert ist als relatives Risiko ¼ RR ¼ ¼

Risiko bei Exposition Risiko bei Nicht-Exposition

PðK ¼ 1j E ¼ 1Þ P11 ¼ PðK ¼ 1j E ¼ 0Þ P10

" Das relative Risiko ist somit ein Quotient von Risiken. Es gibt den Faktor an, um den sich die Erkrankungswahrscheinlichkeit verändert, wenn man der betrachteten Exposition unterliegt.

Da das relative Risiko ein Quotient zweier Wahrscheinlichkeiten ist und diese jeweils Werte zwischen null und eins annehmen können, kann das RR-Werte zwischen null und unendlich annehmen. Gilt RR = 1, so sind beide Risiken identisch und man sagt, dass die Exposition keinen Einfluss auf die Krankheit ausübt. Ist das relative Risiko größer als eins, wird unterstellt, dass die Exposition einen schädigenden Einfluss ausübt. Dagegen werden Werte kleiner als eins so interpretiert, dass die Exposition einen protektiven Einfluss hat. Im Gegensatz zum relativen Risiko vergleicht das Odds Ratio die sog. Odds, die die Chance berechnen, mit der ein Ereignis eintritt, d. h. die Odds sind definiert als der Quotient aus der Wahrscheinlichkeit P, dass ein Ereignis eintritt, und der Wahrscheinlichkeit 1 – P, dass es nicht eintritt, d. h. als P : 1P Mit dem Begriff der Chance ist es nun möglich, ein Chancenverhältnis aus den Risiken aus Tab. 1 zu definieren. Hierbei betrachtet man die Chance, unter Exposition zu erkranken, und dividiert diese durch die Chance zu erkranken, falls man nicht exponiert ist. Damit erhält man das sog. Odds Ratio als

9

Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften

Odds Ratio ¼ OR ¼

Odds zu erkranken bei Exposition Odds zu erkranken bei Nicht-Exposition

¼

PðK ¼ 1jE ¼ 1Þ=PðK ¼ 0j E ¼ 1Þ PðK ¼ 1jE ¼ 0Þ=PðK ¼ 0j E ¼ 0Þ

¼

P11 =P01 P11 P00 ¼ : P10 =P00 P10 P01

107 Tab. 2 Aussagekraft hinsichtlich ätiologischer Zusammenhänge bei unterschiedlichen epidemiologischen Studientypen Studientyp Ökologische Korrelation Querschnittstudie Fall-KontrollStudie Kohortenstudie

" Das Odds Ratio ist als der Faktor zu interpretieren, um den sich die Chance zu erkranken verändert, wenn man exponiert ist. Diese Interpretation ist zu der des relativen Risikos analog, nur dass der Begriff des Risikos durch den der Chance ersetzt ist.

Das Odds Ratio ist auf den ersten Blick ein wenig intuitives Effektmaß, es hat aber eine große Bedeutung in der Ursachenforschung. Ein Grund für die Popularität des Odds Ratios liegt darin, dass sich dieses Chancenverhältnis auch dann berechnen lässt, wenn sich die absoluten Risiken nicht ermitteln lassen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn – wie in Fall-Kontroll-Studien (Abschn. 3) – ausgehend von der bereits vorliegenden Erkrankung retrospektiv die Exposition bestimmt wird und nur eine Stichprobe der Nicht-Erkrankten als Kontrollgruppe dient. In solchen Fällen wird das Odds Ratio benutzt, um das RR zu approximieren. Dabei kann man zeigen, dass das relative Risiko und das Odds Ratio bei seltenen Erkrankungen sogar nahezu gleich sind. Häufig wird daher das Odds Ratio auch als relatives Risiko bezeichnet und als solches interpretiert. Allerdings ist stets zu prüfen, ob die betrachtete Krankheit tatsächlich so selten ist, dass das relative Risiko durch das Odds Ratio approximiert werden kann.

3

Typen epidemiologischer Studien

Je nach Untersuchungsziel kommen unterschiedliche Studiendesigns zur Anwendung. Diese lassen sich generell in experimentelle und beobachtende Ansätze einteilen. Zu den experimentellen Untersuchungen zählen neben klinischen Therapiestudien vor allem sog. Interventionsstudien. Charakteristisch ist in beiden Ansätzen, dass zu vergleichende Gruppen der Untersuchungspopulation dem in der ätiologischen Fragestellung formulierten Expositionsfaktor geplant ausgesetzt werden. Bei Beobachtungsstudien wird dagegen nicht eingegriffen, sondern nur beobachtet, wie Krankheiten und Expositionen in Beziehung stehen. Je nach zeitlicher Richtung der Betrachtung unterscheidet man dabei Querschnittstudien, retrospektive und prospektive Studien. Tab. 2 gibt einen ersten Überblick und zeigt auf, inwieweit sich die unterschiedlichen Studientypen für die Bewertung

Interventionsstudie

Aussagekraft Assoziation auf Gruppen-Niveau: Hypothesengenerierung Individuelle Assoziation: überwiegend Hypothesengenerierung Schluss von vermehrter Exposition bei den Erkrankten auf eine Ursache-WirkungsBeziehung Schluss vom erhöhten Erkrankungsrisiko der Exponierten auf Ursache-Wirkungs-Beziehung Schluss von der Veränderbarkeit (Reversibilität) der Krankheitsinzidenz durch Veränderung des Risikofaktors auf Kausalität

ätiologischer Zusammenhänge eignen und welchen Schluss die jeweiligen Studientypen zulassen. Dabei haben ökologische Korrelationen den geringsten Evidenzgrad und Interventionsstudien den höchsten.

3.1

Ökologische Korrelationen

Bei ökologischen Korrelationen werden als Untersuchungseinheit nicht einzelne Individuen verwendet, sondern Aggregationen auf Gruppenebene. Übliche räumliche Aggregationsstufen sind administrative Zusammenfassungen wie Gemeinden, Landkreise, Regierungsbezirke, (Bundes-)Länder o. ä.; zeitliche Aggregationsstufen sind z. B. über ein Jahr aufkumulierte Zahlen. Die Vorteile einer solchen Vorgehensweise sind offensichtlich, denn häufig liegen aggregierte Daten für eine Vielfalt unterschiedlichster Krankheits- und Risikofaktoren bereits vor und erlauben die schnelle Durchführung von Korrelations- und Regressionsrechnungen. Abgesehen davon, dass statistische Korrelationen für sich allein keine Kausalitätsnachweise sind, führt eine einfache Korrelationsrechnung leicht in die Irre, wenn die Verteilung der wichtigsten anderen Risikofaktoren nicht berücksichtigt wird. Dann besteht die Gefahr, einem „ökologischen Trugschluss“ zu unterliegen (für Beispiele s. Skrabanek und McCormick 1995), wie das bekannte Beispiel zur ökologischen Korrelation zwischen der Anzahl der Störche und der Anzahl der Geburten zeigt. Dies ist der Grund, warum sich ökologische Korrelationen primär zur Hypothesengenerierung, nicht aber zur Prüfung von Hypothesen eignen.

3.2

Querschnittstudien

Querschnittstudien eignen sich dazu, die aktuelle Häufigkeit von Risikofaktoren und von Erkrankungen unabhängig vom Zeitpunkt ihres Eintritts – also die Prävalenz – in einer

108

W. Ahrens et al.

Studienpopulation zu ermitteln. Daher wird dieser Studientyp auch als Prävalenzstudie bezeichnet. " Querschnittstudien umfassen eine Auswahl von Individuen aus einer Zielpopulation zu einem festen Zeitpunkt (Stichtag). Für die ausgewählten Studienteilnehmer werden der Krankheitsstatus (Prävalenz) und die gegenwärtige oder auch frühere Expositionsbelastung (Expositionsprävalenz) gleichzeitig erhoben.

Eine klassische Querschnitterhebung stellt der sog. DEGS (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) dar (Kamtsiuris et al. 2013), bei dem in regelmäßigen zeitlichen Abständen mehrere Tausend Personen im Alter von 18–79 Jahren zu ihrem Gesundheitszustand befragt werden. Der größte Vorteil von Querschnittstudien besteht darin, dass man – wie z. B. beim DEGS – bei einer repräsentativen Zufallsauswahl von der Studienpopulation auf die Zielpopulation schließen und die Häufigkeit von Risikofaktoren ermitteln kann. Zudem lassen sich Querschnittstudien je nach Untersuchungsumfang in (relativ) kurzen Zeiträumen durchführen. Bei nicht zu seltenen, lang andauernden Krankheiten (z. B. Rheuma) und Gewohnheiten als Risikofaktoren (z. B. Rauchen) sind Querschnittstudien somit durchaus sinnvoll und werden entsprechend häufig durchgeführt. Für seltene Krankheiten sind Querschnittstudien dagegen wenig geeignet, da extrem große Studienkollektive in eine Untersuchung eingeschlossen werden müssten, um die Prävalenz valide ermitteln zu können. Zur Ursachenforschung von Krankheiten sind Querschnittstudien nur bei akuten, häufig auftretenden Erkrankungen mit kurzer Induktionszeit wie z. B. dem Auftreten einer Asthmasymptomatik bei Pollenflug geeignet, da wegen der Prävalenzerhebung die zeitliche Abfolge von Exposition und Krankheit unklar bleibt. Querschnittstudien sind damit vor allem ein Instrument der deskriptiven Epidemiologie. Sie dienen neben der Dokumentation eines Ist-Zustandes auch der Hypothesengenerierung.

3.3

Fall-Kontroll-Studien

" In einer Fall-Kontroll-Studie vergleicht man eine Gruppe von Erkrankten, die Fälle, mit einer Gruppe von NichtErkrankten, den Kontrollen, hinsichtlich einer zeitlich vorausgegangenen Exposition. Von der Wirkung ausgehend wird somit nach potenziellen Ursachen geforscht, die dem Einsetzen der Wirkung um viele Jahre vorausgegangen sein können.

Die besondere Schwierigkeit dieses Designs besteht in der korrekten Definition der Zielpopulation, aus der die Fälle stammen und aus der auch die Kontrollen zu ziehen sind.

Grundsätzlich gilt somit für Fall-Kontroll-Studien, dass die Individuen einer präzise definierten Population, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums die interessierende Erkrankung bekommen haben, als Fälle auswählbar sind. Als Kontrollen sind nur Individuen derselben Population auswählbar, sofern sie im betrachteten Zeitraum unter Risiko standen, diese Erkrankung zu bekommen, sie aber dann nicht bekommen haben. Dabei muss die Auswahl der Studienteilnehmer unabhängig von ihrem jeweiligen Expositionsstatus erfolgen. Unterscheiden sich Fälle und Kontrollen bezüglich der interessierenden Exposition, so interpretiert man dies als einen Hinweis auf eine ätiologische Beziehung zwischen der Exposition und der Krankheit, sofern sich beide Gruppen in Bezug auf andere (bekannte) Risikofaktoren nicht unterscheiden. Das Fall-Kontroll-Design ist insbesondere zur Untersuchung von Krankheiten geeignet, die selten auftreten und/oder deren vermutete Ursache viele Jahre zurückliegt (lange Induktionszeit). Eine einfache Zufallsauswahl etwa im Rahmen einer Querschnittstudie würde in diesem Fall nur wenige oder gar keine Krankheitsfälle enthalten und eine Längsschnittstudie (s. unten) müsste über viele Jahre durchgeführt werden. Insgesamt hat dieser Studientyp zahlreiche Vorteile: Prinzipiell kann man bei einem Fall-Kontroll-Design von einer (relativ) kurzen Studiendauer ausgehen. Das Studiendesign ermöglicht die Untersuchung seltener Krankheiten. Gleichzeitig eignet es sich besonders für die Untersuchung von Krankheiten mit einer langen Induktionszeit, denn das Eintreten der Erkrankung muss in Fall-Kontroll-Studien nicht abgewartet werden. Weiterhin ist das Fall-Kontroll-Design besonders für die (simultane) Untersuchung mehrerer Risikofaktoren für die ausgewählte Krankheit geeignet, denn die Exposition wird im Nachhinein festgestellt, wodurch verschiedene Expositionen bestimmt werden können. Dies ist fast immer dann unabdingbar, wenn ein vollständig neues Krankheitsphänomen auftritt oder wenn verschiedene Faktoren als mögliche Ursache für ein konkretes Ausbruchsgeschehen zu untersuchen sind (z. B. bei Ausbrüchen von Infektionserkrankungen mit unbekannter Ursache). Allerdings weist das Design einer Fall-Kontroll-Studie auch eine Reihe von Nachteilen auf, wobei wir bereits in Abschn. 2 darauf hingewiesen haben, dass sich aufgrund der retrospektiven Sichtweise in Fall-Kontroll-Studien im Allgemeinen keine Inzidenzen berechnen lassen. Zudem ist die zuverlässige Ermittlung zeitlich zurückliegender Expositionen fehleranfällig, da sie in der Regel auf Selbstangaben der Studienteilnehmer basiert. Ein weiteres Problem besteht in der adäquaten Auswahl der Kontrollen und in einer bei Fällen und Kontrollen gleichermaßen standardisierten Datenerhebung. Fall-Kontroll-Studien sind somit für die Ursachenforschung geeignet, aber sie benötigen ein hohes Maß an Sorgfalt bei ihrer Planung, Durchführung und Auswertung, um möglichen Verzerrungsmechanismen (Abschn. 4) adäquat zu begegnen.

9

Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften

3.4

Kohortenstudien

" Kohortenstudien, auch Längsschnitt-, Follow-up- oder einfach prospektive Studien, zeichnen sich dadurch aus, dass man eine definierte (Studien-)Population, eine sog. Kohorte, über eine bestimmte Beobachtungs- oder Followup-Periode von einem Zeitpunkt t0 bis zu einem Zeitpunkt t1 hinsichtlich des Eintretens der interessierenden Erkrankung(en) beobachtet.

Grundsätzlich gilt somit für Kohortenstudien, dass ihre Mitglieder zu Beginn des Beobachtungszeitraums unter Risiko stehen müssen, die Zielerkrankung(en) zu bekommen. Individuen, die bereits daran erkrankt sind, sind von der Kohorte auszuschließen. Vereinfacht gesagt beginnen Kohortenstudien mit der Exposition und beobachten dann das Auftreten von (unterschiedlichen) Erkrankungen. Im einfachen Fall ist für jedes Individuum der Studienpopulation der Expositionsstatus zu Beginn der Follow-up-Periode bekannt und Individuen können im zeitlichen Verlauf den Expositionsstatus nicht ändern. Bei einer dichotomen Exposition unterteilt man die Studienpopulation dann in eine exponierte Risikogruppe und eine nicht-exponierte Vergleichsgruppe. Am Ende der Beobachtungsperiode vergleicht man beide Gruppen hinsichtlich des Auftretens der Krankheit im Beobachtungszeitraum. Zeigt die Risikogruppe eine höhere Inzidenz (gemessen als Inzidenzrate oder Risiko) als die Vergleichsgruppe, so wird der Unterschied auf das Wirken des Risikofaktors zurückgeführt. Durch den prospektiven Charakter von Kohortenstudien ist sichergestellt, dass die Exposition der Erkrankung vorausgeht. Damit wird diesem Studientyp ein hoher Evidenzgrad in Bezug auf die Bewertung kausaler Zusammenhänge beigemessen. Um den relativ großen Studienaufwand in ein günstiges Verhältnis zum wissenschaftlichen Nutzen zu bringen, werden prospektiv angelegte Kohorten häufig so gestaltet, dass mit ihnen mehrere Expositionen gleichzeitig untersucht werden können. Solche Kohorten nennt man Vielzweckkohorten, in denen zu t0 oftmals verschiedene Umwelt- und/oder Lebensstilfaktoren erfasst werden. Beispiele sind die berühmte Framingham-Studie (Framingham Heart Study 2018), die EPIC-Studie (IARC 2018), die IDEFICS/I.Family Kohorte (Ahrens et al. 2017) und die NAKO Gesundheitsstudie (German National Cohort (GNC) Consortium 2014). Dadurch, dass Kohorten von der Exposition ausgehen, ergibt sich der Vorteil, dass für eine Exposition die Wirkung auf verschiedene Erkrankungs- bzw. Todesursachen untersucht werden kann. Damit ist eine detaillierte, umfassende Beurteilung des Gesundheitsrisikos durch eine interessierende Exposition möglich. Weiterhin ist ein großer Vorteil, dass mit einer Kohortenstudie absolute Risiken direkt geschätzt werden können. Zudem ist im Gegensatz zu anderen

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Studienformen für die gesamte Beobachtungsperiode eine genaue Erfassung der Exposition möglich. Sogar zeitlich variable Expositionen können so genau dokumentiert werden, wenn die Mitglieder der Kohorte nicht nur einmal zu Beginn und zum Ende der Beobachtungsperiode, sondern zu mehreren Zeitpunkten innerhalb dieser Zeit untersucht werden. Dadurch ist auch der natürliche Verlauf einer Erkrankung in der zeitlichen Entwicklung beobachtbar, was einen Einblick in deren Pathogenese ermöglicht. Diesen Vorteilen stehen einige Nachteile gegenüber, wobei der wesentliche Nachteil darin besteht, dass bei sehr seltenen Krankheiten und bei Krankheiten mit langer Induktionszeit entweder sehr große Teilkohorten in den Expositionsgruppen und/oder lange Beobachtungszeiten notwendig sind, um eine ausreichende Zahl von Krankheitsfällen in der Kohorte zu beobachten. Darüber hinaus können Ausfälle von Mitgliedern der Studienpopulation (Follow-up-Verluste) dazu führen, dass eine systematische Verzerrung der Studienergebnisse auftritt, falls diese Ausfälle nicht zufällig erfolgen und mit dem Untersuchungsgegenstand assoziiert sind. Ein weiterer Nachteil ist natürlich, dass prospektiv angelegte Kohorten extrem zeit- und kostenintensiv sind. Insgesamt besitzt dieses Studiendesign ein hohes Maß an Evidenz bei der Überprüfung einer ätiologischen Hypothese und ist mit obigen Einschränkungen das ideale Studiendesign in der epidemiologischen Ursachenforschung.

3.5

Interventionsstudien

Studiendesigns, die zum Ziel haben, Individuen oder ganze Kollektive geplant und kontrolliert einer „Behandlung“ auszusetzen, werden unter dem Begriff Interventionsstudien zusammengefasst. Die Voraussetzung für jede Art der Intervention ist, dass ausreichende Evidenz dafür vorliegt, dass die Interventionsmaßnahme einen gesundheitlichen Nutzen hat, und dass dieser Nutzen einen möglichen Schaden durch die Intervention deutlich überwiegt. Es lassen sich im Wesentlichen drei Typen von Interventionsstudien unterscheiden: die randomisierte kontrollierte Studie, die Präventionsstudie auf Individualebene und die Präventionsstudie auf Gemeindeebene. Randomisierte kontrollierte Studien sind der klinischen Forschung z. B. für die Arzneimittelzulassung zuzuordnen. Die Auswahl der Patienten erfolgt dabei nach definierten Einbzw. Ausschlusskriterien. In solchen Studien werden anhand eines festgelegten Zufallsprinzips Patienten, sofern sie der Teilnahme zugestimmt haben, zufällig (randomisiert) verschiedenen Behandlungen zugewiesen. Durch die Randomisierung soll erreicht werden, dass mögliche Störgrößen gleichermaßen in den Behandlungsgruppen auftreten. Ein weiteres wesentliches Merkmal ist der experimentelle Charakter, d. h. die Patienten werden bewusst und kontrolliert einer Behand-

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lung ausgesetzt. Auf Grund dieser wesentlichen Merkmale wird diesem Design der höchste Evidenzgrad bei der Bewertung kausaler Zusammenhänge zugesprochen. Bei Interventionen außerhalb der klinischen Forschung sind oftmals gesunde Individuen die Zielgruppe, in der man das Auftreten von Erkrankungen vermindern will. In diesem Fall spricht man von Studien der Primärprävention. Ein Präventionsprogramm allein macht jedoch noch keine Studie aus. Dazu ist eine wissenschaftliche Überprüfung der Wirksamkeit erforderlich, die einem stringenten zuvor festgelegten Protokoll folgt, in dem die Erfolgskriterien definiert sind. Eine solche Evaluation vollzieht sich üblicherweise auf drei Ebenen: Struktur (u. a. Kosten, Zeitaufwand, praktische Probleme), Prozess (u. a. Teilnahme, Akzeptanz, Nachhaltigkeit) und Ergebnis (Verhaltensänderungen, gesundheitliche Endpunkte). Studien der Primärprävention können zum einen das Ziel verfolgen, das Verhalten von Personen zu verändern. Zum anderen kann es aber auch das Ziel sein, die Lebensumwelt so zu gestalten, dass die neu geschaffenen Verhältnisse gesundheitsfördernd sind, z. B. durch Fahrrad-freundlichen Städtebau oder durch Rauchverbote im öffentlichen Raum. Häufig wird in Präventionsstudien eine Kombination aus einer solchen Verhältnisund Verhaltensprävention angestrebt (Zeeb et al. 2011). Präventionsstudien können so angelegt werden, dass sie sich etwa an ganze Gemeinden richten. Diese Ebene ist insbesondere für die Verhältnisprävention geeignet. Bei solchen Präventionsstudien auf kommunaler Ebene bedient man sich häufig regionaler Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehprogramme, um die Interventionsziele der Bevölkerung zu kommunizieren. Der Erfolg der damit verbundenen Maßnahmen hängt stark davon ab, wie gut es gelingt, lokale Akteure zur Unterstützung ihrer Umsetzung und ihrer Verstetigung zu gewinnen. Bei diesem Studientyp werden die Mitglieder der Zielbevölkerung nicht individuell angesprochen, selbst wenn dabei individuelle Verhaltensänderungen angestrebt werden. Entsprechend wird der Erfolg der Maßnahmen auf Gruppenniveau und nicht auf Individualniveau evaluiert. Zu diesem Zweck kann z. B. in zwei aufeinander folgenden Querschnittstudien, zwischen denen die Interventionsmaßnahmen stattgefunden haben, geprüft werden, ob die Prävalenzen für die interessierenden Merkmale sich in die gewünschte Richtung verändert haben. Eine andere Möglichkeit besteht darin, anhand von Sekundärdaten Veränderungen der Mortalität oder der Inzidenz zu untersuchen. Im Gegensatz dazu wenden sich Präventionsstudien auf Individualebene einzelnen Individuen zu, die individuell für die Teilnahme an der Studie gewonnen werden müssen, um sie im Längsschnitt zu untersuchen. Diese Studienteilnehmer werden zu Studienbeginn hinsichtlich der für die Studienziele entscheidenden Merkmale untersucht und befragt. Jeder einzelne Studienteilnehmer wird dann über die Studiendauer beobachtet, was verschiedene Zwischen- und Abschlussuntersuchungen einschließen kann. Idealerweise wird die so

W. Ahrens et al.

gebildete Kohorte in eine Interventions- und eine Referenzgruppe aufgeteilt. Dabei wird der Interventionsgruppe ein umfangreiches Maßnahmenpaket angeboten, während in der Referenzgruppe statt keiner Intervention aus ethischen Gründen oft ein Minimalangebot gemacht wird. Der Erfolg dieser Interventionsmaßnahmen wird auf individueller Ebene durch den Vergleich der angestrebten Veränderungen, insbesondere der Krankheitsinzidenz, zwischen Interventions- und Referenzgruppe evaluiert. Der größte Vorteil einer Interventionsstudie besteht darin, dass sie, insbesondere wenn sie randomisiert durchgeführt wird, den höchsten Evidenzgrad für eine kausale Assoziation besitzt. Das liegt einerseits an ihrem longitudinalen Design und andererseits an dem konkreten Vergleich. Beides ermöglicht es, Veränderungen in der Interventionsgruppe tatsächlich auf die erfolgte Intervention zurückzuführen. Dementsprechend sind Präventionsaktivitäten, die nicht durch eine Referenzgruppe kontrolliert werden, mit Skepsis zu betrachten. Die verschiedenen Typen von Interventionsstudien haben jeweils spezifische Schwächen. Ein großer Nachteil klinischer Studien besteht darin, dass sie an hoch selektierten Patientenkollektiven durchgeführt werden, was ihre Übertragbarkeit auf die Allgemeinbevölkerung stark einschränkt. Populationsbasierte Interventionsstudien, die nur auf Verhaltensänderungen abzielen, sind oft erfolglos, da sich Lebensstile von Personen durch Intervention von außen nur sehr schwer direkt verändern lassen. Damit sind die erzielten Effekte, wenn überhaupt, eher klein und häufig auch nicht nachhaltig, d. h. sobald das aktive Interventionsprogramm beendet ist, versanden viele positive Ansätze hin zu einem gesundheitsfördernden Verhalten wieder. Nachhaltigkeit kann z. B. durch entsprechende gesetzliche Reglementierungen erreicht werden, wie das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden, Restaurants oder Gaststätten zeigt. " Insgesamt bieten jedoch Interventionsstudien den höchsten Grad an Evidenz in der Ursachenforschung, weil sie (1) in der Regel einen Randomisierungsschritt beinhalten, der den Einfluss von Störfaktoren eliminieren soll, und weil sie (2) die Interventionsgruppe der Studienpopulation bewusst (experimentell) gegenüber einem Faktor (Behandlung, Präventionsmaßnahme) exponieren und den nachfolgenden Effekt im Vergleich zu einer nicht-exponierten Referenzgruppe ermitteln.

3.6

Beobachtende Designs zusammengefasst

Eine Kohortenstudie folgt grundsätzlich dem gleichen Prinzip wie eine randomisierte Studie, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass bei ihr die Zuordnung zu den beiden Vergleichsgruppen aus ethischen oder praktischen

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Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften

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Gründen nicht randomisiert erfolgen kann. Dieses Design ist daher nur beobachtend: Ausgehend vom Expositionsstatus wird über die Follow-up-Periode die Krankheitsinzidenz zwischen Exponierten und Nicht-Exponierten miteinander verglichen. Dieses Design wird als prospektiv bezeichnet, weil die Beobachtungsrichtung parallel zur zeitlichen Abfolge von Exposition und Erkrankung erfolgt. Eine Fall-Kontroll-Studie nimmt ihren Ausgangspunkt dort, wo eine Kohortenstudie ihren Endpunkt hat: bei der Erkrankung (den Fällen). Von dort wird rückblickend ermittelt, welche Expositionen der Erkrankung vorausgegangen sind. Um zu beurteilen, ob eine der interessierenden Expositionen bei Fällen tatsächlich gehäuft vorgekommen ist, wird letztlich die Expositionsprävalenz von Fällen und Kontrollen miteinander verglichen. Die Richtung der Beobachtung verläuft also bei Fall-Kontroll-Studien entgegen der zeitlichen Abfolge von Exposition und Erkrankung. Deshalb charakterisiert man diesen Studientyp als retrospektiv. Bei Querschnittstudien erfolgt im Prinzip eine Momentaufnahme der Zielpopulation, bei der die aktuelle Morbidität gleichzeitig mit aktuell vorliegenden Expositionen ermittelt wird. Im Rahmen eines solchen Surveys werden die Prävalenzen sowohl für bestehende Erkrankungen als auch für bestehende Expositionen bestimmt.

gehaltenen Messbedingungen. Je ungenauer also ein Messinstrument arbeitet, desto größer ist der Zufallsfehler und desto weniger stabil sind die Messwerte bei Wiederholung eines Versuchs. Dabei sind die Ursachen für einen zufälligen Fehler vielfältig. So entsteht er bereits dadurch, dass eine Studienpopulation eine (zufällige) Auswahl einzelner Individuen aus einer Zielpopulation darstellt. Für jede Auswahl von Individuen aus der Zielpopulation erhält man im Allgemeinen andere Beobachtungswerte. Die so entstehende Variation ist charakteristisch für den zufälligen Fehler und entsprechend der „natürlichen“ Variation der zu messenden Größe in einer Population. Diese natürliche Variation hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Aussagekraft einer epidemiologischen Studie. Will man z. B. eine Aussage darüber treffen, ob das Risiko für eine Krankheit bei Vorliegen einer bestimmten Exposition erhöht ist, so muss man in einer empirischen Studie das entsprechende Risiko schätzen. Solche Schätzungen sind aber den oben angesprochenen zufälligen Schwankungen unterworfen. Wird nun von einem erhöhten Risiko gesprochen, so will man sicher sein, dass einerseits diese Erhöhung nicht alleine ein Zufallsprodukt ist, sondern im statistischen Sinn auffällig ist – man spricht in diesem Zusammenhang von statistischer Signifikanz –, und dass andererseits die beobachtete Erhöhung auch klinisch oder biologisch relevant ist.

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Fehlerquellen

Die Planung und Durchführung einer epidemiologischen Studie müssen hohen Qualitätsanforderungen genügen, um valide Schlüsse aus den Ergebnissen einer Beobachtungsstudie ziehen zu können. Der Begriff Validität bezieht sich im Allgemeinen auf die „Gültigkeit“ einer Messung, d. h., dass eine Messung tatsächlich das misst, was sie zu messen beabsichtigt. Für die Bewertung einer Studie reicht diese Sichtweise jedoch nicht aus. Hier unterscheidet man zwischen ihrer internen und externen Validität. Dabei bezeichnet die interne Validität die Gültigkeit eines Ergebnisses für die eigentliche Fragestellung, während sich die externe Validität auf die Verallgemeinerbarkeit der Studienergebnisse über die untersuchte Studienpopulation hinaus bezieht. Die Validität einer Studie ist durch Verzerrungen aufgrund von Selektionseffekten oder Information Bias bzw. durch den unkontrollierten Einfluss von Störfaktoren (Confounding) gefährdet.

4.1

Zufallsfehler

Mit dem Konzept des Zufallsfehlers sind die Begriffe der Reliabilität, Wiederholbarkeit und Präzision verknüpft. Dabei versteht man unter Reliabilität die Stabilität eines Ergebnisses bei Wiederholungen der Messung unter konstant

" Der zufällige Fehler einer Risikoschätzung hängt zum einen von der Variabilität (Varianz) der individuellen Messungen und zum anderen vom Stichprobenumfang ab. Damit ist die Festlegung des Stichprobenumfangs, der notwendig ist, um überhaupt eine sinnvolle Aussage über eine epidemiologische Maßzahl machen zu können, von herausragender Bedeutung bei der Kontrolle des zufälligen Fehlers einer Studie.

Dabei gilt grundsätzlich, dass der Stichprobenumfang umso größer sein muss, je größer die Variabilität der zu messenden Größe ist, um eine stabile Risikoschätzung zu erhalten.

4.2

Systematische Fehler

Das Konzept des systematischen Fehlers ist im Gegensatz zum Zufallsfehler mit den Begriffen Bias (Verzerrung) und Accuracy verknüpft. Dabei können zum einen systematische Messfehler auftreten, die zu verfälschten Messdaten und in der Folge sogar zu verzerrten Studienergebnissen führen können. Zum anderen sind auf übergeordneter Ebene systematische Fehler in der Planung, im Design oder auch in der Durchführung epidemiologischer Studien möglich. Bei epidemiologischen Untersuchungen ist also immer zu prüfen,

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wodurch es zu einer Verfälschung von Studienergebnissen kommen kann, z. B. wenn die Expositionseinstufung durch den Krankheitsstatus beeinflusst wird oder wenn die Exposition einen Einfluss auf die Studienteilnahme hat.

4.2.1 Auswahlverzerrung Betrachten wir zunächst den sog. Selection Bias, d. h. die systematische Verzerrung durch (nicht zufällige) Auswahl. Unter dem Begriff der Auswahlverzerrung werden diejenigen Verzerrungen subsumiert, die bei der Auswahl aus der Zielpopulation in die Studienpopulation entstehen. Dabei ist die Anfälligkeit für Verzerrungen durch Selektionseffekte in starkem Maße abhängig von dem gewählten Studiendesign und vom durchgeführten Auswahlverfahren. So ist in einer Querschnittuntersuchung, die bei zufälliger Auswahl und ausreichend hoher Beteiligung als repräsentativ gelten kann, das Problem der auswahlbedingten Verzerrung von geringerer Bedeutung als in einer Fall-Kontroll-Studie, die insbesondere bei der Auswahl der Kontrollpersonen besondere Sorgfalt erforderlich macht. Ein wesentlicher weiterer Aspekt ist dann, wie hoch die Teilnahmebereitschaft ist. Die Anzahl der Individuen, die bei einer Stichprobenerhebung nicht antworten oder erst gar nicht teilnehmen, hängt stark vom Studienziel ab. Die Ausfallquote ist oft so erheblich, dass es erforderlich ist, von vornherein diesen Ausfall einzukalkulieren und eine größere Anzahl von Individuen auszuwählen, um den erforderlichen Stichprobenumfang zu erreichen. Allerdings ist in solchen Situationen mit einer systematischen Verzerrung, dem sog. Non-Response Bias zu rechnen, da zu befürchten ist, dass sich Teilnehmer und Nichtteilnehmer in für die Studienfrage wesentlichen Merkmalen unterscheiden. Neben der Non-Response kann das Problem auftreten, dass Teilnehmer die Beantwortung einzelner Fragen verweigern. Man spricht dann von einer Item-Non-Response. Während der Durchführung einer Studie sollten neben einer Protokollierung der Gründe für Nicht-Teilnahme zur Erfassung möglicher Verzerrungen Maßnahmen zur Steigerung der Teilnahme- und Antwortbereitschaft ergriffen werden. In jedem Fall ist die Teilnahmequote bei einer Publikation der Studienergebnisse zu berichten, um die Qualität der Erhebung beurteilen zu können. Für eine Darstellung der wesentlichen Verzerrungsmechanismen bedingt durch eine systematische Nicht-Teilnahme sei auf Kreienbrock et al. (2012, Kap. 4.4.1) verwiesen. 4.2.2 Informationsverzerrung Eine systematische Verzerrung durch fehlerhafte Information entsteht, wenn sich durch das Verfahren der Messung, Beobachtung oder Befragung der untersuchten Individuen eine Über- oder Unterschätzung einer epidemiologischen Maßzahl ergibt. Im Gegensatz zum Selection Bias ist dieser Typ einer Verzerrung somit unabhängig von der Studienteilnahme, aber abhängig vom Verfahren der Informationsbeschaffung. Auch

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hier ist die Gefahr einer Verzerrung je nach Studienform unterschiedlich. Besonders anfällig für einen Information Bias sind Variablen, die retrospektiv erfasst werden. Die interessierenden Informationen werden z. B. im Rahmen eines persönlichen Interviews verzerrt erfasst, wenn in einer Fall-Kontroll-Studie die Expositionsbelastung durch ein persönliches Interview rekonstruiert wird und Fälle und Kontrollen dabei nicht gleich behandelt werden: Besteht von Seiten des Interviewers eine gewisse Erwartungshaltung hinsichtlich des Expositionseffekts, so ist es denkbar, dass bei einem Fall intensiver nach der Exposition gefragt wird als bei einer Kontrolle. Dann wird möglicherweise bei den Kontrollen ein größerer Anteil von Individuen als nicht-exponiert eingestuft, als dies in Wirklichkeit der Fall war. Ein solcher Effekt, der in diesem Fall zu einer Überschätzung des Odds Ratios führt, wird als Interviewer Bias bezeichnet. Natürlich kann ein solcher Bias auch in der entgegengesetzten Richtung auftreten. Der Verwendung standardisierter Fragebögen und der intensiven Schulung sowie dem Monitoring der Interviewer kommt deshalb große Bedeutung zu. Ein weiteres Beispiel für einen Information Bias ist der sog. Recall Bias, der z. B. bei der Rekonstruktion der tatsächlichen Expositionsbelastung in retrospektiven Studien auftreten kann. So kann eine unterschiedliche Erinnerungsfähigkeit oder -bereitschaft bei Fällen und Kontrollen zu einer Verzerrung führen. Dieser Bias lässt sich durch stark strukturierte und sorgfältig entwickelte Fragebögen vermindern und durch objektive Messungen, sofern sie zuverlässig auf zurückliegende Expositionen schließen lassen, vermeiden. Ein weiterer Verzerrungstyp tritt vor allem in Kohortenstudien auf. Ist z. B. einem Arzt bekannt, dass sein Patient einem potenziellen Risikofaktor für die interessierende Krankheit ausgesetzt war, so kann dies u. U. eine gründlichere Diagnostik zur Folge haben. Wird eine nicht-exponierte Person nicht mit der gleichen Sorgfalt untersucht, so führt dies zu einer Verzerrung, die auch als Diagnostic Suspicion Bias bezeichnet wird. In diesem Beispiel ist eine Überschätzung des Expositionseffektes zu erwarten, da die Krankheit bei exponierten Personen im Vergleich häufiger festgestellt wird.

4.2.3 Confounding Da ein Ziel einer epidemiologischen Studie darin besteht, den Effekt einer Exposition auf die Krankheitsentstehung zu beschreiben, sollte diese Beziehung nicht von weiteren Einflussgrößen, sog. Confoundern, gestört werden. Unterscheiden sich exponierte und nicht-exponierte Individuen bereits im Grundrisiko für die Krankheit, dann führt ihr Vergleich zu einer verzerrten Schätzung des Effekts der interessierenden Exposition. Man spricht dann von einem Confounding Bias. " Dabei ist ein Confounder dadurch charakterisiert, dass er (1) ein unabhängiger Risikofaktor für die untersuchte Krankheit und (2) mit der interessierenden Exposition in

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Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften

der Zielpopulation assoziiert ist, (3) nicht auf demselben ätiologischen Pfad wie die interessierende Exposition und die Krankheit liegt (d. h. weder Faktoren, die die Exposition kausal bedingen, noch Faktoren, die durch die Exposition verursacht werden, kommen als Confounder in Betracht) und (4) nicht Folge der Exposition ist.

Eine adäquate Berücksichtigung von Confoundern in der Planung einer epidemiologischen Studie erfordert medizinische und biologische Vorkenntnisse zu den Risikofaktoren der Krankheit und zu den Beziehungen dieser Faktoren mit der interessierenden Exposition. Prinzipiell ist in allen Beobachtungsstudien mit Confounding zu rechnen. Als klassische Confounder kommen in Bevölkerungsstudien häufig Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status oder Rauchen in Frage. Da sich ein Confounder auf die Beziehung zwischen Einfluss- und Zielvariable auswirkt, muss er sowohl beim Design als auch bei der Analyse einer Studie adäquat berücksichtigt werden. Dabei ist der Confounder aber in der Regel selbst nicht von Interesse. Dies ist jedoch bei Drittfaktoren der Fall, die mit der interessierenden Exposition zusammenwirken und dadurch einen verstärkenden (bzw. abschwächenden) Effekt auf die Krankheit ausüben. Solche Effekte werden als Effekt-Modifikationen bzw. Interaktionen bezeichnet. Interaktionen sind daher von Confounding zu unterscheiden, da die Effektstärke der interessierenden Exposition von der Ausprägung des Effekt-Modifikators abhängt. Als Effekt-Modifikatoren kommen grundsätzlich alle Faktoren neben der untersuchten Studienexposition in Frage.

5

Qualitätssicherung

Die Qualitätssicherung muss alle Schritte epidemiologischer Studien angefangen beim Studiendesign über die Durchführung, die Aufbereitung und statistischen Analyse der Daten bis hin zur Interpretation und Kommunikation der Ergebnisse umfassen. Sie beinhaltet nicht nur die Qualitätskontrolle, sondern auch alle Maßnahmen, die der Qualitätsverbesserung dienen. " Einen kompakten Überblick über die Qualitätskriterien und die Maßnahmen zu ihrer Einhaltung geben die Regeln der „Guten Epidemiologischen Praxis“ (DGEpi 2009).

5.1

Studienprotokoll und Operationshandbuch

Zu jeder epidemiologischen Studie sollte ein Studienprotokoll erstellt werden, in dem die wissenschaftlichen Ziele und

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Methoden sowie das Konzept zur Erreichung dieser Projektziele festgelegt sind. Die technischen Ausführungsbestimmungen sollten zudem in einem Operationshandbuch festgehalten werden. Das Operationshandbuch regelt somit die Umsetzung des Studienplans im Feld und enthält sog. Standard Operating Procedures (SOP), die die Anwendung der Prozeduren, Instrumente und Messgeräte genau beschreiben. Das Studienprotokoll und das Operationshandbuch dienen dazu, Abweichungen vom ursprünglich geplanten Vorgehen zu vermeiden, um eine möglichst hohe interne Validität der Studie zu erreichen. Sollten dennoch nach Studienbeginn Modifikationen erforderlich sein, so müssen diese genau dokumentiert werden.

5.1.1 Studienprotokoll Das Studienprotokoll regelt verbindlich alle Aspekte einer Studie von ihrer wissenschaftlichen Bedeutung über ihre Umsetzung und dem dazu gehörigen Auswertungsplan bis hin zum verantwortungsbewussten Umgang mit den Studienteilnehmern und den zu erhebenden Daten. Der eigentliche Forschungsplan ist ein Kernelement des Studienprotokolls. Darin werden Einzelheiten des Designs erläutert und begründet, insbesondere der benötigte Studienumfang und die Stichprobenziehung. Zudem werden Maßnahmen zur Minimierung möglicher Fehlerquellen festgelegt. Dies beinhaltet eine Analyse der kritischen Projektschritte, Strategien zur Optimierung der Teilnahmequote und zur Standardisierung der Messungen. Der Studienplan definiert die Studienpopulation, d. h. die Ein- und Ausschlusskriterien für Studienteilnehmer, legt die Studienorte, die dort ggf. einzubeziehenden Institutionen und den genauen Erhebungszeitraum fest. Insbesondere die zu erhebenden Endpunkte und Messgrößen werden im Studienplan genau definiert. Sowohl die interessierenden Einflussgrößen als auch die zu bestimmenden Confoundervariablen werden unter Angabe des jeweils zu benutzenden Messinstruments aufgeführt. Auch wenn die Details der Messmethodik in der zugehörigen SOP beschrieben werden, wird hier über die einzusetzenden Untersuchungsinstrumente entschieden. Diese sollten vor ihrer endgültigen Auswahl kritisch auf ihre Eignung zur Erreichung der Studienziele geprüft werden. Bei der Auswahl sind validierte Instrumente und Messmethoden zu bevorzugen, zumindest aber solche, die sich bereits zuvor in der Praxis bewährt haben. Dadurch lassen sich die eigenen Studienergebnisse besser mit den Resultaten vorangegangener Studien vergleichen und absichern. Müssen jedoch neue Instrumente entwickelt oder bereits vorhandene angepasst werden, so sollten deren Validität und Reliabilität ermittelt werden. Insbesondere bezüglich der Auswahl der Erhebungsinstrumente bietet sich ein Pretest an, in dem der Einsatz aller in der Studie einzusetzenden Messprozeduren an Probanden getestet wird, die der Studienpopulation in entscheidenden Charakteristika wie z. B. Alter, Geschlecht, soziale Zuge-

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hörigkeit möglichst ähnlich sein sollen. Die Pretestung der Instrumente sichert nicht nur die Überprüfung der Praktikabilität, sondern gibt auch eine erste Einschätzung des benötigten Zeitaufwands und der möglichen Belastung der potenziellen Studienteilnehmer. Zudem gewinnt man einen Eindruck darüber, worauf bei der Schulung des Erhebungspersonals und bei der Formulierung von Standard Operating Procedures (SOP) besonders zu achten ist. Bei komplexen Studiendesigns und Datenerhebungsprozeduren ist die Durchführung eines Pretests zur Qualitätssicherung in der Regel nicht ausreichend. Es sind darüber hinaus Machbarkeits-, Feasibility- oder Pilotstudien erforderlich. In diesen wird an einer Stichprobe die gesamte Erhebungsprozedur getestet. Oft wird hierzu ein sog. Convenience Sample benutzt, also eine Gruppe von Freiwilligen, die zwar nicht nach einem Zufallsprinzip aus der Zielpopulation gezogen werden, aber in wesentlichen Merkmalen mit der Studienpopulation übereinstimmen sollten. Eine Pilotstudie gibt die Möglichkeit, das Untersuchungsprogramm zumindest in den für die Datenerhebung relevanten Teilen zu erproben. Wichtig ist hierbei, dass die Gesamtbelastung der Studienteilnehmer sowohl unter Zeitaspekten als auch unter psychischen sowie physischen Gesichtspunkten beurteilt werden kann. Gegebenenfalls sind im Anschluss an eine solche Pilotstudie Modifikationen wie eine Revision des Ablaufs der Datenerhebung, der Austausch oder die Kürzung einzelner Erhebungsmodule erforderlich. Solche Pilotstudien können darüber hinaus auch dazu dienen, fehlende Planungsdaten, z. B. zur Prävalenz und gemeinsamen Verteilung interessierender Einflussgrößen, zu liefern, die dann als Grundlage für die abschließende Ermittlung des erforderlichen Untersuchungsumfangs der Hauptstudie dienen. Aus diesen Festlegungen des Studienplans ergibt sich im Regelfall auch eine zeitliche Abfolge, in der die zu erreichenden Meilensteine abgearbeitet werden müssen. Dieser Zeitplan ist Teil des Forschungsplans und liefert die Grundlage für die Ressourcenplanung und für das Monitoring des Projektfortschritts. Dazu dient auch die Definition von Projektergebnissen, die am Ende jedes erfolgreich abgeschlossenen Arbeitsschritts vorliegen müssen. Dabei sind auch die Verantwortlichkeiten für die jeweiligen (Teil-)Ergebnisse und ggf. Abbruchkriterien bei nicht erfolgreichem Abschluss eines zentralen Arbeitsschritts festzulegen. Ein weiteres Kernelement des Studienprotokolls ist der Auswertungsplan. Bereits in der Planungsphase muss festgelegt werden, wie die Daten zu verarbeiten, abzuspeichern und auszuwerten sind. In einem ersten Schritt geht es dabei um die Datenerfassung und den Umgang mit den erhaltenen originalen Daten, den sog. Rohdaten. Der zweite wesentliche Schritt des Auswertungsplans betrifft die Strategie der statistischen Auswertung. Abschließend müssen dem Studienprotokoll der Ethikantrag und das Datenschutzkonzept beigefügt werden.

W. Ahrens et al.

5.1.2 Operationshandbuch Während das Studienprotokoll den Ablauf einer Studie unter grundsätzlichen Gesichtspunkten regelt, widmet sich das Operationshandbuch der Umsetzung dieser Regeln bei der Feldarbeit. Es dient dem Personal als ständiger Begleiter, in dem alle Schritte und Regeln der Studiendurchführung beschrieben sind. Ein wichtiges Element ist die Beschreibung der Rekrutierung. Darunter versteht man u. a., wie die Studienteilnehmer zu kontaktieren, anzusprechen und aufzuklären sind und wie dies zu dokumentieren ist, damit z. B. die Teilnahmequote berechnet werden kann. Das Operationshandbuch gibt zunächst eine Übersicht über alle Erhebungsmodule, d. h. die einzusetzenden Fragebögen, medizinischen Untersuchungen, Probennahmen und Messprozeduren sowie eine genaue Beschreibung, wie und in welcher Reihenfolge diese einzusetzen sind. Der Punkt „Organisation der Erhebung“ beinhaltet zudem die Festlegung, wie Studienteilnehmer empfangen, durch die Untersuchung geführt und verabschiedet werden, sowie eine Beschreibung der räumlichen Erfordernisse und der notwendigen Ausstattung. So ist z. B. bei einer Studie mit kleinen Kindern die Ausstattung von Warteräumen mit kindgerechten Möbeln und Spielzeug empfehlenswert. Im Anschluss an die allgemeine Übersicht werden alle Erhebungsmodule im Einzelnen dargestellt, wobei zwischen Fragebögen, Interviews, körperlichen Untersuchungen, der Gewinnung von Bioproben und Expositionsmessungen unterschieden werden kann. So werden genaue Instruktionen gegeben, wie die Fragebögen einzusetzen bzw. die Interviews durchzuführen sind. Dazu gehören auch klare Angaben zum Editieren, d. h. zum Überprüfen der ausgefüllten Fragebögen. Eingehende Fragebögen sollten von dem Feldpersonal unmittelbar auf Vollständigkeit, Lesbarkeit und korrektes Ausfüllen der Fragebogenfelder überprüft und ggf. Fragen in zeitnaher Rücksprache mit dem Studienteilnehmer bzw. dem Interviewer geklärt werden. Bei Computer-basierten Fragebögen kann eine Hilfestellung durch das Studienpersonal die Qualität und Vollständigkeit verbessern. Neben den allgemeinen Vorschriften, z. B. zur Einhaltung hygienischer Grundregeln des Feldpersonals, wird für jede körperliche Untersuchung eine eigene standardisierte Untersuchungsvorschrift (SOP) erstellt. Selbst eine relativ einfache Messung wie die der Körpergröße ist in ihren Einzelheiten unmissverständlich zu beschreiben, um einen Höchstgrad an Standardisierung zu erreichen. Dies gilt auch für die Erfassung der gewonnenen Messdaten auf Messblättern sowie für das Auslesen, die Übertragung und die Speicherung elektronischer Daten. Neben der Erklärung zur Durchführung der Messprozeduren sollte das Operationshandbuch auch für jedes einzusetzende Gerät eine genaue Beschreibung seiner Handhabung beinhalten. Es ist zudem anzugeben, wie bei Ausfall des Geräts für eine schnelle Reparatur oder einen

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schnellen Ersatz gesorgt werden kann, um somit eine unnötige Verzögerung der Feldarbeit zu vermeiden. Ergänzend beinhaltet das Operationshandbuch alle Frageund Dokumentationsbögen, Muster-Anschreiben, Informationsmaterial und Einwilligungserklärungen für die Studienteilnehmer, wichtige Adressen, Checklisten zur internen, täglichen Prüfung der Arbeitsabläufe sowie eine Liste aller Geräte und Verbrauchsmaterialien. In einem eigenen Abschnitt werden Maßnahmen zur Qualitätssicherung zusammengefasst. Darunter fallen die Schulungen des Erhebungspersonals, die möglichst nicht nur am Anfang einer Studie stattfinden, sondern auch im Verlauf der Studie wiederholt werden sollten. Re-Interviews und Wiederholungsmessungen, die systematisch in Unterstichproben der Studienpopulation durchgeführt werden, erlauben die Abschätzung der Reliabilität der eingesetzten Verfahren. Um Interviewer- und Untersuchereffekte zu minimieren, wird empfohlen, die Feldarbeit zu überwachen (Monitoring). Dazu können Begehungen vor Ort (Site Visits) und stichprobenartige Nachbefragungen von Studienteilnehmern durchgeführt werden. Ein solches Monitoring sollte zeitnah nach Beginn der Rekrutierung beginnen, um Fehler früh identifizieren und korrigieren zu können. Gegebenenfalls können zusätzliche Schulungen in einzelnen Modulen erforderlich werden.

zu univariaten Plausibilitätsprüfungen sollte auch nach unplausiblen Merkmalskombinationen gefahndet werden. Die dabei aufzustellenden Regeln sind Bestandteil des Operationshandbuches. Die einzelnen Schritte der Datenkorrektur und -bereinigung müssen dokumentiert werden, um die Entstehung des zur Analyse freigegebenen Datensatzes nachvollziehen zu können. Dabei ist es unbedingt erforderlich, den ursprünglichen Rohdatensatz als auch den korrigierten und bereinigten Analysedatensatz zu fixieren und zu dokumentieren (Data Freeze) und von beiden Datensätzen Sicherungskopien anzulegen. Abschließend sei angemerkt, dass trotz sämtlicher Bemühungen um die Korrektur und Bereinigung eines Datensatzes damit gerechnet werden muss, dass während der statistischen Analyse des Datensatzes weitere Fehler identifiziert werden. Auch diese müssen korrigiert werden, was einen aktualisierten Analysedatensatz zur Folge haben kann, für den wie oben beschrieben verfahren werden muss.

5.2

Datenmanagement und -dokumentation

Bereits im Vorhinein ist festzulegen, welche Variablen in welchem Format erhoben werden sollen, um die Datenbanken erstellen zu können, die für die Erfassung und spätere Analyse der Daten benötigt werden. Dabei sollten auch schon die Routinen zur Überprüfung der Korrektheit der erfassten Variablenwerte und eine zumindest stichprobenbasierte Fehlerkontrolle vorbereitet werden. Da die Personen-bezogen Daten aus Datenschutzgründen nur pseudonymisiert gespeichert werden können, muss für jeden Teilnehmer eine Ziffernfolge vergeben werden, die die Studie, das Zentrum, den Teilnehmer und das eingesetzte Instrument charakterisiert. Solche ID-Nummern sind erforderlich, um die verschiedenen Daten eines Individuums zusammenführen zu können. In einem weiteren Schritt muss festgelegt werden, welche Überprüfungen und ggf. notwendigen Korrekturen bereits „im Feld“ vorgenommen werden sollen, wie z. B. das Editieren von Papierfragebögen oder automatische Plausibilitätsprüfungen bei Computer-basierten Instrumenten. Eingabemasken und die verwendete Software sollten einfach zu handhaben sein, um unnötige Fehler zu vermeiden. Sämtliche Daten müssen anschließend weiteren Prozeduren unterzogen werden, um Eingabe- oder Datenerfassungsfehler zu erkennen. Sinnvoll sind hier Plausibilitätsprüfungen, die z. B. für die eingegebenen Werte abfragen, ob diese in einem für die jeweilige Variable sinnvollen Wertebereich liegen. Ergänzend

5.3

Leitlinien

Selbstverständlich sind in allen Wissenschaftsdisziplinen die Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis einzuhalten, wie sie z. B. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG 2013) oder vom Medical Research Council (MRC 2012) vorgeschlagen wurden. Daneben gibt es spezifische Ausformulierungen von Anforderungen, die auf die methodischen und ethischen Besonderheiten epidemiologischer Studien eingehen. Diese Leitlinien geben nicht nur denen eine Orientierung, die epidemiologische Studien planen, durchführen und auswerten. Sie setzen auch Maßstäbe für die Vertragsgestaltung bei Drittmittelprojekten und die Interpretation, Kommunikation und Umsetzung der Forschungsergebnisse in die Praxis. Insbesondere die verschiedenen Fachgesellschaften (DGEpi 2009; IEA 2007; Andrews et al. 1996), aber auch staatliche Stellen (EU 2001) und die Industrie haben konkrete Anforderungen an gute klinische oder epidemiologische Forschung ausgearbeitet.

6

Ethik und Datenschutz

Jegliche medizinische Forschung am Menschen unterliegt der Deklaration von Helsinki, die im Juni 1964 von der 18. Generalversammlung der World Medical Association (WMA) verabschiedet und seitdem mehrfach revidiert wurde. Diese Deklaration benennt folgende grundlegende ethische Prinzipien, die jeder Untersuchung am Menschen zugrunde gelegt werden müssen: • • • •

das Recht auf Selbstbestimmung (Autonomie), das Wohlergehen des Menschen, das Verbot zu schaden und die Gerechtigkeit.

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" Bei Studien am Menschen ist unbedingt der mögliche Schaden für jeden einzelnen Studienteilnehmer abzuwägen gegen den voraussichtlichen Nutzen für die Einzelperson und die Gemeinschaft allgemein. Der voraussichtliche Nutzen für das Individuum und die Allgemeinheit muss das Risiko eines möglichen Schadens deutlich überwiegen.

Ein Nutzen darf nicht das Privileg ausgewählter Personen sein; vielmehr muss Gerechtigkeit hergestellt werden, indem grundsätzlich jeder Mensch die Möglichkeit erhält, von einem Nutzen zu profitieren. Zur Autonomie gehört, dass in jedem Fall die freiwillige, informierte Einwilligung (Informed Consent) des Studienteilnehmers eingeholt werden muss. Ist der Studienteilnehmer selbst nicht einwilligungsfähig, muss die Einwilligung zur Teilnahme von dem gesetzlich ermächtigten Vertreter eingeholt werden. Dabei gelten aber zusätzliche Einschränkungen. Studienteilnehmer sind darauf hinzuweisen, dass ein einmal gegebenes Einverständnis jederzeit und ohne Angabe von Gründen widerrufen werden kann, ohne dass ihnen dadurch Nachteile entstehen dürfen. Mustertexte für Einverständniserklärungen hat u. a. die TMF (Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.) erarbeitet (vgl. Harnischmacher et al. 2006). Ein wichtiger Bestandteil der Deklaration von Helsinki betrifft die Anfertigung des Studienprotokolls, das einer Ethikkommission vorzulegen ist. Einer solchen Kommission gehören typischerweise Mediziner, Juristen, Statistiker und Philosophen an. Sie entscheidet darüber, ob ethische Bedenken gegen die im Studienprotokoll beschriebene Studie vorliegen. Die Deklaration von Helsinki fordert zudem eine zeitnahe Publikation der Forschungsergebnisse. Sie wird darin durch die Empfehlungen zur guten epidemiologischen Praxis (GEP) der International Epidemiological Association (IEA) unterstützt (IEA 2007). Die Publikation muss eine Erklärung zu möglichen Interessenskonflikten der verantwortlichen Wissenschaftler enthalten. Vor allen Dingen fordert die IEA, dass eine Publikation unabhängig von den Ergebnissen und völlig unbeeinflusst durch Dritte wie z. B. den Forschungsförderer zu erfolgen hat (vgl. auch Ahrens und Jahn 2009). " Zu jeder Studie muss ein Datenschutzkonzept (s. auch BfDI 2018) erarbeitet werden, das das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Studienteilnehmer sicherstellt und eng mit der ethischen Unbedenklichkeit einer Studie verzahnt ist.

Als grundlegendes Prinzip erhält jeder Studienteilnehmer eine fortlaufende Identifikationsnummer (ID-Nummer; Abschn. 5.2). Die Personen-identifizierenden Merkmale wie Name und Adresse sind hiervon getrennt unter Verschluss zu

W. Ahrens et al.

halten. Sie dürfen nur bei Vorliegen einer entsprechenden schriftlichen Einverständniserklärung aufbewahrt werden. Alle Dokumente mit Studiendaten sind ausschließlich mit der ID-Nummer des Teilnehmers zu versehen. Auf diese Weise werden die Studiendaten pseudonymisiert. Einverständniserklärungen enthalten die Kontaktdaten der Studienteilnehmer und ebenfalls die ID-Nummer. Erst auf Grundlage der unterschriebenen Einverständniserklärung nimmt die kontaktierte Person an der Studie teil. Die Einverständniserklärungen und Fragebögen sind vor unbefugtem Zugriff zu sichern. Erst nach unwiderruflicher Löschung aller Personenidentifizierenden Merkmale gelten die mit der ID-Nummer verknüpften Studiendaten als anonymisiert. Solange eine Anonymisierung nicht erfolgen kann, wie z. B. bei einer laufenden Kohortenstudie, müssen die Personen-identifizierenden Dokumente getrennt von den pseudonymisierten Fragebögen und anderen Dokumenten aufbewahrt werden. Alle an dem Forschungsvorhaben beteiligten Personen müssen auf das Datengeheimnis verpflichtet werden. Nach Eingabe der erhobenen Daten in die vorgesehenen Datenbanken muss der Zugriff auf die elektronischen Daten geschützt sein, d. h. für einen solchen Zugriff bedarf es z. B. eines persönlichen Passworts. Zudem dürfen nur die Personen, die an der Studie beteiligt sind, Zugriff auf die Dateien der Studie erhalten. Dabei muss eine personelle Trennung zwischen den mit der Datenerhebung befassten und den mit der Datenauswertung und statistischen Analyse betrauten Mitarbeitern erfolgen. Letztere dürfen keinen Zugriff auf die Personen-identifizierenden Daten haben. Die Personen-identifizierenden Merkmale der Studienteilnehmer müssen gelöscht werden, sobald es der Studienzweck erlaubt. In der Regel ist hierzu ein vorgegebenes Datum zu nennen. Häufig ist diese Löschung erst nach Abschluss der Auswertungen vorgesehen, um bei eventuellen Nachfragen in den Fragebogenangaben die Möglichkeit einer erneuten Verifizierung über den Probanden zu ermöglichen. Sind weitere Studien mit den Probanden geplant, etwa im Rahmen von Follow-up-Untersuchungen einer Kohortenstudie, so kann dadurch ein späteres Löschdatum begründet sein. Das vorgesehene Löschdatum ist in der Einverständniserklärung der Teilnehmer anzugeben. Mit dem zunehmenden Einsatz von biologischen Markern in epidemiologischen Studien gewinnt die Problematik des Umgangs mit biologischen Proben eine wachsende Bedeutung. Gerade in prospektiven Studien haben Proben, die Jahre oder vielleicht sogar Jahrzehnte vor dem Auftreten eines Krankheitsereignisses eingelagert wurden, einen großen Wert für die Ursachenforschung. Sie bieten die Chance, frühe Indikatoren für später auftretende Erkrankungen zu entdecken oder Expositionen zu ermitteln, die einen Krankheitseintritt begünstigen. Eine spätere Analyse biologischer Materialien hinsichtlich nicht zuvor benannter Hypothesen gilt grundsätzlich als unproblematisch, wenn diese Materialien

9

Epidemiologische Methoden in den Gesundheitswissenschaften

117

anonymisiert wurden. Dies ist jedoch in Kohortenstudien, bei denen die untersuchten Merkmale in Bezug zu späteren Krankheitsereignissen gesetzt werden sollen, nicht sinnvoll. Daher empfiehlt es sich, den Forschungszweck, zu dem das Einverständnis für die Einlagerung und spätere Analyse des biologischen Materials eingeholt wird, breit genug zu formulieren (Broad Consent). Gerade hierfür ist die jederzeitige Widerrufbarkeit eine wesentliche Voraussetzung.

EU (European Union) (2001) Directive 2001/20/EC of the EU parliament and of the council on the approximation of laws, regulations and administrative provision of the Member States relating to the implementation of good clinical practice in the conduct of clinical trials on medicinal products for human use. http://eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2001:121:0034:0044:en:PDF. Zugegriffen am 20.06.2018 Framingham Heart Study (2018) www.framinghamheartstudy.org. Zugegriffen am 13.06.2018 German National Cohort (GNC) Consortium (2014) The German National Cohort: aims, study design and organization. Eur J Epidemiol 29:371–382 Harnischmacher U, Ihle P, Berger B, Goebel J, Scheller J (2006) Checkliste und Leitfaden zur Patienteneinwilligung – Grundlagen und Anleitung für die klinische Forschung, Schriftenreihe der Telematikplattform für Medizinische Forschungsnetze e.V. (TMF). Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (MMV), Berlin IARC (International Agency for Research on Cancer) (2018) European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition (EPIC). epic. iarc.fr. Zugegriffen am 13.06.2018 IEA (International Epidemiological Association) (2007) Good epidemiological practice (GEP): IEA guidelines for proper conduct in epidemiologic research. http://ieaweb.org/good-epidemiologicalpractice-gep/. Zugegriffen am 20.06.2018 Kamtsiuris P, Lange M, Hoffmann R, Schaffrath Rosario A, Dahm S et al (2013) Die erste Welle der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Stichprobendesign, Response, Gewichtung und Repräsentativität. Bundesgesundheitsb Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 56:620–630 Kreienbrock L, Pigeot I, Ahrens W (2012) Epidemiologische Methoden, 5. Aufl. Springer Spektrum, Berlin/Heidelberg MRC (Medical Research Council) (2012) Good research practice: principles and guidelines. MRC, London. https://mrc.ukri.org/publicati ons/browse/good-research-practice-principles-and-guidelines/. Zugegriffen am 20.06.2018 Skrabanek P, McCormick J (1995) Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin, 3. Aufl. Kirchheim, Mainz Zeeb H, Ahrens W, Pigeot I (2011) Primärprävention. Konzepte und Strategien. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 54:265–271

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Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

10

Margarethe Woeckel, Regina Pickford und Alexandra Schneider

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Grundlagen und Methoden der Umweltepidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variablen und Populationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studientypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzung von Routinedaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messung von Exposition, Outcome und Confoundern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätskriterien und Stichprobenumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 120 120 122 122 126

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Ergebnisse und Interpretation umweltepidemiologischer Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statistische Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevölkerungsbezogene Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127 127 128 128 128

4

Grenzen der Umweltepidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

5

Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

1

Einleitung

Die Epidemiologie befasst sich – nach der Definition der WHO – mit der Untersuchung der Verteilung von Krankheiten, physiologischen Variablen und sozialen Krankheitsfolgen in menschlichen Bevölkerungsgruppen sowie mit den Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen. Entsprechend geht es in der umweltepidemiologischen Forschung darum, die Wirkung von Umweltfaktoren auf die menschliche Gesundheit zu untersuchen. Um den Einfluss von Schadstoffbelastungen auf die menschliche Gesundheit zu analysieren, wird unter Zuhilfenahme statistischer Methoden aus Informationen zu Gesund-

M. Woeckel · R. Pickford · A. Schneider (*) Helmholtz Zentrum München-Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt (GmbH), Neuherberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; regina. [email protected]; [email protected]

heitszustand, sozialen Gegebenheiten und der Umwelt der Zusammenhang zwischen Einflussgröße und Gesundheitsendpunkt untersucht. Hierzu ist es einerseits erforderlich, Angaben über die Exposition der betroffenen Personen zu haben, die möglichst genau die tatsächliche Exposition gegenüber den entsprechenden Umweltnoxen darstellen. Andererseits werden Gesundheitsdaten benötigt, mit denen ein Abgleich durchgeführt werden kann. Zudem müssen potenzielle Störgrößen mit erfasst werden, um eine Abgrenzung zwischen umweltbedingten und anderen Ursachen vornehmen zu können und so eine Verzerrung und damit einhergehende Fehlinterpretation der Ergebnisse zu vermeiden. In den folgenden Abschnitten wird ein Überblick über das Instrumentarium umweltepidemiologischer Forschung gegeben. Der Beitrag basiert auf dem Originalbeitrag „Umweltepidemiologie“ aus dem „Handbuch der Umweltmedizin“ herausgegeben von H.E. Wichmann und H. Fromme, erschienen im Verlag ecomed-Storck, Landsberg am Lech“.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_11

119

120

2

M. Woeckel et al.

Grundlagen und Methoden der Umweltepidemiologie

2.1

Variablen und Populationen

Um die benötigten Untersuchungsparameter epidemiologischer Studien genauer zu charakterisieren, betrachtet man im Allgemeinen folgende Variablen (Abb. 1):

Variablen

• Eine Einflussvariable (Einflussfaktor, Einflussgröße) ist ein Parameter, der die zu untersuchende Exposition beschreibt. • Als Zielvariable (Zielgröße) wird ein Parameter bezeichnet, der den Gesundheitsendpunkt angibt. • Eine Kovariable ist eine Variable, die neben der Einflussvariablen ebenfalls die Zielgröße beeinflusst. • Unter einer Störvariablen (Störfaktor, Störgröße, Confounder) schließlich versteht man einen Parameter, der ebenfalls auf die Zielvariable wirkt und dessen Wirkung mit derjenigen der Einflussvariablen vermischt ist. • Eine Mediatorvariable (Mediator) vermittelt die Wirkung der Einflussvariablen auf die Zielgröße und dient zur genaueren Beschreibung des beobachteten Zusammenhangs zwischen Einfluss- und Zielgröße. Im Rahmen epidemiologischer Untersuchungen betrachtet man folgende Populationen:

Abb. 1 Zusammenhang zwischen Einfluss- und Zielgröße mit Confounder, Kovariable und Mediator, dargestellt mittels „Directed Acyclic Graphs“ (DAGs). Der als kausal betrachtete Zusammenhang wird durch

Populationen

• Die Grundgesamtheit (Bezugs- oder Zielpopulation) gibt den Teil der Bevölkerung an, für den das Ergebnis der Studie gültig sein soll. Aus ihr wird die zu untersuchende Stichprobe gezogen, falls nicht die Grundgesamtheit als Ganzes in die Untersuchung einbezogen wird. • Die Stichprobe (Untersuchungspopulation) umfasst eine Teilpopulation der Grundgesamtheit, welche in der Verteilung der untersuchungsrelevanten Merkmale mit der Grundgesamtheit übereinstimmen soll und an der die Untersuchung durchgeführt wird. • Unter einer Fallgruppe versteht man eine Personengruppe, bei der eine definierte Krankheit oder Gesundheitsstörung vorliegt. • Eine Kontrollgruppe ist demgegenüber eine Vergleichsgruppe, die der Fallgruppe gegenübergestellt wird und bei der diese Krankheit oder Gesundheitsstörung nicht vorliegt.

2.2

Studientypen

Je nach Untersuchungsziel kommen unterschiedliche Typen von Studien zur Anwendung, die sich in ihrer Art und Aussagefähigkeit unterscheiden. Kohorten- (oder prospektive) Studien beginnen mit einer Population oder einer Stichprobe daraus, bei der die zu untersuchende Krankheit nicht vorliegt. Die Personen werden anhand des Vorhandenseins bzw. Fehlens des interessierenden Risikofaktors in zwei Gruppen (Kohorten) eingeteilt. Über die

die fetten Pfeile dargestellt. Aus: Wichmann und Fromme (1992). Mit freundlicher Genehmigung des ecomed-Storck Verlags

10

Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Zeit erfasst man die Inzidenz der interessierenden Krankheit in beiden Gruppen. Dürfen im Studienverlauf neue Personen in die Kohorten eintreten, so spricht man von dynamischen (offenen) Kohorten, andernfalls von fixen (geschlossenen) Kohorten. Am Ende der Studie erfolgt die Schätzung des Risikos anhand der aufgetretenen Erkrankungsfälle. Historische (oder retrospektive) Kohortenstudien mit zurückverlegtem Beginn werden durchgeführt, wenn bereits Daten aus der Vergangenheit vorhanden sind, die es ermöglichen, ab einem bestimmten Zeitpunkt Kohorten von exponierten und nicht-exponierten Personen zu rekonstruieren. Vorteile von Kohortenstudien sind, dass sie (bei ausreichend hoher Responserate) repräsentativ sind, d. h. dass ihre Resultate auf eine Population bezogen werden können; dass sich ein Kausalitätszusammenhang erkennen lässt, weil der Risikofaktor vor dem Auftreten der Krankheit vorliegt; dass das Risiko gut quantifiziert werden kann und dass Verzerrungen auf ein Minimum beschränkt sind, so dass die Probleme des selektiven Überlebens ebenfalls minimiert werden. Nachteile sind eine lange Laufzeit, die mit entsprechenden Kosten verbunden ist. Zudem sind Kohortenstudien nur bedingt geeignet, seltene Krankheiten zu untersuchen. Spezialfälle von Kohortenstudien: 1. Panelstudien: prospektive Kohortenstudien, bei denen individuelle Zeitreihen wiederholter Messungen bei einer Gruppe von Studienteilnehmern über einen bestimmten Zeitraum erhoben werden. Die Daten sind auf Individualebene verfügbar, dabei ist sowohl die Längsschnitt- als auch die Querschnittdimension verfügbar (Schneider et al. 2011). 2. Interventionsstudien: charakteristisch ist hier eine aktive Reduktion von potenziellen Risikofaktoren, wobei der Einfluss dieser Veränderung auf die Erkrankungshäufigkeit bestimmt wird. Dieser „experimentelle“ Ansatz unterscheidet sich grundlegend von den bisher aufgeführten Beobachtungsstudien. Da einschneidende Veränderungen bei Umweltbedingungen jedoch selten sind, ist die Anwendbarkeit von Interventionsstudien begrenzt. Fall-Kontroll-Studien beginnen mit erkrankten Personen (Fällen), die retrospektiv auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Risikofaktoren untersucht werden. Eine Kontrollgruppe, die nicht an dieser Krankheit leidet, wird in exakt der gleichen Weise untersucht. Vorteile im Vergleich zu Kohortenstudien sind, dass FallKontroll-Studien eine relativ kurze Studiendauer haben und somit einen geringeren Aufwand an Personal und Kosten. Außerdem eignen sie sich für Krankheiten, die selten sind oder lange Latenzzeiten aufweisen. Der wichtigste Nachteil von Fall-Kontroll-Studien ist, dass ein größeres Risiko für Verzerrungen besteht, denn

121

durch die retrospektive Expositionserfassung können selektive Erinnerung und selektives Überleben eine Rolle spielen. Zudem ist es manchmal nicht möglich zu bestimmen, ob der Faktor der Krankheit vorausgeht oder umgekehrt. Da die Studienpopulation nicht repräsentativ ist, können FallKontroll-Studien keine bevölkerungsbezogenen Raten wie Inzidenz oder Prävalenz liefern. Spezialfälle von Fall-Kontroll-Studien: 1. Eingebettete Fall-Kontroll-Studien (nested case control studies): Fälle und Kontrollen werden aus einer Kohorte ausgewählt. Dieser Studientyp wird häufig im Rahmen berufsepidemiologischer Kohortenstudien eingesetzt. 2. Case-Only-Studien: Hier werden nur die Fälle betrachtet und auf gemeinsame Risikofaktoren untersucht. Dieser Studientyp wird besonders häufig für Gen-Umwelt-Interaktionen verwendet (Gatto et al. 2004; Piegorsch et al. 1994). 3. Case-Cross-over-Studien: Case-Only-Studien bei denen Studienteilnehmer zugleich als Fall- und Kontrollperson dienen. Dabei wird die Exposition während des Ereigniseintritts (Fall-Periode) mit der Exposition davor und/oder danach (Kontroll-Perioden) verglichen. Dieses Design eignet sich vor allem für seltene, akute Gesundheitsendpunkte (z. B. Herzinfarkt) und hat den Vorteil, dass zeitunabhängige Störgrößen wie Geschlecht oder Alter durch das Studiendesign kontrolliert werden (Gatto et al. 2004; Piegorsch et al. 1994). Bei Querschnittstudien wird aus einer Referenzpopulation eine Stichprobe gezogen, die gleichzeitig auf Risikofaktor und Erkrankung untersucht wird. Bei ausreichend hoher Responserate kann von der Stichprobe auf die Population verallgemeinert und damit die Bedeutung der Risikofaktoren ermittelt werden. Die Studiendauer ist kurz und die Untersuchungen sind mit geringem Kostenaufwand verbunden. Bei diesem Studiendesign ist es jedoch oft nicht klar, ob der Faktor der Krankheit vorausging oder umgekehrt (reverse causality). Studien zur epidemiologischen Überwachung (surveillance) dienen dazu, Auffälligkeiten im Erkrankungsgeschehen in der Bevölkerung zu entdecken. Daten unterschiedlicher epidemiologischer Qualität werden gesammelt, klassifiziert und ausgewertet. So werden in manchen Überwachungssystemen Spontanmeldungen oder Behandlungszahlen genutzt, ohne dass die Personen nach besonderen Kriterien ausgewählt würden. In anderen Fällen arbeitet die Surveillance systematisch mit Registerdaten oder regelmäßig durchgeführten bevölkerungsbezogenen Erhebungen. Wieweit sich diese Daten für weitergehende epidemiologische Auswertungen eignen, muss im Einzelfall geprüft werden. Ökologische Studien verwenden als Einheit nicht Individuen, sondern Populationen. Beziehungen, die dabei gefunden

122

M. Woeckel et al.

werden, sind deshalb nicht ohne weiteres für die einzelnen Mitglieder dieser Populationen gültig. Beispiele für solche Studien, die im Zusammenhang mit umweltmedizinischen Betrachtungen nur von eingeschränktem Wert sind, sind Assoziationsrechnungen auf der Basis administrativer Einheiten (z. B. Kreise, Regierungsbezirke). Nur bei ausreichender Kenntnis über die Verteilung der wichtigsten Risikofaktoren können ökologische Relationen sinnvoll interpretiert werden.

2.3

Nutzung von Routinedaten

Unter Routinedaten versteht man Datensätze, die ursprünglich für einen anderen Zweck erhoben wurden, aber in gewissem Umfang Information epidemiologischer Art enthalten (Schach et al. 1986; Brennecke et al. 1981). Hierzu zählen unter anderem demografische Daten, Daten aus der gesetzlichen Früherkennung oder Krankenversicherungsdaten. Bei Zensusdaten handelt es sich um eine Vollerhebung der Bevölkerung durch eine Volkszählung. Während man beim Registerzensus ohne Befragung der Bevölkerung auf bereits vorhandene Daten aus Melderegistern zurückgreift, wird bei einem rollierenden Zensus in regelmäßigen Abständen ein repräsentativer Teil der Bevölkerung befragt, und auf dieser Datengrundlage Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung gezogen. Administrative Kohorten basieren auf routinemäßig erfassten, allgemeinen Gesundheitsdaten wie z. B. Sterblichkeitsziffern oder Krankenhauseinlieferungen. Sie haben den Vorteil, dass keine gesonderte Erhebung spezifischer Gesundheitsdaten erforderlich ist (Birmili et al. 2014). Zeitreihendaten stellen die zeitabhängige Abfolge von Messungen oder Datenpunkten einer Variable dar. Mit diesen Daten, bei denen es sich meist um Routinedaten handelt, wird der Zusammenhang zwischen kurzzeitigen Änderungen der Exposition und den entsprechenden gesundheitlichen Effekten untersucht (Breitner et al. 2013). Zeitreihenanalysen gehören aus epidemiologischer Sicht zum „ökologischen Studientyp“ (Eis et al. 2010), da sowohl für die Exposition als auch für Gesundheitsendpunkte Daten auf der Ebene aggregierter Populationen verwendet werden. Zwar ist es sinnvoll, solche Daten für epidemiologische Fragestellungen zu nutzen, ihre Aussagekraft darf aber nicht überschätzt werden.

2.4

Messung von Exposition, Outcome und Confoundern

2.4.1 Quantifizierung der Exposition Auf den Menschen wirken alle möglichen Umweltfaktoren ein, die unter Umständen gesundheitliche Schäden hervorrufen können. Dabei gibt es verschiedene Pfade, über welche

die Exposition erfolgt, die jeweils einen eigenen Ansatz zur bestmöglichen Schätzung benötigen (Baker und Nieuwenhuijsen 2008). Sowohl Luftschadstoffe als auch UV-Strahlung, Lärm, oder Temperatur können beim Menschen gesundheitliche Reaktionen hervorrufen. Aber auch über Wasser oder Nahrung kann eine Exposition stattfinden. Belastungen durch die Außenluft spielen traditionell in der Umweltepidemiologie eine wichtige Rolle, da ihnen nahezu jeder Mensch ausgesetzt ist. Üblicherweise werden Partikel nach ihrer Größe eingeteilt, wie beispielsweise PM10-Feinstaub und PM2,5-Feinstaub (Partikel, mit einem aerodynamischen Durchmesser < 10 μm bzw. 2,5 μm) und „ultrafeinen Partikel“ (UFP, < 100 nm Durchmesser). UFP stellen fast 80 % der gemessenen Gesamtpartikelzahl dar, tragen im Gegensatz zu PM2,5und PM10-Feinstaub aber kaum zur Partikelmassenkonzentration bei. Die Partikelfraktionen weisen unterschiedliches Verhalten im menschlichen Atemtrakt auf: größere Partikel neigen dazu, sich in den oberen Regionen des Atemtrakts abzulagern, während PM2,5 die Bronchiolen und die Alveolarregion erreicht und man davon ausgeht, dass UFP über die Alveolen ins Blut übergehen können. Die Gesetzgebung beschränkt sich derzeit auf die Regulierung einiger weniger Luftschadstoffparameter, wie PM10, Stickstoffdioxid (NO2) und Ozon. Die überwiegende Mehrheit der veröffentlichten epidemiologischen Studien verwendet Partikel-Massenkonzentrationen als Indikator für die Exposition gegenüber partikulären Luftschadstoffen, da sie relativ einfach und genau gemessen werden können. Die Partikel in der Außenluft stammen jedoch aus einer Vielzahl von Quellen und unterscheiden sich stark in ihren morphologischen, chemischen, physikalischen und thermodynamischen Eigenschaften. Neuere epidemiologische Studien betrachten daher nicht nur die Gesundheitseffekte regulierter Luftschadstoffparameter, sondern auch die unregulierter Luftschadstoffe wie UFP, sekundärer organischer Aerosole oder Ruß. Für gesetzlich regulierte Luftschadstoffe kann zur Quantifizierung der Exposition vielfach auf bestehende Immissionsmessnetze zurückgegriffen werden, die leicht verfügbar und gut standardisiert sind. Für zeitliche Vergleiche der Luftschadstoffbelastungen an einzelnen Tagen mit den Erkrankungshäufigkeiten an den gleichen Tagen oder mit ein bis zwei Tagen Verzögerung, werden den Personen meist die Messwerte der nächstgelegenen Station zugeordnet. Dass eine solche Vorgehensweise gerechtfertigt ist, da es im Wesentlichen auf die Veränderung von Tag zu Tag ankommt, wurde beispielsweise von Cyrys et al. (2008) gezeigt. Voraussetzung ist dabei, dass das Profil repräsentativ für die Umgebung der Station ist und die mittlere Belastung in dieser Umgebung nicht zu stark variiert. Da wir uns nur ca. 10 % unserer Zeit im Freien aufhalten, ist es für die Quantifizierung der Gesamtexposition wichtig,

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Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

die Belastung in Innenräumen mit zu berücksichtigen (Samet und Spengler 1991; Seifert 1992). Die Innenraumbelastung setzt sich aus Luftschadstoffen aus der Außenluft, die in den Innenraum gelangen, sowie Emissionen aus Quellen in der Wohnung zusammen. Daher sind für jede Person individuelle Angaben zu diesen Innenraumquellen notwendig. Der Aufwand für Messungen in einer großen Zahl von Wohnräumen ist erheblich höher als für Außenluftmessungen, welche die Belastung für eine größere Zahl von Menschen angeben. Darüber hinaus sind Messdaten aus unterschiedlichen Untersuchungen nur bedingt vergleichbar, weil keine Messvorschriften für repräsentative Schadstoffmessungen in Innenräumen existieren. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass für umweltepidemiologische Fragestellungen häufig Messungen über längere Zeiträume erforderlich sind. Hierfür sind meist nur Passivsammler verwendbar, da die Bewohner durch den hohen instrumentellen Aufwand bei Aktivsammlern zu stark belästigt würden. Meist wird die Innenraumbelastung durch standardisierte Fragebögen zu Innenraumquellen kombiniert mit der Messung weniger Komponenten abgeschätzt. In den folgenden Abschnitten werden verschiedene Möglichkeiten zur Erhebung und Schätzung der Luftschadstoffexposition vorgestellt, wobei je nach Methode die erfasste und die tatsächliche Exposition unterschiedlich gut übereinstimmen (Abb. 2). Bei der Klassifizierung der Bevölkerung wird die Bevölkerung in Gruppen entsprechend dem vermuteten Ausmaß der Exposition eingeteilt. Beispiele sind Wohnort (hohe Exposition in der Stadt, niedrigere Exposition auf dem Land), Entfernung des Wohnortes zur nächsten Hauptstraße, oder die Präsenz von Innenraumschadstoffquellen. Diese Methode ist allerdings relativ ungenau und nur eingeschränkt dafür geeignet, die wahre Exposition gegenüber Umweltbelastungen zu schätzen. Beim Monitoring von Außenluftkonzentrationen durch feste Messstationen erfassen eine oder mehrere Messstationen im Studiengebiet die interessierenden Parameter. Für Abb. 2 Übersicht über verschiedene Methoden zur Erfassung der Luftschadstoffexposition (in Anlehnung an Zhou et al. 2009)

123

Kurzzeit-Effekte ergeben sich durch diese Methode relativ gute Schätzungen der Exposition. Da für diese Art von Studien vor allem die Schwankung der Exposition (z. B. von Tag zu Tag) und weniger die Höhe an sich ausschlaggebend ist, können systematische Differenzen zwischen den Werten der Messstation und der tatsächlichen Exposition der Studienteilnehmer vernachlässigt werden. Bei Studien, die gesundheitliche Langzeit-Effekte der Exposition untersuchen, dagegen wird durch eine oder wenige feste Messstationen implizit von einer homogenen Verteilung der Exposition im gesamten Studiengebiet ausgegangen. Da aber in Langzeit-Studien die Auswirkungen räumlicher Unterschiede der Exposition auf die entsprechenden Gesundheitsendpunkte untersucht werden, sind zentrale Messstationen nicht repräsentativ für einzelne Studienteilnehmer. So kommt es gewöhnlich zu einer Über- oder Unterschätzung der individuellen Langzeit-Exposition. Die Schadstoffexposition von Studienteilnehmern kann auch mit Hilfe von statistischen Modellen geschehen. Meistens wird Geoinformations-Software zu Hilfe genommen, um benötigte geografische Daten zu erfassen und zu analysieren: Landnutzungsmodelle (Land-Use Regressionsmodels; LUR): die Exposition wird durch im Studiengebiet verteilte, geocodierte Messstationen erfasst. Nach der Geocodierung von Wohnort oder Arbeitsplatz der Studienteilnehmer werden Pufferzonen um diese Orte berechnet. Für die Pufferzonen wiederum werden Prädiktorvariablen berechnet, die Informationen über Flächennutzung (Wohngebiet, Industrie, Landwirtschaft etc.), Bevölkerungs- und Haushaltsdichte oder den Verkehr beinhalten. Basierend auf den Schadstoffkonzentrationen der Messstationen werden Modelle erstellt, welche die Schadstoffbelastung für jeden Studienteilnehmer individuell schätzen. Diese Modelle können Luftschadstoffexpositionen in hoher räumlicher Auflösung darstellen, jedoch werden chemische und physikalische Prozesse nicht berücksichtigt (Hoek et al. 2008). Dispersionsmodelle Diese Modelle werden auf Grundlage von externen Daten wie Verkehrszähldaten oder industriellen

124

Emissionsquellen erstellt. Unter Berücksichtigung von meteorologischen Daten und topografischen Gegebenheiten werden physikalische Modelle erstellt, die die Verteilung von Schadstoffen über das Studiengebiet, ausgehend von der Emissionsquelle, simulieren. Anhand dieses Modells wird dann die individuelle Exposition der Studienteilnehmer z. B. an der Wohnadresse geschätzt. Dispersionsmodelle haben eine geringere räumliche Auflösung als LUR-Modelle, modellieren dafür aber die Schadstoffverteilung, ausgehend von der jeweiligen Emissionsquelle, anhand von physikalischen und chemischen Parametern (Wang et al. 2015). Hybrid-Modelle Diese kombinieren die Vorteile von LURund Dispersionsmodellen (Wang et al. 2016a). Satellitendaten werden anstelle von lokalen Messstationen verwendet, da vor allem in Bezug auf meteorologische Parameter so Informationen über größere geografische Gebiete hinweg gewonnen werden können (Kloog et al. 2014). Persönliches Monitoring Beim persönlichen Monitoring unterscheidet man einen direkten und einen indirekten Ansatz: Beim direkten Ansatz sind die Studienteilnehmer mit kleinen mobilen Messgeräten ausgestattet, die sie für eine bestimmte Zeit mit sich führen. In Kombination mit Aktivitätstagebüchern kann die individuelle Exposition für den entsprechenden Zeitraum relativ genau bestimmt werden. Der indirekte Ansatz verwendet sog. „micro environments“ (kleinräumige Umgebungen, in denen sich die Person aufhält) in Verbindung mit Aktivitätstagebüchern. Für diese micro environments werden, basierend auf Informationen über Außenschadstoffkonzentrationen, Innenraummessungen, Gebäudecharakteristika und meteorologischen Parametern, Expositionsmodelle für die Zeit, in der sich der Studienteilnehmer dort aufhält, geschätzt (Breen et al. 2015). Biologisches Monitoring Bei Schadstoffen, die in den Körper aufgenommen werden, kann das biologische Monitoring, also die Messung der inneren Belastung, zur Quantifizierung der Exposition herangezogen werden (Ewers et al. 1992). Hierbei wird die Konzentration von Schadstoffen in Körperflüssigkeiten wie Blut, Urin oder Sputum, in Haaren oder im Fettgewebe bestimmt. Für eine große Zahl von Schwermetallen, anorganischen und organischen Verbindungen stehen mittlerweile ausreichend empfindliche Bestimmungsverfahren zur Verfügung. Die Aussagekraft des Biomonitoring ist dadurch begrenzt, dass man nicht feststellen kann, auf welchem Weg der Schadstoff in den Körper gelangt ist. In den letzten Jahren hat sich der Begriff des „Exposom“ etabliert, der 2005 von Christopher Paul Wild eingeführt wurde (Wild 2005). Das Exposom bezeichnet damit alle Umweltexpositionen, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist, beginnend noch vor seiner Geburt. Eingeschlossen sind hierbei auch Lebensstilfaktoren. Das

M. Woeckel et al.

Exposom ist als Ergänzung des Begriffs „Genom“ gedacht, das die Gesamtheit der Gene eines Menschen umfasst. Ziel ist es, zur Erfassung der individuellen Exposition ebenso präzise Methoden zu entwickeln wie für die Charakterisierung des menschlichen Genoms, um das bestehende Ungleichgewicht zwischen der Messung der Gene und der Exposition zu verringern. Hierzu gehören Sensoren für persönliches Messungen, Biomarker und „OMICS“-Technologien. Die große Herausforderung bei der Erfassung des Exposoms besteht darin, dass es im Gegensatz zum Genom sehr dynamisch und variabel ist und sich im Lauf des Lebens ständig ändert (Wild 2005).

2.4.2 Messung von Outcomes Um den Zusammenhang zwischen Exposition und Gesundheitsendpunkt zu untersuchen, muss auch der Gesundheitsendpunkt möglichst exakt erfasst werden. Nur so wird gewährleistet, dass die Expositions-Wirkungs-Beziehung epidemiologisch analysiert werden kann. Man kann sich die Gesundheitseffekte wie einen Eisberg vorstellen (Abb. 3). „Unter Wasser“ sind diejenigen Effekte, die zwar am wenigsten schwerwiegend sind, dafür aber häufig auftreten. Ansteigend werden die Effekte immer gravierender, jedoch mit einem verhältnismäßig geringeren Anteil der Bevölkerung, die davon betroffen ist. Als „Spitze des Eisbergs“ kann die Mortalität betrachtet werden. Das Auftreten von subklinischen Effekten wie erhöhten Entzündungsparametern oder eingeschränkten Körperfunktionen werden von den betroffenen Personen nicht bemerkt. Um diese zu erfassen sind entsprechende Laboruntersuchungen nötig. Körperliche Symptome wie z. B. Husten hingegen werden von den betroffenen Personen sehr wohl wahrgenommen. Deshalb können Symptome und damit einhergehende Reaktionen wie das Aufsuchen eines Arztes oder die Einnahme von Medikamenten im Rahmen von (epidemiologischen) Studien durch Befragung oder das Ausfüllen eines Fragebogens erhoben werden. Gravierende Gesundheitsendpunkte wie das Aufsuchen der Notaufnahme, Krankenhausaufenthalte oder Mortalität werden routinemäßig erfasst, beispielsweise durch Sterberegister. Deshalb wird bei der Untersuchung dieser Endpunkte auf Routinedaten zurückgegriffen. Eine gute Übersicht über die wichtigsten Outcomes im Zusammenhang mit Luftschadstoffen findet sich in Rückerl et al. (2011). Grundsätzlich unterscheidet man akute und chronische Effekte. Akute Effekte, auch als Kurzzeit-Effekte bezeichnet, treten sofort oder innerhalb weniger Stunden/Tage nach der Exposition durch die Umweltnoxe auf. Chronische oder Langzeit-Effekte treten nicht direkt nach Beginn der Exposition durch die Umweltnoxe ein, sondern erst mit einer zeitlichen Verzögerung von Monaten oder auch Jahren. Dabei wird der Zeitraum zwischen dem Erstkontakt mit der Umweltnoxe bis zum Auftreten der ersten, meist subklini-

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Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

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Abb. 3 „Eisberg“ möglicher Gesundheitseffekte (in Anlehnung an Larrieu et al. 2009)

schen Gesundheitseffekte, als Induktionsperiode bezeichnet; der Zeitraum nach der Induktionsperiode, bis der Gesundheitsendpunkt klinisch in Erscheinung tritt, wird als Latenzperiode bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit, einen akuten oder chronischen Gesundheitsendpunkt als Folge einer Exposition durch einen Umweltschadstoff zu entwickeln, wird auch als „Empfindlichkeit“ (susceptibility) bezeichnet. Bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Kinder, ältere Menschen oder Menschen mit chronischen Erkrankungen weisen eine höhere „Empfindlichkeit“ auf als der Bevölkerungsdurchschnitt (Baker und Nieuwenhuijsen 2008).

2.4.3 Messung von Confoundern (Störgrößen) In der Umweltepidemiologie ist es von besonderer Bedeutung, Risikofaktoren, die ebenfalls zu den zu untersuchenden gesundheitlichen Veränderungen führen können, ebenso zu erfassen wie die interessierenden Schadstoffe. Zu diesen Risikofaktoren zählen individuelle Verhaltensweisen wie beispielsweise Rauchen, Arbeitsplatzexposition und unspezifische Kenngrößen wie etwa der Sozialstatus. Wenn derartige Störgrößen nicht in adäquater Weise berücksichtigt werden, kann es zu einer Verzerrung der Ergebnisse und somit zu Fehlinterpretationen kommen (Abschn. 2.4.4). Welche Störgrößen von Bedeutung sind, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Eine zentrale Frage, die sich in der Umweltepidemiologie stellt, wenn es um den Zusammenhang zwischen Einfluss- und Zielgröße geht, ist,

ob der jeweilige Zusammenhang als kausal betrachtet werden kann. Da Fortschritte in der epidemiologischen Methodik gezeigt haben, dass das klassische Confounder-Modell, in dem für ein gegebenes Set an potenziellen Störgrößen adjustiert wird, nicht immer geeignet ist, den statistischen Fehler zu minimieren, werden zunehmend alternative Ansätze verwendet, um die Anwesenheit unbeobachteter Störgrößen möglichst auszuschließen (Shrier und Platt 2008; VanderWeele et al. 2008). Eine Möglichkeit dafür ist die grafische Methode der DAGs. Dabei werden kausale Beziehungen zwischen zwei Variablen als unidirektionaler Pfeil dargestellt, das heißt, dass die Variable am Pfeilende die Variable an der Pfeilspitze bedingt. Variablen, die in keiner direkten und kausalen Beziehung zueinander stehen, bleiben unverbunden. Somit entsteht ein Netzwerk an Variablen, in dem alle potenziell kausalen Zusammenhänge durch einen gerichteten Pfeil dargestellt sind. Wird dabei eine Variable innerhalb des Netzwerks identifiziert, die sowohl die Einfluss- als auch die Zielgröße bedingt, gilt diese innerhalb des betrachteten Sets an Kovariablen als Störgröße (siehe auch Abb. 1) (Hernan et al. 2002). DAGs werden heute häufig im Zusammenhang mit dem Begriff „causal inference“ genannt. Dabei handelt es sich um die Anwendung spezieller Methoden, die auf formalisierte Art die Entscheidung, ob ein kausaler Zusammenhang besteht oder nicht, erleichtern sollen. Zu solchen Methoden, die sich

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M. Woeckel et al.

Tab. 1 Übersicht über verschiedene Arten des Bias Art des Bias Auswahl-Bias (selection-bias)

Entstehung/Ursachen Untersuchte Gruppen sind bzgl. Exposition, Risikofaktoren oder Gesundheitsendpunkt nicht vergleichbar

Auswirkungen Systematische Über- oder Unterschätzung des Risikos

Informations-Bias (informations bias)

Erhebung von Exposition, Risikofaktoren oder Gesundheitsendpunkt unterscheidet sich systematisch bei den untersuchten Gruppen

Systematische Über- oder Unterschätzung des Risikos

Unberücksichtigte Störgrößen (confoundingbias)

Einflussfaktoren, die sowohl die Exposition als auch den Gesundheitsendpunkt beeinflussen, werden nicht berücksichtigt

Verzerrung der Studienergebnisse, die Richtung der Verzerrung ist nicht bestimmbar

Beispiel Studienteilnehmer ziehen aufgrund einer Lungenerkrankung in Wohngebiete mit weniger Luftverschmutzung ! Unterschätzung der Effekte Gesunde Studienteilnehmer werden bezüglich des Gesundheitsendpunktes als krank eingestuft oder vice versa. Häufig bei Erkrankungen ohne standardisierte Diagnosekriterien Einfluss von Luftschadstoffen auf das Lungenkrebsrisiko ohne Berücksichtigung von Rauchen: Rauchen ist ein Risikofaktor für Lungenkrebs (beeinflusst also Risiko für Gesundheitsendpunkt), außerdem wohnen Raucher öfter in Gebieten mit hoher Luftschadstoffexposition (beeinflusst somit auch Risiko für Exposition) (Wichmann et al. 1991)

in den Beispielen alle auf die Anwendung in Luftschadstoffstudien beziehen, gehören „regression discontinuity“ (Chen et al. 2018), „propensity score matching“ (Baccini et al. 2017), „difference-in-differences“ (Wang et al. 2016b) und der „instrumental variable“-Ansatz (Schwartz et al. 2018). Wie sinnvoll es ist, die Entscheidung, ob ein Zusammenhang kausal ist oder nicht, allein basierend auf diesen formalisierten Methoden zu treffen, wird aber kontrovers diskutiert (Vandenbroucke et al. 2016). Der Fokus der Mediationsanalyse liegt hingegen auf dem Einfluss-Zielgrößen-Zusammenhang. Hier werden die Mechanismen untersucht, die diesem Zusammenhang zu Grunde liegen, und es wird aufgezeigt, wie sie in Verbindung stehen. Dabei wird angenommen, dass es einen Mediator gibt, der auf dem kausalen Pfad zwischen Einfluss- und Zielgröße liegt. Um deren Zusammenhang zu verstehen, muss deshalb auch der jeweilige Zusammenhang zwischen Einfluss- und Zielgröße zu dem Mediator analysiert werden. Ein Mediator muss folgende Kriterien erfüllen:

nehmer (selection bias), Verzerrung durch ungenaue Information (information bias) und unberücksichtigte Störgrößen (confounding bias), diese werden in Tab. 1 beschrieben. Durch Paarbildung oder Matching können Verzerrungen im Rahmen der Studienplanung verringert werden. Durch Zusatzkriterien bei der Auswahl der Studienteilnehmer wird erreicht, dass bestimmte Variablen in den zu vergleichenden Gruppen gleichverteilt sind. So wird der Einfluss dieser Variablen durch das Studiendesign ausgeschaltet. Durch eine möglichst standardisierte Erhebung der Exposition kann man dem Informationsbias entgegenwirken.

1. Änderungen der Einflussgröße haben einen statistisch signifikanten Effekt auf den Mediator. 2. Der Einfluss des Mediators auf die Zielgröße ist ebenfalls statistisch signifikant (Abb. 1) (Valeri und Vanderweele 2013; Baron und Kenny 1986; MacKinnon 2008).

" Definition Repräsentativität Die Repräsentativität kenn-

2.5

Qualitätskriterien und Stichprobenumfang

Um epidemiologische Untersuchungen beurteilen zu können, werden verschiedene Kriterien definiert, mittels derer die Qualität der Untersuchungen geprüft werden kann. Üblicherweise verwendet man die nachfolgenden Definitionen:

zeichnet das Vermögen, von einer gezogenen Stichprobe auf die Zielgesamtheit rückschließen zu dürfen. " Definition Responserate Die Responserate gibt den

2.4.4 Verzerrungsmöglichkeiten (Bias) Bei epidemiologischen Untersuchungen ist immer zu prüfen, ob und wann es zu einer Verfälschung von Studienergebnissen kommen kann. Ein Bias oder eine Verzerrung einer Studie tritt auf, wenn das Studienergebnis von der wahren Situation abweicht. Üblicherweise unterscheidet man drei Verzerrungsquellen, nämlich die Auswahl der Studienteil-

Anteil der Probanden an, der an der Untersuchung teilnimmt, im Verhältnis zur Gesamtzahl der Probanden in der Stichprobe. " Definition Validität Als Validität (Gültigkeit) bezeichnet

man das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen einer

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Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Messmethode (z. B. Fragebogen) und dem, was die Methode zu messen beabsichtigt. " Definition Reliabilität Im Gegensatz dazu ist die Reliabi-

lität ein Maß für die Stabilität einer Messung bei Wiederholung unter gleichbleibenden Bedingungen. " Definition Sensitivität Die Sensitivität (Empfindlichkeit)

ist die bedingte Wahrscheinlichkeit, mit einem Test eine kranke Person als krank zu erkennen. " Definition Spezifität Die Spezifität ist die bedingte Wahr-

scheinlichkeit, mit einem Test eine gesunde Person als gesund einzustufen. " Definition prädiktiver Wert (positiv) Unter dem prädikti-

ven Wert eines positiven Testresultats versteht man die Wahrscheinlichkeit, dass eine Test-positive Person tatsächlich krank ist. " Definition prädiktiver Wert (negativ) Demgegenüber

kennzeichnet der prädiktive Wert eines negativen Testresultats die Wahrscheinlichkeit, dass eine Test-negative Person tatsächlich gesund ist. " Definition Varianz Die Varianz oder Genauigkeit ist die

entscheidende Beurteilungsgröße für das Ergebnis einer statistischen Untersuchung. Sie wird einerseits von der Variabilität der Individuen und andererseits vom Stichprobenumfang bestimmt. Damit ist die Abschätzung des Stichprobenumfangs, der notwendig ist, um bei vorgegebener Varianz eine Assoziation entdecken zu können, von großer Bedeutung. Die Abschätzung des notwendigen Stichprobenumfangs für eine geplante Studie ist ein mathematisch und statistisch komplexes Problem. Spezielle Software steht zur Auswahl, um den Stichprobenumfang zu schätzen, der benötigt wird, um mit einer bestimmten statistischen Power eine bestimmte Effektgröße darzustellen. Programme wie G*Power (http:// www.gpower.hhu.de/), PS (http://biostat.mc.vanderbilt.edu/ wiki/Main/PowerSampleSize) oder PASS (https://www. ncss.com/software/pass/) sind speziell auf die Berechnung von statistischer Power und Stichprobenumfang ausgerichtet. Aber auch statistische Software wie R (https://www.r-project. org/; ‚pwr‘ Package), SAS (https://www.sas.com/en_us/soft ware/stat.html; POWER Procedure) und STATA (https://

127

www.stata.com/; PSS) bieten Tools für die Schätzung von Stichprobenumfang und Power.

3

Ergebnisse und Interpretation umweltepidemiologischer Studien

Die Interpretation einer epidemiologischen Studie stellt, aufgrund ihres beobachtenden Designs, eine zusätzliche Herausforderung dar. Eine adäquate Bewertung der Studienergebnisse setzt Erfahrung voraus, zumal eine Studie selten isoliert betrachtet werden kann, sondern im Kontext mit anderen Befunden zu sehen ist. Besonders wichtig sind statistische, biologische und bevölkerungsbezogene Aussagen sowie die Kausalität der Ergebnisse.

3.1

Statistische Aussagen

Die statistische Auswertung einer epidemiologischen Studie ist unproblematisch, wenn die Fragestellung klar ist. Daher ist es wichtig, diese vorab als Hypothese zu formulieren und festzulegen, wie die Analyse erfolgen soll. Wurde dieser Grundsatz bei der Studienplanung berücksichtigt, kann die Hypothese auf dem vorgegebenen Signifikanzniveau statistisch getestet werden. Das Signifikanzniveau, das üblicherweise 5 % beträgt, gilt für den Fehler erster Art. Dieser gibt die Wahrscheinlichkeit an, fälschlich einen Zusammenhang zu finden, der in Wirklichkeit nicht existiert. Ein statistisch nicht signifikantes Ergebnis bedeutet allerdings nicht, dass kein Zusammenhang zwischen der Exposition und der vermuteten Wirkung besteht, sondern es bedeutet, dass kein Zusammenhang gefunden wurde. Dies kann daran liegen, dass wirklich kein Zusammenhang gegeben ist, es ist aber auch möglich, dass die verwendeten Untersuchungsinstrumente zu „stumpf“ waren, dass der Studienansatz ungünstig gewählt wurde, dass der Studienumfang nicht ausreichte etc. Der Fehler zweiter Art gibt an, mit welcher Irrtumswahrscheinlichkeit aus dem Nichtfinden eines Zusammenhangs auf das Fehlen eines Zusammenhangs geschlossen werden kann. Um den Fehler zweiter Art klein zu halten, ist es erforderlich, trennscharfe Untersuchungsmethoden zu verwenden und den Studienumfang ausreichend groß zu machen. Eine gut geplante Studie mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 % für den Fehler erster Art und von 10 % für den Fehler zweiter Art ist in der Lage, bei positivem wie bei negativem Ausgang eine klare Aussage zu liefern. Werden allerdings viele statistische Vergleiche durchgeführt („multiples Testen“), sind Aussagen zur Irrtumswahrscheinlichkeit erschwert oder unmöglich, da rein zufällig eine Anzahl von Tests signifikante Ergebnisse zeigen wird. Man kann dieses

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M. Woeckel et al.

Problem teilweise durch eine entsprechende Anpassung der Irrtumswahrscheinlichkeit umgehen (Hartung et al. 1991).

3.2

Biologische Aussagen

Ein statistisch signifikanter Zusammenhang muss nicht zwangsläufig biologisch bedeutsam sein. Auf der anderen Seite kann ein nicht-signifikanter, angedeuteter Zusammenhang biologisch sehr wohl von Belang sein. Bei der Interpretation von Studienergebnissen ist es deshalb wichtig, sich über die biologisch-medizinische Relevanz der Ergebnisse klar zu werden. Biologisch ist zunächst der Schweregrad der Auswirkungen von Bedeutung. So ist eine Umweltbelastung, die zum Auftreten schwerer Erkrankungen führt, anders zu bewerten als eine solche, die von den untersuchten Personen gar nicht wahrgenommen und nur durch die Anwendung empfindlicher Untersuchungstechniken nachgewiesen wird. Auf der anderen Seite kann eine Vielzahl solcher kleinen, klinisch irrelevant scheinenden Veränderungen auf eine gestörte Körperfunktion deuten. Viele kleine Effekte können sich aufaddieren und beispielsweise zu einem Fortschreiten einer Krankheit beitragen. Darüber hinaus können durch die Beobachtung von kleinen, aber konsistenten Veränderungen, Hypothesen für mögliche zugrunde liegende pathophysiologische Pfade generiert werden.

3.3

Bevölkerungsbezogene Aussagen

Während das relative Risiko die biologisch-medizinische Bedeutung der Exposition für den Einzelnen angibt, ist das attributable Risiko ein Maß für bevölkerungsbezogene Auswirkungen. Mit seiner Hilfe lassen sich Aussagen über die Zahl Betroffener machen, und es lassen sich hieraus Prioritäten für gesundheits- und umweltpolitisches Handeln ableiten.

3.4

Kausalität

Die Epidemiologie ist nur in der Lage, Zusammenhänge zwischen Einflussgrößen, Störgrößen und Zielgrößen aufzuzeigen. Dies stellt aber noch keine Kausalität dar. Der Kausalitätsbegriff in der Epidemiologie wird daher meistens eher graduell im Sinne von zunehmender Evidenz verstanden. Hierzu liegen verschiedene Kriterienkataloge vor. Während die „klassischen“ Kriterien für Kausalität wie Stärke des Effekts, Folgerichtigkeit, Spezifität, (biologische) Plausibilität und Kohärenz von Bradford und Hill bereits 1965 aufgestellt wurden (Hill 1965) hat die US-amerikanische Umweltbehörde EPA („Environmental Protection Agency“) im Jahr 2016 Kriterien veröffentlicht, anhand derer die Kausalität

eines Zusammenhangs mittels gewichteter Evidenz bestimmt wird: Ein kausaler Zusammenhang (causal) zwischen der Exposition und dem Gesundheitsendpunkt wird angenommen, wenn der Einflussfaktor eindeutig zu dem entsprechenden Gesundheitsendpunkt führt, und der Einfluss von Störgrößen und anderen statistischen Fehlern auf den kausalen Pfad definitiv ausgeschlossen werden kann. Diese Aussage kann entweder anhand von kontrollierten Expositionsstudien mit konsistenten Effekten, oder anhand von Observationsstudien mit eindeutigen Effekten getroffen werden, wobei ausgeschlossen werden muss, dass die Effekte durch plausible Alternativen oder andere Wirkungsketten erklärt werden können. Es sollte sich um mehrere, qualitativ hochwertige Studien aus unterschiedlichen Forschungsgruppen handeln. Ein wahrscheinlich kausaler Zusammenhang (likely to be causal) besteht, wenn ausreichende Evidenz vorhanden ist, dass der jeweilige Gesundheitsendpunkt sehr wahrscheinlich durch den entsprechenden Einflussfaktor kausal verursacht wird. Dieser Fall liegt vor, wenn der Einflussfaktor eindeutig zu dem Gesundheitsendpunkt führt und der beobachtete Effekt nicht durch Störgrößen oder statischen Fehler erklärt werden kann, jedoch einige Zweifel vorliegen. Beispiele sind zum einen Observationsstudien, die zwar einen eindeutigen Zusammenhang aufzeigen, bei denen jedoch die Exposition gegenüber weiteren Schadstoffen unklar ist, und keine anderen Quellen für Evidenz wie kontrollierte Expositionsstudien an Menschen oder Tieren verfügbar sind. Zum anderen, wenn die Evidenz auf Tierstudien oder In-vitro-Studien beschränkt ist. Basis für diese Aussage bilden mehrere, qualitativ-hochwertige Studien. Ein vermuteter, aber nicht hinreichend kausaler Zusammenhang (suggestive) liegt vor, wenn ein Zusammenhang zwischen Einflussvariable und Gesundheitsendpunkt vorhanden ist, der Einfluss von Störgrößen und ein statistischer Fehler oder Zufall jedoch nicht ausgeschlossen werden können. Gibt es wenig hinreichende Evidenz, beispielsweise durch eine epidemiologische oder toxikologische, qualitativ hochwertige Studie an Menschen oder Tieren, oder anhand unterschiedlicher Studien mit eingeschränkter Qualität und inkonsistenten Ergebnissen, ist ein kausaler Zusammenhang nur sehr eingeschränkt belegbar. Inadäquate Evidenz (inadequate) liegt vor, wenn die Studienlage bezüglich der Qualität, Quantität, Konsistenz der Ergebnisse oder fehlender statistischer Power keine hinreichenden Rückschlüsse auf die Präsenz oder Absenz eines Zusammenhangs zulässt.

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Umweltepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften

Wahrscheinlich kein kausaler Zusammenhang (not likely to be causal) liegt vor, wenn zahlreiche, qualitativ hochwertige Studien für verschiedene Populationen und Expositionssettings konsistent keinen Effekt für eine bestimmte ExpositionWirkungs-Beziehung aufzeigen (U.S. EPA 2016).

4

Grenzen der Umweltepidemiologie

Für umweltepidemiologische Studien ergeben sich natürlich einige Limitationen, die hier zusammengefasst werden sollen. Da es in der Umweltepidemiologie in der Regel um den Nachweis kleiner Risiken geht, muss in der jeweiligen Studie die Zahl betroffener Personen entsprechend groß sein, um ausreichend Power zu haben, die vorhandenen Wirkungen nachzuweisen. Der erste Schritt besteht in der Quantifizierung der Exposition der Studienteilnehmer. Diese gelingt nur lückenhaft und ungenau, wenn keine personenbezogenen Messungen vorliegen, und muss methodisch möglichst exakt rekonstruiert werden. Im zweiten Schritt sind geeignete Gesundheitsparameter zu bestimmen. Das setzt beim Arbeiten mit Symptomen und Krankheiten gleichartige und, wenn möglich, standardisierte diagnostische Kriterien für alle Studienteilnehmer voraus, wobei insbesondere bei Langzeit-Erhebungen die Gültigkeit der erhobenen Gesundheitsparameter über den entsprechenden Zeitraum sichergestellt werden muss. Im dritten Schritt sind die wichtigsten Störgrößen sorgfältig zu erfassen, um Verzerrungen der Studienergebnisse zu vermeiden. Allgemein muss immer die Frage gestellt werden, ob ein ausreichend großer Stichprobenumfang gewählt wurde, um die Fragestellung mit ausreichender Teststärke beantworten zu können, und ob die eingesetzten Instrumente empfindlich genug waren. Zur Durchführung systematischer Reviews sowie für Studien zum Gesundheitsschutz empfehlen Morgan et al. (2018) das sog. PECO-Konzept, wobei PECO für Population, Exposure, Comparator und Outcomes steht. In diesem Konzept werden die PECO-Variablen und damit auch die Fragestellung zu Beginn der Studie genauestens definiert, um sicherzustellen, dass die Forschungsarbeit die gesuchte Antwort liefert.

5

Fazit und Ausblick

Die Umweltepidemiologie stellt neben der Umwelttoxikologie die zweite Säule der Umweltmedizin dar. Ihr Vorteil liegt in der direkten Untersuchung realer Umweltbelastungen auf die davon betroffenen Menschen; ihr Nachteil ist in der über-

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wiegend beobachtenden Vorgehensweise zu sehen, bei welcher mit vorgegebenen, komplexen Expositionsbedingungen gearbeitet werden muss. Die Umweltepidemiologie sieht sich heutzutage zahlreichen Herausforderungen wie dem demografischen Wandel oder der zunehmenden Verfügbarkeit von Daten gegenüber. Dabei stellt sich die Frage, wie auf diese Veränderungen adäquat reagiert werden kann. Dies bezieht sich sowohl auf statistische als auch beispielsweise ethische Problemstellungen. Der folgende Text soll einige dieser Themen näher besprechen und lehnt sich an die Veröffentlichung von Tonne et al. (2017) an. So ist der weltweite demografische Wandel, der in den kommenden Jahren zu einer Veränderung der Bevölkerungsund Altersstruktur in den meisten Ländern führen wird und bereits heute deutlich sichtbar ist, ein zentrales Thema. Durch die steigende Lebenserwartung werden Gesellschaften im Durchschnitt immer älter, zudem findet ein Großteil des prognostizieren Bevölkerungswachsums in wenig entwickelten Ländern statt. Da für diese Länder wenig Daten über die Exposition gegenüber Umweltschadstoffen und deren Folgen für die Gesundheit verfügbar sind, gilt es auch dort geeignete Strukturen zur Erfassung entsprechender Daten aufzubauen (UN 2018). Auch Veränderungen in Umwelt und Klima stellen die Umweltepidemiologie vor neue Herausforderungen. Der Klimawandel, von Costello et al. bereits 2009 als die „größte globale Gesundheitsbedrohung des 21sten Jahrhunderts“ bezeichnet, hat direkte Auswirkungen auf die Gesundheit. So steigt das Risiko für hitzebedingte Mortalität aufgrund eines gehäuften Auftretens von extremen Hitzewellen (IPCC 2018). Durch eine zunehmend alternde Gesellschaft in Verbindung mit einer Zunahme der in Städten lebenden Bevölkerung, sind mehr potenziell gefährdete Menschen Hitzewellen ausgesetzt (Watts et al. 2015; UN 2014). Die sich in hoher Geschwindigkeit weiterentwickelnden Technologien sorgen ebenfalls für Veränderungen, die sich auch in der Umweltepidemiologie bemerkbar machen. So werden OMICS-Technologien seit einigen Jahren immer günstiger, wodurch sich deren Verfügbarkeit entsprechend erhöht. OMICS kommt aus dem angelsächsischen Sprachraum und beschreibt die Gesamtheit oder den Großteil einer Dimension von Umwelt-, Verhaltens-, Sozial- oder biologischen Variablen (beispielsweise Genomics, Exposomics, Epigenomics, Proteomics, Metabolomics, Transcriptomics, Glycomics). Dadurch lassen sich individuelle OMICS-Profile für jeden Studienteilnehmenden erstellen, um beispielsweise Exposition oder auch genetische Dispositionen detailliert zu erfassen und auszuwerten (Chen et al. 2012). Ein weiteres Schlagwort ist der Begriff „Big Data“. Durch die Fülle der beispielsweise durch OMICS-Technologien oder administrative Kohorten (Abschn. 2.3) generierten Daten ist es notwendig, auch die statistische Methodik entsprechend anzu-

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passen. Deshalb ist eine der neuen Herausforderungen die Auswertung von hochdimensionalen Daten, also Datensätzen, die mehr Variablen als Teilnehmer umfassen. Bei einer solchen Datenstruktur liefert eine Maximum-LikelihoodSchätzung, unter anderem wegen hoher Korrelationen zwischen den Variablen, keine konsistenten Ergebnisse (Fan et al. 2014). Methoden wie Datenreduzierungsverfahren werden benötigt, um diesem Problem beizukommen. Was jedoch nicht vergessen werden darf, ist, dass eine Fülle an sensiblen Informationen erfasst und ausgewertet wird. Um den sich daraus ergebenden Anforderungen an den Datenschutz gerecht zu werden, ist ein enger Schulterschluss zwischen Wissenschaftlern und Institutionen wie dem Ethikrat von zentraler Wichtigkeit, um den Schutz sensibler Daten zu gewährleisten.

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Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung

11

Philipp Mayring

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

2

Unzulänglichkeit einseitig quantitativer bzw. qualitativer Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . 133

3

Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

4 Mixed Methods bzw. Triangulationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.1 Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.2 Verschiedene Modelle der Kombination und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5

Beispiel: Qualitative Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

6

Gütekriterien für Triangulation und Mixed Methods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

7

Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

1

Einleitung

In der Gesundheitsforschung werden ganz verschiedene methodische Ansätze diskutiert, von statistischen Berechnungen und quantitativen Designs über epidemiologische Analyseansätze bis zu qualitativen Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie Evidenz darstellen, also empirische, aus der Erfahrung gewonnene Erkenntnisse über Bedingungen, Tatsachen und Prozesse im Feld. Sie sind entscheidend für Einschätzungen und Interventionen im Gesundheitsbereich und sind gerade dort von zentraler Bedeutung, da Fehleinschätzungen oder unangemessene Interventionen zu menschlichem Leiden führen können. Die Beurteilung der Angemessenheit der Methoden in der Gesundheitsforschung ist dabei nicht nur wichtig für in

P. Mayring (*) Institut für Psychologie und Zentrum für Evaluation, Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected]

der Forschung Tätige, sondern auch für Praktiker, die täglich entscheiden bzw. handeln müssen.

2

Unzulänglichkeit einseitig quantitativer bzw. qualitativer Forschungsmethoden

Die Diskussionen um die angemessenen Forschungsmethoden in den Human- und Sozialwissenschaften reichen weit zurück (vgl. Mayring 2016). Es lassen sich Phasen mit eher qualitativer und eher quantitativer Orientierung unterscheiden: Die Aristotelische Wissenschaftslehre, seit dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis ins Mittelalter zentrale Methodologie aller Wissenschaften, kann als Vorgangsweise gekennzeichnet werden, die heute als typisch qualitativ eingeordnet wird: einzelne Fälle werden beschrieben und induktiv daraus Kategorien abgeleitet, zu denen die Fälle zugeordnet werden. Anfang des 17. Jahrhunderts haben Galileo Galilei und René Descartes dagegen für alle Einzelwissenschaften das naturwissenschaftlich-quantitative Denken grundgelegt, nach dem einzelne Variablen exakt gemessen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_12

133

134

P. Mayring

und Variablenzusammenhänge als allgemeine Naturgesetze deduktiv experimentell überprüft werden. Giambattista Vico hat dann in seine „neuen Wissenschaft“ von 1744 das kartesianische Vorgehen kritisiert und ein kultur- und humanwissenschaftliches Verständnis dagegengestellt. Danach sind wissenschaftliche Gegenstände immer in ihrer historischen Gewordenheit und ihrer menschlichen Gemachtheit zu verstehen. Sprache, Kultur und Gesellschaft sind die Folien der Analyse. Mit dem Positivismus des 19. Jahrhunderts schlägt das Pendel wieder in die quantitative Richtung. Auguste Comte und John Stuart Mill formulierten ein Wissenschaftsverständnis, für das direkt wahrnehmbare Fakten den Ausgangspunkt für Analysen mit streng logischer, mathematischer Methodik bilden. Gleichzeitig aber formiert sich mit der Hermeneutik ein wieder qualitativ orientiertes Verständnis, das Wissenschaft als „Kunstlehre des Verstehens“ (Friedrich Schleiermacher) konzipiert, in dem Erkenntnis als Weiterentwicklung des eigenen Vorverständnisses im Sinne eines hermeneutischen Zirkels verstanden wird. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich sozialwissenschaftliche Einzeldisziplinen eher einer quantitativen Methodik zugewandt. In Psychologie und Medizin waren dies physiologische Messungen und Laborexperimente, in der Soziologie groß angelegte Surveystudien mit Fragebögen. Qualitative Methoden sind dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder verstärkt formuliert worden. Die Grounded Theory mit ihrer Methodik explorativer Theorieentwicklung war hier bahnbrechend, die eher beschreibende feldstudienorientierte Ethnografie, Biografieforschung und Qualitative Inhaltsanalyse folgten. Wir stellen ein Hin und Her der Methodenorientierung und Wissenschaftstheorie in den Human- und Sozialwissenschaften fest. Vielleicht ist die verstärkte Diskussion von Mixed-Methods-Ansätzen im 21. Jahrhundert die logische Folge daraus. Die Unzulänglichkeit eines einseitig qualitativen bzw. einseitig quantitativen Wissenschaftsverständnisses wird aus der Analyse der gegenseitigen Kritikpunkte klar. Ich möchte vier Kontroversen skizzieren: Zentraler Diskussionspunkt in der Qualitativ-quantitativDebatte ist der Grad an Offenheit in der Methodik. Vertreter des qualitativen Paradigmas betonen, dass die Forschungsmethodik variabel an den Gegenstand angepasst werden Abb. 1 Zirkulär-linearer Forschungsverlauf

muss und Veränderungen des Vorgehens beim Auftreten neuer Aspekte möglich sein müssen. Uwe Flick (2007) bezeichnet dies als zirkulären Ansatz: Von der Fragestellung aus bewegen wir uns ins Forschungsfeld, differenzieren oder erweitern die Fragestellung und gehen mit einem erneuten methodischen Ansatz ins Feld. Flick grenzt dies ab vom linearen Modell, nach dem Fragestellung und vorab festgelegte Methodik rigide beigehalten werden, was typisch für das quantitative Paradigma sei. Dem widersprechen quantitativ orientierte Vertreter vehement. Wenn Fragestellungen oder Methodik im Verlauf einer Studie abgeändert werden, so sind die Ergebnisse nicht mehr für die ursprüngliche Untersuchungsanlage gültig. Die Gegenpositionen lassen sich allerdings gut vereinigen (Mayring 2018a). Denn auch quantitative Studien brauchen Vorstudien, um die Passung von Fragestellung und Methodik zu überprüfen; und qualitative Studien, wollen sie nicht nur hypothesengenerierend sein, brauchen eine lineare Beantwortung ihrer Fragestellung durch die Ergebnisse. Daraus wird das Bild einer Schleife am Beginn mit einem linearen Ausgang (Abb. 1). Wenn, wie in der Regel der Fall, im zweiten Durchgang die Methodik verändert wird, haben wir damit ein typisches Mehrmethodenmodell (Abschn. 4.2) verfolgt. Eine zweite Kontroverse betrifft die Komplexität der Untersuchungsanlage. Quantitativer Forschung wird oft vorgeworfen, den Gegenstandsbereich vorschnell auf einige wenige Variablen zu reduzieren, da dies einfacher zu analysieren sei. Oft werden dann Korrelationen zweier Variablen berechnet, um einen linearen Zusammenhang zu prüfen. Aber schon für den naturwissenschaftlichen Bereich geht man heute davon aus, dass die meisten Zusammenhänge nicht linear sind (Chaostheorie; z. B. Toifl 1995). Der Vorwurf qualitativer Forschung an quantitative, sie würde der Komplexität des Gegenstandsbereiches nicht adäquat sein (z. B. Flick 2007), greift aber zu kurz, wenn man modernere Designansätze betrachtet. Danach lassen sich auch nicht lineare Zusammenhänge korrelativ, und verschiedene Zusammenhangsanalysen lassen sich zu komplexen Modellen vereinigen. Auch hier sind wir wieder im Bereich der Methodenkombinationen angelangt. Eine dritte Kontroverse rankt sich um den Grad an Standardisiertheit der Methodik. Quantitative Forschung fordert standardisierte Erhebungsmethoden, z. B. eingeführte Tests, da dadurch bewährte Methoden zum Einsatz kommen und zu Verfeinerte Fragestellung Methodik 2

Fragestellung

Methodik 1

Finaler Durchlauf

11

Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung

vergleichbaren Ergebnissen führen. Gerade kürzlich ist jedoch die Standardisiertheit quantitativer Forschung in Frage gestellt worden. In einer internationalen Studie wurden ca. 100 kontrollierte psychologische Experimente mit standardisierter Methodik in Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren ein zweites Mal durchgeführt (Open Science Collaboration 2015). Nur eine Minderzahl hat zu den gleichen Ergebnissen geführt, was zu einem grundsätzlichen Zweifel an der Methodik („Replikationskrise der Psychologie“) geführt hat. In qualitativer Forschung wird die Forderung nach standardisierter Methodik oftmals gänzlich zurückgewiesen. Die Erhebungsmethoden (z. B. der Interviewleitfaden) werden speziell für die konkrete Studie entwickelt. Auch diese Kontroverse löst sich auf, wenn wir im Sinne multipler Methodik denken. Mehrere Studien zur selben Fragestellung können zu einer Triangulation führen, in der der Grad der Verallgemeinerbarkeit eingeschätzt werden kann. In rein qualitativen Studien sollte in jedem Falle die spezifisch entwickelte Methodik in Vorstudien getestet werden, auch eine Form von Methodenmix. Schließlich wird in einer vierten Kontroverse das Prinzip der Kausalität diskutiert (vgl. Tacq 2011). Quantitative Forschung sieht in der Gewinnung von Kausalaussagen (Ursache-Wirkungs-Aussagen) das zentrale Ziel von Wissenschaft, da nur so theoretische Erklärungsmodelle und daraus ableitbare Interventionsmöglichkeiten möglich sind (aus dem Wissen um die Ursachen von Depression beispielsweise lassen sich Ansätze der Depressionstherapie ableiten). Dafür ist das Experiment der zentrale methodische Ansatz. Hier werden Ursachenfaktoren systematisch variiert, um die Wirkungen zu beobachten. Experimentelle Methodik wird jedoch von qualitativer Forschung in der Regel als einseitig naturwissenschaftlich abgelehnt. Ihr manipulativer Charakter sei in Humanwissenschaften problematisch (z. B. Mertens 1975). Qualitative Forschung zieht sich deshalb gerne auf explorative Forschungsdesigns zurück (Flick 2007). An anderer Stelle habe ich (Mayring 2018a) ausgeführt, dass sich Untersuchungsanlagen auf explorative, deskriptive, zusammenhangsanalytische und kausalanalytische Designs zurückführen lassen und alle vier Designs für wissenschaftliche Erkenntnisse notwendig sind. Auch naturwissenschaftliche Experimente brauchen Exploration und Deskription, aus der erst das experimentelle Design konstruiert werden kann. Und qualitative Forschung auf Exploration, also eigentlich nur Vorstudien, zu reduzieren, würde ihre Potenziale unnötig einschränken. Auch hier gelangen wir wieder zur Notwendigkeit der Verschränkung verschiedener Studientypen, um zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen. Aus diesen Kontroversen folgt, dass eine einseitige Orientierung an nur quantitativen oder nur qualitativen Methoden immer defizitär bleibt, dass die Lösung in der Kombination und Integration quantitativer und qualitativer Ansätze liegt.

135

" Die Debatte um qualitative versus quantitative Forschungsmethoden zeigt die Schwächen und Einseitigkeiten auf beiden Seiten auf, was eine Verbindung beider im Sinne von Mixed Methods bzw. Triangulation dringend nahelegt.

Im Folgenden möchte ich auf die Methodendiskussion speziell in der Gesundheitsforschung eingehen.

3

Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung

In der Gesundheitsforschung sind die Debatten um die angemessene Methodenorientierung besonders virulent. Gesundheitsforschung steht hier im Spannungsfeld zwischen Medizin und Sozialwissenschaft (vgl. Faltermaier 2017). Medizinische Forschung steht dabei für eine klare naturwissenschaftliche Orientierung. Unter dem Stichwort Evidence Based Medicine (EBM) formiert die Forderung, dass systematische kontrollierte Experimente mit Zufallszuordnung in Versuchs- und Kontrollgruppen (Randomized Controlled Trials, RCT) die einzig legitime Methodik darstellen (vgl. Lauterbach und Schrappe 2009). Diese Orientierung geht zurück auf einen schottischen Epidemiologen, Archibald Cochrane, der seit den 1970er-Jahren forderte, dass ärztliches Handeln sich weniger auf die Intuition des Behandelnden, sondern mehr auf naturwissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit begründen sollte, und dafür stehe nur das kontrollierte Experiment zur Verfügung. 1993 wurde dann eine Organisation als Netzwerk medizinischer Forscher, die Cochrane Collaboration, gegründet, die weltweit experimentelle Studien zur Wirksamkeit spezifischer medizinischer Behandlungen sammelt, in einem Reviewverfahren methodisch bewertet und zu Empfehlungen kompiliert. Dieses Verfahren zieht gerade unter dem Begriff Evidenzbasierung in diversen weiteren Wissenschaftsbereichen (Pädagogik, Sozialarbeit, Psychologie, Politik) weite Kreise, immer unter der Einschränkung auf naturwissenschaftlich-experimentelle Methodik. Der Begriff der Evidenz ist dabei von der Wortbedeutung gar nicht auf eine bestimmte Methodik eingeschränkt, sondern betont eigentlich nur die Forderung nach empirisch-wissenschaftlicher Begründung. " Definition Evidenz Unter Evidenz versteht die Gesund-

heitsforschung jede Art empirisch-wissenschaftlicher Begründung der Wirksamkeit einer Gesundheitsmaßnahme. Dies umfasst experimentelle wie auch qualitative Studien. Das Experiment als ausschließliche Methodik zeigt aber einige Schwachstellen (Mayring 2017): Experimentelle Untersuchungsanlagen bedeuten immer Eingriff, Intervention bzw. Manipulation, was oft an forschungsethische Grenzen stößt.

136

Die untersuchte Fragestellung muss den Versuchspersonen verheimlicht werden. Die zufällige Zuordnung in Experimental- und Kontrollgruppen ist oft gar nicht möglich, wodurch dann die methodischen Anforderungen prinzipiell verletzt werden. Deshalb wurden bald auch in der CochraneOrganisation methodische Alternativen zum Experiment erwogen, eine Erweiterung der Richtlinien für die Reviewverfahren vorgenommen (Higgins und Green 2011). Es werden nun auch qualitative Studien für Reviews zugelassen, die zusätzliche Absicherung der Ergebnisse („adding value to reviews“) leisten können. Damit sind wir wieder bei Modellen der Mixed Methods angelangt. Allerdings würde ich hier nicht nur einen Zusatznutzen, sondern eine gleichberechtigte Rolle qualitativer gegenüber quantitativer Evidenz postulieren. Medizinische Forschung bleibt meist dahinter zurück, spricht heute nur von Evidenzhierarchie oder Evidenzlevels, randomisierte experimentelle Studien an die Spitze setzend, deskriptive Studien oder Fallanalysen nur untergeordneten Wert beimessend (vgl. Lauterbach und Schrappe 2009). Demgegenüber habe ich das Modell einer Evidenztriangulation für die Gesundheitsforschung formuliert (Mayring 2009, 2017), das qualitativen und quantitativen Analyseschritten gleichen Wert zumisst und erst in der Zusammenschau die Ergebnisse formuliert. Qualitative Gesundheitsforschung speist sich vor allem aus sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen, die z. B. in der Pflegeforschung festen Fuß gefasst haben (Holloway 2005). An anderer Stelle habe ich (Mayring 2017) an einem Projekt der Gesundheitsforschung gezeigt, wie eine solche Evidenztriangulation vonstattengehen kann. Dabei wurde auf eine dialektische Wissenschaftstheorie zurückgegriffen, die aus These und Antithese jeweils eine Synthese ableitet. Die These bildet eine Studienkonzeption mit einer bestimmten Methodik. Aus der kritischen Diskussion des methodischen Ansatzes, aus der Überlegung, wo die Studie Begrenzungen und Schwachstellen zeigt, wird als Antithese eine zweite Studie mit einem alternativen methodischen Ansatz entwickelt. Die Zusammenschau der Ergebnisse kann dann zur Synthese führen. Aus der Methodenkritik ließen sich noch weitere Antithesen ableiten, die erneut durch Triangulation synthetisiert werden müssen. " Mit Evidenztriangulation ist gemeint, eine Studie mit verschiedenen methodischen Ansätzen anzugehen, wobei sich die Konzeptionen aus der gegenseitigen Methodenkritik ableiten. Die Ergebnisse müssen dann synthetisiert werden.

Nachdem gezeigt wurde, wie wichtig gemischte methodische Modelle gerade im Bereich der Gesundheitsforschung sind, möchte ich auf die verschiedenen Modelle näher eingehen.

P. Mayring

4

Mixed Methods bzw. Triangulationsmodelle

4.1

Begriffsklärungen

Hier sind zunächst Begriffsklärungen notwendig. Mixed Methods, Triangulation und verwandte Begriffe sind nicht immer einheitlich gebraucht worden. Triangulation ist vielleicht der älteste Begriff für sozialwissenschaftliche Methodenkombinationen (Flick 2012). Er spielt an auf das Konzept aus der Landvermessung, bei dem die Oberfläche in Dreiecke zerlegt wird und durch die Schnittpunkte mehrerer Peilungen erfasst wird. Eine einzelne Messung führt nicht zum Ziel. Norman Denzin (1970) hat hier vier unterschiedliche Strategien sozialwissenschaftlicher Triangulation beschrieben, der Einsatz verschiedener Datensätze, unterschiedlicher Forscherpersonen, unterschiedlicher Theorieansätze und verschiedener Methoden, um eine Fragestellung zu untersuchen. Das Konzept der Triangulation, ursprünglich nur bezogen auf die Kombination mehrerer Perspektiven mit verschiedenen methodischen Zugängen zu einem Gegenstand, wird heute enger verwendet als gemeinsame, gleichberechtigte Konstruktion eines Gegenstandes durch verschiedene Perspektiven (Flick 2012), nicht nur der beliebige Einsatz multipler methodischer Ansätze. Dafür wird heute eher der Begriff der Mixed Methods verwendet, meist als Überbegriff über verschiedene Konzepte der Methodenkombination. Mit Mixed Methods wird dabei im engeren Sinne immer die Verwendung qualitativer und quantitativer Ansätze verstanden. Wenn die Kombination qualitativer und quantitativer Analyseschritte bereits in der Methodik fest konzipiert ist, sprechen Hussy et al. (2013) von hybriden Methoden. Wenn innerhalb eines Projektes mehrere unabhängige Studien mit eigener (unterschiedlicher) Methodik, eigenen Kriterien folgend, durchgeführt werden und die Ergebnisse danach trianguliert werden, spricht Janice Morse (2003) von einem Multimethod Design. Wenn für eine Fragestellung in verschiedenen Untersuchungsphasen unterschiedliche (qualitative und/oder quantitative) Methodenansätze verfolgt werden, sprechen Tashakkori und Teddlie (1998) von einem Mixed-Model-Design, verwenden aber auch den Begriff der Mixed Methodology. In der psychologischen Diagnostik kommt bisweilen zum Einsatz die MultitraitMultimethods-Analyse (Eid et al. 2006), bei der verschiedene Personmerkmale mit unterschiedlichen Erhebungsmethoden erfasst werden und die Ergebnisse im Sinne einer gegenseitigen Bestätigung oder Modifizierung verglichen werden. Unter Mehrebenenanalyse wiederum (Radisch 2012) versteht man die Analyse von hierarchisch oder geschachtelten Datensätzen (z. B. einzelne Person, Gruppe, Gruppenverbund).

11

Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung

" Wir verwenden heute den Begriff der Mixed Methods meist als Überbegriff über verschiedene Ansätze der Methodenkombination und -integration, unter Einsatz qualitativer und quantitativer Methoden. Wenn die verschiedenen Studienteile gleichberechtigt zusammengeführt werden im Sinne einer gemeinsamen Konstruktion des Gegenstandes, reden wir von Triangulation.

4.2

Verschiedene Modelle der Kombination und Integration

Im Folgenden möchte ich verschiedene Modelle von Mixed Methods und Triangulation vorstellen. In den letzten 20 Jahren wurden hier so viele Konzepte, Möglichkeiten, Systematisierungen vorgeschlagen (z. B. Tashakkori und Teddlie 2003; Cresswell und Plano Clark 2007; Kuckartz 2014), dass das Feld schier unübersichtlich ist. So können hier nur Schlaglichter gegeben werden. " Es werden ganz unterschiedliche Modelle der Methodenkombination und -integration diskutiert, die je nach Fragestellung und Gegenstand angemessen sein können und in der Regel auch notwendig für umfassende Erkenntnis sind. Umgekehrt gilt: Traue keiner Studie, besonders wenn es um die Wirksamkeit gesundheitlicher Maßnahmen geht, die nur auf einer einzigen methodischen Schiene angelegt ist!

Es werden nun die verschiedenen Modelle an einem Beispiel aus der Gesundheitsforschung veranschaulicht. Es sei eine Studie zum gesundheitlichen Effekt einer Umstellung des Ernährungsprogramms an einer Schule (Pausenverpflegung) geplant. Die Typologie von Norman Denzin (1970) der vier Triangulationsansätze ist oben bereits angesprochen worden. Für unser Beispiel würde das bedeuten: Datentriangulation könnte heißen, dass man für die Studie einerseits Schülerbeobachtungen, andererseits Elternbefragungen heranzieht. Beide Informationsquellen dürften wichtig sein. Wenn an der Studie mehrere gleichberechtigte Forscherpersonen beteiligt wären, die von der Konzeption bis zur Ergebnisinterpretation zentrale Fragen im Diskurs klären, würde dies eine weitere erhebliche Stärkung sein (Forschertriangulation). Die Studie könnte auch verschiedene theoretische Positionen verbinden, im Sinne einer behavioristischen Position zentral auf Verhaltensänderungen abzielen, die Motive für Fehlernährung einzelner Schüler gleichzeitig von einer tiefenpsychologischen Warte her analysieren (Theorietriangulation). Von einer Methodentriangulation könnte man sprechen, wenn die gleichen Schüler beobachtet und befragt werden.

137

Das Konzept Mixed Models von Tashakkori und Teddlie (1998) ist ebenfalls bereits angesprochen worden. Hier wird auf drei Ebenen unterschieden, ob die Methodik eher qualitativ oder eher quantitativ angelegt ist: das übergeordnete Design (qualitativ-explorativ versus quantitativ hypothesentestend), die Erhebungsmethodik sowie die Auswertungsmethodik. Es ergeben sich acht Kombinationsmöglichkeiten, wovon eine rein quantitativ, eine rein qualitativ angelegt ist, also sechs Mischtypen sich ergeben: Mischtyp I (Design qualitativ – Erhebung quantitativ – Auswertung quantitativ): Das Phänomen fehlgeleiteten Essverhaltens der Schüler soll exploriert werden, indem über standardisierte Fragebögen tägliche Nahrungsprotokolle erhoben werden und mit Randvariablen wie Alter, Geschlecht, Schulleistung, Esssituation korrelativ in Verbindung gebracht werden, um Risikogruppen und Risikosituationen abzuleiten. Mischtyp II (Design qualitativ – Erhebung quantitativ – Auswertung qualitativ): Eine breit angelegte deskriptive Feldstudie möchte über Elternbefragungen (standardisierter Fragebogen) Nahrungsverhalten der Kinder explorieren und dabei durch häufig auftauchende Konstellationen mittels offener Fallanalysen nach Gründen für das Nahrungsverhalten suchen. Mischtyp III (Design qualitativ – Erhebung qualitativ – Auswertung quantitativ): In einer ausgewählten Schule wird mit einer explorativen Feldstudie über einen längeren Zeitraum mittels offener Pausenhofbeobachtungen, teilnehmender Beobachtung bei Schulausflügen sowie Gruppendiskussion in einzelnen Klassen unterschiedlichstes Material zum Essverhalten gesammelt. Mit einer systematischen Inhaltsanalyse werden daraus die häufigsten Verhaltensmuster quantitativ herauskristallisiert. Mischtyp IV (Design quantitativ – Erhebung quantitativ – Auswertung qualitativ): Der Gesundheitseffekt einer Umstellung der Pausenhofverpflegung wird zwischen Versuchs- und Kontrollschulen vergleichend evaluiert, dazu ein standardisiertes Testverfahren zum Gesundheitszustand am Anfang und am Ende eines Schuljahres eingesetzt. Aufgrund der quantitativen Ergebnisse werden für Versuchs- und Kontrollgruppe typische Variablenkonstellationen bestimmt und fallanalytisch vergleichend kontrastiert. Mischtyp V (Design quantitativ – Erhebung qualitativ – Auswertung quantitativ): In der eben angesprochenen Studie werden statt standardisierter Textverfahren offene halbstrukturierte Interviews geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet im Sinne eines Gesundheitsrankings. Diese Daten werden dann varianzanalytisch auf signifikante Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe überprüft.

138 Abb. 2 Vorstudienmodell

Abb. 3 Verallgemeinerungsmodell

Abb. 4 Vertiefungsmodell

P. Mayring

QUALITATIV Vorstudie Hypothesen gewinnung

QUALITATIV Fallorientierte, deskriptive Studie

QUANTITATIV Studie an großer Stichprobe

Mischtyp VI (Design quantitativ – Erhebung qualitativ – Auswertung qualitativ): Aus bisherigen Studien werden günstige und ungünstige Variablen des Essverhaltens abgeleitet und in einer Feldstudie nach ihrem Gesundheitseffekt untersucht. Es werden zwei Gruppen von Schülern danach bestimmt und sodann ihr Essverhalten mit biografischen qualitativen Methoden rekonstruiert. In der Auswertung werden die Ergebnisse beider Gruppen verglichen. Bei der Auflistung dieser Modelle von Mixed Methodology nach Tashakkori und Teddlie (1998) wird von einer zusammenhängenden Studienkonzeption ausgegangen. Andere Modelle zeigen, wie relativ eigenständige Studien miteinander kombiniert werden können. So habe ich (Mayring 2001) unterschieden zwischen Integrations- und Kombinationsmodellen qualitativer und quantitativer Analyse. Integrationsmodelle verbinden qualitative und quantitative Analyseschritte in einer Studie, z. B. innerhalb einer Methode wie der qualitativen Inhaltsanalyse, Abschn. 5). Kombinationsmodelle dagegen lassen sich unterschiedlich konzipieren. Hier sind exemplarisch Kombinationsmöglichkeiten aufgelistet, die an unserem Beispiel verdeutlicht werden sollen. Das erste Modell, das Vorstudienmodell, stellt ein oft eingesetztes und anerkanntes Verfahren der Sozialforschung dar (Abb. 2). Die Untersuchungsgegenstände im sozialwissenschaftlichen Bereich, das gilt im Besonderen für Gesundheitsforschung, unterliegen dem sozialen Wandel. Deshalb muss die Methodik einer Studie an den Gegenstand immer neu angepasst werden, und dazu sind Vorstudien nötig. In einer ersten Studie werden die relevanten Dimensionen, Variablen eher explorativ-qualitativ eruiert, in einer zweiten Studie werden die Variablenzusammenhänge eher quantitativ überprüft. So ist in unserem Beispiel zunächst die Frage, wie man das Essverhalten von Schülern erhebt, welche Situationen

QUANTITATIV Hypothesentestung

ERGEBNISSE

ERGEBNISSE

QUANTITATIV Verallgemeinerungen Zusammenhangsanalysen

ERGEBNISSE

QUALITATIV Interpretation Korrelationsdeutung Vertiefung, Fallbeispiele

hier relevant sind, und auch, inwieweit sie dies mit ihrer Gesundheit in Zusammenhang bringen. Erst nach einer explorativen Interviewstudie lassen sich Schülerfragebögen entwickeln bzw. Beobachtungskategorien aufstellen. Das Verallgemeinerungsmodell (Abb. 3) stellt eine weitere Variante der qualitativ-quantitativen Methodenkombination dar. Auch hier wird mit einer qualitativen Studie begonnen. Aufgrund der offeneren Methodik (z. B. ausführliche Interviews, Einzelfallanalysen, Feldforschungsphasen) sind hier die Stichprobenumfänge in der Regel kleiner. In rein qualitativer Forschung wird das meist überspielt mit dem Verweis, man wolle ja nur explorativ tätig sein. Das wäre aber schade und würde den Stellenwert der qualitativen Analyse auf Vorläufiges, Vermutetes eingrenzen. So sollte hier eine quantitativ orientierte Studie an einer größeren Stichprobe die in der qualitativen Studie entwickelten Hypothesen überprüfen. Denkbar wäre in unserem Beispiel, dass aus offenen Eltern- und Lehrerinterviews Faktoren abgeleitet werden, die eine Verbesserung des schulischen Essverhaltens bewirken könnten und dies dann in einer Interventionsstudie an mehreren Schulen überprüft werden. Ein drittes Modell, das Vertiefungsmodell (Abb. 4), geht den umgekehrten Weg von der quantitativen zur qualitativen Studie. Großangelegte quantitative Studien müssen aufgrund der größeren (verallgemeinerungsfähigeren) Stichprobe sich in der Methodik einschränken auf wenige Variablen, Tests mit überschaubarer Anzahl von Items. In Korrelationsstudien oder quantitativen Experimenten wird dann Zusammenhängen nachgegangen, deren genauer Charakter aber noch unklar ist und einer qualitativen Vertiefung bedarf. Wenn wir in unserer Schulgesundheitsstudie mit einer Reihe von Interventionsschulen gesundheitsfördernde Programme einführen und die Gesundheitseffekte gegen Kon-

11

Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung

trollschulen ohne Intervention im Sinne des experimentellen Designs überprüfen, so erreichen wir nur ein simples Ergebnis (Gesundheitsverbesserung: ja oder nein). Wir wissen nicht, welche konkreten Maßnahmen besonders gewirkt (oder nicht gewirkt) haben und warum es zu diesen Effekten gekommen ist. Hier können vertiefende Interviews oder Einzelfallanalysen Antwort geben. Besonders gilt dies auch für Korrelationsstudien, die ja nur einen Zusammenhang prüfen können und nicht die Wirkrichtung (Kausalitätsrichtung). Auch kommen hier immer wieder Scheinkorrelationen vor, deren Zusammenhang von einer Drittvariablen erzeugt wird. Auch hier kann eine qualitative Vertiefungsstudie Aufschluss geben. Diese verschiedenen Kombinationsmodelle qualitativer und quantitativer Analyse heben auch darauf ab, dass heute komplexe Fragestellungen (wie die Wirksamkeit einer Gesundheitsmaßnahme) mit einer einzigen Studie nicht beantwortbar sind, sondern Studienkombinationen erfordern. Im nächsten Abschnitt wird mit der qualitativen Inhaltsanalyse wieder ein Integrationsmodell näher vorgestellt. Es sind in der Folge eine Reihe weiterer Systematisierungsversuche von Mixed Methods vorgeschlagen worden (vgl. Tashakkori und Teddlie 2003; Cresswell und Plano Clark 2007; Hussy et al. 2013; Kuckartz 2014), die unterscheiden, ob die Analyseschritte parallel oder nacheinander folgend (sequenziell) angelegt sind oder auch ob der qualitative oder quanti-

Abb. 5 Qualitativ-quantitatives Ablaufmodell bei qualitativer Inhaltsanalyse

139

tative Teil gleichberechtigt oder hierarchisiert ist. All diese Modelle geben wertvolle Anregungen für die Planung von Studien.

5

Beispiel: Qualitative Inhaltsanalyse

Die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 1983, 2015/1983) wurde von uns als Mischform zwischen qualitativer und quantitativer Analyse entwickelt. Es ging darum, große Mengen an Interviewmaterial (ca. 20.000 Seiten Transkripte) systematisch auszuwerten und dabei die Häufigkeiten der den Texten zugewiesenen inhaltsanalytischen Kategorien quantitativ zu analysieren. Beim Vorgehen haben wir uns an der quantitativen Content Analysis orientiert und dabei qualitative Schritte eingebaut, die im Wesentlichen in der interpretativen Zuordnung der inhaltsanalytischen Kategorien zu Textstellen bestehen (vgl. Mayring 2012). Um die am quantitativen Vorgehen orientierte Systematik, die den Interpretationsspielraum einschränkt und zu Überprüfbarkeit der Auswertung führt, verbindlicher zu machen, wurde eine interaktive Software (QCAmap, vgl. Mayring 2014) entwickelt, die Schritt für Schritt durch die Analyse führt. Sie ist, zusammen mit dem Handbuch, im open access frei verfügbar (http://www.qcamap.org. Zugegriffen am 14.09.2018). In Abb. 5 ist im Groben das übergeordnete Ablaufmodell gezeigt, das die qualitativen und quantitativen Schritte identifizieren lässt.

Spezifische Forschungsfragestellung(en)

Textmaterial (z. B. Interviewtranskripte, Beobachtungsprotokolle, Dokumente)

Theoriegeleitete Formulierung von Kategoriendefinition und Abstraktionsniveau Induktive Kategorienentwicklung

Theoriegeleitete Formulierung von Kategorien und Kodierleitfaden Deduktive Kategorienanwendung

Feststellen von Kategorienhäufigkeiten Statistische Analysen

Rückbezug zur Fragestellung Interpretation der Ergebnisse

140

P. Mayring

Die Quantifizierungen, in der Abbildung der vorletzte Schritt, dürfen dabei nicht naiv formalistisch angewendet werden. Kategorienhäufigkeiten festzustellen ergibt nur Sinn, wenn die Kategorien relativ gleichwertig in ihrer Bedeutung sind (Prinzip der Additivität). Dies gilt es im jeweiligen Projekt argumentativ zu begründen. Wenn es aber angemessen ist, ist es ein entscheidender Vorteil, um beispielsweise zentrale Motive im Material zu identifizieren oder Gruppenunterschiede festzumachen.

6

• Sind dort, wo qualitative Elemente eingebaut sind, die diesbezüglichen Gütekriterien beachtet (u. a. Glaubwürdigkeit, Authentizität, Integrität, Kongruenz, Sensitivität. Kritische Einschätzung, Konsistenz, Adäquatheit der Schlussfolgerungen) worden? • Ist die Logik der Schlussfolgerungen und Interpretationen genügend abgesichert (intern konsistent, theoriekonsistent, distinkt, fragestellungsbezogen, mit den Beteiligten abgesprochen)? • Ist die Notwendigkeit für Mixed Methods ausreichend begründet? • Ist das Mixed-Methods-Design angemessen? Ist es stimmig und genügend elaboriert? • Sind sinnvolle Praxiskonsequenzen im gesellschaftlichen Kontext aus den Ergebnissen ableitbar? • Waren die aufgewendeten Anstrengungen die Ergebnisse wert?

Gütekriterien für Triangulation und Mixed Methods

In der traditionellen quantitativen Forschung werden in der Regel die drei Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität aufgeführt. Sobald qualitative Analyseschritte ins Spiel kommen, ergeben sich damit Schwierigkeiten. Qualitative Analyse versteht sich in Interaktion mit den beforschten Subjekten, will bei Interpretationen die eigenen Vorannahmen einbringen und stößt so an die Grenzen einer abstrakten Objektivität. Gerade auch durch die variable Anpassung der Methodik an den Gegenstand (Abschn. 2) und die konsequente Subjektorientierung wird auch die Reliabilität herabgemindert. Ein offenes Interview lässt sich nicht zu Kontrollzwecken (Retest-Reliabilität) ein zweites Mal sinnvoll durchführen. Einzig in der Validität können qualitativ orientierte Verfahren gegenüber quantitativen punkten, da sie oft gegenstandsnäher angelegt sind. Wegen dieser Schwierigkeiten sind immer wieder eigene Gütekriterien für qualitative Analyseschritte formuliert worden, teilweise in Anlehnung an die quantitativen, teilweise ganz neu wie die Kriterien der Authentizität oder Glaubwürdigkeit (vgl. dazu Steinke 2005). Daneben lassen sich auch jenseits von Objektivität, Reliabilität und Validität weniger formale, mehr am wissenschaftlichen Prozess orientierte Kriterien wie der systematische Aufbau des Argumentationsstranges formulieren (vgl. dazu Mayring 2018b). Aber es gibt auch neuere Versuche, Gütekriterien speziell für Mixed Methods aufzustellen. Die Kriterien werden dadurch immer komplexer, wie an dem Katalog von Dellinger und Leech (2007) abzulesen ist: Mixed-Methods-Gütekriterien

• Ist die Einbettung in den Stand der Forschung zum untersuchten Gegenstand ausreichend? • Sind die Vorannahmen des Untersuchungsteams expliziert? • Sind dort, wo quantitative Elemente eingebaut sind, die diesbezüglichen Gütekriterien beachtet (interne und externe Validität, Reliabilität, Gültigkeit inferenzstatistischer Schlüsse) worden? (Fortsetzung)

Ein solcher Katalog kann als Checkliste verstanden werden, nach dem die Stärken und Schwächen einer Studie eingeschätzt werden können. Gerade für Mixed Methods ist ein solches abschließendes Erwägen der Aussagekraft einer Studie zentral.

7

Fazit und Ausblick

Es ist deutlich geworden, dass gerade im Gesundheitsbereich die empirische Begründung von Analysen und Interventionen von entscheidender Bedeutung ist. Diese Art der Evidenzbasierung darf aber nicht auf ein einseitiges methodisches Konzept begrenzt werden, wie es immer wieder mit dem randomisierten kontrollierten quantitativen Experiment (RCT) vertreten wird. Auch muss man davon ausgehen, dass beispielsweise die Wirksamkeit einer gesundheitlichen Maßnahme nicht mit einer einzelnen Studie nachgewiesen werden kann. Die empirische Evidenz sollte sich dabei auch auf verschiedene qualitative und quantitative methodische Ansätze beziehen. Dies kann nur gelingen, wenn dabei ähnliche Wissenschaftsstandards zugrunde gelegt werden sowie qualitative und quantitative Evidenz nicht als Gegensätze, sondern als durch Triangulation verbundene Aspekte verstanden werden.

Literatur Cresswell JW, Plano Clark VL (2007) Designing and conducting mixed methods research. Sage, Thousand Oaks Dellinger AB, Leech NL (2007) Toward a unified validation framework in mixed methods research. J Mixed Methods Res 1:309–332 Denzin N (1970) The research act. Aldine, Chicago

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Evidenztriangulation und Mixed Methods in der Gesundheitsforschung

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141

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Gesundheitsberichterstattung in Deutschland

12

Thomas Elkeles

Inhalt 1

Entstehung und Definition(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

2

Geschichte und Konzeptionen der GBE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

3 3.1 3.2 3.3

Die Ebenen staatlich organisierter Gesundheitsberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunen und Landkreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146 146 147 148

4 4.1 4.2 4.3

Gesundheitsreporte nicht-staatlicher Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebliche Gesundheitsberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflegeberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149 149 150 150

5

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

1

Entstehung und Definition(en)

Konzept und Praxis der Gesundheitsberichterstattung (GBE) in Deutschland gehen wesentlich auf die Empfehlungen zurück, die der damalige Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem ersten Jahresgutachten 1987 gegeben hatte. Ausgangspunkt dieser Empfehlungen war eine Defizitdiagnose hinsichtlich einer fehlenden bzw. nur rudimentär vorhandenen jedenfalls dauerhaften Dokumentation einer Bestandsaufnahme der Gesundheitsversorgung, die als unverzichtbare Bestandteile haben müsste: • „Bevölkerungsentwicklung (Demografie), auch gesondert für die Versicherten in der GKV, • Gesundheitszustand (Morbidität, Mortalität),

T. Elkeles (*) Hochschule Neubrandenburg, Neubrandenburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

• Angebot an Gesundheitseinrichtungen bzw. -leistungen (Kapazität), • Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen bzw. -leistungen (Nutzung), • Finanzielle Situation im Gesundheitswesen (Finanzlage), • Krankenversicherungsschutz (Versichertenstatus).“ (SVRKAiG 1987, S. 24) Als Bezüge bzw. Vorbilder wurden in diesem Bezug die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und die zu dieser Zeit entstehende Gesundheitsberichterstattung in den USA im Umfeld der National Center for Health (National Center for Health Statistics, National Center for Health Services Research) und beim Kongress (Office of Technology Assessment) genannt. Vor dem Hintergrund einer aufzubauenden GBE sei die Entwicklung „medizinisch-ökonomischer Orientierungsdaten“ zu sehen, aus denen ein wichtiger „Beitrag zur Bestimmung von Zielen und Prioritäten im Gesundheitswesen“ und die dafür geforderte „zielorientierte Betrachtung des Gesundheitswesens“ erwartet würden (ebd., S. 24 f.).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_13

143

144

Die nicht nur vom SVRKAiG vertretene Defizitdiagnose bezog sich auf eine Prädominanz ökonomischer Fragestellungen im Rahmen einer als Krankenversicherungspolitik begriffenen Gesundheitspolitik (bzw. einer Überlassung weiter Regelungsbereiche an korporatistische Verbände und Institutionen), bei gleichzeitigem Mangel an zielorientierter und konsequenter Gesundheitspolitik und an einer zureichenden Infrastruktur epidemiologischer Daten. Typisch für die Entstehungsphase der heutigen GBE war auch ein Unbehagen an der amtlichen Medizinalstatistik, zu der Konsens bestand, dass sie ihre ursprüngliche Informationsfunktion dadurch eingebüßt habe, dass sie überwiegend nur noch unkommentierte Tabellenhefte produziert hätte, die wenig hilfreich hinsichtlich einer nun als erforderlich angesehenen Public-Healthorientierten Gesamtsteuerung des Gesundheitswesens seien. Der langjährige Reformstau im Gesundheitswesen verlangte daher Mitte bis Ende der 1980er-Jahre auch nach dem Instrument einer GBE, die auf kommunaler Ebene (Thiele und Trojan 1990), auf Länderebene (Arbeitsgemeinschaft der Leitenden Medizinalbeamten der Länder 1989) und auf der Ebene des Bundes aufzubauen war. Einen Meilenstein stellte das im Rahmen des Programms „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit“ auf Bundesebene geförderte Projekt „Aufbau einer Gesundheitsberichterstattung – Bestandsaufnahme und Konzeptvorschlag“ dar. Die beauftragte Forschungsgruppe aus elf Institutionen bzw. Personen, darunter auch dem Statistischen Bundesamt, legte Anfang 1989 einen drei Bände und über 1600 Seiten umfassenden Schlussbericht vor; bis heute eine wesentliche Grundlage hinsichtlich der Aufarbeitung verfügbarer Datengrundlagen. Definitionen der GBE variieren etwas – z. B. je nach Perspektive der Gebietskörperschaften – und sind auch nicht stets trennscharf gegenüber anderen Formen des Berichtens. Im Mittelpunkt stehen jedoch stets bestimmte Aufklärungsund Informationsfunktionen für die Öffentlichkeit. „Gesundheitsberichterstattung ist Lagebeschreibung und Ermittlung von vordringlichen Handlungsbedarfen im Hinblick auf die gesundheitliche Lage und Versorgung von Bevölkerungsgruppen. Gesundheitsberichterstattung zieht dazu gesundheitsbezogene Daten und Informationen heran, bewertet sie hinsichtlich ihrer Aussagekraft, analysiert sie mit wissenschaftlichen Methoden und stellt sie verdichtet und adressatenorientiert dar. Gesundheitsberichterstattung ist auf Wiederholbarkeit und Vergleichbarkeit angelegt.“ (Kellerhof 1998, S. 18) Daneben lässt sich sagen, dass es kaum eine kurze Definition von GBE zu geben scheint, sondern in der Literatur finden sich nahezu stets Aussagen in mehreren Sätzen, die die Funktionen der GBE, Adressaten und auch Datengrundlagen ansprechen. Die kürzeste Definition scheint zu sein: " Definition Gesundheitsberichterstattung (GBE) „Gesund-

heitsberichterstattung (GBE) ist die Beschreibung der Gesundheit

T. Elkeles

der Bevölkerung bzw. ausgewählter Bevölkerungsgruppen in einer handlungsorientierten und allgemein verständlichen Form. Sie dient der Versachlichung von Diskussionen über politisch relevante gesundheitliche Probleme“ (Kuhn und Ziese 2012, S. 60)

2

Geschichte und Konzeptionen der GBE

Wenngleich unter anderen Begrifflichkeiten, gehen der heutigen GBE in Deutschland durchaus Konzeptionen und Praktiken voraus, in welche die heutige GBE einzuordnen ist. Unterscheiden könnte man Konzeptionen und Traditionen, die aus dem Gesundheitswesen selbst und solche, die aus anderen Politikbereichen bzw. der Gesellschaftsbeobachtung stammen. So waren für die Sozialmediziner Johann Peter Frank (1745–1821) medizinische Daten ein Mittel zur Information für die Ärzte über die Lebensumstände und in dessen Tradition später für Salomon Neumann (1819–1908) und Ludwig Teleky (1877–1957) die Medizinalstatistik ein Mittel für das Ziel, mittels einer sozialen Medizin die Lebensverhältnisse zu verbessern. Ähnliches gilt für Rudolf Virchows (1821–1902) Bestreben, Krankheiten des Massenelends durch politische Interventionen zu begegnen (vgl. Stollberg 1994; Kuhn und Busch 2006). Auch schon vor der Industrialisierung lag es durchaus im staatlichen Interesse, mit gesundheitlichen Überwachungsmaßnahmen die öffentliche Gesundheit zu schützen, freilich nicht stets als Selbstzweck, sondern um mittels obrigkeitsstaatlicher sozialer Kontrolle zum Bestand und zur Vermehrung der Bevölkerung und damit zur Stärkung des Machtstaates beizutragen (vgl. Stollberg 1994). Sogenannte Physikatsberichte (von den Amtsärzten eingeforderte Berichte über die Gesundheits-, Lebens- und Wohnverhältnisse ihrer Region) interessierten zum Beispiel König Max II. von Bayern auch deswegen, „um durch sozialpolitische Maßnahmen rechtzeitig auf die Gefahr sozialer und potenziell umstürzlerischer Spannungen reagieren zu können. Hinzu kam sein volkskundliches Interesse“ (Kuhn und Busch 2006, S. 10). Seit Beginn der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 war es im Interesse des Kaiserreichs, die Medizinalstatistik zur Bekämpfung von Seuchen und damit zur Förderung der Bevölkerungsgesundheit einsatzfähig zu machen. „Die bis zur Reichsgründung von jedem Bundesstaat eigenständig geführte Gesundheitspolitik verhinderte eine einheitliche Datensammlung und erschwerte in den Anfangsjahren des Kaiserreichs deren Zusammenführung. Wenngleich es bei der Datenbeschaffung damals „nur“ um die Statistiken der Erkrankungen und Todesfälle ging, für deren Erstellung man die Einheitlichkeit der Daten einklagte, war doch von Anfang an die Veröffentlichung dieser und weiterer Daten zur ‚Förderung der Gesundheit’ beabsichtigt. [...] Da

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Gesundheitsberichterstattung in Deutschland

zielgerichtet, nämlich die allgemeine Gesundheitsförderung beabsichtigend, und um Akzeptanz bemüht, hat man sich auch in jenen Jahren mit dem Nutzerkreis und den Nutzererwartungen auseinandergesetzt. [...] Denn wenngleich es unbestreitbar wichtig ist, Informationen zu sammeln und auszuwerten, geschieht dies letztlich nicht um der Information selbst willen, sondern immer in Hinblick auf eine erwünschte Handlung, also zielgerichtet. Bevor man aber einen potenziellen Akteur, also den Nutzer, mittels einer vom Sender übermittelten Information zu einer erwünschten Handlung bringen kann, bedarf es der nutzergerechten inhaltlichen und formalen Aufbereitung dieser Information“ (Riedmann 2000, S. 594 f.). Die administrative Weiterführung und Nutzung der amtlichen Medizinalstatistik im Nationalsozialismus mag weniger spektakulär gewesen sein, als es die rassenhygienische Umwertung der Sozialhygiene und die Nutzung von Datensammlungen zur Vernichtung von vermeintlich „Minderwertigen“ (haben) vermuten lassen (vgl. Labisch und Tennstedt 1985; Milles 2006); bevölkerungsmedizinisch-sozialmedizinische Ansätze waren jedenfalls durch diesen Missbrauch lang anhaltend diskreditiert und aufgrund der unrühmlichen Rolle der Gesundheitsämter im Nationalsozialismus war deren Bedeutung für Berichterstattung in der Bundesrepublik so marginalisiert, dass sich jahrzehntelang das Bild verfestigen konnte, für die Gesundheit der Bevölkerung sei die Individualmedizin und die Krankenversicherungspolitik zuständig. Eine Neubelebung der Berichterstattungs-Idee erfolgte im Gesundheitswesen der Bundesrepublik 25 Jahre nach Ende der Nazidiktatur, und zwar auf politischer Ebene im Rahmen der sozialliberalen Reformära. Angekündigt in der berühmten Regierungserklärung Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“, erschien 1970 der erste und einzige sogenannte Gesundheitsbericht der Bundesregierung, angefertigt nicht von Experten, sondern von Ministerialbeamten (Deutscher Bundestag 1970). Referatsleiter Hans Stein hat bei verschiedenen Gelegenheiten darüber berichtet, wie dieser Bericht bei sonntäglichen Runden an seinem Küchentisch entstand. Er selbst ordnet ihn in eine Reihe anderer Ressortberichte der sozialliberalen Regierung ein (vgl. Stein 1998). Die Tradition derartiger Berichte kommt nicht aus dem Gesundheitswesen und setzte teilweise auch schon vor der sozialliberalen Koalition ein. Streich (1998) wertet diese als Berichterstattungsroutinen, die infolge eines neuen Politiktypus erforderlich geworden sind. So stehe gegenüber dem tradierten System einer Berichterstattung im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle in demokratisch verfassten Gesellschaften – etwa den Berichten zur Lage der Nation, mit denen sich die Regierung zu legitimieren hat – etwa seit den 1960er-Jahren in der BRD eine Berichterstattung neuen Typs mit einer gleichzeitigen Ausweitung staatlicher Dienstleistungen gegenüber. Dieser neue Politiktyp habe höheren fachlichen Anforderungen und längeren Zeithorizonten

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gerecht zu werden. Der Prozesscharakter von Entscheidungen von der Bedarfsanalyse, Maßnahmenplanung und -durchführung bis zur Erfolgskontrolle („politische Planung“) habe eine stärkere Einbeziehung fachlicher Expertise und die Nutzung moderner Methoden der Prozessbeobachtung anhand messbarer quantitativer Indikatoren bedingt. Die Ausweitung der Berichterstattung auf eine breite (Fach-) Öffentlichkeit sollte eine Rationalisierung der Politik einerseits, deren Öffnung für den demokratischen Diskurs andererseits befördern. Im Ergebnis einer Kurzrecherche identifizierte Streich (1998) 23 Berichtsroutinen. Einige ließen deutliche Ausrichtungen auf den parlamentarischen Kontrollmechanismus erkennen, andere, wie insbesondere die sozialpolitischen Berichtsroutinen (Alte, Familie, Jugend), fokussierten mehr die Beobachtung und fachliche Analyse des gesamten Kontextes. In einer Aktualisierung der zugrunde liegenden Recherche konnte Röding (2013) eine Persistenz und quantitative Ausweitung dieser Berichterstattungsroutinen feststellen. Akzentuiert wurden solche Berichtsroutinen durch die in den 1960er-Jahren aufkommende Sozialindikatorenbewegung bzw. -forschung (Bauer 1966). Sozialindikatoren sind regelmäßig erhobene Messinstrumente der Sozialwissenschaften, die über soziale Tatbestände in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen informieren sollen und damit über die ökonomische Wohlfahrtsmessung mittels des Bruttonationaleinkommens hinauszugehen und eine umfassende Wohlfahrtsmessung ermöglichen. Damit verknüpft war die Vorstellung, eine wohlfahrtsorientierte politische Planung institutionalisieren und verbessern zu können. Die anfängliche Euphorie, ein eindeutig bestes Indikatorenset entwickeln zu können und politische Planung damit selbst kleinteilig determinieren und optimieren zu können, hat sich später abgeschliffen, da sich diese Erwartungen im Verlauf der Entwicklung nicht in diesem Ausmaß erfüllten. Eingegangen ist die Sozialindikatorenforschung jedoch in die Sozialberichterstattung bzw. in deren nunmehr etablierte Berichtserstattungsroutinen. Die prononciertesten Vertreter der deutschen Sozialberichterstattung haben dabei die objektiven und subjektiven Indikatoren (Bewertung der individuellsubjektiven Erfahrungen mit verschiedenen Lebensbereichen) miteinander kombiniert. Voraussetzung war die Schaffung einer kontinuierlichen haushalts- und individuenbezogenen Datenerhebung, die seit 1994 mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) vorliegt. Wichtigstes Standardwerk der Sozialberichterstattung ist der regelmäßig produzierte Datenreport (15. Ausgabe: Statistisches Bundesamt und WZB 2016). Zumal immer wieder gefordert wird, es solle eine integrierte Gesundheits-, Umwelt- und Sozialberichterstattung geben (vgl. z. B. Jacob 2006), sei hier abschließend eine Definition zum Konzept der Sozialberichterstattung vorgestellt, die weit mehr als die Definitionen zur GBE auch theoretische und nicht nur methodische Bezüge hat.

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T. Elkeles

" Definition

Sozialberichterstattung „Sozialberichterstattung ist eine problem- und anwendungsorientierte Teildisziplin der Sozialwissenschaften; ihre Ziele sind die Dauerbeobachtung des sozialen Wandels und der Wohlfahrtsentwicklung. Dabei wird die Wohlfahrtsentwicklung als eine Teilmenge von Prozessen des sozialen Wandels verstanden, die explizit an gesellschaftlich hochbewerteten Zielen gemessen werden. Wohlfahrt ist dabei ein Oberbegriff, den man sich als Summe oder Konstellation von objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden vorstellen kann. [...] Die theoretischen Ausgangsideen der Sozialberichterstattung sind eng an „Gesellschaftspolitik“ gebunden und lassen sich in den Begriffen der Modernisierungstheorie und der Theorie der Wohlfahrtsproduktion formulieren“ (Schupp et al. 1996, S. 11).

3

Die Ebenen staatlich organisierter Gesundheitsberichterstattung

3.1

Bund

Als Ergebnis des vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie geförderten und vom Bundesministerium für Gesundheit begleiteten Forschungsprojekts „Aufbau einer Gesundheitsberichterstattung des Bundes“ wurde beim Statistischen Bundesamt das Informationsund Dokumentationszentrum „Gesundheitsdaten“ eingerichtet und als erster Basisgesundheitsbericht der „Gesundheitsbericht für Deutschland“ vorgelegt (Statistisches Bundesamt 1998). Fast alle Kapitel waren ausgeschrieben worden und wurden von externen Experten verfasst. Über 140 Autoren aus 70 Institutionen waren beteiligt. 100 Einzelthemen wurden in diesem Basisbericht auf jeweils vier bis fünf Seiten dargestellt (insgesamt 527 Seiten). Die sieben Kapitelzuordnungen • • • • • •

Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens, Gesundheitliche Lage, Gesundheitsverhalten und Gesundheitsgefährdungen, Krankheiten, Ressourcen der Gesundheitsversorgung, Leistungen und Inanspruchnahme des Gesundheitswesens sowie • Ausgaben, Kosten und Finanzierung des Gesundheitswesens) wurden anschließend weitgehend in die Routine des Informationssystems der GBE des Bundes übernommen. Damit war im Wesentlichen der Aufbau einer nationalen Gesundheitsberichterstattung (Hoffmann 1993) abgeschlossen. Ob es im Routinebetrieb gelingen würde, eine – fachlich unab-

hängige – Arbeit dieser Größenordnung ohne (zusätzliche) Forschungsstrukturen und -mittel aufrecht zu erhalten und damit GBE wirklich als fachliche Politikberatung langfristig zu etablieren, konnte zu Beginn durchaus kritisch eingeschätzt werden (vgl. John 1998). Jedenfalls wurde längere Zeit nach dem ersten Basisgesundheitsbericht kein neuer Band vorgelegt, sondern vorrangig andere Produkte entwickelt. Erst 2006 und dann 2015 wurde jeweils ein neuer Basisgesundheitsbericht vorgelegt (RKI 2006, 2015). Der Bericht von 2006 (224 Seiten) enthält Aktualisierungen von Kapiteln aus dem ersten Gesundheitsbericht, es wurden Inhalte aus den GBE-Themenheften (s. unten) integriert und es wurden neue Themen aufbereitet. Der Bericht von 2015 (510 Seiten) enthält ergänzend zur Basisgesundheitsberichterstattung neue thematische Schwerpunkte und insbesondere Auswertungen der am RKI zwischenzeitlich entstandenen Gesundheitssurveys. „Seit dem Jahr 2008 gibt es am Robert Koch-Institut (RKI) ein Gesundheitsmonitoring, das Untersuchungs- und Befragungssurveys für alle Altersgruppen umfasst. Mit den bundesweiten Studien sind sowohl bevölkerungsbezogene Querschnittsanalysen möglich als auch längsschnittliche Auswertungen. Durch die Erhebung von Gesundheitsdaten zusammen mit sozialen und demografischen Angaben, Risiko- und Schutzfaktoren ergeben sich breite Auswertungsmöglichkeiten für die Gesundheit im Lebensverlauf. Für den vorliegenden Bericht wurden folgende Studien des Monitorings herangezogen: KiGGS („Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“, Basiserhebung und Welle 1), DEGS1 („Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“) und GEDA („Gesundheit in Deutschland aktuell“ 2009, 2010, 2012) (siehe „Wichtige Datenquellen“, S. 500). Das Gesundheitsmonitoring wird kontinuierlich weiterentwickelt. Vor dem Hintergrund einer verstärkten Zusammenarbeit im europäischen Kontext wurde in die aktuelle Erhebungswelle von GEDA der europaweit durchgeführte European Health Interview Survey integriert (GEDA 2014/ 2015-EHIS)“ RKI 2015, S. 15). Insgesamt stellt sich die GBE des Bundes heute wie folgt dar: „Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes ist eine gemeinsame Aufgabe des Robert Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamtes. Das Robert Koch-Institut trägt die fachliche Verantwortung für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes und koordiniert das Berichtssystem. Aufgabe des Statistischen Bundesamtes ist der Betrieb des Informations- und Dokumentationszentrums „Gesundheitsdaten“, dessen Kern diese Internetseite darstellt. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe wird das Statistische Bundesamt finanziell vom Bundesministerium für Gesundheit unterstützt. Die politische Verantwortung für die gesamte Gesundheitsberichterstattung des Bundes liegt beim Bundes-

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Gesundheitsberichterstattung in Deutschland

ministerium für Gesundheit.“ http://www.gbe-bund.de/ gbe10/isgbe.prc_get_clob_text?p_uid=gastg&p_aid=0&p_ sprache=D&p_th_id=50440&p_proc=PRC_IMPRESSUM& p_text_name=Impressum. Zugegriffen am 04.01.2018. Die Produkte sind derzeit folgende: „Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes Das Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes liefert als Online-Datenbank schnell, kompakt und transparent gesundheitsrelevante Informationen zu allen Themenfeldern der Gesundheitsberichterstattung. Die Informationen werden in Form von individuell gestaltbaren Tabellen, übersichtlichen Grafiken, verständlichen Texten und präzisen Definitionen bereitgestellt und können heruntergeladen werden. Das System wird ständig ausgebaut. Derzeit sind aktuelle Informationen aus über 100 Datenquellen abrufbar. Zusätzlich können über dieses System die hier genannten Produkte und die Inhalte aus dem Gesundheitsbericht für Deutschland (Statistisches Bundesamt 1998), dem Bericht Gesundheit in Deutschland (Robert Koch-Institut 2006) sowie dem Bericht Gesundheit in Deutschland (Robert Koch-Institut 2015) abgerufen werden. Themenhefte der Gesundheitsberichterstattung des Bundes In den Themenheften werden spezifische Informationen zum Gesundheitszustand der Bevölkerung und zum Gesundheitssystem handlungsorientiert und übersichtlich präsentiert. Jedes Themenheft lässt sich einem der GBE-Themenfelder zuordnen; der innere Aufbau folgt ebenfalls der Struktur der Themenfelder. Somit bieten die Themenfelder der GBE sowohl den Rahmen als auch die Gliederung für die Einzelhefte. Inhaltlich zusammengehörende Themen können gebündelt und gemeinsam herausgegeben werden. Die fortlaufende Erscheinungsweise gewährleistet Aktualität. Die Autorinnen und Autoren sind ausgewiesene Experten aus dem jeweiligen Bereich. Schwerpunktberichte In den Schwerpunktberichten werden spezielle Themen der Gesundheit und des Gesundheitssystems detailliert und umfassend beschrieben. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes Als Ergänzung der fortlaufend erscheinenden Themenhefte der Gesundheitsberichterstattung des Bundes gibt das Robert Koch-Institut die Reihe „Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes“ heraus. Die in loser Folge erscheinenden Veröffentlichungen bieten den Lesern zusätzliche, vertiefende Informationen zu wichtigen Aspekten der Gesundheitsberichterstattung.

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GBE kompakt GBE kompakt ist eine neue Publikationsform zu aktuellen Themen und Fragestellungen, die zeitnah aussagekräftige Daten und Fakten zur Gesundheit bereitstellt und diese anschaulich und allgemein verständlich präsentiert. Diese Reihe richtet sich an ein breites Publikum und soll die Presseund Öffentlichkeitsarbeit der GBE des Bundes unterstützen. Die Veröffentlichung erfolgt ausschließlich in elektronischer Form. Journal of Health Monitoring Das Journal of Health Monitoring ist eine Online-Zeitschrift, die vom Robert Koch-Institut herausgegeben wird. „Dieses neue Format der Gesundheitsberichterstattung greift wichtige Public-Health-Themen auf und wendet sich an eine breite (Fach-)Öffentlichkeit.“ http://www.gbe-bund.de/gbe10/isg be.prc_get_clob_text?p_uid=gastg&p_aid=0&p_sprache= D&p_th_id=50230&p_proc=PRC_PRODUKTE&p_text_ name=Produkte. Zugegriffen am 04.01.2018. Nach Auskunft aus dem Statistischen Bundesamt soll die Reihe Themenhefte nun nicht mehr fortgeführt werden. Stattdessen gebe es das Angebot des Journal of Health Monitoring. „Das Journal enthält wissenschaftliche Informationen zur Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland, insbesondere Auswertungen aus dem RKI-Gesundheitsmonitoring.“ Sie werden in Form von Focus-Artikeln und Fact sheets präsentiert, die durch ein übergeordnetes Thema verknüpft sind. Das Journal of Health Monitoring erscheint vierteljährlich in deutscher und englischer Sprache. Alle Beiträge unterliegen einem Peer-Review-Verfahren. Auf der Homepage des Robert Koch-Instituts können die Artikel kostenlos heruntergeladen werden.“ https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonito ring/JoHM/allgemein/Ueber_die_Zeitschrift_node.html. Zugegriffen am 04.01.2018.

3.2

Länder

Die Gesundheitsberichterstattung der Bundesländer wurde 1987 mit Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz als Aufgabe der Länder formuliert (Reiners 1996). Sie gestaltet sich recht unterschiedlich von Bundesland zu Bundesland. Dies hängt in erster Linie mit der unterschiedlichen personellen und finanziellen Ausstattung in den einzelnen Bundesländern zusammen. Auch die institutionelle Anbindung ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich. In einigen ist sie direkt im Gesundheitsministerium angesiedelt, in anderen in nachgeordneten Landesinstituten oder auch im Statistischen Landesamt. Vereinzelt wurden Externe hierfür mit der Durchführung eines Landes-Gesundheitssurvey beauftragt (vgl. z. B. Kirschner und Elkeles 1996). In einigen Ländern

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T. Elkeles

wurden regelmäßige Basis-Gesundheitsberichte gar nicht produziert (Rheinland-Pfalz) oder nach einigen Jahren wieder eingestellt (z. B. Mecklenburg-Vorpommern). Zur Vereinheitlichung und auch zur Vergleichbarkeit der Länderdaten untereinander hat die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) im Jahr 2003 in dritter überarbeiteter und anhaltend gültiger Auflage den von Nordrhein-Westfalen koordinierten „Indikatorensatz der Länder“ verabschiedet, der den Ländern für ihre LandesGBE empfohlen wird (AOLG 2003). In diesem Katalog sind etwa 300 Indikatoren zu verschiedenen gesundheitsrelevanten Themen erfasst, die eine vergleichbare Datenbasis auf Bundesländerebene ermöglichen sollen. Da nicht alle Daten gleichermaßen in den Bundesländern verfügbar sind, wurde innerhalb des Indikatorensatzes eine Auswahl an sog. Kernindikatoren getroffen, die in allen Bundesländern einheitlich zur Verfügung stehen sollen. Daten sind über die Internetseiten der zuständigen Ministerien, Landeseinrichtungen oder Statistischen Landesämter verfügbar. Die Indikatoren der Länder sind nach Themenfeldern geordnet. Themenfelder sind dabei 1. Demografische Angaben 2. Bevölkerung und bevölkerungsspezifische Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens 3. Gesundheitszustand der Bevölkerung (Mortalität und Morbidität, Krankheitsgruppen) 4. Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen 5. Gesundheitsrisiken aus der natürlichen und technischen Umwelt 6. Einrichtungen des Gesundheitswesens 7. Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens 8. Berufe und Beschäftigtenzahlen im Gesundheitswesen 9. Ausbildung im Gesundheitswesen 10. Ausgaben und Finanzierung 11. Kosten in ausgewählten Bereichen Besonders aktiv mit verschiedenen Produkten und Formaten der Landes-GBE sind anhaltend die Bundesländer Nordrhein-Westfalen mit dem Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen, Berlin (Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung) sowie seit einigen Jahren Bayern (Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit).

3.3

Kommunen und Landkreise

In den Kommunen und Kreisen sind die „unteren Gesundheitsbehörden“ (Gesundheitsämter) die Träger des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) und damit für die kommu-

nale GBE zuständig. Ihre vielfältigen Aufgaben regeln die jeweiligen Landes-Gesetze über den Öffentlichen Gesundheitsdienst, die von Land zu Land etwas abweichen können. Alle Landes-ÖGD-Gesetze enthalten zwar die Aufgabe der GBE. Wichtiger Unterschied ist dabei aber, ob und wie diese als sog. Pflichtaufgabe gesetzlich vorgeschrieben ist. Zum Beispiel wurde in Mecklenburg-Vorpommern die erste Fassung des Gesetzes über den Öffentlichen Gesundheitsdienst von 19.07.1994 im Jahr 2012 abgeschwächt und seitdem kann eine Erstellung von Berichten durch die Kommunen (die bisher in wenigen Kommunen überhaupt und nur in einem Landkreis in regelmäßigen Abständen erfolgte, vgl. Bernateck und Fischer 2012; Heymann et al. 2016) nicht mehr zwingend direkt aus dem Gesetz abgeleitet werden. Vielmehr beschränkt sich die Aufgabe der kommunalen GBE auf die Datenlieferung an das zuständige Ministerium, wo die Daten im Internet eingestellt werden. „§ 24 Information der Öffentlichkeit über die gesundheitliche Situation im Land (1) Die Gesundheitsberichterstattung dient der Planung und Durchführung von Maßnahmen, die die Gesundheit fördern und Krankheiten verhüten. Sie erfolgt nach Maßgabe der folgenden Absätze. (2) Die Gesundheitsämter und das Landesamt für Gesundheit und Soziales sammeln nichtpersonenbezogene Daten, die die gesundheitliche Situation beschreiben, und leiten sie dem Ministerium für Arbeit, Gleichstellung und Soziales zu. Soweit ihnen erforderliche Daten nicht vorliegen, wirken die Gesundheitsämter darauf hin, dass diese Daten durch andere Stellen zur Verfügung gestellt werden. (3) Das Ministerium für Arbeit, Gleichstellung und Soziales bewertet die Daten und macht die Ergebnisse regelmäßig im Internet allgemein zugänglich.“ (Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst – ÖGDG M-V, GVOBl MV S. 208) Ein positives Beispiel stellt das ÖGDG-Gesetz von Nordrhein-Westfalen dar: „§ 21 Kommunaler Gesundheitsbericht Die untere Gesundheitsbehörde erstellt zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 6 regelmäßig Gesundheitsberichte auf der Grundlage eigener und der in der Gesundheitskonferenz beratenen Erkenntnisse. Dabei sind soziale und geschlechtsspezifische Gegebenheiten regelmäßig einzubeziehen. Die untere Gesundheitsbehörde macht die Berichte der Öffentlichkeit zugänglich.“ (Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen [ÖGDG NRW], § 21 neu gefasst durch Gesetz v. 01.03.2005 (GV. NRW. S. 190); in Kraft getreten am 31.03.2005) Entsprechend vielfältig ist die kommunale GBE im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Auch das für das Gesundheits-

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Gesundheitsberichterstattung in Deutschland

wesen zuständige Landesministerium ist hier verpflichtet, „regelmäßige Gesundheitsberichte als Grundlage gesundheitspolitischer Planungen“ vorzulegen und dem Landtag zuzuleiten (§ 25 ÖGDG NRW). Zudem hat es mindestens einmal jährlich die Landesgesundheitskonferenz einzuberufen (§ 26 ÖGDG NRW), bei der grundsätzliche Fragen mit dem Ziel der Koordinierung beraten werden. Dies stellt auch in anderen Bundesländern ein sinnvolles Instrument dar, um mit den Ergebnissen der GBE auch weiterzuarbeiten. Allerdings zeigte die „Münchner GBE-Studie“ (Stockmann et al. 2008), eine schriftliche Befragung aller damals 419 deutschen Gesundheitsämter (Response-Rate 54 %), dass zumindest die mit der GBE angestrebten Steuerungsziele nach Aussagen der Befragten nur teilweise auch umgesetzt werden. Drei Viertel der Ämter hatten in den letzten fünf Jahren mindestens einen Gesundheitsbericht vorgelegt. In knapp der Hälfte der Fälle war die GBE in amtsübergreifende Planungsprozesse eingebunden. In zwei Dritteln der Ämter half sie, Routineaufgaben des Amtes zu erfüllen, vorwiegend bei der Planung von Präventionskampagnen. Kindergesundheit, Impfen und Infektionskrankheiten waren die Top-Themen. Die gegenwärtige Bedeutung der Gesundheitsberichterstattung wurde eher zurückhaltend bewertet, die künftige Bedeutung dagegen häufiger als groß eingeschätzt. Die Autoren folgerten, dass die Mehrzahl der Gesundheitsämter der Gesundheitsberichterstattung eine Steuerungsfunktion zuschreibe, deren Realisierung allerdings teilweise noch unzureichend sei. Es wäre daher sinnvoll, den Funktionsvoraussetzungen und Wirkungsmechanismen der Gesundheitsberichterstattung mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und den politischen Prozess, in den sie einzubinden ist, expliziter zu modellieren. Damit stellt diese Evaluation das fest, was in der Anfangsphase der GBE als deren Ziel formuliert worden war: die Probleme auf eine Ebene herunterzubrechen, auf der Zielvorgaben, Maßnahmen etc. formuliert werden können, wofür sich die kommunale insofern besonders anbietet, weil dort die Nähe zur betroffenen Bevölkerung vergleichsweise größer ist als auf der Bundes- und Länderebene (vgl. Adler und Brand 1998; Kuhn und Trojan 2017).

4

Gesundheitsreporte nicht-staatlicher Akteure

4.1

Krankenkassen

Historisch haben sich die „Reporte“ genannten Berichterstattungen der Krankenkassen – die sich nicht dem staatlich organisierten Gesundheitsberichtserstattungswesen verpflichtet fühlen, heute aber nach Auffassung des Verfassers ein relevantes Produkt einer GBE darstellen – aus der Auswertung und Zusammenstellung von Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung, zunächst der Arbeitsunfähigkeitsdaten, entwi-

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ckelt. Hier war jedenfalls in den 1980er-Jahren der damalige Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK BV) führend. Über die anfangs reine Zählstatistik des Arbeitsunfähigkeitsgeschehens hinaus wurden hier im Ergebnis des Forschungsvorhabens „Krankheitsartenanalyse“ (Georg et al. 1983) erstmals in der GKV Sekundärdaten, die das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen beschreiben, mit Primärdaten aus über 100 Betrieben des produzierenden Gewerbes, die Arbeitsplatztypen beschreiben, auf breiter empirischer Basis zusammengeführt, um Art, Häufigkeit und Dauer der mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Erkrankungen nach Branchen, Regionen, Berufen und Belastungskonfigurationen (und weiteren Merkmalen) auszuwerten und der Prävention zugängliche Belastungsprofile nach Arbeitsbereichstypen zu identifizieren (vgl. Elkeles und Georg 2002). Alle größeren Kassen produzieren inzwischen jährlich derartige Reporte, in denen meist regelmäßig die Sekundärdaten zu Arbeitsunfähigkeiten und auch Arzneiverordnungen ausgewertet und zusätzlich jährlich wechselnde Schwerpunktthemen, teilweise zusätzlich regional differenziert und teilweise durch externe Auftragsnehmer durchgeführt, bearbeitet werden, so • der BKK Gesundheitsreport (Knieps und Pfaff 2017), • der BARMER Gesundheitsreport (Barmer 2017), • der TK Gesundheitsreport (Techniker Krankenkasse 2017) und • der DAK Gesundheitsreport (Storm 2017). Auf Seiten der Ortskrankenkassen hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) eine breite Produktpalette, teilweise in Kooperation mit externen Experten und Institutionen, entwickelt, wie den jährlich jeweils erscheinenden • • • • •

Seit 1985: Arzneiverordnungs-Report (Schwabe et al. 2017) Seit 1993: Krankenhaus-Report (Klauber et al. 2017) Seit 1999: Fehlzeiten-Report (Badura et al. 2017) Seit 2007: Ärzteatlas (Klose und Rehbein 2017) Seit 2015: Pflege-Report (Jacobs et al. 2017)

Wenngleich die Reporte der Krankenkassen zu einem gewissen Grade der Selbstdarstellung bzw. Konkurrenz gegenüber „Mitbewerber“-Kassen dienen (und somit manchmal etwas in die Richtung einer bei staatlichen Akteuren kritisierten „Hofberichterstattung“ (Borgers und Streich 1996) gehen, spiegeln sie doch auch wider, wie stark sich Krankenkassen heute auch als Player im Gesundheitswesen verstehen und Produkte zur Verfügung stellen, die für eine Berichterstattung im Gesundheitswesen, wenn nicht auch für wissenschaftliche Zwecke durchaus anspruchsvoller Qualität unverzichtbar sind. Böcken (2009) reiht auch den Gesundheitsmonitor zur Gesundheitsversorgung in der ambulanten Versorgung, der ab 2001 von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt wurde, in die Routinen einer GBE ein.

150

4.2

T. Elkeles

Betriebliche Gesundheitsberichterstattung

Für die Betriebliche Gesundheitsförderung ist ein betrieblicher Gesundheitsbericht das Standardinstrument der IstAnalyse. Wird dies von einer Krankenkasse zur Verfügung gestellt, enthält dieser Bericht im Kern stets eine Aufbereitung von betriebs- bzw. abteilungsspezifischen Daten zur Arbeitsunfähigkeit, zu ihrer Dauer und zu den ihr zugrunde liegenden Erkrankungsarten. Hierzu werden die Werte für den Betrieb mit Durchschnittswerten der Branche oder betriebsintern miteinander verglichen (Stein 1995). Für sich allein genommen geben diese Informationen aber noch keinen Aufschluss über Ursachen auffälliger Unterschiede. Wo möglich, werden daher zusätzliche Daten in der Betrieblichen Gesundheitsberichterstattung herangezogen, angefangen von Unternehmensdaten über die Art des Arbeitsbereichs über anonyme, schriftliche Mitarbeiterbefragungen bis hin zu avancierteren Datenquellen und statistischen Verfahren. Der Stellenwert des Gesundheitsberichts besteht darin, einem Arbeitskreis Gesundheit im Betrieb oder einem Gesundheitszirkel eine Informationsgrundlage zur Verfügung zu stellen, auf deren Basis Übereinstimmung erzielt werden kann, welche Probleme mit welchen Maßnahmen im betrieblichen Gesundheitsmanagement prioritär angegangen werden sollen (vgl. Elkeles 2002; Elkeles und Beck 2017).

4.3

Pflegeberichterstattung

In einem Basisdokument der deutschen Pflegewissenschaft, der Denkschrift Pflegewissenschaft (Robert Bosch Stiftung 2000), wurde der bis heute noch wenig entwickelte Begriff der Pflegeberichterstattung bereits als Aufgabe formuliert. In diesem Dokument wurde Pflegeberichterstattung in den Kontext der Notwendigkeit der Entwicklung von Pflegeforschung gestellt. Die Denkschrift formuliert, dass qualitative und quantitative Methoden und Verfahren der Pflegeforschung zu entwickeln seien als Basis für die dringend benötigte Pflegeberichterstattung, die sozialrechtliche Leistungsberichterstattung und zur Pflegesystemanalyse. Wenngleich Pflegethemen heutzutage schon stärker in die GBE integriert sind, wartet der Ansatz, die Pflegeberichterstattung als ein eigenständiges Instrument der Pflegewissenschaft zu entwickeln, noch weiter auf eine umfassendere Umsetzung (Elkeles 2000; Deutsches Institut für angewandte Pflegewissenschaft 2003; Schemming 2013).

5

Ausblick

30 Jahre nach Beginn der Forderungen nach dem Aufbau einer GBE haben sich auf den verschiedenen staatlichen Ebenen Routinen einer regelmäßigen GBE in teilweise sich ändernden Formen, auch im Sinne eines Monitorings und

einer Surveillance (Reintjes und Klein 2007; Bardehle und Annuß 2012; Kuhn und Ziese 2012) etabliert. Einen kontinuierlichen Aufschwung haben die Gesundheitsreporte nicht-staatlicher Akteure erfahren. Daneben werden auf verschiedenen Ebenen integrierte Berichterstattungen gefordert. Es bleibt jedoch bemerkenswert, dass es insbesondere auf staatlicher Ebene keine Fortsetzung oder Neuaufnahme eines Dialogs über konzeptionelle Fragen (vgl. Murza und Hurrelmann 1996) oder auch nur den Versuch eines Rückblicks und Zwischenfazits gegeben hat. Wilhelm F. Schräder hat diese Phänomene in einem 2006 gemeinsam mit Stefan Loos veröffentlichten Beitrag (Schräder und Loos 2006) mit einer soziologischen Diagnose belegt, wonach Gesundheitsberichterstattung eine Chiffre für einen Aspekt der Modernisierung der Gesundheitsverwaltung, und zwar das „Paradigma für ihre empirisch-statistische Aufrüstung“, gewesen sei. Dieser Diagnose zufolge war es jedoch ein Missverständnis gewesen, jenes Modernisierungsparadigma „nicht funktional, sondern institutionell zu interpretieren“ (ebd., S. 257). Wie bei vorangegangenen Paradigmen zur Auflösung von aufgestauten Modernisierungsblockaden in der öffentlichen Verwaltung werde auch die Institutionalisierung der GBE eine Übergangserscheinung bleiben. Die institutionalisierten Formen der GBE würden daher voraussichtlich weitgehend wieder verschwinden. Die empirisch-statistische Aufrüstung führe nicht zu einer Erhöhung des Steuerungspotenzials, sondern lediglich zu einer differenzierteren Begründung für Steuerungsaktivitäten, wobei in Deutschland vor allem nach Strategien gesucht werde, vor der Nutzung expliziter Rationierung die Phase der weitgehend impliziten Rationierung von Gesundheitsversorgungsleistungen auszudehnen (vgl. ebd., S. 257 f.). Hierzu ist anzumerken, dass ein direktes Verschwinden institutionalisierter Formen der GBE bisher nicht zu verzeichnen ist. Im Zusammenhang mit einem neuen Modernisierungsschub der Informationstechnologie, der Digitalisierung, ist demgegenüber festzustellen, dass manchenorts die Berichtsform der GBE, die wegen ihrer Funktion für den gesundheitspolitischen Diskurs in der Anfangsphase der GBE als besonders wichtig herausgestellt wurde, zugunsten von tabellenförmigen Online-Datenpräsentationen teilweise wieder zurückgefahren wurde. Ohnehin ist wohl unterschätzt worden, dass die Informationsgewinnung alleine noch nicht rationale Entscheidungsfindungen in der (Gesundheits-)Politik garantiert und vielmehr die Informationsvermittlung demgegenüber jedenfalls in der Politikberatung durch einen „dementsprechend aufwändigen Lobbyapparat“ eine stetig wachsende Bedeutung bekommen hat (Reiners 2006, S. 38). Die Debatte über konzeptionelle Fragen der GBE blieb im Laufe der letzten 30 Jahre demgegenüber zunehmend einzelnen Initiativen überlassen (vgl. Kuhn und Busch 2006; Kuhn und Böcken 2009; Elkeles 2013).

12

Gesundheitsberichterstattung in Deutschland

Dabei ist festzuhalten, dass historisch wie aktuell das aufklärerische Motiv einer GBE und die Mittel der Demokratisierung und Bürgerorientierung nicht die allein existierenden und bestimmenden Motive auf den Ebenen staatlicher Gesundheitsverwaltung sind. Vielmehr ist hier das Verhältnis von Wissenschaft und Politik angesprochen, zu dem Barlösius (2006) feststellt, dass oft erst nach und nach mit einer entsprechenden Wirkung wissenschaftlicher Bemühungen zu rechnen ist.

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Teil III Gesundheitssoziologie

Soziale Ungleichheit und Gesundheit

13

Thomas Lampert, Jens Hoebel, Benjamin Kuntz und Julia Waldhauer

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2 Empirische Ergebnisse zu sozialen Unterschieden in der Morbidität und Mortalität . . . . . . . . . . . . 156 3 Ansätze zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4 Lebensphasen- und lebenslaufbezogene Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5 Sozialer Wandel und Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 6 Herausforderungen für Politik und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

1

Einleitung

Deutschland gehört zu den wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt und hat in jüngster Vergangenheit große Herausforderungen wie die Wiedervereinigung und die Auswirkungen der globalen Finanzkrise bewältigt. Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen zusehends auseinanderentwickeln. Dafür sprechen unter anderem die hohe, in bestimmten Bevölkerungsgruppen und Regionen steigende Armutsbetroffenheit, die fortschreitende Vermögenskonzentration, die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, der wachsende Anteil älterer Menschen mit unzureichender Altersvorsorge sowie der nach wie vor stark ausgeprägte Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen (BMAS 2017; Destatis, WZB 2016; Der Paritätische Gesamtverband 2015). Aus Sicht von Public Health und Gesundheitspolitik ist diese soziale Ungleichheit von Bedeutung, weil sie sich in der Gesundheit und Lebenserwartung der Bevölkerung widerspiegelt. Mittlerweile zeigt eine große Zahl an Studien,

T. Lampert (*) · J. Hoebel · B. Kuntz · J. Waldhauer Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert KochInstitut, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected]; [email protected]

dass Menschen mit niedrigem sozialen Status, also niedrigem Einkommen, Bildungsniveau und Berufsstatus, vermehrt von chronischen Krankheiten und Beschwerden betroffen sind, ihre eigene Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität schlechter einschätzen und einem erhöhten vorzeitigen Sterberisiko unterliegen (Mielck 2000; Lampert et al. 2005; Richter und Hurrelmann 2009). Zudem verfügen sie offenbar über geringere Kompetenzen und Ressourcen, um aufgetretene Krankheiten und Funktionseinschränkungen sowie damit einhergehende psychosoziale Belastungen zu bewältigen (Geyer 2001; Janßen 2001). Soziale Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung, die auch als gesundheitliche Ungleichheiten bezeichnet werden (Mielck 2000), stellen eine extreme Ausprägungsform sozialer Ungleichheiten dar (Huster 2011). Dass allgemein hoch bewertete Güter und Ressourcen wie Einkommen, Bildungsabschlüsse oder Sozialprestige in einer Leistungsgesellschaft ungleich verteilt sind, wird zumindest bis zu einem gewissen Grad akzeptiert. Wenn sich die sozialen Ungleichheiten aber darin ausdrücken, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen gesünder sind und länger leben als andere, dann steht dies im Widerspruch zum sozialstaatlichen Selbstverständnis und dem Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen (Richter und Hurrelmann 2007; Lampert und Mielck 2008). Im Folgenden werden zunächst ausgewählte empirische Forschungsergebnisse vorgestellt, die das Ausmaß der

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_14

155

156

T. Lampert et al.

Die sozial ungleiche Verteilung des Krankheitsrisikos ist nicht nur in der Verbreitung körperlicher Erkrankungen festzustellen, sondern spiegelt sich auch im Risiko für psychosomatische Beschwerden und psychische Störungen wider. In Bezug auf psychosomatische Beschwerden trifft dies z. B. auf chronische Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Schwindel zu. Bei psychischen Störungen ist auf ein in der niedrigen Statusgruppe erhöhtes Risiko für affektive Störungen wie Depressionen zu verweisen. Aber auch für Angststörungen, somatoforme Störungen und Substanzstörungen gilt, dass Personen mit niedrigem sozialen Status überproportional betroffen sind (Lampert et al. 2014). Wie stark die sozialen Unterschiede ausgeprägt sind, hängt von den betrachteten Erkrankungen und Beschwerden ab. Häufig wird ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko in der niedrigen im Vergleich zur hohen Statusgruppe berichtet. Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich auch im Vergleich der niedrigen zu den mittleren und im Vergleich der mittleren zur hohen Statusgruppe Unterschiede zeigen. Entsprechend wird oftmals von einem sozialen Gradienten gesprochen, also einer graduellen Abstufung des Krankheitsrisikos über die gesamte Statushierarchie (Marmot 2004). Darüber hinaus weisen die vorliegenden Studien darauf hin, dass die sozialen Unterschiede nicht nur bei der Entstehung von Erkrankungen und Beschwerden zum Tragen kommen, sondern auch bei deren Verlauf und den resultierenden Krankheitsfolgen. Dies lässt sich z. B. an einem höheren Risiko für Funktionseinschränkungen und Behinderungen und damit verbundenen funktionellen Einschränkungen in der Alltagsbewältigung festmachen. Entsprechend unterschiedlich fallen die subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes (Abb. 1) und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität aus. Zum Teil finden die Statusunterschiede im subjektiven Gesundheitsurteil sogar einen noch stärkeren Aus-

sozialen Unterschiede in der Morbidität und Mortalität in Deutschland verdeutlichen. Anschließend werden verschiedene Ansätze zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit diskutiert und dabei auch auf die Bedeutung lebensphasen- und lebensverlaufsbezogener Betrachtungen sowie der Einbeziehung des sozialen Wandels und der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung eingegangen. Zum Abschluss werden die sich daraus ergebenden Herausforderungen für die Politik und Praxis diskutiert.

2

Empirische Ergebnisse zu sozialen Unterschieden in der Morbidität und Mortalität

Zu den Krankheiten, die bei Personen mit niedrigem sozialen Status häufiger auftreten als bei Personen mit mittlerem oder hohem sozialen Status, zählen Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall und Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus. Gleiches gilt für Atemwegserkrankungen wie chronische Bronchitis oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung und muskuloskelettale Erkrankungen wie Arthrose oder Osteoporose. Auch viele Krebserkrankungen kommen in der niedrigen Statusgruppe vermehrt vor. Dies gilt z. B. für Lungenkrebs, Magenkrebs und Darmkrebs. Mit Blick auf die im Krankheitsspektrum vorherrschenden Erkrankungen sind nur wenige Ausnahmen auszumachen. Dazu gehören allergische Erkrankungen, die häufiger in den höheren Statusgruppen auftreten. Auch für Brustkrebs wird bisweilen ein verstärktes Vorkommen bei Frauen mit hohem sozialen Status berichtet, die Ergebnisse sind aber nicht einheitlich (Lampert et al. 2017; Geyer 2008).

80

Sozialstatus:

Niedrig

Mittel

Hoch 64,8

62,8

60 52,6

Prozent

Abb. 1 Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes („mittelmäßig“, „schlecht“ oder „sehr schlecht“) bei Männern und Frauen verschiedener Altersgruppen nach Sozialstatus. Datenbasis: GEDA 2014/2015EHIS

40

35,9

50,4

34,6

36,3

35,7 32,2

30,8

18,7

19,3

6,8

20,6

17,9 11,2

8,4

30,8

21,8

21,0

20

51,6

49,7

8,5

9,6

0 18-29 J. 30-44 J. 45-64J. Männer

65+ J.

18-29 J. 30-44 J. 45-64 J. Frauen

65+ J.

13

Soziale Ungleichheit und Gesundheit

157

erkennungsuntersuchungen, Gesundheits-Check-Up und kassenfinanzierte Angebote zur Gesundheitsförderung zu beobachten (Janßen et al. 2012; Hoebel et al. 2013). In diesem Zusammenhang wird auch von einem „Präventionsdilemma“ gesprochen und damit zum Ausdruck gebracht, dass die Bevölkerungsgruppen, die den größten Präventionsbedarf haben, von den vorhandenen Maßnahmen und Angeboten oftmals schlechter erreicht werden (Bauer 2005). Die sozialen Unterschiede in Bezug auf Erkrankungen, Beschwerden und den zugrunde liegenden Risikofaktoren kumulieren letztlich in einem erhöhten vorzeitigen Sterberisiko in der niedrigen Statusgruppe. Mit Blick auf das Einkommen sprechen die vorliegenden Studien für eine um fünf bis über zehn Jahre verringerte mittlere Lebenserwartung bei Geburt im Vergleich von Personen mit niedrigen und hohen Einkommen. Auch bei Betrachtung der im Alter von 65 Lebensjahren verbleibenden Lebenszeit lässt sich noch eine Differenz von etwa drei bis fünf Jahren feststellen (Lampert und Kroll 2014). Dies hängt offenbar nicht nur mit dem verstärkten Auftreten von schwerwiegenden Erkrankungen zusammen. Für einige Erkrankungen, darunter Herzinfarkt und Diabetes mellitus, konnte zudem gezeigt werden, dass Personen mit höherem Einkommen nach Krankheitseintritt eine höhere Überlebenszeit aufweisen. Als Gründe hierfür werden Unterschiede in der Versorgung, aber auch im individuellen Bewältigungshandeln und im Umgang mit der Erkrankung diskutiert (Perna et al. 2010).

druck, als wenn objektive Gesundheitsparameter, wie z. B. ärztliche Diagnosen, betrachtet werden. Zurückgeführt wird dies auf Unterschiede zwischen den Statusgruppen in Bezug auf gesundheitsbezogene Einstellungen, Wahrnehmungen und Überzeugungen sowie personale und soziale Bewältigungsressourcen (Lampert et al. 2016). Viele der Erkrankungen und Beschwerden, in deren Verbreitung sich soziale Unterschiede abzeichnen, können auf Risikofaktoren zurückgeführt werden, die im Zusammenhang mit dem Gesundheitsverhalten zu sehen sind. Große Bedeutung kommt dabei dem Rauchen zu, das in den niedrigen Statusgruppen nach wie vor deutlich stärker verbreitet ist. Bezüglich des Alkoholkonsums fallen die sozialen Unterschiede geringer aus. Dies gilt allerdings nur hinsichtlich des moderaten Alkoholkonsums. Alkoholabhängigkeit und alkoholbedingte Erkrankungen sind zumindest bei Männern deutlich häufiger in der niedrigen Statusgruppe festzustellen. Darüber hinaus zeigt sich, dass sich die Angehörigen der niedrigen Statusgruppen ungesünder ernähren. Festmachen lässt sich dies u. a. an einer insgesamt höheren Kalorienzufuhr, einer oftmals nicht ausgewogenen Ernährungsweise und einem häufigeren Verzehr von fett- und zuckerhaltigen Lebensmitteln sowie gesüßten Getränken. Dem entspricht ein deutlich erhöhtes Risiko für Adipositas als schwerer Ausprägungsform von Übergewicht bei Personen mit niedrigem sozialen Status. Dieses ist allerdings nicht nur im Zusammenhang mit der ungesünderen Ernährungsweise zu sehen, sondern auch mit anderen Faktoren, z. B. der geringeren sportlichen Aktivität und aktiven Freizeitgestaltung in der niedrigen Statusgruppe (Abb. 2) (Lampert et al. 2017). Darüber hinaus weisen die vorliegenden Studien auf statusspezifische Unterschiede in der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens hin (Klein et al. 2014; Hoebel et al. 2016). Diese sind gerade bei präventiven und gesundheitsfördernden Angeboten wie Schwangerenvorsorge, KrebsfrühAbb. 2 Gesundheitsverhalten nach sozialem Status bei 18-jährigen und älteren Männern und Frauen. Datenbasis: GEDA 2014/2015-EHIS

3

Ansätze zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit

Schon seit längerem konzentriert sich die Forschung nicht mehr nur auf den Nachweis und die Beschreibung der sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung. Ergän-

80 Sozialstatus: Niedrig

Mittel

Hoch

60

Prozent

51,2

40

50,6

35,8

35,2

32,9 27,8

27,0 23,0

20

19,7

22,8 18,7 13,2

23,7 21,7

20,1 17,1

14,1 9,9

0

Rauchen

Kein Sport Adipositas Männer

Rauchen

Kein Sport Adipositas Frauen

158

T. Lampert et al.

Abb. 3 Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit nach Mackenbach (2006)

zend wird immer häufiger danach gefragt, wie diese Unterschiede zustande kommen und erklärt werden können. Die meisten Forschenden stimmen darin überein, dass die beobachteten gesundheitlichen Ungleichheiten durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren zustande kommen. Johan Mackenbach hat ein Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten vorgeschlagen, nach dem zwischen materiellen, psychosozialen und verhaltensbezogenen Faktoren unterschieden werden sollte. Dabei geht er davon aus, dass sich der Einfluss der materiellen und psychosozialen Faktoren entweder direkt oder über das Gesundheitsverhalten entfaltet und zudem die materiellen die psychosozialen Faktoren beeinflussen (Abb. 3) (Mackenbach 2006). Im Hinblick auf die materiellen Faktoren wird unter anderem die Bedeutung des materiellen Lebensstandards und des finanziellen Handlungsspielraums diskutiert. Knappe finanzielle Mittel vermindern die Konsum- und Partizipationsmöglichkeiten. Zum Teil betreffen die notwendigen Einsparungen auch Güter, die für die Gesundheit unmittelbare Bedeutung haben, wie z. B. Nahrungsmittel, Kleidung und Hygieneartikel. Ebenso kann sich der Verzicht auf Urlaubsreisen, Mitgliedschaft in Vereinen oder Besuche kultureller Veranstaltungen auf das Wohlbefinden und die Gesundheit auswirken. Nachteile ergeben sich außerdem durch die eingeschränkten Möglichkeiten der privaten sozialen Absicherung, z. B. Altersvorsorge, Unfall- und Lebensversicherung. Vor dem Hintergrund steigender Mieten und zunehmender sozialräumlicher Segregation in Städten wird zunehmend über die Wohnbedingungen diskutiert. Angesprochen wird damit nicht nur auf Qualität und Bezahlbarkeit der Wohnung, sondern auch auf Merkmale der Wohnumgebung, wie z. B. Infrastruktur, Verkehr, Luftqualität oder Erholungsmöglichkeiten. Unterschieden im Zugang zur medizinischen Versorgung wird im Vergleich dazu ein geringerer Stellenwert beigemessen. Zwar hat die Bedeutung von Zuzahlungen und privaten Käufen medizinischer Güter und Leistungen zugenommen, zumeist wird aber nicht davon ausgegangen, dass dadurch eine adäquate medizinische Versorgung von Personen mit niedrigem Einkommen nicht mehr gewährleistet wird (Janßen et al. 2009). Psychosoziale Belastungen resultieren unter anderem aus den Arbeitsbedingungen und sind bei geringqualifizierten

Erwerbstätigen stärker verbreitet. Wenn es um die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit geht, sind zwar auch Belastungen und Risiken aufgrund von schwerer körperlicher Arbeit, Umgebungseinflüssen und Unfallgefahren zu berücksichtigen, infolge der aktuellen Veränderungen der Arbeitswelt hat sich das Interesse aber stärker in Richtung psychosozialer Belastungen verlagert (Lohmann-Haislah 2012). Dies gilt z. B. für Belastungen infolge von anspruchsvollen oder konfligierenden Arbeitsaufgaben, aber auch für Konflikte mit Vorgesetzten und Kollegen. Den Erkenntnissen der Arbeitswissenschaften zufolge sind psychosoziale Belastungen besonders hoch, wenn der individuelle Handlungsspielraum und die Handlungskontrolle nicht ausreichen, um den beruflichen Anforderungen gerecht werden zu können („Anforderungs-Kontroll-Modell“) (Karasek und Theorell 1990) oder wenn eine Disbalance zwischen den individuellen Bemühungen und Leistungen und den gewährten Gratifikationen, z. B. Entlohnung oder Anerkennung, besteht bzw. wahrgenommen wird („Modell beruflicher Gratifikationskrisen“) (Siegrist 1996). In diesem Zusammenhang kommt auch der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse Bedeutung zu, da die Sorge um den Arbeitsplatz oder die unterwertige Beschäftigung von vielen Arbeitnehmenden als überaus belastend empfunden wird (Kroll und Lampert 2012). Darüber hinaus können psychosoziale Belastungen aus sozialen Vergleichsprozessen und Ausgrenzungserfahrungen resultieren. Personen mit einem eingeschränkten finanziellen Handlungsspielraum können sich viele Dinge und Aktivitäten nicht leisten, die für weite Bevölkerungskreise selbstverständlich sind und für den Lebensstandard und die Lebensqualität als wichtig erachtet werden. Der Vergleich mit sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen führt bisweilen auch zu einem „freiwilligen“ Rückzug aus sozialen Bezügen, z. B. aufgrund von Schamgefühlen oder einem verminderten Selbstwertgefühl. Von besonders hohen psychosozialen Belastungen ist auszugehen, wenn die sozial benachteiligte Lebenslage mit einer Diskriminierung und Stigmatisierung einhergeht, die bisweilen auch im näheren sozialen Umfeld erlebt wird (Laqua 2014). Welche Bedeutung dem Gesundheitsverhalten für die Erklärung des höheren Krankheits- und Sterberisikos der armutsgefährdeten Bevölkerungsgruppen zukommt, verdeutlichen

13

Soziale Ungleichheit und Gesundheit

die dargestellten empirischen Befunde zum Tabakkonsum, zur sportlichen Inaktivität und zur Adipositas. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese und andere verhaltenskorrelierte Risikofaktoren häufig gemeinsam auftreten und sich dadurch die Auswirkungen auf die Gesundheit kumulativ verstärken können. Für das Gesundheitsverhalten sind zwar individuelle Entscheidungen ausschlaggebend, diese hängen aber stark von Einstellungen, Wahrnehmungen und Wertorientierungen ab, die durch die Lebensumstände geprägt werden. Neben materiellen Nachteilen und verminderten sozialen Teilhabechancen sind es, wie auch im Modell von Mackenbach dargestellt, gerade die aus einer sozial benachteiligten Lebenslage resultierenden psychosozialen Belastungen, die eine gesundheitsförderliche Lebensführung erschweren bzw. das Festhalten an gesundheitsschädigenden Verhaltensgewohnheiten wie dem Rauchen oder regelmäßigen Alkoholkonsum begünstigen.

4

Lebensphasen- und lebenslaufbezogene Betrachtungen

Ein zentraler Kritikpunkt an den herkömmlichen Erklärungsmodellen zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit ist, dass diese relativ statisch sind, d. h. keine zeitlichen Entwicklungen und Veränderungen berücksichtigen (Richter und Hurrelmann 2009). Soziale Unterschiede im Auftreten chronischer Erkrankungen im Erwachsenenalter werden demnach vorrangig auf in dieser Lebensphase bestehende Unterschiede in der Verbreitung relevanter Risiko- und Schutzfaktoren zurückgeführt. Ereignisse und Erfahrungen aus früheren Lebensphasen werden in der Regel ausgeblendet. Die epidemiologische Lebenslaufforschung hingegen betrachtet Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit als Ergebnis langfristiger biologischer, psychischer und sozialer Prozesse, die aufeinander aufbauen bzw. miteinander verbunden sind. Der auf die Entstehung und Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit im späteren Leben gerichtete Fokus wird dabei erweitert, indem sozial ungleich verteilte Ressourcen und Belastungen aus früheren Lebensphasen – insbesondere aus Kindheit und Jugend – miteinbezogen werden. Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Lebenslaufperspektive waren Analysen, die Zusammenhänge zwischen frühkindlichen Risikofaktoren, z. B. einem geringen Geburtsgewicht, und dem Krankheits- und Sterberisiko im Erwachsenenalter fanden (Barker 1998). Mittlerweile sind zahlreiche Zusammenhänge bekannt, bei denen sowohl biologische als auch psychosoziale Risikofaktoren, die in jungen Jahren auftreten, das Erkrankungsgeschehen im späteren Leben in vielfältiger Weise beeinflussen (Kuh und Ben-Shlomo 2005). Die Erklärung dieser Zusammenhänge ist aufgrund der zeitlichen Abhängigkeiten und der Vielzahl beteiligter Faktoren äußerst komplex. Daher sollen hier nur die zwei zentralen

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Annahmen kurz skizziert werden (Dragano und Siegrist 2009; Lampert et al. 2016). Die erste Annahme ist, dass „kritische Perioden“ existieren, in denen Weichenstellungen für die weitere gesundheitliche Entwicklung erfolgen. Diese Perioden sind bestimmte Phasen der physiologischen Entwicklung, in denen eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber Störungen der natürlichen Entwicklung besteht. Ebenso ist bei der sozialen, emotionalen und psychischen Entwicklung von kritischen Perioden auszugehen. Ein besonderer Stellenwert wird dabei der Schwangerschaft beigemessen, aber auch im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter gibt es spezifische Phasen, in denen wichtige Entwicklungsaufgaben abgeschlossen sein sollten (z. B. Sprachentwicklung, Körperwachstum). Kommt es in diesen Phasen zu Störungen, dann können sich diese langfristig auswirken und noch im höheren Lebensalter zu einem erhöhten Risiko für Krankheiten und Funktionseinschränkungen führen. Die zweite Annahme beschreibt das sog. „Kumulationsmodell“. Demzufolge sind es weniger einmalige Ereignisse, sondern kumulative und zeitlich andauernde Prozesse, die die Gesundheit im Lebenslauf prägen. Belastungen können sich über die Zeit anreichern und gerade chronische Erkrankungen sind häufig erst das Ergebnis einer Kombination verschiedener Risikofaktoren. Der Einfluss dieser Risikofaktoren ist in der Regel umso größer, je früher sie im Leben auftreten und je länger die Risikoexposition andauert. Auch in Bezug auf Ressourcen kann von einer Kumulation über die Lebenszeit ausgegangen werden. Zu verweisen ist hier unter anderem auf die Persönlichkeitsbildung und die Entwicklung sozialer Beziehungen, die der Gesundheit zuträglich sind (Lampert 2010). Die zentralen Annahmen der epidemiologischen Lebenslaufforschung sind für die gesundheitliche Ungleichheitsforschung unmittelbar anschlussfähig. Wenn kritische Perioden und kumulative Prozesse im Lebenslauf die spätere Gesundheit beeinflussen, kann die sozial ungleiche Verteilung dieser Einflüsse zur Erklärung sozialer Unterschiede im Krankheitsund Sterbegeschehen beitragen (Dragano und Siegrist 2009). Studien zeigen, dass bereits im Mutterleib sozial ungleich verteilte Faktoren (z. B. mütterlicher Tabakkonsum, Stress) auf das ungeborene Kind einwirken (Kuntz und Lampert 2016). Nachteilige Lebensumstände in der Kindheit und Jugend bedeuten einen schlechten Start ins Leben. Sie können sich über frühkindliche Schädigungen und/oder die Kumulation von Risikofaktoren auf die Gesundheit im späteren Leben auswirken. Auch bei Faktoren wie dem kindlichen Übergewicht oder Entwicklungsstörungen sind deutliche Unterschiede zuungunsten von Kindern aus ärmeren und schlechter gebildeten Familien zu erkennen (Lampert et al. 2017). Diese sozial ungleiche Verteilung von Risikofaktoren schreibt sich bis ins Jugendalter fort, sodass die betroffenen Personen bereits beim Eintritt in das Berufsleben erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen haben können.

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T. Lampert et al.

Hinzu kommt, dass die in den einzelnen Lebensphasen bedeutsamen Dimensionen sozialer Ungleichheit ihrerseits eng miteinander verwoben sind. Dies wird auch als Modell sozialer Verursachungsketten bezeichnet (Dragano und Siegrist 2009). Kinder aus benachteiligten Familien haben demnach nicht nur ein höheres Risiko, gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt zu sein, sie sind zugleich auch im Hinblick auf ihre Bildungschancen benachteiligt. Erreichen Jugendliche, deren Eltern über eine geringe Bildung verfügen, ihrerseits niedrige Bildungsabschlüsse, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch am Arbeitsmarkt eher niedrigere berufliche Positionen einnehmen werden. Über die Assoziation einer niedrigen beruflichen Position mit verschiedenen negativen gesundheitsrelevanten Folgen, wie z. B. einer prekären Beschäftigung, niedrigem Einkommen und höheren Arbeitsbelastungen, schreiben sich somit sowohl soziale als auch gesundheitliche Benachteiligungen fort. Die Erkenntnisse der epidemiologischen Lebenslaufforschung sind aufschlussreich, um zu verstehen, wie gesundheitliche Ungleichheit entsteht, in den verschiedenen Lebensphasen zum Ausdruck kommt und über Generationsgrenzen hinweg aufrechterhalten wird (Lampert 2010).

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Sozialer Wandel und Wohlfahrtsstaat

Um zu verstehen, welche Rolle gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen für die Entstehung und Reproduktion der gesundheitlichen Ungleichheit spielen, lohnt sich ein Blick auf die Entwicklung der modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten. Dies gilt umso mehr, weil die gesundheitliche Ungleichheit nicht allein ein Phänomen des 21. Jahrhunderts ist. Bereits für vormoderne Gesellschaften ist dokumentiert, dass die Lebenserwartung von Personen der obersten Statusgruppen am höchsten und von Personen der unteren Statusgruppen am niedrigsten war (Acsádi und Nemeskéri 1970). Über die letzten Jahrhunderte haben tief greifende gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle und technologische Veränderungen stattgefunden und europäische Gesellschaften haben sich von traditionellen zu modernen Industrie- und Wissensgesellschaften mit deutlich gestiegenem Wohlstandsniveau entwickelt. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden infolge der industriellen Revolution in westeuropäischen Ländern verschiedene Sozial- und Wohlfahrtsstaaten gegründet. Den verschiedenen wohlfahrtstaatlichen Arrangements ist gemein, dass sie Maßnahmen zur Umverteilung von Einkommen und Vermögen sowie zur Bereitstellung kollektiv finanzierter Leistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung umfassen (Esping-Andersen 1990; Ferrera 1996). In Deutschland legte die Einführung der Sozialversicherungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Grundstein für den Aufbau des Sozialstaats. Dabei wurde zunächst die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt und anschließend um die gesetzliche Unfall-, Renten- und Arbeitslosen-

versicherung erweitert. Zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts, also nach Gründung und während des Aufbaus des Sozial- und Wohlfahrtswesens in westeuropäischen Ländern, haben sich die Einkommens- und Vermögensungleichheiten in den jeweiligen Ländern beträchtlich verringert (Piketty 2014), wozu die sozialstaatliche Umverteilungspolitik, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung infolge der Industrialisierung beigetragen haben dürften. Trotz der Verringerung allgemeiner sozioökonomischer Ungleichheiten bestanden die Ungleichheiten in den Gesundheits- und Lebenschancen in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern weiter fort und vergrößerten sich zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts teilweise sogar (Funk 1911; Spree 1981; Pamuk 1985). Vergleicht man heute das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit zwischen wohlhabenden Ländern mit unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen, zeigt sich ein paradoxes Bild. Zwar haben die Bevölkerungen in Ländern mit breit ausgebautem Wohlfahrtssystem und relativ geringer sozioökonomischer Ungleichheit (z. B. die skandinavischen Länder) im Durchschnitt ein höheres Gesundheitsniveau als jene in weniger wohlfahrtsstaatlich geprägten Ländern mit größerer sozioökonomischer Ungleichheit (Navarro et al. 2006; Bambra 2006; Chung und Muntaner 2007). Richtet man den Blick jedoch auf die Ungleichverteilung der Gesundheit innerhalb der Länder, stellt man fest, dass Länder mit der intensivsten Wohlfahrtspolitik und der geringsten sozioökonomischen Ungleichheit nicht gleichzeitig ein geringeres Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit aufweisen (Eikemo et al. 2008a). So bestehen selbst in den skandinavischen Ländern, für die eine stark umverteilende bzw. sozial ausgleichende Wohlfahrtspolitik typisch ist, deutlich ausgeprägte gesundheitliche Ungleichheiten zuungunsten von Personen aus niedrigen sozialen Statusgruppen (Eikemo et al. 2008a, b; Espelt et al. 2008). Es lässt sich anhand der derzeitigen Studienlage also kein klares Zusammenhangsmuster zwischen der Wohlfahrtpolitik und der gesundheitlichen Ungleichheit erkennen. Dieser Befund wird auch als „Paradoxon“ des Fortbestehens der gesundheitlichen Ungleichheit in modernen Wohlfahrtsstaaten bezeichnet (Hurrelmann et al. 2011; Mackenbach 2012). Von einem konsistenten Zusammenhang zwischen der wohlfahrtsstaatlichen Ausprägung und dem Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit kann somit nicht ausgegangen werden (Beckfield und Krieger 2009). Der fehlende Zusammenhang zwischen der Intensität wohlfahrtsstaatlicher Politik und dem Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit wirft die Frage nach möglichen Erklärungen für dieses Paradoxon auf. Ein Erklärungsversuch stellt darauf ab, dass der sozial ungleiche Zugang zu materiellen und immateriellen Ressourcen durch den Aufbau der Sozial- und Wohlfahrtsstaaten nicht gänzlich eliminiert werden konnte und deswegen weiterhin von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung und Reproduktion von

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Soziale Ungleichheit und Gesundheit

gesundheitlicher Ungleichheit ist (Mackenbach 2012). Dass die Sozial- und Wohlfahrtsstaaten den ungleichen Ressourcenzugang nicht zu eliminieren vermochten, ist jedoch insofern nicht verwunderlich, als sie dieses revolutionäre Ziel nie hatten. Vielmehr diente der Aufbau der Sozial- und Wohlfahrtssysteme ab Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, einen Kompromiss zwischen den Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Arbeiterbewegungen und herrschenden Eliten sowie deren politischen Ideologien zu finden (Hicks 1999; Mackenbach 2012; Rosenbrock und Gerlinger 2006). Die wesentlichen Mechanismen, die dem Zusammenhang zwischen sozialem Status und der Gesundheit zugrunde liegen, wurden dieser Erklärung zufolge jedoch nicht durchbrochen und hatten dies auch nicht zum Ziel, so dass gesundheitliche Ungleichheiten selbst in breit ausgebauten Wohlfahrtsstaaten bis heute überdauern. Ein weiterer Erklärungsversuch basiert auf der Annahme, dass immaterielle Ressourcen wie kulturelles Kapital, Persönlichkeitsmerkmale oder kognitive Fähigkeiten in modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten immer wichtiger für die Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit geworden sind, diese aber durch die Sozial- und Wohlfahrtspolitiken kaum berührt wurden (Mackenbach 2012). Dies ist auch im Zusammenhang mit der zeitlichen Veränderung des Krankheitsspektrums zu sehen. So dürften Verbesserungen in der Bevölkerungsgesundheit heute stärker als früher von Veränderungen im gesundheitsrelevanten Konsumverhalten der Bevölkerung abhängen, denn viele Konsumgüter eines traditionell „wohlhabenden Lebensstils“, die früher den materiell Wohlhabenden vorbehalten waren, sind heute für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich (Mackenbach 2012). Immaterielle Ressourcen dürften somit heute wichtiger denn je für das Gesundheits- und Konsumverhalten sein. Materielle Faktoren könnten in reichen und hoch entwickelten Ländern also an relativer Bedeutung für den Erhalt und die Herstellung von Gesundheit der Menschen eingebüßt haben, während solche Faktoren an Bedeutung gewannen, die Einfluss auf Kompetenzen zur Selbststeuerung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen und der eigenen Lebensführung haben (Hurrelmann et al. 2011). Kurz gesagt: „Sind die ‚materialistischen‘ Bedingungen des Lebens grundsätzlich gesichert, treten ‚postmaterialistische‘ Bedingungen der sinnerfüllten und aktiven Lebensgestaltung in den Vordergrund“ (Hurrelmann et al. 2011, S. 341) und spielen eine immer stärkere Rolle für die Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheiten.

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Herausforderungen für Politik und Praxis

Mit der gesundheitlichen Ungleichheit sind große Herausforderungen für die Politik und die Akteure im Sozial- und Gesundheitswesen verbunden. Dies gilt sowohl im Hinblick

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auf die Gesundheitsversorgung als auch die Gesundheitsförderung und Prävention. Im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung gilt zwar für Deutschland, dass durch die allgemeine Krankenversicherung allen Bürgerinnen und Bürgern per Gesetz der Zugang zu einer grundständigen medizinischen Versorgung durch das Gesundheitssystem gewährleistet wird (SGB V 2014). Es gibt jedoch auch in reichen Ländern besonders vulnerable Gruppen, die aus dem Versicherungsnetz fallen, z. B. aufgrund von Wohnungslosigkeit, einem ungeklärten Aufenthaltsstatus oder weil sie aus der privaten Krankenversicherung nicht in das gesetzliche System zurückgelangen, da sie die Folgebeiträge nicht zahlen können (Greß et al. 2005). Bezüglich solcher Personengruppen besteht die Herausforderung darin, schnelle, frei zugängliche und kostenfreie Versorgungsangebote bereitzustellen. Für Geflüchtete ohne Duldungsstatus bspw. ist seit Juli 2015 eine EU-Richtlinie rechtskräftig (EU-Aufnahmerichtlinie 2013/ 33 Art. 17), die den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit garantieren und eine kostenfreie medizinische Basisversorgung durch das gegenwärtige Aufenthaltsland gewährleisten soll (Europäische Union 2013). Manchmal sind jedoch die gesundheits- und lebensbezogenen Kompetenzen von Menschen so stark durch ihre Lebensbedingungen eingeschränkt, dass sie aus eigener Kraft keine Angebote der Gesundheitsversorgung (mehr) wahrnehmen können oder aus Scham diese verweigern. In diesem Fall wird empfohlen, durch aufsuchende Angebote betreffende Personengruppen zu versorgen (Trabert 1999). Neben Herausforderungen, die die Grundversorgung betreffen, werden immer wieder Fragen nach der Gerechtigkeit der Versorgung innerhalb des deutschen Gesundheitssystems aufgeworfen. Kritisiert wird insbesondere die Differenzierung nach gesetzlicher und privater Krankenversicherung als Zweimanchmal auch Dreiklassenmedizin, die zu systematischen Unterschieden beim Zugang zu Versorgungsleistungen, d. h. zu Privilegierungen bezüglich der Wartezeiten, Behandlungsintensität und Qualität führt (Kalvelage 2014). Für viele Behandlungen, Medikamente und Therapien sind private Zuzahlungen zu leisten, die durch die finanzielle Lage der Patientinnen und Patienten mehr oder weniger erschwinglich sind. Daher wird mitunter eine von privaten Zuzahlungen gänzlich befreite Versorgung aller Mitglieder des Krankenversorgungssystems gefordert (Kalvelage 2014). Zusätzlich existiert ein breites Behandlungsangebot, das insbesondere Vorsorgeuntersuchungen und alternative Behandlungsmethoden betrifft und vollständig auf privat zu bezahlende individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) basiert (Schnell-Inderst et al. 2011). Zu berücksichtigen ist auch, dass zwischen medizinischem Fachpersonal und Behandelten ein Informationsgefälle (medizinisches Wissen, Kenntnis des Versorgungssystems) besteht. In Bezug auf soziale Ungleichheit und Gesundheit ist entscheidend, dass nicht zusätzlich die soziale Dimension der Ungleichheit zwischen Ärztinnen und Ärzten (die ihrer Qualifikation nach zu den überdurchschnittlich

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gebildeten Gruppen gehören) und Patientinnen und Patienten (die zum Teil weniger Chancen auf Bildung hatten und haben) zum Tragen kommt, weil dies den Kommunikationsund Behandlungserfolg stören kann (Faller 2012). So können bspw. die sprachliche Ausdrucksweise, aber auch Konzepte von Lebensweisen, Gesundheit und Krankheit sowie Wertvorstellungen und Motivationen stark voneinander abweichen und den Austausch beeinflussen. Als Herausforderung für die Praxis kann die Verwendung einer einfachen Sprache und die Reflexion des eigenen sozialen Hintergrundes zugunsten einer patientenorientierten Kommunikation gesehen werden (Faller 2012; Kalvelage 2014). An der sozialen Lage ausgerichtete Ansätze der Versorgung sollten sich jedoch nicht nur auf die Kommunikation in der Arztpraxis beschränken. So stellte z. B. die 74. Gesundheitsministerkonferenz fest, dass die Angebote und Leistungen der Früherkennung, Diagnostik und Behandlung sich zu wenig an den besonderen Belangen sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen orientieren. Eine politische und praktische Herausforderung liegt insofern im soziallagensensiblen Ausbau des medizinischen Versorgungssystems insgesamt. Ein weiterer Ansatz zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten eröffnet sich über die Gesundheitsförderung und Prävention, und zwar insbesondere über settingbezogene Maßnahmen und Programme. Dadurch sollen gesundheitsförderliche Potenziale innerhalb von Lebenswelten wie Kindertagesstätten, Schulen, Betriebe, Vereine oder Stadtteile ausgeschöpft werden (Rosenbrock 2004). Die settingbezogene Arbeit, die besser als eine übergeordnete Gesamtpolitik auf lokale Infrastrukturen, soziale Netzwerke und Gegebenheiten in Wohn- und Lebensorten eingehen kann und Prozesse der Partizipation und Befähigung (Empowerment) ermöglicht, soll gewährleisten, dass sich Menschen, insbesondere auch aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, durch die gemeinsam entwickelten Maßnahmen angesprochen fühlen. Mit dem im Jahr 2015 verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) wurde ein erster gesetzlich verankerter Meilenstein erreicht, mit dem sich die Hoffnung verbindet, Akteure der Gesundheitsförderung und Prävention zu engeren Kooperationen zu bewegen und eine übergeordnete Koordination der Aktivitäten und damit Verbindlichkeiten zu ermöglichen (Reese und Geene 2017). Weiterhin wird im Kontext der Gesundheitsförderung und Prävention die direkte und indirekte Beeinflussung konkreter Verhaltensänderungen diskutiert. Die Anschnallpflicht in Verkehrsfahrzeugen, Altersgrenzen für den Alkoholverkauf oder die Tabakkontrollpolitik sind gesetzlich untermauerte gesundheitspolitische Maßnahmen, die zu mehr Sicherheit und Gesundheit führen sollen. Vor dem Hintergrund der epidemiologischen Verschiebung von übertragbaren zu lebensstilbezogenen Erkrankungen und einem wachsenden Bewusstsein für gesundheitliche Ungleichheiten treten mehr

T. Lampert et al.

und mehr Maßnahmen (in Politik als auch Gesundheitsförderung) zutage, die durch indirekte Beeinflussung die betreffenden Personengruppen selbst und ihre Mitmenschen vor risikoreichen Verhaltensweisen und deren Folgen schützen sollen (Bittlingmayer 2008). Ein starkes Eingreifen des Staates in die Privatsphäre des Einzelnen wird als paternalistisch kritisiert und Gefahren werden hinsichtlich der Einschränkung der persönlichen Freiheit aber auch der ungerechtfertigten Verantwortungsverschiebung zuungunsten der Opfer sozialer Ungleichheit gesehen (Bittlingmayer 2008; Ried 2012). Gleichzeitig leiden teilweise Mitmenschen, darunter auch Kinder, ungewollt unter den ungesunden Verhaltensweisen von Einzelpersonen und auch die entstehenden Behandlungskosten fallen zum Teil der Gemeinschaft zulasten. Es bleibt insofern eine politische Herausforderung, immer wieder zwischen persönlicher Freiheit, individueller und gesellschaftlicher Verantwortung sowie allgemeinem Wohl abzuwägen. Der Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten birgt Herausforderungen, die über die reine Versorgung innerhalb des Gesundheitssystems hinausreichen. Auf gesamtstaatlicher Ebene werden u. a. strukturelle Veränderungen gefordert, die soziale Ungleichheiten und Armut abbauen sollen, etwa durch den Auf- und Ausbau von Sozialversicherungssätzen (bspw. das Arbeitslosengeld), Mindestlöhnen, Betreuungsund Pflegeleistungen sowie Bildungschancen. Die Verringerung sozialer Differenzen (mehr soziale Gerechtigkeit) soll zu einer Abmilderung ungleicher Gesundheitschancen führen (Kalvelage 2014). Eines der Hauptprobleme in der politischen Begegnung gesundheitlicher Ungleichheit ist, dass die Lebenswelten, in denen Gesundheit und Krankheit entstehen, nicht ausschließlich im Gesundheitssystem zu suchen sind. Durch die ministerielle Zuständigkeitsbeschränkung der Gesundheitspolitik auf das medizinische System, welches überwiegend auf Krankheit ausgerichtete Versorgungsangebote bereithält, bleiben jedoch wesentliche Gründe für die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit, wie ökonomische und Bildungsungleichheiten, Umweltbelastungen oder Risiken, die mit Konsumgütern verbunden sind, von gesundheitspolitischen Debatten oftmals unberührt. Daher wird u. a. gefordert, die Mehrheit der politischen Ressorts müsse sich mit Fragen der Gesundheit beschäftigen, denn die Politikfelder Wirtschaft, Arbeit, Soziales, Integration, Familie, Stadtentwicklung, Sport und Finanzen und weitere stehen allesamt in enger Verbindung mit der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Bevölkerung. Der Ansatz Health in all Policies steht für eine politische Herangehensweise, die Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe anerkennt und zielt auf eine an Gesundheit orientierte, horizontale, politikfeldübergreifende Zusammenarbeit für mehr Gesundheitschancen für alle Bevölkerungsgruppen (Kickbusch 2010; WHO 2014).

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Soziale Ungleichheit und Gesundheit

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Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung

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Simone Pfeffer

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

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Biografie und Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

3

Biografie und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

4 Chronische Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4.1 Verletzung der sozialen Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4.2 Herausforderungen chronischer Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5 Krankheitsverlaufskurven und Verlaufskurvenphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.1 Krankheitsverlaufskurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.2 Verlaufskurvenphasen bei chronischer Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6 Lebensorientierung und Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.1 Langfristige Bewältigungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.2 Biografische Verlaufsmuster der Krankheitsbewältigung bezogen auf Lebensorientierung und Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 7 Ebenen und Arbeitsbereiche der Krankheitsbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 7.1 Bewältigungsarbeit durch Betroffene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 7.2 Professionelle Unterstützung der biografischen Krankheitsbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

1

Einleitung

Ziel des Beitrags ist es, Auswirkungen von Krankheit und Krankheitsbewältigung im biografischen Verlauf zu thematisieren und für mögliche Ansatzpunkte zu sensibilisieren, um chronisch erkrankte Menschen in ihren Bewältigungsprozessen unterstützen zu können. Dazu wird zunächst begrifflich zwischen Lebenslauf und Biografie differenziert, Biografie und Identität aufeinander bezogen und der Einfluss aktueller gesellschaftlicher Bedingungen auf Biografie und Identität in dem Konzept der fluiden Gesellschaft zusammenfassend erläutert. Anschließend werden Auswirkungen einer chronischen Erkrankung im

S. Pfeffer (*) Technische Hochschule Nürnberg GSO, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Lebensverlauf, Verlaufsmuster biografischer Bewältigung in Hinblick auf Lebensorientierung und Lebensführung sowie verschiedene Arbeitsebenen der Krankheitsbewältigung dargestellt. Die Ausführungen beziehen sich auf Ergebnisse der Biografieforschung zu physischen Erkrankungen. Auf Arbeiten zu psychischen Erkrankungen, Erfahrungen von Psychiatriepatienten, Traumaverarbeitung etc. soll hier nur verwiesen werden (z. B. Bruder 2003; Riemann 1987; Sack 2015; Scheidt und Lucius-Hoene 2015).

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Biografie und Lebenslauf

In der Lebenslaufperspektive wird das Leben eines Menschen entlang typischer Stationen wie z. B. Schule, Ausbildung, Berufstätigkeit beschrieben. Der Blick von außen zeigt

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_16

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die institutionalisierte, also sozial geregelte Abfolge und Entfaltung von sozialen Zugehörigkeiten und Positionen im Lebensablauf. Bei einer Biografie hingegen handelt es sich um die vom Individuum erzählte Lebensgeschichte, um die Binnenperspektive des sich erinnernden, erzählenden oder seine Zukunft entwerfenden Subjekts. Die Biografie gibt den Blick von innen auf das eigene Leben wieder und zeichnet sich daher durch Relevanzsetzungen des Individuums aus, also durch die Auswahl und Reihung von subjektiv bedeutsamen Erlebnissen des Einzelnen in der Darstellung der eigenen Lebensgeschichte. In dieser durch subjektive Interpretationsleistungen sinnhaft geordneten Biografie gewinnt die persönliche Identität, die Unverwechselbarkeit des Individuums Kontur. Subjektiv bedeutsame Erfahrungen, Wendepunkte, die Verarbeitung von Krisen und die Bewältigung von Lebensereignissen werden hier deutlich. Die Interpretationen und Bewertungen sind dabei als ein Ergebnis von Sozialisationsprozessen anzusehen, in denen eine Auseinandersetzung des einzelnen Menschen mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüssen im zeitlichen Verlauf stattfindet. Biografietheoretischer Hintergrund ist daher das Verständnis von Biografie und Lebenslauf als Einheit von personaler, sozialer und historischer Zeit, also die Verflochtenheit von individueller Erfahrung und Entwicklung mit sozialen und historischen Verhältnissen. In diesem Sinne wird Biografie „nicht als etwas rein Individuelles oder Subjektives, sondern als ein soziales Konstrukt verstanden, das auf kollektive Regeln, Diskurse und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist und sowohl in seiner Entwicklung als auch im deutenden Rückblick der BiografInnen immer beides zugleich ist: ein individuelles und ein kollektives Produkt“ (Rosenthal 2015, S. 53). " „Biografien sind also nie rein individuelle Konstruktionsleistungen, aber auch nie völlig sozial determiniert. Die ‚Biografie‘ kann als soziologisches Konstrukt auch als ein vermittelndes Bindeglied zwischen Subjekt und Gesellschaft betrachtet werden“ (Kruse 2014, S. 327).

In unserer Gesellschaft ist der Lebenslauf auf das Erwerbssystem bezogen (Kohli 1985, 2003; Sackmann 2013). Er weist eine Dreiteilung in die Zeit der Ausbildung als vorbereitende Phase, in die aktive Phase der Berufstätigkeit und schließlich in die Ruhephase nach dem Erwerbsleben auf. Die damit verbundene Verzeitlichung (Ablauf der Lebenszeit als zentrales Strukturprinzip) und Chronologisierung (Orientierung an Altersgrenzen wie Schuleintritt oder Rentenalter) des Lebensablaufes findet sich in der sog. Normalbiografie als Erwartung eines bestimmten Ablaufmusters wieder, das die zeitliche Dimension des individuellen Lebens ordnet. Obgleich der Individualisierungsschub seit den 1970er-Jahren zu erheblichen Veränderungen geführt hat,

S. Pfeffer

die als Hinweis auf eine Destandardisierung des Lebenslaufs gedeutet werden können, kommt Kohli in übergreifender Sicht zu dem Schluss, „dass der institutionalisierte Lebenslauf und die ihn stützenden Strukturen ihre Prägekraft in erstaunlichem Ausmaß behalten haben“ (Kohli 2003, S. 538). Der institutionalisierte, auf die Erwerbsarbeit bezogene Lebenslauf fungiert also noch immer als Grobstruktur der wichtigsten Lebensereignisse und Orientierungsmuster und dadurch als biografisches Schema, das Handlungen reguliert und Perspektiven strukturiert. Zugleich ist der fortlaufende gesellschaftliche Wandel in eine flüchtige Moderne (liquid modernity) mit Prozessen der Individualisierung und Globalisierung und in der Folge mit weniger langfristigen Strukturen, dem Verlust von Sicherheiten und zunehmenden Ungewissheiten verbunden (Bauman 2008, 2017). Keupp spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „fluiden Gesellschaft“, die vom Individuum weitreichende Flexibilität und ständige Anpassungsleistungen erfordert (Keupp 2012). Dieser Aspekt wird unter dem Gliederungspunkt Biografie und Identität nochmals vertiefend aufgegriffen. Die biografischen Ablaufschemata variieren im Zusammenhang mit Geschlecht, sozialer Lage und kultureller Zugehörigkeit (von Engelhardt 1996; Wohlrab-Sahr 1993). Die Biografie eines Menschen formt sich durch die Auseinandersetzung der Person mit diesen Schemata, durch den Einbruch von unvorhergesehenen Lebensereignissen, wie es beispielsweise eine Krankheit darstellt, und durch die jeweiligen Bedingungen der historischen Zeit, die durch den sukzessiven gesellschaftlichen Wandel und durch historische Großereignisse Einfluss auf die personale und soziale Zeit nehmen. Weiterführend zum Begriff Biografie und die Rezeption in unterschiedlichen Disziplinen und Feldern sei hier verwiesen auf Hanses (2010) und Miethe (2017).

3

Biografie und Identität

Biografie und Identität sind eng aufeinander bezogen. Die persönliche Identität kann als Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ verstanden werden und ist durch Unverwechselbarkeit und Wiedererkennbarkeit charakterisiert. Die aktuelle Identität ist verbunden mit der Vergangenheit („Wer war ich?“, „Wo komme ich her?“) und mit der Zukunft („Wer werde ich sein?“, „Wohin werde ich mich entwickeln?“). Mit der Auswahl bedeutsamer Geschichten aus einer Vielzahl von Ereignissen und Erfahrungen im Lebensverlauf erfolgt in einer biografischen Erzählung durch diese Relevanzsetzung auch eine Beantwortung der Frage nach der eigenen unverwechselbaren Identität, die auch als „narrative Identität“ (Lucius-Hoene und Deppermann 2004) bezeichnet wird. Sie „vollzieht sich als Prozess und erfährt in der biografischen Entwicklung Wandlungen und Transformationen“ (Engelhardt 2013, S. 137).

14

Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung

" Die Identität beruht auf der Fähigkeit zur Selbstreflexion und der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme. Mehrere ineinandergreifende Vermittlungsprozesse sind an der Herstellung, Aufrechterhaltung und Umstrukturierung der Identität beteiligt: die Vermittlung zwischen den verschiedenen Aspekten innerhalb der Person, zwischen der Person und ihrer sozialen Umwelt und zwischen den verschiedenen historisch-biografischen Phasen im Lebenslauf des Menschen (ebda.).

Aus zeitgeschichtlicher Perspektive sind die gesellschaftlichen Bedingungen von einem Individualisierungsschub seit Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt. Die Menschen wurden „in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionellen Klassenbedingungen und Versorgungsbezügen der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen“ (Beck 1986, S. 116). Beck sieht die Menschen in der Moderne dazu gezwungen „sich selbst zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen“ (ebda.). Biografie wird zur „Bastelbiografie“ (Beck und Beck-Gernsheim 1994; Schroer 2017). Identität wird also nicht mehr durch traditionelle Zugehörigkeiten zu einer Familie oder einer Gemeinde oder durch eine lebenslange Zugehörigkeit zu einem Betrieb und der damit

Prozesse gesellschaftlichen Wandels Individualisierung Pluralisierung

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verbundenen Berufsrolle getragen, sondern muss immer wieder neu entworfen und aufrechterhalten werden. In diesen Zusammenhang benennt Keupp im Konzept der fluiden Gesellschaft den Prozess des disembedding oder der Enttraditionalisierung (Abb. 1). „Dieser Prozess lässt sich einerseits als tief greifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits beschreiben. Diese Trends hängen natürlich zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wächst die Zahl möglicher Lebensformen und damit die möglichen Vorstellungen von Normalität und Identität“ (Keupp 2012, S. 43). Als weitere Hintergründe des gesellschaftlichen Wandels werden in dem Konzept der fluiden Gesellschaft die Dekonstruktion von Geschlechtsrollen, der Wertewandel sowie die Globalisierung und Digitalisierung genannt, die mit den bereits beschriebenen Prozessen der Individualisierung, Pluralisierung und Disembedding in enger Wechselwirkung stehen. Als Grundmuster der fluiden Gesellschaft zeigen sich Entgrenzung, Fusion, Durchlässigkeit und wechselnde Konfigurationen im Leben der Menschen, die in Abb. 1 durch Beispiele veranschaulicht werden. Neben flexibler Anpassung an sich verändernde Bedingungen wird hier das Boundary-Management als neue über-

Grenzen geraten in Fluss, Konstanten werden zu Variablen

Wesentliche Grundmuster der fluiden Gesellschaft Entgrenzung • • • • •

Dekonstruktion von Geschlechterrollen

Entgrenzte Normalbiografien Wertepluralismus Grenzenloser virtueller Raum Vernetzung (z. B. Informationsmenge, -fluss) Verflüssigte Grenzen von Kultur/Natur (z. B. Gentechnik, Schönheitschirurgie)

Fusion • • •

Arbeit-Freizeit (mobiles Büro) Crossover, Hybrid-Formate Konvergierende Medientechnologien (z. B. multimediale Geräte)

Wertewandel Durchlässigkeit •

Disembedding •

Globalisierung

• •

Unmittelbarere Kommunikation, Interaktivität (z. B. E-Commerce, WhatsApp) Fernwirkung, Realtime (z. B. Kriegsberichtserstattung) Öffentlich/Privat (z. B. WebCams) Lebensphasen (z. B. Junge Alte)

Wechselnde Konfigurationen • •



Flexible Arbeitsorganisation, Projekte Patchwork-Familien, Lebensabschnittspartnerschaften, befristete Communities (z. B. Szenen) Modulare Konzepte

Digitalisierung

Neue Meta-Herausforderung: Boundary Management Abb. 1 Das Konzept der fluiden Gesellschaft. (Mod. nach Keupp 2012, S. 38)

168

geordnete Herausforderung genannt. Hierbei geht es um die Fähigkeit, den Umgang mit Grenzen und Entgrenzungen zu „managen“, was die konstruktive Gestaltung und Bewältigung von Lebensbedingungen mit verflüssigten Grenzen und die Fähigkeit zur aktiven Grenzsetzung beinhaltet, beispielsweise bei der Abgrenzung von beruflicher Tätigkeit und privater Zeit. Gefordert ist der Umgang mit Ungewissheiten und das ständige Balancieren zwischen verschiedenen Anforderungen und Optionen und damit verbunden die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu positionieren. Für den Einzelnen ergeben sich in Bezug auf Biografie und Identität eine größere Gestaltungsfreiheit und zugleich der Zwang zur Gestaltung. Das unternehmerische Selbst muss sich um seine Selbstverwirklichung kümmern, aus der Forderung des Subjekts ist eine Anforderung an das Subjekt geworden (Neckel und Wagner 2013). Einem Wirtschaftsunternehmen vergleichbar muss sich das Individuum aktiv bei der Gestaltung des eigenen Lebens und seiner sozialen Positionen in einer sich beständig verändernden Umwelt engagieren. Neben Chancen sind mit diesen Prozessen vielfältige Risiken verbunden. „Nicht jeder ‚Unternehmer‘ hat die Chance, viel zu unternehmen. Es bedarf vielfältiger psychischer und sozialer Voraussetzungen dafür, daß Individuen die Chancenhaftigkeit der historischen Situation subjektiv erkennen und für die eigene Identitätsbildung nutzen können“ (Keupp et al. 2013, S. 73 f.). Die Identitätsarbeit wird als relationale Verknüpfungsarbeit, als Konfliktaushandlung und als Narrationsarbeit beschrieben, für die entsprechende Ressourcen und Fähigkeiten vorhanden sein müssen und Orientierung und Sinnbezüge bedeutsam sind. Identität und Biografie sind also heute nicht mehr in engem Rahmen vorgegeben und kalkulierbar, sondern der Lebensverlauf ist mit Unsicherheiten verbunden – er kann und muss vom Einzelnen gestaltet werden. Wie dies gelingt, hängt ganz erheblich davon ab, über welche ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalien Menschen verfügen, also beispielsweise vom Bildungsgrad, der beruflichen Position, der Einkommenssituation oder dem Grad der sozialen Vernetzung. Bei gleichen Herausforderungen sind die Gestaltungschancen also ungleich verteilt. Menschen mit einer chronischen Erkrankung müssen in die vielfältigen Vermittlungsprozesse der Identitäts- und Biografiearbeit noch zusätzlich die Bedingungen ihrer Erkrankung einbeziehen. Keupp vergleicht das Identitätsprojekt, bei dem „entwerfen und leben in eins“ (ebda., S. 83) fallen, mit dem Umbau eines Schiffes auf hoher See. Dieser ständige Umbau wird einerseits zunehmend erschwert, andererseits in besonderem Maße nötig durch gesundheitliche Einschränkungen und andere spezifische Lebensbedingungen, die mit einer chronischen Erkrankung verbunden sind (Pfeffer 2010).

S. Pfeffer

4

Chronische Krankheit

In Deutschland hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung in den vergangenen 130 Jahren mehr als verdoppelt. Parallel dazu hat sich das Spektrum der Morbidität und Mortalität von Infektionskrankheiten hin zu chronischdegenerativen Krankheiten gewandelt. Allein seit 1950 haben Frauen 15 und Männer 13 Lebensjahre dazugewonnen (Fach et al. 2016; Weigl 2012). Derzeit liegt die Lebenserwartung von Mädchen bei 83,1 und die von Jungen bei 78,2 Jahren (Statistisches Bundesamt 2018). Vor dem Hintergrund der hohen Lebenserwartung und einer guten medizinischen Versorgung ist für viele Menschen der Umgang mit chronischen Erkrankungen eine alltägliche und zugleich langfristige Herausforderung. Die Frage nach der Bewältigung chronischer Krankheit besitzt dadurch eine große persönliche und gesellschaftliche Relevanz. " Definition Chronische Krankheit Das Robert-Koch-Insti-

tut bezeichnet chronische Krankheiten als „lang andauernde Krankheiten [...], die nicht vollständig geheilt werden können und eine andauernde oder wiederkehrend erhöhte Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems nach sich ziehen“ (RKI 2014, S. 1). Das griechische Wort chronos für Zeit benennt den wesentlichen Aspekt einer chronischen Krankheit: Der Verlauf der Krankheit zieht sich über eine meist lebenslange Zeitspanne. Im Gegensatz zu einer akuten Erkrankung mit der Zeitgestalt einer Krisis mit anschließender Verbesserung oder Verschlimmerung muss eine chronische Krankheit und die damit verbundenen Veränderungen dauerhaft im Leben bewältigt werden. Sie ist daher biografisch relevant. " Ein Leben mit einer chronischen Erkrankung ist oft über Jahrzehnte möglich, erfordert aber ein entsprechendes Bewältigungshandeln und eine Integration der Krankheit in die Biografie.

4.1

Verletzung der sozialen Leiblichkeit

Obwohl sich die Krankheit zunächst bei einem Individuum lokalisieren lässt, ist nicht nur der erkrankte Mensch, sondern auch seine soziale Umwelt von der Krankheit betroffen. Aus soziologischer Perspektive beeinträchtigt jede Krankheit in spezifischer Weise die Handlungskapazität des erkrankten Menschen und damit auch seine Interaktionskapazität. Fischer bezeichnet den Verlust an Normalität durch eine Erkrankung, den beide Seiten in der Interaktion erfahren, als „Verletzung der sozialen Leiblichkeit“ (Fischer 1985, S. 561). In dem Zusammenhang beschreibt er drei Idealisie-

14

Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung

rungen, also inhaltliche und zeitliche Normalitätsannahmen oder Erwartungen, die durch die Erkrankung zerbrechen: a. Die Verletzung der Idealisierung der Kontinuität: Die dahinterstehende Erwartung ist, dass es immer so weiter wie bisher geht, z. B. „Ich kann meinen nächsten Urlaub planen“ oder „Ich kann mit meinem Partner oder meiner Partnerin alt werden“. b. Die Verletzung der körperlichen Autonomie: Die Erwartung ist hier, dass eine Person immer wieder etwas selbst tun kann, z. B. „Ich kann selber einkaufen gehen“ oder „Ich kann die Wasserflasche alleine aufmachen“. c. Die Verletzung des Kooperationsvermögens: Erwartet wird eine verlässliche Partizipation in Interaktionssituation, z. B. „Ich kann kurzfristig aushelfen und eine Schicht übernehmen“ oder „Ich kann sicher die Kinder versorgen“. In den genannten Beispielen sind die Erwartungen aus Sicht des erkrankten Menschen formuliert. Sie werden ergänzt durch die jeweils komplementären Erwartungen der Interaktionspartner, also von Kollegen und Kolleginnen, Partner bzw. Partnerin, Kindern oder Freunden. Im Alltag sind diese Normalitätsannahmen eine stillschweigende Grundlage für gemeinsames Handeln in einer geteilten Wirklichkeit. Bei einer Verletzung dieser Basis müssen Irritationen ausgehalten, Verluste verkraftet und Alternativen geschaffen werden, die wieder eine aufeinander bezogene Interaktion und Erwartungssicherheit ermöglichen (Fischer 2013).

4.2

Herausforderungen chronischer Krankheit

Art, Schwere und Verlauf einer Erkrankung beeinflussen die aktuelle Lebenssituation und den zukünftigen Lebensverlauf eines Menschen. Eine Krankheit kann mit funktionalen Einschränkungen auf körperlicher oder auf kognitiver Ebene verbunden sein. Es ist ebenso möglich, dass äußerlich unsichtbare Schmerzzustände oder körperliche Entstellungen zu bewältigen sind. Eine ungewisse Lebensbedrohung mit oder ohne körperliche Einschränkungen oder auch ständige Manipulationen und Eingriffe am eigenen Körper müssen verarbeitet werden, ebenso wie mögliche Verluste im Arbeitsbereich oder im Privatleben. Die veränderte Situation kann plötzlich und dramatisch hereinbrechen, beispielsweise durch einen Herzanfall, oder sie kann als allmählich anwachsende Bedrohung eher sichtbar, z. B. bei Polyarthritis, oder eher unsichtbar, z. B. bei Diabetes, das Leben begleiten. Ebenso kann sich die Ausgangssituation für die Bewältigung einer Krankheit in vielfältiger Hinsicht unterscheiden. Einige Menschen verfügen über viele Potenziale und Ressourcen, z. B. über ein großes Netzwerk mit unterstützenden

169

Beziehungen oder über gute ökonomische Bedingungen. Andere können weniger stark auf Ressourcen zurückgreifen und möglicherweise ist ihr Lebensverlauf bereits durch vorhergehende Hypotheken wie eine belastende Familiensituation oder ein Scheitern in der Schullaufbahn vorbelastet. Einfluss nimmt auch der Zeitpunkt, an dem die Erkrankung in den Lebensverlauf eintritt, da je nach Lebensphase unterschiedliche biografisch relevante Themen bewältigt werden müssen. Zumeist ist eine dauerhafte Auseinandersetzung in verschiedenen Lebensbereichen nötig. Einschränkungen und Veränderungen des Körpers wirken sich im Alltag, in der Familie, im Freundeskreis, im Berufsleben, auf den Platz in der Gesellschaft, auf das Selbstverständnis und somit auf die Biografie und Identität aus (Corbin und Strauss 2010; Pfeffer 2010). Bisherige und zukünftige Lebensentwürfe und Sinngebungen können durch eine Erkrankung zur Disposition stehen. Der Alltag mit der Krankheit muss bewältigt werden. Die Beziehungen im Privatleben und im Arbeitsbereich werden von der Erkrankung beeinflusst und müssen nun unter Bezugnahme auf die Krankheit und den mit ihr im Zusammenhang stehenden Veränderungen gestaltet werden. Im Fall einer Berufsunfähigkeit ist durch verschiedene rechtliche Regelungen ein soziales Netz vorhanden, das je nach der zuvor bestehenden sozialen Lage lediglich eine Grundsicherung oder auch einen weitgehenden Erhalt des bisherigen Lebensstandards ermöglicht. Die Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse und die damit verbundenen Entwicklungen in einer fluiden Gesellschaft verlangen vom Einzelnen auf der einen Seite lebenslaufbezogene Planungen und auf der anderen Seite die nötige Flexibilität, um sich immer wieder an veränderte Bedingungen in der Gesellschaft anpassen zu können. Dies ist für Menschen, die noch zusätzlich Krankheiten bewältigen müssen, mit besonderen Herausforderungen verbunden. Dabei sind Menschen mit niedrigerem sozioökonomischen Status in höherem Maße von chronischen Krankheiten betroffen und sie haben eine niedrigere Lebenserwartung als Menschen in einer vorteilhafteren sozialen Lage. Wenn auf weniger Ressourcen zurückgegriffen werden kann, sind auch die Bedingungen bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung ungünstiger. Soziale Ungleichheit ist also eng verbunden mit gesundheitlicher Ungleichheit (Lampert 2016; Siegrist 2015). Eine Krankheit, die möglicherweise kurz- oder langfristig darauf hinausläuft, auf Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist besonders bedrohlich in einer Zeit, in der sich sowohl familiäre Strukturen als auch Strukturen von Nachbarschaften und kleinen Gemeinden auflösen und Pflege, Hilfe und Versorgung immer mehr in die öffentliche Hand oder an private Träger ausgelagert werden und sich so von der Ebene der Beziehung auf die Ebene des Tauschgeschäfts verlagern. Es ist fraglich, ob das in der flüchtigen Moderne auftretende Phänomen der

170

S. Pfeffer

Suche nach Gemeinschaft (Bauman 2008, 2017) tragfähige Beziehungen hervorbringt, die eine langfristige Unterstützung und Versorgung gewährleisten können.

5

Krankheitsverlaufskurven und Verlaufskurvenphasen

Krankheit zeigt sich in der Biografie in individuellen Verlaufskurven, die je nach Erkrankung, Lebensbedingungen und Bewältigungsmöglichkeiten unterschiedliche Phasen beinhalten.

5.1

Krankheitsverlaufskurven

Der Begriff Krankheitsverlauf wird üblicherweise verwendet, um die Entwicklung der gesundheitlichen Lage auf physiologischer Ebene zu beschreiben. Dagegen umfasst eine Krankheitsverlaufskurve bei einer chronischen Krankheit neben dem körperlichen Krankheitsverlauf und unterschiedlichen zeitlichen Phasen auch Bewältigungshandlungen, also die Arbeit verschiedener Akteure (medizinisches Personal, betroffene Person, Partner oder Partnerin, Familie, Personen aus dem weiteren Umfeld) und deren Wechselwirkungen sowie die damit verbundenen Belastungen der Beteiligten (Corbin und Strauss 2010). Verlaufskurven enthalten daher Prozesse des Erleidens und des Handelns.

5.2

Verlaufskurvenphasen bei chronischer Krankheit

Innerhalb der Verlaufskurve unterscheiden Corbin und Strauss (2010) verschiedene Verlaufskurvenphasen und beschreiben sie nach der Anfangsphase als Phasen der Nor-

malisierung, als akute, stabile und instabile Phasen, als Phasen der Verschlechterung und als Phase des Sterbens (Abb. 2) (Corbin und Strauss 2010; Schaeffer und Haslbeck 2016; Schaeffer und Moers 2009). Anfangsphase Eine chronische Erkrankung ist in der Regel ein unerwartetes Ereignis, das oftmals mit dem Einsetzen bzw. Bewusst werden von Symptomen beginnt. Dies kann akut geschehen, beispielsweise bei einem Schlaganfall mit klaren Symptomen wie Sprachverlust und der Notwendigkeit eines Klinikaufenthalts. Es kann aber auch eine schleichende Entwicklung mit zunächst geringen oder unklaren Anzeichen sein, bei der erst die Diagnose den Ernst der Lage bewusst werden lässt, z. B. bei einer im Anfangsstadium leichten Empfindsamkeitsstörung in den Füßen, für die eine Multiple Sklerose verantwortlich ist. Bei manchen Menschen wird die Krankheit bei einer Routineuntersuchung entdeckt. Häufig nimmt die Suche nach der richtigen Diagnose einige Zeit in Anspruch und mit diesem diagnostischen Schwebezustand geht eine biografische Ungewissheit und eine plötzlich fraglich gewordene Zukunft einher. Vorstellungen von möglichen Verläufen und zukünftigen Lebensbedingungen werden entworfen, die aber je nach gesundheitlicher Entwicklung und möglichen Komplikationen wieder verändert, verworfen oder angepasst werden müssen. Nach der Anfangsphase können akute, normalisierende, stabile und instabile Phasen je nach Krankheitsverlauf und Bewältigung in unterschiedlicher Abfolge und zeitlicher Ausdehnung auftreten. Akute Phasen Eine Phase ist dann akut, wenn der betroffene Mensch durch die Krankheit in einem hohen Maße beeinträchtigt ist und beispielsweise direkte ärztliche Hilfe notwendig wird. Die

Abb. 2 Verlaufskurvenphasen bei chronischer Krankheit

Leben mit der Krankheit:

Phasen im Wechsel

Beginn der Krankheit:

Anfangsphase

Akute Phasen

Phasen der Normalisierung

Stabile Phasen

Instabile Phasen

Lebensende:

Phase des Sterbens Phasen der Verschlechterung

Individuelle Abfolge und Dauer der Phasen in Abhängigkeit von der Art und dem Verlauf der Erkrankung sowie der Bewältigung durch erkrankte Personen und soziales Umfeld

Krankheitsverlaufskurve

14

Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung

Bewältigung richtet sich darauf, eine Verschlechterung des Zustandes zu stoppen und physische oder psychische Stabilisierung zu erreichen. Im Vordergrund ist hier die Gegenwart, die Zukunft ist eher ausgesetzt. Phasen der Normalisierung Nach Phasen mit akuten gesundheitlichen Problemen folgen z. B. nach medizinischen Behandlungen Phasen der Normalisierung, in denen eine körperliche und psychische Erholung stattfindet. Bewältigungsbemühungen sind darauf gerichtet, vormalige Funktionsfähigkeit ganz oder teilweise wiederzuerlangen, Wohlbefinden zu fördern und mit eventuell zurückbleibenden Einschränkungen umzugehen. Auch eine partielle Normalisierung ist möglich, wenn sich die betroffene Person beispielsweise körperlich gut erholt, aber sich psychisch nicht gut anpassen kann. Die Entwicklung der Krankheit scheint kontrollierbar, Zukunft wird wieder entworfen. Stabile Phasen In diesen Phasen gibt es kaum gesundheitliche Veränderungen, weder deutliche Verbesserungen noch Verschlechterungen des Zustandes und die Bewältigung ist eher Routine und zielt darauf ab, die Stabilität zu erhalten. Relativ normales Leben ist daher möglich und der Zukunftshorizont scheint einschätzbar, daher sind Zukunftsentwürfe und -planungen möglich. Instabile Phasen Diese Phasen sind durch Wechselhaftigkeit gekennzeichnet. Die Krankheit ist weder in einer akuten Phase noch stabil, sondern „beharrlich außer Kontrolle“ (Corbin und Strauss 2010, S. 60). Bei der Bewältigung geht es darum, die Ursachen der Instabilität und Möglichkeiten zu finden, die gesundheitliche Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein normales Leben ist kaum möglich, die Zukunft unsicher und nicht planbar. Phasen der Verschlechterung Phasen der Verschlechterung sind durch kontinuierliche negative Entwicklung des gesundheitlichen Zustandes gekennzeichnet. Die Verschlechterung kann langsam fortschreiten oder sich schnell vollziehen. Die Bewältigung richtet sich darauf, die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Verschlechterung zu kontrollieren. Die Zukunft ist unsicher und unberechenbar, zukünftige Planungen sind ausgesetzt. Phase des Sterbens In einer Sterbephase steht die lebensbedrohliche Entwicklung im Vordergrund. Neben der Bewältigung des Alltags mit möglicherweise bereits stark eingeschränkten körperlichen Funktionen und Schmerzzuständen kann sich das Bewältigungshandeln darauf beziehen, die Schmerzen zu begrenzen, den Tod hinauszuschieben und das Leben abzuschließen. Eine Zukunft im Leben gibt es kaum mehr, der Übergang ist unbekannt.

171

Bei einem Leben mit chronischer Erkrankung wechseln die oben beschriebenen Phasen in unterschiedlicher Weise, auf akute Phasen können Phasen relativer Stabilität und Normalität folgen, die dann wieder von instabilen Phasen abgelöst werden und bisherige Bewältigungsanstrengungen und zuvor geleistete biografische Neukonzeptionen in Frage stellen. Dann wieder kann Normalität über einen längeren Zeitraum hinweg möglich sein, die von einer Phase der Verschlechterung durchbrochen wird. Schaeffer und Haslbeck sprechen hier von einem „Auf und Ab der Krankheit“ (Schaeffer und Haslbeck 2016, S. 248), wodurch immer wieder neue Anpassungsleistungen notwendig werden. Die jeweilige Verlaufskurvenform ist „geprägt von der Wechselwirkung zwischen der Krankheit selbst, der individuell spezifischen Reaktion auf die Krankheit und sonstigen krankheitsbedingten oder biografischen Unwägbarkeiten, die sich auf die Krankheit auswirken“ (Corbin und Strauss 2010, S. 56). Einfluss auf die Verlaufskurve nehmen dabei auch Verlaufskurvenentwürfe und -pläne des beteiligten Arztes und die Entwürfe und Vorstellungen der erkrankten Person und deren Partner bzw. Partnerin in Hinblick auf die Bewältigung der Krankheit und eines Lebens mit der Krankheit.

6

Lebensorientierung und Lebensführung

In einer Biografie ist die Lebensorientierung ein wesentlicher Aspekt für Planungs- und Entscheidungsprozesse. Unter salutogenetischer Perspektive korrespondiert sie im Konzept des Kohärenzgefühls insbesondere mit der Bedeutsamkeit bzw. dem subjektiven Sinn, aber auch mit der Handlungsfähigkeit und der Verstehbarkeit (Antonovsky 1997; Franke 2012). Die Lebensorientierung spielt daher eine wichtige Rolle bei Krankheitsbewältigungsprozessen. " Definition Lebensorientierung Unter Lebensorientierun-

gen werden hier biografisch relevante Pläne und Ziele sowie Vorstellungen und Erwartungen über das eigene Leben und über zukünftige Entwicklungen verstanden. Sie können eine konkrete Vorstellung in einem Lebensbereich beinhalten (z. B. die Gründung einer Familie), oder übergeordneter Natur sein (z. B. der Aspekt der Selbstverwirklichung).

6.1

Langfristige Bewältigungsprozesse

Bei chronischen Erkrankungen liegt zwischen der Anfangsphase zu Beginn der Erkrankung und der Sterbephase am Schluss des Lebens häufig eine lange Zeit eines Lebens mit der Krankheit, die sich über Jahrzehnte erstrecken kann und

172

S. Pfeffer

in jeweils spezifischer Weise die oben beschriebenen Phasen beinhaltet. Biografische Ausrichtungen und langfristige Anpassungsprozesse sind daher bedeutsam. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Menschen ihr Leben mit einer chronischen Krankheit in Hinblick auf die Lebensorientierung und Lebensführung im biografischen Verlauf bewältigen. Diese Fragestellung war Gegenstand einer eigenen qualitativen Studie, in der biografische Interviews mit 25 Menschen geführt wurden, die zum Befragungszeitpunkt im Durchschnitt bereits 21 Jahre mit einer chronischen Krankheit lebten (Pfeffer 2010). Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse der Untersuchung dargestellt.

6.2

Biografische Verlaufsmuster der Krankheitsbewältigung bezogen auf Lebensorientierung und Lebensführung

Biografische Erzählungen werden „vor dem Hintergrund aktueller Erfahrungen und Deutungsmuster (re-)konstruiert, die aber wiederum letzten Endes selbst biografisch geformt sind“ (Kruse 2014, S. 329). Sie sind daher immer auch Zeugnisse der aktuellen Bewältigung der eigenen Lebensgeschichte. In den lebensgeschichtlichen Erzählungen der beschriebenen Studie wurden vier verschiedene

biografische Verlaufsmuster sichtbar (Tab. 1) (Pfeffer 2010). Während bei einem Muster ein Bruch bzw. Wendepunkt durch die Krankheit im Vordergrund steht, ist für die anderen drei Muster eine Kontinuität von Orientierungen und Handlungen charakteristisch, allerdings aus verschiedenen Gründen. Bei dem ersten typischen Verlaufsmuster stellt die Krankheit eine Voraussetzung der Lebensorientierung dar (Typus A). Personen dieser Gruppe sind bereits in der Kindheit erkrankt, daher bilden die Bedingungen der chronischen Krankheit von vornherein eine Voraussetzung ihrer Lebensorientierung und Lebensführung. Anfangs leisten überwiegend die Eltern die Krankheitsbewältigung, im Prozess des Erwachsenwerdens geht diese dann mehr und mehr in die Hand der erkrankten Person über. Die mit der Krankheit verbundenen Bedingungen und Erfahrungen fließen implizit oder explizit in den Lebensentwurf ein. Akute Veränderungen der gesundheitlichen Situation können zu Brüchen oder Krisen führen, insgesamt steht aber bei diesem Typus die Normalität eines Lebens mit der Krankheit im Vordergrund des Erlebens. Diese Normalität beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der Lebensorientierung und der Lebensführung, die durch die Bedingungen der Krankheit und durch die Bedingungen der Umwelt bestehen.

Tab. 1 Verlaufsmuster der Bewältigung chronischer Krankheit in der Biografie bezogen auf Lebensorientierung und Lebensführung Verlaufsmuster (s. rechts) Kategorien (s. unten) Lebensphase zu Beginn der Erkrankung Potenziale und Hypotheken

Bewältigungsstil

Soziale Unterstützung und Isolation Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenhang mit der Erkrankung Einstellen der Lebensführung auf die Erkrankung

Biografische Bedeutung (Krankheit in der Lebenserzählung)

Typus A Krankheit als Voraussetzung der Lebensorientierung Frühe, mittlere und späte Kindheit Hohe bis mittlere Potenziale, frühe Erkrankung als Hypothek Überwiegend aktivkonfrontativ, teilweise reaktiv-abwehrend Gute bis hohe soziale Unterstützung Kein Bruch, Orientierungen werden vor dem Hintergrund der Erkrankung entwickelt Bedingungen der Erkrankung bilden Voraussetzung der Lebensführung Normalität von Krankheit als Teil des Lebens, inkl. Bewältigung von gesundheitlichen Krisen

Typus B Brucherfahrung und Neuorientierung Ende der Adoleszenz, frühes, mittleres Erwachsenenalter Hohe bis mittlere Potenziale

Typus C Irritation und Fortsetzung der bisherigen Lebensorientierung Frühes, mittleres oder spätes Erwachsenenalter Hohe bis mittlere Potenziale

Überwiegend aktivkonfrontativ

Aktiv-konfrontative (1) oder reaktiv-abwehrende (2) Variante

Hohe soziale Unterstützung Umfassender Bruch

Hohe bis mittlere soziale Unterstützung Kein Bruch sondern Kontinuität, Orientierungen werden fortgesetzt

Umfassende und vorausschauende Einstellung der Lebensführung

(1) Gute Anpassung an veränderte Bedingungen (2) Reaktive, eher schleppende Anpassung

Umfassender Bruch der Orientierung, Krankheit als Wendepunkt in der Erzählung

Krankheit stellt eine Irritation dar, bleibt jedoch für die längerfristige Ausrichtung der Biografie von untergeordneter Bedeutung

Typus D Bagatellisierung bei problematischer Lebensorientierung Ende der Adoleszenz, frühes, mittleres Erwachsenenalter Mittlere bis geringe Potenziale, mit Hypotheken belastete Biografie Überwiegend reaktivabwehrend Geringe soziale Unterstützung, Isolation Kein Bruch, Fortsetzung einer diffusen oder problematischen Orientierung Anfangs nicht (Bagatellisierung), reaktiv – Anpassung erst mit zunehmender Symptomatik Hypotheken im Vordergrund der Erzählung, Krankheit reiht sich als ein weiteres Problem ein

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Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung

Bei dem zweiten Verlaufsmuster steht die Brucherfahrung und anschließende Neuorientierung im Vordergrund (Typus B). Die Krankheit tritt hier frühestens mit Ende der Adoleszenz, überwiegend im frühen und mittleren Erwachsenenalter in die Biografie ein und wird als Wendepunkt erlebt. In einem oder mehreren Lebensbereichen zerbrechen bestehende Lebensorientierungen, da entweder die körperliche Verfassung eine Weiterführung nicht mehr erlaubt oder die erkrankte Person zu der Einschätzung gelangt, eine bisherige Lebensorientierung nicht mehr fortsetzen zu können, auch wenn sie dazu körperlich noch in der Lage wäre. Auf die Brucherfahrung und der damit verbundenen Phase der Auseinandersetzung erfolgt eine Neuorientierung, in der die durch die Erkrankung veränderten Bedingungen miteinbezogen werden. Die Betroffenen blicken aus der neuen Perspektive einer auf Krankheit bezogenen Welt auf die vormals vertraute Normalität, die mit einer auf Gesundheit bezogenen Welt verknüpft war, und stellen ihre Lebensführung umfassend auf die neuen Bedingungen ein. Im Unterschied dazu stellt die Erkrankung in einem dritten Verlaufsmuster zunächst eine Irritation im Leben dar, auf die jedoch eine Rückkehr zur bzw. eine Fortsetzung der bisherigen Lebensorientierung folgt (Typus C). Die Krankheit, die in dieser Gruppe ebenfalls nach der Adoleszenz in die Biografie eintritt, wird kein bestimmender Aspekt, sondern übernimmt eine nachgeordnete Rolle bei der biografischen Ausrichtung. Hier lassen sich zwei Varianten unterscheiden. Bei der Variante einer aktiv-konfrontativen Krankheitsbewältigung (1) gelangen die Betroffenen nach einer aktiven Auseinandersetzung mit ihrer gesundheitlichen Lage zu der Einschätzung, ihre wesentlichen Lebensorientierungen trotz der Erkrankung beibehalten zu können, und passen ihre Lebensführung an ihre veränderten Bedingungen an. Bei der reaktivabwehrenden Variante (2) wehren betroffene Personen zu detaillierte Informationen über die Erkrankung und mögliche zukünftige Verläufe eher ab und richten ihre Aufmerksamkeit darauf, die gegenwärtigen Bezugspunkte zu erhalten. Die Lebensführung wird reaktiv und teilweise schleppend an die Veränderungen durch das Fortschreiten der Erkrankung angepasst. Insgesamt gesehen bleibt bei diesem Typus als überwiegender Bezugspunkt die bisherige Normalität einer auf Gesundheit bezogenen Welt erhalten. Die Krankheit kann jedoch durch eine sukzessive Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes schrittweise mehr Raum im Alltag und im Denken einnehmen, während zugleich versucht wird, die bisherige Lebensorientierung beizubehalten. Durch das Fortschreiten der Erkrankung kann es zu einem späteren Zeitpunkt im Lebensverlauf zu einem Bruch bedeutender Lebensorientierungen im Zusammenhang mit einem einschneidenden Lebensereignis kommen, wenn beispielsweise die Berufstätigkeit nicht mehr fortgesetzt werden kann oder die Partnerschaft zerbricht. Die Krankheit ist also bei diesem

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Muster über einen langen Zeitraum hinweg kein zentraler Aspekt für die biografische Ausrichtung. Ein viertes Verlaufsmuster schließlich ist durch eine Bagatellisierung der Erkrankung charakterisiert und die Lebensorientierung ist bereits vor der Erkrankung problematisch und häufig diffus (Typus D). Die Interviewpartner dieser Gruppe berichten von biografischen Hypotheken, die ihr Leben früh überschatten. Es gibt bereits bedeutende Brucherfahrungen in der Biografie, bevor die Erkrankung in Erscheinung tritt. Das Leben in einer Außenseiterrolle und damit verbunden ein Blick von außen auf die normale Welt der anderen stellt für sie keine neue Erfahrung dar, sondern ist bereits vertraut, lediglich die Inhalte oder Institutionen einer auf Krankheit bezogenen Welt sind neu. In diesem Muster wird die Krankheit anfangs kaum realisiert, sondern bagatellisiert und gewinnt erst mit stärker werdender Symptomatik an Bedeutung. Die Erkrankung reiht sich als weiteres Problem in eine schon bestehende Problemlage ein und wird nicht als ein herausragendes biografisches Ereignis dargestellt. Die Lebensorientierung bleibt weiter diffus und problematisch. Die Lebensführung wird erst mit deutlich zunehmender Verschlechterung des körperlichen Zustandes an die Bedingungen der Krankheit angepasst, was teilweise den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen kann. Nachfolgend wird die empirisch entwickelte Typologie in einer Übersicht mit den wesentlichen Aspekten (Kategorien) dargestellt, die die Bewältigung beeinflussen (Tab. 1). Die Ergebnisse aus den Interviews verweisen auf die Verschiedenartigkeit und Komplexität von Prozessen der Krankheitsbewältigung und unterstreichen die Bedeutung der Lebensorientierung beim Bewältigungshandeln im biografischen Verlauf. Sie können dafür sensibilisieren, die Diversität der Betroffenen zu berücksichtigen und diese in ihrer aktuellen Situation deutlicher wahrzunehmen. Zugleich eröffnen sie Ansatzpunkte, die von Betroffenen zu leistende Bewältigungsarbeit gezielt zu unterstützen und möglichen problematischen Entwicklungen vorzubeugen.

7

Ebenen und Arbeitsbereiche der Krankheitsbewältigung

Eine auf Krankheitsbewältigung bezogene Arbeit stellt sich aus gesellschaftlicher, medizinischer oder individuumsbezogener Sicht unterschiedlich dar. Auf der Ebene der Gesellschaft fallen Aufgaben an, die sich um die Organisation und Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung, um Prävention, Aufklärung oder auch um Schutzmaßnahmen drehen. Die Ebene des Medizinsystems beinhaltet die konkrete Umsetzung der Versorgung, also die medizinische Behandlung der erkrankten Menschen und Forschungen zu neuen Medikamenten oder zu Krankheitsursachen. Auf der Ebene der Person geht es um die Bewältigungsarbeit des von Krank-

174

S. Pfeffer

heit betroffenen Menschen mit den Personen in seiner nahen Umwelt, also überwiegend um die Bewältigung als Paar und in der Familie (Pfeffer et al. 2014).

7.1

Bewältigungsarbeit durch Betroffene

Die weiteren Ausführungen beziehen sich zunächst auf das Bewältigungshandeln der betroffenen Person in ihrem Beziehungsgeflecht und nicht auf die professionelle Arbeit aus medizinischer Sicht, z. B. durch einen Arzt, im Krankenhaus oder in anderen Einrichtungen. Die Bewältigungsarbeit, die die Betroffenen leisten müssen, kann jedoch durch professionelle Begleitung gezielt unterstützt werden. " Definition Bewältigungsarbeit In Anschluss an Corbin

und Strauss (2010) wird Bewältigungsarbeit hier verstanden als eine Gruppe von Aufgaben, die längerfristig bei der Bewältigung eines Lebens mit einer Krankheit anfallen und die von der erkrankten Person in ihrem familiären und sozialen Kontext mit oder ohne Unterstützung der entsprechenden Bezugspersonen durchgeführt werden. In der folgenden Tab. 2 wird die Bewältigungsarbeit in den Bereichen alltägliche krankheitsbezogene Arbeit, emotionsbezogene Arbeit, identitätsbezogene Arbeit und biografiebezogene Arbeit zusammenfassend dargestellt (Corbin und Strauss 2010; Pfeffer 2010; Pfeffer et al. 2014; Schaeffer und Moers 2009; Schaeffer und Haslbeck 2016).

Die Unterscheidung der verschiedenen Bereiche der Bewältigungsarbeit soll die Perspektiven verdeutlichen und der Analyse und Planung von Arbeit dienen. In der konkreten Krankheitsbewältigung im Alltag sind die Arbeitsbereiche häufig ineinander verwoben und nur teilweise trennscharf. Bezüge zu subjektivem Sinn und Lebensorientierung sind in allen vier Bereichen für die Bewältigungsarbeit bedeutsam.

7.2

Professionelle Unterstützung der biografischen Krankheitsbewältigung

In den bisherigen Ausführungen stand die Arbeit der betroffenen Personen im Mittelpunkt. Ein abschließender Blick richtet sich nun auf die Frage, wie Fachkräfte im Rahmen ihres professionellen Handelns die biografische Bewältigung von Krankheit unterstützen können. In medizinischen Kontexten gibt es bereits diverse Ansätze, die die narrative und biografische Perspektive in die Bewältigung von Krankheit einbeziehen. Dazu zählen Konzepte der Arbeit mit der Krankheitserzählung und einer narrativen Bewältigung von Trauma und Verlust (Lucius-Hoene 2016; Scheidt et al. 2015) sowie die Entwicklung einer narrativen Medizin (Charon 2006; Kalitzkus et al. 2009). Seit 2011 steht der Öffentlichkeit eine Webseite mit Krankheitserfahrungen zu verschiedenen Erkrankungen zur Verfügung, die sich an erkrankte Menschen und an Fachpersonal richtet und von den Universitäten Freiburg und Göttingen erstellt wird

Tab. 2 Arbeitsbereiche der Krankheitsbewältigung Bereiche der Bewältigungsarbeit Alltägliche krankheitsbezogene Arbeit

Emotionsbezogene Arbeit

Identitätsbezogene Arbeit

Biografiebezogene Arbeit

Erläuterungen und Beispiele • Handlungen, die dazu dienen, körperliche Funktionen zu verbessern, zu erhalten oder eine Verschlechterung zu verlangsamen, z. B. regelmäßige Kontrollen und Medikamentierung bei Diabetes, Krankengymnastik bei Bewegungseinschränkungen durch Rheuma, logopädisches Training nach einem Schlaganfall • Zeit- und Energiemanagement, z. B. Planung der Tagesstruktur mit Terminen, Erholungszeiten, Training • Krankheitsbezogene Information erwerben, z. B. über Funktion der Insulinpumpe, Kombination von Medikamenten und Ernährung • Regulierung der eigenen Emotionen, z. B. im Umgang mit dem Scheitern von Handlungen, mit Verlusten, mit Angst, mit Stigmatisierung • Einflussnahme auf Emotionen von Menschen im sozialen Umfeld, z. B. indem Information über den eigenen gesundheitlichen Zustand auf der Arbeitsstelle oder gegenüber dem Partner begrenzt oder verschwiegen werden, Angst vor den Kindern verborgen wird Auseinandersetzung mit • körperlichen Veränderungen und dem Verhältnis zum eigenen Körper • dem Selbstbild, dem Selbstwert und der Selbstrepräsentation nach außen • einem durch die Erkrankung beeinflussten Fremdbild (relationale Identität) • beruflicher Identität, Identität in der Paarbeziehung und der Familie • Identität in zeitlicher Perspektive: Wer war ich, bin ich jetzt und werde ich sein können? (biografische Identität) • Auseinandersetzung mit der Frage, ob lebenszeitliche Planungen in Bezug auf Ausbildung, Beruf, Familiengründung oder andere biografisch relevante Aspekte durch Krankheit verändert werden müssen • Rollenerhalt, Rollenverlust oder Rollenwandel im Berufs- und Privatleben in längerfristiger Perspektive, z. B. wandelt sich im Zeitverlauf möglicherweise die Situation mit dem Partner oder der Partnerin durch die Erkrankung. Können sich die Personen auf die veränderten Bedingungen einstellen oder zerbricht die Beziehung? Muss eine Trennung verarbeitet und in die Biografie integriert werden? • Ständige Anpassung des Planungs- und Handlungshorizontes

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Krankheit und Biografie – Herausforderungen für die Lebensorientierung und Lebensführung

(http://www.krankheitserfahrungen.de. Zugegriffen am 17.05.2018). Sie zielt darauf ab, über die „Innenseite“ des Lebens mit einer Krankheit zu informieren, biografische Reflexion und soziale Unterstützung bei Betroffenen und ihren Angehörigen zu fördern sowie Kommunikation und Kooperation zwischen Personal und Patienten durch den Einblick in die Krankheitserfahrungen zu verbessern. Zu Biografiearbeit finden sich Hintergrundwissen und handlungsorientierte Hinweise in der Gesundheits-, Krankenund Altenpflege bei Specht-Toman (2018) und Miethe (2017). Nach Herzberg ist im Kontext der Pflege die „Förderung und Unterstützung biografischer Sinnsetzungen und Ressourcen von zentraler Wichtigkeit für die Steigerung der Lebensqualität sowie für Gesundungsprozesse“ (Herzberg 2013a, S. 529). Die Unterstützung von biografischen Lernund Bewältigungsprozessen verlangt von dem Fachpersonal besondere Fähigkeiten, die Herzberg als biografische Kompetenz bezeichnet und in verschiedenen Fähigkeitsdimensionen beschreibt (Herzberg 2013a, b). Sie fordert eine Biografieorientierung in Aus- und Weiterbildungen von Pflegekräften, die m. E. ebenso für weitere medizinische und psychosoziale Berufsfelder wünschenswert wäre. Es scheint lohnenswert und zugleich ausbaufähig, die vielfältigen Bewältigungsprozesse, die erkrankte Menschen zu leisten haben, auch fachlich mit biografischem Hintergrundwissen und Sensibilität gezielt zu unterstützen und Fachkräfte systematisch dahingehend zu qualifizieren.

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Sozialkapital und Gesundheit

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Susanne Hartung

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

2 Sozialkapital – theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2.1 Drei grundlegende Definitionen von Sozialkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2.2 Dimensionen und Formen von Sozialkapital und ihre Messung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3

Empirische Studien zur Gesundheitsrelevanz von Sozialkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

4

Erklärungsansätze der gesundheitlichen Wirkungen von Sozialkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

5

Ansatzpunkte zur Förderung von Sozialkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

6

Beachtung möglicher negativer Effekte von Sozialkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

1

Einleitung

Soziale Beziehungen können hilfreich sein. Sie können das Leben erleichtern, wenn Menschen einander unterstützen und zusammenhalten. Dieser Gedanke liegt dem Konzept des Sozialkapitals zugrunde und hat schon länger Eingang in die Diskurse der Gesundheitswissenschaften gefunden. Hier wird Sozialkapital zumeist positiv mit Gesundheit assoziiert. Der Zusammenhang zwischen Sozialkapital und Gesundheit wird seit über 20 Jahren erforscht. Die meisten der bislang vorliegenden Studien weisen darauf hin, dass Personen mit einem hohen Sozialkapital auch über einen guten Gesundheitszustand verfügen. Die Gesundheitsförderung greift diese Erkenntnisse auf und hat z. B. gesundheitsförderliche Programme in sozial benachteiligten Stadtteilen aufgelegt, um soziale und informelle Netzwerke der Bewohner zu stärken

S. Hartung (*) Fachbereich Gesundheit Pflege Management, Hochschule Neubrandenburg, Neubrandenburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

sowie sie aktiv an Prozessen der Stadtteilentwicklung zu beteiligen (Kickbusch und Hartung 2014). Die zugrunde liegenden Definitionen von Sozialkapital sind vielfältig. Sozialkapital entsteht durch die Interaktionen zwischen Menschen, die den Austausch von Ressourcen wie soziale Unterstützung möglich machen. Sozialkapital kann als Ressourcengenerierungspotenzial betrachtet werden, das heißt als die Bedingungen, die den Zugang zu den Ressourcen anderer Personen und ihren Austausch begünstigen (Hartung 2014, S. 77). Maßgeblich für diesen Zugang und die Frage, welche Ressourcen erreichbar sind, sind der Umfang (Wie groß ist mein soziales Netzwerk?), die Vielfalt (Wie verschieden sind die Menschen, zu denen ich Kontakt habe?), die Reichweite (Reichen meine Kontakte auch in andere und möglichst höhere soziale Schichten mit mehr gesellschaftlichem Einfluss?) und die Stärke der sozialen Beziehungen (Sind es Familienmitglieder, Freunde, die ich lange kenne, Kollegen oder Bekannte?). Für die Qualität sozialer Beziehungen sind ein großes Vertrauen und gemeinsame Normen und Werte – wie gegenseitige Hilfsbereitschaft und Fairness – wesentlich und entscheidend dafür, dass diese Beziehungen durch den Austausch von Ressourcen nützlich werden. Diese Ressourcen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_17

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wie z. B. Gesundheitsinformationen, die Unterstützung bei praktischen oder emotionalen Problemen können positiv für die Gesundheit sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), als international maßgebliche Institution, wenn es um Gesundheit und Gesundheitsförderung geht, fasst Sozialkapital und den Bezug zur Gesundheit Ende der 1990er-Jahre folgendermaßen zusammen: " Definition Sozialkapital (WHO) „Soziales Kapital be-

schreibt den Grad des sozialen Zusammenhaltes, der innerhalb von Gemeinschaften zu finden ist. Soziales Kapital bezieht sich auf Prozesse zwischen Menschen, die Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen hervorbringen sowie Koordination und Zusammenarbeit zu gegenseitigem Vorteil erleichtern. Soziales Kapital entsteht durch die unzähligen alltäglichen Interaktionen zwischen Menschen. Es wird in Strukturen wie zivilen und religiösen Gruppen, Familienmitgliedschaft und informellen Netzwerken verkörpert und offenbart sich in Normen von Freiwilligkeit, Altruismus und Vertrauen. Je stärker diese Netzwerke und Bindungen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass Mitglieder einer Gemeinschaft zum gegenseitigen Nutzen zusammenarbeiten. Auf diesem Wege erzeugt Soziales Kapital Gesundheit und könnte den Nutzeffekt von Investitionen für Gesundheit vergrößern“ (WHO 1998, S. 23 f.). Das Ziel, Gesundheit zu fördern, verfolgen Akteure in den verschiedenen Bereichen im und außerhalb des Gesundheitswesens. Sozialkapital ist z. B. ein gut etablierter Ansatz im Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Unternehmenskultur, Arbeitsbedingungen und die innerbetrieblichen sozialen Beziehungen haben Einfluss auf die physische und psychische Gesundheit der Mitarbeiter (vgl. u. a. Brause et al. 2015; Stebler 2011). Im Krankenhaus und in Pflegeeinrichtungen wirkt sich das auch auf die Qualität der Arbeit (vgl. u. a. Shin und Lee 2016) und letztlich auf das Wohlbefinden der Patienten bzw. Bewohner aus. Auch die Akteure in Kommunen arbeiten daran, das Sozialkapital ihrer Bewohner zu erhöhen, um deren Gesundheit positiv zu beeinflussen. Kommunen sind bestrebt, ein gutes Miteinander ihrer Bewohner zu unterstützen, und arbeiten an Bedingungen, die soziale Kontakte und unterstützende Netzwerke begünstigen. Dazu zählt beispielsweise die Planung der Gestaltung von Parks oder Spielplätzen gemeinsam mit den Bürgern im Stadtteil. Das schafft Netzwerke, stärkt das Gefühl des Vertrauens in die Nachbarn und bietet Gelegenheiten für Informationsaustausch und Hilfe. Auch werden Nachbarschaftszentren als Begegnungsstätten für Personen jeden Alters gefördert, um insbesondere ältere und vielfach einsame Menschen zusammenzubringen. Gerade ältere Menschen haben, wenn sie ohne Familie sind oder diese nicht in der Nähe wohnt, weniger soziale Unterstützung. Nachbarschaftliche Netzwerke können in diesem Fall familiäre Struk-

S. Hartung

turen ergänzen oder ersetzen. In Zusammenarbeit mit einem örtlichen Sportverein und in Kooperation mit verschiedenen Ämtern der Stadt (z. B. Sozialdezernat und Gesundheitsamt) können Maßnahmen für eine gelingende Nachbarschaft von Jung und Alt entwickelt werden, die beispielsweise von einem Quartiersbüro gefördert werden (s. https://www.gesundheitli che-chancengleichheit.de/praxisdatenbank/gesund-und-fit50plus/. Zugegriffen am 14.09.2018). Die Debatte um Sozialkapital verweist darauf, dass eine adäquate Infrastruktur an Dienstleistungsangeboten im Sozial- und Gesundheitsbereich im nahen Wohnumfeld für die Gesundheit relevant ist. Diese Angebote fördern soziale Kontakte und die Möglichkeiten, Unterstützung zu bekommen. Dadurch erleichtern sie den Zugang zu Gesundheitsinformationen und nehmen Einfluss auf Normen des Gesundheitsverhaltens. Kommunen arbeiten zunehmend auch daran, Angebote im Sozial- und Gesundheitsbereich zu verknüpfen, um die Gesundheit der Bürger vom Anfang bis zum Ende des Lebens bestmöglich zu stärken. Dabei vernetzen sich die professionellen Akteure, bauen längerfristige Arbeitsbeziehungen zueinander auf und tragen mit der Entwicklung von gemeinsamen Handlungskonzepten in sog. Präventionsketten zum Wohlbefinden der Bürger bei. Hier können auch Ehrenamtliche einbezogen werden, z. B. im Rahmen von Patenschaften, die dazu beitragen, das Selbstvertrauen alleinlebender älterer Menschen nach Krankenhausaufenthalten zu stärken (Philippi et al. 2015). In diesem Beitrag wird Sozialkapital mit seinen konzeptionellen Wurzeln sowie verschiedenen Dimensionen und Formen vorgestellt. Es werden empirisch nachgewiesene Zusammenhänge zwischen Sozialkapital und Krankheitsund Gesundheitsindikatoren beschrieben und Erklärungen für die möglichen positiven Wirkungen von Sozialkapital auf Gesundheit diskutiert. Es werden einige Handlungsansätze dargestellt, die sich aus den empirischen Zusammenhängen und Erklärungen der Wirkungen ableiten lassen und die der Verbesserung und Förderung der Gesundheit in verschiedenen Versorgungsbereichen dienen sollen. Auch werden auftretende negative Effekte des Sozialkapitals diskutiert. Es wird abschließend eine Förderung von Sozialkapital empfohlen, die sowohl die negativen Effekte als auch die politische Dimension von Sozialkapital, d. h. ihr Einfluss auf die Erhaltung sozialer Ungleichheiten, berücksichtigt.

2

Sozialkapital – theoretische Grundlagen

2.1

Drei grundlegende Definitionen von Sozialkapital

Das Konzept des Sozialkapitals wird vor allem mit den Namen und Texten dreier Wissenschaftler verbunden, mit den Soziologen Pierre Bourdieu (1983, 1992) und James

15

Sozialkapital und Gesundheit

Coleman (1988) sowie dem Politikwissenschaftler Robert D. Putnam (1993, 1995, 2000). Ihre Definitionen sind grundlegend für die Diskussion um Sozialkapital und sollen deshalb hier aufgeführt werden. Pierre Bourdieu untersuchte in den 1960er- und 1970erJahren die Bedingungen für die soziale Stellung des Einzelnen in der französischen Gesellschaft. Soziales Kapital ist neben ökonomischem und kulturellem Kapital eine von drei Kapitalformen, mit denen sich die soziale Position in der Gesellschaft beschreiben lässt. Sozialkapital ist dabei eine begrenzte Ressource der Individuen, die erst durch soziale Interaktionen mit anderen nutzbar wird. Die Kapitalformen werden von den Individuen und Gruppen eingesetzt, um Privilegien und Identität zu bewahren sowie zu reproduzieren. Dabei soll insbesondere die Zugehörigkeit zu einer hohen Klasse erhalten werden (Bourdieu und Russer 2018). Sozialkapital dient dem Erhalt des eigenen sozialen Status und der Abgrenzung gegenüber Gruppen mit geringerem sozialem Status. Nach Bourdieu ist Sozialkapital: " Definition Sozialkapital (Bourdieu) „Gesamtheit der

aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind [. . .], es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1992, S. 63). James Coleman (1988) forschte über die Bildungsungleichheit in den USA und erkannte, dass Sozialkapital im Sinne von intakten Familienbeziehungen oder als Normen und Sanktionen in einer geschlossenen Gemeinschaft wie einer religiösen Gemeinde, neben den Fähigkeiten und Kenntnissen der Eltern, den schulischen Erfolg bestimmt. Coleman (1991) beschäftigte sich damit, was Handlungen begünstigt, und erkennt Sozialkapital als hilfreich dafür an. Die Höhe bzw. den Nutzen des Sozialkapitals macht Coleman u. a. an den in den sozialen Beziehungen und der Sozialstruktur vorhandenen Verpflichtungen und Erwartungen zu Leistungen und Gegenleistungen fest, an dem Informationspotenzial von sozialen Beziehungen sowie an in Gruppen gelebten Normen und wirksamen Sanktionen. Er definiert Sozialkapital folgendermaßen: " Definition Sozialkapital (Coleman) „Ich werde diese

sozialstrukturellen Ressourcen als Kapitalvermögen für das Individuum bzw. als soziales Kapital behandeln. Soziales Kapital wird über seine Funktion definiert. Es ist kein Einzelgebilde, sondern ist aus einer Vielzahl verschiedener Gebilde zusammengesetzt, die zwei Merkmale gemeinsam haben. Sie alle bestehen nämlich aus irgendeinem Aspekt einer Sozialstruktur [z. B. die vorhandene Verpflichtung, dem anderen einen Gefallen zu tun; A.v.A.], und sie begüns-

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tigen bestimmte Handlungen von Individuen, die sich innerhalb der Struktur befinden. [. . .] Anders als andere Kapitalformen wohnt soziales Kapital den Beziehungsstrukturen zwischen zwei und mehr Personen inne“ (Coleman 1991, S. 392). Die von Robert D. Putnam Anfang der 1990er-Jahre formulierte Definition wird in der Gesundheitsforschung am häufigsten zitiert. Danach ist Sozialkapital: " Definition Sozialkapital (Putnam) „features of social

organization, such as trust, norms, and networks, that can improve the efficiency of society by facilitating coordinated actions“ (1993, S. 167). Vor allem bei Putnam ist mit Sozialkapital die Idee verbunden, dass das Vertrauen in die hilfreichen Absichten und den guten Willen anderer gemeinsames Handeln erleichtert, was wiederum die gegenseitige Hilfsbereitschaft erhöht. Das dadurch gestärkte Gemeinschaftsgefühl einer Gemeinschaft hat u. a. positive wirtschaftliche Auswirkungen (Putnam 2000). Für Putnam ist Sozialkapital in erster Linie eine kollektive Eigenschaft, d. h. eine Eigenschaft von größeren sozialen Einheiten wie Regionen und Staaten, und hat Einfluss auf das Funktionieren demokratischer Strukturen und den wirtschaftlichen Erfolg einer Region. Dazu betrachtet Putnam die Surveydaten für eine bestimmte Region, d. h. er misst das durchschnittliche Sozialkapital der Bewohner dieser Region wie z. B. der Bewohner der US-amerikanischen Bundesstaaten. Putnam schlussfolgert aus seinen Analysen, dass sich die Höhe an Sozialkapital aktiv durch die Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements, z. B. in Vereinen, steigern lässt. Seine Perspektive hat die Debatte um Sozialkapital länderund fächerübergreifend erst populär gemacht, da sie Sozialkapital auf den ersten Blick unabhängig von Macht und Ideologie betrachtet und deshalb für die neoliberale Politik mit ihrem Zurückdrängen staatlicher Regulierungen attraktiv machte (Harris 2005). Putnams Perspektive stützt zudem die Argumentation für die Verantwortungsübernahme der Zivilgesellschaft u. a. für die Fürsorge älterer Menschen oder Geflüchteter. Denn diese Perspektive verweist darauf, dass zivilgesellschaftliches Engagement das gesellschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt, sich dies auf demokratische und wirtschaftliche Prozesse positiv auswirkt und sogar das Wohlbefinden der Bevölkerung beeinflusst. Die drei vorgestellten Definitionen von Sozialkapital und die zugrunde liegenden Studien von Bourdieu, Coleman und Putnam basieren auf unterschiedlichen konzeptionellen Überlegungen, die Sozialkapital zum einen als Eigenschaft von Individuen und zum anderen überwiegend als kollektive Eigenschaft betrachten, d. h. eine Eigenschaft der Gesamtheit der Einwohnerschaft größerer sozialer Einheiten wie Nachbarschaften, Regionen und Staaten.

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2.2

S. Hartung

Dimensionen und Formen von Sozialkapital und ihre Messung

In der Erfassung von Sozialkapital wird häufig zwischen der strukturellen und der kognitiven Dimension unterschieden. Dimensionen von Sozialkapital

• strukturelle Dimension von Sozialkapital • kognitive Dimension von Sozialkapital Dimensionen von Sozialkapital • Die strukturelle Dimension von Sozialkapital meint den Umfang des sozialen Netzwerks. Für ihre Erfassung wird z. B. auf die Daten zur Beteiligung und Mitgliedschaft in zivilgesellschaftlichen Netzwerken wie Vereinen zurückgegriffen oder auch die Menge und Häufigkeit von persönlichen Kontakten einbezogen. • Die kognitive Dimension beschreibt die Qualität des Netzwerks und gibt Hinweise auf das Zugehörigkeitsgefühl z. B. in der Nachbarschaft und die Stärke von gemeinschaftlichen Normen. Die kognitive Dimension wird z. B. durch das Ausmaß des wahrgenommenen Vertrauens und der wahrgenommenen Fairness sowie gegenseitigen Hilfsbereitschaft erfasst. Zumeist werden für die Erfassung dieser Indikatoren Antworten aus standardisierten Bevölkerungsbefragungen verwendet.

In den Gesundheitswissenschaften orientiert sich die Operationalisierung bzw. Messbarmachung von Sozialkapital zumeist an den Arbeiten von Robert Putnam. Eine erste Operationalisierung legte Putnam 1993 mit seinem „Index of Civic Community“ vor. Die Untersuchung der Gesundheitsrelevanz von Sozialkapital begann mit den Analysen von Kawachi et al. in den 1990er-Jahren. Ihre Auswahl von Fragen aus dem US-amerikanischen General Social Survey ist an der Operationalisierung von Sozialkapital über drei Indikatoren nach Putnam orientiert und beispielhaft für Analysen zu Sozialkapital und Gesundheit: 1. Indikator Vertrauen: • „Generally speaking, would you say that most people can be trusted or that you can't be too careful in dealing with people?“ (social mistrust). In der Übersetzung: „Würden Sie allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann oder dass man nicht vorsichtig genug sein kann, wenn man mit ihnen zu tun hat?“ (soziales Misstrauen). • „Do you think most people would try to take advantage of you if they got a chance, or would they try to be fair?“ (perceived lack of fairness). In der Übersetzung: „Glauben Sie, dass die Menschen Sie ausnutzen oder

übervorteilen würden, wenn sie die Chance dazu hätten, oder sind sie fair?“ (erwarteter Mangel an Fairness). 2. Indikator Gegenseitige Hilfsbereitschaft: • „Would you say that most of the time people try to be helpful, or are they mostly looking out for themselves?“ (perceived helpfulness). In der Übersetzung: „Würden Sie sagen, dass die meisten Menschen versuchen zu helfen oder achten sie nur auf sich selbst?“ (erwartete Hilfsbereitschaft). 3. Indikator Ausmaß des bürgerschaftlichen Engagements bzw. des sozialen Netzwerks in den untersuchten Bundesstaaten: • Dazu wurden die Befragungsdaten zu Mitgliedschaften in freiwilligen Organisationen und Verbänden (z. B. Mitgliedschaften in Kirchengruppen, Gewerkschaften, Sportgruppen, beruflichen oder akademischen Gesellschaften, Schulgruppen und politischen Gruppen) genommen. Errechnet wurde dann die Pro-KopfDichte der Mitgliedschaften in den Bundesstaaten, d. h. die Angabe, wie viele Mitgliedschaften die Einwohner im Durchschnitt wahrnehmen.

Mit den Indikatoren für Vertrauen, zur gegenseitigen Hilfsbereitschaft und der Mitgliedschaften werden zunächst Aspekte des individuellen Sozialkapitals gemessen, die in der Public-Health-Forschung, wie bei Kawachi et al. (1997), für die Erfassung des kollektiven Sozialkapitals zumeist auf höherer regionaler Ebene (z. B. US-Bundesstaat, europäischer Staat oder Bundesland in Deutschland) aggregiert werden. Das heißt, die einzelnen Befragungsdaten werden für eine Region zusammengefasst. Die Erfassung von individuellem Sozialkapital über diese aufgeführten Fragen bzw. die Zusammenfassung der einzelnen Antworten der Bewohnerschaft einer Region als kollektives Sozialkapital ist – obwohl sehr üblich – vielfach kritisch betrachtet worden (u. a. Hartung 2014). Ohne auf die Debatte an dieser Stelle genauer eingehen zu können, ist festzuhalten, dass in den Fragen zur Erfassung von Sozialkapital häufig nicht ausreichend zwischen persönlichem Vertrauen in konkrete andere Personen aus dem alltäglichen Umfeld und in den „allgemeinen Anderen“ differenziert wird. Gleiches gilt für die Trennung von allgemeiner und personalisierter Hilfsbereitschaft. Für die Erfassung des individuellen Sozialkapitals werden deshalb auch weitere Indikatoren aufgenommen, um dieser Kritik Rechnung zu tragen und das zu erfragen, was man wirklich erheben möchte. Diese Indikatoren sind stärker auf den jeweiligen Erhebungsgegenstand der betreffenden Studie ausgerichtet und nicht direkt auf andere Studien übertragbar. Klocke (2011) hat den Einfluss von Sozialkapital auf gesundheitliche Ungleichheit bei Jugendlichen untersucht und dabei

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Sozialkapital und Gesundheit

Sozialkapital in drei Untergruppen erhoben, deren Summe das Gesamtvolumen des Sozialkapitals angibt: 1. Sozialkapital I – Qualität der Nachbarschaft: Zustimmung z. B. zu den Statements „Die Leute grüßen sich und sprechen miteinander“, „Ich kann Nachbarn um Hilfe bitten“ und „Die Leute würden dich ausnutzen“ 2. Sozialkapital II – Integration in Schule, Vereine, Organisationen: z. B. Häufigkeit des Besuchs eines Vereins, Jugendclubs, Gemeindezentrums/Kirche usw., Zustimmung zum Statement „In meiner Schule kann man sich wohl fühlen“ 3. Soziales Kapital III – Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, Freundschaftsbeziehungen: Antwort auf die Frage „Wie leicht fällt es Dir mit den folgenden Personen über Dinge zu sprechen, die wirklich wichtig sind?“ (Vater, Mutter, Stiefvater, Stiefmutter, Bruder/Schwester, Freunde/Freundinnen usw.) Neben der strukturellen und der kognitiven Dimension werden in der Literatur drei Sozialkapitalformen (Gittell und Vidal 1998; Woolcock 1998, 2001; Putnam 2000) unterschieden: Formen von Sozialkapital

• Verbindendes Sozialkapital (bonding social capital) • Überbrückendes Sozialkapital (bridging social capital) • Verknüpfendes Sozialkapital (linking social capital) Verbindendes Sozialkapital entsteht in starken sozialen Beziehungen zwischen Menschen oder Gruppen, die viele Ähnlichkeiten wie den Bildungsabschluss und das Alter (z. B. alte Schulfreundschaften) besitzen. Es sind starke horizontale Bindungen, z. B. zwischen Familienangehörigen und Freunden im sozialen Nahbereich, quasi auf der gleichen Stufe der sozialen Hierarchie. Dabei wird angenommen, dass diese Beziehungen mit dem Gefühl einer gemeinsamen Identität und eines Zusammengehörigkeitsgefühls verbunden sind. Überbrückendes Sozialkapital verweist auf schwache soziale Beziehungen außerhalb der nahräumlichen Grenzen. Gemeint sind Beziehungen zwischen sozial heterogenen Menschen, die nicht zur eigenen Primärgruppe gehören. Sie sind beispielsweise unterschiedlichen Geschlechts, haben eine andere politische Einstellung oder gehören zu verschiedenen ethnischen Gruppen. Auch überbrückendes Sozialkapital meint horizontale Bindungen. Im Vergleich zu verbindendem Sozialkapital sind die überbrückenden Beziehungen weniger wirksam darin, gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame Normen und Werte zu schaffen. Dafür sind sie aber

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förderlich für mehr Offenheit und beispielsweise die Integration marginalisierter Gruppen. Die Überbrückung getrennter Gruppen kann den Zugang zu neuen Informationen fördern (Loss et al. 2018). Verknüpfendes Sozialkapital sind vertikale soziale Beziehungen. Sie verbinden Individuen und Gruppen in einer sozialen Hierarchie. Diese Sozialkapitalform beachtet, dass es in sozialen Beziehungen verschiedene Niveaus von Macht und Einfluss geben kann, wie z. B. im Arbeitskontext zwischen Chef und Angestellten oder auch zwischen Menschen mit unterschiedlichem Bildungsabschluss und Berufen mit verschieden hohem gesellschaftlichen Prestige. Verknüpfendes Sozialkapital ist das Ergebnis einer Weiterentwicklung der Formen des verbindenden und überbrückenden Sozialkapitals von Woolcock (1998, 2001). Das folgende Beispiel (Tab. 1) für eine häufig verwendete Form der Operationalisierung von Sozialkapitalformen ist einer Elternbefragung entnommen (Hartung 2014). In der Befragung von Eltern von Hauptschülern und Eltern von Gymnasiasten werden überbrückendes und verknüpfendes Sozialkapital in gemeinsamen Items erfragt. Nach Poortinga (2006, S. 256) stellt verknüpfendes Sozialkapital eine spezifische Form des überbrückenden Sozialkapitals dar. Die Items des überbrückenden Sozialkapitals erfassen insofern nicht nur die Verbindung von Personen mit unterschiedlichen Eigenschaften, sondern je nach sozialem Status der Befragten auch die zwischen Personen unterschiedlicher Hierarchiebzw. Statusebenen. Wenn sich also bei Beziehungen zwischen Eltern von Gymnasiasten dies als überbrückendes Sozialkapital ausdrückt, dann kann die Beziehung zwischen den Eltern von Hauptschülern und Eltern von Gymnasiasten auch verknüpfendes Sozialkapital sein.

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Empirische Studien zur Gesundheitsrelevanz von Sozialkapital

Der Begriff des Sozialkapitals hat in den 1990er-Jahren Eingang in die Public-Health-Forschung gefunden (vgl. Kaplan et al. 1996; Wilkinson 1996). Die Erforschung sozialer Beziehungen und deren gesundheitlicher Wirkungen findet unter anderen Namen aber schon länger statt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts fand Emile Durkheim (1993) in seiner bekannten Studie zum Selbstmord heraus, dass die Selbstmordrate bei Menschen geringer ist, die freiwillig in soziale Netzwerke eingebunden sind und daraus einen Sinn für ihr Dasein ableiten. Durkheim verwendet den Begriff „soziale Kohäsion“ und beschreibt damit ein ähnliches Phänomen der Qualität und Quantität sozialer Beziehungen wie Sozialkapital, welches in überschaubaren sozialräumlichen Einheiten zu finden ist und welches das Vorhandensein gemeinsamer Werte und Normen meint (Hartung 2014).

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S. Hartung

Tab. 1 Operationalisierung der Sozialkapitalformen aus Hartung (2014, S. 135) Sozialkapitalform Verbindendes Sozialkapital (Cronbachs Alpha 432)

Überbrückendes Sozialkapital (Cronbachs Alpha 765)

Items, die in die jeweilige Skala eingegangen sind Denken Sie an die Menschen, mit denen Sie meistens Ihre Zeit verbringen. Bitte geben Sie an, ob Sie den folgenden Aussagen zustimmen oder nicht zustimmen! Die meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe . . . – . . . verdienen genauso viel Geld wie ich. – . . . haben dieselbe Religion. – . . . sind Frauen/Männer wie ich. – . . . gehören zu meiner Familie. – . . . sind aus meiner Nachbarschaft/meinem Stadtviertel. Wenn Sie Rat und Hilfe brauchen: Gibt es jemanden, den Sie persönlich kennen, der – . . . Ihnen 500 Euro leihen könnte. – . . . Abitur hat. – . . . eine hohe berufliche Stellung hat (z. B. Arzt, hoher Beamter, Anwalt, Manager, Wissenschaftler). – . . . wichtige Entscheidungen zu Ihren Gunsten beeinflussen kann. – . . . in Deutschland aufgewachsen ist.

Neben dem Konzept der sozialen Kohäsion weist das Sozialkapitalkonzept Überschneidungen mit dem Konzept der sozialen Beziehungen und hier dem Konzept der sozialen Netzwerke und der sozialen Unterstützung auf, deren gesundheitliche Wirkung ebenfalls erforscht wird. Das Konzept der sozialen Beziehungen geht auf Max Weber zurück. Soziale Beziehungen definiert er als: " Definition soziale Beziehungen „[. . .] ein seinem Sinn-

gehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientierendes Sichverhalten mehrerer [. . .]“ (Weber 1922, Kap. 3, Abs. 3). Soziale Beziehungen können informell sein, d. h. die Beziehung zwischen Personen, deren aufeinander bezogenes Verhalten durch individuelle Orientierungen und Emotionen bestimmt wird und „nicht ausschließlich über von außen gesetzte Anforderungen formaler Organisationen und Arbeitsformen“ (Diewald 1990, S. 60). Formelle Beziehungen werden im Gegensatz dazu durch äußere Strukturen vorgegeben. Das können z. B. Beziehungen zu Ärzten und Therapeuten sein. Die Forschung verweist darauf, dass informelle Beziehungen aus dem nahen Umfeld (Lebenspartner, Kinder, nahe Freunde) sich negativ auf die Gesundheit auswirken, wenn sie als ambivalente Beziehungen, d. h. mit positiven und negativen Gefühlen behaftet, wahrgenommen werden. Dann sind diese Beziehungen mit mehr Stress verbunden und erhöhen das Risiko für Kreislauferkrankungen (Uchino et al. 2012). Die Sozialkapitalforschung schließt vor allem an die Netzwerkforschung von Burt (2001) und Granovetter (1985) an, mit der nicht nur einzelne Beziehungen betrachtet werden können, sondern auch die Struktur, d. h. die Eingebundenheit von Einzelnen in Gruppen und Netzwerke, die Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten haben (Hahmann 2013). Granovetter (1973) brachte die Unterscheidung zwischen starken

Antwortkategorien Das entsprechende Feld war anzukreuzen

Fünfer-Skala: nein, niemanden/ja, aber nur wenige/ja, einige/ja, viele/ja sehr viele

und schwachen Beziehungen in die Debatte ein. Die Stärke der Beziehungen hängt davon ab, wie viel Zeit die Personen miteinander verbringen, wie emotional nahe sie sich stehen und wie viel sie füreinander tun. Das Konzept der sozialen Unterstützung beschäftigt sich mit den Inhalten und Leistungen von sozialen Beziehungen und ist zumeist mit der Annahme verbunden, dass sich soziale Unterstützung positiv auf die Gesundheit auswirkt (Borgmann et al. 2017). Dabei wird i. d. R. zwischen emotionaler, instrumenteller und informationeller Unterstützung unterschieden. Soziale Unterstützung kann sowohl in informellen als auch in formellen Beziehungen stattfinden (Berkman und Glass 2000). Eine erste Studie zum Zusammenhang zwischen Sozialkapital und Gesundheit nach den Überlegungen von Putnam legten Kawachi et al. Ende der 1990er-Jahre vor. Sie analysierten den Zusammenhang von Sozialkapital und Mortalität auf der Ebene der Bundesstaaten der USA (Kawachi et al. 1997). Sie konnten zeigen, dass jeder der auf bundesstaatlicher Ebene aggregierten Indikatoren von Putnam mit der altersstandardisierten Mortalitätsrate pro US-Bundesstaat korreliert. Im Mittelpunkt ihrer Analyse stand die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Mortalität. Ihre Untersuchungen stützten die Vorstellung, dass Einkommensungleichheit zu einer Erhöhung der Sterblichkeit führt, d. h. je größer die Einkommensunterschiede innerhalb der Bevölkerung sind, desto höher ist die Mortalitätsrate bzw. desto früher sterben die Menschen. Die Befragungsdaten zeigten, dass die Einkommensungleichheit sich stärker auf die Mortalitätsrate auswirkte, wenn wenig Sozialkapital vorhanden war, die Bewohner dieser Region weniger in Vereinen und Organisationen Mitglieder waren und anderen weniger vertrauten. Dies unterstrich die Idee, dass Interventionsstrategien für die Förderung von Sozialkapital gesundheitsförderliche Wirkungen haben können, gerade auch für gesundheitlich benachteiligte Menschen.

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Sozialkapital und Gesundheit

In der Forschung wird Sozialkapital als Einflussfaktor für die Zusammenhänge zwischen sozioökonomischem Status und gesundheitlicher Ungleichheit weiter untersucht und zumeist anerkannt (vgl. Chappell und Funk 2010). Sozialkapital wird hierbei auch als Einflussgröße im Zusammenhang mit struktureller Benachteiligung in Wohnregionen und Nachbarschaften betrachtet. Auch wenn der Einfluss der sozioökonomischen Variablen (wie Einkommen, Bildung) in den Berechnungen beachtet wird, schätzen die Bewohner in Nachbarschaften mit mehr Sozialkapital ihre subjektive Gesundheit besser ein (vgl. Dahl und Malmberg-Heimonen 2010). Insgesamt bestätigen Studien zu verschiedenen Gesundheitsindikatoren zumeist, dass Sozialkapital positive Effekte hat, u. a. für Lebenserwartung (vgl. Dahl und MalmbergHeimonen 2010), Mortalität (vgl. Skrabski et al. 2004; Lochner et al. 2003), subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit (vgl. Rocco et al. 2014; Dahl und MalmbergHeimonen 2010; Kroll und Lampert 2007; von dem Knesebeck et al. 2005), psychische Gesundheit (Ehsan und de Silva 2015) und Gesundheitsverhalten (bei Jugendlichen vgl. Review von McPherson et al. 2013; Klocke 2011). Beispielsweise liegt eine groß angelegte Studie auf der Grundlage des European Social Survey für 25 Staaten vor, bei der sich eine kausale und positive Beziehung zwischen der subjektiven Einschätzung der Gesundheit und Sozialkapital zeigte, die in beide Richtungen wirkt (Rocco et al. 2014). Kroll und Lampert (2007) haben den positiven Einfluss von Sozialkapital auf die subjektive Gesundheit auch für Deutschland aufgezeigt. Die Ergebnisse der europäischen Studie von Rocco et al. (2014) unterstreichen zudem den besonderen Wert des individuellen Sozialkapitals für Gesundheit. Die Studie zeigt, dass Sozialkapital auf Gemeinschaftsebene eine wesentlich geringere Rolle für Gesundheit spielt (Rocco et al. 2014). Das Konstrukt des kognitiven Sozialkapitals, namentlich Vertrauen, auch sozialer Zusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl, weist in den meisten Studien eine positive Verknüpfung mit den gemessenen Gesundheitsoutcomes auf (vgl. Agampodi et al. 2015). Gesundheitsoutcomes sind hier z. B. das Gesundheitsverhalten, die subjektive Einschätzung der eigenen Gesundheit oder körperliches und geistiges Wohlbefinden. Das strukturelle Sozialkapital hat einen geringeren gesundheitlichen Einfluss.

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Erklärungsansätze der gesundheitlichen Wirkungen von Sozialkapital

Es liegen verschiedene Erklärungsansätze zur gesundheitlichen Wirkung von Sozialkapital vor. Einigkeit besteht darin, dass Sozialkapital keine direkt wirkende, eigenständige Gesundheitsressource ist, sondern als ermöglichender Faktor

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(Franzkowiak 2018) bzw. als Ressourcengenerierungspotenzial (Hartung 2014) wirkt. Sozialkapital kann sowohl auf der individuellen Ebene als auch auf der nachbarschaftlichen und der nationalen Ebene Gesundheit beeinflussen. Auf der individuellen Ebene ist dabei an den Einfluss von Sozialkapital auf das Gesundheitsverhalten zu denken. Beispielsweise sinkt die Prävalenz des Rauchens unter Jugendlichen mit zunehmendem Sozialkapital in allen sozialen Statusgruppen. Das heißt, der Anteil der täglichen Raucher nimmt in allen Gruppen ab (Klocke 2011). Auf der individuellen Ebene stellt Sozialkapital auch eine Voraussetzung für soziale Unterstützung dar. Diese wirkt sich als emotionale, instrumentelle oder auch informationelle Unterstützung auf die Gesundheit aus (Borgmann et al. 2017; Holt-Lunstad et al. 2010; Schwarzer und Knoll 2007). Individuen erfahren in sozialen Beziehungen Anerkennung, Fürsorge und emotionale Zuwendung, sie bekommen praktische Hilfe im Alltag wie finanzielle Unterstützung oder die unentgeltliche Erledigung von Aufgaben. Darüber hinaus werden in sozialen Beziehungen Informationen ausgetauscht, z. B. Gesundheitsinformationen, und Individuen werden bei Entscheidungen unterstützt, die für ihre Gesundheit relevant sind. Empirische Daten belegen, dass es insbesondere die wahrgenommene soziale Unterstützung ist, die sich als psychosoziale Ressource auf verschiedene Aspekte von Gesundheit auswirkt (Borgmann et al. 2017). Menschen, die sich weniger von ihrem sozialen Umfeld unterstützt fühlen, leiden nachweislich mehr unter chronischem Stress, körperlichen Belastungen und Krankheiten (Hapke et al. 2013). Auf der Ebene von Nachbarschaften trägt Sozialkapital in Form sozialer Netzwerke gleichfalls zur Verbreitung von gesundheitsrelevanten Informationen und gesundheitsförderlichen Normen bei und erleichtert Zugänge zu Gesundheitsdienstleistungen. Aus der Gemeinwesenarbeit ist bekannt, dass Bürger ihre Interessen besser gemeinschaftlich vertreten können. Rocco et al. (2014) formulieren, dass gut vernetzte, organisierte Gruppen von Bürgern beispielsweise eine effektivere Lobbyarbeit machen können, um potenziell gesundheitsfördernde öffentliche Güter, z. B. Gesundheitsinfrastruktur, Sportanlagen und Grünflächen, zu erhalten. Verschiedene Studien haben auch gezeigt, wie das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit darüber entscheidet, wie Menschen sich in ihrer Umgebung bewegen. Menschen in Stadtteilen mit niedrigem Vertrauen treiben seltener Sport als die Einwohner anderer Stadtteile (Dragano 2012; Stafford et al. 2007). Auf der nationalen Ebene ist daran zu denken, das Vertrauen, welches die Bürger in die Funktionsfähigkeit der Politik und das Gesundheitswesen haben, zu erhalten und zu verbessern. Zur Frage der Wirkung von Sozialkapital auf der Aggregatebene (wie Nachbarschaften oder Bundesländer) wird zudem häufig zwischen kompositionalen und kontextuellen Effekten unterschieden (von dem Knesebeck 2015; Kawachi

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S. Hartung

und Berkman 2014). Ein Zusammenhang zwischen dem Sozialkapital in einer Region und der Gesundheit seiner Bewohner kann zum einen als kompositionaler Effekt gedeutet werden. Das heißt, dass sozial isolierte und dadurch auch in ihrer Gesundheit gefährdete Menschen vermehrt in einem Gebiet leben. In diesem Gebiet wird dann ein niedriges Sozialkapital gemessen und die Menschen haben eine vergleichsweise schlechte Gesundheit. Von einem kontextuellen Effekt wird gesprochen, wenn sich die Korrelation zwischen Sozialkapital und schlechter Gesundheit durch strukturelle Eigenheiten der Gebiete wie geringe kommunale Ressourcen erklären lässt (von dem Knesebeck 2015).

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Ansatzpunkte zur Förderung von Sozialkapital

Das Sozialkapitalkonzept nach Putnam propagiert, Sozialkapital gezielt fördern zu können. Eng damit verbunden ist ein Versprechen für mehr Gesundheit, für die Weiterentwicklung der Demokratie, ein gesellschaftliches Gemeinschaftsgefühl und letztlich auch für wirtschaftlichen Erfolg und innovative Problemlösungen (Olk und Hartnuß 2011). Grobe Ansatzpunkte hierfür sind zum einen die Stärkung der Beteiligung in Vereinen und Gruppen der Zivilgesellschaft. In Deutschland ist die Politik seit Jahren um das bürgerschaftliche Engagement bemüht: 1999 wurde die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ eingesetzt, seit 1999 werden alle fünf Jahre Erhebungen zum freiwilligen Engagement durchgeführt und seit 2012 gibt es regelmäßig einen Engagementbericht der Bundesregierung. Auch in den einzelnen Parteiprogrammen spiegelt sich die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements wider (Simonson et al. 2017). Bürgerschaftliches Engagement braucht die nötige Anerkennung und geeignete Bedingungen. Parteien in Deutschland haben zum Teil bereits neue Formen der Anerkennung wie Urkunden eingeführt und befürworten bürgerschaftliches Engagement insbesondere im Gesundheits-, Pflege- sowie Bildungsbereich. Bürgerschaftliches Engagement kann laut der Politik beispielsweise die im nahen Umfeld von älteren Menschen fehlende soziale Unterstützung kompensieren. Gerade ältere Menschen können nachweislich weniger auf hilfreiche soziale Kontakte zurückgreifen, da diese zunehmend kinderlos bleiben, die eigenen Kinder aus beruflichen Gründen häufig weiter entfernt wohnen und der Freundesund Bekanntenkreis mit altert und selbst Hilfe benötigt. Eigene Mobilitätseinschränkungen kommen hinzu und es besteht die Gefahr der zunehmenden Isolierung und Vereinsamung. Ehrenamtliche, die z. B. nach einem Krankenhausaufenthalt im Alltag unterstützen, haben nachweislich eine positive Wirkung auf die psychische Lebensqualität (Philippi et al. 2015). Sie können emotionale Unterstützung leisten und

bieten Hilfestellung im Alltag durch eine Begleitung zum Arzt oder die Erledigung von Besorgungen. Die Ehrenamtlichen brauchen dafür gute Bedingungen wie einen Austausch mit Gleichgesinnten, eine Anleitung zur Wahrung von Nähe und Distanz und zum Umgang mit der eigenen Belastungssituation. Eine gezielte Schulung der Ehrenamtlichen ist deshalb ratsam, um Ehrenamtliche in Kommunen zunächst zu gewinnen und dann längerfristig zu halten (Schlicht und Gehltomhol 2015). Die Ergebnisse des Freiwilligensurveys (Simonson et al. 2017) weisen allerdings darauf hin, dass bürgerschaftliches Engagement in höherem Maße von Menschen mit hohem Schulabschluss und weniger von Menschen mit mittlerer und niedriger Schulbildung ausgeübt wird. Menschen mit niedriger Bildung bauen ihre sozialen Netzwerke und damit ihr Sozialkapital über freiwilliges Engagement nicht in gleichem Maße aus wie höher Gebildete. Die Ergebnisse der GEDA 2014/2015-EHIS-Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) unterstreichen die Relevanz dieser Beobachtung für die Gesundheit: Frauen und Männer mit niedriger Bildung oder ohne Erwerbstätigkeit verfügen nach eigener Wahrnehmung über weniger soziale Beziehungen und Netzwerke, von denen sie unterstützt werden. Gerade diese Gruppen, die besonders von gesundheitlichen Problemen betroffen sind, können weniger auf Sozialkapital und soziale Unterstützung zurückgreifen (Borgmann et al. 2017). Es gelingt auch weniger, sie für freiwilliges Engagement zu gewinnen. Soziale Kontakte finden auch außerhalb von Vereinen in Stadtteilen, Quartieren, Nachbarschaften und Hausgemeinschaften statt. Sie können auch dort den Boden bereiten für soziale Unterstützung, die gesundheitliche Belastungen im Alltag reduzieren kann (Dragano 2012). Das hohe Sozialkapital einer Gesellschaft ist Ausdruck für eine gute gesellschaftliche Integration Einzelner. Dafür sind das Vertrauen in die Gemeinschaft und die Akzeptanz gemeinsamer Normen essenziell. Ihre Förderung ist der zweite Ansatzpunkt im Sozialkapitalkonzept. Hilfreich dafür ist beispielsweise auf der Ebene der Kommunen und Stadtteile eine adäquate Infrastruktur für soziale und gesundheitliche Dienstleistungsangebote in der nahen Wohnumgebung. Gerade Maßnahmen in der Kommune und im Stadtteil können in ihrer Gesundheit besonders gefährdete, d. h. vulnerable Personengruppen wie Alleinerziehende, Ältere und Migranten mit niedriger Bildung und Einkommen besser erreichen und fördern das Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen und professionelle Akteure der nahen Wohnumgebung. Angesichts der Erkenntnis, dass die größten gesundheitlichen Probleme der Bevölkerung aktuell bei den chronischen Erkrankungen liegen und diese sehr von der sozialen Lage und Lebensweise abhängen, ist kommunale Gesundheitspolitik heute mehr als medizinische Versorgung (Razum et al. 2018). Die Stärkung informeller sozialer Netzwerke von Bewohnern sozial benachteiligter Nachbarschaften, die Er-

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Sozialkapital und Gesundheit

mutigung und das Empowerment der Bewohnerschaft zu sozialer Teilhabe und Beteiligung an den Entwicklungen des Quartiers sind Ziele von Kommunen und dienen der Förderung von Sozialkapital. Zum Sozialkapital tragen auch Aktivitäten bei, die unter dem Begriff der kommunalen Gesundheitsförderung zusammengefasst werden: die Vernetzung der professionellen Akteure, die zur Gesundheitsförderung beitragen können, der daran ansetzende Kompetenzund Strukturaufbau und die Verknüpfung von unterstützenden Angeboten und Maßnahmen als sog. Präventionsketten. Die gezielte Vernetzung von Akteuren, die Verknüpfung von Maßnahmen und die Beteiligung von Bürgern gilt als vielversprechender Ansatz zur Prävention und Gesundheitsförderung sowie als Strategie zur gesundheitlichen Chancengleichheit. Diese sind aktuell gefragt und werden durch das Präventionsgesetz unterstützt. Dabei werden professionelle soziale Netzwerke aufgebaut und gepflegt, es entstehen vertrauensvolle Beziehungen und es werden Erfahrungen von gegenseitiger Unterstützung gemacht. Dies kommt letztlich der Gesundheit der Bürger zugute. Im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements wird Sozialkapital bereits länger thematisiert. Studien zum Sozialkapital in Unternehmen legen nahe, dass die Mitarbeiterorientierung eines Unternehmens und die gemeinsam von den Mitarbeitern und Führungskräften getragenen Werte und Normen, d. h. die gelebte Unternehmenskultur, einen Einfluss auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter haben (Badura et al. 2013). Diese Überlegungen haben Eingang in das Betriebliche Gesundheitsmanagement gefunden, z. B. auch im Krankenhaus.

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Beachtung möglicher negativer Effekte von Sozialkapital

Das Sozialkapitalkonzept hat einen hohen Verbreitungsgrad und wird in vielen Politikbereichen gern aufgegriffen. Dabei wird zumeist allein auf die positiven Wirkungen von Sozialkapital verwiesen. Doch auch negative Konsequenzen von Sozialkapital können auftreten und sollten beachtet werden, denn gemeinschaftliche Solidarität, soziale Kontrolle und kollektive Sanktionen können unerwünschte Wirkungen haben, wie wir am Beispiel krimineller Organisationen wie der italienischen Mafia oder auch Sekten sehen können. Diese Gruppen verfügen über ein hohes Sozialkapital, das aber negative Effekte für Außenstehende und auch für die Gruppenmitglieder hat. Auch außerhalb dieser Extrembeispiele lohnt sich eine nähere Betrachtung insbesondere der negativen Effekte für die Gesundheit und die diesbezügliche Anwendung des Sozialkapitalkonzepts für die Gestaltung gesundheitsförderlicher Interventionen. Der Austausch von Ressourcen in sozialen Beziehungen und Netzwerken kann sowohl zu positiven als auch negativen Effekten führen. So

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kann sich eine Gruppe von Jugendlichen regelmäßig zum Joggen treffen und sich bei der Verbesserung ihrer Lauftechniken unterstützen oder sich am Wochenende regelmäßig zum gemeinsamen Alkoholtrinken verabreden. Portes hat bereits 1998 vier Gründe aufgeführt, warum Sozialkapital nicht immer positive Effekte haben muss:

Negativeffekte von Sozialkapital

1. Höheres Sozialkapital kann überhöhte Forderungen an die Gruppenmitglieder mit sich bringen, die anderen zu unterstützen. Beispielsweise fühlen sich Personen in engen familiären Beziehungen einander verpflichtet und gehen z. B. bei der Pflege von Angehörigen über ihre eigenen Kräfte. In diesem Fall sind Dienstleistungen und Angebote – vom Entspannungstag für pflegende Angehörige bis hin zur Finanzierung von mehr ambulanter Pflege – gefragt, um die pflegenden Angehörigen zu entlasten. 2. Höheres Sozialkapital kann durch eine extreme informelle – nicht auf Gesetzen und offiziellen Regeln beruhende – Kontrolle seitens des sozialen Netzwerks Freiheit einschränken. Ein Gefühl der begrenzten Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit, die eigene Isolation von der Gruppe bis hin zu Depression kann die Folge sein. 3. Starkes verbindendes Sozialkapital kann zum Ausschluss von Mitgliedern fremder Gruppen eingesetzt werden. Diese Ausgrenzung bedeutet schlechteren Zugang zu Ressourcen wie z. B. zu guter Bildung, die für die Gesundheit relevant sind. Bourdieu (2018) hat in seiner Analyse zu den sozialen Strukturen und der Elite Frankreichs gezeigt, dass neben Geld bzw. Besitz und Bildung eben auch soziale Beziehungen, auch als „Vitamin B“ bekannt, dazu beitragen, soziale Ungleichheiten zu erhalten und zu verfestigen. Obwohl das deutsche Bildungssystem nicht in demselben Maße elitär ist, zeigt der Bildungsbericht 2018, dass fast 80 % der Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss in der Regel auch studieren, während Kinder von Eltern, die eine berufliche Ausbildung und kein Abitur haben, nur zu 24 % studieren (Autorengruppe Bildungsbericht 2018). Das hat gesundheitliche Konsequenzen, denn die sozialepidemiologische Forschung weist darauf hin, dass mit jedem zusätzlichen Jahr an schulischer und beruflicher Bildung die Lebenserwartung zunimmt. 4. Sozialkapital kann durch die Forderung zur Anpassung an die Gruppe, der sich Einzelne, z. B. Jugendliche, schwer entziehen können, zu einer Nivellie(Fortsetzung)

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S. Hartung

rung von Normen führen. Aus der Forschung zum Gesundheitsverhalten von Jugendlichen wissen wir um die negativen Wirkungen von Peers. Eine aktuelle Studie von Martins et al. (2017) zeigt, dass ein hohes Sozialkapital signifikant mit dem Anstieg von Rauschtrinken zusammenhängt. Bei Heranwachsenden, die über mehr sozialen Zusammenhalt in ihrer Nachbarschaft berichteten, gab es statistisch eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit, sehr viel Alkohol zu trinken.

Villalonga-Olives und Kawachi (2017) führen in ihrem Review von 44 Studien zu den negativen Effekten von Sozialkapital zwei weitere negative Konsequenzen an: Erstens bedeutet ein hohes Sozialkapital auch, dass Personen gesundheitsschädliches Verhalten anderer nachahmen, dass ihr Verhalten sozusagen ansteckend ist. So können in sozialen Organisationen außerhalb der Schule, z. B. in Jugendvereinen und Sportclubs, auch Jugendliche und Erwachsene sein, die rauchen und trinken und die Jugendlichen zum Rauchen und Trinken ermutigen (Takakura 2015). Zweitens, beschreiben Villalonga-Olives und Kawachi, können Eigenschaften die auf verschiedenen Ebenen gemessen werden, wie z. B. das soziale Vertrauen von einzelnen Personen und das Vertrauen, welches die Bewohner einer Region insgesamt haben, sich gegenseitig beeinflussen. Beispielsweise fanden Subramanian et al. (2002) heraus, dass Personen, die ein hohes Vertrauen in andere angaben, eine schlechtere Gesundheit berichteten, wenn sie in Regionen wohnten, in denen die Bewohnerschaft insgesamt wenig Vertrauen in andere hatte, während Personen mit einem niedrigen Vertrauen, die in einer Region mit hohem Vertrauen der Bewohner lebten, keine bessere Gesundheit aufwiesen. Diese Ergebnisse verweisen auf mehr Forschungsbedarf und vor allem auf einen sensiblen Umgang mit dem Sozialkapitalkonzept bei der Gestaltung von Interventionen zur Förderung von Sozialkapital inner- und außerhalb des Gesundheitswesens. Eine Anwendung des Sozialkapitalkonzepts muss auch den machtvollen Einfluss von sozialen Beziehungen berücksichtigen und deren Wirkung auf die Erhaltung von sozialen Hierarchien betrachten. Auch in der Beschreibung der negativen Effekte nach Portes wird dieser Einfluss von Sozialkapital auf die Erhaltung und Verfestigung sozialer Ungleichheit angedeutet. Das Sozialkapitalkonzept in der Interpretation nach Putnam ignoriert den Machtaspekt und setzt ganz auf die Entwicklung und Unterstützung des Engagements der Zivilgesellschaft, um soziale Beziehungen und damit die positiven Effekte von Sozialkapital zu erreichen. Dies findet in einem von Politik und Regierungshandeln unabhängigen Bereich

statt und macht die politische Popularität des Sozialkapitalkonzepts nach der Auslegung von Putnam verständlich. Nicht die neoliberale Entwicklung von Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wie dem öffentlichen Nahverkehr, der Stromversorgung, von Krankenhäusern und Pflegeheimen, sondern die Bürger werden in der Verantwortung gesehen, den Zusammenhalt der Zivilgesellschaft zu stärken. Gerade die Bürger, die aufgrund geringer Einkommen, fehlender schulischer und beruflicher Bildung und durch besondere Lebenslagen, wie Alleinerziehen der Kinder, in ihrem Alltag belastet und in ihrer Gesundheit gefährdet sind, wären nach dieser Auslegung des Sozialkapitalkonzepts angehalten sich in Vereinen und Ähnlichem zu engagieren, um mehr Zugang zu Ressourcen zu bekommen. Aus Studien wissen wir, dass dies nicht gelingen kann, denn diese Menschen engagieren sich eben aufgrund dieser mangelnden Ressourcen an Zeit und finanziellen Mitteln weniger. Wenn wir die Sozialkapitalforschung jedoch ernst nehmen, Machteffekte und negative Konsequenzen beachten und in die Maßnahmenplanung einbeziehen, kann die Förderung von Sozialkapital eine Strategie der Prävention und Gesundheitsförderung sein sowie bei der Wiederherstellung der Gesundheit im Therapie-, Rehabilitations- und Pflegebereich hilfreich sein. Das erfordert einen reflektierten Umgang mit dem Sozialkapitalkonzept und eine sensible Entwicklung von Maßnahmen. Damit die Maßnahmen gut angenommen werden und sich positiv auf die Gesundheit auswirken, empfiehlt es sich, die Maßnahmen zusammen mit den Bürgern, deren Sozialkapital gestärkt werden soll, zu entwickeln und umzusetzen.

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Sozialkapital und Gesundheit

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Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem

16

Wolfgang Seger

Inhalt 1

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

2

Funktionen, Art und Anlässe von Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

3 Begutachtung im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3.1 Personbezogene Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.2 Sachbezogene Begutachtung zur Abrechnungsprüfung vollstationärer Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4

Grundsatz-, System-, Institutionen- und versorgungsbezogene Beratung und Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

5

Rechte und Pflichten des Begutachteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

6

Rolle, Aufgaben und Unabhängigkeit des Gutachters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

1

Einführung

Jährlich werden mehrere Millionen sozialmedizinische Stellungnahmen und Gutachten durch Sozialversicherungen und andere soziale Institutionen nach dem Versicherungs- und dem Versorgungsprinzip zur Sachaufklärung von Notwendigkeit, Art, Umfang, Ort und/oder Dauer sozialer (medizinischer) Leistungen wegen Krankheit, Unfall oder anderer Gesundheitsstörungen beauftragt. Dem Gutachten kommt damit sowohl bei Versicherungs- als auch bei Versorgungsfragen trotz seiner grundsätzlich nur beratenden Funktion eine wesentliche Weichenstellung für oder gegen eine beantragte Sozial- oder Gesundheitsleistung zu. Unter dem Begriff der Versicherung versteht man das Grundprinzip der kollektiven Risikoübernahme (Versicherungsprinzip). Der Versicherte kann im Schadensfalle (Versicherungsfall) einen Schadenausgleich erhalten. Zur Feststellung

W. Seger (*) Wennigsen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

des konkreten Leistungsfalles prüft der Sachbearbeiter der Versicherung die persönlichen Voraussetzungen des Versicherten für eine konkrete Leistungsgewährung. Die Prüfung richtet sich nicht nach dem Wunsch oder der Befindlichkeit des Betroffenen, sondern nach Kriterien, die sich aus dem Gesetz, untergesetzlichen Regelungen z. B. des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) als oberstem Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen oder Regularien der Selbstverwaltung der Sozialleistungsträger ergeben. Zur medizinischen Sachaufklärung wird dann oft ein Gutachten eingeholt, um mit dieser fachkundigen Unterstützung eine leistungsrechtliche Entscheidung zu treffen. Leistungen nach dem Versorgungsprinzip dienen dem Ausgleich für Nachteile bzw. Schäden oder Opfer, die dem Einzelnen widerfahren und welche jedes Mitglied der Gemeinschaft hätte treffen können. Hierfür werden Steuermittel verwendet, z. B. im sozialen Entschädigungsrecht, nach dem Schwerbehindertenrecht oder in der Sozialhilfe. Zur Beurteilung der Kausalität von Schädigungsfolgen, des Grades der Behinderung oder zur Sachaufklärung bei den verschiedenen Fragestellungen, z. B. der Sozialhilfe, werden ebenfalls Gutachter hinzugezogen. Diese

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_18

189

190

richten sich z. B. zur Feststellung des Ausmaßes der nach dem Bundesversorgungsgesetz auszugleichenden Schädigungsfolgen oder des Grades der Behinderung nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung (Wendler und Schillings 2017). Voraussetzung für eine sozialmedizinische Begutachtung ist neben Unfall- und anderen Schadensereignissen häufig das Drohen oder Vorliegen einer Erkrankung. Der Begriff „Krankheit“ wird in den Sozialgesetzen zwar verwandt, jedoch dort nicht selbst ausgeführt. Vielmehr hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) den sozialrechtlichen Krankheitsbegriff im Laufe der Jahrzehnte mit Leitsätzen geformt. Krankheit ist danach ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der eine Heilbehandlung erforderlich macht oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Die Regelwidrigkeit eines Körperoder Geisteszustandes ist bereits mit der Abweichung von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm gegeben. Eine Heilbehandlung ist dann erforderlich, wenn sich Schmerzen einstellen oder die Gefahr der Verschlimmerung des Zustandes droht. Krankheit ist aber auch dann schon anzunehmen, wenn der Zustand zwar noch keine Schmerzen oder Beschwerden bereitet, durch ärztliche Behandlung aber eine wesentliche Besserung oder gar Beseitigung des Leidens und damit eine günstige Wirkung auf die spätere Erwerbsfähigkeit erreicht werden kann. Im Lauf der Jahre wurde eine Reihe von Grenzfällen dem Krankheitsbegriff konkret zugeordnet. Es wurde aber beispielsweise auch herausgestellt, dass eine Schwangerschaft, deren Verhütung bewirkt werden soll, keine Krankheit i. S. der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Verschiedene Sozialgesetzbücher kodifizieren das Recht für durch Krankheit verursachte Schadens- oder Versorgungsanlässe jedoch mit unterschiedlichen Rechtsfolgen (Tab. 1). Diese sind ursachenunabhängig final an den Folgen von Schädigungen durch Krankheit, Unfall etc. ausgerichtet, d. h. nicht kausal orientiert, sofern die Versicherung und Versorgung nicht ausdrücklich für bestimmte Ursachen vorgesehen ist wie z. B. die Unfall- oder Berufsunfähigkeitsversicherung oder das soziale Entschädigungsrecht. Daneben sind die privaten Versicherungsträger zu erwähnen, die mit ihren Versicherten jeweils individuelle Vertragsbeziehungen mit risikoadjustierten Prämien aufweisen. Die an einen Gutachter gerichteten Fragestellungen und die vom Gutachter zu beachtenden rechtlichen Rahmenbedingungen sind folglich sehr unterschiedlich. Rechtlich relevant ist Krankheit somit immer nur im Sinne einer bestimmten Rechtsvorschrift. Krankheit in diesem Sinne ist ein juristischer Begriff, der abgestellt ist auf den sozialen Zweck, dem die jeweilige Vorschrift dient. Gutachtliche Fragestellungen für die akutmedizinische Versorgung folgen meist dem biomedizinischen Krankheitsmodell. Krankheiten und Behinderung werden als Merkmal einer Person betrachtet, die direkt von einem Agens (Ätiologie) betroffen ist, welches die Entwicklung einer Krankheit

W. Seger Tab. 1 Übersicht wichtiger Sozialversicherungs- und Versorgungsbereiche nach deren Zuständigkeit Sozialversicherungsbereich Krankenversicherung (SGB V) Rentenversicherung (SGB VI) Pflegeversicherung (SGB XI) Unfallversicherung (SGB VII) Arbeitslosenversicherung (SGB II/III)

Schwerbehindertenrecht (SGB IX, Teil 2) Soziales Entschädigungsrecht

Sozialhilfe (SGB XII)

Zuständigkeit wenn Krankheit behandlungsbedürftig ist oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat wenn durch Krankheit die Erwerbsfähigkeit herabgesetzt wird wenn durch Krankheit Pflegebedürftigkeit ausgelöst wird wenn sie durch einen Arbeitsunfall/ eine Berufskrankheit verursacht worden ist wenn durch Krankheit zwar die Leistungsfähigkeit herabgesetzt ist, aber noch für zumutbare Erwerbstätigkeiten ausreicht wenn Krankheit eine Behinderung verursacht wenn Krankheit/gesundheitliche Schäden eine anerkannte Schädigung bedingen z. B. Impfschaden, Kriegsschaden subsidiär, wenn Hilfe nicht auf andere Weise sichergestellt ist

(Pathogenese) bewirkt und Symptome (Manifestation) verursacht, die eine medizinische Versorgung erfordern. Gutachten für Sozialleistungsträger orientieren sich jedoch zunehmend am biopsychosozialen Krankheitsmodell (Engel 1977). Dieses betrachtet das Gesundheitsproblem sowie gestörte Funktionen und Strukturen ebenso, aber es berücksichtigt zusätzlich daraus resultierende Aktivitäten der Betroffenen, deren Teilnahme an Lebenssituationen und schließlich personund umweltbezogene Kontextfaktoren als die Teilhabe fördernde oder hemmende Faktoren sowie die Wechselwirkungen der genannten Bereiche untereinander. Das biopsychosoziale Krankheitsmodell als Ausgangspunkt genommen hilft, die Folgen von Krankheiten biomedizinisch, geistig/psychisch und sozial zu überwinden durch angemessene medizinische und soziale Leistungen wie medizinisch-technische Hilfsmittel, medizinische und berufliche Rehabilitation, Schulungen der Versicherten zur Kompensation oder der Angehörigen zur Unterstützung usw. Sie sind Grundlage für einen multiprofessionellen Behandlungsplan, interdisziplinär, sensibel für kontextuelle und personbezogene Faktoren mit dem Ziel, die Teilhabe im persönlichen, beruflichen, schulischen, familiären und gesellschaftlichen Bereich zu erhalten oder zu fördern. Im Jahr 2001 wurde die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) von allen 191 Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell gebilligt als internationaler Standard (WHO 2001a, b), um Gesundheit und Behinderung zu beschreiben. Die Struktur der ICF basiert auf dem biopsychosozialen Krankheitsmodell und wird zunehmend in gutachtlichen Dokumentationen für die Sozialleistungsträger genutzt.

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Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem

" Das biopsychosoziale Modell dient insbesondere bei chronischen, multimorbiden und älteren Versicherten als Grundlage vieler Leistungen der gesetzlichen Sozial- bzw. Kranken- und Pflegeversicherung, beispielsweise bei der Indikationsstellung für Rehabilitationsleistungen oder Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit.

Die „Funktionsfähigkeit“ der Betroffenen ist schließlich mehr als eine Summe von verschiedenen Krankheiten und organischen bzw. psychischen Abweichungen von der Normalität. Sie wird durch Anwendung des biopsychosozialen Krankheitsmodells sehr viel lebensnaher und teilhabeorientiert erfasst, als dies durch das biomedizinische Krankheitsmodell alleine möglich ist. " Eine Indikationsstellung sozialer oder medizinischer Leistungen beim chronisch kranken oder behinderten Menschen unter alleiniger Zugrundelegung des biomedizinischen Krankheitsmodelles ist oft nicht mehr state of the art. Die medizinische Betrachtungsebene muss um die psychosoziale Dimension erweitert werden.

2

Funktionen, Art und Anlässe von Begutachtung

Sozialmedizinische Gutachten und Fallberatungen entfalten eine individuelle Steuerungsfunktion, wenn es beispielsweise bei einem längere Zeit arbeitsunfähigen Versicherten um die Feststellung der Notwendigkeit zur Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme geht. Qualitätssichernde Funktion übt die Begutachtung dann aus, wenn eine Behandlung dahingehend beurteilt wird, ob sie überhaupt notwendig oder sogar überflüssig ist oder eine andere Behandlung wirksamer sein könnte. Versicherungsökonomische Auswirkungen können die Ergebnisse der Begutachtungen über deren Vielzahl im Kostenmanagement der Krankengeldzahlungen oder der Krankenhausabrechnungen haben. So werden in Rechnung gestellte DRG-Fallpauschalen (DRG=Diagnosis Related Groups) des Krankenhauses von einem Sozialmediziner auf Korrektheit der zugrunde gelegten medizinischen Tatsachen geprüft, wenn dem Sachbearbeiter des Versicherungsträgers Auffälligkeiten oder Implausibilitäten in der Abrechnung auffallen. Schließlich kann die Begutachtung dem Patientenschutz dienen, wenn sie nicht nur auf unwirksame, sondern möglicherweise sogar potenziell dem Patientenwohl schadende, vom gemeinsamen Bundesausschuss für die gesetzliche Krankenversicherung ausgeschlossene Methoden hinweist, die Indikation neuer in ihrer Wirksamkeit (noch) nicht belegter diagnostischer oder therapeutischer Methoden kritisch hinterfragt wie auch auf die Unterlassung bewährter Therapieverfahren oder auf im Einzelfall nicht indizierte,

191

möglicherweise sogar schädliche Diagnose- oder Behandlungsverfahren hinweist. Der beim Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der gesetzlichen Krankenkassen (MDS) eingerichtete IGELMonitor dient der Transparenz und Information des Versicherten über in der Diskussion stehende Methoden. Seine Bewertungen beruhen auf vielfältigen gutachtlichen Erfahrungen und einer gründlichen Analyse wissenschaftlicher Quellen durch ein der evidenzbasierten Medizin verpflichtetes Team. Es ist ein Instrument zur Überwindung der Informationsasymmetrie zwischen Behandler und Patienten/Versicherten/Krankenkassenmitarbeiter. Schließlich hat die sozialmedizinische Begutachtung auch eine gesellschaftökonomische und gesellschaftspolitische Funktion. Die Veröffentlichung der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen der Pflegeeinrichtungen kann zur Kosten-NutzenSteuerung der Gesundheitsversorgung ebenso beitragen wie zur Wahl geeigneter Pflegeeinrichtungen durch den Pflegebedürftigen. Die bundesweit gemeinsame und einheitliche Anwendung von gutachtlichen Kriterien und Vorgaben des Gesetzgebers und der von ihm beauftragten Sozialleistungsträger stellt eine allgemein anerkannte, verbindliche Klammer für die Umsetzung des sozialrechtlichen Gerechtigkeitsansatzes dar und kann bei Zunahme des Wettbewerbs der gesetzlichen Leistungsträger untereinander durch eine wettbewerbsneutrale Beratung und Begutachtung eine faire wettbewerbsregulierende Funktion ausüben. Begutachtungen werden nach Antrag des Versicherten durchgeführt oder auf Veranlassung des Versicherungsträgers, um einen medizinischen Sachverhalt zu klären. Dies kann durch eine persönliche Untersuchung oder eine Begutachtung nach Aktenlage erfolgen. In Tab. 2a, b werden die Häufigkeiten in den wichtigsten Feldern der personbezogenen EinzelfallBegutachtung und -Beratung im Jahr 2016 für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung beispielhaft aufgeführt. Die Auftragserledigungen der (sozial)medizinischen Dienste anderer Sozialleistungsträger orientieren sich ebenso an der Zahl der betreuten Versicherten und den jeweiligen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben. So wurden beispielsweise im Ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2017 insgesamt 562.227 Auftragsabschlüsse registriert, davon 189.949 mit Kundenkontakt. Dabei handelt es sich um sozialmedizinische gutachtliche Stellungnahmen mit Untersuchung bzw. mit Gespräch. 339.434 Versicherungsfälle wurden ohne Kundenkontakt als Aktenlagen und 32.844 Fälle mit kurzen Beratungsvermerken bearbeitet (Bahemann 2018).

3

Begutachtung im Einzelfall

Die Rahmenbedingungen für eine qualifizierte Beratung und Begutachtung von Personen und Fragestellungen zur Gesundheitsversorgung werden für die GKV durch das SGB V vorgegeben, beispielsweise durch § 2 Abs. 1 SGB V.

192

W. Seger

Tab. 2 a und b Versichertenbezogene Beratungen und Begutachtungen der MDK für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung nach Anlassgruppen 2016 in Prozent (MDS 2016) a) Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) Anlassgruppe Krankenhausleistungen Arbeitsunfähigkeit Leistungen zur Vorsorge/Rehabilitation Ambulante Leistungen Hilfsmittel Neue/unkonventionelle Untersuchungs- und Behandlungsmethoden/Arzneimittel Ansprüche gegenüber/von Dritten Zahnmedizin Sonstige Anlässe Gesamt b) Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) Anlassgruppe Versichertenbezogene Pflegegutachten Ambulante Pflege Vollstationäre Pflege Pflege in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe Gesamt Einrichtungsbezogene Pflegequalitätsprüfungen Ambulante Einrichtungen Stationäre Einrichtungen Gesamt

Anzahl

Prozent

2.558.800 1.323.400 778.200 441.800 354.200 116.400

44,1 22,8 13,4 7,6 6,1 2,0

34.800 23.200 169.200 5.800.000

0,6 0,4 2,9 100,0

Tab. 3 Allgemeine Prüfkriterien zur Begutachtung von medizinischen Leistungen Krankheit

Notwendigkeit einer Behandlung überhaupt Zweckbestimmung

Zweckmäßigkeit

Notwendigkeit einer bestimmten Behandlung (Welche Behandlungsmethode soll ergriffen werden?)

Angemessenheit 1.336.000 307.280 26.720

80,0 18,4 1,6

1.670.000

100,0

12.100 13.200 25.300

47,8 52,2 100,0

Wirksamkeit

Korrekte Abrechnung

" Danach haben Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Weiterhin wird in § 12 Abs. 1 SGB V darauf abgehoben, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen. Sie dürften das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Schließlich müssen notwendige und erbrachte Leistungen nach den einschlägigen Bestimmungen abgerechnet werden. Daraus leiten sich für die GKV allgemeine Prüfkriterien zur Begutachtung von spezifischen medizinischen Leistungen ab, die Anlass für die Beauftragung einer Begutachtung geben können (Tab. 3). Aus den Vorgaben der jeweiligen Sozialgesetze werden die besonderen Fragestellungen und Beurteilungskriterien der jeweiligen Anlässe abgeleitet. Für viele Begutachtungsfelder sind diese beispielsweise für die Medizinischen Dienste der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung in Begutachtungsrichtlinien, -anleitungen, ergänzenden Begutachtungsanleitungen oder anderen Begutachtungshilfen niedergelegt. Eine Besonderheit stellt die Gesetzliche Unfall-

Liegt ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand von Krankheitswert vor? Ist eine Behandlung überhaupt notwendig oder sogar überflüssig? Dient die geplante Behandlung dazu, Krankheiten zu erkennen, zu verhüten oder zu heilen? Ist die geplante Behandlung geeignet, die Krankheit zu erkennen, zu verhüten oder zu heilen? Ist die geplante konkrete Versorgungsform notwendig, d. h. unentbehrlich, oder gibt es vertragliche, kostengünstigere Alternativen (z. B. ambulant statt stationär oder endoskopisch statt offen chirurgisch)? Ist die konkrete Behandlungsart zu aufwendig, ausreichend oder ist sie sogar mangelhaft oder ungenügend? Ist die Wirksamkeit der Behandlungsmethode aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken an einer ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen nachgewiesen? Wurden die einschlägigen Honorar-/ Entgeltbestimmungen und Abrechnungsvereinbarungen eingehalten?

versicherung dar. Zum einen werden dort im Versicherungsfall umfassend Leistungen der Heilbehandlung, zur Teilhabe am Arbeitsleben, bei Pflegebedürftigkeit oder Geldleistungen aus einer Hand erbracht, die sich sonst über verschiedene Sozialleistungsträger erstrecken können. Zum anderen sind „alle geeigneten Mittel“ aufzubringen. Weitere Vorgaben können in vielen Versorgungsbereichen des Gesundheitswesens den Richtlinien des GBA entnommen werden (GBA 2018). Im Folgenden werden stellvertretend für die verschiedenen Begutachtungsfelder und -anlässe die personbezogene Begutachtung für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit sowie die sachbezogene Begutachtung der Abrechnung vollstationärer Leistungen dargestellt.

3.1

Personbezogene Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit

Die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit richtet sich nach den „Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem SGB XI“

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Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem

(MDS 2017a). Zentrale Aufgabe ist die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welcher der fünf Grade der Pflegebedürftigkeit (PG) vorliegt: • • • • •

PG1 Geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit PG2 Erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit PG3 Schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit PG4 Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit PG5 Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung

Dazu gehören die Feststellung der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten und die voraussichtliche Dauer der Pflegebedürftigkeit durch eine Untersuchung der antragsstellenden Person in der Wohnumgebung. Insbesondere sind körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen, die nicht selbstständig kompensiert oder bewältigt werden können und deshalb zu einem Hilfebedarf durch andere führen, zu erheben. Die nach den Richtlinien zu begutachtenden Module und Kriterien sind pflegefachlich konkretisiert und erläutern, wie die Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten zu beurteilen sind. Beispielhaft werden die Merkmale für das Halten einer stabilen Sitzposition als ein Element des Modul 1 Mobilität aufgeführt (Tab. 4). Die Einschätzung der Pflegebedürftigkeit beruht auf der Bewertung der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten in den Bereichen Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und

Tab. 4 Merkmal F4.1.2: Sich auf einem Bett, Stuhl oder Sessel aufrecht halten Selbstständig

Überwiegend selbstständig

Überwiegend unselbstständig

Unselbstständig

Selbstständig ist eine Person auch dann, wenn sie beim Sitzen gelegentlich ihre Sitzposition korrigieren muss. Die Person kann sich nur kurz, z. B. für die Dauer einer Mahlzeit oder eines Waschvorgangs, selbstständig in der Sitzposition halten, darüber hinaus benötigt sie aber personelle Unterstützung zur Positionskorrektur. Die Person kann sich wegen eingeschränkter Rumpfkontrolle auch mit Rücken- und Seitenstütze nicht in aufrechter Position halten und benötigt auch während der Dauer einer Mahlzeit oder eines Waschvorgangs personelle Unterstützung zur Positionskorrektur. Die Person kann sich nicht in Sitzposition halten. Bei fehlender Rumpf- und Kopfkontrolle kann die Person nur im Bett oder Lagerungsstuhl liegend gelagert werden.

193

selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen sowie Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte sowie dem Vorliegen einer besonderen Bedarfskonstellation. Ein gewichteter Punktwert ergibt sich aus der Überführung des Summenwertes pro Modul in eine fünfstufige Skala, die das Ausmaß der Beeinträchtigung in dem jeweiligen Modul widerspiegelt und dem Gewicht, mit der jedes Modul in die Gesamtbewertung eingeht. Aus der Zusammenführung aller gewichteten Punktwerte pro Modul ergibt sich der Gesamtpunktwert, der das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit bestimmt und auf dessen Grundlage sich der Pflegegrad ableitet. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer voraussichtlich für mindestens sechs Monate bestehen. Im Gutachten werden Angaben zu folgenden Sachverhalten aufgeführt: • Zum Vorliegen eines Pflegegrades und ggf. zum Zeitpunkt des Vorliegens der Voraussetzungen für den Pflegegrad • Zum Mindestumfang der Pflegetätigkeit der jeweiligen Pflegeperson(en) • Empfehlungen zur konkreten Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelversorgung • Empfehlungen zu notwendigen und zumutbaren Maßnahmen der Prävention und der medizinischen Rehabilitation • Empfehlungen zur Beratung von Leistungen zur verhaltensbezogenen Primärprävention • Empfehlungen zu therapeutischen Maßnahmen, z. B. Heilmittel • Empfehlungen zu Maßnahmen zur Verbesserung der räumlichen Umgebung, z. B. Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes • Empfehlungen zu edukativen Maßnahmen/Beratung/Anleitung • Stellungnahme, ob die Pflege in geeigneter Weise sichergestellt ist Bei Kindern wird in der Bewertung allein die Abweichung von der Selbstständigkeit und den Fähigkeiten altersentsprechend entwickelter Kinder zugrunde gelegt. Ein wesentliches Merkmal der normalen kindlichen Entwicklung ist die Variabilität aller Entwicklungsschritte. Die altersabhängig ermittelten Grade der Selbstständigkeitsentwicklung sind im Begutachtungsinstrument für Kinder hinterlegt. Das MDK-Gutachten wird regelhaft an den Antragsteller mit der Möglichkeit des Widerspruchsrechtes übermittelt. Empfehlungen des MDK zur Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelversorgung gelten als Antrag. Darüber hinaus besteht ein bundeseinheitlich strukturiertes Verfahren zur Erkennung rehabilitativer Bedarfe. In der Regel ist es ausreichend, dass der Besuch von einer Pflegefachkraft durchgeführt wird. Ein gemeinsamer Besuch von Pflegefachkraft und Ärztin bzw. Arzt kann dann sinnvoll sein, wenn mit einer besonders schwierigen Begutachtungs-

194

W. Seger

situation zu rechnen ist. Im Ausnahmefall kann bei eindeutiger Aktenlage die Begutachtung der antragstellenden Person bzw. der oder des Pflegebedürftigen im Wohnbereich unterbleiben. Die Ergebnismitteilung an die Pflegekasse erfolgt mittels des „Formulargutachtens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit“. Bundesweit ergab die Pflegebegutachtung 2017 über alle Aufträge folgende Ergebnisse (Tab. 5). Mit der Einführung eines erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriffs in die Begutachtung ab 2017 trägt diese mit der gleichberechtigten Einbeziehung von körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen sowie der Betonung der Teilhabe zu einer umfassenden Sicht von Pflegebedürftigkeit bei. " Die Begutachtung zielt darauf ab, die Selbstständigkeit und Fähigkeiten des Pflegebedürftigen in den Vordergrund zu stellen und damit möglichst lange zu erhalten und zu stärken. Damit fördert sie für alle Bereiche von Pflege ein geändertes Verständnis auch für deren Inhalte von Leistungen und der Qualität und gibt den Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen einen Impuls, die Versorgung auf das neue Verständnis von Pflege auszurichten.

Tab. 5 zeigt zugleich, dass die Begutachtung dazu beiträgt, die Finanzmittel der Pflegeversicherung an den Bedarf der Beeinträchtigungen auszurichten.

3.2

Sachbezogene Begutachtung zur Abrechnungsprüfung vollstationärer Leistungen

Nach erfolgtem Krankenhausaufenthalt wurden jährlich bundesweit im Rahmen des Kostenmanagements mehr als 2,5 Mio. Behandlungsfälle durch Gutachter auf korrekte Abrechnung der einzelfallbezogenen Entgelte für Krankenhausleistungen (sog. DRGs) entsprechend den Vorgaben der jährlich weiterentwickelten Kodierrichtlinien (InEK 2018) überprüft. Prüfgründe waren eine vermutete Fehlbelegung sowie Kodierfehler. Der Gesetzgeber übertrug damit dem MDK eine maßgebliche Rolle, die Qualität der LeistungserTab. 5 Ergebnisse der Pflegebegutachtungen in 2017

Nichtpflegebedürftig PG1 PG2 PG3 PG4 PG5

Ambulant (n = 1.560.579) 14,4 %

Stationär (n = 285.221) 2,4 %

19,5 % 32,3 % 20,9 % 9,4 % 3,5 %

3,2 % 14,1 % 30,4 % 31,8 % 18,0 %

fassung zu beurteilen. Bei den Krankenkassen auffällig erscheinende Abrechnungen können bei nachgewiesenen Fehlkodierungen zu erheblichen Rückforderungen führen. Die Höhe der durch falsche Krankenhausabrechnungen entstehenden Überzahlungen wird in der Fachdiskussion jedoch unterschiedlich eingeschätzt. Nach eigener Auskunft geht der GKV-SV auf Basis vorläufiger Daten für das Jahr 2010 von einem durchschnittlichen Rückzahlungsbetrag pro falscher Rechnung in Höhe von rund 1200 EUR aus (Deutscher Bundestag 2011). Laut GKV-Spitzenverband lag die bundesweit hochgerechnete Rückerstattungsquote bei ca. 1,5 Mrd. EUR (GKV-Spitzenverband 2011). Die Erfahrungen der MDK-Ärzte werden kontinuierlich in eine öffentlich zugängliche, länderübergreifende Datenbank mit Kodierempfehlungen eingebracht (SEG 4 2018). Die Indikation zur vollstationären Behandlung kann streitig gestellt und durch einen Gutachter geklärt werden. Krankenhausbehandlung ist nämlich nur dann indiziert, wenn eine ambulante Versorgung zur Erzielung des Heil- oder Linderungserfolges nicht ausreicht. Nach den Richtlinien des GBA über die Verordnung von Krankenhausbehandlung (GBA 2015/2017) hat der Vertragsarzt abzuwägen, ob er selbst die ambulante Behandlung fortsetzen kann oder ob eine Überweisung zur Weiterbehandlung an einen Vertragsarzt mit entsprechender Zusatzqualifikation oder eine Schwerpunktpraxis, einen ermächtigten Krankenhausarzt oder eine Institutsambulanz, ein Krankenhaus zur ambulanten Behandlung oder eine Notfallpraxis im Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung ausreicht und eine stationäre Krankenhausbehandlung vermieden werden kann. Die Behandlung einer akuten Erkrankung muss stationär erfolgen, wenn sie wegen Gefährdung von Gesundheit und Leben des Patienten nicht oder nicht rechtzeitig ambulant durchgeführt werden kann. Das schließt die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Überwachung der Vitalparameter des Patienten ein. Die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung ist bei der Verordnung zu begründen. Der Krankenhausarzt wiederum muss zum Aufnahmezeitpunkt die Notwendigkeit einer stationären Behandlung überprüfen und entscheiden, ob die besonderen Mittel eines zugelassenen Krankenhauses allein aus medizinischen Gründen zur Behandlung des Patienten erforderlich sind. So muss er auch prüfen, ob das Behandlungsziel durch eine alternative teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Das BSG (2007) weist darauf hin, dass sich eine vollstationäre Krankenhausbehandlung allein nach den medizinischen Erkenntnissen zu richten hat. „Reicht nach den Krankheitsbefunden eine ambulante Therapie aus, so hat die Krankenkasse die Kosten eines Krankenhausaufenthalts auch dann nicht zu tragen, wenn der Versicherte aus anderen, nicht mit der Behandlung zusammenhängenden Gründen eine spezielle Unterbringung oder Betreuung benötigt und wegen des Feh-

16

Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem

lens einer geeigneten Einrichtung vorübergehend im Krankenhaus verbleiben muss. Der Leitsatz weist darauf hin, dass der verantwortliche Krankenhausarzt [. . .] von dem im Behandlungszeitpunkt verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand auszugehen hat. Eine Einschätzungsprärogative kommt dem Krankenhausarzt nicht zu“ (BSG 2007). Dies bedeutet, dass die Ärzte keinen eigenen gerichtlich nicht nachprüfbaren Beurteilungsspielraum besitzen. Eine vollstationäre Krankenhausbehandlung ist somit nicht indiziert bei: • Nicht medizinisch begründeter Unterbringung und Verpflegung • Alleiniger Pflegebedürftigkeit • Nicht durch die besonderen Mittel des Krankenhauses beeinflussbarem Krankheitszustand • Allein bestehender Rehabilitationsbedürftigkeit • Ausschließlich sozialen oder pädagogischen Zielen • Ambulant möglicher Behandlung/Operation • Ausreichender vor- und nachstationärer Behandlung • Ausreichender häuslicher Krankenpflege • Nicht der Behandlung einer Krankheit im sozialrechtlichen Sinne oder einer Entbindung dienenden Maßnahme • Unterbringung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Die Verneinung der Notwendigkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung wird als primäre Fehlbelegung bezeichnet (Dirschedl et al. 2010). Je nach Ausrichtung und Behandlungsschwerpunkten der Abteilung wurde 2006 eine primäre Fehlbelegung von 8–31 % angenommen (bei einem allgemeinen Fehlbelegungsrisiko von 12–15 % in operativen Abteilungen) (Balschun und Klöter 2006). Hilfestellung zur Entscheidung über die Durchführung einer Operation „ambulant oder stationär“ bietet der AOP-Vertrag nach § 115b Abs. 1 SGB V. Er zielt darauf ab, zur Vermeidung nicht notwendiger vollstationärer Krankenhausbehandlung eine patientengerechte und wirtschaftliche Versorgung zu sichern und die Kooperation zwischen niedergelassenem Bereich und Krankenhausbereich zu verbessern. Dem Vertrag ist ein Katalog über ambulant durchführbare und sonstige stationsersetzende Eingriffe beigefügt (KBV 2015). Der Arzt ist in jedem Einzelfall zur Prüfung verpflichtet, ob Art und Schwere des beabsichtigten Eingriffs unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Patienten die ambulante Durchführung der Operation nach den Regeln der ärztlichen Kunst mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erlauben. Zugleich muss sich der verantwortliche Arzt vergewissern und dafür Sorge tragen, dass der Patient nach Entlassung aus der unmittelbaren Betreuung des operierenden Arztes auch im häuslichen Bereich sowohl ärztlich als gegebenenfalls auch pflegerisch angemessen versorgt wird. Die Entscheidung ist zu dokumentieren.

195

Die Spitzenverbände der Krankenkassen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft haben sich weiterhin auf einen gemeinsamen Katalog von Kriterien (G-AEP) für das Prüfverfahren gemäß § 17c Abs. 4 Satz 9 KHG verständigt (G-AEP 2003). Die Kriterien beziehen sich auf die Schwere der Erkrankung, die Intensität der Behandlung, zur Operation/invasiven Maßnahme (außer Notfallmaßnahmen), berücksichtigen Komorbiditäten in Verbindung mit Operationen oder krankenhausspezifischen Maßnahmen sowie soziale Faktoren, aufgrund derer eine medizinische Versorgung des Patienten nicht möglich wäre, in Verbindung mit Operationen oder anderen krankenhausspezifischen Maßnahmen. Diese sollen „Transparenz darüber schaffen, wann eine stationäre Aufnahme in ein Krankenhaus nach Auffassung der Vertragspartner erforderlich ist“ (G-AEP 2003). Bei der Anwendung der oben genannten Kriterien ist die ex-ante-Sichtweise des behandelnden Arztes zu Grunde zu legen. Die Vertragspartner stimmen überein, dass wegen der Individualität medizinischer Sachverhalte und aufgrund der Gesamtbewertung des Krankheitsbildes die Notwendigkeit der Krankenhausaufnahme oder eines Behandlungstages sowohl für den behandelnden Krankenhausarzt im Rahmen seiner Behandlungsentscheidung als auch für den MDKPrüfarzt im Rahmen seiner Beurteilungsentscheidung das ärztliche Ermessen ausschlaggebend (override option) sein kann. Für die Psychiatrie, Psychosomatik, psychotherapeutische Medizin und Pädiatrie sind die Kriterien nicht geeignet. Darüber hinaus dienen die festgelegten Kriterien ausschließlich der Überprüfung der primären und nicht der sekundären Fehlbelegung bei akuten Erkrankungen.

4

Grundsatz-, System-, Institutionen- und versorgungsbezogene Beratung und Begutachtung

Die (Sozial)medizinischen Dienste der Sozialleistungsträger werden neben der Einzelfallbegutachtung auch zu Fragen der allgemeinen und speziellen Gesundheitsversorgung hinzugezogen. Sie verfolgen dabei, je nach Fragestellungen, einen oder mehrere der folgenden Ansätze: • • • • • • •

Nutzenorientiert Kontrollorientiert Qualitätsorientiert Beratungsorientiert Informations- und transparenzorientiert Kostenmanagementorientiert Versorgungsorientiert

Nutzenorientiert Meist stehen einzelne Fragestellungen der medizinischen Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit und des Nutzens einer

196

neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode für den Gutachter im Vordergrund. Die folgende Übersicht zeigt eine Auflistung der für eine qualifizierte, grundsätzliche und sachorientierte Stellungnahme zu bearbeitenden Kriterien. Das anzuwendende Methodenspektrum und die notwendigen Recherchen und Analysen der wissenschaftlichen Literatur nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin und unter Anwendung der internationalen Standards der Gesundheitsökonomie sind z. B. hinsichtlich der Bewertung eines neuen Arzneimittels enorm zeitaufwendig und erfordern ausreichende Personalressourcen mit einer großen Expertise. Dies führte zur Gründung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das die anzuwendenden Methoden ständig weiterentwickelt und den Gemeinsamen Bundesausschuss mit seinen Expertisen unterstützt (IQWiG 2017, 2018). Gutachter der Medizinischen Dienste werden insbesondere dann tätig, wenn verlässliche Expertisen der zu bewertenden Methoden noch nicht vorliegen, die bei den Sozialleistungsträgern jedoch bereits eingehenden Anträge durch deren Sachbearbeiter jedoch zeitnahe bearbeitet bzw. entschieden werden müssen.

Kriterien hinsichtlich der medizinischen Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit und des Nutzens diagnostischer und therapeutischer Leistungen (GBA 2018; IQWiG 2018)

• Medizinische Notwendigkeit einer Methode – Darstellung der Relevanz der medizinischen Problematik – Darstellung des Spontanverlaufs der Erkrankung – Darstellung der diagnostischen und therapeutischen Alternativen • Wirtschaftlichkeit einer Methode – Kostenschätzung zur Anwendung beim einzelnen Patienten – Kosten-Nutzen-Abwägung in Bezug auf den einzelnen Patienten – Kosten-Nutzen-Abwägung in Bezug auf die Gesamtheit der Versicherten, auch FolgekostenAbschätzung – Kosten-Nutzen-Abwägung im Vergleich zu anderen Methoden • Nutzen einer Methode – Studien zum Nachweis der Wirksamkeit bei den beanspruchten Indikationen – Nachweis der therapeutischen Konsequenz einer diagnostischen Methode – Abwägung des Nutzens gegen die Risiken – Bewertung der erwünschten und unerwünschten Folgen („outcomes“) – Nutzen im Vergleich zu anderen Methoden gleicher Zielsetzung

W. Seger

Kontrollorientiert Ein anderes Beispiel für eine sachbezogene Begutachtung ist die Richtlinie des GBA zur Qualitätssicherung in den Krankenhäusern durch die Medizinischen Dienste der GKV mit einem kontrollorientieren Prüfansatz (MDK 2017). Durch die Regelung in § 275a SGB V erhält der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) die Aufgabe, nach Maßgabe dieser Richtlinie die Einhaltung der Qualitätsanforderungen nach §§ 135b und 136 bis 136c SGB V sowie die Richtigkeit der Dokumentation der Krankenhäuser zu kontrollieren. Die Richtlinie regelt die Einzelheiten zu den Kontrollen des MDK, die durch Anhaltspunkte begründet sein müssen oder als Stichprobenprüfungen zur Validierung der Qualitätssicherungsdaten erforderlich sind. Der MDK kann mit der Durchführung von Qualitätskontrollen durch den GBA, die für die Verfahren der datengestützten Qualitätssicherung verantwortlichen Gremien und die mit der Umsetzung beauftragten Stellen auf Bundes- und Landesebene sowie die gesetzlichen Krankenkassen beauftragt werden. Drei Arten der Kontrolle sind möglich. Die Qualitätskontrollen können nach Anmeldung vor Ort im Krankenhaus, unangemeldet vor Ort im Krankenhaus oder als schriftliches Verfahren stattfinden. Qualitätsorientiert Ein weiteres Beispiel für Gutachten zur Qualitätssicherung der Gesundheitsversorgung stellen die Qualitätsprüfungen der ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen nach SGB XI dar. Auch diese jährlich als Regelprüfung oder nach Anlass, bundesweit und überwiegend von Pflegefachkräften durchgeführten Gutachten sind nach Inhalt und Verfahren durch Richtlinien strukturiert. Ziel dieser Richtlinien ist es, auf der Basis der bisherigen Erfahrungen mit den Qualitätsprüfungen des MDK und des PKV-Prüfdienstes die Prüfung der Qualität der Pflege und Versorgung in ambulanten Pflegediensten weiter zu verbessern und zu sichern. Die Landesverbände der Pflegekassen beauftragen den MDK und im Umfang von 10 % der in einem Jahr anfallenden Prüfaufträge den PKV-Prüfdienst mit den Prüfungen nach § 114 Abs. 1 SGB XI. Neben der Qualität der Pflege ist bei ambulanten Pflegediensten die Abrechnungsprüfung verpflichtender Inhalt der Qualitätsprüfungen (MDS 2017b). Beratungsorientiert Den Qualitätsprüfungen des MDK und des PKV-Prüfdienstes liegt ein beratungsorientierter Prüfansatz zugrunde. Die Qualitätsprüfungen bilden eine Einheit aus Prüfung, Beratung und Empfehlung von Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung. Der beratungsorientierte Prüfansatz ermöglicht schon während der Qualitätsprüfung bei festgestellten Qualitätsdefiziten das Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten (Impulsberatung). Dieser Prüfansatz setzt eine intensive Zusammen-

16

Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem

197

arbeit des ambulanten Pflegedienstes mit den Gutachtern voraus. Diese erstellen innerhalb von drei Wochen nach Durchführung der Qualitätsprüfung einen Prüfbericht, der den Gegenstand und das Ergebnis der Qualitätsprüfung enthält, die in der Prüfung festgestellten Sachverhalte nachvollziehbar beschreibt sowie die konkreten Empfehlungen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten auflistet. Der Prüfbericht wird an die Landesverbände der Pflegekassen versendet, an die betroffenen ambulanten Pflegedienste und stationären Pflegeeinrichtungen sowie an den zuständigen Sozialhilfeträger. Bei Auffälligkeiten in der Abrechnungsprüfung ambulanter Pflegedienste wird der Prüfbericht auch an die betroffenen Pflegekassen versendet. Parallel zur internen Qualitätssicherung der Pflegeeinrichtungen wird auch die externe Qualitätsprüfung und Pflegetransparenz grundlegend weiterentwickelt. Bereits jetzt sind dazu die politischen Weichenstellungen erfolgt. So werden die Ergebnisindikatoren als Instrument der einrichtungsinternen Qualitätsprüfung zentrale Grundlage des neuen Qualitätssicherungssystems (GKV-Spitzenverband 2017). Die Qualitätsprüfungen durch den MDK werden auf die bewohnerbezogene Versorgungsqualität als Baustein eines neuen Qualitätssicherungssystems konzentriert.

Vereinbarungen des medizinischen, zahnmedizinischen, rehabilitativen und pflegerischen Versorgungsbereiches als Experten hinzugezogen. Dies betrifft gleichermaßen die Honorar-/Entgelthöhe wie auch die Formulierung der Legenden, um eine sach-, fach- und leistungsgerechte Abrechnung zu ermöglichen und nach Inkrafttreten der Regularien möglichst wenig Auslegungsfragen klären zu müssen.

Informations- und transparenzorientiert Ergebnisse der Qualitätsprüfungen der Pflegeeinrichtungen werden mit einem informations- und transparenzorientierten Ansatz im Internet als sog. Pflegenoten veröffentlicht (MDS 2017c). In den Pflege-Transparenzberichten werden weniger Kriterien veröffentlicht, als den Qualitätsprüfungen zugrunde liegen. Es handelt sich dabei um für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen relevante Informationen, die bei der Auswahl einer Pflegeeinrichtung als eine Entscheidungsgrundlage herangezogen werden können. Die Kriterien der Veröffentlichung der Leistungen und deren Qualität teilen sich gegenwärtig in folgende fünf Qualitätsbereiche auf:

5

1. 2. 3. 4. 5.

Pflege und medizinische Versorgung Umgang mit demenzkranken Bewohnern Betreuung und Alltagsgestaltung Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene Befragung der Bewohner

Spätestens mit der Einführung von Ergebnisindikatoren der Pflegeeinrichtungen werden die Pflegetransparenzberichte anzupassen sein. Kostenmanagementorientiert Gutachter der Kompetenzzentren und der Sozialmedizinischen Expertengruppen der MDK-Gemeinschaft sowie des MDS werden häufig mit grundsätzlichen sozialmedizinischen Stellungnahmen und Gutachten bei der Weiterentwicklung vorhandener und Generierung neuer Abrechnungskataloge und anderer

Versorgungsorientiert Die Verbände der gesetzlichen Krankenkassen können den MDK in den Ländern gemeinsam und einheitlich auch mit einem versorgungsorientierten Prüfansatz beauftragen. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn eine Klinik eine große innere Abteilung in zwei Abteilungen mit den Schwerpunkten Kardiologie und Gastroenterologie aufteilen möchte und die Gutachter des MDK mit Einverständnis der Klinik durch Analyse der Akten das Patientenaufkommen der letzten 3 Jahre nach Indikationsschwerpunkten, Schweregrad, notwendiger medizinischer und technischer Versorgungstiefe und -breite unter Berücksichtigung der vorhandenen regionalen ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung als Beratungsgrundlage bewerten.

Rechte und Pflichten des Begutachteten

" Nach dem Amtsermittlungsgrundsatz ist eine Behörde verpflichtet, den Sachverhalt, der einer Entscheidung zugrunde gelegt werden soll, von Amts wegen zu untersuchen. Der Versicherte oder Versorgungsberechtigte hat ein eigenes Interesse, an der für eine Entscheidung seines Antrages notwendigen Sachaufklärung im Rahmen seiner Möglichkeiten mitzuwirken. Er hat dabei Rechte und Pflichten (§ 60 ff., SGB I).

So besteht für den Antragsteller oder Bezieher von Sozialleistungen eine allgemeine Pflicht zur Angabe von Tatsachen, die für die Leistung erheblich sind, z. B. die Zeit- und Ortsangabe eines maßgeblichen Krankenhausaufenthaltes, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte, z. B. der behandelnden Ärzte, zuzustimmen. Darüber hinaus soll er auf Verlangen zu einer mündlichen Erörterung seiner Angelegenheiten persönlich erscheinen und sich einer ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahme unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich ist. Seine Mitwirkungspflichten bestehen jedoch nur insoweit, als ihre Erfüllung in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht, dem Betroffenen zugemutet werden kann und der Leistungsträger sich nicht durch einen geringeren Aufwand als der Antragsteller oder Leistungsberechtigte die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann.

198

W. Seger

Behandlungen und Untersuchungen, bei denen ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, können abgelehnt werden. Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nicht nach, kann der Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen (§ 66 SGB I). Dem Gutachter sind die wesentlichen einschlägigen Regelungen der Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit bestimmter Untersuchungen bekannt, da er sonst Gefahr läuft, ein wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften nicht verwertbares Gutachten zu erstatten. Zumutbar sind beispielsweise eine Anamneseerhebung, körperliche Untersuchung, Blutabnahme aus Ohrläppchen, Finger oder Vene sowie Röntgenuntersuchungen ohne Kontrastmittel.

dem Ziel der Nachvollziehbarkeit für den medizinischen Laien; Beschränkung auf den notwendigen, zweckmäßigen und ausreichenden Begutachtungsaufwand sowie eine geschickte Organisation des Begutachtungsprozesses. Alle (sozial-)medizinischen Dienste der Sozialleistungsträger sichern die Qualität der für sie tätigen hauptamtlichen und externen Gutachter in den für ihren Tätigkeitsbereich spezifischen Kontexten. Gutachter sind nicht berechtigt, in die ärztliche Behandlung einzugreifen. Damit wird eine klare Trennlinie zwischen den Rollen der Begutachtung und Behandlung gezogen. Gutachter bzw. Sachverständige dürfen keine Zweifel an ihrer Neutralität erwecken.

6

Dies bedeutet u. a., dass ein „im Zweifel für den Antragsteller“ oder eine „wohlwollende“ Beurteilung z. B. zu Lasten der Versicherung gutachtlich unzulässig sind. Es ist auch nicht Aufgabe des Gutachters, vermeintliche „Auswüchse“ des Sozialstaates zu korrigieren oder für die Beitragsstabilität oder Finanzierbarkeit des Versicherungssystems Sorge zu tragen. Diese Grundsätze gelten analog für Sachverständige jeder Profession. Über alle Vorgänge im Rahmen der Begutachtung hinweg versteht sich die Einhaltung der einschlägigen Datenschutzbestimmungen von selbst.

Rolle, Aufgaben und Unabhängigkeit des Gutachters

Die Sozialmedizinische Beratung und Begutachtung versteht sich als Bindeglied zwischen der individuell ausgeübten Medizin und ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. " Der Gutachter vermittelt zwischen der Sprache der behandelnden Therapeuten, die symptom-, befund-, diagnoseund therapieorientiert vorgehen, und dem rechtsanwendenden Verwaltungsexperten, der Krankheit und deren Auswirkungen im Blick auf die Rechtsfolgen, die gesetzlich aus diesem Zustand abzuleiten sind, betrachtet.

Aufgabe des ärztlichen Gutachters ist – quasi als Realakt – die Tatsachenfeststellung über das Vorliegen der persönlichen medizinischen Voraussetzungen zur Gewährung einer Leistung unter Beachtung der im jeweiligen Sozialrechtskreis geltenden Bedingungen, während der Sachbearbeiter in seiner hoheitlichen Funktion mit der rechtsmittelfähigen Bescheidung den Verwaltungsakt vornimmt. Der sozialmedizinische Sachverständige und Gutachter ermittelt die entscheidungserheblichen (sozial-)medizinischen Tatsachen und trifft seine Schlussfolgerungen völlig unabhängig von den im Verfahren involvierten Interessen und beteiligten Personen. Das Gutachten sollte im Allgemeinen folgende Qualitätskriterien erfüllen (Seger 2011): Beantwortung der Fragestellung mit sachgerechter Dokumentation der Tatsachenfeststellungen und Schlussfolgerungen; medizinische und gutachtliche Grundlagen dem anerkannten Stand entsprechend; logische, transparente und widerspruchsfreie Argumentationskette; Haltung des Gutachters gegenüber Auftraggeber und Begutachtetem ohne Parteinahme; Darstellungsform mit

" Die Unabhängigkeit des Sachverständigen von den beteiligten Parteien ist Voraussetzung für ein objektives und neutrales nicht interessengeleitetes Gutachten. Danach darf der Gutachter weder Interessenvertreter des Auftraggebers noch des zu Begutachtenden sein.

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Aufgabe und Funktion der sozialmedizinischen Beratung und Begutachtung im deutschen Gesundheitssystem

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Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse

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Ines Buchholz, Bianca Biedenweg und Thomas Kohlmann

Inhalt 1 Konzepte von Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2 Der Lebensqualitätsbegriff in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 3 Messung der Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4 Darbietungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 5 Datenquellen und Auswahlwahlkriterien für Lebensqualitäts-Messinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 6 Anwendungsbereiche der Lebensqualitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 7 Aktuelle Entwicklungen und Forschungsschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm gewandelt. Durch medizinische Fortschritte und verbesserte Lebensbedingungen leben wir heute länger, altern gesünder und leiden seltener an akuten, dafür häufiger an chronischen Erkrankungen. Ferner hat die Erkenntnis, dass den subjektiven Wissensbeständen der von Krankheit betroffenen Menschen eine ganz besondere Bedeutung zukommt, wesentlich zu einer stärkeren Berücksichtigung und Einbeziehung der Sichtweisen von Betroffenen sowie zur Forderung einer stärker patientenorientierten Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung beigetragen (Boyce et al. 2014; Lecher et al. 2002; Flick 1998). Medizinische Eingriffe, gesundheitspolitische Maßnahmen und Allokationsentscheidungen im Gesundheitswesen werden daher schon länger nicht mehr allein nach ihrer Wirksamkeit bei der Wiederherstellung körperlicher und psychischer Funktionen,

sondern auch – und bei nicht kurativ behandelbaren Leiden vor allem – nach der Verbesserung der Lebensqualität beurteilt. Lebensqualität ist somit zu einem zentralen Zielkriterium und zur Maxime professionellen Handelns in der Medizin geworden (Kovács 2016; Woopen 2014). Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem Konzept, der Messung und der Analyse gesundheitsbezogener Lebensqualität. Bevor wir uns mit den Grundlagen des Konzeptes vor dem Hintergrund verschiedener Anwendungskontexte auseinandersetzen, sollen die Ursprünge der Forschungstradition kurz umrissen und eine Begriffsbestimmung der Lebensqualität vorgenommen werden. Anschließend werden methodische Fragen der Messung von gesundheitsbezogener Lebensqualität in den Blick gerückt. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf aktuelle Entwicklungen der Lebensqualitätsforschung in der Medizin.

I. Buchholz Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG), Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

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B. Biedenweg · T. Kohlmann (*) Institut für Community Medicine, Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

Konzepte von Lebensqualität

Der Lebensqualitätsbegriff in seiner heutigen Verwendung geht auf die 1960er- und 1970er-Jahre zurück, in denen er erstmals über die bis dahin von der Politik vornehmlich angestrebten finanziellen Wohlstandsziele (wie Einkommen, materielle Sicherheit, Freiheit und Unabhängigkeit) gestellt

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_19

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202

I. Buchholz et al.

wurde. In Amerika wurde der Terminus durch die „Great Society Speech“ von Präsident Johnson populär, der „quality of life“ und damit „wie gut man lebt“ über die bis dahin dominierenden ökonomisch ausgerichteten politischen Leitwerte („wie gut man verdient“) stellte und einen politischen Paradigmenwechsel einleitete (Kovács 2016). In Deutschland liegen die Wurzeln in der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrts- und Sozialindikatorenforschung, in denen die subjektiven Aspekte von Wohlbefinden und Zufriedenheit eine zunehmende Beachtung in der Sozialberichterstattung fanden (Glatzer und Zapf 1984). Von dort aus fand das genuin sozialwissenschaftliche Konstrukt der Lebensqualität Einzug in viele Forschungsdisziplinen.

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Der Lebensqualitätsbegriff in der Medizin

Im medizinischen Kontext tauchte der Begriff Lebensqualität erstmals in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auf (Fayers und Machin 2016). Bei Verwendung des Terminus wurde in diesem Zusammenhang nicht mehr auf „kulturell und gesellschaftlich bestimmte Vorstellungen vom guten Leben“ (Kovács 2016, S. 24), sondern auf ein messbares subjektives, mehrdimensionales Konstrukt rekurriert. Obwohl die Lebensqualitätsforschung mittlerweile auf eine lange interdisziplinäre Forschungstradition zurückblicken kann, ist bis heute keine einheitliche Begriffsbestimmung daraus hervorgegangen. Es sind allerdings viele Definitionsversuche unternommen worden. Die wohl bekannteste und am meisten zitierte Begriffsbestimmung ist die Definition von Kuyken et al. (1994): " Definition Lebensqualität „Quality of life is defined, the-

refore, as an individual’s perception of his/her position in life in the context of the culture and value systems in which he/she lives, and in relation to his/her goals, expectations, standards and concerns. It is a broad-ranging concept, incorporating in a complex way the person’s physical health, psychological state, level of independence, social relationships, personal beliefs and relationship to salient features of the environment. This definition highlights the views that quality of life refers to a subjective evaluation, which induces both positive and negative dimensions, and which is embedded in a cultural, social and environmental context“ (Kuyken et al. 1994, S. 43). Mit diesem umfassenden Begriffsverständnis von Lebensqualität erweitert die WHO nicht nur den Gesundheitsbegriff, sie schenkt dem Konzept der Lebensqualität auch jene Aufmerksamkeit, die ihm in Anbetracht des sich verändernden Gesundheits- und Krankheits- und damit auch Behandlungsspektrums gebührt: In der Medizin und der Pflege, in der zunehmend mehr Patienten therapiert und versorgt werden, für die weder eine Genesung noch realistische Chancen auf eine Lebensverlängerung in Aussicht gestellt werden können,

scheint das Konzept der Lebensqualität mindestens die gleiche Aussagekraft zu haben wie klassische Bewertungskriterien medizinischer Interventionen oder pflegerischer Leistungen. Auf der anderen Seite ist die WHO-Definition vergleichsweise abstrakt und gibt kaum konkrete Hinweise auf das praktische Vorgehen bei der Einbeziehung und Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in die medizinische Forschung und Versorgungspraxis. Auch wenn bislang im Kontext der Erforschung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität noch keine umfassende und allgemein anerkannte theoretische Fundierung oder wenigstens ein einheitliches Begriffsverständnis existiert, findet sich dennoch bei einigen zentralen konzeptionellen Fragen in der Lebensqualitätsforschung ein tragfähiger wissenschaftlicher Konsens. So besteht beispielsweise eine weitgehende Übereinstimmung in der expliziten Betonung der subjektiven Erlebenskomponente, die den Betroffenen einen Expertenstatus einräumt: Die Frage der Lebensqualität bezieht sich dabei nicht mehr auf die objektiven Krankheitszustände, die Patienten haben können, sondern auf das subjektive Erleben solcher Krankheitszustände. Wann immer es möglich ist, sollte deshalb die Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität durch eine Selbstbeurteilung der Betroffenen erfolgen. Nur in Ausnahmefällen, wenn eine eigene Stellungnahme der Betroffenen noch nicht (im frühen Kindesalter, bei Patienten auf der Intensivstation) oder nicht mehr möglich ist (Patienten mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen), sollten Informationen über Aspekte der gesundheitsbezogenen Lebensqualität durch Fremdbeurteilung (sog. Proxy-Ratings, z. B. durch Eltern, pflegende Angehörige, medizinisches Personal) gewonnen werden. Einigkeit besteht überdies auch darin, dass Lebensqualität mehrere Dimensionen oder Facetten umfasst, die im subjektiven Erleben miteinander verbunden sind. Es bestehen zwar unterschiedliche Vorstellungen über die Anzahl, die Bezeichnungen und die inhaltliche Breite dieser Facetten, dennoch existiert ein Minimalkonsens dahingehend, dass Lebensqualität eine körperliche (Funktionsstatus, körperliche Beschwerden, krankheits- oder therapiebedingte körperliche Symptome), eine psychische (kognitive und emotionale Erlebens-, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster) und eine soziale Komponente (Teilhabe an sozialen Aktivitäten in Familie, Beruf und Freizeit) beinhaltet (Patrick und Erickson 1988). Diese beiden Grundperspektiven der Lebensqualitätsforschung kommen in der sehr prägnanten (Kurz-)Definition von Monika Bullinger zum Ausdruck, die besagt, dass „Lebensqualität hier [in der Medizin] die vom Befragten ausgehende Beurteilung von Befinden und Funktionsfähigkeit in psychischen, physischen, sozialen und emotionalen Lebensbereichen“ bedeutet (Bullinger 1996, S. 6). Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Rolle und Bedeutung der Lebensqualität in der Medizin und in den Gesundheitswissenschaften haben Wilson und Cleary mit ihrem weltweit perzipierten und mehrfach angepassten und

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Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse

203

Abb. 1 Pfadmodell der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (vereinfachte Darstellung nach Wilson und Cleary 1995)

erweiterten Modell geleistet (Wilson und Cleary 1995; Ferrans et al. 2005; Rose 2016). Dieses Modell grenzt fünf verschiedene Ebenen objektiver und subjektiver Zielgrößen in der Medizin voneinander ab, stellt diese zueinander in Beziehung und zeigt, welche Einflüsse Merkmale des Individuums und der Umwelt auf diese Zielgrößen haben können (Abb. 1). Die Lebensqualität steht in diesem Modell am Ende einer Wirkungskette, die bei biologischen und physiologischen Veränderungen beginnt und über dadurch bedingte Krankheitssymptome, Einschränkungen der Funktionsfähigkeit und einer veränderten Gesundheitswahrnehmung schließlich zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität führt. Diese Ebenen sind im Sinne eines „Pfadmodells“ zwar voneinander abhängig, lassen sich jedoch nicht einfach auseinander ableiten, da Merkmale des Individuums (z. B. Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, individuelle Präferenzen) oder der Umwelt (z. B. psychosoziale Unterstützung, sozioökonomische Situation) die Zusammenhänge zwischen den Ebenen mitbestimmen. Der besondere Reiz dieses Modells liegt darin, dass es ein Gesamtbild objektiver und subjektiver Gesundheitsparameter zeichnet und herausstellt, wie die Lebensqualität als wichtiges Element in diesem Gesamtbild einzuordnen ist.

3

Messung der Lebensqualität

Zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Instrumente entwickelt worden. Die Datenbank PROQOLIDTM enthält bereits über 2000 Einträge, von denen sich die meisten auf standardisierte Instrumente zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebens-

qualität im engeren Sinne beziehen (eprovide.mapi-trust.org, [Stand: 01.2019]). Die verfügbaren Instrumente unterscheiden sich im Hinblick auf wichtige Merkmale, wie Umfang, Inhalt und Darbietungsform, sie reichen von einfachen Kurzskalen mit wenigen Fragen bis hin zu komplexen Inventaren zur Messung eines weiten Spektrums von Aspekten der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Von den verschiedenen Vorschlägen zur Einteilung und Klassifikation der Messinstrumente hat sich die Unterscheidung von diagnoseübergreifenden („generischen“) und krankheits- oder populationsspezifischen Instrumenten am besten bewährt (Bullinger 2014): Generische Instrumente messen die gesundheitsbezogene Lebensqualität unabhängig von besonderen Erkrankungen und Problemlagen. Sie fallen besonders durch die zumeist große Bandbreite der erfassten Lebensqualitätsdimensionen, die in der Regel sehr gute psychometrische Validierung und die Möglichkeit, auf Vergleichs- und Normdaten zurückgreifen zu können, auf (Kohlmann 2014). Tab. 1 zeigt einige ausgewählte Beispiele für generische Messinstrumente der Lebensqualitätsforschung. Auch wenn sich diese Instrumente in Aufbau und Struktur ähneln, existieren deutliche Unterschiede (z. B. im Hinblick auf die Anzahl der Fragen oder den Grad der thematischen Differenzierung). Bei der Auswahl eines Instruments für eine konkrete Anwendung ist es daher sehr wichtig, genau auf den Inhalt, den Aufbau und die Struktur des Instruments sowie auf seine Eignung für die zu untersuchende Zielgruppe zu achten. Unter den generischen Instrumenten zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität hat sich der SF-36 als Standardinstrument in der internationalen Lebensqualitäts-

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I. Buchholz et al.

Tab. 1 Beispiele für generische Instrumente zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität Autoren Bullinger et al. (1995)

Instrument SF-36

WHOQOL Group (1995)

WHOQOL

WHO-Instrument zur Erfassung der Lebensqualität

von der Schulenburg et al. (1998)

EQ-5D

European Quality of Life Questionnaire

Fragebogen zum Gesundheitszustand

Dimensionen (1) Körperliche Funktionsfähigkeit (2) Körperliche Rollenfunktion (3) Körperliche Schmerzen (4) Allgemeine Gesundheitswahrnehmung (5) Vitalität (6) Soziale Funktionsfähigkeit (7) Emotionale Rollenfunktion (8) Psychisches Wohlbefinden (1) Physisches Wohlbefinden* (2) Psychisches Wohlbefinden (3) Soziale Beziehungen (4) Umwelt (5) Religion/Spiritualität (1) Beweglichkeit/Mobilität (2) Selbstversorgung (3) Allgemeine Tätigkeiten (4) Schmerzen/Körperliche Beschwerden (5) Angst/ Niedergeschlagenheit

Anzahl der Items 36 Items

Kurzformen SF-12 (12 Items) SF-8 (8 Items)

100 Items

WHOQOLBREF (26 Items)

5 Items



*Der WHOQOL enthält neben den genannten fünf Hauptdimensionen zahlreiche weitere Unterdimensionen

forschung herauskristallisiert. Der aus der Medical Outcome Study hervorgegangene, inzwischen überarbeitete und in zahlreiche Sprachen übersetzte Fragebogen erfasst mit 36 Fragen acht verschiedene Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die im Profil dargestellt oder unterschiedlich gewichtet zu zwei Summenwerten – einem psychischen und einem physischen Summenwert – zusammengefasst werden können (Morfeld et al. 2011). Aufgrund seiner großen Akzeptanz in der Forschungsgemeinschaft stehen für diesen Selbstbeurteilungsbogen zahlreiche Vergleichsdaten, auch aus internationalen repräsentativen Bevölkerungsstichproben zur Verfügung. Eine Alternative zum gut eingeführten, aber lizenzpflichtigen SF-36 stellt der auf der Basis des SF-36 entwickelte Veterans Rand 36 Items Health Survey (VR-36) dar (Kazis 2000; Kazis et al. 2004). Für den bislang in vier Sprachen (Englisch, Deutsch, Spanisch, Chinesisch) erhältlichen VR-36-Fragebogen liegt ebenfalls wie beim SF-36 eine Kurzform mit 12 Fragen vor (VR-12, Iqbal et al. 2007). Im Unterschied zu generischen Messinstrumenten werden bei den krankheits- oder populationsspezifischen Instrumenten die speziellen Problemlagen, die bei bestimmten Erkrankungen oder in speziellen Personengruppen auftreten können, explizit aufgegriffen und bei der praktischen Messung berücksichtigt. Der Einsatz von krankheits- oder populationsspezifischen Instrumenten ist besonders dann sinnvoll, wenn die im Fokus stehenden gesundheitlichen Probleme nicht oder nicht ausreichend mit generischen Instrumenten erfasst werden können oder wenn bei der Messung Besonderheiten der Zielgruppe (z. B. das Alter, kognitive Einschränkungen)

berücksichtigt werden müssen. Obwohl dies nicht in jedem Einzelfall gilt, kann davon ausgegangen werden, dass krankheits- oder populationsspezifische Instrumente im Vergleich zu den generischen Instrumenten besser in der Lage sind, relevante Unterschiede zwischen Patientengruppen zu differenzieren und Veränderungen im Zeitverlauf abzubilden. Darüber hinaus wird bei der Anwendung dieser Instrumente von einer höheren Akzeptanz durch die Befragten ausgegangen (Fayers und Machin 2016). Die Entwicklung und Validierung von krankheitsspezifischen Instrumenten gehört zu den forschungsintensivsten Arbeitsfeldern in der Lebensqualitätsforschung. Für zahlreiche Krankheitsgruppen sind mittlerweile gleich mehrere spezifische Instrumente verfügbar, so etwa im Bereich von Krebserkrankungen, Diabetes mellitus, Hautkrankheiten oder Krankheiten der Bewegungsorgane. Wie bei den generischen Messverfahren unterscheiden sich diese Instrumente teilweise nur in Nuancen, bisweilen aber auch in substanziellen Merkmalen. Deshalb gilt auch bei den krankheits- und populationsspezifischen Instrumenten, dass bei der Auswahl eines Verfahrens für eine konkrete Anwendungssituation deren Inhalt, Aufbau und Struktur sorgfältig berücksichtigt werden müssen. Tab. 2 zeigt ausgewählte Beispiele für krankheits- und populationsspezifische Messinstrumente der Lebensqualitätsforschung. Bei den ersten beiden Einträgen in Tab. 2 handelt es sich um die Grundversionen des EORTC- bzw. des FACT-Fragebogens für Patienten mit Krebserkrankungen. Diese beiden Instrumente sind international im Bereich der Lebensqualitätsforschung in der Onkologie sehr gut eingeführt. Für einzelne

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Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse

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Tab. 2 Beispiele für krankheits- und populationsspezifische Instrumente zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität Autoren Aaronson et al. (1993)

Instrument EORTC QLQ-C30

Cella et al. (1993)

FACT-G

Functional Assessment of Cancer Therapy – General

Bott et al. (1998)

DSQOLS

Diabetic-specific Quality of Life Scale

Schäfer et al. (2001)

DIEHL

Deutsches Instrument zur Erfassung der Lebensqualität bei Hauterkrankungen

Hudak et al. (1996)

DASH

Disabilities of the Arm, Shoulder and Hand Questionnaire

Power et al. (2005)

WHOQOLOLD

A questionnaire for Intercultural Measuring of Quality of Life in the Elderly

The European Organization for Research and Treatment of Cancer Quality of Life Questionnaire-Core 30

Dimensionen (1) Physische Funktion (2) Rollenfunktion (3) Kognitive Funktion (4) Emotionale Funktion (5) Schmerzen (6) Erschöpfung (7) Übelkeit und Erbrechen (8) Globaler Gesundheitsstatus (9) Lebensqualität (1) Physisches Wohlbefinden (2) Körperliches Wohlbefinden (3) Soziales Wohlbefinden (4) Emotionales Wohlbefinden (1) Soziale Kontakte (2) Körperliche Belastungen (3) Zukunftssorgen (4) Flexibilität bez. Freizeit und Leistungsfähigkeit (5) Diätbelastung (6) Alltagsbelastung (7) Hypoglykämieangst (8) Belastungen durch Blutzuckerschwankungen (9) Hypoglykämiebelastungen (10) Angst vor Insulinanaloga (11) Selbstwirksamkeitserwartungen bez. Dosisanpassungen (1) Symptome (2) Psyche (3) Alltag (4) Beruf/Schule (5) Freizeit (6) Persönliches Umfeld (7) Behandlung (1) Körperliche Funktion (2) Symptome (3) Soziale Funktion (1) Sinnesfunktionen (2) Autonomie (3) Aktivitäten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (4) Partizipation (5) Tod und Sterben (6) Intimität

Tumorentitäten sind zahlreiche Spezialmodule verfügbar. Als Beispiele für in Deutschland entwickelte krankheitsspezifische Fragebögen sind ein Diabetes-Fragebogen (DSQOLS) und ein Fragebogen für Patienten mit Hauterkrankungen (DIEHL) aufgeführt. Das ursprünglich in den USA entwickelte DASHInstrument richtet sich an Patienten mit Erkrankungen oder Verletzungen der oberen Extremitäten. Für Personen im höheren Lebensalter wurde der WHOQOL-OLD-Fragebogen als Zusatzmodul zum generischen WHOQOL-Fragebogen entwickelt. Die Spezifität dieser Instrumente für die entsprechende Krankheits- oder Befragtengruppe ist anhand der erfassten Dimensionen und speziellen Symptome gut erkennbar.

Anzahl der Items 30 Items

Zusatzmodule >20 Zusatzmodule für unterschiedliche Krebserkrankungen

27 Items

>20 Zusatzmodule für unterschiedliche Krebserkrankungen

82 Items (Kurzversion 57Items)



36 Items



30 Items (QuickDASH 9 Items) 24 Items

Spielen von Musikinstrumenten, Sport und Beruf –

Die Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen ist in der Lebensqualitätsforschung ein wichtiges Arbeitsgebiet, in dem sich wegen der Notwendigkeit einer altersgerechten Erhebungsmethodik ganz besondere Herausforderungen stellen. Wissenschaftliche Arbeitsgruppen in Deutschland konnten auch auf internationalem Niveau maßgeblich zur Weiterentwicklung der Forschung auf diesem Gebiet beitragen. Messinstrumente, die speziell für Kinder und Jugendliche entwickelt wurden, sind in Tab. 3 wiedergegeben. Alle genannten Instrumente liegen mehrsprachig sowohl als Selbstausfüllerversion für Kinder und Jugendliche als auch als Proxyversion für Eltern

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I. Buchholz et al.

Tab. 3 Beispiele für Lebensqualitäts-Messinstrumente für Kinder und Jugendliche Autor Ravens-Sieberer und Bullinger (1998)

Instrument KINDL

Bullinger et al. (2002)

DISABKIDS

Ravens-Sieberer et al. (2005)

KIDSCREEN-52

Varni et al. (1998)

PedsQL

Altersklasse 4–6 Jahre (KiddyKINDL) 7–13 Jahre (Kid-KINDL) 14–17 Jahre (KiddoKINDL) (Proxyversion: 4–16 Jahre) 4–7 Jahre 8–12 Jahre 13–16 Jahre (Proxyversion: 4–16 Jahre)

Anzahl der Items 12 Items (4–6 Jahre) 24 Items (7–13 Jahre) 24 Items (14–17 Jahre)

Zusatzmodule Adipositas Asthma bronchiale Diabetes Epilepsie Neurodermitis Onkologie Spina bifida

37 Items Kurzversion 12 Items

8–18 Jahre (Proxyversion verfügbar) 5–7 Jahre 8–12 Jahre 13–18 Jahre (Proxyversion: 2–18 Jahre)

52 Items (Kurzform 27 bzw. 10 Items)

Asthma Arthritis Dermatitis Diabetes Zerebralparese Zystische Fibrose Epilepsie –

23 Items

>35 Zusatzmodule

vor. Mit Ausnahme des KIDSCREEN existieren für diese Instrumente neben den Kernversionen zahlreiche krankheitsspezifische Zusatzmodule. Zusätzlich zur Unterscheidung zwischen diagnoseübergreifenden und krankheitsspezifischen Messinstrumenten existieren zwei besondere Gruppen von Messverfahren, auf die eigens hingewiesen werden sollte: Die sog. präferenzbasierten Instrumente und die Instrumente zur individualisierten Lebensqualitätsmessung. Bei präferenzbasierten Instrumenten handelt es sich in der Regel um generische Messverfahren, die allerdings einem völlig anderen Konstruktionsprinzip unterliegen als die sonst üblichen psychometrischen Instrumente (z. B. SF-36 oder WHOQOL). Die Bezeichnung „präferenzbasiert“ rührt daher, dass zur Berechnung der Skalenwerte Algorithmen verwendet werden, bei denen die Präferenzen und Bewertungen von Gesundheitszuständen in der Allgemeinbevölkerung eine wichtige Rolle spielen (Greiner und Klose 2014). Präferenzbasierte Lebensqualitätsinstrumente werden insbesondere im Kontext gesundheitsökonomischer Evaluationsstudien benötigt, in denen die Wirksamkeit medizinischer Interventionen vor dem Hintergrund der involvierten Kosten in einer sog. Kosten-Nutzwert-Analyse untersucht wird. Beispiele von präferenzbasierten Instrumenten sind der EQ-5D-Fragebogen (Tab. 1) oder der SF-6D, der die Möglichkeit bietet, den SF-36 und seine Kurzform (SF-12) in der ökonomischen Bewertung anzuwenden, indem ein präferenzbasierter Gesundheitsindex aus den mit diesen psychometrischen Instrumenten erhobenen Daten geschätzt wird.

Eine Übersicht über die beiden bereits genannten (EQ-5D, SF-6D) und weitere Erhebungsinstrumente zur präferenzbasierten Messung der Lebensqualität (HUI3, 15D, AQoL) sowie einen Vergleich ihrer methodischen Eigenschaften geben Finch et al. (2018). Während bei den bisher dargestellten Erhebungsinstrumenten zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität die erfassten Merkmalsdimensionen der körperlichen und psychischen Gesundheit und der sozialen Situation standardisiert vorgegeben sind, wird bei der individualisierten Lebensqualitätsmessung der Ansatz verfolgt, die Bestimmung der relevanten Merkmalsdimensionen und ihre Gewichtung individuell durch die Patienten selbst vornehmen zu lassen. Hierzu wird im Rahmen einer Befragung zunächst bestimmt, welche gesundheitlichen Aspekte für die Patienten bedeutsam sind. Nur für diese Aspekte erfolgt anschließend die Erfassung der entsprechenden Beeinträchtigungen und der Bewertung dieser Beeinträchtigungen durch die Befragten. Ein Beispiel für ein individuelles Messinstrument ist das von O’Boyle et al. 1993 entwickelte „Schedule for the Evaluation of Individual Quality of Life“ (SEIQoL). Die gute theoretische Basis des SEIQoL spricht für das Instrument (Joyce et al. 2003). Allerdings konnten Browne et al. (1997) Schwächen in der RetestReliabilität des SEIQoL feststellen. Eine kritische Übersicht über weitere Instrumente zur individualisierten Ergebnismessung, speziell bei Patienten mit muskuloskelettalen Erkrankungen, geben Jolles et al. (2005). Sie stellen fest, dass die Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität mit verschiedenen Methoden der individualisierten Messung zu

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Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse

unterschiedlichen Messergebnissen führen kann und Unklarheiten darin bestehen, in welcher Weise individualisiert gemessene Lebensqualitätsdaten auf Gruppenebene interpretiert und verglichen werden können.

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Darbietungsformen

Zur Erhebung von Daten der gesundheitsbezogenen Lebensqualität können unterschiedliche methodische Zugänge gewählt werden. Während die Befragung mittels standardisierter schriftlicher Fragebögen vermutlich noch die häufigste Art der Datenerhebung in der Lebensqualitätsforschung ist, werden auch Methoden des persönlichen oder telefonischen Interviews (z. B. Priebe et al. 1999), der Beobachtung (z. B. Fossey et al. 2002) und zunehmend Methoden der Datenerhebung mit elektronischen Medien angewandt. Die elektronischen Methoden der Datenerfassung durch Online-Befragung, Befragung mit dem Tablet-Computer, dem Smartphone oder telefonisch mit Sprachdialogsystemen haben besonders im Kontext von klinischen Studien größere Bedeutung gewonnen. Zu den Vorteilen der Datenerhebung mit elektronischen Medien gegenüber den herkömmlichen Methoden der schriftlichen Befragung gehören neben der besseren Zeitund Kostenbilanz auch die höhere Datenqualität (z. B. durch Vermeidung von fehlenden Angaben), die bessere Steuerungsmöglichkeit bei komplexen Mustern und Abfolgen von Fragen sowie die unmittelbare Kodierung der Daten in einem elektronischen Format (Gwaltney et al. 2008). Soll ein Messinstrument, das bisher als schriftlicher Fragebogen verwendet wurde, in elektronischer Form eingesetzt werden, ist zuvor im Allgemeinen eine Untersuchung der Äquivalenz der beiden Erhebungsmodalitäten erforderlich. Die Bedingungen, unter denen eine solche Untersuchung angezeigt ist, und die dabei anwendbaren Studiendesigns und Analysemethoden wurden von Coons et al. (2009) in einer Leitlinie beschrieben. Wie systematische Übersichten zeigten, besteht in der Regel eine hohe Übereinstimmung zwischen Lebensqualitätsdaten, die mit „Papier-und-Bleistift“ bzw. mit elektronischen Medien erhoben wurden (Gwaltney et al. 2008; Muehlhausen et al. 2015).

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Datenquellen und Auswahlwahlkriterien für Lebensqualitäts-Messinstrumente

Soll im Rahmen der Studienplanung ein Lebensqualitätsinstrument für die Verwendung in einer konkreten Studie ausgewählt werden, so stehen verschiedene Informationsquellen über bereits verfügbare Instrumente zur Verfügung. Handbücher und Kompendien (u. a. Bowling 2001; Schumacher et al. 2003; McDowell 2006) geben einen guten Überblick über häufig verwendete Instrumente mit methodisch akzep-

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tablen Eigenschaften. Für die Suche nach Instrumenten für spezielle Fragestellungen (krankheits- oder populationsspezifische Instrumente, besondere Formen der Datenerhebung) sind Online-Datenbanken meist besser geeignet. Die Nutzung derartiger Datenbanken kann kostenpflichtig sein (z. B. eprovide.mapi-trust.org/about/about-proqolid) oder unentgeltlich angeboten werden (z. B. http://www.midss. org; [Zugegriffen am 22.01.2019]). Die aktuellsten Informationen über verfügbare Erhebungsinstrumente lassen sich mit einer Recherche in Literaturdatenbanken (z. B. PubMed) gewinnen. Bei Verwendung geeigneter Schlüsselwörter („quality of life“, „questionnaire“) und weiterer Angaben zur Abgrenzung der relevanten Krankheitsgruppe vermitteln die Treffer sehr häufig ein klares Bild von den aktuell verwendeten Erhebungsinstrumenten, von der Häufigkeit ihrer Anwendung und damit von den Möglichkeiten, die eigenen Ergebnisse später mit denen aus anderen Studien zu vergleichen. Stehen mehrere Instrumente zur Auswahl, so sind neben der wichtigsten Frage, ob und in welchem Maße das Instrument die relevanten Lebensqualitätsdimensionen erfasst, weitere Auswahlkriterien bedeutsam. Zu diesen Kriterien gehören neben dem Umfang des Instruments und der Art der Datenerhebung (schriftliche Befragung, Interview, OnlineBefragung) auch die Eignung für die Zielgruppe und die psychometrische Qualität des Instruments. Als Entscheidungshilfe können zur Beurteilung der methodischen Eigenschaften und Qualität eines Instruments eigens zu diesem Zweck entwickelte Checklisten verwendet werden, wie z. B. die EMPRO- (Evaluating the Measurement of PatientReported Outcomes, Valderas et al. 2008) oder COSMINCheckliste (COnsensusbased Standards for the selection of health Measurement INstruments, Mokkink et al. 2016). Ein kurzer, jedoch alle wichtigen Auswahlkriterien umfassender Katalog wurde von Fitzpatrick et al. (2001; vgl. Kohlmann 2014) vorgeschlagen. Dieser Katalog besteht aus insgesamt acht Kriterien: 1. Angemessenheit – Ist das Instrument inhaltlich und methodisch geeignet, die Forschungsfrage(n) zu adressieren? 2. Akzeptanz – Lassen Art und Umfang des Instruments erwarten, dass die Befragten bereit sind, die Fragen möglichst vollständig zu beantworten? 3. Praktikabilität – Wie leicht und einfach ist die praktische Anwendung des Instruments und die Auswertung der erhobenen Daten? 4. Validität – In welchem Grade misst das Instrument das, was es messen soll? Welche Evidenz besteht im Hinblick auf die sog. inhaltliche und kriterienbezogene Validität? 5. Reliabilität – In welchem Maße können zufällige Messfehler die Qualität der Messung beeinträchtigen? 6. Änderungssensitivität – In welchem Maße ist das Instrument in der Lage, Veränderungen im Zeitverlauf abzubilden?

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I. Buchholz et al.

7. Präzision – Gelingt es dem Messinstrument, auch kleine Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen oder Messzeitpunkten durch eine entsprechend hohe „Auflösung“ abzubilden? 8. Interpretierbarkeit – Wie gut kann (z. B. durch Vergleiche mit Normdaten oder durch Betrachtung von „minimal bedeutsamen Unterschieden“; minimal important difference, MID) bestimmt werden, was die gemessenen Lebensqualitätswerte und ihre Veränderung über die Zeit bedeuten? Weiterführende Erklärungen der in diesen Kriterien angesprochenen methodischen Sachverhalte sind in gut verständlicher Form z. B. bei de Vet et al. (2011) oder Streiner et al. (2015) zu finden.

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Anwendungsbereiche der Lebensqualitätsforschung

Die breiteste Anwendung findet die Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität noch immer in dem Forschungsbereich, für den sie ursprünglich entwickelt wurde, der Evaluation von therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen im Kontext von klinischen Studien (Bullinger 2016). Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wird in diesen Studien zwar nur in Ausnahmefällen als primäre Zielgröße verwendet, als sekundäre Zielgröße spielt sie aber eine wichtige Rolle und kann als Kriterium für die Bewertung des Nutzens dieser Maßnahmen durch Entscheidungsgremien im Gesundheitswesen herangezogen werden (Klakow-Franck 2014). Eine zunehmende Beachtung gewinnt die gesundheitsbezogene Lebensqualität in epidemiologischen Studien, wo sie zur Beschreibung des Gesundheitszustands auf Bevölkerungsebene (Ellert und Kurth 2013) oder zur Evaluation von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung herangezogen wird. Die Verfügbarkeit von Kurzformen etablierter Messinstrumente oder von eigens für große Bevölkerungsstudien entwickelten Skalen (CDC 2000) ermöglicht die Einbeziehung der Lebensqualitätsmessung auch in Studien auf der Bevölkerungs- und Gemeindeebene oder im betrieblichen Umfeld. Die zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualitätsforschung verfügbaren Instrumente wurden mit ganz wenigen Ausnahmen entwickelt, um die Ausprägung der Lebensqualität auf Gruppenebene zu messen. Die auf dieser Ebene gewonnenen Messergebnisse können verwendet werden, um Unterschiede zwischen bestimmten Gruppen (z. B. mit ungleichem Schweregrad einer Erkrankung) oder Veränderungen der Durchschnittswerte einer Gruppe im Zeitverlauf (z. B. nach einer Therapiemaßnahme) zu beschreiben.

Die Verwendung der Messwerte zur Charakterisierung einzelner Patienten, um damit den individuellen Therapieverlauf zu dokumentieren und ggf. sogar Behandlungsentscheidungen zu treffen, gehört eigentlich nicht zum üblichen Anwendungsgebiet der Lebensqualitätsmessung. Dennoch konnte in Studien gezeigt werden, dass es mit den herkömmlichen Messinstrumenten gelingen kann, eine „Lebensqualitätsdiagnostik“ bei Krebspatienten durchzuführen und mit speziellen Behandlungsempfehlungen zu verknüpfen (Klinkhammer-Schalke et al. 2012) oder die bei Patienten nach Unfallverletzungen im Verlauf der Behandlung gewonnenen Ergebnisse von Lebensqualitätsmessungen als Informationsquelle für Entscheidungen über die Art und Dauer von Rehabilitationsmaßnahmen zu nutzen (Lohsträter et al. 2007). Es handelt sich bei diesen Anwendungen der Lebensqualitätsmessung um ein sehr dynamisches Forschungsgebiet mit einem hohen Potenzial für die Verbesserung der Behandlungsergebnisse und stärkere Berücksichtigung der Patientensicht in der klinischen Praxis (Porter et al. 2016; Kohlmann 2016).

7

Aktuelle Entwicklungen und Forschungsschwerpunkte

Obwohl die Konzepte und Methodik der Lebensqualitätsforschung in der Medizin seit geraumer Zeit die Phase eines noch sehr neuen und experimentellen Gebiets hinter sich gelassen und eine zunehmende Konsolidierung erfahren haben (Bullinger 2014), handelt es sich dennoch um ein aktuell sehr innovatives und expandierendes Forschungsfeld. Dies betrifft sowohl die Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen und die Weiterentwicklung des Messinstrumentariums als auch die Erforschung von Determinanten und Korrelaten der gesundheitsbezogenen Lebensqualität oder die systematische Erschließung und Synthese von Studienergebnissen in der Form von Reviews und Metaanalysen. Der von Kovács et al. (2016) herausgegebene Sammelband fasst die Ergebnisse eines Workshops zusammen, in dem auch die historischen und philosophischen Grundlagen der Lebensqualitätsforschung in der Medizin aus einer interdisziplinären Perspektive herausgearbeitet wurden. Dieser Sammelband gehört zu den wenigen Publikationen, in denen grundlegende Theoriefragen der Lebensqualitätsforschung umfassend diskutiert und mögliche Antworten vorgeschlagen werden. Ein großer Teil der jährlich publizierten Arbeiten auf dem Gebiet der Lebensqualitätsforschung widmet sich der Neuentwicklung von Messinstrumenten für besondere Krankheitsgebiete oder spezielle Zielgruppen. Die Notwendigkeit für diese Neuentwicklungen ergibt sich in der Regel dann, wenn spezielle gesundheitliche Problemlagen der Befragten in den verfügbaren Instrumenten nicht ausreichend abgebil-

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Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse

det werden oder wenn die bisher verwendeten Methoden der Datenerhebung verbessert werden müssen. Die Entwicklung von Kurzformen existierender Messinstrumente ist ein ebenfalls sehr intensiv bearbeitetes Forschungsfeld. Mit 30 bis 40 Fragen haben viele der verfügbaren Instrumente zwar einen für die Befragten schon sehr akzeptablen Umfang, dennoch werden in bestimmten Anwendungsbereichen noch kürzere Instrumente benötigt. Mühlan et al. (2008) umreißen einige wichtige Grundprinzipien der Entwicklung von Fragebogen-Kurzformen in der Lebensqualitätsmessung und illustrieren diese anhand prominenter Beispiele (u. a. WHOQOL, SF-36 und KIDSCREEN). Sowohl bei der genuinen Neuentwicklung von Messinstrumenten als auch bei der Entwicklung von Kurzformen spielen fortgeschrittene psychometrische Methoden eine wichtige Rolle. Methoden der klassischen und der probabilistischen Testtheorie werden herangezogen, um eine optimale Auswahl der am besten geeigneten Einzelfragen zu ermöglichen und die faktorielle Validität der Messinstrumente sicherzustellen (Streiner et al. 2015; Fayers und Machin 2016). Diese Methoden ermöglichen auch die Erstellung von „Itembanken“, die eine Sammlung von Einzelfragen zu bestimmten Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität darstellen. Wegen der methodisch sehr strengen Auswahlkriterien für die Items einer solchen Itembank können aus diesen Items maßgeschneiderte Befragungstools zusammengestellt werden. Ein solches Befragungstool ist das „computer-adaptive Testen“ (CAT), bei dem die Auswahl der zu beantwortenden Fragen nicht von vornherein festgelegt ist, sondern in Abhängigkeit von der Beantwortung der im Verlauf der Messung bereits gestellten Fragen gesteuert wird (Obbarius et al. 2018). Durch die gezielte Auswahl der Einzelfragen ist es im Vergleich zur herkömmlichen Methode der Befragung möglich, einen vordefinierten Grad an Zuverlässigkeit der Messung (Reliabilität) mit einer geringeren Anzahl von Fragen zu erreichen. Das in den USA mit großem Aufwand entwickelte „Patient-Reported Outcomes Measurement Information System“ (PROMIS, Cella et al. 2010) ist ein prominentes Beispiel einer großen Itembank, in der Einzelfragen zu zahlreichen Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die für das computer-adaptive Testen verwendet werden können, enthalten sind. In Deutschland ist eine Arbeitsgruppe an der Charité in Berlin unter Leitung von Matthias Rose am internationalen PROMIS-Netzwerk beteiligt (promis-germany.de; [Zugegriffen am 22.01.2019]). In der internationalen Literatur finden sich zahlreiche weitere Hinweise auf aktuelle Arbeitsschwerpunkte der Lebensqualitätsforschung, die zeigen, wie innovativ und dynamisch sich dieses Gebiet entwickelt. Studien zur Erforschung von Determinanten der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die Durchführung von Metaanalysen zur Bestimmung der Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualität von Patienten oder die

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Entwicklung von Konzepten und Methoden, die eine schlüssige Interpretation von Ergebnissen der Lebensqualitätsmessung ermöglichen (z. B. durch Bestimmung minimal bedeutsamer Unterschiede oder durch Festlegung von Normwerten), gehören zu den Forschungsthemen, die auf ein breites Interesse stoßen. Hinzu kommt, dass methodische Entwicklungen in der Lebensqualitätsforschung im Bereich der quantitativstatistischen, der qualitativen Methodik und in der Verbindung beider Ansätze in sog. „Mixed-Methods-Studien“ wissenschaftliche Ergebnisse liefern konnten, die auch für andere Wissenschaftsgebiete von Bedeutung sind. Auch wenn wichtige konzeptionelle und anwendungspraktische Fragen der Lebensqualitätsforschung noch nicht abschließend beantwortet sind (Windeler und Lange 2014), kann sie dennoch dazu beitragen, unser Verständnis von gesundheitlichen Problemlagen zu verbessern, die eigenen Sichtweisen der Betroffenen in Entscheidungsprozessen in der Medizin stärker zu berücksichtigen und die gesundheitliche Lage der Bevölkerung positiv und nachhaltig zu beeinflussen.

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Identität und Gesundheit

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Renate Höfer und Florian Straus

Inhalt 1 Einleitung – Identität und Gesundheit, eine selten thematisierte Schnittstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2 Gesundheit als Lebenssouveränität – von der Pathogenese zur Salutogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3 Identität als Prozess und Patchwork . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4 Identität und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5 Empirische Ergebnisse und Handlungsbefähigung als „neue“ konzeptionell-empirische Schnittstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6 Identitätsgefährdungen und Identitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 7 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

1

Einleitung – Identität und Gesundheit, eine selten thematisierte Schnittstelle

So naheliegend der Gedanke ist, dass es zwischen Identität und Gesundheit einen Wechselwirkungsprozess gibt, so existieren vergleichsweise wenige Arbeiten, die versucht haben, diesem Zusammenhang vertieft nachzugehen.1 Dies ist zum einen den unterschiedlichen Disziplinen geschuldet. Die Identitätsforschung hat sich weitgehend an der Schnittstelle zwischen Psychologie und Soziologie entfaltet, während Gesundheit lange Zeit eine reine Domäne der Medizin war. Die wissenschaftlichen Arbeitsfelder haben sich lange Zeit in einer splendid isolation voneinander entwickelt. Journale, Tagungen und die ihr zugeordneten fachlichen Communities entfalten jeweils eigenständige Diskurse, die kaum aufeinander Bezug nehmen. Ein zweiter Grund mag auch in den beiden Konzep-

1 Dies gilt für die deutschsprachige Forschungslandschaft noch stärker als für den anglo-amerikanischen Kontext.

R. Höfer (*) · F. Straus Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), München, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

ten liegen, die sehr umfassend sind und damit die Gefahr begrifflicher Unschärfen bieten. Sowohl dem Begriff Gesundheit als auch dem Begriff Identität haftet der Verdacht an, mehr Verwirrung als Klärung zu produzieren. Um diesen Gefahren zumindest größtenteils zu entgehen, werden wir im Folgenden eine Eingrenzung vornehmen. Uns geht es im Weiteren um den Zusammenhang zwischen personaler Identität und einem Gesundheitskonzept, das diese unter der Perspektive Lebenssouveränität fokussiert. Dies hat zur Folge, dass wir uns im Weiteren nicht mit Arbeiten beschäftigen, in denen bestimmte kollektive oder auch regionale Identitäten in Bezug zu Gesundheit gesetzt werden (vgl. Mossakowski 2003; Oyserman 2007; Lee 2005). Auch Arbeiten, die sich nur mit einer spezifischen Teilidentität wie beispielsweise der Geschlechtsidentität (Broom und Tovey 2009; Robertson 2007) auseinandersetzen oder spezifische Erkrankungen und ihre Identitätsrelevanz (Pindl 2015; Palmer-Wackerly et al. 2017) analysieren, werden nur dann einbezogen, wenn ihnen konzeptionelle Überlegungen zu personaler Identität und dem oben spezifizierten Gesundheitsverständnis zugrunde liegen. Im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen steht zunächst eine begriffliche Klärung, was heute als Gesundheit und was unter Identität verstanden wird, um darauf aufbauend, mit

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_20

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214

R. Höfer und F. Straus

Rekurs auf Thoits, Burke und eigene Studien, die Verknüpfung der beiden Konzepte unter einer Belastungs-Bewältigungs-Perspektive darzulegen

2

Gesundheit als Lebenssouveränität – von der Pathogenese zur Salutogenese

Erst mit der Herausbildung eines neuzeitlichen Menschen- und Weltverständnisses entwickelten sich Vorstellungen der Beeinflussbarkeit von Gesundheit und Krankheit durch individuelle und soziale Aktivitäten. Dies war nach Keupp (2006) möglich, da mit der entstehenden Neuzeit im Verständnis von Gesundheit ein Perspektivenwechsel stattfand. Gesundheit wurde zwar zunächst nach wie vor als göttliche Fügung begriffen, aber sie setzte zunehmend auch die Eigenleistung des Subjekts voraus: „Gesundheit ist nicht nur Schicksal sondern Ausdruck einer gott-gefälligen Lebensweise.“ (Keupp 2006, S. 219). Für krankheitsbedingte Störungen hatte die Biomedizin die Zuständigkeit übernommen. Sie repräsentierte im kulturellen Selbstverständnis der Moderne „einerseits die Idee der Aufklärung, nämlich die Überwindung blinder Abhängigkeiten und den Versuch, scheinbar unberechenbare Gefahren der Natur einer rationalen Kontrolle zu unterziehen. Andererseits bindet die Medizin in ihrem Heilungspotenzial auch eine innerweltliche Heilserwartung, die Menschen passiv macht. Der biomedizinische Krankheitsbegriff transportierte ein Menschenbild, indem sie die Menschen zwar aus der totalen Abhängigkeit von naturhaften Wirkmächten und Gefahren befreit hat, aber um den Preis einer erneuten Abhängigkeit von einer biomedizinisch-technischen Logik“ (Keupp 2006, S. 220). Es dauerte bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts, bis die Grenzen dieser Logik deutlich wurden. Die Hinweise mehrten sich, dass „neben den biomedizinisch erfass- und behandelbaren Krankheitsursachen Persönlichkeitsfaktoren, der Lebensstil und die soziale Integration der Menschen von zentraler Bedeutung für Gesundheit und Krankheit sind.“ (Sagan 1992, zit. nach Keupp 2006, S. 221). Forscher begannen klassische epidemiologische Fragen neu zu denken. Die unten noch ausführlicher dargestellte Salutogenese repräsentiert den vielleicht radikalsten Wechsel in der Perspektive auf Krankheit und Gesundheit. Einen wichtigen Meilenstein bildete die 1986 verabschiedete Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind danach die Lebensbedingungen der Menschen (Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit). Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes ist zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden. Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbe-

stimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Dieses Denken hat weitreichende Folgen. Gesundheit wird nicht mehr als Lebensziel, das es irgendwann zu erreichen gilt, gesehen, sondern als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens. Und die Verantwortung für Gesundheit liegt nicht mehr primär in den Händen der Medizin und der Gesundheitsressorts, sondern bei allen Politikbereichen. Das Modell der Salutogenese wurde von dem israelischen Gesundheitsforscher Aron Antonovsky (1979, 1997) in den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelt. Geprägt ist es von einer kritischen Auseinandersetzung mit dem traditionellen System der Gesundheitsversorgung, das als zu organ- und symptombezogen und als zu mechanisch gesehen wird. Das Konzept der Salutogenese basiert denn auch auf der Feststellung, dass Gesundheit und Krankheit keine einander ausschließenden Zustände sind, sondern als ständige Bewegung auf einem Kontinuum zwischen den zwei Extrempolen – Gesundheit und Krankheit – vorstellbar sind. Jeder Mensch ist nicht nur gesund oder krank, sondern bewegt sich zwischen diesen beiden Polen und ist relativ gesund bzw. relativ krank. Mit dem Modell der Salutogenese will Antonovsky eine Antwort auf die für ihn zentrale und leitende Fragestellung geben: Warum bleiben Menschen trotz vieler potenziell gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund? Wie schaffen sie es, sich von Erkrankungen wieder zu erholen? Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremster Belastungen nicht krank werden? Er geht davon aus, dass der menschliche Organismus als System permanent (natürlichen) Einflüssen und Prozessen ausgesetzt ist, die eine Störung seiner Ordnung, d. h. seiner Gesundheit bewirken. Gesundheit ist kein stabiler Gleichgewichtszustand, sondern muss in der Auseinandersetzung mit äußeren und inneren Einflüssen (Stressoren) kontinuierlich neu aufgebaut werden. Er geht von der Prämisse aus, dass die menschliche Existenz von Ungleichgewicht gekennzeichnet ist, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert sind. Welche Wirkungen diese auf den Organismus haben – pathogene, neutrale oder gesunde – hängt davon ab, wie mit dem durch die Stressoren hervorgerufenen Spannungszustand umgegangen wird. Nach dem salutogenetischen Modell sind es vor allem die generalisierten Widerstandsressourcen, die bedeutsam sind, um Schutz und Widerstand gegenüber Stressoren aufzubauen, bzw. die die Kraftquellen einer positiven Entwicklung darstellen. Sie beeinflussen wesentlich den Erhalt oder die Verbesserung von Gesundheit, Lebenszufriedenheit und Lebensqualität. Diese Widerstandsressourcen sind wie folgt angesiedelt:

Widerstandsressourcen

• Im Individuum: Organisch-konstitutionelle Widerstandsressourcen, Intelligenz, Bildung, Bewältigungs(Fortsetzung)

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Identität und Gesundheit

strategien und Ich-Stärke, die nach Antonovsky eine der zentralen emotionalen Widerstandressourcen darstellt, als eine emotionale Sicherheit, als Selbstvertrauen und positives Selbstgefühl in Bezug auf die eigene Person. • Im sozialen Nahraum: Zu den Widerstandsressourcen gehören aber auch wesentlich die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen. Diese beinhalten das Gefühl, sich zugehörig und „verortet“ zu fühlen, durch Vertrauen und Anerkennung durch signifikante Andere. Hinzu kommt die Möglichkeit, sich Unterstützung und Hilfe von anderen Menschen zu holen und sich auf diese zu verlassen. • Auf gesellschaftlicher Ebene durch die Erfahrung von Anerkennung über die Teilhabe an sinnvollen Formen von Tätigkeiten und ein bestimmtes Maß an Sicherheit, mit diesen seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Der Mensch steht demnach als Ganzes mit seiner Biografie im Mittelpunkt und nicht nur seine Erkrankung bzw. seine Symptome. Fehlen diese Widerstandsressourcen, spricht Antonovsky von generalisierten Widerstandsdefiziten, die die Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Beeinträchtigungen erhöhen. Allerdings geht er auch davon aus, dass die Widerstandsressourcen alleine nicht ausschlaggebend für die Bewältigung von Problemen sind, denn ein Teil der Probleme liegt in der nicht ausreichenden Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Man muss Ressourcen erkennen und die Fähigkeit besitzen, die richtigen zu aktivieren und für sich nutzbringend einzusetzen. Diese Fähigkeit bzw. dieses Grundgefühl, das Antonovsky als Kohärenzgefühl bezeichnet, ist der zentrale Baustein im Modell der Salutogenese. Das Kohärenzgefühl (SOC) ist das Ergebnis eines individuellen Lern- und Entwicklungsprozesses hinsichtlich der Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns, der Verstehbarkeit und Gestaltbarkeit der eigenen Lebensbedingungen. Das Kohärenzgefühl beschreibt eine generelle Lebenseinstellung des Individuums; in dem sich ein umfassendes und überdauerndes Gefühl des Vertrauens ausdrückt, dass zum einen Ereignisse, die einem im Leben passieren, strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind (= Verstehbarkeit). Zum anderen geht es darum, dass man in der Lage ist, den gestellten Anforderungen gerecht zu werden und sie konstruktiv bewältigen zu können (= Handhabbarkeit), und drittens die Anforderungen Herausforderungen darstellen, für die es lohnt, sich zu engagieren und anzustrengen (= Bedeutsamkeit/Sinnhaftigkeit). Das Kohärenzgefühl stellt gewissermaßen das zentrale salutogene Selbstorganisations- und Selbststeuerungsprinzip des Menschen dar. Es befähigt sie, flexibel auf die jeweiligen

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Anforderungen einzugehen, zu reagieren, wirksam erscheinende Gesundheitsressourcen auszusuchen, zu nutzen, geeignete Strategien auszuwählen und wirksam werden zu lassen. Das Kohärenzgefühl als Handlungsorientierung neutralisiert oder reduziert nach Antonovsky nicht nur die pathogene Wirkung von internen oder externen Anforderungen, sondern mobilisiert Steuerungs- und Regulierungsprozesse, welche die Gesundheit des Individuums fördern. Das Subjekt wird nicht als passives Wesen aufgefasst, das externen Kräften ausgesetzt ist, sondern als Subjekt, das im Rahmen vorhandener Bewältigungsressourcen sein eigenes Leben aktiv „beeinflusst“. Damit geht es nicht primär um die Frage nach Belastungen und deren Vermeidung, sondern um die Frage, wie Subjekte diesen Prozess steuern.

3

Identität als Prozess und Patchwork

Wenn das Kohärenzgefühl einen wesentlichen Einfluss auf Gesundheit hat, stellt sich natürlich die Frage, wie Individuen ein solches Gefühl von Kohärenz entwickeln. Und es stellt sich für unseren Zusammenhang die Frage, welcher Zusammenhang zwischen einer gelingenden Identitätsarbeit und der Entstehung und Aufrechterhaltung des Kohärenzgefühls besteht. Erste Ansätze einer solchen konzeptionellen Verknüpfung zwischen Kohärenzgefühl und Identitätstheorien finden sich bereits in Antonovskys Arbeiten selbst. In seinen Überlegungen zu den Widerstandsressourcen (vgl. Antonovsky 1979) stellt er die These auf, dass die Ich-Identität einen wichtigen Stellenwert innerhalb der allgemeinen Widerstandsressourcen einnimmt. Ich-Identität wird von Antonovsky als personales Kapital aufgefasst, das der Person Erfahrungen von persönlichen Sicherheiten und Klarheiten vermittelt.2 Mit Bezug auf Erikson (1959, 1973) übernimmt er auch das Stufenmodell, in dem man ein gesichertes Identitätsniveau erreicht, wenn man die jeweils anstehenden Entwicklungsaufgaben (beispielsweise Entwicklung einer sexuellen Identität) gelöst und somit die verschiedenen Entwicklungsstufen adäquat durchlaufen hat. Ähnlich wie im Modell von Erikson die Identität, bleibt auch bei Antonovsky mit Ende der Adoleszenz das Kohärenzgefühl weitgehend stabil. Dieses Entwicklungsstufenmodell, in dem ein Subjekt mit dem Ende der Adoleszenz einen stabilen Identitätskern, ein „inneres Kapital“ ausgebildet hat, blieb jedoch in den letzten Jahren nicht unwidersprochen. So argumentiert die neuere

2 Dabei unterscheidet er zwischen dem Konzept der Ich-Identität, die sich, wie er argumentiert, auf das Bild von einem Selbst richtet, während das Kohärenzgefühl sich auf das Bild richtet, das man von der Welt hat, das aber, wie er meint, das Selbst umschließt. Weiter nimmt er an, dass eine starke Ich-Identität sich als entscheidende oder sogar notwendige Bedingung für ein starkes Kohärenzgefühl erweisen wird.

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R. Höfer und F. Straus

gewisse (identitätsstiftende) Ordnung zu bringen. Die Brücke zur Handlung würde ausschließlich aus fehlenden Passungsverhältnissen bestehen, und die Subjekte würden nur auf divergierende Feedbacks von anderen reagieren. Schon in der klassischen Identitätsforschung wurde deshalb, beispielsweise bei George Herbert Mead (1934), dem sozial geformten „Me“ ein aus sich heraus agierendes „I“ gegenübergestellt. Im Modell alltäglicher Identitätsarbeit tritt zur Integration (vergangener und aktueller) situationeller Selbstthematisierungen mit der Einbeziehung der Zukunftsorientierung ein weiteres Element hinzu, das versucht, die gestaltende Seite des Subjekts für seine Identitätsarbeit zu beschreiben. Immer wenn das Ich sich selbst zum Gegenstand zukunftsbezogener Reflexionen macht, entwirft es optionale Selbste (vgl. Markus und Nurius 1986) oder – wie wir sagen – entwickelt es Identitätsentwürfe, konkretisiert diese zu Identitätsprojekten und versucht, sie zum Gegenstand alltäglicher Lebensführung zu machen. Identität wird hier, wie in allen modernen Identitätstheorien, als mehrdimensionales, nicht monolithisches Gebilde verstanden (vgl. auch Thoits 1992; Burke 1996; Berzonsky 1993). Ziel des Subjekts ist folglich „eine Dynamik der permanenten Aushandlung der Differenzen, mit dem Ziel, eine Form zu finden, die uns das Gefühl gibt, nicht widersprüchlich zu sein, nicht im Sinne der Arithmetik, die die Verschiedenheit ausschließt, sondern im Sinne einer Struktur, die die Verschiedenheit integriert“ (Camilleri 1991, S. 79). Bei dieser Integrationsarbeit spielt das Kohärenzgefühl eine entscheidende Rolle. Als Teil der Metaidentität einer Person organisiert es ein Gefühl, das die vielfältigen biografischen Erfahrungen mehr oder weniger sinnhaft verknüpft und das Subjekt versteht, warum es sich so und nicht anders entwi-

Identitätsforschung (vgl. die Diskussion in Keupp et al. 2013), dass diese Verbindung von Kontinuität, Kohärenz und Entwicklungslogik heute ihre Funktionalität und Passförmigkeit verloren hat. Identität geht nicht mehr in der Entstehung eines inneren Kerns (einer Ich-Identität) auf, sondern wird als Prozessgeschehen kontinuierlicher „alltäglicher“ Identitätsarbeit und damit als permanente Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten begriffen. Auch geht man heute nicht von einem mehr oder minder linearen Entwicklungsmodell aus. Die Identitätsentwicklung verläuft eher wellenförmig. Im Wechsel von realisierten Identitätsprojekten und neuen Identitätsentwürfen werden lebensphasisch unterschiedliche Projekte des eigenen Lebens entworfen und einige davon realisiert, und es gilt als durchaus normal, wenn Subjekte gleichzeitig unterschiedliche und auch teilweise sogar widersprüchliche bzw. in einem Spannungszustand befindliche Projekte verfolgen. Lothar Krappmann (1997) hatte u. a. daraus das Konzept der balancierenden Identität entworfen. Heiner Keupp hat die Metapher der Patchworkidentität genutzt, um diese ambivalente Passungsarbeit adäquat beschreiben zu können. Daran anknüpfend wurde im Rahmen eines zehnjährigen Sonderforschungsprojektes das in Abb. 1 dargestellte Modell der alltäglichen Identitätsarbeit entwickelt (vgl. Straus und Höfer 1997; Keupp et al. 2013; Höfer 2000). Der Prozess, mit dem ein Subjekt alle sich selbst betreffenden Erfahrungen reflektiert und verdichtet, verläuft im Modell alltäglicher Identitätsarbeit im Wesentlichen auf drei (Struktur-)Ebenen: Über die Reflexion situationeller Selbsterfahrungen, über deren Integration zu Teilidentitäten und einer mehrdimensional angelegten Metaidentität. Dieses Identitätsmodell wäre nun sehr statisch, wenn Identitätsarbeit nur darin bestehen würde, die eigenen Erfahrungen in eine

Abb. 1 Modell der Wechselwirkung von alltäglicher Identitätsarbeit und Handeln Metaidentität

Identität

Handlungsbefähigung

Teilidentatäten Identitätsprojekte

Identitätsentwürfe

Situative Selbstthematisierungen

Handeln

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Identität und Gesundheit

ckelt hat und in welchem Maß es diese Prozesse mitgestaltet hat bzw. wo es mehr oder weniger selbstwirksam an diesen Prozessen beteiligt war. Diese hier retrospektiv formulierte Integrationsarbeit gilt aber auch prospektiv. Inwieweit das Subjekt neue Identitätsentwürfe zulässt und in Projekte transformiert, hängt wesentlich auch davon ab, wie viel Spannung (durch Neues, unkalkulierbare Entwicklungen . . .) es zulassen kann.

4

Identität und Gesundheit

Erst mit einer zunehmend interdisziplinär ausgerichteten Stressforschung gab es verstärkt Hinweise auf einen relevanten Zusammenhang zwischen Identität und Gesundheit. Neben Antonovsky rekurriert beispielsweise auch Hurrelmann (1986) in seinem Belastungs-Bewältigungs-Modell auf den Identitätsprozess – definiert als die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung und Selbstreflexion. Identität spielt für ihn dann eine wesentliche Rolle, wenn es um die Voraussetzung für die Aktivierung von Bewältigungsstrategien und um die angemessene Erschließung und Nutzung der Unterstützungspotenziale des sozialen Umfeldes geht. Es war dann vor allem Thoits, die in einer Reihe von Arbeiten einen ersten Rahmen für den Zusammenhang von Stress, Gesundheit und Identität aufspannt. Sie bezieht in ihr Modell nicht nur die identitätsbelastenden, sondern auch die positiven Identitätserfahrungen mit ein. Damit betont sie die Bedeutung von Identität sowohl für die Handlungsmotivation zur Vermeidung von Stressoren als auch als Ressource für das Selbstwertgefühl. Thoits behält Stress als eigenes Konzept bei, da sie im Unterschied zu anderen nicht annimmt, dass alle sozialen Stressoren notwendigerweise Identitätsbedrohungen darstellen. Für sie stellen identitätsrelevante Erfahrungen somit lediglich eine wichtige Teilmenge von Lebensereignissen und Belastungen dar. Zum anderen schränkt sie die Auswirkungen identitätsrelevanter Ereignisse nicht auf Depressionen ein. Identitätsbedrohungen können zu Depression, Angst oder auch nur zu Aufregung führen, wohingegen identitätsförderliche Ereignisse positive Effekte sowohl auf die Zufriedenheit als auch auf das Wohlbefinden haben können. In einer neueren Arbeit (Thoits 2012) gibt sie einen Überblick über 35 Jahre identitätsbezogene Stressforschung. So vielschichtig die Ergebnisse auch sind, so eindeutig belegen sie für Thoits, dass Identität und Stressbewältigung in einer engen Wechselbeziehung stehen. Stärker als in ihren früheren Arbeiten hebt sie die Bedeutung jener Identitäten hervor, die für die Person besonders bedeutsam sind. In unserem Modell sprechen wir von den dominierenden Teilidentitäten. Nach Thoits kann eine Veränderung einer solchen „salient identity“ sowohl pathogenen Stress hervorrufen als aber auch als Bewältigungsstrategie fungieren. Daher sieht sie die Notwen-

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digkeit, viele psychische Erkrankungen stärker unter einer Stress-Identitätsperspektive zu analysieren (Thoits 2012, S. 357). Auch Burke beschäftigt sich mit der Frage des Zusammenhangs von Identitätsprozessen und der Entstehung von Distress bzw. Angst (vgl. Burke und Franzoi 1988; Burke 1991, 1996; Freese und Burke 1994). Er versucht mit seinem Modell, die von Thoits thematisierte Beziehung zwischen identitätsrelevanten Ereignissen und Distress weiter zu klären. Dabei greift er bei seinen Überlegungen auf identitätstheoretische Überlegungen des symbolischen Interaktionismus zurück und verbindet diese mit der Unterbrechungstheorie von Stress. Ähnlich wie Thoits bezieht er sich auf die identitätstheoretischen Vorstellungen, präzisiert aber seine Vorstellungen des Prozesses im Rahmen kybernetischer Modellüberlegungen. Damit begreift er Identität als permanenten Herstellungsprozess, in dem das Individuum versucht, über Handlungen bzw. Verhalten eine Kongruenz herzustellen zwischen seinen Selbstwahrnehmungen und den Selbstbedeutungen (Standards). Damit kann er die von Thoits ebenfalls thematisierten Unterbrechungen des Identitätsprozesses und deren Schnittstelle zu Distress näher bestimmen. Im Gegensatz zu Thoits nimmt er allerdings an, dass alle Unterbrechungen gleichermaßen zu Distress führen. In eigenen Arbeiten wurden die Überlegungen von Thoits, Burke, Antonovsky und anderen aufgegriffen und zu einem Konzept verknüpft. Integriert werden (vgl. Höfer 2000) ein handlungstheoretisch orientiertes Belastungs-BewältigungsDenken mit dem Modell der Salutogenese und dem Modell alltäglicher Identitätsarbeit. Letztere stellt einen reflexiven Bezugsrahmen dar, innerhalb dessen Lebenserfahrungen interpretiert und Fragen der Bedeutung, des Zwecks, der Stimmigkeit und der Richtung des eigenen Lebens retrospektiv bewertet werden. Und Identität stellt einen agierenden Bezugsrahmen her, in dem Subjekte zukünftige Selbste entwerfen und Außenanforderungen an die eigene Person reflektieren und in Handeln umsetzen. Damit ist Identität, so gesehen, nicht nur ein Produkt der eigenen Erfahrungen, sondern ein Prozess des eigenen Werdens, der etwas bewirkt. Identitäten enthalten nicht nur Werte, Ziele und Vorstellungen, wer man ist, sondern auch Vorstellungen (SelbstTheorien) über das eigene Funktionieren und über die Bewältigung des eigenen Alltagslebens. Ein zentrales Ziel des Identitätsprozesses ist die Herstellung einer allgemeinen Handlungsfähigkeit, die die Grundlage für die Lebensbewältigung und damit die Basis für Gesundheit bildet. So verstanden wird Gesundheit definiert als Ausdruck einer individuellen Lebensgeschichte, das heißt als Ergebnis einer tätigen Auseinandersetzung mit den inneren Bedürfnissen und den äußeren sozialen Lebenswelten. Das Erleben von Gesundheit beruht auf Selbstwahrnehmungs- und Selbstreflexionsprozessen des Individuums, in dem sich ein biografisch gewordenes Verhältnis des Individuums zu seinem Kör-

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per und seiner Psyche niederschlägt. Dabei geht es um vier Kernbezüge zwischen Identität und Gesundheit: Identitätsentwicklung als Ausgangspunkt gesundheitsrelevanter Prozesse Aus Sicht der agierenden Subjekte findet die Vermittlung der ökologischen und sozialen Lebensbedingungen über die alltägliche Identitätsarbeit statt. Das Subjekt entwickelt Teilidentitäten entlang bestimmter gesellschaftlich geprägter Perspektiven, die gesellschaftlich nahegelegt sind (in Form von Diskursen, institutionalisierten Zwängen, Handlungsaufgaben). In den Teilidentitäten werden diese Vorgaben/Erfahrungen be- bzw. verarbeitet zu einer subjektiv bedeutsamen Gestalt. Die Standards, die das Subjekt aufgrund seiner Erfahrungen gebildet hat, bilden die inhaltlichen Koordinaten bzw. den Evaluationsrahmen für alltägliche Erfahrungen und den Kern des individuellen Anforderungsprofils. Da das Subjekt nicht nur auf Ereignisse und Anforderungen reagiert, sondern eigene Ziele, Bedürfnisse und Wünsche entwickelt, sind es diese, die die Lebenswelt ebenso „mitgestalten“. Sie steuern den Prozess, welche Lebensfelder zu subjektiv bedeutsamen Lebenswelten werden und welche Optionen wahrgenommen werden. Insofern sind Individuen nicht nur in institutionelle Kontexte eingebunden, sondern „binden sich selbst ein“ (beispielsweise wenn ein Jugendlicher sich für eine bestimmte Tätigkeit bzw. Ausbildung entscheidet). Im Modell alltäglicher Identitätsarbeit geschieht dies über die Projekte und Entwürfe. Sie bilden die Basis für Handlungsmotivation und Informationssteuerung. Mit und innerhalb seiner Projekte und Entwürfe steckt das Individuum seinen lebensweltlichen Rahmen unter Berücksichtigung seiner Möglichkeiten ab, das heißt der zur Verfügung stehenden objektiven und subjektiven Ressourcen. Diese identitätsbezogenen Projekte bilden die Gestalt, in denen sich das Anforderungsprofil für das Subjekt stellt. Erst in dieser die Identitätsentwicklung einer Person berücksichtigenden Perspektive versteht man, warum bestimmte Anforderungsprofile für eine Person relevant sind und warum aus diesen Belastungen entstehen können. In den meisten Belastungs-Bewältigungs-Analysen reduziert sich dieser Teil des Prozesses auf das „bloße“ In-Bezug-Setzen von gesellschaftlichen und individuellen Anforderungen. Konzept der identitätsrelevanten Stressoren Stressoren werden anhand des Referenzrahmens, den die Identität bietet, reflektiert und bewertet. Insofern gibt es eine Reihe von Ereignissen und Anforderungen, die zwar das „automatische“ Passungsverhältnis stören, aber für das Subjekt keine identitätsrelevante Bedeutung haben. Andere Stressoren, die die dominierenden Teilidentitäten betreffen bzw. zentrale Identitätsziele tangieren, gefährden die Realisierung von Identitätsprojekten. Sie sind in hohem Maße identitätsrelevant und beeinflussen den Herstellungsprozess von Gesundheit, indem sie insbesondere das Kohärenzgefühl schwächen. Anders als

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bei den meisten Stresstheoretikern, liegt bei Höfer (2000, 2010) die Betonung damit nicht auf Konsistenz und Kontinuität, da diese lediglich eine von mehreren Möglichkeiten der Einordnung von Erfahrungen darstellen. Identität als Quelle des Kohärenzgefühls Das Kohärenzgefühl entwickelt sich über Selbstorganisationsprozesse und selbstrelevante Bewertungsprozesse von Sinnhaftigkeit, Machbarkeit und Verstehbarkeit. Der Ort, an dem das Subjekt solche Erfahrungen verarbeitet, ist das Identitätsgefühl. Dieses enthält neben dem Kohärenzgefühl auch die Bewertungen über die Qualität und Art der Beziehung zu sich selbst (Selbstgefühl3). In beiden Fällen handelt es sich um hochkomplexe Verdichtungsprozesse vielfältiger alltäglicher Erfahrungen. Selbst- und Kohärenzgefühl sind dynamische Konzepte, die zwar übersituativ wirken und als solche auch eine gewisse Konstanz haben, aber über nicht bewältigte bzw. gut bewältigte, identitätsrelevante Stressoren sich (positiv/negativ) verändern können. Teilidentität Gesundheit Mit diesem Konstrukt wird der explizite, vom Subjekt überwiegend bewusst wahrgenommene Zusammenhang von Gesundheit thematisiert. Wir gehen davon aus, dass erst über die Analyse einer „Teilidentität Gesundheit“ der Stellenwert von Gesundheit, Gesundheitshandeln und Verhalten in ihrer lebensweltlichen Verschränkung zu verstehen sind. Gesundheitskonzepte, Schemata gewinnen erst einen Sinn vor dem Hintergrund der handlungsleitenden Orientierungen und Wertigkeiten der jeweiligen Identitätskonstruktionen. Wir greifen in unseren Überlegungen dabei auf Arbeiten zurück, die sich mit den subjektiven Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit befassen. Diese Forschungsrichtung, die die Konstruktion von Gesundheit aus der Sicht des Subjekts bzw. seine gesundheitsbezogenen Vorstellungen und Bedeutungen in ihren biografischen und lebensweltlichen Bezügen analysieren (vgl. beispielsweise Faltermaier 1994), hat wichtige Erkenntnisse gerade auch zur Frage des (präventiven) Gesundheitsverhaltens gebracht und Verengungen überwunden, wie sie beispielsweise durch das Health-Belief-Modell oder aber auch das Modell der Handlungsveranlassung (Fishbein und Ajzen 1975) erfolgt sind. In letzterem wird die Ausführung eines Verhaltens durch eine rationale Entscheidung bedingt (beispielsweise dass der Nutzen von gesundheitsbezogenem Verhalten die Kosten der Maßnahme übertreffen muss). Etwas erweiterte Ansätze gingen von kognitiven Konstrukten aus, wie beispielsweise der Risikowahrnehmung, von personalen Kontrollüberzeugungen in gesundheitlichen Belangen bzw.

3 Das Selbstgefühl entsteht über selbstrelevante Bewertungsprozesse, die meist durch antizipierte externe Bewertungen beeinflusst sind (wie gut, wie nützlich, wie wertgeschätzt und geachtet man sich fühlt).

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Identität und Gesundheit

von Selbstwirksamkeitserwartungen (Bandura 1977). Diese Kognitionen oder kognitiven Konstrukte stellen wohl wichtige Aspekte im Gesundheitsverhalten dar, können aber weder theoretisch noch empirisch überzeugen (vgl. Faltermaier 2013; Belz-Merk 1994). Das Konzept „Teilidentität Gesundheit“ beinhaltet das, was Faltermeier als wichtige Forderung postuliert, nämlich Gesundheit als individuelles und als soziales Phänomen zu konzipieren, als kognitive, emotionale und motivationale Momente, „die sich auf das Selbst (als Person, Körper) und das Verhältnis zur sozialen und materiellen Umwelt beziehen.“ (Faltermaier 1994, S. 163).

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Empirische Ergebnisse und Handlungsbefähigung als „neue“ konzeptionell-empirische Schnittstelle

Antonovsky hat mit den Indikatoren für die Erfassung des Kohärenzgefühls ein Instrument zur Messung entwickelt, das mittlerweile in über 14 Sprachen übersetzt und in vielen Ländern angewendet wurde. Mittlerweile belegen über 500 internationale Studien, bei einigen wenigen kritischen Stimmen zum Instrument (vgl. Geyer 2010), die Wirkungen des Kohärenzgefühls (Bengel et al. 2001; Singer und Brähler 2007; Eriksson und Lindström 2007) sowohl für Kinder als auch für Erwachsene und Familien. In diesen Untersuchungen zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Höhe des Kohärenzgefühls und des Wohlbefindens, der Lebensqualität und der Lebenszufriedenheit. Ähnliche Zusammenhänge gibt es mit psychischen Erkrankungen und belastenden Lebensereignissen, wie Arbeitslosigkeit. (Bude und Lantermann 2006, S. 244) zeigen beispielsweise, dass Personen mit einem höheren Kohärenzgefühl über eine wichtige innere Ressource verfügen, ihr Leben so zu gestalten, dass die Gefahr, auf eine prekäre Lage hinzusteuern, geringer ist als ohne diese. Sie gehen, ähnlich wie Antonovsky, davon aus, dass bestimmte innere Ressourcen (wie das Kohärenzgefühl) dazu verhelfen, potenziell verfügbare externe Ressourcen wie Einkommen, Bildung, Wissen, Berufsstatus auch tatsächlich für die Gestaltung des eigenen Lebens nutzbar zu machen. Wir haben in einer Reihe von Arbeiten das Konstrukt des Kohärenzgefühls zu einem Modell der Handlungsbefähigung weiterentwickelt4 (Straus 2011, 2015; Höfer et al. 2017). Dazu

4 Matthias Grundmann hat in dem 2006 erschienenen Buch zum Zusammenhang von Handlungsbefähigung und Milieu den Begriff genauer definiert. Er greift dabei auf ein Konzept der Handlungsbefähigung zurück, das seit den 1970er-Jahren genutzt wird, „um ein Bündel von Persönlichkeitseigenschaften zu umschreiben, die für eine situativ angemessene Einschätzung von Handlungsoptionen vor dem Hintergrund verfügbarer Handlungsressourcen bedeutsam sind“ (Grundmann 2006, S. 57).

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wurden weitere Forschungstraditionen in Konzept und Instrument integriert; zum einen die Resilienzforschung, die wesentlich auf den Überlegungen der Entwicklungspsychologen Emmy Werner, Jack Block und Glen Elder basiert. In einer Längsschnittstudie über 40 Jahre (1955–1999) stellte Werner (1977, 1999, 2005) fest, dass etwa ein Drittel der untersuchten Kinder ein hohes Entwicklungsrisiko hatte. Hintergründe für diese Einschätzung waren chronische Armut, geburtsbedingte Komplikationen und sehr schwierige Familienverhältnisse. Unter diesen Kindern befand sich wiederum eine Gruppe, die sich trotz dieser Risiken zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen entwickelte. Werner und auch andere Resilienzforscher gehen davon aus, dass es innere und äußere Schutzfaktoren gibt, die dazu beitragen, dass diese Menschen nichts aus der Bahn zu werfen scheint. Diese Resilienzfaktoren wurden im Laufe der Forschung immer mehr ausdifferenziert und ähnlich wie das Kohärenzgefühl für quantitative Befragungen zu einer Skala operationalisiert (Schumacher et al. 2005). Sowohl die Vulnerabilität als auch die Resilienz sind das Ergebnis einer Vielzahl interagierender Faktoren von genetischer Prädisposition, sozial vermittelten Fähigkeiten und Eigenschaften der Umgebung. Rutter (2000) spricht vor allem von vier Wirkungen von Resilienz: der Reduktion von Belastungen, der Reduktion von negativen Kettenreaktionen, der Entwicklung und Beibehaltung von Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit sowie der Eröffnung von Chancen (zur Resilienzskala vgl. Schumacher et al. 2005). Der kanadische Lernpsychologe Albert Bandura entwickelte in den 1970er-Jahren das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung (perceived self-efficacy, Bandura 1977). Dieses beschreibt das Gefühl, dass man auch in schwierigen Situationen selbstständig handeln und etwas bewirken kann. Dieser Glaube an die eigene Kompetenz führt dazu, dass Menschen mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung, ähnlich wie auch jene mit einer höheren Resilienz und einem ausgeprägten Kohärenzgefühl, eine niedrigere Anfälligkeit für Depression und Angststörungen haben und mehr Erfolge in Ausbildung und Berufsleben aufweisen. Bandura hat dieses Konzept als zentralen Baustein einer sozial-kognitiven Theorie entwickelt. Er sieht vier Quellen für eine positive Entwicklung der Selbstwirksamkeitserwartung: Quellen für positive Entwicklung der Selbstwirksamkeitserwartung 1. Erfahrung, schwierige Situationen gemeistert zu haben, da eigene Erfahrungen seiner Meinung nach den wichtigsten Einfluss haben 2. Beobachtung von Vorbildern und wie diese bestimmte Situationen gemeistert haben. Bedeutend als Vorbilder sind dabei wichtige Personen, deren wahrgenommene Ähnlichkeit mit einem selbst hoch ist und die einem das Gefühl vermitteln, Gleiches erreichen zu können

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3. Erfahrung, dass relevante andere einem die Problembewältigung zutrauen und durch expliziten Zuspruch ermutigen 4. Erfahrung bestimmter physiologischer Reaktionen, d. h. wie mein Körper in bestimmten Situationen gefühlsmäßig reagiert – mit Angst, Herzklopfen oder Zutrauen. Diese körperlichen Signale geben ein Feedback über das empfundene Zutrauen zum eigenen Handeln

Vergleicht man die Konzepte der Salutogenese, der Resilienz und der Selbstwirksamkeit, gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Der Kern der Gemeinsamkeit berührt sowohl das „Gefühl der Zuversicht“ als auch die Überzeugung, zur Bewältigung selbst etwas beitragen zu können.5 Alle drei Widerstandskonzepte gehen davon aus, dass der Glaube an die eigene Wirksamkeit des Handelns ein zentraler Wirkfaktor für einen erfolgreichen BelastungsBewältigungs-Prozess ist. Daneben gibt es aber unterschiedliche Schwerpunkte. Während das Konzept der Selbstwirksamkeit den Glauben an die eigene Handlungsmächtigkeit vertieft, setzt sich das Kohärenzgefühl zudem mit dem Beitrag des Verstehens und der Prüfung der Sinnhaftigkeit der Herausforderung auseinander. Die Resilienz schließlich fokussiert zusätzlich auf die Akzeptanz des eigenen Selbst, die erlebte Anpassungsfähigkeit sowie das Interesse an Neuem und die Fähigkeit des Perspektivenwechsels. Die langjährigen eigenen Studien zur Identitätsentwicklung und zum Einfluss sozialer Netzwerke (Straus und Höfer 2010; Straus et al. 2012) haben die Relevanz der hier genannten Wirkfaktoren unter der Perspektive menschlicher Identität(-sentwicklung) bestätigt und zugleich darauf aufmerksam gemacht, dass der Stellenwert der sozialen Zugehörigkeit in den drei Basiskonstrukten unterrepräsentiert ist. Aus dieser Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie der Ergänzung durch die Dimension der sozialen Zugehörigkeit ergab sich das sechsdimensionale Modell der Handlungsbefähigung (Abb. 2). Die Handlungsbefähigung lässt sich somit als ein andauerndes und zugleich dynamisches Gefühl6 (vgl. Antonovsky 1997) der Zuversicht beschreiben, dass

5 Beide bilden das tragende Konstrukt für den in jeder Handlungssituation wirksamen Entschluss, sich den mit der Handlung verbundenen Herausforderungen auch zu stellen. 6 Das im Englischen gebräuchliche Wort „sense“ umschreibt die hier gemeinte komplexe Handlungsleistung besser, weil es im Unterschied zum deutschen Wort auch Kognitionsaspekte umfasst und nicht nur im Sinne eines „Bauchgefühls“ zu verstehen ist.

Abb. 2 Die sechs Dimensionen der Handlungsbefähigung

• man die alltäglichen Anforderungen als Herausforderung wahrnimmt, die Anstrengung und Engagement lohnen (Sinnhaftigkeit) • die Dinge, die einem widerfahren, strukturiert, erklärbar und verstehbar sind (Verstehbarkeit) • man über Ressourcen verfügt, die einen in die Lage versetzen, Dinge aktiv zu beeinflussen bzw. Probleme aus eigener Kraft meistern zu können. Dabei kann man eigene Absichten und Ziele verwirklichen und man traut sich zu, auch bei unerwarteten und schwierigen Problemen eine Lösung zu finden (Handhabbarkeit/Selbstwirksamkeit) • man Situationen aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann und an Vielem interessiert ist (Perspektivität/Interesse) • man sich selbst mag, positiv nach vorne schauen kann und öfter etwas findet, worüber man lachen kann (Akzeptanz des eigenen Selbst) • man Teil eines tragfähigen sozialen Netzwerks ist, und es in diesem Menschen gibt, die einen sicher nicht enttäuschen, und dass man in der Lage ist, sich bei diesen Hilfe zu holen (Soziale Zugehörigkeit)

Diese sechs Dimensionen lassen sich heute mittels 46 Items erheben. Letztere bilden ein valides Messinstrument, das inzwischen in mehreren Erhebungen eingesetzt wurde und zu dem Werte von über 3400 Jugendlichen/jungen Erwachsen zwischen 12 und 29 Jahren vorliegen. Dies ermöglichte eine mehrfache Überprüfung der Skalen (s. dazu auch die Basisska-

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Identität und Gesundheit

len Hinz et al. 2006; Singer und Brähler 2007; Schumacher et al. 2005). Hier zeigte sich eine hohe Validität und Reliabilität der Ergebnisse. In all unseren Studien (s. dazu auch Höfer et al. 2017; Straus et al. 2017; Dill et al. 2018) zeigt sich: Wer über eine höhere Handlungsbefähigung verfügt, • hat deutlich mehr Spaß am Leben, bzw. zeigt eine höhere Lebenszufriedenheit • hat das Gefühl, mehr gute Ideen zu haben, und ist zufriedener mit der eigenen Leistung • ist viel seltener einsam und traurig gestimmt und langweilt sich weniger • blickt optimistischer in die Zukunft • fühlt sich gesünder und hat ein höheres Wohlbefinden Handlungsbefähigung ist somit eine Schlüsselkompetenz, die, wie das Wort besagt, zum Handeln befähigen soll. Anders als viele der fachlich diskutierten Schlüsselqualifikationen ist sie nicht auf einen einzelnen Handlungsbereich ausgerichtet oder für die Lösung bestimmter Problemlagen bzw. Handlungssituationen vonnöten. Handlungsbefähigung lässt sich als eine Metakompetenz beschreiben. Wer über eine gute Handlungsbefähigung verfügt, kann neue, unvorhergesehene oder schwierige Situationen weniger als drohende Überforderung denn als bewältigbare Herausforderungen ansehen. Zum Zweiten geht die Person Herausforderungen tendenziell selbstbewusst, mit Neugierde, Lust und einer optimistischen Einstellung an, ist in der Lage, die vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen auch tatsächlich (und möglichst effizient) zu nutzen. Auch kann er/sie neue Ressourcen frühzeitig erkennen und für sich erschließen. Zudem werden Ambivalenzen nicht als schwer erträglicher Spannungszustand erlebt, sondern Menschen mit einer höheren Handlungsbefähigung sind in der Lage, zwischen unterschiedlichen Optionen eine Balance zu finden. Unsere Studien bei jungen Erwachsenen zeigen, dass eine hohe Handlungsbefähigung hilft, Brüche in der eigenen Übergangsbiografie besser und sinnvoll zu integrieren oder/ und kreativ mit den Zumutungen unseres einerseits individualisierten und zugleich doch auch standardisierten Übergangssystems umzugehen. Dies ist deswegen wichtig, weil die gesellschaftlichen Strukturverschiebungen des 21. Jahrhunderts von jungen Erwachsenen erwarten, trotz abnehmender Planbarkeit des eigenen Lebens zunehmend mehr Eigenverantwortung für die Entscheidungen in Bezug auf ihre Lebensgestaltung zu übernehmen.

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Identitätsgefährdungen und Identitätsstörungen

Was ist, wenn es dem Individuum nicht mehr gelingt, eine für sich stimmige Identitätsbildung vorzunehmen? Aus zahlreichen Studien weiß man beispielsweise, dass ein niedriges

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Kohärenzgefühl mit der Gefährdung psychischer Gesundheit einhergeht. Ähnliches zeigt der Vergleich der Werte für den SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire) und der Handlungsbefähigung. Jene Jugendlichen, jungen Erwachsenen, die in ihrem Verhalten als grenzwertig und auffällig eingeschätzt werden, haben niedrigere Handlungsbefähigungswerte. In der Forschung zum Gesundheits- und Krankheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen werden jene mit der Beurteilung „grenzwertig/auffällig“ als Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten gesehen (Schlack et al. 2008, S. 251). Konzeptionell gewendet heißt dies, dass es einer betroffenen Person immer weniger gelingt, in den Dingen, die sie tut oder plant, einen Sinn zu erkennen, dass wesentliche Teile der eigenen Biografie nicht erklärbar sind und Ängste und ein diffuses Gefühl von Unsicherheit ihr Handeln zunehmend überlagern. Manche dieser Personen erleben ihre gerade gelebten Identitätsprojekte als sinnlos oder fremdbestimmt, und sie verlieren das Zutrauen, über neue eigene Identitätsentwürfe wieder zu für sie selbst herausfordernden Identitätsprojekten zu kommen. In der Psychiatrie gibt es mit der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) eine Erkrankungsform, die ebenfalls an der beschriebenen Schnittstelle zwischen Identität, Handeln und Gesundheit ihre Ursache findet. Diese im Klassifikationsschema der ICD-10 auch als „Multiple Persönlichkeitsstörung“ (F44.81) beschriebene Erkrankung (Dilling und Mombour 2011) zeichnet sich dadurch aus, dass betroffene Menschen sich erleben und/oder verhalten, als würden sie aus verschiedenen Personen bestehen. Diese „anderen“ Personen übernehmen immer wieder die Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen, wobei jede dieser Personen mit eigenen Vorstellungen vom Leben und eigenen Verhaltensweisen ausgestattet scheint (Priebe et al. 2014; Putnam 2013). Forschungsstudien und Berichte aus der therapeutischen Praxis machen vor allem traumatische Ereignisse in der Kindheit (beispielsweise einen sexueller Missbrauch) und schwere Bindungsstörungen dafür verantwortlich, dass Teile der Person und des Erlebens ab- bzw. aufgespalten werden (Büttner et al. 2014). Dissoziative Identitätsstörungen weisen eine hohe Komorbiditätsrate zu posttraumatischen Belastungsstörungen, sexuellen Funktionsstörungen, BorderlinePersönlichkeitsstörungen und der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung auf (Brand et al. 2011). Obwohl diese Störungen lange bekannt und auch gut beschrieben sind, gelten sie immer noch als schwer erkennbar bzw. als umstritten (Gast et al. 2006). Mit Blick auf die Modellüberlegungen von Thoits könnte man in diesem Kontext auch von einem scheiternden Identitäts-Spannungs-Management sprechen bzw. von Identitätsunterbrechungen, die nicht mehr zu einer letztlich wieder als kohärent empfundenen Identität führen. Dieser Zusam-

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R. Höfer und F. Straus

menhang kann hier nicht ausführlicher behandelt werden, erscheint uns aber als eine wichtige Schnittstelle zwischen Identität, Gesundheit und Psychiatrie, zu der es mehr Forschung benötigt.

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Fazit und Ausblick

Wir haben mit Rekurs auf Thoits, Burke und eigene Arbeiten begründet, dass Stressoren in reflexive Prozesse eingebunden sind, die im Rahmen der alltäglichen Identitätsarbeit eine handlungsrelevante Qualität erhalten. Sie können zu heilsamen Stressoren oder aber zu pathogenem Stress werden. Gelingt es den Subjekten, ihre angestrebten Identitätsziele zu erreichen und entsprechende Identitätsprojekte zu realisieren, wird die Identität selbst zur Ressource. Ist dies nicht der Fall, kann die Identitätsarbeit auch zur Dauerbelastung werden, die die Handlungsbefähigung negativ beeinflusst. In diesem Sinne postulieren wir mit der Verknüpfung von Identität und Handlungsbefähigung die zentrale Schnittstelle im Herstellungsprozess von Gesundheit. Ein zweiter zentraler Ansatzpunkt für das personale Verständnis von Gesundheit erscheint uns die Konzeptualisierung einer eigenen Teilidentität Gesundheit zu sein. In dieser finden sich zahlreiche ausdifferenzierte Selbst-Bilder, die Subjekte von sich als u. a. mehr oder minder gesund, fit, leistungsfähig, sportlich haben. Diese bilden nicht nur kursorische Eindrücke für die Identität, sondern werden zu einem übergreifenden Konstrukt der Teilidentität Gesundheit gebündelt. Hier entwickelt das Subjekt auch jene subjektiven Standards von dem, was es unter Gesundheit versteht. Auch dieser Bewertungsprozess ist handlungsrelevant. Er bestimmt, was Subjekte tun oder nicht tun (vermeiden), um ihre Gesundheitsidentität zu erhalten bzw. positiv zu verändern. Dies hat einen konkreten Einfluss auf die alltägliche Lebensführung (vgl. Behringer 1998) und das im engeren Sinne konkrete Gesundheitsverhalten. Jedes Subjekt verfügt zudem über zahlreiche gesundheitsbezogene Selbstentwürfe und Projekte. Dies sieht man u. a. daran, dass Gesundheit einer der am häufigsten genannten Zukunftswünsche ist. Gesundheit wird als „höchstes Gut“ bezeichnet, als Voraussetzung der Realisierung von Lebenswünschen gesehen. Immer umfassendere Bereiche des individuellen Lebens werden in Begriffe von Gesundheit gefasst, bewertet und geregelt. Herzlich und Pierret (1991) drückt dies so aus: „Gesundheit ist alles und alles ist Gesundheit: von Gesundheit zu sprechen, stellt heute für uns eine der besten Arten dar, Glück zu bezeichnen und einzufordern“ (Herzlich und Pierret 1991, S. 298). Insofern sind Gesundheit und die Vorstellung einer gelingenden Identität eng verknüpft. Für die zukünftige Forschung zum Thema Identität und Gesundheit sehen wir vier Stränge als besonders relevant

an. Zum einen sollte die nächste Generation der Stressstudien die Wechselwirkungen von Stress und Identität vor allem mit Blick auf die dominierenden Teilidentitäten stärker und differenzierter in ihre konzeptionellen und auch empirischen Studien integrieren (vgl. auch Thoits 2012, S. 371). Daran gekoppelt geht es zweitens auch darum, genauer zu verstehen, wo Identitäten überfordert und letztlich nicht mehr kohärent zu leben sind. Im Mittelpunkt stehen die im letzten Abschnitt diskutierten Aspekte eines scheiternden Identitätsmanagements und der daraus folgenden diversen Identitätsbedrohungen/-störungen. Zum Dritten gilt es, das Potenzial der Handlungsbefähigung als Schnittstelle von Identität und Handeln auch für gesundheitsbezogene Fragestellungen stärker zu nutzen und dabei auch die Wechselwirkung der sechs Dimensionen genauer zu erforschen. Und viertens benötigen wir mehr Studien, die nicht nur die vielen Spielarten gesundheitsbewussten Verhaltens in den Blick nehmen, sondern diese auch als eigene Teilidentität begreifen. Der Gewinn, Gesundheit auf diese Weise zu analysieren, liegt vor allem darin, dass Gesundheit nicht nur als Folge von Stresserfahrungen oder -verarbeitung gesehen wird, sondern auch als aktiver Prozess der eigenen Gesundheitsgestaltung.

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Identität und Gesundheit

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Gesellschaftliche Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

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Bettina Schmidt

Inhalt 1

Einführung: Gesundheit – das höchste Gut für alle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

2 Gesundheit als vollständiges Wohlbefinden oder normative Tüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2.1 Gesundheit als geschätzte Tugend der Leistungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2.2 Der souveräne gesundheitliche Selbstversorger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3

Inklusive Gesundheitsförderung statt exklusiver Gesundheitsoptimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

1

Einführung: Gesundheit – das höchste Gut für alle?

In der modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gehört Gesundheit zu einem der letzten verbliebenen Werte, auf den sich noch fast alle Menschen verständigen können. Anders als Gehorsam oder Glaube, Geduld oder Großmut ist Gesundheit ein Wert, der trotz aller diversifizierenden Pluralitätsdebatten nahezu allgemeingültigen Bestand hat. Jedoch sind die Vorstellungen darüber, was Gesundheit ist, sehr unterschiedlich: Gesundheit gilt wahlweise als höchstes Gut (Volksmund), als biopsychosoziales Wohlbefinden (Weltgesundheitsorganisation), als statistische Normgerechtigkeit (Medizin) oder als pluripotente Funktionstüchtigkeit (Leistungsgesellschaft). Gerade diese Uneindeutigkeit von Gesundheit ermöglicht die flächendeckende Zustimmungsfähigkeit. Gesundheit ist etwas Gutes, ein Glück, für das man dankbar sein und das man außerdem aktiv herstellen soll. Wenn man gründlicher über Gesundheit nachdenkt, fällt besonders ins Auge, dass Gesundheit zwar als höchstes Gut gilt und bei jeder Geburt, jedem Geburtstag und vielen Jubi-

B. Schmidt (*) Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected]

läumsreden adressiert wird. Allerdings steht diesem hohen Gesundheitsideal eine bescheidenere Gesundheitswirklichkeit gegenüber, die davon gekennzeichnet ist, dass längst nicht alle Menschen höchstgesund sind und auch nicht immer so gesundheitseifrig, wie es für das höchste Gut zu erwarten wäre. Wenn die Gesundheitswissenschaften sich mit dieser Diskrepanz von theoretischem Gesundheitsideal und praktischer Gesundheitswirklichkeit beschäftigen, dann richtet sich der problemanalytische Blick in der Regel auf die praktische Gesundheitswirklichkeit: Problematisiert wird, dass viele Menschen weniger gesund sind als sie eigentlich sein könnten und darum Befähigungs- und Ermöglichungsprogramme benötigen, um dem theoretischen Gesundheitsideal näherzukommen. Interessant wäre jedoch auch, das theoretische Gesundheitsideal zu problematisieren: Womöglich streben viele Menschen gar nicht nach dem theoretischen Gesundheitsideal, und die störende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit begründet sich nicht durch die unzureichende Gesundheitswirklichkeit, sondern den überzogenen Gesundheitsanspruch. Ein Blick in den Glücksatlas 2017 (http://www.gluecks atlas.de. Zugegriffen am 27.02.2018) zeigt, dass die Menschen in Deutschland recht glücklich sind, im Mittel bewerten sie ihre Lebenszufriedenheit mit 7,1 (von 0 bis 10). Die Gesundheit spielt dafür eine Rolle, wichtig sind außerdem das Einkommen, die Arbeits- und die Wohnbedingungen. Überraschend ist nicht, dass das Glück des Menschen nicht

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_21

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nur aus Gesundheit besteht. Überraschend ist, dass es der Imperativ „Hauptsache gesund!“ in viele Sonntagsreden geschafft hat, nicht jedoch der Imperativ „Hauptsache gute Arbeit!“. Überraschend ist auch, dass es der Satz „Geld allein macht nicht glücklich“ ebenfalls in viele Sonntagsreden geschafft hat, nicht jedoch der Satz „Gesundheit allein macht nicht glücklich“. Für viele Menschen ist Gesundheit nicht die Hauptsache. Entweder weil sie nicht die Hauptsache sein kann (etwa die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland ist von mindestens einer chronischen Krankheit betroffen; Lampert et al. 2016b) oder weil sie nicht Hauptsache sein soll (etwa wenn andere Lebensziele für relevanter gehalten werden, z. B. eine bezahlbare Wohnung, die aber gesundheitsungünstig an einer stark befahrenen Straße liegt). Unterschiedliche Menschen führen ihr Leben auf unterschiedliche Weise, doch in öffentlichen Debatten entsteht oft der Eindruck, dass das für den gesundheitlichen Lebensbereich nicht gilt, weil dort angeblich alle Menschen nach möglichst idealer Gesundheit streben (sollten). Nur in den Disability Studies wird die Idealisierung von Gesundheit für alle Menschen kritisch reflektiert und der Verabsolutierung von Gesundheit ein inklusives Menschenbild entgegengesetzt, das alle Menschen in ganz unterschiedlichen Gesundheitszuständen umfasst (Zander 2017). Sich möglichst engagiert um seine persönliche Gesundheit zu bemühen, gehört heutzutage zum selbstverständlichen Kanon menschlicher Alltagspflichten (Schmidt 2017). Je höher die soziale Lage, desto besser erfüllen Menschen diesen gesundheitlichen Auftrag. Beispielsweise ist in den höheren Soziallagen die Zahl der Raucher und sportlich Inaktiven in den letzten Jahren um 24 % bzw. 40 % gesunken und in den niedrigen Soziallagen gleich geblieben (Lampert et al. 2016a). Bislang wird v. a. analysiert, warum die niedrigen Soziallagen vergleichsweise gesundheitlich unterengagiert und untererfolgreich sind. Dabei wäre es ebenso erhellend zu wissen, warum die hohen Soziallagen gesundheitlich so überaus engagiert und erfolgreich sind: Warum verzichten die privilegierten Soziallagen bereitwillig auf das Rauchen und das Sofasitzen, obwohl die Schwerkraft habituierter Gewohnheiten in allen Soziallagen gleichermaßen wirkt? Zweifellos haben Menschen aus hohen Soziallagen mehr Möglichkeiten, für ihre gute Gesundheit zu sorgen. Darüber hinaus haben sie jedoch auch mehr bzw. andere Motive, um für gute Gesundheit zu sorgen: In den gutbürgerlichen Schichten ist Gesundheit nicht mehr nur zweck-, sondern auch prestigedienlich. Es ist nicht nur vernünftig, sondern gehört auch zum guten Ton, sich gesund zu ernähren, regelmäßig zu bewegen und Genussmittel in Maßen zu konsumieren (Schmidt 2017). Gesundheit als Teil des kulturellen Kapitals eignet sich wie der Besuch einer Opernaufführung oder der Besitz einer teuren Uhr zur sozialen Distinktion: Meine Yogamatte, mein Carbonfahrrad, meine Marathonbestzeit.

B. Schmidt

Gute Gesundheit markiert heutzutage den feinen Unterschied zwischen Klasse und Masse. Die Zeiten sind vorbei, in denen der elitäre „Klassenkörper“ (Bourdieu 1987/2014, S. 307) lediglich Golf spielte, weil nur eine aufrechte Körperhaltung, ein gesetztes Tempo und raumgreifende Gesten zum elitären Habitus passten. Inzwischen gibt es beim FrankfurtMarathon eine Sonderauswertung „Manager-Marathon“, in der man in guter Gesellschaft die eigenen herausragenden Qualitäten inszenieren kann.

2

Gesundheit als vollständiges Wohlbefinden oder normative Tüchtigkeit

In der heutigen Gesundheitsgesellschaft sind die Vorstellungen und Vorschriften über Gesundheit eng normiert. Zwar fehlt in den öffentlichen Gesundheitsdebatten nur selten der Verweis auf die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation, der zufolge Gesundheit umfassendes körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden ist. Doch faktisch steht nicht vielgestaltiges Wohlbefinden, sondern biomedizinische Normgerechtigkeit, funktionstüchtige Leistungsfähigkeit und eigenverantwortliches Gesundheitsverhalten im Fokus. Derartige Formulierungen finden sich zwar nur selten, jedoch genügt ein kurzer Blick in den aktuellen „Ratgeber zur Prävention und Gesundheitsförderung“ des Bundesministeriums für Gesundheit – und dieser darf durchaus als exemplarisch gelten –, um zu zeigen, dass ein gesunder Mensch durch folgende typische Merkmale gekennzeichnet ist (alle aufgeführten Normen sind dem Ratgeber entnommen): Er hat einen Body-MassIndex zwischen 19 und 25, isst täglich 5 Portionen Obst und Gemüse, bewegt sich mindestens 2,5 Stunden pro Woche, genießt sein Frühstück, seinen Feierabend und seine Freunde, nutzt verlässlich sowohl Impfungen als auch Kondome, ist rauchfrei und konsumiert nur maßvoll Alkohol – und er setzt sich nicht unter Druck und erwartet auch nicht zu viel von sich (BMG 2016). Ernährungs-Bewegungs-Drogenfreiheits-Emsigkeit ist die neue Gesundheit und hat mit dem mehrdimensionalen Verständnis der WHO, das auf Wohlsein und Selbstbestimmung basiert, Raum lässt für individuelle Bedürfnisse und eintritt für gesunde Lebensbedingungen, nur wenig gemein.

2.1

Gesundheit als geschätzte Tugend der Leistungsträger

Jede Gesellschaft benötigt differenzierende Kriterien des Richtigen und Falschen, die jenseits von rechtlichen Normen informelle Gültigkeit besitzen und Orientierungshilfe leisten bei unzähligen Alltagsentscheidungen, die Menschen treffen

19

Gesellschaftliche Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

müssen. Häufig werden diese Kriterien von den kommunikationsmächtigen Schichten etabliert und diffundieren dann sukzessive in alle Gesellschaftsgruppen (Elias 1939/1997). Als Sitten und Gebräuche liefern sie Orientierung für die normale Lebensführung – im Sinne von normativ gewünscht, weit verbreitet und erforderlich für anerkennungswürdige Respektabilität (Bollnow 1958). Jede Zeit bringt neue Sitten hervor, die den Weg weisen zwischen richtigem und falschem Handeln; weicher formuliert: zwischen einer günstigen und weniger günstigen Lebensweise; altmodisch formuliert: zwischen tugendhaftem und lasterhaftem Benehmen. Zwar würde heute niemand behaupten, dass eine gesunde gleichsam eine tugendhafte Lebensweise sei, aber das liegt nicht daran, dass Gesundheit keine Tugend ist, sondern dass dem Tugendbegriff etwas Altmodisches anhaftet und er darum kaum verwendet wird. Gesundheit dennoch als Tugend zu akzentuieren ist zweckmäßig, um zu verdeutlichen, dass Gesundheit mehr ist als ein funktional nützlicher Seinszustand. In der heutigen scheinbar entmoralisierten Zeit ist ein guter Gesundheitszustand auch Ausdruck guter Lebensführung (Zick Varul 2004). Der gesunde bzw. gesundheitseifrige Mensch beglaubigt mit seinem gesunden Körper seinen gesunden Geist. Er beweist, dass er in der Lage ist, seine Gelüste zu bezwingen, seine Neigungen zu kanalisieren, sein Leben zu meistern, hinauszuwachsen über das ungebändigte Kreatur-Sein. Er hält Abstand zu den primitiven Anderen, deren Körper, Geist und Seele naturbelassen sind, spontan, kindisch, animalisch (Lupton 1995). Der moderne homo hygienicus ist ein Meister der Affektregulation, er ist hochgradig diszipliniert, kultiviert, zivilisiert (Duttweiler 2016). Welche die maßgeblichen Indikatoren sozialer Anerkennung und gesellschaftlichen Erfolgs sind, wird immer wieder neu ausgehandelt: Adelszugehörigkeit oder akademischer Abschluss, hohes Einkommen oder Hochkulturkompetenz, der edle Füller oder der veredelte Körper. Maßgeblichen Einfluss auf diese Aushandlungen nehmen die kommunikationsstarken Diskursakteure, weil sie über das erforderliche Bildungs-, Sozial- und Finanzkapital verfügen, um ihre Sicht auf die Wirklichkeit zu plausibilisieren und zu disseminieren. Sie setzen häufig ihre subjektiven Vorstellungen über das Funktionieren der Welt durch, ggf. ohne „überhaupt zu merken, wie stark ihre Sicht durch ihre persönliche Erfahrung und ihre Position beeinflusst wird“ (Herzog 2014, S. 140). Derzeit wird v. a. der gesunde Körper, genauer gesagt der gesundheitsvermessene Körper, als tauglicher Indikator für soziale Anerkennung konstruiert: Normgerechte Blutwerte, ausreichende Bewegungswerte, günstige Ernährungswerte dienen als Mittel „rationaler Diskriminierung“ (Selge 2016, S. 966): Wer täglich 10.000 Schritte tut, kann gesellschaftliche Anerkennung erwarten und diese Anerkennung mit Hilfe statischer Wahrscheinlichkeitsaussagen scheinbar rational legitimieren.

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In der modernen „Gesundheits-Leistungs-Sport-Gesellschaft“ (Bette und Gugutzer 2013, S. 292) ist Gesundheit von einer Privatangelegenheit zu einer gesellschaftsrelevanten Seinsäußerung geworden. Gesundheit ist keine Glückssache mehr, sondern ein jedem Menschen innewohnendes Potenzial, das sich voll entfaltet, wenn man sich nur genügend anstrengt (Lupton 1995). Für exzellentes Selbstbranding reicht es nicht mehr aus, erstklassige Kleidung zu tragen, außerdem sollte darunter ein erstklassiger Körper durchscheinen. (Sichtbare) Gesundheit ergänzt das finanzielle, kulturelle und soziale Kapital im eigenen Vermögensportfolio. Aber man darf auch nicht übertreiben beim eigenen Gesundheitsbemühen. Die Balance zwischen Maß und Übermaß ist delikat und benötigt das „gewisse Etwas“, das den nonchalanten Meister vom übertriebenen Pedanten unterscheidet (Bourdieu 1987/2014). Wer nicht beständig und beharrlich für seine Gesundheit Sorge trägt, der gilt nicht nur als Risikoträger für persönliche Krankheit und soziales Schmarotzertum, weil er durch vermeidbare Krankheit die Krankenversichertengemeinde unnötig belastet, sondern auch als der etwas peinliche Verlierer, dem es an Selbstverantwortung und Selbstkontrolle mangelt (Ernst 2014). Den gesundheitlich benachteiligten Menschen haftet der Makel an, vermutlich nicht ganz unverschuldet krank zu sein, sondern womöglich eher verantwortungslos, schwerfällig und faul. Nicht mehr nur jene Menschen, die Drogenabstinenz, sondern auch solche, die vollwertige Ernährung und regelmäßige Bewegung für überbewertet halten, gelten inzwischen als abweichende Außenseiter (Bude 2015). Sie werden für unkultiviert gehalten, es sind Versager, denen man kein Mitgefühl entgegenbringt, sondern Verachtung aufgrund ihrer fehlenden Vernunft und Impulskontrolle (Ernst 2014). Vor dem Hintergrund der unvernünftigen Lebensführung des gesundheitlichen Müßiggängers leuchtet die eigene gesundheitsbewusste Lebensweise umso heller (Zick Varul 2004). „Doing Health“ (Viehöver 2012, S. 195) bzw. „Doing Prevention“ (Wolf 2012, S. 213) funktionieren ähnlich wie das „Doing Gender“: Während das „richtige“ Geschlecht sichtbar gemacht werden soll über kulturelle Geschlechtsmerkmale (Harold Garfinkel; nach Villa 2007), wird die „richtige“ Gesundheit sichtbar gemacht über kulturelle Gesundheitsmerkmale: Die Mineralwasserflasche als ständiger Begleiter gesundheitsbewusster Zeitgenossen, die die Dehydrierungsgefahr in den hiesigen Breitengraden für unterschätzt halten. Doing Health dient dazu, dass die eigene Gesundheit nicht im Inneren verborgen bleibt, sondern nach außen leuchten kann wie ein „positives Kainsmal“ (Zick Varul 2004, S. 319). Die angesagte Gesundheitsperformance nützt zwar nicht immer der Gesundheit, jedoch dem erwünschten ImpressionManagement. Ob der jährliche Gesundheits-Check-up, der regelmäßige Marathon und die Better-sleep-App wirklich

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B. Schmidt

die Gesundheit verbessern, ist zu bezweifeln, doch weniger der praktische Gebrauchswert, sondern das symbolische Gebrauchswertversprechen der gelungenen Gesundheitsperformance ist bedeutsam – man ist für alle sichtbar in Bestform (Brunnett 2009). „Ich rauche gern“. Über diese Behauptung macht man sich in der Regel lustig, weil man den Sprechern unterstellt, der Hirnwäsche der Tabakindustrie aufgesessen zu sein. Bei dem Satz „Ich jogge gern“ schlägt der Propaganda-Detektor seltener aus, doch das ist nicht immer sachgerecht. Natürlich macht Sporttreiben unter Umständen Spaß, aber das gilt für das Rauchen eben auch. Hier wie dort kann gelten: Ich will, was ich will, aber ich will auch, was ich soll. Die moderne Bereitschaft, den eigenen Körper in gesundheitseifriger Weise zu bewirtschaften, verläuft im Spagat zwischen freier Wahl und normativem Imperativ, dem man sich kaum entziehen kann. Natürlich kann keine gesundheitsdiktatorische Macht die Menschen, Lemmingen gleich, aufs Laufband treiben, doch unbegrenzt sind unsere Freiheitsgrade auch nicht. „Ich jogge gern“ ist in der heutigen Gesellschaft deutlich leichter gesagt und getan als „Ich rauche gern“, und entsprechend praktisch ist es für die Alltagsbewältigung, wenn man gerne joggt und nicht gerne raucht. Die Tatsache, dass gutes Gesundheitsverhalten in den hohen Sozialschichten weiter verbreitet ist als in den niedrigen, zeigt einerseits, dass das für gut befundene Verhalten den kapitalstarken Schichten leichter gelingt. Andererseits zeigt es aber auch, dass es den kapitalstarken Schichten leichter gelingt, ihre Vorstellungen von gutem Gesundheitsverhalten in den öffentlichen Debatten als universell gut zu behaupten. Wer die Debatten gewinnt, prägt die gesellschaftliche Wirklichkeit. Derzeit bezeugen z. B. die unzähligen Fitness-Apps, mit denen man sein eigenes Verhalten dokumentieren und optimieren soll, dass vor allem jene Verhaltensweisen dokumentiert und optimiert werden sollen, die der Marktlogik des voll funktionstüchtigen Subjekts entsprechen (Selge 2016). Erfasst wird der tägliche Konsum von Salat, obwohl auch das wirksame Eintreten für sozial gerechte Solidarität gesundheitsdienlich wäre.

2.2

Der souveräne gesundheitliche Selbstversorger

Nachdem die Rolle des Individuums im Hinblick auf seine Gesundheit jahrhundertelang lediglich darin bestand, Gott oder dem Schicksal dankbar zu sein für den eigenen guten Gesundheitszustand, bzw. darin, den Gesundheitsaufträgen der staatlichen Obrigkeit und den medizinischen Experten Folge zu leisten, wuchs das individuelle Aufgabenspektrum in den letzten Jahrzehnten beträchtlich. Heutzutage soll das eigenverantwortliche Gesundheitssubjekt möglichst in Eigenregie Sorge tragen für den langfristigen Erhalt seiner

Gesundheit und für schnellstmögliche Genesung bei Krankheit (Schmidt 2008). Es gilt als normal und normativ erwünscht, dass jeder Mann und jede Frau seine Gesundheit eifrig und ewig kontrolliere, reguliere, optimiere (Wolf 2012). Der gute Mensch ist der gesunde Mensch, der die herrschenden Nützlichkeitskriterien der Leistungsgesellschaft pflichtbewusst befolgt und der sich selbst als hochwertiges Produkt am Markt präsentiert (Selge 2016). Das gesunde Subjekt sollte seine Gesundheit passend zur 24/7-Leistungsgesellschaft bewirtschaften: Von der erfrischenden Wechseldusche am Morgen, über das vollwertige Frühstück im Kreise der Familie und den ergonomisch einwandfreien Arbeitsplatz bis zum Schlafengehen gemäß den geltenden Schlafhygiene-Regeln kann jeder Mensch etwas und noch mehr für seine Gesundheit tun. Der Einzelne ist das pluripotente Gesundheitssubjekt, das einwandfrei zur neoliberalen Gesellschaftsidee passt, der zufolge eine Gesellschaft am besten funktioniert, wenn staatliche Zuständigkeiten auf ein Minimum beschränkt und individuelle Zuständigkeiten auf ein Maximum gedehnt sind. Im ausgedünnten Wohlfahrtsstaat braucht es tüchtige Selbstunternehmer, die ihr Leben in die eigene Hand nehmen und ihre Gesundheit in die Eigenverantwortung übernehmen. Das starke Subjekt muss den schwachen Staat schützen, der scheinbar nicht mehr zuständig sein kann für Allgemeinwohl und Solidarität (Bude 2016). Das Gebot der Stunde für jeden Einzelnen lautet, seine Gesundheit im Griff zu haben oder zumindest in den Griff zu bekommen. „Gesundheit ist . . . was ich selbst daraus mache“ titelte die Mitgliederzeitung der Techniker Krankenkasse vor einiger Zeit: „Ein glückliches und gesundes Leben besteht nicht nur aus dem richtigen Maß an Bewegung und gut durchdachter Ernährung. Auch eine positive Grundeinstellung hilft der Gesundheit auf die Sprünge . . . Es ist die Zufriedenheit mit dem Leben, die gegen Krankheit schützt“ (TK 2015, S. 6). Man ist inzwischen so gewöhnt an diese allgegenwärtige Binsenweisheit des „Gesundheit ist das Resultat positiver Grundeinstellungen und präventiver Eigenanstrengungen“, dass man kaum noch realisiert, wie fehlgeleitet diese Behauptung ist. Zum ersten werden die nicht individuell beeinflussbaren Faktoren auf Gesundheit ignoriert. Zum zweiten wird die Korrelation zwischen Gesundheit und Zufriedenheit als gerichtete Kausalität dargestellt, also davon ausgegangen, dass eine positive Lebenseinstellung zu mehr Gesundheit führt, obwohl eher anzunehmen ist, dass umgekehrt gute Gesundheit zu einer positiven Lebenseinstellung führt. Inzwischen ist die Vorstellung, dass positives Denken die Gesundheit fördern kann, so allgegenwärtig, dass sich beispielsweise das Deutsche Krebsforschungszentrum dazu gezwungen sieht, explizit darauf hinzuweisen, dass es für den Imperativ des positiven Denkens keine Belege gibt: „Es gibt keinen überzeugenden Nachweis, dass positives Denken eine Behandlung effektiver machen oder Rückfälle verhindern kann“ (DKFZ 2016). Drittens wird unterstellt,

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Gesellschaftliche Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

dass Zufriedenheit Einstellungssache ist und man sich mental befreien kann und soll von den realen Lebensbedingungen, die ggf. nicht zufriedenstellend sind. Und viertens wird unterstellt, dass Krankheitsvorbeugung immer nützt oder zumindest mehr nützt als schadet, obwohl seit Jahren angemahnt wird, die unzureichende Evidenz von Prävention nicht noch länger mit gesundem Menschenverstand zu kompensieren (Antes et al. 2016). Vorbeugen ist nur im Volksmund immer besser als Heilen. Dass jeder seines Glückes Schmied ist, ist ein altes Gerücht mit langer Haltbarkeit (Vobruba 2015). Das Gleiche gilt für das Gerücht, dass jeder seiner Gesundheit Schmied ist. Natürlich gibt es Menschen, die es vom Tellerwäscher zum Millionär und vom Körperbehinderten zum Olympiasieger schaffen. Doch sind das Ausnahmen, die die Regel „Wer hat, dem wird gegeben“ bestätigen. Mit dem glücklichen gesunden Schmied wird ein Heldenepos konstruiert, das vergessen machen soll, dass auch das stärkste Ich verletzlich und bedürftig ist (Steinfath 2016). Vermessenheit ist die gewünschte Charakterqualität des souveränen Subjekts, das alles erreichen kann, wenn es nur will, eine bessere Arbeit, eine bessere Gesundheit, ein besseres Leben. Die Erfahrung, dass das eigene Leben nur in Grenzen verbesserbar ist, wird als faule Ausrede deklariert und dem unsouveränen Minderleister als Eigenverschulden angelastet, weil er nicht genug an seinem gesundheitlichen Glück geschmiedet hat (Borchel 2014). Diese Sichtweise legitimiert die Mitleidslosigkeit, die all jenen entgegenschlägt, die dem Imperativ des glückspflichtigen Schmieds scheinbar nicht genügend emsig gefolgt sind und sich darum ins soziale oder gesundheitliche Abseits manövriert haben (Bröckling 2017). „Bitte bleiben Sie gesund“, das ist ein freundlicher Wunsch, aber auch ein dezidierter Auftrag, der an alle Menschen gleichermaßen ergeht. Für viele Menschen, die nicht unter gesundheitlichen Ideal-, sondern mittelmäßigen Realoder schlechten Minimalbedingungen leben, bleibt das Bemühen um gute und immer bessere Gesundheit die ewig offene Baustelle mit unendlichem Renovierungsbedarf (Duttweiler 2016). Gefordert ist der unermüdliche Einsatz für bestmögliche Gesundheit, und zwar auch unter den ungünstigen gesundheitlichen Bedingungen, die man sich nicht ausgesucht hat, aber dennoch gesundheitsgerecht meistern soll. Der souveräne Mensch soll nach einem Ziel streben, das unerreichbar ist, er könnte sich immer noch mehr anstrengen, er bleibt ewig etwas schuldig (Bröckling 2012). Das moderne Subjekt ist als Gesundheitssouverän gefragt, und zwar nicht nur im Gesundheits-, sondern auch im Krankheitsfall. Laut Sozialgesetz haben alle Versicherten die Pflicht, Mitverantwortung zu übernehmen für ihre Gesundheit und Krankheit. Sie gelten als Koproduzenten ihrer Gesundheit, und in dieser Rolle haben sie im Krankheitsfall zahlreiche Patientenpflichten zu erfüllen. Dazu gehören u. a. (Evans 2007): für die eigene Gesundheit und Genesung sor-

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gen, die Gesundheit anderer schützen, das Gesundheitswesen verantwortungsbewusst nutzen, Wahrhaftigkeit bei Gesundheitsauskünften, Compliance und angemessenes Patientenverhalten in Institutionen, Partizipation in Gesundheitsforschung. Der kranke Souverän ist ein Aktivposten, von dem erwartet wird, dass er seine Leistung erbringt: „Wenn ich anfangen kann mitzuarbeiten daran, dass ich gesund werden will, dann werde ich auch gesund“ (Schmitt 2015, S. 61). Die aktiven Patienten passen ideal in ein fließbandartiges Gesundheitswesen, das am effizientesten arbeitet, wenn sich alle störungsfrei einpassen in das rationalisierte Diagnoseund Behandlungssystem und jeder seinen Job macht – auch der Patient (Sonnenfeld 2016). Heutzutage wird darum seltener von Patienten gesprochen, sondern eher von mündigen Klienten oder gar von mündigen Kunden. Das mündige Subjekt ist auch im Krankheitsfall in der Lage oder kann zumindest in die Lage versetzt werden, pro- und eigenaktiv die eigene Krankheit zu meistern (Kangasniemi et al. 2012). Passiv sein dürfen, auf Beistand vertrauen, Mitgefühl erwarten – all dies war einmal Kernbestandteil der Krankenrolle. Doch diese „Vergünstigungen“ werden heute kaum noch gewährleistet, heute soll jeder möglichst allein zurechtkommen und nichts von anderen erwarten (Zick Varul 2004). Der souveräne Patient ist bereit und fähig oder kann zumindest dazu befähigt werden, gemeinsam mit seinem behandelnden Arzt den bestmöglichen Behandlungsverlauf zu planen und umzusetzen (Dunn 2016). Der Patient benötigt dafür nicht nur ein gehöriges Distanzierungsvermögen gegenüber den krankheitsimmanenten Gefühlen von Sorge und Beschwernis, sondern außerdem biomedizinisches Detailwissen sowie Kenntnisse über die epidemiologische Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auch kann der souveräne Patient einkalkulieren, dass ärztliche Behandlungsempfehlungen unter Umständen von sekundären Interessen (z. B. Mengenausweitung von Leistungen) geleitet werden. Dass Menschen sich im Zustand von Krankheit ängstlich, schwach und hilfsbedürftig fühlen und solche Erfahrungsdimensionen häufig unvereinbar sind mit dem Erleben von mündiger Handlungsfähigkeit und souveräner Selbstwirksamkeit, wird ignoriert. Es wird erwartet, dass kranke Menschen in der Lage sind, ihre Affekte zu regulieren, ihre Ängste zu bezähmen, ihre Schwäche in Stärke und ihre Sorge in Zuversicht zu verwandeln. Offenbar gibt es keine Grenzen der Zumutbarkeit, die dem kranken Mensch als professionellen Koproduzenten seiner Gesundheit abverlangt werden dürfen (Wehling 2013). Zweifellos ist es ein Emanzipationserfolg, dass sich Patienten heute nicht mehr fraglos den Behandlungsanweisungen von Ärzten und Therapeuten unterwerfen müssen. Doch diese Emanzipation frisst ihre Kinder, wenn nun umgekehrt postuliert wird, dass moderne Patienten souverän seien und den Gesundheitsprofis auf Augenhöhe gegenüber stehen. Das erzeugt keine weniger fehlgeleitete, sondern nur eine anders fehlgeleitete Gesundheitsversorgung. Natürlich wünschen

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Patienten sich nicht, dass sie lediglich gehorsam alle ärztlichen Entscheidungen erfüllen sollen. Sie wünschen jedoch ebenfalls nicht, dass sie zur selbstverantwortlichen Entscheidungsfindung verpflichtet werden und ihnen ein Arzt zur Seite steht, der bloß schulterzuckend sagt: „Entscheiden müssen Sie!“ (Schmidt 2014, S. 342). Die meisten kranken Menschen wünschen sich einen Arzt, der ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht, einen „Fachmann, da muss ich mich schon drauf verlassen können . . . Ich maße mir nicht an zu entscheiden, ob ich das Medikament brauche oder nicht“ (Wippermann et al. 2011, S. 196). Die meisten Menschen wünschen im Krankheitsfall substanzielle Unterstützung, keine Befähigungslektionen: „I want help I don’t want a lecture“ (Crawshaw 2012, S. 205). Natürlich gibt es Menschen, die souverän ihre Krankheit managen, doch sollte man ideale Patientenbedingungen nicht mit realen Patientenbedingungen verwechseln bzw. nicht darauf bauen, dass sich ideale Patientenbedingungen mit gutem Willen und Wissen stets herstellen lassen. Der souveräne Patient muss nicht nur all seinen gesundheitlichen Pflichten nachkommen, sondern soll außerdem Haltung bewahren. Denn angeblich ist Krankheit auch das, was man daraus macht. Unverzichtbar für jeden guten Patienten ist es, die Zuversicht nie zu verlieren. „Smile or die“ ist gefordert, so Barbara Ehrenreich in ihrem gleichnamigen Buch. Egal um welche Krankheit es sich handelt: Zwingend erforderlich sind „Tapferkeit, Kampfeswille und die Wertschätzung der läuternden Qualität der Krankheit [. . .]. Was dich nicht umbringt macht dich lebendiger und reifer“ (Ehrenreich 2010, S. 37 f.). Souveräne Patienten lassen sich nicht vereinnahmen von ihrer Krankheit, sondern verlassen sich auf ihre Ressourcen und verlieren den Optimismus nicht (Wippermann et al. 2011). Doch auch hier widerspricht die Evidenz dem Volksmund, und entsprechend hält z. B. das Deutsche Krebsforschungszentrum auch hier dagegen. Es appelliert an Angehörige und Freunde von Krebserkrankten, auf gut gemeinte Ratschläge zu verzichten, die da lauten, sich vom Tumor nicht unterkriegen zu lassen, da sie „Druck aufbauen. Indirekt wird ihnen so eine Mitverantwortung an der Entwicklung ihrer Krankheit unterstellt – eine Krankheitsverschlechterung wäre dann die Strafe für zu wenig positives Denken“ (DKFZ 2016).

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Inklusive Gesundheitsförderung statt exklusiver Gesundheitsoptimierung

Das hohe Gut Gesundheit ist in den letzten Jahren von einem Element des guten Lebens zur Essenz des guten Lebens mutiert (Klotter 2013). Dass das gute Leben ein gesundes und das gesunde ein gutes Leben ist, ist zwar ein naheliegender, doch nicht unbedingt richtiger Gedanke. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass subjektives Wohlsein mehr und anderes ist als

funktionstüchtiges Gesundsein (Lenk 2016). Für viele glückstiftende Lebenserfahrungen, z. B. für Liebe und Freundschaft, ist nur die leibliche Existenz unentbehrlich, aber nicht die gute und schon gar nicht die einwandfreie Gesundheit (Schockenhoff 2008). Damit ein normales, stets brüchiges Leben gelingen kann, benötigt man neben Glücks- auch Leidensfähigkeit sowie die Fähigkeit, sich im Bedarfsfall einer Lebensweise öffnen zu können, die jenseits von reiner Gesundheit, aber nicht jenseits von guter Lebensqualität liegt (Büssing 2011). Vor allem für Menschen der gehobenen Soziallagen erscheint gute, bessere, beste Gesundheit unverzichtbar zu sein für das gute Leben. Doch liegt das nicht daran, dass Gesundheit unverzichtbar ist für das gute Leben, sondern dass die wirklich unverzichtbaren Bestandteile eines guten Lebens (existenzielle Sicherheit, gestaltbare Freiheit etc.) in hohen Soziallagen meist gut gesichert sind. Die hohe Gesundheitsaffinität ist darum v. a. Teil der „Lebensweise der Verwöhnten“ (Zick Varul 2004, S. 381). Für die „Verwöhnten“ aus den privilegierten Soziallagen ist Gesundheit ein transzendentes Bedürfnis, das neben Funktionstüchtigkeit, Beschwerdefreiheit und Autonomie auch Bedürfnisse nach persönlicher Selbstverwirklichung, sozialer Anerkennung, gesellschaftlicher Respektabilität erfüllt. Gesundheit ist hier Selbstzweck, ein Wert an sich als Teil des geglückten Lebens. Für die „nichtverwöhnten“ Menschen aus mittleren oder niedrigen Soziallagen hingegen ist Gesundheit nur selten Selbstzweck, weder transzendenter Selbstverwirklichungszweck noch sozialer Performancezweck. Gesundheit ist hier Mittel zum Zweck, eine Alltagsbewältigungserleichterung und entsprechend gut genug, wenn es gelingt „nach Möglichkeit ohne größere Handicaps durchs Leben gehen zu können, die mich davon abhalten, einigermaßen das zu machen, was ich machen möchte“ (Zick Varul 2004, S. 22). Nicht feinfühlige Achtsamkeit und emsige Gesundheitsfürsorge, sondern unbefangene Leibvergessenheit und robustes Beschwerdemanagement stehen im Vordergrund der gesundheitlichen Alltagspraxis. Die Daten zum Gesundheitsverhalten belegen eindrücklich, dass viele Menschen Gesundheit zwar wichtig finden, aber nicht für das wichtigste halten: Nur etwa 30 % der Bevölkerung (21 % der Männer und 39 % der Frauen) halten sich verlässlich an die Regeln einer gesunden Lebensweise (Braun und Marstedt 2015). Die Mehrheit der Menschen hingegen „kümmert sich offenbar eher situationsabhängig mal mehr um die eigene Gesundheit und mal weniger“ (Koch und Waltering 2012, S. 9). Sie wursteln sich durch. Der Begriff des Durchwurstelns stammt von Ulrich Bröckling (Bröckling 2012, S. 142), der in seinem Konzept des Selbstunternehmers beschreibt, dass der moderne Mensch idealerweise sein gesamtes Selbst unternehmerisch bewirtschaftet und beständig optimiert, um mithalten zu können im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe. Weil niemand das beständige Ringen um Selbstoptimierung auf Dauer durchhalten kann, ist es unverzichtbar, sich um Atempausen und Aus-

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weichmanöver zu kümmern, sich also gelegentlich durchzuwursteln, um sich unter dem Radar des herrschenden Aktivierungs- und Optimierungsfurors zu erholen (Bröckling 2012). Wer nicht mittun will beim endlos „beschleunigten Stillstand“ (Hartmut Rosa) und nicht implodieren will als endlos „erschöpftes Selbst“ (Alain Ehrenberg) wird lernen müssen, klug zu balancieren zwischen selbstunternehmerischem Tun und durchwurstelndem Lassen. Gesundheitliches Durchwursteln ist eine praktische Kompetenz für leibhaftige Menschen aus Fleisch und Blut, die in ihrem Leben unzählige divergierende Lebenserfordernisse und -bedürfnisse in Einklang bringen müssen (Wolf 2012). Der lebendige Mensch balanciert zwischen vernünftigem und unvernünftigem, risikoarmem und risikoreichem, ausschweifendem und diszipliniertem Verhalten. Er pflegt einen polyvalenten Lebensstil, der gekennzeichnet ist durch regelmäßigen Süßigkeitengenuss und regelmäßiges Zähneputzen, durch engagiertes Fußballspielen bei gleichzeitigem Vermeiden kürzester Fußwege, durch geschützten Geschlechtsverkehr, von leidenschaftlichen Ausnahmen abgesehen. Und die Erfahrung lehrt, dass das Durchwursteln in der Regel ausreicht, da die eigene Gesundheit nicht makellos sein muss, um gut genug zu sein. Sich durchzuwursteln ist weder unvernünftig noch unlogisch, sondern passend für die alltägliche komplizierte Lebenswirklichkeit. Das Durchwursteln steht zwar nicht im Einklang mit dem gesundheitswissenschaftlichen Ordnungssystem, jedoch im Einklang mit dem persönlichen Ordnungssystem (Lanzerath 2006). „Wenn ich irgendwo auf’m Rummel bin, und es gibt Brausestäbchen, dann fress ich mit Vergnügen ‘ne ganze Tüte, und das lass ich mir auch nicht nehmen“ (Zick Varul 2004, S. 401). Nicht nur die externe Evidenz („Das ist nicht gut für deinen Blutzucker“), sondern auch die interne Evidenz („Das ist gut für mein Wohlbefinden“) ist bedeutsam für Alltagsentscheidungen, und mal entscheidet man sich für die gesundheitsvernünftige und mal für die gesundheitsriskante Handlungsoption (Herzberg et al. 2016). Nur wer auch Abstriche machen kann beim Richtigen, Guten und Gesunden und sich gelegentlich begnügen kann mit dem Halbrichtigen, Halbguten und Halbgesunden, wird ein ausgeglichenes Leben führen können (Grauel 2013). Der durchwurstelnde Normalmensch ist weder ein homo oeconomicus noch ein homo hygienicus, er versucht weder seinen ökonomischen noch seinen gesundheitlichen Nutzen zu maximieren. Lebendige Menschen sind nicht die rationalisierten Nutzenfunktionen, zu denen sie zusammengedampft werden, um die komplizierte Wirklichkeit in reduktionistische mathematische bzw. medizinische Modelle pressen zu können. „Menschen aus Fleisch und Blut reagieren völlig anders“ (Herzog 2014, S. 53). Für die meisten Menschen ist gesundheitliches Durchwursteln nicht nur ein machbarer, sondern auch ein erfolgreicher Weg, denn die eigene Gesundheit ist oftmals robuster als es die detailreiche Risikofaktorenforschung glauben macht. Der eigenen Gesundheit genügt es meist, wenn sie nicht

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fortwährend drangsaliert wird mit allen erdenklichen Risiken. Zahlreiche rauschhafte Feiern, massenhaft faule Chips-Abende vor dem Fernsehen, viele träge Tage an sonnigen Stränden, zahlreiche Verletzungsmomente in Sport und Freizeit und ungezählte überstandene Beinah-Unfälle im Straßenverkehr haben die meisten Menschen doch durchgestanden ohne nachhaltigen Schaden zu nehmen (Abraham 2016). Das soll natürlich nicht heißen, Leiden zu suchen oder sich in Leiden zu schicken. Insbesondere die Tatsache, dass Gesundheit sozial ungleich verteilt ist, verweist darauf, dass es nicht darum gehen kann, Übel hinzunehmen. Es geht nicht um Akzeptanz eines beschwerlichen Lebens unter Erduldung ungerechter Widerfahrnisse des Lebens. Jedoch ist klar zu trennen zwischen den Gesundheitsbedingungen, die der eigenen Kontrolle zugänglich sind und der eigenen Verantwortung unterliegen, und denen, die für das Individuum unzugänglich sind. Niemand sollte sich verausgaben in Bereichen, die sich der eigenen Beherrschbarkeit entziehen und außerhalb des persönlichen Verantwortungsraums liegen. Alle Menschen haben ein Recht auf größtmögliche Entfaltung ihrer Gesundheitspotenziale, aber sie haben nicht die Pflicht, pausenlos nach Gesundheitsoptimierung zu streben. Menschen müssen darauf vertrauen können, dass auch andere dazu beitragen wollen und werden, dass die eigene Gesundheit und das eigene Leben gelingen. Wir brauchen die Hoffnung, „dass die Welt sozusagen von sich aus unseren Wünschen entgegen kommt“ (Borchel 2014, S. 168). Wer darauf nicht hoffen kann, dem geht der Lebenssinn verloren, spätestens dann, wenn die unvermeidbaren Grenzen der eigenen Selbstmächtigkeit im Krankheitsfall auf einmal offenbar werden. Es ist Zeit Abstand zu nehmen von der allgegenwärtigen Pflicht zu (körperlich) gesundheitlicher Selbstverbesserung, denn sie widerspricht dem Ideal einer inklusiven Gesellschaft, in der es allen Menschen gestattet ist, ihre diversifizierten Gesundheitspotenziale selbstbestimmt zu entfalten. Die Behindertenverbände haben maßgeblich dazu beigetragen, die Grenzen gesellschaftlicher und gesundheitlicher Inklusion zu dehnen. Auch HIV-infizierte Menschen haben die Gesellschaft und die Gesundheit pluraler werden lassen. Sie haben nicht nur gekämpft gegen Stigmatisierung und Kontrolle, sondern auch für homosexuellen Sex und sauberes Spritzenbesteck, für Promiskuität und Lust trotz vorhandener Krankheitslast. Ihre außerüblichen gesundheitlichen Vorstellungen und Praxen haben wichtige Steine des Anstoßes geliefert, um veraltete Konventionen zu erneuern und neue Gewohnheiten zu etablieren (Lupton 1995). Damit soll natürlich nicht einer Anything-Goes-Beliebigkeit bezogen auf Gesundheit das Wort geredet oder gar für die Abschaffung der Gesundheitsförderung plädiert werden. Doch eine inklusive Gesellschaft gelingt weder durch belehrende Assimilation, noch durch befähigende Integration, sondern durch die Akzeptanz von Pluralität. Eine inklusive Gesundheitsförderung gründet sich nicht auf die Wahrnehmung des Menschen

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als fehlerhaftes Wesen, das erst durch beharrliche Selbstoptimierung zu echter Menschwerdung gelangt, sondern hat das Ziel, Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihr körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu ermöglichen und sie zu befähigen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen zu realisieren und ihre Umwelt zu meistern und zu verändern.

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Soziale Online-Netzwerke und Gesundheit

20

Philip Adebahr und Peter Kriwy

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Soziale Online-Netzwerke – Definition und theoretische Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Netzwerke und SNS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragbarkeit von Offline-Netzwerken auf SNS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Konzeption des Zusammenhangs zwischen SNS und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausforderungen der Forschung zu SNS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234 234 235 236 237

3 Empirische Evidenz zu Gesundheit und sozialen Online-Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3.1 Gesundheitliche Einflüsse auf die SNS-Nutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3.2 Gesundheitliche Folgen der SNS-Nutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4

Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

1 Einleitung „Je stärker eine Person in ein soziales Beziehungsgefüge mit wichtigen Bezugspersonen eingebunden ist, desto besser kann sie mit ungünstigen sozialen Bedingungen, kritischen Lebensereignissen und andauernden Belastungen umgehen und desto weniger treten Symptome der Überforderung auf. In Analogie zu biologischen Schutz- und Immunsystemen kann deshalb auch vom sozialen Netzwerk als sozialem Immunsystem eines Menschen gesprochen werden.“1 (Hurrelmann und Richter 2013, S. 81). Inwiefern die Partizipation an Social Network Sites (SNS) Gesundheitschancen verbessern können oder -risiken bergen, ist Gegenstand dieses Beitrags. Mit dem Aufkommen und der Entwicklung von sozialen Medien im Allgemeinen und SNS im Speziellen hat sich der Zugang zu den persönlichen sozia-

1 Zur biologischen Verwendung des Begriffs „soziales Immunsystem“ siehe z. B. Cremer et al. (2007).

P. Adebahr · P. Kriwy (*) Technische Universität Chemnitz, Chemnitz, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

len Netzwerken verändert, besonders bezüglich der Häufigkeit, Dauer und Persistenz sowie der Qualität von Interaktionen. Dass neue Medien in ihrer Bedeutung in den letzten Jahren stark zugenommen haben, belegen Daten des Pew Research Center, nach denen die Zahl der erwachsenen US-Amerikaner, die Social-Media-Seiten nutzen, von 5 % (2005) auf 69 % (2016) gestiegen ist (2018). In Hinblick auf die Anzahl der monatlich aktiven Nutzer ist Facebook, mit 2,1 Mrd. vor YouTube mit 1,5 Mrd. und Instagram mit 0,8 Mrd. nach wie vor die größte SNS (Hotsuite 2018). Nach einer Metastudie von Meng et al. (2017) ist Facebook mit 53 % vor Twitter mit 10 % zugleich das meist beforschte Online-Netzwerk (Meng et al. 2017). PricewaterhouseCoopers (2012) zufolge nutzten 2012 33 % der US-Amerikaner SNS für Gesundheitsinformationen. 48 % derer, die online Gesundheitsinformationen recherchieren, suchen für andere (Fox und Duggan 2013), wobei Pang et al. (2014) und Sarasohn-Kahn (2008) des Weiteren zeigen, dass die Suche ausschließlich über Suchmaschinen wie Google zu einer überfordernden Fülle an Informationen führt, sodass häufig die Hilfe von Online- und Offline-Netzwerken in Anspruch genommen wird.

# Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_22

233

234

P. Adebahr und P. Kriwy

SNS gewinnen folglich an Alltagsrelevanz auch für gesundheitliche Fragestellungen. Aus diesem Grund wollen wir uns im vorliegenden Beitrag der Frage widmen, inwiefern SNS mit Gesundheitsrisiken bzw. -chancen verbunden sind. Zu beachten ist dabei, dass das Internet ein Medium ist (Bell 2007; Mehta und Atreja 2015, S. 121), das Kommunikation und Netzwerke zu verwalten hilft. Als Träger von Informationen und sozialen Prozessen katalysieren oder hemmen SNS dementsprechend gesundheitsfördernde, wie auch gesundheitsgefährdende Mechanismen. Relevant sind hierbei Zugänge und Verarbeitungsaktivitäten von Individuen, die sozial ungleich verteilt sein können. Entsprechend rückt die Frage nach den sozialstrukturellen Merkmalen und den gesundheitlichen Folgen der zugrunde liegenden selektiven Mechanismen in den Vordergrund. Die relevanten Personen in Online-Netzwerken (Alteri) treten als Regulatoren auf, in dem sie Möglichkeiten offerieren und Grenzen setzen. Es soll dementsprechend nicht um die physischen und psychischen Folgen einer gesteigerten Internetnutzung gehen, sondern vielmehr um die Impulse zur Veränderung des Gesundheitsverhaltens durch die Andersartigkeit sozialer OnlineNetzwerke im Vergleich zu Offline-Netzwerken einerseits und die Folgen von SNS auf die Gesundheit andererseits. Einen weiteren Schwerpunkt dieses Beitrags bildet zusätzlich die theoretische Konzeption des Zusammenhangs zwischen SNS und Gesundheit (Abschn. 2) und deren empirische Evidenz (Abschn. 3).

2

Soziale Online-Netzwerke – Definition und theoretische Konzeption

2.1

Soziale Netzwerke und SNS

Der durch Tim O‘Reilly (2005) bekannt gewordene Begriff des Web 2.0 zeichnet sich im Vergleich zum Web 1.0 dadurch aus, dass der Nutzer nicht nur Inhalte konsumiert, sondern diese als sog. „Prosumer“ gleichzeitig mitgestaltet und somit die Partizipation und Vernetzung steigert (für einen näheren Einblick s. Runkehl 2012, S. 10; für eine kritische Perspektive auf das Konzept Web 2.0 siehe Schmidt 2011, S. 21; Runkehl 2012, S. 9). In Anlehnung daran bezeichnen Kaplan und Haenlein „Social Media“ als jene Internetapplikationen, die auf der Ideologie und den technischen Grundlagen des Web 2.0 basieren und die Erschaffung und den Austausch von „User Generated Content“ ermöglichen (2010, S. 61). Eine spezifische Form der Social-Media-Anwendungen sind die SNS. Gegenüber den Begriffen Social Media und Web 2.0 wird der Terminus SNS hingegen weniger einheitlich und eindeutig verwendet. Diese werden in einigen Texten synonym genutzt in anderen antonym. Beispielhaft können die Begriffe „Social Software“, „Online Social Network“ (OSN), „Social

Network Websites“ (SNW), „Social Network“, „Social Network Services“, „Digital Social Network“ (DSN), „Networking Platform“, „Social Network Communitiy“, „Online Community“‚ „Virtual Community“ und deren deutsche Übersetzungen aufgeführt werden (Heidemann 2010, S. 263; Nentwich und König 2012, S. 19). Am gebräuchlichsten ist der Terminus „Social Network Sites“ (SNS), der auch in diesem Beitrag Verwendung findet. Der Community-Begriff umfasst oft einzelne Gruppen in SNS oder auf anderen Plattformen. Der Terminus Online Soziale Netzwerke (OSN) wird im Folgenden als Oberbegriff für Netzwerke verwendet, die sich sowohl auf SNS als auch auf anderen Online-Plattformen organisieren. Der Unterschied zwischen SNS und Online Health Communities (OHC) (Online-(Selbst)-Hilfegruppen, Online-Support-Groups) besteht darin, dass SNS personen- und beziehungsorientiert sind. Virtuelle Hilfegruppen hingegen gruppieren sich um eine bestimmte Thematik z. B. einer Krankheit oder einem Gebrechen (Braasch 2018, S. 121; Preece 2012, vgl. auch „Health Groups“ bei Zhang et al. 2013). OHCs bestehen demnach aus Personen, die sich auf Online-Plattformen organisieren, mit dem Ziel sich bei der Bewältigung bestimmter Krankheiten oder Gebrechen zu unterstützen. Die Unterscheidung zwischen SNS und OHC ist mit Bezug auf Social Support zentral. Wohingegen SNS den Usern erlauben, soziale Beziehungen über weite Entfernungen aufrecht zu erhalten (Ellison et al. 2007), herrscht in den Weak-tie-Netzwerken der Online Communities (Wright und Bell 2003) größere Anonymität und Ungezwungenheit (Berger et al. 2005; Davison et al. 2000; Hwang et al. 2010, S. 12, vgl. auch Newman et al. 2011). In den OHCs muss entsprechend weniger auf die Selbstdarstellung (engl. „impression management“) geachtet werden (Newman et al. 2011), was den Austausch von Social Support erleichtert. Nach den Ergebnissen aus Newmans qualitativer Studie können SNS (hier: Facebook) in Anlehnung an Goffman als „front stage“ und die OHCs als „back stage“ angesehen werden (vgl. auch Goffman 1975, 1998). Facebook-Beziehungen eignen sich also eher um Verbindlichkeiten zu schaffen (vgl. Newman et al. 2011) und sind intensiver, da sie stärker auf bereits bestehende Netzwerke aufbauen (Zhang et al. 2013, S. 2). Virtuelle Hilfegruppen können auf SNS organisiert sein, produzieren aufgrund ihrer Zielgerichtetheit jedoch eine andere Qualität an sozialer Unterstützung. Als Systematisierungsschema für SNS steht das Konzept von Boyd und Ellison (2007, S. 211) zur Verfügung, in dem die Idealtypen „Social-Networking-Sites“ und „Social-Network-Sites“ unterschieden werden, wobei die NetworkingSites idealtypisch der Bildung und dem Ausbau sozialer Netzwerke über Online-Tools dient (z. B. Partnerbörsen und Selbsthilfegruppen). Soziale Netzwerk-Seiten hingegen legen ihren Fokus auf die Pflege bestehender Netzwerke und die Möglichkeit diese für andere User sichtbar zu machen

20

Soziale Online-Netzwerke und Gesundheit

(z. B. Facebook, Google+) (ebda.). Aus netzwerktheoretischer Perspektive ist es sinnvoll, die Typologie um Seminetwork-Seiten zu ergänzen. Darunter verstehen wir Online-Tools, die eine Vernetzung ermöglichen, allerdings nicht erfordern. Die Vernetzung ist dabei meist nur einseitig (z. B. als Fan oder Follower). Die Inhalte von YouTube können z. B. auch ohne YouTube-Profil angesehen werden, wobei eine einseitige Vernetzung über das Abonnieren verschiedener Kanäle mit Hilfe eines YouTube-Profils möglich ist. Ähnliches gilt für einige Blogs, Foren und Wikis sowie Streaming-Dienste wie z. B. Twitch. Hier institutionalisieren SNS Interessenbekundungen und Fans durch einen Click als Beziehungsform (Adelmann 2014, S. 195; Wanhoff 2011, S. 102). Diese können als parasoziale Beziehungen (engl. „parasocial relationships“, PSR) verstanden werden, da es sich dabei nach Döring (2003) um nicht-reziproke Beziehungen zu Medienfiguren handelt.2 Das ist theoretisch hinterfragbar, indem das Geben und Nehmen auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet wird. Der Mediennutzer erlangt Informationen und Unterhaltung, im Gegenzug bedankt er sich mit einem Like oder einer Geldspende, z. B. über Twich. Idealtypisch werden fiktional Alteri (Medienfiguren wie z. B. Alexa von Amazon), fiktionale Rollen (wie z. B. Luke Skywalker, gespielt von Mark Hamill), und nicht-fiktionale Medienfiguren (Personen, die als sie selbst auftreten, wie der YouTuber Erik Range alias Gronkh, Sportler oder Nachrichtensprecher) unterschieden (Döring 2009, S. 653). Der mögliche Einfluss von PSR auf soziale Netzwerke ist jedoch noch weitgehend unerforscht.

2.2

Übertragbarkeit von Offline-Netzwerken auf SNS

Mit den Veränderungen sozialer Beziehungen und somit auch sozialer Netzwerke durch die Nutzung neuer Medien (u. a. SNS) beschäftigen sich verschiedene Fachdisziplinen, darunter die Sozialpsychologie des Internets, die Internet-Soziologie bzw. Soziologie des Cyberspace sowie Bereiche der Medien- und Kommunikationswissenschaften. Der Wandel von Alltag, Kultur und Gesellschaft im Kontext neuer Medien wird u. a. unter den Termini Mediatisierung (engl. „mediatization“) und Medialisierung (engl. „mediation“) diskutiert (Hoffmann et al. 2017, S. 6; Papsdorf 2013, S. 189). Die Begriffe werden zum Teil synonym oder antonym gebraucht, wobei Mediatisierung gebräuchlicher ist (für eine synonyme Verwendung siehe Papsdorf 2013, für eine Unterscheidung siehe Steinmaurer 2003).

Liang et al. (2011) unterscheiden diesbezüglich etwas passender „twoway connections“ (Freunde) von „one-way connections“ (Fans und Follower).

2

235

Forschungen zu Motiven der SNS-Nutzung deuten darauf hin, dass der Unterschied von Online- und Offline-Netzwerken gering ist. Auch wenn viele SNS die Neuknüpfung von sozialen Beziehungen zum Ziel haben, zeigen Studien, dass sich die User primär mit bereits bekannten Personen verknüpfen (Boyd 2010; Hampton et al. 2011; Smith 2011). Nach Raacke und Bonds-Raacke (2008, S. 171) nutzen beispielsweise 91,1 % Facebook und Myspace, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben, und nur 56,4 % wollen neue Freundschaften aufbauen. Dies führt zu der Frage, inwiefern Online- und Offline-Netzwerke strukturell und qualitativ gleich sind. Dafür, dass Online- und Offline-Kommunikation die Qualität der Beziehung unterschiedlich beeinflussen, sprechen folgende medienwissenschaftliche Ansätze. Eine Reihe an Modellierungen zur Veränderung von persönlichen Beziehungen durch SNS bzw. computervermittelte Kommunikation (CvK) (engl. „computer-mediated-communication“ (CMC)) lassen sich gemäß dem medienökologischen Rahmenmodell unterscheiden (Döring 2003, S. 425).3 Demnach bedingen die Medienwahl, Medienmerkmale und das mediale Kommunikationsverhalten (bzw. Informationsverarbeitung) die Nutzungssituation und den daraus resultierenden Effekt auf die soziale Beziehung (Döring 2013). Theorien zu Medienmerkmalen gehen dann davon aus, dass die jeweiligen ausgewählten Medien wie z. B. Chats, E-Mails, Social-Networking-Sites bestimmte Merkmale aufweisen, die die Kommunikation beeinflussen. Die Grundannahme der Kanalreduktionstheorie wie auch der Filtertheorie besteht darin, dass die Kommunikation im Internet traditionell über geschriebenen Text vermittelt ist, bei dem wesentliche sprachliche Signale ausgeblendet werden (Döring 2003). Nach dem Kanalreduktionsmodell (1) fehlen bei der Online-Kommunikation im Vergleich zu Face-to-Face-Kontakten die meisten Sinneskanäle (z. B. Mimik, Gestik, Intonation und Sprachdynamik) und es entsteht ein enträumlichter, entzeitlichter und entemotionalisierter Austausch (Döring 2003, S. 149 ff., 2009, S. 651). Filter-Modelle (2) (Culnan und Markus 1987; Kiesler et al. 1984) hingegen folgen zwar der Kanalreduktionstheorie in der Annahme des Informationsverlustes, beziehen dies jedoch primär auf den soziodemografischen Hintergrund, der entscheidend für die Rollenerwartungen an eine Person ist (Döring 2003, S. 154). Die entstehende Anonymität und Pseudonymität führen demnach zu einem Nivellierungseffekt, insofern soziale Hemmungen, Kontrollen, Privilegien und Hürden abgebaut werden (Döring 2003, S. 155). Dies kann einerseits Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Offenheit andererseits Feindlichkeit, normverletzendes Verhalten und

3 An dieser Stelle sei auch auf Wright und Bell (2003) verwiesen, die sich explizit mit den empirischen Befunden zu Social Support und CvK auseinandersetzen.

236

P. Adebahr und P. Kriwy

Anomie verstärken (ebd.). Der Digitalisierungsansatz (3) geht davon aus, dass die hohe Transportgeschwindigkeit, die nahezu beliebige Erweiterung des Adressatenkreises und die automatische Verarbeitung digitaler Beiträge zur Verdinglichung der Netzwerke führen. Die Entstehung von Followern und Fans verändert dabei die Reziprozitätsstruktur (vgl. Döring 2003, S. 157). Theorien zum medialen Kommunikationsverhalten befassen sich mit dem Verhalten in einer CvK-Situation (Döring 2013, S. 428). Beim Ansatz der sozialen Informationsverarbeitung (1) (Social Information Prosessing Theory, SIPT) wird argumentiert, dass mediale Einschränkungen durch den User kompensierbar sind z. B. über mitgelieferte Links zu SNS, Google-Recherche oder dass die Informationen wie Gefühle und Gedanken verbal expliziert werden (Walther 1992). Der Ansatz der Virtualisierung (2) folgt der These, dass Personen im Internet ganz neue Identitäten annehmen oder verheimlichte Identitäten ausleben können (McKenna und Bargh 1988). Zudem können Effekte sog. „hyperpersonaler Interaktionen“ entstehen. Das heißt, Kommunikationspartner erscheinen durch die CvK interessanter und sympathischer, als sie in der Face-to-Face-Situation wären (Informationslücken werden hier durch persönliche Präferenzen ausgefüllt) (Walther 1996). Dass sich im Internet spezielle Communities bilden mit eigenen Normen, die zugleich die Zugänge im Internet begrenzen, greift das Modell der Netzkultur auf (3) (Döring 2013, S. 429). Beispielsweise wird die Wikipedia-Community von jungen, gebildeten, technikaffinen Männern dominiert, die strenge Regeln zur Erstellung von Einträgen vorgeben (vgl. Döring 2013, S. 429, als weiteres Beispiel hier zu Shitstorms siehe Stegbauer 2018). Sowohl auf Beziehungs- wie auch auf Netzwerkebene zeigen sich empirisch keine eindeutigen Evidenzen für Besonderheiten von SNS gegenüber Offline-Netzwerken. Trotzdem gibt es Indizien (z. B. Fake-Identities oder Genderswitching) (Misoch 2006, S. 117), dass SNS-Netzwerke den Charakter von sozialen Netzwerken verändern auch aufgrund der großen Vielfalt an Nutzungs- und Aneignungsweisen.

2.3

Theoretische Konzeption des Zusammenhangs zwischen SNS und Gesundheit

Den Zusammenhang von sozialen Netzwerken und Gesundheit beschreibt bereits Jungbauer-Gans (2002) in Anlehnung an die Metaanalyse von House et al. (1988b) zum gleichen Thema. Der Einfluss sozialer Netzwerke auf die Gesundheit eines Individuums kann demnach von drei Ebenen ausgehen (vgl. House et al. 1988a, b; Jungbauer-Gans 2002, ähnlich siehe Klein et al. 2002):

Einfluss sozialer Netzwerke auf Gesundheit

1. Durch soziale Integration bzw. Isolation auf der Makroebene des Netzwerkes (vgl. auch Durkheim 1983) 2. Auf der Strukturebene durch Merkmale des Netzwerkes wie Größe, Dichte, Heterogenität, Multiplexität, etc. und den damit verbundenen Opportunitäten und Zugängen zu Ressourcen 3. Auf der Beziehungsebene: • Durch „positiven“ Social Support (auf instrumenteller, emotionaler und informationeller Ebene; Kienle et al. 2006, S. 108) • Durch „negativen“ Social Support bzw. soziale Konflikte und soziale Belastungen (vgl. auch Laireiter und Lettner 1993) und durch soziale Orientierung bzw. soziale Regulation als Folge der Sanktionierung durch „positiven“ oder „negativen“ Social Support

Diese Betrachtung wird hier um die Komponente der SNS ergänzt. SNS werden in Anlehnung an Mehta und Atreja (2015, S. 121) als Medium bzw. Kommunikationskanal integriert. Einerseits gibt es bezogen auf die Nutzung von SNS ein sozial selektives Angebot von Social Support, Belastungen und Orientierungen, andererseits gibt es eine sozial selektive Suche von Social Support und Orientierungen (für einen guten Überblick zum Gesundheitsinformationsverhalten siehe z. B. Baumann und Hastall 2014; Rossmann et al. 2018). Da eine körperliche Präsenz in SNS nicht gegeben ist, können sich SNS nicht direkt auf die physische Gesundheit auswirken (z. B. durch körperliche Verletzung, Infektionen und Ansteckung). Aus diesem Grund wird das Gesundheitsverhalten als Vermittlungsvariable eingeführt. Ein direkter Einfluss SNSvermittelter-Kommunikation auf die psychische Gesundheit ist hingegen hinlänglich belegt (siehe zur empirischen Evidenz Abschn. 3.2). Die Kontextvariable „soziale Ungleichheit“ wirkt im Modell von Jungbauer-Gans (2002) als „potenzielle exogene Determinante“ sowohl auf das soziale Netzwerk, als auch auf die individuelle Gesundheit und das Gesundheitsverhalten von Ego (vgl. House et al. 1988b; Jungbauer-Gans 2002, S. 58). Wie in Abschn. 3 veranschaulicht, wird die Nutzung von SNS sowie die Verarbeitung von Inhalten in SNS ebenfalls durch soziale Ungleichheiten beeinflusst. In der einschlägigen Literatur zum Zusammenhang von sozialen Netzwerken und Gesundheit wurden mehrere Hypothesen diskutiert. Die Main-Effekt-Hypothese besagt, dass soziale Beziehungen direkt die Gesundheit von Personen beeinflussen (z. B. durch Gewaltausübung, Social Support, soziale Belastungen) (vgl. Klein et al. 2002). Nach der Buffering-Hypothese (bzw. Pufferhypothese) haben soziale Beziehungen nur in Stresssituationen Auswirkungen auf die

20

Soziale Online-Netzwerke und Gesundheit

237

Abb. 1 Zusammenhang von sozialen Netzwerken, SNS und Gesundheit

Gesundheit, indem sie Distress abfedern können (Moderatoreffekt) (vgl. Klein et al. 2002).4 Pfadhypothesen gehen hingegen davon aus, dass der Einfluss von sozialen Netzwerken auf die Gesundheit vermittelt stattfindet (z. B. indem sie das individuelle Gesundheitsverhalten verändern) (vgl. Klein et al. 2002). Sowohl Jungbauer-Gans (2002) als auch Klein et al. (2002) und Gross und Kriwy (2013) konnten auf Basis allgemeiner Bevölkerungsbefragungen keinen Puffereffekt feststellen, sodass diese Komponente nicht im Modell aufgegriffen wird.5 Die Main-Effekt-Hypothese ist in das Modell als gestrichelte Linie und die Pfad-Hypothese als gepunktete Linie eingeflossen (Abb. 1).

2.4

Herausforderungen der Forschung zu SNS

An dieser Stelle werden einige methodische Herausforderungen bezüglich der empirischen Forschung zu SNS dargelegt. Existierende Studien beziehen sich meist auf plattformspezifische (Facebook, YouTube, Twitter etc.), nicht-repräsentative Stichproben ohne Offline-Vergleichspopulation. Zudem sind einige inhaltlich auf einzelne Gruppen wie Heranwachsende, Studierende, Diabetiker etc. oder Einzelphänomene wie Fake-Identities oder Genderswitching (Misoch 2006, S. 117) begrenzt und nur eingeschränkt vergleichbar. Darüber hinaus werden oft die passiven User nicht berücksichtigt. Dies gilt es besonders bei Forenanalysen einschränkend zu

4 Die Unterscheidung von Eu- und Distress begründete Selye (1976). Für aktuellere Forschung siehe z. B. Nelson und Simmons (2003). 5 Die Puffer-Hypothese wurde in vielen Studien getestet und in gewissen Settings belegt, dennoch bleibt unklar, unter welchen Bedingungen (Beziehungen und Stressoren) diese zutrifft und warum sie auf Bevölkerungsebene nicht nachgewiesen wird, vgl. Gellert et al. (2018).

beachten, da nur bestimmte Personen Beiträge zu bestimmten Themen schreiben. Nationenbezogene Auswertungen stoßen ebenfalls schnell an ihre Grenzen, da SNS überwiegend große Gebilde mit weltweit oft mehreren Tausend bis Millionen Usern sind (Mislove et al. 2007). Auch die rasche technische Entwicklung, zuletzt z. B. durch mobile Endgeräte und höhere Datenverarbeitungsgeschwindigkeiten, schließt die Generalisierung über mehrere Zeitpunkte aus. Viele Analysen versuchen Kausalitäten aufzuzeigen, die mit den dort vorgebrachten Mitteln nicht belegbar sind. Entsprechend eingeschränkt ist die Vergleichbarkeit und Generalisierbarkeit der Ergebnisse bisheriger Untersuchungen. In der Diskussion um den Einfluss von SNS auf die Gesundheit sollte zunächst festgehalten werden, von welchem Gesundheitsbegriff ausgegangen werden kann. Hierbei gilt es zu unterscheiden, ob subjektive oder objektive Gesundheit die Zielgröße darstellt. Subjektive Gesundheit (engl. „self rated health“ – SRH) wird situationsbezogen erhoben und ist daher teilweise anfällig für kurzzeitige Beeinträchtigungen (akute Erkältung, Durchfall, Liebeskummer etc.). Dennoch weist SRH eine hohe Kriteriumsvalidität auf, da die Korrelation zur Summe der vorliegenden Erkrankungen (Morbidität) hoch ist (Kriwy und Mielck 2006) und SRH zudem eine hohe prognostische Validität bezüglich Mortalität aufweist (Carstensen 2018). Objektive Gesundheit kann durch die Erfassung von Erkrankungen (Medizinische Anamnese: Vorerkrankungen, Operationen, Knochenbrüche etc.), Laborwerten oder Registerdaten ermittelt werden. Solch ein aufwändiger Ansatz wird beispielsweise in der Nationalen Kohorte verfolgt, an der derzeit ca. 200.000 Personen in Deutschland teilnehmen (Wichmann et al. 2012). Selbst wenn, wie bei der Nationalen Kohorte, eine Folgebefragung innerhalb von fünf Jahren realisiert wird, so ist es dennoch schwierig, Gesundheitseffekte von SNS zu messen, da nur eine Teilmenge der Befragten eine bedeutsame Veränderung des Gesundheitsstatus im Beobachtungszeitraum aufweisen wird.

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P. Adebahr und P. Kriwy

3

Empirische Evidenz zu Gesundheit und sozialen Online-Netzwerken

3.1

Gesundheitliche Einflüsse auf die SNS-Nutzung

gibt jedoch Hinweise dazu, dass es sich mit psychiatrischen Auffälligkeiten im Internet „leichter lebt“ (Blumer und Renneberg 2010), was die Nutzung von SNS einschließt.

3.2 In diesem Abschnitt wird Gesundheit als ursächlich für die variierende Nutzung von SNS betrachtet. Aus der Literatur ist bekannt, dass sich Freunde allgemein abwenden, sobald Erkrankungen auftreten (Fegg et al. 2008). Menschen speziell mit Behinderung weisen eine signifikant höhere Nachfrage nach sozialer Interaktion im Netz auf (van Deursen und van Dijk 2014). Diese wichtige Zusammenhangsrichtung ist bislang in der nationalen wie auch internationalen Forschungslandschaft wenig bis gar nicht berücksichtigt worden. Der Grund hierfür liegt in den besonderen Limitationen der empirischen Sozialforschung, wenn variierende Gesundheit sowohl als zu erklärendes Phänomen als auch, wie hier, als Ursache für Lebenschancen erforscht werden soll. In einer Studie mit Daten des SOEP der Wellen 2002–2008 wurde herausgefunden, dass eine Verschlechterung der Gesundheit eine signifikante Verringerung der Zufriedenheit mit den sozialen Kontakten nach sich zieht (Kriwy und Nisic 2012). Einschlägige Literatur speziell zu kausalen Gesundheitseffekten auf die soziale Online-Einbindung liegt nach unserem Wissen bislang nicht vor. Es kann jedoch basierend auf den Ergebnissen der oben genannten Studie und dem dünnen Stand der Forschung (van Deursen und van Dijk 2014) vermutet werden, dass gesundheitliche Einschränkungen, die die Bedienung von Tastatur oder Smartphone nicht beeinträchtigen, eine intensivere Nachfrage nach Interaktionen vermittelt über SNS bewirken. Beispielsweise geht stark erhöhtes Körpergewicht einerseits signifikant mit aktiverer Wall-PostAktivität und andererseits mit einer ebenfalls signifikant geringeren Anzahl von Foto-Tags bei der Facebook-Nutzung einher (Kriwy und Durst 2016). Auch wenn die hier verwendeten Daten im Querschnitt vorliegen, ist dennoch zu vermuten, dass das Übergewicht der Probanden „zuerst vorlag“ und daraufhin weniger Fotos in SNS hochgeladen werden, die dann auch eine geringere Wahrscheinlichkeit produzieren, Foto-Tags anzusammeln. Auch in psychiatrischen Einrichtungen wird das Internet genutzt. Personen mit Substanzabhängigkeit haben eine höhere und Personen mit Depressionen eine geringere Nutzungshäufigkeit. Kommunikative Formen der Nutzung (Chat, E-Mail) sind bei psychiatrischen Patienten weniger häufig als die Informationssuche (Wöller 2005). Suchtartige Internetnutzung wird auch als komorbide Störung im jugendpsychiatrischen Bereich erforscht. Hierzu ist die standarisierte Skala zum Online-Suchtverhalten (OSV-S) dienlich, die auch die Nutzung von SNS erfasst (Müller et al. 2012; Wölfling et al. 2011). Auch hier ist eine kausale Abfolge mit der vorliegenden Datenlage nicht eindeutig belegbar. Es

Gesundheitliche Folgen der SNS-Nutzung

Thematisch lässt sich eine ausgeprägte Forschung zur Gesundheitswirkung von OHC im Speziellen identifizieren und weniger zu SNS generell (eine gute Übersicht bietet Braasch 2018, S. 123). Die Studien belegen eine fördernde Wirkung der Online-Support-Group bei der Bewältigung von Krankheiten durch das Vermitteln von Social Support (siehe z. B. Winzelberg et al. 2003). Nur sehr wenige Studien greifen hierbei auf die Methode der Netzwerkanalyse zurück (Meng et al. 2017, S. 45). In vielen Studien wird implizit eine Kausalität von SNS-Nutzung auf die Gesundheit angenommen. Utz und Breuer (2017) versuchen diese Lücken mittels Strukturgleichungsmodellen und Paneldaten zu schließen. Sie zeigen, dass niederländische SNS-User signifikant mehr Online Social Support erzielen als Nicht-User (Utz und Breuer 2017, S. 119). Hwang et al. (2010, S. 12) kommen zu dem Schluss, dass sich Online und Offline Social Support prinzipiell gleichen, zumindest bei der Betrachtung einer Online-Support-Group zur Gewichtsreduktion. Wobei festzuhalten ist, dass der Zugang zu Social Support über das Online-Medium bequemer, anonymer und mit weniger sozialen Verurteilungen verbunden ist (Hwang et al. 2010, S. 12). Mo und Coulson (2008) greifen eine um die Komponenten Netzwerk-Support und Esteem-Support erweiterte Typologie von Social Support auf und überprüfen deren Auftreten in einer HIV/AIDS-Online-Support-Group. Demnach stellt Unterstützung durch Ratschläge und Informationen die häufigste geleitete Unterstützungsform dar (Informational Support: 45 % aller Posts in der Online-Gruppe), gefolgt von emotionaler Unterstützung (35 %) und Unterstützung des Selbstbewusstseins z. B. durch Komplimente (EsteemSupport 12 %). Netzwerk-Support (z. B. indem Kontakt zu neuen Mitgliedern in der Gruppe hergestellt wird) und instrumentelle Unterstützung durch das Erledigen von Aufgaben oder Überlassen materieller Güter (engl. „tangible assistance“) treten mit 7 % bzw. 1 % selten auf. Mit den Bedingungen und Voraussetzungen zur Nutzung von SNS für Social Support beschäftigten sich beispielsweise Pfeil et al. (2009); McLaughlin et al. (2012) und Davis et al. (2015). Vor allem bei als unzureichend wahrgenommener Offline-Unterstützung wenden sich User virtuellen Hilfegruppen zu (Bender et al. 2008; Donelle und Hoffman-Goetz 2008). Braasch listet resümierend folgende Bedingungen für effektiven Social Support auf: Dazu zählen das Vorwissen über das Medium, damit verbunden das Vertrauen in das

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Soziale Online-Netzwerke und Gesundheit

Medium sowie die Bereitschaft zur Selbstoffenbarung (Pfeil et al. 2009). Damit stimmen die Gründe für die Entscheidung bestimmte technologische Angebote zu nutzen und die Bedingungen für effektiven Social Support über das Internet grundlegend überein (van Dijk 2017). Pfeil et al. (2009) stellen zudem heraus, dass tief greifender Social Support (im Vergleich zu oberflächlichem Social Support (alltäglich und einfach)) nur in krisenhaften Lebensphasen geleistet wird (Pfeil et al. 2009). Dafür spricht auch der Befund, dass pflegende Angehörige eher SNS für gesundheitsbezogene Zwecke verwenden als andere SNS-User (Fox 2011, S. 7). Zu den weiteren Gründen für die gesundheitsbezogene Nutzung von SNS zählen unter anderem die geringen Opportunitätskosten. Virtuelle Hilfegruppen sind leicht verfügbar, unverbindlich und anonym (Nehasil 2014; Oprescu 2009; Rapach 2009). Ein weiterer wichtiger Parameter für die Nutzung von virtuellen Hilfegruppen scheint die Validierung durch vertrauenswürdige Personen und die übermittelte Ordnung der Informationen zu sein (vgl. Pang et al. 2014; Sarasohn-Kahn 2008). Auf die besondere Rolle von SNS für Social Support in ländlichen Regionen weist Park (2010) hin. Die geringen Kosten und zeitliche Flexibilität von Online-Nachrichten fördert den Austausch von Social Support auch mit weit entfernten Kontakten (Braasch 2018, S. 134). Zu beachten sind auch das Zusammenspiel von Gesundheitsinformationen (engl. „informational support“) und Gesundheitskompetenz (engl. „health literacy“). Zhang (2011) untersucht in einer qualitativen Studie die Suche von Gesundheits- und Wellnessinformation von Studierenden in SNS und kommt zu dem Schluss, dass eine solche Suche unüblich ist. Facebook wird als nicht-adäquate und nichtvertrauensvolle Quelle für Gesundheitsinformationen wahrgenommen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Newman et al. (2011) und Hambrock (2018). Deskriptive Befunde von Fox verweisen darauf, dass bei der Nutzung von SNS andere Funktionen im Vordergrund stehen. 23 % der SNS-User nutzen diese, um über den Gesundheitszustand von Freunden informiert zu sein, 17 % um an Personen erinnert zu werden, die an einer Krankheit leiden. Gesundheitsinformationen nahmen 15 % entgegen und 11 % posteten Beiträge (Fox 2011, S. 6 f.). OHCs hingegen werden deutlich häufiger für den Austausch von Gesundheitsinformationen genutzt. Nun stellt sich die Frage, was online-vermittelte Gesundheitsinformation tatsächlich zur Gesunderhaltung beitragen kann. Hier zeigt Fox (Fox 2011, S. 12), dass 30 % der US-Amerikaner (nach eigenen Angaben) Personen kennen, denen durch online-vermittelte Gesundheitsinformationen geholfen wurde, und nur 3 %, denen dadurch Schaden zugefügt wurde. Es bleibt offen, welche Online-Aktivitäten wie auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten wirken.

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Erlangen Personen, die Fragen und Antworten posten, gesundheitsförderlichere Informationen als stille Konsumenten bzw. passive User, die lediglich lesen und sich Bilder oder Videos ansehen? Auch der Einfluss der sozialen Bestimmungsfaktoren ist unklar. Bezogen auf behandelte Patienten konnten einige Studien keinen Zusammenhang zwischen soziodemografischen Angaben und dem Online-Informationsverhalten nachweisen (z. B. Moreland et al. 2015), andere hingegen zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen Online-Informationsverhalten und höherer Bildung sowie höherem Einkommen (z. B. Diaz et al. 2002). Auf inhaltlicher Ebene werden in OHCs Informationen zu Symptomen, Diagnosen, Behandlungen, Nebenwirkungen, Informationsquellen, Ärzten und Kliniken, finanzielle Unterstützung und Alltagshinweisen ausgetauscht (Eysenbach et al. 2004; Zhang 2010). Thematisch besteht eine große Vielfalt von OHCs. Bei den Forschungsarbeiten zu krankheitsbezogenen OHCs dominieren Arbeiten zu (Brust-)Krebs, HIV/AIDS, Depression, Multiple Sklerose, Übergewicht, Essstörungen, Migräne und traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen (Braasch 2018, S. 123 f.). Andere gesundheitsbezogene Themen sind z. B. Gesundheit im Allgemeinen, Selbstverletzung, Pflege von Menschen mit Behinderung, Schwangerund Mutterschaft, Kinderlosigkeit, Angehörige des Militärs, Suizid, Schwerhörigkeit, Sprechstörungen, Lehrkräfte und Alter (Braasch 2018, S. 123 f.). Neben gesundheitsförderlichen Hinweisen werden hingegen auch zweifelhafte Informationen verbreitet. Greene et al. (2011) stellen fest, dass im Bereich Diabetes inakkurate Informationen oft mit bestimmten Produkten oder Dienstleistungen verbunden sind. Nach Eysenbach et al. (2002) wiesen 57 von 79 Studien ihrer Metanalyse nach, dass die Qualität der Informationsangebote im Internet Mängel aufweisen. Dies löste bereits damals eine breite Debatte über die Qualitätssicherung von gesundheitsbezogenen Informationen im Internet aus (Eysenbach 2003). Mittlerweile richtet sich eine steigende Zahl an Gesundheitsdienstleistern auf die sozialen Online-Netzwerke und Plattformen ein, um Informationen und Präventionsmaßnahmen zu verbreiten (Holt 2011; Scanfeld et al. 2010). Die Wirkung der Gesundheitsinformationen ist schwer zu erfassen, da Gesundheitseffekte oft erst lange nach einer dauerhaften Verhaltensänderung sichtbar werden. Zudem deuten Tiefeninterviews von Hambrock darauf hin „[. . .], dass Menschen nicht so rational-logisch vorgehen und nach faktischen, möglichst ‚wahren‘, medizinisch belegten Informationen suchen, wie es der Begriff ‚Gesundheitsinformationen‘ nahelegen könnte. Vielmehr werden bei der Suche und Auseinandersetzung mit Gesundheitsinformationen emotionale und psychologische Motive mitbehandelt.“ (2018, S. 7). Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass die Antwortenden bei fehlendem Wissen auf das Geben emotionaler Unterstützung ausweichen (Hether 2009).

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P. Adebahr und P. Kriwy

Als nächstes wird sich der emotionalen Komponente gewidmet. Emotionale Unterstützung (engl. „emotional support“) kann durch soziale Offline-Netzwerke in Form von Mitleid, Trost sowie Sympathie, Liebe als auch durch Vertrauen, Zuspruch, und Wertschätzung u. ä. kommuniziert werden (vgl. Cohen 2004; House und Kahn 1985; Schwarzer 2000). Dies verändert sowohl das Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl als auch die psychische Gesundheit von Individuen (engl. „mental health“). Zahlreiche Studien belegen, dass in OHCs und SNS emotionale Unterstützung geleistet wird (Maloney-Krichmar und Preece 2005; Setoyama et al. 2011; Shaw et al. 2006; Wright 2012). Auch bei der Bewältigung von Traumata und Todesfällen können SNS und OHCs hilfreich sein (Doeveling 2015; Winzelberg et al. 2003). Allein zu wissen, dass Freunde beim Instant-Messaging online sind, erweist sich als förderlich. Es verbessert die Selbstwirksamkeitseinschätzung, verringert Stress und erhöht die Wahrscheinlichkeit, Unterstützung zu suchen (Feng und Hyun 2012). Zudem können Freunde und Moderatoren der OHCs intervenierend eingreifen, auf ernst zu nehmende Störung hinweisen und Personen auffordern, professionelle Hilfe zu suchen (vgl. Dosani et al. 2014). An dieser Stelle soll nicht nur auf die gesundheitsförderlichen Aspekte der SNS und OHCs eingegangen werden. Zu negativen Folgen von SNS äußert sich beispielsweise Parsell (2008). Er hebt hervor, dass einerseits Einstellungen und Vorurteile polarisieren können, was zur sozialen Spaltung führt. McNeil et al. (2012) zeigten, dass 41 % der Tweets über Epilepsieanfälle abwertend waren und zu negativen Einstellungen gegenüber Epilepsie beitrugen. Darüber hinaus kann jüngst die Debatte um „Fat Shaming“ angeführt werden, die primär über Online-Plattformen geführt wurde (Adebahr und Lehmann 2017). Verwandte Themen sind beispielsweise Cyber-Bullying, Sexting, Flaming und Shitstorms, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann (Fawzi 2009, für einen Überblick zu Cyberbullying siehe Kowalski und Whittaker 2015, zu Shitstorms siehe Stegbauer 2018).

4

Fazit und Ausblick

Der vorliegende Beitrag behandelt den Zusammenhang zwischen SNS und Gesundheitsrisiken bzw. -chancen. Um diese Frage zu beantworten, wurden zunächst die Begriffe SNS (Social Network Sites), OSN (Online Social Networks) und OHC (Online Health Community) voneinander abgegrenzt. Daran schloss die Betrachtung der Unterschiede zwischen Online- und Offline-Netzwerke an. Dabei stellte sich heraus, dass, soweit die Studien diese Aussage zulassen, der Unterschied nicht besonders groß zu sein scheint. Aber auch eine Bestätigung der Annahme, dass Online- und Offline-Netzwerke strukturell gleich sind (Größe, Dichte, Heterogenität), blieb bisher aus. Dies liegt nicht zuletzt an den in Abschn. 2.4 genannten methodischen Problemen (vgl. auch Meng et al. 2017). In Anlehnung an

Jungbauer-Gans (2002) und House et al. (1988a) wurde ein theoretisches Rahmenmodell entwickelt, um den Zusammenhang von SNS und Gesundheit theoretisch zu erklären. Wichtig ist dabei die Feststellung, dass soziale Plattformen ein soziales Medium sind, auf denen soziale Prozesse stattfinden. Das Zusammenwirken von SNS bzw. OHCs und Gesundheit sollte demzufolge differenziert betrachtet werden, da diese Möglichkeiten von den Usern unterschiedlich für Gesundheitsbelange genutzt werden. OHCs dienen eher der informationellen Unterstützung, wohingegen in SNS eher emotionaler Support vermittelt wird. Auch wenn häufig nur die gesundheitlichen Folgen von SNS betrachtet werden, ist die Erforschung des umgekehrten Zusammenhangs (Gesundheit auf SNS-Nutzung) nicht zu vernachlässigen. Es wird deutlich, dass sowohl gesundheitsförderliche Effekte als auch gesundheitsgefährdende Mechanismen online stattfinden, inwiefern diese jedoch eine andere Qualität haben als die Offline-Prozesse bleibt bis dato nur zu vermuten. Auch aufgrund der wenigen Vergleichsstudien in diesem Forschungsfeld bleiben noch viele Fragen unbeantwortet. Die meisten Studien beziehen sich auf Facebook, dem derzeitigen Marktführer unter den SNS. Eine Ausweitung des Spektrums z. B. auf YouTube, Instagram, Twitter oder themenbezogenen Netzwerken wie ResearchGate, Xing u. v. m. wird als sinnvoll erachtet. Erstens, um die unterschiedlichen Effekte zwischen den Online-Plattformen zu ermitteln, und zweitens, um allgemeine Aussagen ableiten zu können (vgl. Meng et al. 2017). Häufig fehlen auch Offline-Vergleichsgruppen, sodass die Besonderheiten der OnlineBeziehungen nicht ermittelt werden können. Zudem fehlt eine klare Begriffssystematisierung, sodass häufig schwer nachvollziehbar ist, ob mit den verwendeten Begriffen dasselbe oder unterschiedliche Phänomene bezeichnet werden. Die Begriffsvielfalt hängt einerseits mit den verschiedenen Disziplinen zusammen, die sich mit dem Gegenstand SNS beschäftigen (z. B. Informatik, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften u. v. m.), andererseits handelt es sich bei SNS um ein vergleichsweise neues Phänomen, sodass sich noch keine allgemein anerkannten Definitionen etablieren konnten (Heidemann 2010, S. 263). Wenn verschiedene Online-Tools durch Verlinkung ineinander verflochten werden, ist der Einfluss der SNS zudem empirisch schwer zu isolieren. Einige Forschungsarbeiten zur Evaluation von Gesundheits-Apps begegnen diesem Problem mit der Verwendung von Experimentaldesigns bzw. Randomized controlled trials (RCT) (Stephens und Allen 2013, S. 4 f.). Thematisch lässt sich eine ausgeprägte Forschung zur Gesundheitswirkung von Online-(Selbst)-Hilfegruppen im Speziellen identifizieren und weniger zu SNS (eine gute Übersicht bietet Braasch 2018, S. 123). Dabei bleibt auch die dynamische Beziehung zwischen SNS-Nutzung und Social Support außer Acht. Auch der Einfluss von PSR („parasocial relationships“) auf das soziale Netzwerk und deren Prozesse ist noch weitgehend unerforscht.

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Soziale Online-Netzwerke und Gesundheit

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Teil IV Gesundheitspsychologie

Modelle von Gesundheit und Krankheit

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Svenja Roch und Petra Hampel

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

2

Gesundheitsdefinition der WHO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

3 3.1 3.2 3.3

Krankheitsbezogene Ätiologiemodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biomedizinisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biopsychosoziales Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vulnerabilitäts-Stress-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

248 248 249 250

4 Positive Betrachtung von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4.1 Salutogenese-Modell von Antonovsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 4.2 Wellness-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 5

Entwicklung eines neuen dynamischen Konzeptes der „positiven Gesundheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

6

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

1

Einleitung

Die Gesundheit ist ein Thema, das die Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt. Sie kann als höchstes Gut angesehen werden und ist etwas sehr Persönliches, da die eigene Gesundheit nur von der Person selbst direkt erlebt wird. Gleichzeitig betrifft sie die Gesellschaft als Ganzes, indem sich zum einen das gesellschaftliche Umfeld auf die Gesundheit des Einzelnen auswirkt und zum anderen die Gesundheit jedes Mitglieds die Gesellschaft beeinflusst. Im Laufe der Zeit wurden immer neue Theorien und Modelle entwickelt, die aktuelle Erkenntnisse über Risiken und Förderfaktoren für die Gesundheit eines Menschen beinhalten und deren Erhalt zu erklären versuchen. Diese

S. Roch (*) Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Hampel Institute of Health, Nutrition, and Sport Sciences, Europa-Universität Flensburg, Flensburg, Deutschland E-Mail: petra.hampel@uni-flensburg.de

Modelle repräsentieren dabei nicht nur den jeweils aktuellen Wissensstand, sondern sind auch von der Profession, der kulturellen Umwelt und des Arbeitsfeldes ihrer Entwickler sowie vom Weltbild der jeweiligen Zeit abhängig. Der vorliegende Beitrag bietet eine Übersicht über einige Modelle von Gesundheit und Krankheit, beginnend mit der Definition von Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1948. Dabei wird sowohl auf medizinisch orientierte als auch psychosozial ausgerichtete Modelle eingegangen und zusätzlich die Rolle der sozialen Umwelt betrachtet. Es folgen die positive Betrachtung von Gesundheit sowie aktuelle Überlegungen zu einem neuen dynamischen Konzept von Gesundheit, welches durch die Idee der positiven Gesundheit geprägt ist. Unberücksichtigt bleiben jedoch Theorien über Gesundheit und Krankheit, die aus nicht-westlichen Kulturen stammen, da eine Darstellung dieser Modelle den Rahmen des vorliegenden Beitrags überschreiten würde. Eine kurze Übersicht über die Geschichte der Gesundheitsbetrachtung und die Berücksichtigung des kulturellen Hintergrundes ist bei Ragin (2018, S. 4 ff.) zu finden.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_23

247

248

2

S. Roch und P. Hampel

Gesundheitsdefinition der WHO

Bevor auf verschiedene Modelle eingegangen wird, soll zunächst die Komplexität des Gesundheitsbegriffs thematisiert werden. Dazu wird im Folgenden die Gesundheitsdefinition der WHO von 1948 vorgestellt, die bis heute gültig ist. " Definition Gesundheit „Die Gesundheit ist ein Zustand

des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (Weltgesundheitsorganisation 2014, S. 1) Mit der Definition der WHO wurde ein neues Konzept von Gesundheit eingeführt, die zuvor sehr biologisch und ohne Berücksichtigung psychischer oder sozialer Aspekte betrachtet wurde. Die WHO stellt Gesundheit als einen von Krankheit abgrenzbaren Zustand dar, der sich nicht allein durch das Fehlen einer Krankheit auszeichnet, sondern vielmehr als ein vollständig positiver Zustand angesehen wird. Dabei werden das körperliche, psychische und soziale Wohlbefinden gleichermaßen betrachtet, wodurch sich Gesundheit nicht mehr nur auf ein Individuum bezieht, sondern auch die Einflüsse der (sozialen) Umwelt berücksichtigt werden. Allerdings wurde die Definition der WHO insbesondere aufgrund des dichotomen Konzeptes kritisiert. Durch die klare Abgrenzung können Gesundheit und Krankheit mit zwei Zuständen eines Lichtschalters verglichen werden: Der Schalter kann entweder eingeschaltet oder ausgeschaltet sein, auf Gesundheit oder auf Krankheit stehen, jedoch sind Zwischenstadien nicht vorgesehen (Abb. 1; W. Jacobsen, persönliche Mitteilung, 27.10.2017). In Kombination mit der Vollkommenheit des Wohlbefindens, die als notwendig für die Gesundheit angesehen wird, ist die Definition der WHO als utopisch anzusehen. Nur wenige Menschen erfüllen dieses Kriterium und auch bei ihnen wird der Zustand nur für eine kurze Zeit anhalten, bevor einer der drei Bereiche (körperlich, psychisch oder sozial) nicht mehr durch vollkommenes Wohlbefinden beschrieben werden kann. Somit kann es unter Berücksichtigung dieser Definition zu Konflikten mit der eigenen Sicht-

weise auf die individuelle Gesundheit kommen, da Personen sich als gesund wahrnehmen können, obwohl es ihnen z. B. in sozialer Hinsicht weniger gut geht („Andere haben es besser als ich, aber immerhin bin ich gesund.“). Kritisch zu betrachten ist zudem der mit der Definition implizit einhergehende Auftrag an die Heilberufe, diesen vollkommenen Zustand wiederherzustellen. Darüber hinaus hilft eine Definition zwar dabei, sich auf ein gemeinsames Verständnis von Gesundheit zu einigen, sie bietet aber keine Erklärungen für die Entstehung von Krankheit oder Ansätze zur Förderung der Gesundheit. Dafür werden wissenschaftliche Modelle benötigt, von denen einige im Folgenden dargestellt werden.

3

Krankheitsbezogene Ätiologiemodelle

Die Wichtigkeit der Gesundheit wird einem Menschen häufig erst dann bewusst, wenn die eigene oder die Gesundheit einer nahestehenden Person gefährdet ist. Dies erklärt die Sichtweise früherer Modelle, die sich mit der Frage beschäftigten, wie Krankheiten entstehen und welche Faktoren an der Pathogenese beteiligt sind. Im Fokus steht hier die Krankheit, wodurch die Gesundheit eher indirekt durch die Abwesenheit von Krankheit erkannt wird. Die früheren Modelle fokussierten zunächst auf biologische Prozesse, doch auch psychosoziale Faktoren wurden schon vor einigen Jahrzehnten zur Erklärung der Pathogenese herangezogen.

3.1

Biomedizinisches Modell

Mit der Gesundheitsdefinition der WHO (2014, S. 1) erfolgte ein klarer Schnitt zur vorher lang vorherrschenden (bio-) medizinischen Sichtweise auf Erkrankungen. Dieses alte und doch heute noch weit verbreitete und viel genutzte Modell entwickelte sich mit der naturwissenschaftlichen Wende Ende des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit wurde die Keimtheorie entwickelt, die erstmals den Einfluss von Mikroorganismen bei der Entstehung von Krankheiten postulierte. Durch die Entdeckung der direkten, kausalen Verbindung zwischen einer Infektion mit Mikroorganismen und dem Ausbrechen einer bestimmten Erkrankung sowie der daran orientierten Eindämmung einer Übertragung konnten weitere Infektionen vermieden werden. " Das biomedizinische Modell sieht die Ursache von Krankheiten allein in den körperlichen Schädigungen und Funktionseinschränkungen von Organen.

Abb. 1 Gesundheit und Krankheit als dichotome Zustände, die mit den zwei Zuständen eines Schalters vergleichbar sind. (Angelehnt an W. Jacobsen, persönliche Mitteilung, 27.10.2017)

In diesem Modell wird Krankheit als Störung von Körperfunktionen oder Schädigung von Körperstrukturen verstanden, die auf physiologische Faktoren, wie sie durch die

21

Modelle von Gesundheit und Krankheit

Infektion mit Mikroorganismen entstehen können, zurückgeführt werden. Diese Störungen bzw. Schädigungen können durch verschiedene und heutzutage immer feinere Diagnosetechniken als Abweichungen von normalen Körperfunktionen und -strukturen festgestellt werden. Sie werden als Unterschied von der Norm angesehen (Engel 1977), die es zu beheben gilt. Aufgrund der klar beschreibbaren Diskrepanzen ist es im Rahmen dieses Modells wiederum möglich, für jede Erkrankung eine spezifische Ätiologie und darauf aufbauend die Pathogenese zu bestimmen. Ein entscheidendes und zugleich kritisches Merkmal des biomedizinischen Modells ist die Trennung von körperlichen und psychischen Prozessen. Durch die stark naturwissenschaftliche Ausrichtung ergab sich der Versuch, alle Prozesse und Abweichungen von der Norm objektiv messbar zu machen, wodurch sich das Modell ausschließlich mit körperlichen Aspekten beschäftigt. Diese klare Trennung ist jedoch nicht möglich, da der Einfluss von psychischen und sozialen Aspekten auf die Krankheitsentwicklung wissenschaftlich belegt wurde, auch wenn sie nicht in der Art objektiv messbar sind wie die biologischen Faktoren. Aus dieser Kritik ist u. a. das biopsychosoziale Modell hervorgegangen, das die drei Ebenen integriert und sie gemeinsam mit ihren Wechselwirkungen zur Erklärung von Pathogenese nutzt (Engel 1977). Obwohl somit schon früh die Grenzen des biomedizinischen Modells aufgezeigt und viele neuere Modelle entwickelt wurden, erlebt es weiterhin Relevanz. Dabei spielen gerade medizinische Durchbrüche wie neue Erkenntnisse und Möglichkeiten der Gentherapie und Psychopharmakologie eine zentrale Rolle, da sie den Fokus zurück auf die körperliche Betrachtung von Krankheit lenken und die psychischen und sozialen Aspekte durch biologische Prozesse zu erklären versuchen. Somit wird das Modell trotz der inzwischen schon 70 Jahre zurückliegenden Erweiterung des Krankheitsbegriffs durch die WHO und die vielfältigen neueren Modelle bis heute in Wissenschaft und Forschung genutzt, um die Entstehung von Krankheit zu erklären. Dies ist damit zu begründen, dass die Annahme, dass bestimmte physiologische Veränderungen mit bestimmten Erkrankungen zusammenhängen, auch aus heutiger Sicht korrekt ist. Diese Annahme reicht jedoch nicht für die Erklärung aller bekannten Erkrankungen aus, sodass auch auf andere Modelle zurückgegriffen werden muss.

3.2

Biopsychosoziales Modell

Das biopsychosoziale Modell wurde von dem Psychiater George L. Engel (1977) entworfen und umfasst als Erweiterung des biomedizinischen Modells sowohl psychische als auch soziale Aspekte und ergänzt damit die körperliche zu einer holistischen Sichtweise. Die psychischen Faktoren beziehen sich dabei auf Emotionen und Kognitionen; durch

249

die sozialen Faktoren wird der Einfluss der direkten sozialen Umwelt wie der Familie, aber auch die Wirkung von Kultur und der Gesellschaft sowie des Gesundheitssystems berücksichtigt. Dabei wird von vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den drei Bereichen ausgegangen, die sich entweder sofort oder mit einer zeitlichen Verzögerung zeigen können. Die Entwicklung eines neuen, erweiterten Modells war notwendig, da eine Abweichung von der Norm, wie sie im biomedizinischen Modell als Beschreibung von Krankheit genutzt wurde, nicht zwangsläufig einhergeht mit der menschlichen Erfahrung des Krankseins. Zusätzlich zu einer von der Norm abweichenden Körperfunktion oder einer Schädigung von Körperstrukturen ist somit die Wahrnehmung des Individuums und die Art und Weise, wie diese Wahrnehmung mitgeteilt wird, entscheidend. Diese wiederum sind durch psychische, soziale und kulturelle Faktoren beeinflusst. " Das biopsychosoziale Modell erweitert das biomedizinische Modell um psychische und soziale Faktoren. Gesundheit und Krankheit werden nicht länger als dichotome Zustände, sondern als Kontinuum angesehen.

Im biopsychosozialen Modell wird nicht länger von einer klaren Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit ausgegangen. Stattdessen wird ein Kontinuum angenommen, dessen Endpunkte Gesundheit und Krankheit sind. Dieses Kontinuum ist mit einem Dimmer vergleichbar, der eine stufenlose Einstellung der Helligkeit einer Lampe erlaubt (Abb. 2; W. Jacobsen, persönliche Mitteilung, 27.10.2017). Somit überwindet dieses Modell einen wichtigen Kritikpunkt der Gesundheitsdefinition der WHO (2014, S. 1), während es alle in der Definition enthaltenen Aspekte (biologisches, psychisches und soziales Wohlbefinden) aufnimmt. Anders als im biomedizinischen Modell, in dem biochemische oder mechanische Veränderungen, die auf Krankheitserreger zurückgeführt werden können, oder genetische Störungen für eine Erkrankung verantwortlich gemacht werden, hat das Individuum im biopsychosozialen Modell eine aktive Rolle. Krankheiten sind nicht mehr länger etwas, das einfach passiert, sondern es bestehen Möglichkeiten, über die psychischen und sozialen Faktoren auf das Erkrankungsrisiko oder bei bestehenden Krankheiten auf den weiteren Verlauf aktiv Einfluss zu nehmen. Obwohl es um psychische und soziale Faktoren erweitert wurde, wird das biopsychosoziale Modell teilweise dafür

Abb. 2 Gesundheit und Krankheit als Kontinuum

250

S. Roch und P. Hampel

kritisiert, dass weiterhin die biologischen Faktoren im Zentrum stehen und die anderen Faktoren eher als Ergänzung betrachtet werden. Dies hängt jedoch sehr von der betrachteten Erkrankung und häufig auch von den beteiligten Fachrichtungen ab, die jeweils mit ihren individuellen Schwerpunkten auf die Gesundheit und Krankheit schauen. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Fehlen der physischen Umwelt wie z. B. in Form von Schadstoffen in der Umwelt, die im biopsychosozialen Modell nicht explizit Berücksichtigung findet, jedoch ebenfalls einen direkten Einfluss auf Gesundheit und Krankheit hat. Anwendung findet das biopsychosoziale Modell u. a. in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), wobei es hierfür wesentlich erweitert wurde (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005, S. 4). Die ICF ist ein von der WHO entwickeltes Klassifikationssystem, das eine weltweit einheitliche Kommunikation über Krankheit und Krankheitsfolgen ermöglichen soll. Sie erlaubt Kodierungen in drei für die funktionelle Gesundheit wichtigen Komponenten, die gemeinsam die Funktionsfähigkeit beschreiben: Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten sowie Partizipation/Teilhabe. Darüber hinaus werden Kontextfaktoren (Umweltfaktoren sowie personenbezogene Faktoren) berücksichtigt, wodurch der gesamte Lebenshintergrund eines Menschen in der Klassifikation berücksichtigt wird. Dabei zeigt sich auch hier ein Kontinuum, da sowohl positive als auch negative Begriffe für die jeweiligen Aspekte genutzt werden können. Trotz der umfangreichen Erweiterungen können die Kernelemente der Komponenten dieses Klassifikationssystems in die biologischen, psychischen und sozialen Komponenten des Modells nach Engel (1977) eingeordnet werden.

3.3

Vulnerabilitäts-Stress-Modell

Eine spezifische Variante des biopsychosozialen Modells ist das Vulnerabilitäts-Stress-Modell oder auch Diathese-StressModell. Dabei liegt der Fokus auf der Interaktion der vier zentralen Komponenten: Vulnerabilität, Stress, Resilienz und Coping (vgl. Wittchen und Hoyer 2011, S. 20 ff.). Die Vulnerabilität ist die Anfälligkeit für eine Erkrankung und wird auch Disposition genannt. Sie kann durch genetische Anlagen bestimmt, aber auch im Verlauf des Lebens erworben werden oder durch eine Kombination dieser beiden Faktoren entstehen. Auch Risikofaktoren wie gesundheitsschädliches Verhalten können zur Entwicklung von Vulnerabilitäten beitragen. Die Vulnerabilitäten können jeweils biologischer, psychischer oder sozialer Natur sein. Relevant für die Entstehung einer Krankheit werden sie aber erst, wenn bestimmte Auslöser-Ereignisse eintreten, die aufgrund der

Vulnerabilität häufiger zur Krankheitsentstehung beitragen, als es ohne Vulnerabilität der Fall wäre. Ein möglicher Auslöser kann Stress sein. Er umfasst im Rahmen dieses Modells alle Situationen, die biologische, psychische oder soziale Anforderungen an eine Person stellen und eine Anpassungsreaktion auslösen. Dabei umfasst Stress sowohl die alltäglichen, eher diffusen Belastungen (minor stressors), die entweder kurzzeitig oder dauerhaft auftreten, als auch gravierende Lebensereignisse (major stressors) mit langfristigen Folgen, die zudem die Folgen der Alltagsbelastungen noch verstärken können (Hobfoll 2011). Das Ausmaß der Belastung und der Anpassungsreaktion ist von verschiedenen Faktoren der Person wie z. B. bestehenden Vulnerabilitäten oder auch gleichzeitig auftretenden anderen Stressoren abhängig. Ein weiterer Faktor, der das Ausmaß der Stressreaktion beeinflusst, ist die Resilienz. Sie steht in Verbindung mit Schutzfaktoren, die das Gegenstück zu Risikofaktoren sind, da sie die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Erkrankungen reduzieren. Resilienz ist eine Fähigkeit, die trotz starker Belastung eine günstige Reaktion auf die Situation und eine gesundheitsförderliche Bewältigung der Belastung ermöglicht. Dadurch ist auch bei vorhandener Vulnerabilität ein gesunder Umgang mit belastenden Situationen möglich. Diese Fähigkeiten können auf sozialen Faktoren wie sozialer Unterstützung, aber auch auf sozioökonomischen Umweltbedingungen wie dem sozioökonomischen Status beruhen, die adaptive Stressreaktionen begünstigen. Sie können aber auch auf biologischen oder psychischen Faktoren aufbauen, z. B. in Form von funktionalen im Gegensatz zu dysfunktionalen Denkmustern. Darüber hinaus ist Coping, das die Handlungskompetenz darstellt, wichtig für die Verarbeitung von Stresssituationen. Es bestimmt, wie gut eine Person mit herausfordernden oder bedrohlichen Situationen umgehen kann (vgl. Lazarus und Folkman 1987). Es kann genau wie Resilienz als Fähigkeit gesehen werden und beschreibt das Ausmaß, in dem flexibel und effizient auf Stress reagiert werden kann. Sie wird ebenfalls von Vulnerabilitäten beeinflusst. Die Grundannahme des Vulnerabilitäts-Stress-Modells ist, dass diese vier Komponenten nur in ihrer Wechselwirkung zu einer Erkrankung führen. Dies entspricht dem Wissen über Risikofaktoren, die zwar die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Erkrankung erhöhen, jedoch nicht die alleinigen Verursacher der Krankheit sind. Dabei kann die Bedeutung einzelner Faktoren, wie z. B. die Bedeutung der Bindung an die Eltern über die Lebensspanne, variieren, wodurch in diesem Modell entwicklungsbezogene Prozesse berücksichtigt werden. Durch die Betrachtung dieser verschiedenen Komponenten integriert das Vulnerabilitäts-Stress-Modell die Interaktionen von Anlage und Umwelt. Vereinfacht können die Belastungen als Summe von Alltagsstress (daily hassles, minor stressors)

21

Modelle von Gesundheit und Krankheit

251

Abb. 3 Vulnerabilitäts-StressModell. (Aus: Mohr et al. 2017, S. 31)

und kritischen Lebensereignissen (major stressors) beschrieben werden (Abb. 3). Wenn diese Summe eine bestimmte Schwelle überschreitet, kann die Erkrankung ausbrechen. Diese Schwelle ist abhängig von der betrachteten Krankheit und den damit in Zusammenhang stehenden Vulnerabilitäten einer Person. Sowohl Resilienz als auch Coping können dazu beitragen, die Summe des Stresserlebens unterhalb der Erkrankungsschwelle zu halten.

(Prozess der Salutogenese). Dadurch soll die Aufmerksamkeit von der Erkrankung und Frage der Heilung auf die vollständige Betrachtung des Menschen und seiner Geschichte gelenkt werden, die nur zu einem Teil aus der Erkrankung besteht.

4

Ein sehr wichtiger Faktor dafür, an welcher Stelle des Kontinuums von Gesundheit und Krankheit sich eine Person befindet, ist der Kohärenzsinn (sense of coherence), der sich aus den Erfahrungen in der Kindheit und Jugend entwickelt und bei Erwachsenen als stabil angenommen wird. Er setzt sich aus den drei Bereichen Verständlichkeit, Bewältigbarkeit und Bedeutung zusammen, die emotionale, kognitive und motivationale Prozesse beinhalten (Abb. 4). Diese drei Bereiche bestimmen gemeinsam ein Gefühl des Vertrauens und der Zuversicht darauf, dass die eigene Umwelt vorhersagbar ist. Damit ist jedoch nicht blindes Vertrauen in die Zukunft gemeint, sondern dass sich die Zukunft mit großer Sicherheit so entwickelt, wie es begründet erwartet werden kann. Somit beruht auch die Annahme, dass ein Ziel nur schwer zu erreichen sein wird, auf einem hohen Kohärenzsinn, wenn die Hürden für die Person verständlich und nachvollziehbar sind (Antonovsky 1979, S. 126 f.). Der Kohärenzsinn ist gemäß dem Salutogenese-Modell für ein erfolgreiches Coping notwendig, da er eine optimale Nutzung der eigenen Ressourcen ermöglicht, wodurch auf dem Kontinuum eine Bewegung in Richtung Gesundheit erfolgt. Dabei geht Antonovsky genau wie Lazarus (z. B. Lazarus und Folkman 1987) davon aus, dass nicht jeder Stressor per se negativ ist, sondern Stressoren auch zu einer salutogenen Entwicklung beitragen können. Die zentrale Rolle von Stressoren und deren erfolgreiche Bewältigung im Salutogenese-Modell zeigt Ähnlichkeiten mit dem Resilienz-Konzept, das sich ebenfalls mit Schutzfaktoren beschäftigt (vertiefend s. Bengel und Lyssenko 2012).

Positive Betrachtung von Gesundheit und Krankheit

Während sich die bisher beschriebenen Modelle zur Ätiologie und Pathogenese mit der Frage beschäftigen, was Krankheit ist und wie sie entsteht, beschreiben die folgenden Modelle den Zustand der Gesundheit und ihren Erhalt. Dies scheint auf den ersten Blick nur ein geringer Unterschied in der Betrachtungsweise zu sein. Jedoch sind sich die Menschen eher darüber einig, was Krankheit ist, während die Frage, was Gesundheit ist, sehr viel stärker von der individuellen Sichtweise abhängt.

4.1

Salutogenese-Modell von Antonovsky

Der Soziologe Aaron Antonovsky betrachtete Gesundheit und Krankheit in seinem Salutogenese-Modell ebenfalls auf einem Kontinuum, dessen Endpunkte Gesundheit und Krankheit sind (health ease/dis-ease continuum; Antonovsky 1979, 1988). Auf diesem Kontinuum bewegen sich Personen in Abhängigkeit von ihrem Gesundheitszustand. Dabei steht für Antonovsky nicht die Frage im Vordergrund, warum eine Person krank wird, sich also in Richtung des Endpunktes „Krankheit“ bewegt (Prozess der Pathogenese). Vielmehr beschäftigt sich sein Modell mit der Frage, warum Menschen trotz belastender internaler und externaler Umstände eher im Bereich des Endpunktes „Gesundheit“ einzuordnen sind bzw. sogar eine Entwicklung hin zu diesem Endpunkt zeigen

" Das Modell von Antonovsky stellt dem Prozess der Pathogenese die Salutogenese entgegen, wodurch eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen gefördert wurde.

252

Abb. 4 Dimensionen des Kohärenzsinns nach Antonovsky (1988)

Die Verständlichkeit (comprehensibility) bezieht sich nach Antonovsky (1988) auf die Wahrnehmung der Umwelt. Wenn Informationen und Stimuli kognitiv als sinnvoll, strukturiert und geordnet bewertet werden, können auch zukünftige Ereignisse aufgrund dieser Wahrnehmung erklärt oder sogar vorhergesagt werden. Das Ausmaß an Verständlichkeit ist dabei unabhängig von der Erwünschtheit der Ereignisse. Die Umwelt kann also auch dann kognitiv als verständlich wahrgenommen werden, wenn sie emotional als negativ bewertet wird. Die Bewältigbarkeit (manageability) beschreibt den Umgang der Person mit Schwierigkeiten. Bei einem hohen Gefühl der emotionalen und kognitiven Bewältigbarkeit werden unerwünschte Ereignisse als Herausforderungen angenommen, die grundsätzlich lösbar sind und in denen neue Erfahrungen gesammelt werden können. Antonovsky (1988, S. 20) geht davon aus, dass für ein hohes Gefühl der Bewältigbarkeit auch ein hohes Ausmaß an Verständnis notwendig ist. Dies liegt daran, dass die gegebenen Informationen für die Bewältigung als geordnet und erklärbar wahrgenommen werden müssen, sodass hier von einer einseitigen Abhängigkeit ausgegangen werden kann. Ein hohes Verständnis kann hingegen auch ohne das Gefühl bestehen, die Situation bewältigen zu können. Die Bedeutsamkeit (meaningfulness) bezieht sich ebenfalls auf die Deutung unerwünschter Ereignisse, beschränkt sich jedoch auf subjektiv bedeutsame Lebensbereiche. Durch eine hohe Bedeutsamkeit lohnt es sich für eine Person, emotional in die Situation zu investieren, und sie wird motiviert, sich zu engagieren. Dieser Bereich des Kohärenzsinns ist gemäß Antonovsky (1988, S. 21) besonders wichtig, da eine fehlende Bewältigbarkeit dadurch überwunden werden kann, dass die Person motiviert ist, nach Lösungen zu suchen, und Ressourcen dafür leichter aktiviert werden können. Jedoch kann auch ein subjektiv bedeutungsloser Lebensbereich einen Einfluss auf die Gesundheit haben. So können z. B. Krankheitserreger wie Viren auch dann zu einer Infektion führen, wenn die Person subjektiv keinen großen Wert auf die Vermeidung einer Ansteckung legt.

S. Roch und P. Hampel

Der Kohärenzsinn entwickelt sich auf der Basis von generalisierten Widerstandsressourcen (generalized resistance resources). Mit diesem Konstrukt beschreibt Antonovsky (1979) alle Variablen einer Person, einer Gruppe oder der Umwelt, die sich positiv auf den Umgang mit Stressoren auswirken. Sie können einerseits aus der Person selbst heraus bestehen, wie es bei Bewältigungsstrategien im Umgang mit schwierigen Situationen oder Selbstvertrauen der Fall ist. Andererseits können sie auf sozialen Faktoren wie sozialer Unterstützung oder auf gesellschaftlichen Faktoren wie kultureller Stabilität beruhen. Gemeinsam haben alle diese Variablen, dass sie eine subjektive Sinngebung trotz der erlebten Stressoren erleichtern, wodurch der Kohärenzsinn gestärkt und eine Entwicklung hin zum Endpunkt „Gesundheit“ auf dem Kontinuum ermöglicht wird (Antonovsky 1988, S. 28). Die Widerstandsressourcen sieht Antonovsky als generalisiert an, womit gemeint ist, dass die Ressourcen nicht nur in bestimmten, sondern in einer Vielzahl von Situationen eingesetzt werden und zum Erhalt oder Entwicklung von Gesundheit beitragen können. Deshalb zählen auch Bildung und Wohlstand dazu, da sie die Nutzung von spezifischen Widerstandsressourcen wie das Wissen um den Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglichen (Antonovsky 1979, S. 99 f.). Als kritisch ist die Komplexität des Salutogenese-Modells zu betrachten, da die vielen Annahmen in ihrer Gänze schwer überprüfbar sind. Dies hängt u. a. mit der Ähnlichkeit zu anderen psychologischen Konstrukten wie der Resilienz zusammen. So beschränkt sich die Forschung auf die Überprüfung einzelner Aspekte des Modells, die meist querschnittlich durchgeführt wird. Die Studien konnten hohe Zusammenhänge mit psychologischen Konstrukten, jedoch keine eindeutige Verbindung mit der körperlichen Gesundheit nachweisen (zusammenfassend s. Bengel und Lyssenko 2012). Dennoch fördert das Modell eine salutogene Sichtweise auf das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum und erweitert damit sowohl Forschung als auch praktische Tätigkeit um die Gesundheitsförderung als Ergänzung zur Prävention. Zudem hat sich daraus die Erforschung von Schutzfaktoren und Resilienz entwickelt.

4.2

Wellness-Modell

Das Wellness-Modell stellt eine Erweiterung des biopsychosozialen Modells dar. Hierbei werden neben den bereits vorgestellten drei Bereichen auch spirituelle Faktoren und die subjektive Lebensqualität als Dimensionen von Gesundheit einbezogen (vgl. Ragin 2018, S. 179 ff.). " Im Wellness-Modell werden auch spirituelle Faktoren und die Lebensqualität als wichtige Quelle von Gesundheit berücksichtigt.

21

Modelle von Gesundheit und Krankheit

Die Spiritualität ist im Wellness-Modell eine individuelle, aber nicht zwingenderweise religiöse Sichtweise auf den Sinn des Lebens, die als Philosophie des Individuums gesehen werden kann. Sie bestimmt, wie sich die persönlichen Werte auf das subjektiv empfundene Wohlbefinden einer Person auswirken, und kann dem Individuum Sinnhaftigkeit bieten (Ragin 2018, S. 13). Der Einfluss von Spiritualität oder auch Glaube auf die Gesundheit zeigt sich u. a. in ihrer stressreduzierenden Wirkung durch das Erleben von Frieden und Ruhe. Aber auch andere gesundheitsförderliche Verhaltensweisen wie der Verzicht auf Alkohol können religiös begründet sein. Der positive Einfluss, der vornehmlich in US-amerikanischen Studien gezeigt wurde, ist im deutschsprachigen Raum jedoch als sehr gering einzuschätzen. Der negative Umgang mit Spiritualität wie etwa extrinsische Religiosität hingegen zeigt auch im deutschsprachigen Raum einen negativen, wenn auch geringen Zusammenhang mit psychischer Gesundheit (Zwingmann und Hodapp 2018). Neben der Spiritualität bildet die subjektive Lebensqualität eine wichtige Ergänzung im Rahmen des WellnessModells, die ebenfalls das allgemeine Wohlbefinden beeinflusst (Ragin 2018, S. 13). Sie beschreibt die individuelle Wahrnehmung des eigenen Lebens und der Funktionsfähigkeit insbesondere bezogen auf psychische und soziale, aber auch physische Dimensionen, wodurch sie ein multidimensionales Konstrukt ist. Durch diesen Fokus erhalten auch die jeweiligen Kultur- und Wertesysteme einen hohen Stellenwert bei der Einschätzung der eigenen Lebensqualität (Ellert und Kurth 2013; Radoschewski 2000). Dabei kann die subjektive Lebensqualität trotz einer chronischen Erkrankung als hoch wahrgenommen werden, wenn der Einfluss auf den Alltag der betroffenen Person gering ist. Andersherum kann auch bei einem guten körperlichen Allgemeinzustand die subjektive Lebensqualität gering sein, wenn z. B. ein früherer Leistungssportler zwar weiterhin körperlich aktiv sein, jedoch keinen Leistungssport mehr betreiben kann. Hierdurch wäre das allgemeine Wohlbefinden geringer, als es durch die alleinige Betrachtung der physischen Gesundheit zu vermuten wäre. Während die Lebensqualität im Wellness-Modell eine Dimension von Gesundheit darstellt, wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität in anderen Studien hingegen als ein von der Gesundheit beeinflusstes Konstrukt angesehen. Sie wird u. a. positiv vom sozialen Status und negativ von chronischen Krankheiten beeinflusst. Darüber hinaus berichten Männer über eine bessere gesundheitsbezogene Lebensqualität als Frauen (Ellert und Kurth 2013). Lebensqualität und Gesundheit zeigen somit einen engen Zusammenhang, der auch auf konzeptioneller Ebene zu finden ist (Radoschewski 2000), allerdings nimmt das Wellness-Modell eine im Vergleich zu vielen anderen Studien umgekehrte Richtung der Kausalität an.

253

5

Entwicklung eines neuen dynamischen Konzeptes der „positiven Gesundheit“

Die Vielfalt der vorgestellten Modelle von Gesundheit und Krankheit zeigt, dass Gesundheit ein breites Konzept mit vielen Facetten ist. Auch spielt der demografische Wandel eine zentrale Rolle für das Verständnis. Im Vergleich zu den 1940er-Jahren, in denen die Definition der WHO ( 2014, S. 1) entwickelt wurde, sind heutzutage chronische Krankheiten weiter verbreitet und nehmen deshalb einen höheren Stellenwert ein. Auf diese zentrale Veränderung sowie verschiedene Veröffentlichungen mit Aufrufen zur Anpassung des Gesundheitsbegriffes gingen internationale Experten bei einer Konferenz 2009 in den Niederlanden ein (Huber 2010). Das Ergebnis war der Beginn einer Entwicklung hin zu einem dynamischen Gesundheitskonzept, das sich von einer starren Definition darin unterscheidet, dass keine Grenzen gezogen, sondern stattdessen ein gemeinsames Verständnis geschaffen werden soll. " Gesundheit wird im neuen dynamischen Konzept der „positiven Gesundheit“ als „ability to adapt and to selfmanage, in the face of social, physical and emotional challenges“ (Huber et al. 2016, S. 7) angesehen.

In diesem neuen Konzept wird Gesundheit als die Fähigkeit zur Anpassung und zum Selbstmanagement beschrieben. Diese Fähigkeiten werden auf drei Dimensionen bezogen, mit denen Individuen konfrontiert werden (Huber et al. 2011): physische, psychische und soziale Herausforderungen. Zur Validierung des von Experten entwickelten neuen dynamischen Gesundheitskonzeptes wurde eine MixedMethods-Studie durchgeführt (Huber et al. 2016). Befragt wurden dabei Stakeholder aus dem Gesundheitswesen, der Politik und der Wissenschaft; aber auch Laien wurden einbezogen. Die Untersuchung ergab bei der Frage nach den Indikatoren für Gesundheit sechs Dimensionen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Körperfunktionen Mentale Funktionen und Wahrnehmung Soziale und gesellschaftliche Teilhabe Spirituelle/existenzielle Dimension Lebensqualität Alltagsfunktionen

Hierbei wurden die ersten drei Gesundheitsdimensionen bereits durch die Experten genannt und die weiteren drei ergaben sich aus den Antworten der Stakeholder und Laien im qualitativen Teil der Untersuchung. In die Dimension der Körperfunktionen fallen biologische Merkmale, die schon im biomedizinischen Modell zu finden waren. Darunter zählen medizinische Fakten und Beobachtungen, die aus naturwissenschaftlicher Sicht objektiv

254

beschreibbar sind. Darüber hinaus werden Beschwerden und Schmerzen des Patienten sowie die körperliche Funktionsfähigkeit und auch die Energie einbezogen. Die Dimension der mentalen Funktionen und Wahrnehmung entspricht den psychischen Aspekten aus dem biopsychosozialen Modell. Sie umfasst kognitive und emotionale Prozesse, aber auch Persönlichkeitsmerkmale wie Kontrollüberzeugungen, Selbstmanagement und Selbstachtung. An dieser Stelle werden auch die Resilienz und der Kohärenzsinn in das Modell integriert, die beide schon in früheren Modellen als zentral für die Gesundheit angenommen wurden. Diese psychische Dimension wird von den Stakeholdern in der Studie von Huber et al. (2016) breiter gesehen als in den früheren Modellen mit psychischen Aspekten. Mit der Dimension der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe wird auch der dritte Bereich des biopsychosozialen Modells im neuen dynamischen Gesundheitskonzept abgebildet. Darunter fallen soziale und kommunikative Fähigkeiten, soziale Kontakte und die Einbindung in die Gemeinschaft. Darüber hinaus werden bedeutungsvolle Beziehungen, das Gefühl, von anderen akzeptiert zu werden und eine sinnvolle Arbeit als relevant für die Gesundheit angesehen. Auch diese Dimension ist breiter gefächert als vergleichbare Aspekte in früheren Modellen. Wie auch schon im Wellness-Modell geht die spirituelle/ existenzielle Dimension nicht auf religiöse Aspekte im engeren Sinne ein. Vielmehr ist hiermit die Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit gemeint, die ein Individuum dem eigenen Leben zuschreibt. Außerdem enthält diese Dimension Aspekte wie das Streben nach Zielen, Zukunftsperspektiven und Akzeptanz. Die Dimension der Lebensqualität war ebenfalls schon im Wellness-Modell enthalten. Darunter werden im Konzept der positiven Gesundheit das allgemeine Wohlbefinden, Freude, Vergnügen, die wahrgenommene Gesundheit, Lebensfreude und Balance zusammengefasst. Unklar bleibt jedoch auch hier, ob Lebensqualität die Gesundheit oder Gesundheit die Lebensqualität beeinflusst. Schließlich stellen Alltagsfunktionen eine weitere Dimension dar, die mit der Sichtweise auf die Funktionsfähigkeit in

Abb. 5 Gesundheit und Krankheit mit sechs kontinuierlichen Dimensionen im Sinne eines neuen dynamischen Gesundheitskonzeptes. (Angelehnt an W. Jacobsen, persönliche Mitteilung, 27.10.2017)

S. Roch und P. Hampel

der ICF vergleichbar ist. Sie beziehen sich auf grundlegende und instrumentelle Alltagsaktivitäten sowie die Arbeitsfähigkeit. Darüber hinaus wird hier die Gesundheitskompetenz als Faktor angesiedelt, die die Kompetenz einer Person beschreibt, Gesundheitsprozesse verstehen und darauf aufbauend Verantwortung für die eigene Gesundheit und die Gesundheit der Familie übernehmen zu können (vgl. Sørensen et al. 2012). In seiner Komplexität kann dieses Konzept als umfassende Erweiterung und Integration bestehender Modelle gesehen werden. Während in den zuvor dargestellten Modellen Gesundheit und Krankheit auf einem einzigen Kontinuum dargestellt wurden, sind die sechs Dimensionen der positiven Gesundheit mit der Displayeinstellung eines Smartphone- oder Computerbildschirms vergleichbar: neben der Helligkeit können auch andere Aspekte wie die Farbsättigung oder der Kontrast durch einzelne, kontinuierliche Schieberegler eingestellt werden, die jeweils ein eigenes Kontinuum darstellen (Abb. 5; W. Jacobsen, persönliche Mitteilung, 27.10.2017). Die sechs Dimensionen sind somit explizit als unabhängig voneinander und damit individuell veränderbar zu betrachten. Das neue dynamische Konzept von Gesundheit umfasst mit seinen sechs Dimensionen im Wesentlichen alle Bereiche, die bereits in früheren Modellen von Gesundheit und Krankheit enthalten waren. Diese Breite ist jedoch gleichzeitig ein Kritikpunkt, der auch in den Interviews in der Studie von Huber et al. (2016) angemerkt wurde, da das Konzept in dieser Form eher das ganze Leben und weniger die Gesundheit im Speziellen umfasst. Auch zeigten sich Unterschiede zwischen den befragten Gruppen (Stakeholder aus dem Gesundheitswesen, der Politik und der Wissenschaft sowie Laien) bezogen auf die Wichtigkeit der Dimensionen für die Gesundheit. Während Patienten alle Dimensionen gleichermaßen wichtig einstuften, wurde Gesundheit von den verschiedenen Stakeholdern insgesamt enger gefasst und mit einem stärkeren Fokus auf die biomedizinischen Aspekte gesehen. Darüber hinaus wurde bemängelt, dass durch den Fokus auf die Anpassung und die Selbstmanagementfähigkeiten die Wichtigkeit echter Erkrankungen und die Notwendigkeit, an

21

Modelle von Gesundheit und Krankheit

ungünstigen Umweltbedingungen anzusetzen, nicht klar genug wird. Somit ist gerade die persönliche Verantwortung, die als Chance auf individuelle Einflussmöglichkeiten gesehen werden kann, auch ein wesentlicher Kritikpunkt. Dennoch ist der Fokus auf die Stärken anstatt auf die Schwächen einer Person als positiv zu bewerten. Demnach besteht Konsens dahingehend, dass Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit ist, sondern durch verschiedene Dimensionen beschrieben werden kann. Die Abgrenzung des Gesundheitsbegriffs von anderen psychologischen Konzepten und der Dissens hinsichtlich der Gewichtung der Gesundheitsdimensionen müssen jedoch in zukünftigen Forschungen geklärt werden.

6

Fazit

Das vorliegende Kapitel stellt wesentliche Modelle von Gesundheit und Krankheit dar, angefangen mit der Gesundheitsdefinition der WHO bis hin zur aktuellen Entwicklung eines dynamischen Konzeptes von Gesundheit. Obwohl diese Modelle nur eine Auswahl der existierenden Sichtweisen auf Gesundheit und Krankheit in der westlichen Kultur darstellen, zeigt sich gleichzeitig eine große Heterogenität in den betrachteten Aspekten und den Schwerpunkten der Modelle. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass alle hier vorgestellten Modelle zur Erklärung von Gesundheit und Krankheit herangezogen und sowohl in der Forschung als auch der praktischen Gesundheitsversorgung genutzt werden. Es konnte bis heute kein allgemein akzeptiertes Modell entwickelt werden, dass alle relevanten Aspekte berücksichtigt und gleichzeitig praktikabel in der Anwendung ist. Hierbei erlauben die verschiedenen Modelle unterschiedliche Einsichten in die Prozesse, die bei physischen und psychischen Erkrankungen eine Rolle spielen. Es bleibt hervorzuheben, dass Pathogenese und Salutogenese zwei Prozesse sind, die sich gegenseitig ergänzen. Sie sollten deshalb gemeinsam genutzt werden, um beides, Gesundheit und Krankheit, zu beschreiben, zu verstehen, zu erklären und auf positive Weise zu beeinflussen.

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Gesundheits- und Risikokommunikation in den Gesundheitsberufen

22

Anne Reinhardt, Simone Jäger und Constanze Rossmann

Inhalt 1

Was ist Gesundheitskommunikation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

2 2.1 2.2 2.3

Grundlagen der Arzt-Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prototypen des Arzt-Patient-Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Merkmale patientenzentrierter Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle der Arzt-Patient-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Rahmenmodell effektiver Gesundheitskommunikation im Klinikkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

258 258 259 260

4 Risikokommunikation im Gesundheitssektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 4.1 Einflussfaktoren der Risikowahrnehmung auf Patientenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 4.2 Einflussfaktoren der Risikokommunikation auf Arztseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

1

Was ist Gesundheitskommunikation?

Gesundheitskommunikation ist ein zentrales Element des Gesundheitswesens. Sie beschreibt alle menschlichen Interaktionen, die im Rahmen der Gesundheitsversorgung stattfinden (Kreps und Thorton 1992, S. 2). Nach Rossmann und Ziegler (2013) umfasst der Begriff konkreter „jegliche Kommunikation über Gesundheit und Krankheit, die entweder bewusst zur Aufklärung, Gesundheitsförderung oder Prävention initiiert wird oder nebenbei, z. B. in medialen Unterhaltungsangeboten, stattfindet“ (S. 385). Neben Akteuren des Gesundheitswesens (z. B. Ärzte, Pflegepersonal, Apotheker) sind Behörden (z. B. Krankenkassen), Politiker, Privatpersonen (z. B. Patienten) und Journalisten die zentralen Kommunikationspartner in diesem Bereich (Rossmann und Ziegler 2013; Signitzer 2001).

A. Reinhardt (*) · S. Jäger · C. Rossmann Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Erfurt, Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected]

" Als eine von mehreren Fachdisziplinen setzt sich die Kommunikationswissenschaft mit Fragen der Gesundheitskommunikation auseinander und ermöglicht durch Anwendung etablierter Kommunikationstheorien auf den Gesundheitsbereich ein breiteres Verständnis einer effektiven und evidenzbasierten Kommunikation (Rossmann et al. 2014).

Grundsätzlich ist hierbei von Bedeutung, auf welcher Ebene die Kommunikation über Gesundheit stattfindet. In der Literatur werden vier Ebenen unterschieden (Rossmann et al. 2014; Rossmann und Ziegler 2013; Signitzer 2001): An unterster Stelle ist die intrapersonale Kommunikation angesiedelt, welche die kommunikativen und psychologischen Prozesse innerhalb einer Person umfasst. Hierzu zählt beispielsweise die gedankliche Abschätzung eines Krankheitsrisikos, die zu einer Entscheidung für oder gegen eine Vorsorgeuntersuchung führen kann. Steht der Austausch von Gesundheitsinformationen zwischen zwei oder mehreren Personen im direkten Gespräch im Vordergrund, so spricht man von der interpersonalen Ebene der Gesundheitskommunikation. Insbesondere auf diesem Level findet sich die all-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_24

257

258

A. Reinhardt et al.

tägliche Kommunikation vieler Gesundheitstätiger wieder: So werden darunter sowohl die Kommunikation zwischen Arzt und Patient als auch Gespräche zwischen Ärzten, Gesundheitspflegenden oder Patienten verortet. Auch die therapeutische Kommunikation spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Weiterhin wird das moderne Gesundheitswesen zunehmend von Organisationen wie Kliniken, Praxisgemeinschaften, Altersheimen, Kuranstalten und Versicherungsträgern geprägt. Die Kommunikation in solchen Organisationen siedelt sich auf der dritten Ebene an, der Organisationsebene. Als Beispiel kann der Berufsalltag im Krankenhaus herangezogen werden: So findet hier zum einen Kommunikation innerhalb der Organisation (z. B. zwischen Klinikleitung und Angestellten) statt – in diesem Fall spricht man von interner Kommunikation. Zum anderen kommuniziert die Organisation auch nach außen, etwa im Rahmen der Presseund Öffentlichkeitsarbeit (externe Kommunikation). Als vierte und letzte Ebene ist die massenmediale Kommunikation zu nennen, die als Meta-Rahmen alle anderen Ebenen umspannt und diese beeinflusst. Hierunter fallen jegliche massenmedialen Auseinandersetzungen mit Gesundheitsthemen – sowohl in medizinischen Fachzeitschriften als auch in Tageszeitungen, Zeitschriften, Hörfunk, Fernsehen oder Onlineangeboten. Dabei sind reale Informationen (z. B. Nachrichten) und fiktive Unterhaltungsinhalte (z. B. Soaps) zu unterscheiden, die entweder von Experten (z. B. Medizinern) oder Laien (z. B. Patienten, Angehörigen) übermittelt werden können. Der vorliegende Beitrag legt den Schwerpunkt auf die Bedeutung von Gesundheitskommunikation für Gesundheitsberufe auf interpersonaler und Organisationsebene. Dabei wird zunächst auf die veränderte Arzt-Patient-Kommunikation eingegangen, bevor ein Rahmenmodell effektiver Gesundheitskommunikation im Klinikkontext vorgestellt und zuletzt die Bedeutung der Risikovermittlung im Gesundheitssektor erklärt wird.

2

Grundlagen der Arzt-PatientKommunikation

Das Arzt-Patient-Gespräch bildet das Herzstück der interpersonalen Kommunikationsebene im medizinischen Kontext. Hier tauschen Arzt und Patient wesentliche Informationen rund um die Gesundheitsbelange des Patienten aus, wie beispielsweise auftretende Symptome, ihre Deutung, mögliche Ursachen, Behandlungsoptionen und deren wahrscheinliche Auswirkungen auf die Gesundheit und Lebensqualität des Patienten. " Ein Kernelement der Kommunikation zwischen Arzt und Patient bilden Entscheidungen, die hinsichtlich relevanter Therapieziele getroffen werden. Im Gespräch zeigt sich

dabei auch das vorherrschende Rollenverständnis und -verhältnis der beiden Interaktionspartner, das offen besprochen und an die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden sollte (Epstein und Street 2011; Roter 2000; Roter und Hall 2006).

In der Regel findet der Arzt-Patient-Kontakt zumindest zu Beginn der medizinischen Versorgung im persönlichen Face-toFace-Gespräch statt. Die technischen Fortschritte im Zuge der Digitalisierung sowie datenschutzrechtliche und vergütungsbezogene Anpassungen erlauben zunehmend auch OnlineVideo-Sprechstunden. Diese kommen seit dem 01.07.2017 als Regelleistung von gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland allerdings vorerst nur für bestimmte Indikationen bei der Verlaufskontrolle zum Einsatz, sie ersetzen also nicht den Erstkontakt (TK 2017). Verschiedene Akteure der Gesundheitsbranche ergänzen dieses Angebot durch Websites oder Apps für Patienten, die jedoch größtenteils noch in der Erprobungsphase sind und häufig Pilotprojektcharakter haben. In diesem Kapitel liegt das Augenmerk auf dem persönlichen Arzt-Patient-Gespräch, wobei die digitale Trendentwicklung durch die Internetnutzung auf Arzt- und Patientenseite mit einfließt. " Die patientenseitige Online-Recherche zu Symptomen, Krankheiten und Therapien hat insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten stark zugenommen, wobei das Internet meist als Zweitmeinung dient (Fox und Duggan 2013) und entweder direkt oder indirekt in die Sprechstunde mit eingebracht wird.

Dies ist ein entscheidender Faktor, der über den stärker informierten Patienten einen Wandel in der Kommunikation und der Beziehung mit dem Arzt begünstigt und beschleunigt (Gerber und Eiser 2001; Tautz 2002; Wald et al. 2007). Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zunächst auf klassische Prototypen im Arzt-Patient-Verhältnis eingegangen. Danach werden grundlegende Merkmale und ausgewählte Modelle empfehlenswerter Arzt-Patient-Kommunikation vorgestellt. In diesem Zusammenhang werden die patientenzentrierte Kommunikation und übergreifende Komponenten im Arzt-Patient-Gespräch tiefer beleuchtet.

2.1

Prototypen des Arzt-PatientVerhältnisses

Zwei Konzepte sind für die Strukturierung von verschiedenen Typen des Arzt-Patient-Verhältnisses herauszustellen: So hat zum einen Roter (2000) ein Vier-Felder-Raster entworfen, das den Faktor Kontrolle herausgreift, um das Spektrum unterschiedlicher Typen der Arzt-Patient-Beziehung zu

22

Gesundheits- und Risikokommunikation in den Gesundheitsberufen

beschreiben. Für die entsprechende Zuordnung zu einem der Beziehungstypen in der medizinischen Behandlung werden in diesem theoretischen Konstrukt die Gesprächsziele und -agenda, die Werte des Patienten und die Rolle des Arztes berücksichtigt. Drei der vier Raster beziehen sich auf eine definierbare Arzt-Patient-Beziehung, wohingegen das letzte Raster ein unbekanntes oder nicht miteinander abgestimmtes Verhältnis abdeckt. Für die greifbaren Beziehungstypen gilt: Am einen Endpunkt der Skala ist die patientenzentrierte oder konsumentenorientierte Beziehung (consumerism) mit einer hohen Kontrolle durch den Patienten und am anderen Endpunkt die paternalistische Beziehung (paternalism) mit einer hohen Kontrolle durch den Arzt verortet. In der Mitte ist der Prototyp der Gegenseitigkeit (mutuality) angesiedelt, bei dem sowohl Arzt als auch Patient eine hohe Kontrolle in die Beziehung einbringen. Dadurch findet ein Austausch von Wissen und Meinungen statt, was zu einer Abstimmung und gemeinsamen Entscheidungsfindung (shared decision making) führen soll, die wiederum die Einhaltung des Therapieplans durch den Patienten (compliance) begünstigt. " Der Begriff „compliance“ entstammt ursprünglich dem paternalistischen Modell, bei dem sich der Patient an die ärztlichen Therapieempfehlungen hält. Für den partnerschaftlichen Ansatz, bei dem beide Behandlungspartner die Therapieziele und -pläne gemeinsam abstimmen und der Patient sich dabei aktiv einbringt, wird zur Abgrenzung der Begriff „adherence“ verwendet (Sabaté und WHO 2003).

Dieser Prototyp hat sich in verschiedenen Studien als positiver Einflussfaktor auf die Gesprächs- und die Beziehungsqualität der Arzt-Patient-Interaktion und die daraus erwachsenden Folgen für die Gesundheit des Patienten erwiesen (Roter 2000; Roter und Hall 2006). Lässt sich die Arzt-Patient-Beziehung nicht klar nach den drei Kriterien einteilen, wird sie nicht thematisiert oder nicht verstanden, liegt der Prototyp der Nachlässigkeit oder des Versäumnisses vor (default). In diesem Fall ziehen sich die Parteien in der Regel zurück und üben nur eine geringe Kontrolle aus (Roter 2000). Dieses unklare oder oberflächliche Verhältnis mündet mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in einer Unzufriedenheit auf beiden Seiten und in negativen Folgen auf der Patientenseite. Emanuel und Emanuel (1992) haben ein vergleichbares Konzept entworfen, in dem allerdings eine Konzentration auf klar zu definierende Arzt-Patient-Beziehungstypen erfolgt. In die Definition der vier Prototypen fließen mit den Werten des Patienten und der Rolle des Arztes ähnliche Kriterien ein wie bei Roter (2000). Der Kontrollbegriff wird nicht verwendet, dafür die Verpflichtung des Arztes und die Autonomie des Patienten. Der patientenzentrierte Beziehungstyp heißt hier informativ (informative), der paternalistische ist in der glei-

259

chen Bezeichnung vertreten (paternalistic). Der Gegenseitigkeitstyp wird aufgeteilt in den erklärenden, interpretativen (interpretive) einerseits und den beratschlagenden, überzeugenden (deliberative) Typen andererseits. Auch vor dem Hintergrund dieses Modells kann ein Wandel hin zum informativen Prototypen beobachtet werden, bei dem der Patient aktiv in die Therapiewahl involviert ist. Die Autoren des Schemas sehen in dem beratschlagenden Typus die optimale Ausprägung: Hier gibt der Arzt dem Patienten in fürsorglicher Weise eine Orientierung, ohne dessen Unabhängigkeit einzuschränken (Emanuel und Emanuel 1992). Die Arzt-Patient-Beziehung hat sich von einem paternalistischen zu einem partnerschaftlichen Ansatz mit dementsprechend besser funktionierenden Beziehungstypen entwickelt (Emanuel und Emanuel 1992; Roter 2000; Roter und Hall 2006; Tautz 2002). " Aktuell wird in zahlreichen medizinischen Fachbereichen ein patientenzentrierter Ansatz angestrebt, um die ArztPatient-Kommunikation und darüber konkrete Behandlungsparameter wie die „adherence“ zu verbessern (BMGF 2016; Epstein und Street 2007; Jünger et al. 2015; Zill und Härter 2017).

Über ein gelungenes Arzt-Patient-Gespräch lassen sich weitere Parameter direkt oder indirekt positiv beeinflussen. Darunter fallen unter anderem das Vertrauen, die Motivation und Zufriedenheit sowie letztlich die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität des Patienten (Kreps et al. 1994; Street 2013).

2.2

Merkmale patientenzentrierter Kommunikation

Zunächst ist die patientenzentrierte Kommunikationsform durch das aktive Zuhören des Arztes gekennzeichnet, welches dazu dient, die Probleme und die Betroffenheit des Patienten zu identifizieren. Im Weiteren kommt es darauf an, den Patienten erstens aufzuklären und Informationen auszutauschen. Zweitens muss ermittelt werden, inwiefern er den gemeinsam abgestimmten Therapieplan einhält. Dabei ist ein partnerschaftliches Verhältnis anzustreben, um eine gemeinsame Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Auf Basis einer bewusst gepflegten interpersonalen Beziehung sollte der Arzt den Patienten unterstützen (Roter et al. 2012). Dies betrifft vor allem die Informationsverarbeitung zu Beginn, die Abwägung einer Entscheidung für oder gegen eine Therapiewahl und das Selbstmanagement im Anschluss. Darüber hinaus sind Faktoren der psychosozialen Pflege zu berücksichtigen (Bensing 1991). Darunter fallen affektive Verhaltensweisen wie Interesse und Aufmerksamkeit, Ermutigung des Patienten sowie der verbale Ausdruck von Empa-

260

thie. Gemeint ist hierbei das sprachliche Einfühlungsvermögen des Arztes, um auf die Kommunikation des Patienten einzugehen, was in der Regel durch Reflexion und Zusammenfassen geschieht. Zudem ist ein struktureller Rahmen für das zeitlich begrenzte Arzt-Patient-Gespräch unerlässlich. Dieser wird vornehmlich dadurch geschaffen, dass der Arzt die Gesprächsinhalte mit Fragen lenkt, wesentliche Punkte für den Patienten erklärt und diese bei Bedarf nochmals verdeutlicht. Dass der Arzt gezielt Fragen stellt und den Patienten insbesondere auch zu eigenen ermutigt, ist dabei essenziell für ein erfolgreiches medizinisches Beratungsgespräch (Bensing et al. 2011). Die Wichtigkeit von Fragen zeigt sich bei der grundsätzlichen Aufgabe des Arztes, das gesamte Spektrum an Anliegen und einhergehenden Sorgen auf Patientenseite zu eruieren: Dabei kommen in der Regel offene Fragen zum Einsatz, die dem Patienten Raum geben, gehört zu werden. Zudem ist in diesem Zusammenhang die jeweilige Agenda für das in dem Moment vorhandene Zeitfenster zu besprechen. Der Arzt sollte außerdem mit gezielten Fragen die Bedeutung der besprochenen Inhalte auf Patientenseite erkunden, das heißt seine darauf bezogene Meinung, sein Verständnis sowie seine Interpretation. Dabei gilt es auch die zu erwartende Auswirkung des bestehenden Gesundheitsproblems anzusprechen. Des Weiteren sollte die Gefühlslage des Patienten mit einbezogen werden. Das kann geschehen, indem der Arzt den Patienten bewusst nach seinen Emotionen fragt, seine Bemühungen lobt, die vorhandenen Gefühle als berechtigt erklärt und dabei stets Empathie ausdrückt (Roter und Hall 2006). " Neben den bereits beschriebenen Aspekten spielen auch situative Kontextfaktoren und Patientenmerkmale eine wichtige Rolle für die optimale Ausgestaltung der ArztPatient-Kommunikation.

Zum einen ist hierbei das Zeitmanagement zu nennen, das Auswirkungen auf die Qualität der Gesundheitsversorgung und die Patientensicherheit hat. Hierbei geht es darum, dass Kommunikation und Behandlung rechtzeitig stattfinden (timeliness), das zur Verfügung stehende Zeitfenster optimal eingeteilt wird (time allotment), der Zeitpunkt für den ArztPatient-Kontakt gut gewählt wird (timing) und die Dauer (duration) dafür festgelegt wird (Hannawa 2017). Das Zeitmanagement wird in der Regel nicht nur vom behandelnden Arzt, sondern auch durch das Behandlungsteam geregelt, das die Versorgungsabläufe koordiniert. Zum anderen findet eine zunehmende Verschiebung vom Offline- zum Online-Patienten statt, der sich vor dem Arztbesuch im Internet über seine Gesundheitsbelange informiert und die Ergebnisse seiner Recherche in das Gespräch mit dem Arzt einfließen lässt. Caiata-Zuffery und Schulz (2012) haben für Ärzte vier auf diese Situation gemünzte Umgangs-

A. Reinhardt et al.

formen und die damit verbundene Zweckmäßigkeit identifiziert: Resistance verfolgt das Ziel, die mitgebrachten Informationen zu „neutralisieren“; repairing wird eingesetzt, um an notwendiger Stelle eine Korrektur vorzunehmen; bei coconstruction geht es darum, ein gemeinsames Verständnis und eine „shared reality“ zu erreichen; enhancement soll den Patienten „empowern“, also stärken, vornehmlich durch die Empfehlung passender Websites. Eine weitere Herangehensweise ist die Ausarbeitung konkreter Rollenmuster für ärztliche Kommunikations- und Handlungsweisen mit dieser wachsenden Patientengruppe: So lassen sich gut funktionierende Umgangsformen des Arztes beispielsweise unter den Rollen eines Lehrers, Freundes, Ratgebers, Gutachters oder Gesprächsmanagers identifizieren (Jäger 2012).

2.3

Modelle der Arzt-PatientKommunikation

Die dargestellten Merkmale der Arzt-Patient-Kommunikation finden sich in unterschiedlicher Form in Modellen wieder, die im Folgenden vorgestellt werden: Das Four Habits Model (Frankel und Stein 1996) umfasst verschiedene Gesprächstechniken auf Arzt- und Patientenseite, wobei sich der vorliegende Beitrag auf die Arztseite konzentriert. Diese beinhaltet erstens eine Investition am Anfang, um eine gute Verbindung zum Patienten aufzubauen. Zweitens ist die Patientensicht zu berücksichtigen, insbesondere die Ideen, Bedürfnisse und Auswirkungen auf die Lebensqualität. Drittens sollte Empathie ausgedrückt werden, indem die Gefühle des Patienten wahrgenommen, angesprochen und durch nonverbale Kommunikation aufgefangen werden (z. B. Einsatz von Pausen oder verständnisvoller Gesichtsausdruck). Viertens sollte das Gespräch entsprechend abgerundet werden, indem dem Patienten für seine individuelle Gesundheitssituation relevantes medizinisches Wissen vermittelt und er darauf aufbauend in die Entscheidungsfindung involviert wird. Insgesamt berücksichtigt dieses Vorgehen wesentliche Komponenten guter Arzt-Patient-Kommunikation und rahmt sie anhand eines zeitlichen Rasters mit Anfangs- und Endpunkten für die Sprechstunde ein. Das Essential Elements Model (Makoul 2001, vgl. auch Makoul und van Dulmen 2016) führt einschlägige Modelle für eine effektive Arzt-Patient-Kommunikation zusammen, darunter den Calgary-Cambridge Guide (Silverman et al. 2013) und das SEGUE Framework (Makoul 2001). Das Augenmerk liegt auf Fähigkeiten und Strategien, die benötigt werden, um konkrete Aufgaben mit spezifischen Funktionen und Zielen zu erfüllen. Dabei sind folgende Schritte in dieser Reihenfolge von Belang: eine Beziehung zum Patienten aufbauen, die Diskussion eröffnen, Informationen sammeln, die Perspektive des Patienten verstehen, Informationen mit ihm teilen, eine Einigung bezüglich der Probleme

22

Gesundheits- und Risikokommunikation in den Gesundheitsberufen

und ein Einverständnis hinsichtlich der Therapiepläne erreichen sowie das Gespräch abschließen. Es wird ersichtlich, dass dieses Modell eine aufgabenorientierte Herangehensweise an die ärztliche Kommunikation favorisiert und auf diese Weise die Prozessebene im Gespräch mit dem Patienten betrachtet. Das Framework for Patient-Centered Communication (Epstein und Street 2007) stellt einen ergebnisorientierten Zugang zur Gesundheitskommunikation dar. Es wurde im spezifischen Anwendungsbereich der Onkologie erarbeitet, lässt sich aufgrund seiner universellen Strukturelemente funktionierender Arzt-Patient-Kommunikation aber auch auf andere klinische Settings übertragen. Das Framework bezieht sich insbesondere auf den Kontakt zwischen Arzt und Patient und berücksichtigt darüber hinaus auch das weitere Behandlungsteam. So wird sichergestellt, dass zum einen alle den Patienten behandelnden Personen auf den gleichen Informationsstand gebracht werden und zum anderen der Patient weiß, wen er im Zweifelsfall kontaktieren kann. Das Konzept umfasst sechs Funktionskomplexe: fostering healing relationships, exchanging information, responding to emotions, managing uncertainty, making decisions, enabling patient self-management. Hierbei zeigen sich einerseits Parallelen zu den vorab dargestellten Merkmalen und Modellen guter Arzt-Patient-Kommunikation. So beinhaltet es beispielsweise grundsätzliche Ideen wie den Beziehungsaufbau, den Informationsaustausch, die Berücksichtigung von Emotionen und die Entscheidungsfindung. Andererseits sorgt die funktionale Prägung der Themenbereiche dafür, dass sich darin bereits angepeilte Ziele widerspiegeln: " Eine heilende Beziehung soll aufgebaut und gestärkt, auf die Informationsbedürfnisse des Patienten eingegangen, Emotionen bewusst adressiert, mit Unsicherheit passend umgegangen, Entscheidungen in gegenseitiger Abstimmung miteinander getroffen und das längerfristige Selbstmanagement des Patienten ermöglicht werden.

In Folgestudien wurde das Konzept u. a. um das aktive patient engagement ergänzt, wonach der Patient gezielt Fragen stellt und seine Präferenzen äußert (Epstein et al. 2017).

3

Rahmenmodell effektiver Gesundheitskommunikation im Klinikkontext

Während der medizinische Experte im Arzt-Patient-Gespräch als einzelnes Individuum auftritt, ist er doch grundsätzlich in einen größeren organisatorischen Kontext eingebunden (z. B. in ein Praxisteam, eine Station, eine Organisation). Insbesondere für den Erfolg von Gesundheitstätigen im Klinikkontext spielt eine effektive Kommunikation im Team somit eine

261

zentrale Rolle (Grumbach und Bodenheimer 2004; Haynes et al. 2009; Lingard et al. 2008). Gesundheitsteams werden in diesem Kontext als eine Interaktionsgruppe von Leistungserbringern definiert, die motiviert sind, gemeinsam über die Patientenversorgung zu kommunizieren (Real und Poole 2011, vgl. auch Grumbach und Bodenheimer 2004; Wagner 2000). " Ein Grund für die Notwendigkeit einer effizienten Kommunikation im Klinikalltag liegt vor allem in der Komplexität medizinischer Versorgungsabläufe. Ohne sie können leicht Missverständnisse und in der Folge schwere Komplikationen auf Patientenseite entstehen.

Die Teamkommunikation findet dabei vordergründig im Face-to-Face-Gespräch statt und betrifft somit vorrangig die interpersonale Ebene. Beispiele hierfür sind Unterhaltungen zwischen dem behandelnden Arzt und den Pflegenden oder zwischen den einzelnen Mitgliedern des Gesundheitspersonals. Zusätzlich ist jedoch auch die Organisationsebene für die Teamkommunikation von Bedeutung, da interne Vorgaben den Berufsalltag im Krankenhaus stark vorstrukturieren (Real und Poole 2011). Kommunikation in Gesundheitsteams ist demnach nicht nur von den wahrgenommenen Rollenverteilungen (Apker et al. 2005), sondern auch von situativen Faktoren (z. B. Zeitdruck) und rechtlichen Sprachregelungen geprägt (Lingard et al. 2002). Eine Möglichkeit zur Erklärung von Gruppendynamiken bietet das Input-Process-Output Model (IPO, McGrath 1984). Es geht von der Prämisse aus, dass die Prozesse innerhalb eines Teams von den vorliegenden strukturellen Voraussetzungen (z. B. Kommunikationsstrukturen) beeinflusst werden und diese das Ergebnis einer Interaktion tangieren (Richardson und West 2009). Das Modell bietet damit einen Rahmen, die Abläufe innerhalb einer Gruppe zu erfassen, zu verorten und in der Folge die Teamleistung zu maximieren. Aus diesem Grund findet es auch in klinischen und organisatorischen Kontexten zur Optimierung von Gruppenkommunikation und -arbeitsprozessen Anwendung (Ramanujam und Rousseau 2006; Real und Poole 2011). Dabei ist festzuhalten, dass die Art des medizinischen Teams (z. B. Chirurgie, Geriatrie, Onkologie etc.) einen Einfluss auf die Kommunikationsstrukturen (inputs) und -prozesse (process) ausübt und hierüber die Ergebnisse (outputs) der Teamkommunikation beeinflusst werden. Innerhalb aller drei Teilelemente des Modells können jedoch gemeinsame Faktoren ausgemacht werden, die letztlich zum Ergebnis der Teamkommunikation (outcomes) beitragen (Abb. 1). Die Input-Ebene beinhaltet sowohl den organisatorischen Kontext, in dem die Interaktion stattfindet (z. B. Vorgaben der Krankenhausleitung, Belohnungssysteme, rechtliche Regelungen; vgl. Landy und Conte 2010), als auch die vorliegenden Kommunikationsstrukturen (Real und Poole 2011). Hie-

262

A. Reinhardt et al.

Abb. 1 Input-Process-Output-Modell im Klinikkontext. (Eigene Darstellung, angelehnt an Real und Poole 2011)

runter fallen gemeinsame Treffen wie Teammeetings und -briefings (Awad et al. 2005; Lingard et al. 2006) sowie Formalia wie der Einsatz von Checklisten (Haynes et al. 2009). " Die Gruppenkommunikation im Klinikkontext dient insbesondere dem Informationsaustausch zwischen den Teammitgliedern und bildet die Grundlage dafür, dass sich alle ihrer jeweiligen Rolle, der Diagnose des Patienten sowie den verordneten Therapie- bzw. Pflegemaßnahmen bewusst sind.

Wichtig sind hierfür auch die Kommunikationskanäle, die den Teammitgliedern zum Austausch von Patienteninformationen zur Verfügung stehen. Sie umfassen sowohl vorliegende Infrastrukturen in Bezug auf die schriftliche Kommunikation (z. B. digitale Patientenakten) als auch das direkte Gespräch, das in formalen und regelmäßigen Teammeetings ebenso wie auf informellem Weg stattfinden kann. Zusätzlich zu diesen kommunikativen Input-Faktoren beeinflussen auch wahrgenommene Hierarchien und Zeitdruck die Kommunikation im Team (Reader et al. 2009). All diese Faktoren – sowohl kommunikativer, organisatorischer als auch psychologischer Art – haben einen Effekt auf die Koordinations-, Entscheidungs- und Teamprozesse (process) innerhalb der Gruppe (Landy und Conte 2010; LePine et al. 2008). Diese beinhalten unter anderem den Austausch von Informationen, die Wahrnehmung und Anerkennung von Gesprächsbeiträgen anderer Teammitglieder und die direkte

Nachfrage nach Unterstützung (Reddy und Spence 2008). Von großer Relevanz sind hierbei auch Gespräche über Konflikte und begangene Fehler (Apker et al. 2005). Dabei ist auffällig, dass besonders informelle Gesprächssituationen – beispielsweise der kurze, aber regelmäßige Austausch auf dem Gang – zu einer effektiven Teamarbeit beitragen können (Ellingson 2003; Grumbach und Bodenheimer 2004). Zuletzt ist auch die nonverbale Kommunikation der Teammitglieder zu nennen, da diese speziell im Arzt-Pflegepersonal-Verhältnis zur Wahrnehmung hierarchischer Machtgefälle führen und in der Folge eine effektive, gleichberechtigte Kommunikation behindern kann (Hannawa 2017; Real und Poole 2011). Auf Prozessebene kann zur Vermeidung von Kommunikationsfehlern in der Gesundheitsversorgung als weitere theoretische Grundlage die Hannawa-SACCIA-Typologie herangezogen werden (Hannawa 2017). Demnach lassen sich die meisten Kommunikationsfehler den Kategorien Hinlänglichkeit (sufficiency), Genauigkeit (accuracy), Klarheit (clarity), Kontextualisierung (contextualization) und interpersonale Anpassung (interpersonal adaptation) zuordnen. Auf die Kommunikationsprozesse im Behandlungsteam bezogen bedeutet das zum einen, in welchem Ausmaß eine Information (non-)verbal zur Verfügung gestellt und ausgetauscht wird (Hinlänglichkeit). Weiterhin sollte die Information korrekt interpretiert und eingeordnet (Genauigkeit) und anschließend den Teammitgliedern präzise vermittelt werden (Klarheit). Zuletzt ist von Bedeutung, dass die Information in den richtigen Kontext (z. B. vor dem Hintergrund kultureller, relationaler oder Umweltfaktoren) gestellt wird (Kontextua-

22

Gesundheits- und Risikokommunikation in den Gesundheitsberufen

lisierung) und die Teammitglieder effektiv auf die vermittelten Kommunikationsinhalte eingehen (Anpassung). Die verschiedenen Teamprozesse beeinflussen im dritten Schritt des IPO die Resultate der Gruppenarbeit (outputs) wie beispielsweise die Produktivität, das Wohlbefinden und die Kommunikation (Landy und Conte 2010; Real und Poole 2011). So führt beispielsweise die Nutzung von Checklisten zu deutlich mehr präoperativen Gesprächen über den Patienten (z. B. Wer ist der Patient? Was fehlt ihm? Was wird behandelt?), einer häufigeren Artikulation von Zweifeln und mehr Interaktionen innerhalb des Teams (Haynes et al. 2009; Lingard et al. 2005). Werden Checklisten im Aufnahmegespräch eingesetzt, können sie dabei helfen, die Patienteninformationen zu standardisieren und zu strukturieren. Eine effektive Kommunikation im Team kann somit im letzten Schritt die Qualität der Pflege steigern und medizinische Fehler reduzieren (Baker et al. 2005; Gawande et al. 2003). Gleichzeitig beeinflusst sie auch wichtige Faktoren auf Teamseite wie den Zusammenhalt und das Wohlbefinden der einzelnen Mitglieder (Apker et al. 2009; Coopman 2001). " Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass eine effektive Gruppenkommunikation im Klinikkontext die Patientensicherheit steigern und die Erkrankungs- und Sterblichkeitsrate senken kann (Baker et al. 2005; Haynes et al. 2009).

Neben der Kommunikation in Gesundheitsteams gehört auch die Vermittlung von Risiken im Patientengespräch zum Berufsalltag vieler Gesundheitstätiger. Daher soll im nächsten Abschnitt verstärkt auf die Einflussfaktoren einer gelungenen Risikokommunikation eingegangen werden.

4

Risikokommunikation im Gesundheitssektor

Ärzte und Pflegende stehen häufig vor der Aufgabe, ihren Patienten Risiken und Chancen zu einer medizinischen Behandlung zu vermitteln. Ein Beispiel (vgl. Turner et al. 2011): Die Frauenärztin Dr. Schmidt muss ihrer schwangeren Patientin mitteilen, dass ihr Bluttest auf Down-Syndrom positiv ausgefallen ist. Sie lädt daher die werdende Mutter zu einem Auswertungsgespräch ein, um ihr das Resultat mitzuteilen. An dieser Stelle stehen Dr. Schmidt nun verschiedene Möglichkeiten der Risikovermittlung zur Verfügung: Sie könnte von einem Risiko von 1:200 sprechen (absolute Häufigkeit), mit der das Ungeborene an dem Gendefekt leidet. Sie könnte die gleiche Aussage aber auch als ein 0,5-prozentiges Erkrankungsrisiko formulieren (relative Häufigkeit). Studien zeigen, dass allein die Art der Risikovermittlung einen Einfluss auf die Entscheidung der Patienten haben kann (Galesic et al. 2009; Gigerenzer 2014). Für

263

Dr. Schmidt ist hierbei von zentraler Bedeutung, dass die Patientin den Informationsgehalt ihrer Aussage tatsächlich versteht, da diese nur so befähigt ist, informationsbasierte Entscheidungen über den weiteren Verlauf zu treffen: Sollen weiterführende Untersuchungen und Behandlungen eingeleitet werden? Wie geht die Familie in organisatorischer, aber auch emotionaler Hinsicht mit einem Kind um, das aller Voraussicht nach besonderer Zuwendung bedarf? " Das Risikoempfinden ergibt sich dabei aus der wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit negativer Folgen einer Gefahr und dem wahrgenommenen Schweregrad (vgl. Löfstedt und Boholm 2009; Turner et al. 2011; Witte 1992). Es wird von individuellen Eigenschaften des Patienten sowie den Eigenschaften des zu vermittelnden Risikos beeinflusst (Kurzenhäuser und Epp 2009).

Somit ist das Verständnis der Risikowahrnehmung seitens der Patienten ebenso wie die Risikokommunikation auf Arztseite für medizinische Gesundheitsberufe von hoher Relevanz.

4.1

Einflussfaktoren der Risikowahrnehmung auf Patientenseite

Risikokommunikation verfolgt das Ziel, Menschen zu informationsbasierten Entscheidungen zu verhelfen. Eine adäquate Wahrnehmung der Risiken ist hierfür zentral, wobei zahlreiche Faktoren berücksichtigt werden müssen. Ein wichtiger Einflussfaktor der Risikowahrnehmung liegt in der Soziodemografie des Individuums: So schätzen Frauen und ältere Menschen Risiken oftmals als wahrscheinlicher ein als Männer oder jüngere Menschen (Reyna und Farley 2006; Harris et al. 2006). Des Weiteren spielt das bestehende Vorwissen eine zentrale Rolle. Dieses wird herangezogen, um Entscheidungen nach bestem Wissen zu treffen, kann aber gleichzeitig auch schwerwiegende Wissenslücken oder Fehler aufweisen (Kurzenhäuser und Epp 2009). Studien belegen beispielsweise, dass Laien meist nur sehr unklare oder falsche Vorstellungen der chemischen Wirkung von Medikamenten besitzen (Kraus et al. 1992; MacGregor et al. 1999). In Bezug auf die toxikologische Risikokommunikation kann daher an dieser Stelle angesetzt und ein Basiswissen geschaffen werden, sodass Patienten informierte Entscheidungen für oder gegen die Einnahme von Arzneimitteln treffen können (Kurzenhäuser und Epp 2009). Weiterhin sollte auch die sog. numeracy, also das Zahlenverständnis der Individuen, bei der Risikovermittlung berücksichtigt werden. " Definition numeracy „. . . a person’s ability to under-

stand, use, and attach meaning to numbers“ (Turner et al. 2011, S. 152).

264

Um Risikoinformationen zu verstehen, sollte entsprechend ein generelles Verständnis über Wahrscheinlichkeiten und Statistiken vorliegen. Zwei spezifische Formen dieses Konzepts spielen bei der Wahrnehmung von Risiken eine übergeordnete Rolle: die Wissenschaftskompetenz (scientific literacy) und die Gesundheitskompetenz (health literacy) (Jenkins 1994). Dabei ist festzuhalten, dass das Zahlenverständnis nicht automatisch an den Bildungsstand gekoppelt ist. So konnten Lipkus et al. (2001) in einer Studie nachweisen, dass 16 % der Befragten mit hohem Bildungsabschluss eine sehr geringe numeracy aufwiesen. Diese wiederum steht in einem direkten Verhältnis zur Risikowahrnehmung und nachgelagert auch zum Gesundheitszustand der Individuen. " Demnach kann ein geringes Zahlenverständnis zu einer Fehlinterpretation von Gesundheitsinformationen führen, was in der Folge in verzerrte Risikowahrnehmungen, weniger informationsbasierte Entscheidungen und somit eine schlechtere Gesundheit münden kann (Reyna und Brainerd 2007).

Durch die „richtige“ Darstellung von Wahrscheinlichkeiten kann einer geringen numeracy zumindest in gewissem Maße entgegengewirkt werden: So legen Studien nahe, dass die Darstellung in absoluten Häufigkeiten (z. B. 1 von 100 erkrankt) zu einer korrekteren Risikoeinschätzung führt als der Gebrauch relativer Häufigkeiten (z. B. 1 % erkrankt) (Galesic et al. 2009; Gigerenzer 2014). Weiterhin kann eine visuelle Risikodarstellung – beispielsweise in Form von Diagrammen – die Risikowahrnehmung positiv beeinflussen (Chua et al. 2006; Stone et al. 1997). Es wird davon ausgegangen, dass visuell aufbereitete statistische Angaben kognitiv leichter verarbeitet werden können und Wahrscheinlichkeiten in der Folge korrekter eingestuft werden (Cleveland und McGill 1985; Chua et al. 2006). Unter Umständen kann es jedoch vorkommen, dass trotz Berücksichtigung aller oben genannter Faktoren ein Gesundheitsrisiko nicht als solches wahrgenommen wird. Ein Grund dafür liegt im sog. optimism bias. Dieser beschreibt die Tendenz des Menschen, seine eigene Risikowahrscheinlichkeit im Gegensatz zu „den Anderen“ zu unterschätzen (Weinstein 1984; Renner und Schupp 2005; Sjöberg 2003). Wenn der Patient somit die erhaltenen Informationen – beispielsweise zu den Vorteilen einer Präventionsmaßnahme – nicht auf sich selbst bezieht, läuft die Risikokommunikation ins Leere (Kurzenhäuser und Epp 2009). " Ein optimistischer Fehlschluss konnte für zahlreiche Erkrankungen und risikobehaftetes Gesundheitsverhalten nachgewiesen werden, beispielsweise für die Themen Rauchen und ungeschützter Sex (Renner und Schupp 2005).

A. Reinhardt et al.

Gründe hierfür liegen zum einen in der Tatsache, dass die Vorstellung, persönlich in großer Gefahr zu sein, mit einem Gefühl von Angst verbunden ist und daher weitestgehend vermieden wird (Kirscht et al. 1966). Zudem weisen Menschen eine egozentrierte Verzerrung auf, wonach das eigene Leben als unangreifbarer betrachtet wird als das der anderen (Allison et al. 1989). Zuletzt ist auch im Rahmen einer Affektheuristik davon auszugehen, dass Menschen ihre eigenen Handlungen grundsätzlich als positiv wahrnehmen und positive Affekte wiederum die Risikowahrnehmung verringern (Slovic et al. 2007; Turner et al. 2011). Neben dem optimism bias sind in der Psychologie zahlreiche weitere Verzerrungsmechanismen bekannt, die zu einer falschen Risikoeinschätzung führen können (vgl. Sjöberg 2002; Slovic 2000).

4.2

Einflussfaktoren der Risikokommunikation auf Arztseite

Genauso wichtig wie die Wahrnehmung der Einflussfaktoren auf Patientenseite ist es, die Eigenschaften eines Gesundheitsrisikos zu erkennen und gezielt zu adressieren. Im Zuge der Risikokommunikation liegt das Hauptaugenmerk darauf, bestehende Unsicherheiten auf Patientenseite zu reduzieren, ohne dabei die eigene Meinung aufzudrängen. " Ein wichtiges Ziel ist es an dieser Stelle, die Lücke zwischen wahrgenommenem und tatsächlich vorhandenem Risiko weitestgehend zu schließen (Turner et al. 2011).

Für die Risikokommunikation ist es zunächst von zentraler Bedeutung, ob ein Risiko auch als solches wahrgenommen wird. Dies ist zum einen stets dann der Fall, wenn es sowohl wahrscheinlich als auch schwerwiegend ist (Witte 1992). Zum anderen ist die Neuartigkeit des Themas zu betrachten: Demnach werden unbekannte und nicht abschätzbare Gesundheitsrisiken, wie beispielsweise die Auswirkungen des Verzehrs genmanipulierter Lebensmittel, grundsätzlich als risikoreicher eingestuft als bereits bekannte Risiken (z. B. Rauchen) (Siegrist et al. 2006). Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Katastrophenpotenzial und damit die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, dass viele Menschen zur gleichen Zeit ernsthaft von einem Gesundheitsrisiko bedroht werden. Schätzen Patienten dieses als sehr niedrig ein (z. B. im Falle von Übergewicht), kann die Folge eine Unterschätzung des tatsächlichen Gesundheitsrisikos sein. Erkennt der medizinische Ansprechpartner diese Wahrnehmungsverzerrung, kann er an dieser Stelle ansetzen und evidenzbasierte Fakten liefern. Für das Gesundheitsrisiko Übergewicht könnte die Informationsvermittlung beispielsweise wie folgt aussehen: Etwa zwei Drittel aller Männer sowie die Hälfte aller Frauen in

22

Gesundheits- und Risikokommunikation in den Gesundheitsberufen

Deutschland sind übergewichtig, ein Viertel davon adipös. Übergewicht und Adipositas wiederum stellen ernst zu nehmende Gesundheitsrisiken dar, da sie Ursache für zahlreiche körperliche Beschwerden sind und zudem die Entwicklung chronischer Krankheiten wie Arteriosklerose und dadurch bedingte Herz-Kreislauf-Erkrankungen, mehrere Krebsarten sowie Typ-2-Diabetes begünstigen (KID 2018; RKI 2018; WHO 2015). Weitere zu berücksichtigende Aspekte der Risikowahrnehmung sind außerdem die empfundene Freiwilligkeit, Kontrollierbarkeit und wahrgenommene Furcht. Fasst ein Patient beispielsweise ein verordnetes Hautkrebsscreening zwar als freiwillig auf, fürchtet sich aber vor einem unkontrollierbaren und negativen Ausgang, wird er es als risikoreicher einstufen und womöglich nicht umsetzen. In diesem Zuge könnte der medizinische Experte über das tatsächlich vorhandene Risiko eines Fundes und insbesondere die Chancen einer frühzeitigen Entdeckung aufklären und damit Ängste mindern (Kurzenhäuser und Epp 2009). Eine weitere wichtige Strategie für Gesundheitstätige ist die Überprüfung des aktuellen Meinungsklimas und damit des „übergeordneten“ Kommunikators in Form der Massenmedien. " Sind Krankheiten medial überrepräsentiert, indem sie besonders häufig in Zeitungen, Zeitschriften oder dem Fernsehen erwähnt werden, wird ihr Vorkommen als deutlich zu hoch eingestuft (Hertwig et al. 2005).

Aus diesem Grund ist neben der Art und Weise der Risikodarstellung (z. B. absolute vs. relative Häufigkeiten) auch die Beachtung des medialen Meinungsklimas von Bedeutung, um Fehleinschätzungen im Patientengespräch direkt attribuieren zu können (Kurzenhäuser und Epp 2009).

5

Ausblick

Alles in allem wird deutlich, dass eine effektive Gesundheitskommunikation zum Erfolg von Arztgesprächen, Behandlungen oder ganzen Organisationen beitragen kann. Auf interpersonaler Ebene ist insbesondere das Arzt-Patient-Gespräch zu verorten, in dem wichtige Gesundheitsentscheidungen ausgehandelt werden. Studien legen nahe, dass vor allem eine Gleichberechtigung beider Kommunikationspartner (mutuality) den größten Behandlungserfolg nach sich zieht (Roter 2000; Roter und Hall 2006). Hierbei lassen sich zahlreiche Einflussfaktoren sowohl auf Arzt- als auch Patientenseite ausmachen, wobei der medizinische Experte im Zeitalter der Digitalisierung vor neue Herausforderungen gestellt wird: So reicht es häufig nicht mehr aus, einen sowohl inhaltlichen als auch emotionalen Zugang zum Patienten zu finden; auch das (Online-)Informationsverhalten des Patienten muss

265

berücksichtigt werden. Die Digitalisierung bietet Ärzten und Gesundheitspersonal allerdings auch Chancen: " Wird das bereits angehäufte Vorwissen des Patienten in der Sprechstunde mit einbezogen, besteht die Chance, mögliches Fehlwissen zu korrigieren oder sogar passende Internetangebote zu empfehlen und darüber das Empowerment und Gesundheitsengagement (health engagement) des Patienten aktiv und positiv zu beeinflussen.

Neben einer guten Beziehung zwischen Arzt und Patient tragen auch die Interaktionen innerhalb von Gesundheitsteams zu einer effektiven Gesundheitskommunikation bei. Diese führt bei richtiger Ausführung nicht nur zu einem größeren Wohlbefinden im Team und einer gesteigerten Produktivität, sondern kann schlussendlich auch Behandlungsfehler minimieren und weitere Folgen auf Patientenseite positiv beeinflussen. Sowohl im Arzt-Patient-Gespräch als auch im Organisationskontext ist eine umfassende Vermittlung von Chancen und Risiken (z. B. einer Krankheit oder ihrer Behandlung) von zentraler Bedeutung. Denn nur wenn auf die Belange und Eigenschaften des Patienten eingegangen wird, kann dieser eine informationsbasierte Gesundheitsentscheidung treffen. " Für eine gelungene Risikovermittlung ist es von großer Relevanz, sowohl auf die individuellen Charakteristika der Patienten (z. B. geringes Zahlenverständnis) einzugehen als auch die Eigenschaften des Gesundheitsrisikos an sich zu erkennen und zu adressieren.

Vor allem vor dem Hintergrund der Digitalisierung spielt eine erfolgreiche Risikokommunikation eine zunehmend wichtige Rolle. Häufig informieren sich Menschen vor dem Arztgespräch im Internet und stoßen dabei zum Teil auf Angebote, die ungesicherte oder falsche Informationen verbreiten und so zu Unsicherheit und Falschwissen auf Patientenseite beitragen. Trotz einer zunehmenden Fülle von eHealth-Angeboten und deren Potenzialen darf somit die Bedeutung des interpersonalen Gesprächs zwischen Ärzten oder Pflegekräften und Patienten nicht vernachlässigt werden: Dieses bietet die Möglichkeit, die Komplexität medizinischer Informationen verständlich zu vermitteln, und befähigt den Patienten auf diesem Wege dazu, die für ihn optimalen Gesundheitsentscheidungen zu treffen.

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Gesundheitskompetenz

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Nicole Ernstmann, Jochen Sautermeister und Sarah Halbach

Inhalt 1 Was ist Gesundheitskompetenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2 Wie misst man Gesundheitskompetenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3 Wie steht es um die Gesundheitskompetenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4 Gesundheitskompetenz in Gesundheitseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 5 Ethische Aspekte von Gesundheitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 6 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

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Was ist Gesundheitskompetenz?

Das Thema Gesundheitskompetenz rückt in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Gesundheitswissenschaften. In zahlreichen Ländern werden repräsentative Umfragen durchgeführt, die auf problematische oder unzureichende Gesundheitskompetenzen in großen Teilen der Bevölkerung hinweisen. In Deutschland deuten bevölkerungsrepräsentative Daten darauf hin, dass über die Hälfte der deutschen Bevölkerung eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz aufweist (Schaeffer et al. 2017). Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff Gesundheitskompetenz?

N. Ernstmann (*) · S. Halbach Forschungsstelle für Gesundheitskommunikation und Versorgungsforschung (CHSR), Klinik/Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] J. Sautermeister Katholisch-Theologische Fakultät, Moraltheologisches Seminar, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected]

" Definition Gesundheitskompetenz Gemäß einer umfas-

senden Übersichtsarbeit beschreibt Gesundheitskompetenz das Wissen, die Motivation und die Fähigkeit von Individuen, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und bei gesundheitsrelevanten Entscheidungen anzuwenden, um die Gesundheit und Lebensqualität zu erhalten oder zu verbessern (Sørensen et al. 2012). Dieser Definition liegt ein Modell zugrunde, das vom European Health Literacy Consortium für den European Health Literacy Survey entwickelt wurde und die Kompetenzen im Umgang mit Informationen auf die Bereiche der Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und der Krankheitsbewältigung bezieht. Die Fähigkeit eines Menschen, Informationen über den Nutzen einer Grippeschutzimpfung im Internet zu finden, ist demnach ebenso ein Aspekt der individuellen Gesundheitskompetenz, wie die Fähigkeit eines Prostatakrebspatienten, sich eine urologische Zweitmeinung zu einer Therapieempfehlung einzuholen, oder die Fähigkeit eines Jugendlichen, die ihm angebotene Zigarette abzulehnen. Somit bezieht sich die Gesundheitskompetenz auf den individuellen Umgang mit Gesundheitsinformationen jeglicher Art. Sie hängt daher eng mit generellen kognitiven

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_25

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Kompetenzen sowie – insbesondere in der Umsetzung von Gesundheitsinformationen – mit motivationalen Faktoren, Selbstwirksamkeitserwartungen und Kontrollüberzeugungen zusammen. Darüber hinaus wird die Gesundheitskompetenz als relationales Konstrukt verstanden: Die Frage, wie gut ich mich in einer Umwelt zurechtfinde und gesundheitskompetent agiere, hängt in hohem Maße von der Gestaltung der Umwelt und der Informationen ab (Squiers et al. 2012). Ein Beispiel hierfür ist die Schulung kommunikativer Kompetenzen von Patienten. Werden Patienten dazu befähigt, sich sorgfältig auf Gespräche mit ihren Behandlern vorzubereiten, kann diese neu erworbene Kompetenz nur dann eingesetzt werden, wenn der behandelnde Arzt die vorbereitete Gesprächs-Checkliste akzeptiert. Ein anderes Beispiel sind Hygieneschulungen. Eine Schulung zur Händedesinfektion von Krankenhausmitarbeitern kann nur dann zu einer Änderung des Hygieneverhaltens führen, wenn das Krankenhaus in allen Bereichen und Räumen Händedesinfektionsmittelspender vorsieht. In der Modellierung des Konstrukts Gesundheitskompetenz können darüber hinaus drei Ebenen unterschieden werden, welche die Dimensionen des European Health Literacy Consortium ergänzen (Nutbeam 2000): Die funktionale Gesundheitskompetenz (1) beschreibt die Grundkompetenzen für das Lesen und Verstehen von Gesundheitsinformationen. Die interaktive Gesundheitskompetenz (2) umfasst kognitive und soziale Kompetenzen, die für die Auseinandersetzung mit Informationen notwendig sind. Die kritische Gesundheitskompetenz (3) beschreibt fortgeschrittene kognitive und soziale Kompetenzen, die für einen kritischen Umgang mit Informationen oder die Infragestellung von Gegebenheiten benötigt werden. Diese Ebenen sind dabei nicht streng hierarchisch zu interpretieren, selbst bei mangelnder funktionaler Gesundheitskompetenz können Menschen zur Anwendung kritischer Gesundheitskompetenzen befähigt werden (Nutbeam 2000).

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Wie misst man Gesundheitskompetenz?

Messinstrumente zur Einschätzung der Gesundheitskompetenz basieren auf unterschiedlichen Konzepten oder Teildimensionen der Gesundheitskompetenz, wie z. B. auf der Fähigkeit Gesundheitsinformationen zu finden und zu verstehen oder auf der Bewertung des vorhandenen Gesundheitswissens. Es existieren sowohl umfassende diagnostische Instrumente als auch kurze Screeninginstrumente (Altin et al. 2015a), die auf unterschiedlichen Messansätzen, z. B. auf der selbsteingeschätzten Kompetenz oder auf Funktionsoder Wissensmessungen, beruhen. Je nach Definition und Operationalisierung der Gesundheitskompetenz wird diese durch unterschiedliche Determinanten bestimmt (van der Heide et al. 2016).

Die meisten Erkenntnisse zur Gesundheitskompetenz aus Deutschland basieren derzeit auf standardisierten Selbsteinschätzungsinstrumenten (Abel und Sommerhalder 2015). Diese erfassen die Beurteilung der Gesundheitskompetenz durch die befragte Person selbst, d. h. die Befragten geben z. B. an, in welchem Ausmaß sie Schwierigkeiten bei bestimmten Aufgaben oder Anforderungen haben. Es existieren zahlreiche Instrumente, deren Reliabilität und Validität geprüft wurde (Haun et al. 2014; Altin et al. 2014; Kiechle et al. 2015). Zu den prominenten Beispielen gehört u. a. der European Health Literacy Survey (HLS-EU), der – abhängig von der Anzahl an verwendeten Items – in verschiedenen Versionen verfügbar ist (HLS-EU Consortium 2011a, b, 2012). Er umfasst mehrere Dimensionen der Gesundheitskompetenz, wie das Finden, das Verstehen, das Bewerten und das Nutzen von Gesundheitsinformationen. Ein weiteres Beispiel ist der Health Literacy Questionnaire (HLQ) (Osborne et al. 2013), mit dem auf insgesamt neun Subskalen verschiedenste Dimensionen der Gesundheitskompetenz erfasst werden können, wie die Fähigkeiten zur Kommunikation mit dem Arzt oder auch das Vorhandensein von sozialer Unterstützung. Eine Kurzskala von Chew, deren Items sich beispielsweise auf Fähigkeiten zum Ausfüllen medizinischer Formulare oder das Verstehen schriftlicher medizinischer Informationsmaterialien beziehen, gilt als prominentes Beispiel für ein Screeninginstrument (Chew et al. 2004), dessen Screening-Eignung jedoch kürzlich aufgrund mangelnder Vorhersagevalidität in Frage gestellt wurde (Mantwill et al. 2018). Unterschiede zwischen den einzelnen Selbsteinschätzungsinstrumenten bestehen hauptsächlich in den ihnen zugrunde liegenden Definitionen von Gesundheitskompetenz und der damit einhergehend betrachteten Dimensionen, in ihrer Länge (Anzahl an Items) sowie in ihrem Einsatzgebiet. Einsatzgebiete umfassen z. B. die allgemeine Bevölkerung oder das Versorgungssetting. Ein methodischer Vorteil der standardisierten schriftlichen Selbsteinschätzung liegt in der Durchführbarkeit und Praktikabilität. Sie eignet sich besonders für schriftliche Befragungsstudien mit großen Stichproben, da diese Instrumente ohne Anwesenheit eines Forschers eingesetzt werden können. Sie werden daher häufig in großen Bevölkerungsstudien, wie dem European Health Literacy Survey, verwendet. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass sie häufig mehrere Dimensionen der Gesundheitskompetenz abbilden, während Funktions- oder Wissenstests meistens eindimensional konzipiert sind und lediglich Aspekte der funktionalen Gesundheitskompetenz oder des Gesundheitswissens messen. Die Selbsteinschätzungen sind inhaltlich dann angebracht, wenn die subjektiv wahrgenommenen Stärken und Schwächen erhoben werden sollen, um z. B. Bedarfsanalysen für individuelle Interventionen vorzunehmen. Methodisch und inhaltlich problematisch sind bei dieser Art der Operationalisierung die möglichen Antwortverschiebungen (Phänomen des

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Gesundheitskompetenz

„response shift“) bei Veränderungsmessungen: Der Zuwachs an Wissen oder Fertigkeiten durch Fortbildungen oder Schulungen kann dazu führen, dass man kritischer in Bezug auf die eigenen Kompetenzen wird. Je mehr man weiß, desto besser kennt man die eigenen Wissenslücken. Dies kann dazu führen, dass positive Effekte von Interventionen nicht messbar sind, weil die Teilnehmer ihre Kompetenzen nach der Intervention kritischer bewerten. Es kann auch vorkommen, dass sich die Teilnehmer trotz (bzw. wegen) der Intervention im Vorher-Nachher-Vergleich verschlechtern. Dieser Effekt kann auch zu einer Verzerrung zwischen unterschiedlichen Bildungsgruppen führen: Personen mit höherer Bildung neigen möglicherweise eher zu einer kritischen Beurteilung und somit Unterschätzung ihrer Fähigkeiten. Personen mit geringerer Bildung überschätzen möglicherweise eher ihre Fähigkeiten. Es werden künftige vergleichende Validierungsstudien und Untersuchungen der Änderungssensibilität zeigen müssen, welche Instrumente sich dazu eignen, intraindividuelle Veränderungen valide zu messen. Übersichtsarbeiten geben Hinweise darauf, dass die derzeitigen Instrumente nicht dazu geeignet sind, Veränderungen über die Zeit hinweg aufzudecken (Haun et al. 2014). Ein weiterer Weg der Messung der Gesundheitskompetenz sind funktionale Tests. Hierbei werden funktionale Aspekte der Gesundheitskompetenz, d. h. die Lese- und Rechenkompetenzen und das Erkennen medizinischer Fachbegriffe erhoben. Häufig eingesetzte und geprüfte Testverfahren sind u. a. der Test of Functional Health Literacy in Adults (TOFHLA) (Parker et al. 1995), der Newest Vital Sign (NVS) (Weiss et al. 2005) und der Rapid Estimate of Adult Literacy in Medicine (REALM) (Davis et al. 1991). Der TOFHLA und seine Kurzversion S-TOFHLA erfassen Lese- und Rechenkompetenzen mit Hilfe von Lückentexten und offenen Fragen. Sie eignen sich besonders für das Erfassen des Lese- und Rechenverständnisses von Personen mit mittlerer bis geringer „literacy“. Diese Instrumente beziehen sich auf Themen, wie z. B. das Verstehen von Informationen zur Vorbereitung auf diagnostische Verfahren, den Umgang mit der Krankenkasse sowie auf das Verständnis von Arzneimittelverschreibungen und Hinweisen zur Blutzuckerkontrolle. Der NVS erfasst die Fähigkeit zum Verstehen medizinischer Anweisungen. Den Probanden wird eine Nährwertangabe einer Eiscremeverpackung vorgelegt, die stellvertretend für medizinische Anweisungen steht. Anhand von sechs Fragen, wie z. B. zu den im Produkt enthaltenen Kalorien, werden die Lese- und Rechenkompetenzen der Probanden innerhalb von wenigen Minuten ermittelt. Mit Hilfe des REALM (ebenfalls in verschiedenen Versionen verfügbar) kann die Fähigkeit zum Erkennen medizinischer Begriffe gemessen werden. Bei diesem Testverfahren wird dem Probanden eine Liste mit hauptsächlich medizinischen Begriffen vorgelegt. Der Proband wird gebeten, diese Begriffe laut vorzulesen. Anhand der Aussprache der

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Begriffe kann der Forscher oder Kliniker dann wiederum Rückschlüsse auf die Lesekompetenz des Probanden ziehen. Ein Nachteil dieses Verfahrens ist, dass es nur in Sprachen mit bestimmter Intonation (z. B. Englisch) eingesetzt werden kann. Alle genannten Testverfahren haben gemeinsam, dass anhand der Anzahl an korrekt beantworteten Fragen bzw. ausgesprochenen Begriffe Rückschlüsse auf das Kompetenzlevel der Probanden gezogen werden können. Viele Testverfahren sind frei verfügbar im Internet (https://healthliteracy. bu.edu/. Zugegriffen am 04.06.2018) zu finden. Ein Vorteil dieser Testverfahren ist ihre Objektivierbarkeit. Anstelle von selbsteingeschätzten Fähigkeiten werden funktionale Kompetenzen in Bezug auf bestimmte Aufgabenstellungen erhoben. Außerdem ermöglichen diese Testverfahren eine schnelle Einschätzung der Gesundheitskompetenz von Patienten. Sie werden daher nicht nur in der Forschung, sondern auch als Screeninginstrumente im klinischen Setting eingesetzt, mit denen sich das medizinische Fachpersonal möglichst schnell einen ersten Eindruck der Gesundheitskompetenz von Patienten verschaffen kann. Nachteilig dabei ist der Prüfungscharakter, der in bestimmten Situationen nicht zu empfehlen ist. Das können Studien sein, in denen vulnerable Personen befragt werden, die durch Krankheit belastet sind oder über geringe Bildung verfügen und somit eine Gefahr der Stigmatisierung durch die Erhebung gegeben ist. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass diese Testverfahren meist nur in Anwesenheit eines Forschers oder Klinikers durchgeführt werden können und sie daher für Studien mit größeren Stichproben weniger geeignet sind.

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Wie steht es um die Gesundheitskompetenz?

Betrachtet man europäische Daten, so kann bei knapp der Hälfte der europäischen Bevölkerung von einer problematischen oder unzureichenden Gesundheitskompetenz gesprochen werden. Es zeigen sich insbesondere Schwierigkeiten bei der Einschätzung von Gesundheitsinformationen oder bei der Notwendigkeit, eine Zweitmeinung einzuholen. In Deutschland weist über die Hälfte der Bevölkerung eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz auf (Schaeffer et al. 2017). Betroffen sind insbesondere ältere Menschen oder Personen mit Migrationshintergrund. Sie haben häufig erhebliche Schwierigkeiten, Informationen über Krankheitsbehandlungen zu finden, Packungsbeilagen von Medikamenten nachzuvollziehen oder zu verstehen, was ihr Arzt ihnen sagt (Schaeffer et al. 2017; Messer et al. 2015). Internationale Forschungsergebnisse weisen schon seit mehreren Jahrzehnten auf die Folgen geringer Gesundheitskompetenz für Patienten und das Gesundheitssystem hin. So zeigen Studien, dass geringe Gesundheitskompetenz mit schlechteren gesundheitlichen Outcomes assoziiert ist

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(Lee et al. 2004; Parker 2000). Insbesondere bei chronisch Erkrankten werden Zusammenhänge zwischen einer geringen Gesundheitskompetenz und einer höheren Sterblichkeit (Cavanaugh et al. 2010), einem höheren Risiko für stationäre Aufenthalte (Berkman et al. 2011) und einer geringeren Adhärenz (Kalichman et al. 1999) berichtet. Als Ursachen für diese Befunde werden eine verminderte Fähigkeit zum Selbstmanagement der Erkrankung (Edwards et al. 2012) sowie ein niedrigeres Gesundheitswissen (Berkman et al. 2011) diskutiert. Strategien zur Verbesserung der individuellen Gesundheitskompetenz können somit zu geringeren Einnahmefehlern (DeWalt und McNeill 2013), zu verbesserten Gesundheitsoutcomes (Cho et al. 2008; Peterson et al. 2011; Sheridan et al. 2011), zu einer geringeren Hospitalisierungsrate (Sheridan et al. 2011) sowie zu geringeren Gesundheitsausgaben beitragen (Hardie et al. 2011; Koh et al. 2012). Einige Interventionsansätze zur Steigerung der Gesundheitskompetenz fokussieren spezielle Erkrankungen oder vulnerable Personengruppen wie z. B. Patienten mit Diabetes mellitus (Ratanawongsa et al. 2013; Schillinger et al. 2003; Kandula et al. 2009).

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Gesundheitskompetenz in Gesundheitseinrichtungen

Während die empirische Forschung zur individuellen Gesundheitskompetenz kontinuierlich zunimmt, wird dem Kontext, in dem Gesundheitsleistungen erbracht werden, bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit in der empirischen Forschung gewidmet. Zwar existieren theoretische Modelle und Definitionen, die Gesundheitskompetenz als relationales Konstrukt verstehen (Baker 2006; Nutbeam 2008). Diese betrachten die Gesundheitskompetenz als einen „dynamischen Zustand“, z. B. während des Navigierens durch das Gesundheitssystem oder im Rahmen einer medizinischen Konsultation (Baker 2006). Dennoch werden in der empirischen Forschung bislang selten Mikro- und Mesoebenen der Versorgung in Bezug zur individuellen Gesundheitskompetenz gesetzt, obwohl angenommen wird, dass der organisatorische Kontext dazu beitragen kann, Kompetenzdefizite auszugleichen (DeWalt und McNeill 2013). Eine Vielzahl an kompetenzorientierten Interventionen – z. B. die Schaffung einer schamfreien Atmosphäre, die didaktische Reduktion von Informationen, das Aufzeigen von Beispielen, das Aufzeichnen von Gesprächen, die Anwendung von Teach-Back-Techniken, der Einsatz verschiedener Medien oder von Informationsmaterial in einfacher Sprache – ist in unterschiedlichen Settings anwendbar (Doak et al. 1998; Ackermann et al. 2017; Langewitz et al. 2015; Watson und McKinstry 2009; van der Meulen et al. 2008; Sudore und Schillinger 2009). Dennoch kommen viele Maßnahmen nicht in der Praxis zum Einsatz, obwohl sie nicht nur das Potenzial

haben, individuelle Gesundheitskompetenzdefizite auszugleichen, sondern auch die Gesundheitskompetenz der Betroffenen zu steigern. Die Bemühungen von Gesundheitseinrichtungen, die auf die Gesundheitskompetenz ihrer Patienten abzielen, lassen sich unter dem Konzept der organisationalen Gesundheitskompetenz zusammenfassen (Brach et al. 2012). Die organisationale Gesundheitskompetenz charakterisiert somit, inwiefern z. B. Krankenhäuser, Versorgungszentren, Arztpraxen oder Pflegeeinrichtungen ein Bewusstsein für die Gesundheitskompetenz ihrer Klienten entwickeln und konkrete Maßnahmen ergreifen, Variationen der individuellen Gesundheitskompetenz zu berücksichtigen und die individuelle Gesundheitskompetenz zu stärken (Altin et al. 2015b; Kowalski et al. 2015; Pelikan und Dietscher 2015). Das Institute of Medicine (IOM) definiert gesundheitskompetente Gesundheitsorganisationen als Organisationen, „die es Menschen leichter machen, sich zurechtzufinden und Gesundheitsinformationen und -leistungen zu verstehen sowie in Anspruch zu nehmen.“ (Brach et al. 2012, S. 2). Dabei werden alle Einrichtungen mit direktem oder indirektem Patientenkontakt als Gesundheitsorganisationen definiert. Das Hauptaugenmerk liegt aber bei Organisationen mit direktem Einfluss auf Patienten (etwa Krankenhäuser oder Arztpraxen). Die Autoren fordern eine systemübergreifende Überarbeitung sämtlicher Prozesse und Vorgänge in Gesundheitsorganisationen unter Berücksichtigung des Bildungsstands, der Sprache und der kulturellen Hintergründe ihrer Patienten. Ziel ist ein Bekenntnis zur Förderung von Gesundheitskompetenz in allen Strukturen und Abläufen innerhalb der Organisation. Durch Experten entwickelt wurden die folgenden zehn Merkmale einer organisationalen Gesundheitskompetenz (Brach et al. 2012):

Organisationale Gesundheitskompetenz

1. Die Organisationsleitung erklärt die Gesundheitskompetenz zum integralen Bestandteil des Leitbildes sowie der Prozesse und Strukturen. 2. Die Organisationsleitung bindet Gesundheitskompetenz in die strategische Planung, Evaluationsmaßnahmen, Patientensicherheitsaktivitäten und Qualitätssicherungsmaßnahmen ein. 3. Die Organisation informiert und schult ihre Mitarbeiter im Hinblick auf gesundheits-kompetenzfördernde Maßnahmen und evaluiert die Erfolge dieser Maßnahmen. 4. Informations- und Aufklärungsmaterial wird unter Einbezug der Zielgruppen, an die sich diese Angebote richten, entwickelt, implementiert und evaluiert. (Fortsetzung)

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Gesundheitskompetenz

5. Die Organisation wird den Bedürfnissen von Personengruppen mit unterschiedlichen Kompetenzniveaus gerecht, ohne zu stigmatisieren. 6. Die Organisation wendet Strategien zur Gesundheitskompetenzförderung bei der interpersonellen Kommunikation an und stellt eine Rückversicherung des korrekten Verständnisses (auf beiden Seiten) bei allen Kontakten sicher. 7. Die Organisation stellt leichten Zugang zu Gesundheitsinformationen und Dienstleistungen sicher und sorgt für Unterstützung bei der Navigation. 8. Die Organisation entwickelt und verteilt gedruckte, audiovisuelle und soziale MedienInformationen, deren Inhalt einfach zu verstehen und umzusetzen ist. 9. Die Organisation berücksichtigt individuelle Gesundheitskompetenzen auch in HochrisikoSituationen wie z. B. Überweisungen oder Verlegungen sowie bei der Vermittlung von Arzneimittelinformationen. 10. Die Organisation kommuniziert eindeutig, welche Leistungen durch Krankenversicherungen abgedeckt werden und wofür Patienten selbst zahlen müssen.

Dieses Konzept wurde in Europa bereits aufgegriffen und angepasst (Pelikan und Dietscher 2015). Zur Messung der organisationalen Gesundheitskompetenz aus Sicht der Leistungserbringer wurde ein deutsches Instrument entwickelt und an einer Stichprobe deutscher Brustkrebszentren validiert (Kowalski et al. 2015). Es zeigten sich Unterschiede zwischen den Zentren, die sich – korreliert mit Patientenbeurteilungen zur Verständlichkeit der erhaltenen Informationen – als prädiktiv für die Interaktionsqualität zwischen Versorgenden und Patienten erwiesen. Analog zu diesem Instrument zur Erhebung der Versorgerperspektive wurde ein Instrument zur Messung von Teilaspekten der organisationalen Gesundheitskompetenz aus Patientensicht in der onkologischen Versorgung an einer Stichprobe von Darm- und Brustkrebspatientinnen getestet (Ernstmann et al. 2017). Darüber hinaus wurde ein Screeninginstrument zur organisationalen Gesundheitskompetenz in Hausarztpraxen entwickelt (Altin et al. 2015b). Die Frage, inwiefern Aspekte der organisationalen Gesundheitskompetenz bereits jetzt in Krankenhäusern, Arztpraxen oder Pflegeeinrichtungen Berücksichtigung finden, ist nicht leicht zu beantworten. In einzelnen Teilbereichen und abhängig von der jeweiligen Berufsgruppe gibt es bereits zahlreiche Aktivitäten. So ist die individuelle Befähigung eine selbstverständliche Kernaufgabe der Profession von Pflegenden in Form von Patienten- und Angehörigenberatung und -anleitung.

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Auch betriebliche Gesundheitsförderungsprogramme sind in vielen Bereichen fest etabliert, um die Gesundheitskompetenz der Mitarbeiter zu stärken. Ob und in welchem Ausmaß Maßnahmen im Alltag angekommen sind, hängt von dem jeweiligen spezifischen Gegenstand ab. Geht es z. B. um Hygienekompetenzen oder um Kompetenzen im Umgang mit dem eigenen Burnout-Risiko? Oder sollen Maßnahmen zur Sturzprävention von Altenheimbewohnern umgesetzt werden? Zukünftige versorgungsepidemiologische Vorhaben werden zeigen müssen, auf welchen der zehn Dimensionen der organisationalen Gesundheitskompetenz Nachholbedarf besteht. Im onkologischen Setting zeigen sich z. B. die niedrigsten Werte in Bezug auf die Entwicklung von Informationsmaterial unter Einbezug von Patienten, in Bezug auf das Bereithalten von Informationsmaterialien in verschiedenen Sprachen oder Schriftgrößen sowie in Bezug auf den Einsatz verschiedener Informationsmedien (Kowalski et al. 2015).

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Ethische Aspekte von Gesundheitskompetenz

Gesundheit stellt im Unterschied zu einem deskriptiven Verständnis, das sich ausschließlich auf die Beschreibung von Funktionalität bzw. Dysfunktionalität leibseelischer Prozesse und Mechanismen bezieht, einen normativ-praktischen Begriff dar (Pöltner 2006). Die Rede von Gesundheit ist mit Wertungen und Normvorstellungen verbunden, die sich aus der lebensweltlichen Erfahrung von Menschen speisen, in der subjektive, objektive und relationale Dimensionen zu berücksichtigen sind (Schröder-Bäck 2014). Krank zu sein, ist etwas, das dem eigenen Empfinden nach nicht sein soll – es sei denn, es liegt ein sekundärer Krankheitsgewinn vor – und das möglichst zu beheben ist. Bei dieser Kontrasterfahrung spielen sowohl soziokulturelle als auch individuellbiografische Faktoren eine wichtige Rolle. Krankheit und Gesundheit sind somit handlungsleitende Begriffe: Krankheit verweist auf eine Notlage, die nach Hilfe verlangt. Gesundheit dagegen wird als ein fundamentales Gut erfahren, das für Wohlbefinden, Lebensqualität, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und für gelingendes Leben von Bedeutung ist und das deshalb auch möglichst zu fördern oder zu bewahren ist (Schockenhoff 2016). Das Anliegen, Gesundheitskompetenz zu stärken und entsprechende Praktiken und Ansätze in unterschiedlichen Settings zu implementieren, hat dementsprechend normative Implikationen. Eine Reflexion auf ethische Aspekte von Gesundheitskompetenz wird angesichts eines normativ-praktischen Gesundheitsverständnisses nicht von außen an dieses Konstrukt herangetragen. Vielmehr lassen sich normative Fragestellungen aus den lebensweltlichen Erfahrungskontexten und Praxiszusammenhängen von Gesundheitskompetenz selbst rekonstruieren. Dabei spielen vier Aspekte eine wich-

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tige Rolle: (1) Gesundheit ist ein fragiles, verletzbares und vergängliches Gut, das im Laufe der Lebensspanne von unterschiedlichen typischen, aber auch situativen Gefährdungen potenziell bedroht ist (anthropologische Vulnerabilität). Für besonders vulnerable Personengruppen mit speziellen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen, sozialen Umständen, bestimmten Lebensbedingungen oder kontextuellen oder strukturellen Bedingungen stellt Gesundheit eine komplexere Herausforderung dar (spezifische Vulnerabilität). (2) Der Einzelne kann durch sein Verhalten und seine Lebensführung im Rahmen seiner Möglichkeiten vorsorgend-präventiv bzw. protektiv, aber auch kurativ oder rehabilitativ Einfluss auf seine Gesundheit nehmen. Er hat – bereits aus klugem Eigeninteresse – Verantwortung für seine Gesundheit, wenngleich man die eigene Gesundheit niemals völlig kontrollieren und gestalten kann. Die Fähigkeit und Ausübung gesundheitsförderlichen Verhaltens ist auf interaktionelle und strukturelle Bedingungen sowie auf psychische, soziale, kulturelle und materielle Ressourcen angewiesen (relationale Autonomie). (3) Die Förderung und Stärkung von Gesundheitskompetenz stellt damit aus ethischer Perspektive zugleich einen Beitrag zur Ermöglichung guten und gelingenden Lebens dar, wobei hier das Recht auf Selbstbestimmung im Sinne eines negativen Abwehrrechts gegen Übergriffe wie auch im Sinne eines positiven Anspruchsrechts auf Befähigung und Teilhabe an relevanten Gütern und Interaktionen zu wahren ist (Befähigung, Empowerment). (4) Im Unterschied zu einem verkürzten Verständnis von Gesundheitskompetenz, das vorrangig von ökonomischen Faktoren geleitet ist und den Einzelnen als Arbeitskraft, als Humankapitel ansieht und instrumentalisiert, kommt in einem normativ-praktischen Verständnis von Gesundheitskompetenz und deren Förderung die Anerkennung der Person als leibseelisches, fragiles, vulnerables Wesen zum Ausdruck (Anerkennung, Würde). Da persönlich-biografische, interaktionelle, organisationale und systemtisch-strukturelle Komponenten für Bildung, Stärkung und Realisierung von Gesundheitskompetenz wirksam sind – umgekehrt auch für die Beeinträchtigung von Gesundheitskompetenz – ist die Förderung von Gesundheitskompetenz eine vielschichtige Aufgabe. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Förderung von Gesundheitskompetenz sozialethisch weiter ausdifferenzieren: Insofern Vulnerabilität zu den Merkmalen des Menschseins, der conditio humana, in der alle Menschen miteinander verbunden sind, zählt, lässt sich Gesundheitskompetenz als eine Aufgabe wechselseitiger Unterstützung auch durch sozialpolitische und sozialstaatliche Maßnahmen begreifen (Solidarität) (Höffe 2008). Dabei ist darauf zu achten, dass die Stärkung von Gesundheitskompetenz die Selbstbestimmung von Personen respektiert und auf eine Hilfe zur Selbsthilfe abzielt. Dadurch wird sowohl die Würde der Person geachtet als auch die Selbstwirksamkeit und Selbstregulationsfähigkeit gefördert (Subsidiarität).

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Angesichts unterschiedlicher Interessen und Ansprüche in privaten und beruflichen Handlungsfeldern, wie z. B. Verantwortung für Kinder, Verpflichtung zur Erhaltung der Arbeitskraft oder möglichst lange leibseelische Fitness, einerseits und angesichts knapper materieller, zeitlicher, kultureller, sozialer und psychischer Ressourcen einzelner Menschen, Institutionen und der Gesellschaft andererseits stellt sich die Frage nach der gerechten Verteilung von Gütern, die die personen- und kontextsensibel die Gesundheitskompetenz von Menschen in interaktionellen und institutionellen Zusammenhängen fördern. Dabei ist darauf zu achten, dass Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion von bestimmten Personengruppen oder Individuen aufgrund bestimmter Merkmale zu vermeiden sind (Gerechtigkeit) (Höffe 2015). Überdies ist aus einer Perspektive von Public Health darauf zu achten, dass der Einsatz entsprechender Mittel und Maßnahmen effizient und verhältnismäßig erfolgt (Schröder-Bäck 2014; Strech und Marckmann 2010). Gesundheitskompetenz lässt sich in übergeordneter ethischer Hinsicht als ein Aspekt der Identität eines Menschen verstehen und bezieht sich auf die spezifische Fähigkeit zur Identitätsarbeit in gesundheitsbezogener Hinsicht. Ein solcher Zugang verbindet biografische, leibseelische, psychosoziale, soziokulturelle, strukturell-organisationale sowie religiös-weltanschauliche Faktoren, die für ein interaktionales Verständnis von Identität zu beachten sind. Die Identität eines Menschen umschreibt den unbeliebigen, aber dynamischprozessualen Spielraum von Selbstbestimmung und Autonomie, die stets begrenzt und bedingt ist. Die Möglichkeiten und Grenzen der persönlichen Identität bestimmen – neben interaktionellen, organisatorischen und systemisch-strukturellen Komponenten – den interaktionalen Gestaltungsraum zur Stärkung von Gesundheitskompetenz. Für die Förderung und Realisierung von Gesundheitskompetenz bedarf es neben selbstregulatorischer Fähigkeiten auch spezifischer zwischenmenschlicher Qualitäten wie Vertrauen, Empathie, Achtsamkeit, Fürsorge und Selbstsorge, Besonnenheit und Gelassenheit. Sie lassen sich in ethischer Perspektive als relationale Tugenden verstehen, in denen sich normative Aspekte der Gesundheitskompetenz auf der Ebene von personalen Haltungen in Interaktionszusammenhängen konkretisieren (z. B. Arzt-Patient, Mitarbeiter-Vorgesetzter). Einer solchen personen- und kontextsensiblen ethischen Betrachtungsweise von Gesundheitskompetenz entspricht das Konzept einer „individualisierten Standardisierung“ (Ansmann und Pfaff 2017), das einen evidenzbasierten Zugang im Kontext von Public Health um die individuelle Dimension erweitert. Zugleich ermöglicht es dieser Zugang, verschiedene Tendenzen der Engführung von Gesundheitskompetenz, etwa durch bloß zweckrationale Funktionalisierung bzw. Ökonomisierung oder Medikalisierung bzw. Pathologisierung, insofern zu kritisieren, als mit ihnen unrealistische Anforderungen oder Instrumentalisierungen, aber

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Gesundheitskompetenz

auch starre Identitätszuschreibungen oder gar Diskriminierungen einhergehen können, die mit der Würde des Menschen, einer konkreten Anerkennungspraxis von Individuen und einem praktischen, lebensweltlichen Selbstverständnis als Person nicht vereinbar sind (Sautermeister 2018) und zu gesellschaftlicher Entsolidarisierung führen könnten (Maio 2014).

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Fazit und Ausblick

Gesundheitskompetenz kann als eine zentrale Ressource im Rahmen der Prävention, (Früh-)Erkennung und Bewältigung von Erkrankungen betrachtet werden. Je höher die Gesundheitskompetenz, umso besser finden sich Bürger, Versicherte und Patienten im Gesundheitssystem zurecht, umso leichter fällt ihnen die Kommunikation mit ihren Behandlern, umso eher können sie informierte Entscheidungen treffen und die Anforderungen, die mit einer Erkrankung verbunden sind, erfolgreich bewältigen. Die Gesundheitskompetenz ist jedoch nicht nur eine individuelle Fähigkeit, sie ist auch davon abhängig, welche Anforderungen ein System oder eine Erkrankung an die Betroffenen stellt. Daher sollten die Berücksichtigung der individuellen Gesundheitskompetenz und die Stärkung der individuellen Kompetenzen in die Gestaltung patienten- und bürgerzentrierter Versorgungsangebote einfließen. Dabei gilt es aus ethischer Perspektive, die Möglichkeiten und Grenzen der persönlichen Identität zu berücksichtigen, da diese den interaktionalen Gestaltungsraum zur Stärkung von Gesundheitskompetenz bestimmen. Auf einer solchen Basis können individualisiert-standardisierte Maßnahmen langfristig gesundheitliche soziale Ungleichheiten verringern. Die Förderung der Gesundheitskompetenz ist in Deutschland ein nationales Gesundheitsziel und eine Kernaufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 1 SGB V). Darüber hinaus wird sie im Sozialgesetzbuch als eines von acht Präventionszielen (§ 20 SGB V) genannt. In der jüngeren Vergangenheit wurden viele Bündnisse zur Gesundheitskompetenz auf den Weg gebracht. So wurden in Deutschland von Vertretern aus Wissenschaft, Politik und der Kostenträger konkrete Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in Form des „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ entwickelt. Daneben wurde die „Allianz für Gesundheitskompetenz“ von Vertretern der Spitzenorganisationen im Gesundheitswesen gegründet, um sich für eine Stärkung der Gesundheitsbildung der Allgemeinbevölkerung, für die Bereitstellung von wissenschaftlich fundierten und verständlichen Gesundheitsinformationen und für die Förderung der Kommunikationskompetenzen der im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen einzusetzen. Es wird sich in Zukunft zeigen, inwiefern diese Bündnisse bevölkerungsbezogene Maßnahmen auf den Weg bringen

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werden, die die Gesundheitskompetenz sowohl der Bürger als auch der Gesundheitseinrichtungen verbessern können. In den Gesundheitswissenschaften wird es in Zukunft eine vorrangige Aufgabe sein, interdisziplinäre Forschungsvorhaben zu planen, die (gesundheits-)psychologisches, soziologisches, pädagogisches, medizinisches, ethisches und versorgungswissenschaftliches Wissen bündeln, um erstens vertieftes Grundlagenwissen zu den Mechanismen der Entwicklung von individueller und organisationaler Gesundheitskompetenz zu schaffen und zweitens darauf aufbauend zielgruppenspezifische Interventionen zu entwickeln, die diese Mechanismen nutzen. Diese Interventionen sollten in verschiedenen Settings und Lebensphasen greifen, von der Kindheit bis in das hohe Erwachsenenalter. Bei der Implementierung dieser Interventionen wird somit sowohl die Gesundheitspolitik als auch die Sozial- und Bildungspolitik gefragt sein.

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Gesundheitskompetenz

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Zur Bedeutung der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin in den Gesundheitswissenschaften

24

Markus W. Haun und Till Johannes Bugaj

Inhalt 1

Einleitende Fallvignette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

2 2.1 2.2 2.3

Grundlagen und klinische Praxis der Psychosomatischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biopsychosoziales Modell als Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Simultandiagnostik und -therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besondere Bedeutung der qualifizierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Historische Entwicklung der Psychosomatischen Medizin und Verankerung im deutschen Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

4

Krankheits- und Störungsbilder in der Psychosomatischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

5 5.1 5.2 5.3

Bedeutung der Psychosomatischen Medizin für die Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der ambulanten Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Akutkliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

280 280 281 281

284 284 284 285

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

1

Einleitende Fallvignette

Die 43-jährige Silvia K. stellt sich auf Anraten ihres Hausarztes in der Ambulanz der Fachabteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie einer deutschen Universitätsklinik vor. Vorausgegangen waren monatelange diagnostische und therapeutische Bemühungen durch den Hausarzt und weitere niedergelassene Fachärzte bei diffuser Schmerzsymptomatik, welche mittlerweile auch zur Arbeitsunfähigkeit geführt hat. Bei fehlendem richtungsweisenden Befund in der neurologischen, orthopädischen und rheumatologischen Abklärung wurde frühzeitig der Verdacht auf

M. W. Haun (*) · T. J. Bugaj Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.40) geäußert. Dennoch war die Patientin erst nach zwei krisenhaften Zuspitzungen der Schmerzen mit konsekutiver Vorstellung in der Notaufnahme eines wohnortnahen Klinikums bereit, die mehrfach vorgeschlagene Vorstellung in der Psychosomatischen Klinik anzugehen. Zu Beginn des ausführlichen diagnostischen Gesprächs gibt sich Silvia K. sehr distanziert und wenig kooperativ. Sie sei geschickt worden, weil „alle Welt“ glaube, dass sie „gar nicht krank“ sei, sondern sich die heftigen Schmerzen in Leiste, Rücken, Nacken und den Händen bloß „einbilde“. Erst mit zunehmender Dauer des Kontaktes gelingt es ihrem Gegenüber, Dr. J., einem erfahrenen Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Silvia K. zu vermitteln, dass er ihr glaube, dass sie unter heftigen Schmerzen leide und dass er ihr dabei helfen wolle, die Ursache dieser Symptome näher zu ergründen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_27

279

280

M. W. Haun und T. J. Bugaj

Durch die unterstützende Gesprächsatmosphäre fällt es der Patientin zunehmend leichter, ihre Beschwerden zu beschreiben. Neben den quälenden Schmerzen des Bewegungsapparates werden auch die hartnäckige Obstipation der Patientin sowie die damit einhergehenden Unterbauchkrämpfe thematisiert. Auf gezielte Nachfrage berichtet Silvia K., dass die heutigen Beschwerden erst seit einigen Jahren bestehen würden, in der Kindheit und Jugend habe sie aber oft unter Kopfschmerzen gelitten. Dr. J. nimmt während all dieser Schilderungen eine geduldige und interessierte Grundhaltung ein und ermutigt die Patientin, ihre eigenen Modelle zur Entstehung der Beschwerden mitzuteilen. Besonders überrascht ist Silvia K. darüber, dass Dr. J. sie bei der Schilderung ihrer schwierigen Kindheit und jener gewalttätigen Übergriffe durch den Vater weder konfrontiert noch – wie so viele Menschen vor ihm – behauptet, dass diese biografischen Erfahrungen ihre Beschwerden bereits hinreichend erklären, sondern fast beiläufig fragt, ob sie selbst einen Zusammenhang zwischen den körperlichen Beschwerden und ihrem seelischen Erleben vermute. Noch lange Zeit später, Silvia K. hat mittlerweile eine ambulante Psychotherapie aufgenommen und steht kurz vor dem Beginn eines intensiven stationären Behandlungsintervalls in der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, in der auch Dr. J. arbeitet, wird sie diesen ersten Kontakt mit der Psychosomatischen Medizin sowie die darauffolgenden Wiedervorstellungen, in denen ihre Bereitschaft zu einer Psychotherapie allmählich gewachsen war, als bedeutsamen Wendepunkt ihrer persönlichen Leidensgeschichte betrachten.

2

Grundlagen und klinische Praxis der Psychosomatischen Medizin

Psychosomatische Medizin ist in Deutschland nicht nur eine Facharztdisziplin, die spezialisierte Angebote, wie sie in der Fallvignette angesprochen werden, vorhält, sondern als Querschnittsfach auch integraler Bestandteil vieler anderer klinischer Fächer (Deter et al. 2018; Zipfel et al. 2016). Das Spezifikum der Psychosomatischen Medizin liegt in der integrierten Versorgung von affektiven Belastungs- und somatoformen Störungen, Essstörungen sowie psychischen Störungen in Verbindung mit oder in Folge von (chronischen) körperlichen Erkrankungen (z. B. Psychoonkologie und -kardiologie) und Persönlichkeitsstörungen. Störungs- bzw. Krankheitsverständnis, Diagnostik und Behandlung folgen dabei dem biopsychosozialen Modell (Engel 1977; Fava und Sonino 2017). Dieses beinhaltet eine anthropologische Perspektive auf den Kranken, die dessen Leiden als Ergebnis körperlicher, seelischer und sozialer Wechselwirkungen in seiner Lebenswelt versteht. Ein personalisiertes und umfassendes Fallverständnis dient als Basis für die regelhaft

durchgeführte biopsychosoziale Simultandiagnostik und -therapie (Fava et al. 2017). Innerhalb der klinischen Behandlungspraxis kommt der qualifizierten Psychotherapie eine besondere Bedeutung zu.

2.1

Biopsychosoziales Modell als Grundlage

Das biopsychosoziale Modell versteht sich als Rahmenkonzept der angewandten Psychosomatischen Medizin, das die subjektive Bedeutung, die ein Betroffener seinem Leiden gibt sowie soziale Umweltbedingungen von Körper und Seele systematisch mitberücksichtigt (Borrell-Carrió et al. 2004). Dabei wird im Sinne des Embodiment insbesondere davon ausgegangen, dass sich zum einen Körperwahrnehmungen in der Psyche („moved by movement“) und sich zum anderen psychisches Erleben in Körperregungen („moved to move“) widerspiegeln (Fuchs 2009; Fuchs und Koch 2014). Das biopsychosoziale Modell hat seinen Ursprung in der Allgemeinen Systemtheorie (von Bertalanffy 1968), wonach der Organismus aus hierarchisch geordneten Systemen besteht. Geistig-seelische Phänomene werden durch physiologische und biochemische Prozesse bestimmt, sind jedoch weder reduzierbar auf, noch ableitbar aus diesen Prozessen (Borsboom et al. 2018). Das biopsychosoziale Modell ist transdisziplinär angelegt und steht im Gegensatz zu einer reduktionistisch verstandenen Medizin, die a) unidimensional biophysische Vorgänge als wesentliche Ursache von Krankheit und Störung sowie deren Aufrechterhaltung postuliert und b) die Erste-Person-Perspektive zugunsten objektiver biomedizinischer Parameter konsequent ausklammert. Konkret liegen dem biopsychosozialen Modell folgende Beobachtungen zugrunde (Engel 1977): • In der Regel folgt aus einer pathophysiologischen Veränderung nicht unmittelbar eine Erkrankung (z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen), vielmehr tragen psychische und soziale Faktoren zu Auslösung und Aufrechterhaltung von Krankheit bei. Umgekehrt gehen psychologische Veränderungen (z. B. depressive Störungen) mit biochemischen (z. B. proinflammatorischer Aktivierung) und sozialen Veränderungen (z. B. sozialer Rückzug) einher. • Eine pathophysiologische Veränderung, ausgedrückt in Symptomen, an sich gibt keinen Aufschluss darüber, welche Bedeutung diese für den jeweiligen Betroffenen hat und wie seine Einstellung gegenüber Gesundheit und gesundheitsförderlichem Verhalten aussieht. • Psychosoziale Faktoren bestimmen in vielen Fällen Anfälligkeit, Schwere und Verlauf einer Erkrankung oder Störung. • Menschen können subjektiv krankheits- bzw. störungswertiges Leiden entwickeln, ohne dass sich signifikante pathophysiologische Korrelate, etwa in Form von entsprechenden Symptomen, zeigen.

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Zur Bedeutung der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin in den Gesundheitswissenschaften

• Die Effektivität nahezu aller, auch primär biologisch ansetzender, Therapien wird durch psychosoziale Faktoren mitbeeinflusst (z. B. als Placebo- und Nocebo-Effekte). Folgt man in der Medizin einem biopsychosozialen Modell, so ergeben sich notwendigerweise über die o. g. Punkte hinaus Implikationen für die Arzt-Patienten-Beziehung, denn die subjektive Sicht des Patienten leistet einen wesentlichen Beitrag zu akkurater Diagnostik und gelingender Therapie, die in letzter Konsequenz, neben der Verbesserung des gesundheitlichen Empfindens, immer auf Selbstbefähigung (Empowerment) des Betroffenen abzielt (Leamy et al. 2011). Im Sinne des ursprünglichen Verständnisses von evidenzbasierter Medizin („integrating individual clinical expertise with the best external evidence“) kommt das aktuelle medizinische Fachwissen genau insofern zur Anwendung, als damit den subjektiven Bedürfnissen des jeweiligen Betroffenen Rechnung getragen und somit die Basis zur Therapieadhärenz geschaffen wird (Sackett et al. 1996). Psychosomatische Medizin ist damit immer auch Beziehungsmedizin in dem Sinne, dass ihre klinische und wissenschaftliche Methodik systematisch die Erste-Person-Perspektive sowie die Zirkularität von Kommunikation berücksichtigt.

2.2

Simultandiagnostik und -therapie

Für die Diagnostik und Therapie u. a. somatoformer Störungen, die ein Kerngebiet der Psychosomatischen Medizin darstellen, wird eine spezifische Vorgehensweise erforderlich, da zumindest in der Initialphase der Arzt-Patienten-Beziehung medizinisch bisher nicht hinreichend erklärte Symptome im Vordergrund stehen (s. Fallvignette: Abschn. 1). Reindell et al. (1977) beschreiben diese Konstellation mit dem Ausdruck „kommunizierende Störung“, da hier Körper, Seele und soziale Lebensumwelt im Sinne eines Funktionskreises miteinander wechselwirken (Reindell et al. 1977). Die Diagnostik muss dementsprechend breit gefächert erfolgen und beinhaltet somatische Basis- und, sofern indiziert, Spezialuntersuchungen, eine umfassende psychologische Diagnostik (Erstgespräch, biografische Anamnese, psychopathologischer Befund, psychologische Testdiagnostik) sowie eine Betrachtung der sozialen Lebenswirklichkeit des Patienten (z. B. durch Paar- und Familiengespräche).

2.3

Besondere Bedeutung der qualifizierten Psychotherapie

Im Zuge einer stark auf die Arzt-Patienten-Beziehung setzenden Psychosomatischen Medizin kommt der Psychotherapie als wesentlicher Behandlungsmodalität eine wichtige Rolle zu. So ist zunächst einmal Konversation als solche eine psychotherapeutische Kompetenz, denn sie

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ist das „Nadelöhr [. . .], durch das seelische Befindlichkeiten hindurch müssen, sollen sie von einem anderen gehört, verstanden und behandelt werden“ (Buchholz 2017, S. 297). Einzel- und Gruppenselbsterfahrung sowie die Durchführung von supervidierten Psychotherapien, auch im Gruppensetting, sind daher essenzielle Bestandteile der Weiterbildung zum Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Deter 2017). Nach Kächele (2017) ist Psychotherapie „ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess • zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsens (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, • mit psychologischen Mitteln meist verbalen, aber auch averbal, • in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit), • mittels lehrbarer Techniken, • auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens.“ Während frühe psychogenetische Störungsmodelle in der Psychosomatik stark auf psychoanalytischen Konzepten (z. B. Alexander 1939; Mitscherlich 1954) fußten, stehen heute generische Wirkfaktoren im Vordergrund (Wampold 2015), welche die verschiedenen Psychotherapieverfahren jeweils unterschiedlich akzentuieren: Problemaktualisierung, Klärungsperspektive, Ressourcenaktivierung und aktive Hilfe zur Problembewältigung. Diese allgemeinen Wirkfaktoren tragen neben Veränderungen, die außerhalb der Therapie stattfinden Effekten durch den jeweiligen Therapeuten und spezifische Techniken im Mittel mit am stärksten zum Behandlungserfolg bei (Lambert 2013). Psychotherapie ist gegenüber keiner Behandlung hochwirksam und gegenüber Placebo-Bedingung mit mittlerer Effektstärke auch unter Routinebedingungen wirksam (Strauss et al. 2015; Wampold und Imel 2015). KostenNutzen-Analysen im ambulanten Kontext weisen auf einen Return on Investment (ROI) von etwa 1 zu 2–3 EUR hin (Altmann et al. 2016, 2018; Wittmann und Steffanowski 2011). Psychotherapie setzt voraus, dass Patient und Therapeut den entsprechenden Leidenszustand als behandlungsbedürftig ansehen. Dabei sollten Ziele formuliert werden (in erster Linie die maximale mögliche Symptomreduktion), entlang derer sich der therapeutische Prozess entfalten kann. Die Bindung des Patienten an die therapeutische Arbeit bzw. den Therapeuten (Alliance) fungiert gewissermaßen als Matrix, auf der sich Psychotherapie abspielt (Muran und Barber 2011). Neuere Befunde zeigen, dass vor allem der erfolgreiche Umgang mit sog. Ruptures (Brüchen) während

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einer Therapie prädiktiv für ein gutes Ergebnis der Therapie insgesamt ist (Larsson et al. 2018).

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Historische Entwicklung der Psychosomatischen Medizin und Verankerung im deutschen Gesundheitssystem

Deutschland stellt weltweit das Land dar, in dessen Gesundheitssystem Psychosomatische Medizin am stärksten verankert ist. Dies ist das Ergebnis einer historischen Strömung, die – wie etwa in Nordamerika – ihren Anfang zum einen in der Anwendung der Psychoanalyse innerhalb der Medizin hatte. Dabei erwiesen sich im Verlauf viele der psychogenetischen Annahmen linear-kausaler Verbindungen zwischen intrapsychischen Konflikten und körperlichen Beschwerden als insuffizient (Zipfel et al. 2016). Zum anderen war die Integrierte Psychosomatische Medizin in der Inneren Medizin (und Neurologie) selbst, die das Zusammenwirken von Körper und psychischem Erleben fokussierte, ein zweiter wichtiger Entwicklungszweig des Faches Psychosomatische Medizin. Innerhalb der Integrierten Psychosomatischen Medizin wurde angenommen, dass reziproke Beziehungen zwischen Psyche, Körper und Umwelt bestehen, die in einer Verkörperung zum Ausdruck kommen. Damit sollte der Kranke wieder zum Subjekt angesichts eines biomedizinischen Reduktionismus kartesianischer Prägung werden, der die Medizin im Zuge der wissenschaftlichen Errungenschaften vor allem des 19. Jahrhunderts prägte (Herzog 2007). Anstoß für beide Entwicklungszweige war das Aufkommen von mehr oder weniger unmittelbar beobachtbaren Traumatisierungen bzw. somatoformen Störungen im Zuge der beiden Weltkriege. In Heidelberg entwickelte sich ausgehend von den Internisten Ludolf von Krehl („Wir behandeln nicht Krankheiten, sondern kranke Menschen“) und seinem Schüler Viktor von Weizsäcker eine anthropologische Tradition innerhalb der Inneren Medizin. Im Jahr 1927 wurde die erste psychosomatische Klinik in Berlin eröffnet, 1929 folgte die erste psychosomatische Station an einer Universitätsklinik (sog. Neurosenstation in Heidelberg). Etwa zur gleichen Zeit wurde die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie gegründet, der sowohl Tiefenpsychologen wie etwa Carl Gustav Jung als auch Psychosomatiker wie Viktor von Weizsäcker und Psychiater wie Ludwig Binswanger angehörten. Während des Nationalsozialismus mussten jedoch viele namhafte Psychotherapeuten emigrieren, sodass die Entwicklung des Faches stagnierte. Erst 1950 begann daher die Etablierung der Psychosomatischen Medizin als akademisches Fach, als Viktor von Weizsäcker gemeinsam mit seinem, zwischenzeitlich durch die Nationalsozialisten inhaftierten, Assistenten Alexander Mitscherlich, unterstützt durch die Rockefeller Foundation, in

Heidelberg eine erste psychosomatische Klinik an einer Universität gründen konnte. In den Jahren bis 1965 folgten weitere Lehrstühle für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Freiburg, Gießen, Hamburg und München. 1967 wurde – auf Hinwirken der psychoanalytischen Fachgesellschaften und verschiedener Internisten und Psychiater aber auch der verfassten Hausärzteschaft – Psychotherapie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen (Deter et al. 2018). Anfang der 1970er-Jahre fand Psychosomatische Medizin sukzessiv Eingang in akademische Curricula. Heute existieren in Deutschland 26 eigenständige Kliniken/Abteilungen für Psychosomatische Medizin an 38 medizinischen Fakultäten. 1974 erfolgte die Gründung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM), u. a. durch Thure von Uexküll, Peter Hahn und Adolf Ernst Meyer. Das DKPM versteht sich als interdisziplinäre wissenschaftliche Fachgesellschaft und führt seit 2005 das Qualifizierungsprogramm Klinische Forschung in der Psychosomatik zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch. Schließlich beschloss der Ärztetag 1992 die Einführung des Facharztes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Noch im selben Jahr wurde die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) gegründet, die sich 2005 mit der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie zusammenschloss und in der heute vorwiegend niedergelassene Fachärzte organisiert sind. Spätestens mit der Einführung des Facharztes 1992 hatte sich die Psychosomatische Medizin in Deutschland als eigenständiges und unabhängiges Fachgebiet neben der traditionell eher psychopathologisch beschreibenden und mittlerweile vorwiegend biologisch und psychopharmakologisch orientierten Psychiatrie etabliert. Die fünfjährige Facharztweiterbildung in Psychosomatischer Medizin umfasst u. a. 100 psychosomatische und psychotherapeutische Behandlungen inkl. stationärer multimodaler psychosomatisch-psychotherapeutischer Komplexbehandlungen. Die Tatsache, dass Psychosomatische Medizin jedoch nicht nur ein Spezialgebiet, sondern auch ein alle Bereiche der Medizin betreffendes Querschnittsfach darstellt, schlägt sich in den seit 1993 neben dem Facharzt existierenden zwei weiteren Ebenen der ärztlichen Weiter-/Fortbildung sowie der psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgung nieder: Die 80-stündige Fortbildung Psychosomatische Grundversorgung steht als Basisversorgung allen somatisch tätigen Fachärzten offen und ist mittlerweile Pflichtteil der allgemeinmedizinischen und gynäkologischen Weiterbildung. Die Zusatzbezeichnung Psychotherapie (existiert bereits seit 1957) steht als intermediäre Qualifikationsstufe ebenfalls allen Fachärzten offen, hat jedoch im Vergleich zur Grundversorgung einen deutlich größeren Umfang (120 Stunden Theorie, 120 Stunden supervidierte Psychotherapie sowie Selbsterfahrung).

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Zur Bedeutung der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin in den Gesundheitswissenschaften

Krankheits- und Störungsbilder in der Psychosomatischen Medizin

Der oben genannten Definition des Fachgebiets der Psychosomatik folgend, stellt sich die Frage, welche Krankheiten oder Leidenszustände der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie diagnostiziert und behandelt. Aus Platzgründen kann hier keine detaillierte oder störungsspezifische Einteilung der gängigen Krankheitsbilder in der Psychosomatischen Medizin erfolgen. Stattdessen wird in Anlehnung an Bieber und Henningsen (2016) eine allgemeine Kategorisierung vorgenommen, welche ein erstes Verständnis der häufigsten Krankheitsbilder der Psychosomatischen Medizin ermöglicht. Dabei ist es manchmal weniger das Krankheitsspektrum selbst, als vielmehr die Behandlungsmethode, nämlich die in der Psychosomatik im Vordergrund stehende beziehungsorientierte Psychotherapie, welche beispielsweise die Abgrenzung zum Fachgebiet der Psychiatrie ermöglicht. Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden Der etwas sperrige Dreifachbegriff „nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden“ wurde der AWMF-Leitlinie entlehnt (Schaefert et al. 2012) und spiegelt einen interdisziplinären Ansatz wider: Neben der Parallelklassifikation „funktioneller somatischer Syndrome“, wie man sie in den klassisch somatischen Fächern vorfindet, und dem Begriff der „somatoformen Störungen“ aus den Reihen der psychosozialen Fächer, wird die Terminologie hier um den in der Allgemeinmedizin üblichen Ausdruck der „nicht-spezifischen Körperbeschwerden“ ergänzt. Die deutschsprachige ICD-10-Klassifikation (Dilling 2011) definiert somatoforme Störungen als „wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind“. Die Körperbeschwerden können hierbei äußerst vielfältig sein – so finden sich auch autonome Funktionsstörungen oder chronifizierte Schmerzstörungen unter den somatoformen Diagnosen. Nach umfassender Kritik an der Klassifikation der somatoformen Störungen, insbesondere der Somatisierungsstörung gemäß DSM-IV und ICD-10, wurde diese Diagnosekategorie mit Erscheinen der fünften Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen der American Psychiatric Association (Falkai und Wittchen 2015) im Mai 2013 grundlegend überholt und die neue Diagnose der sog. Somatischen Belastungsstörung (Somatic Symptom Disorder) eingeführt. Zur Vergabe dieser Diagnose genügt das Vorhandensein eines oder mehrerer belastender oder beeinträchtigender körperlicher Symptome. Die bisherigen Kriterien, beispielsweise dass mehrere Symptome aus unterschiedlichen Bereichen beklagt werden oder einer mehrjährigen Vorge-

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schichte körperlicher Beschwerden mit Beginn vor dem 30. Lebensjahr, entfallen. Die aber weitreichendste Auswirkung dieser neugefassten Diagnose ist, dass es im DSM-5 für die Vergabe der Somatischen Belastungsstörung keine Rolle mehr spielt, ob die Symptome medizinisch begründbar sind. Diese Revision erscheint insofern sinnvoll, als es für körperliche Beschwerden hinsichtlich des assoziierten biopsychosozialen Leidens keinen Unterscheid macht, ob diese somatisch erklärbar sind oder nicht. Somatopsychische Störungen Unter den sog. somatopsychischen Störungen werden reaktive seelische Belastungsstörungen verstanden, die im Zuge schwerer oder chronischer körperlicher Erkrankungen auftreten, z. B. vor dem Hintergrund einer Krebserkrankung, einer koronaren Herzerkrankung und/oder Herzinsuffizienz, einer schweren Niereninsuffizienz oder einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung. Die Betroffenen verspüren häufig typische stressassoziierte Symptome (Müdigkeit, Erschöpfung, Schlafstörungen etc.), beispielsweise durch die belastende Atmosphäre im Krankenhaus, die Verunsicherung hinsichtlich der krankheitsbedingt neuen sozialen Rolle sowie der veränderten körperlichen Integrität oder dem ggf. neuen Selbstbild. Psychische Aspekte, die den Verlauf somatischer Erkrankungen beeinflussen Während somatopsychische Störungen seelische Reaktionen darstellen, welche durch eine körperliche Krankheit getriggert werden, gibt es natürlich auch (vorbestehende) psychische Beschwerden, welche den Verlauf somatischer Erkrankungen prägen können. So führen depressive Erkrankungen möglicherweise zu einer Progredienz der somatischen Beschwerden und/oder zu unzureichenden Therapieerfolgen. Psychische Erkrankungen Neben den bisher genannten Krankheiten und Leidenszuständen stellt die Behandlung von Essstörungen (v. a. Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störungen) eine klassische Domäne der Psychosomatischen Medizin dar. Im weiteren Behandlungsspektrum gibt es einige Überschneidungen mit dem Fachgebiet der Psychiatrie, etwa bei der Behandlung der Zwangs-, Persönlichkeits- oder Traumafolgestörungen. Auch Depressionen werden sowohl vom Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie als auch vom Facharzt für Psychiatrie behandelt, wobei die schwere depressive Episode mit akuter Suizidalität und Notwendigkeit fürsorglicher Zurückhaltung eine Domäne der Psychiatrie darstellt. Eine noch deutlichere Abgrenzung zur Psychiatrie besteht darin, dass in der Psychosomatik keine Psychosen und keine hirnorganisch bedingten psychischen Erkrankungen, beispielsweise die Demenz, behandelt werden. Patienten mit (akuten) Suchterkrankungen machen

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hierzulande im psychiatrisch-stationären Setting die größte diagnostische Gruppe aus (Herpertz et al. 2011), spielen in der Psychosomatik aber eine vergleichsweise untergeordnete Rolle.

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Bedeutung der Psychosomatischen Medizin für die Gesundheitswissenschaften

5.1

Psychosoziale Prävention

Der Prävention psychischer Erkrankungen kommt eine zentrale und – in Anbetracht der wachsenden Zahlen psychischer Erkrankungen (Storm 2017) – stetig zunehmende Bedeutung innerhalb der Psychosomatischen Medizin zu. Nicht selten sind psychische Erkrankungen für Schulschwierigkeiten (Baumann und Alber 2008), Studienabbrüche (Heublein et al. 2017) oder Arbeitsunfähigkeit (Bundespsychotherapeutenkammer 2013) verantwortlich. Außerdem stellen psychische Erkrankungen die häufigste Ursache für Frühberentungen in der Bundesrepublik Deutschland dar (Bundespsychotherapeutenkammer 2013). Da sich psychische Erkrankungen oft über einen längeren Zeitraum entwickeln, besteht vielfach ein ausreichendes Zeitfenster, um diesen präventiv entgegenzuwirken. Gelungene Präventionsmaßnahmen fördern nicht nur das Wohlbefinden und die Lebensqualität des Einzelnen, sie können auch einen wichtigen Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitswesen leisten. Allgemein wird der Präventionsbegriff in Maßnahmen der sog. primären, sekundären und tertiären Prävention unterteilt. Dabei ist die primäre Prävention auf die Krankheitsverhütung ausgerichtet, d. h. sie wird bereits dann wirksam, wenn noch überhaupt keine Krankheit aufgetreten ist. Folgerichtig handelt es sich bei der primären Prävention in der Psychosomatischen Medizin v. a. um eine frühzeitige Detektion und ggf. Beseitigung möglicher krankheitsbegünstigender Risikofaktoren (z. B. Stressreduktion und -bewältigung) auf individueller Ebene sowie um eine Reduktion veränderbarer Umweltfaktoren und eine Optimierung derjenigen Verhältnisse, welche die Entstehung psychischer Krankheiten befördern könnten. Die sekundäre Prävention meint die Früherkennung von Krankheiten und verfolgt das Ziel, schwere oder langwierige Erkrankungen zu verhindern und eine möglichst schnelle Heilung zu ermöglichen. Die tertiäre Prävention soll verhindern, dass sich bereits eingetretene Krankheiten chronifizieren, Folgeerkrankungen hinzukommen oder sich Rückfälle ereignen. Sie stellt eine Domäne der Fachkliniken für psychosomatische Rehabilitation dar, während Maßnahmen der primären oder sekundären Prävention inner- und außerhalb von Arztpraxen und Kliniken erfolgen. Durch das Wirken schulpsychologisch ausgebildeter Lehrkräfte (Keller 2013) können psychische Störungen bei

Kindern und Jugendlichen heute oft frühzeitig detektiert werden. An den meisten deutschen Hochschulen und Universitäten existieren psychosoziale Beratungsstellen (Ackermann und Schumann 2010), die der zunehmend belasteten Gruppe der Studierenden eine psychotherapeutische Beratung oder ggf. Behandlung zukommen lassen (Grobe et al. 2018). In den Betrieben sind es schließlich die Betriebsärzte, denen eine wichtige Funktion bei der Prävention und Therapieeinleitung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen zukommt (Gerst 2012). Die Arbeits- und Ausbildungswelt spielt für die Prävention psychosomatischer Erkrankungen also eine bedeutsame Rolle. Maßnahmen der Primärprävention (Verhältnisprävention im Sinne einer Umgestaltung der Ausbildungs- oder Arbeitsbedingungen), der Sekundärprävention (Früherkennung und -intervention bei gefährdeten Schülern, Studierenden oder Mitarbeitern) und Tertiärprävention (z. B. Wiedereingliederung nach Erkrankung in der Arbeitswelt) sind hier durchführbar. Dennoch wurde in der Vergangenheit mehrfach postuliert, dass die Schnittstellen zwischen den genannten betrieblichen Institutionen und Einrichtungen sowie der ambulanten (Weiter-)Versorgung durch Haus- und Fachärzte häufig nicht hinreichend ausgeprägt sind (Moßhammer et al. 2012). Den Vertretern des Fachgebiets der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie kommt daher zukünftig umso mehr die wichtige Aufgabe zu, a) strukturierte Präventionspfade für die unterschiedlichsten Lebensphasen und -wirklichkeiten zu entwerfen und diese, unter Einbeziehung aller beteiligten Organe und Entscheidungsträger, b) hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu erproben und wissenschaftlich zu evaluieren und schließlich c) großflächig zu implementieren.

5.2

Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der ambulanten Versorgung

Laut dem Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1-MH 2009–2011, Jacobi et al. 2014) liegt die Zwölf-MonatsGesamtprävalenz psychischer Störungen für 18- bis 79-jährige Erwachsene bei 27,7 %. Dieser Wert erweist sich im Längsschnitt als weitgehend stabil (Lieberz et al. 2011). Dabei kommen Angststörungen (15,3 %) am häufigsten vor, gefolgt von unipolaren Depressionen (7,7 %) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 %). Diese Störungen sind u. a. mit einem kontinuierlichen Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage verbunden (Kruse und Herzog 2012). Jedoch nur etwa jeder fünfte Betroffene nimmt irgendein psychosoziales Angebot in Anspruch, d. h. die überwiegende Mehrheit erhält weder Monitoring noch irgendeine Form effektiver Therapie, was insbesondere Männer, Alleinstehende und

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Zur Bedeutung der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin in den Gesundheitswissenschaften

Arbeitslose betrifft (Mack et al. 2014). Offen stehen den Betroffenen in der ambulanten kassenärztlichen Versorgung niedergelassene Ärzte und psychologische Psychotherapeuten (ca. 13.000). Die Versorgung durch niedergelassene Ärzte erfolgt dabei in einem psychosomatisch-psychotherapeutischen Strang meist durch Richtlinienpsychotherapie (ca. 3000 Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie somatische Fachärzte mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie) sowie einem psychiatrisch-psychotherapeutischen Strang, der, Abrechnungsdaten der Krankenkassen zufolge, im Wesentlichen eine niederschwellige und zeitlich stärker begrenzte psychiatrische Basisversorgung beinhaltet (ca. 4500 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Nervenärzte) (Gaebel et al. 2016; Kruse und Herzog 2012). Je nachdem, ob man Abrechnungsdaten (Gaebel et al. 2013) oder Selbstberichtsdaten (Mack et al. 2014) heranzieht, stellt für die Inanspruchnehmer der Hausarzt bzw. unmittelbar der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder psychologische Psychotherapeut den ersten (und oft einzigen) Ansprechpartner dar. Den Prävalenzen entsprechend behandeln Psychotherapeuten am häufigsten Angststörungen und Depressionen sowie isolierte Anpassungsstörungen. Somatoforme Störungen und Anpassungsstörungen bei chronischer somatischer Komorbidität (z. B. onkologische Erkrankungen) sind in der ambulanten Psychotherapie unterrepräsentiert (z. B. Zimmermann-Schlegel et al. 2017). Entgegen dem verbreiteten Stereotyp, dass Psychotherapeuten nur Patienten mit sog. YAVIS-Eigenschaften (young, attractive, verbal, intelligent, and successful) behandeln würden (Tryon 1986), zeigte sich in einer bevölkerungsrepräsentativen Befragung, dass Patienten in Psychotherapie gegenüber der Allgemeinbevölkerung signifikant häufiger arbeitslos und älter als 45 Jahre sind und mehr als die Hälfte nur über ein sehr niedriges Einkommen verfügt (Albani et al. 2010). Der durch den Gemeinsamen Bundesausschuss geschaffene Rahmen ambulanter Psychotherapie und die Umsetzung in der vertragsärztlichen Versorgung sind in der sog. Psychotherapie-Richtlinie (Dieckmann et al. 2017) bzw. in der Psychotherapie-Vereinbarung (KBV/GKV 2017) festgelegt. Demnach sind derzeit zwei psychoanalytisch begründete Verfahren (tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie) sowie Verhaltenstherapie zugelassen. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie fokussiert vor dem Hintergrund früher lebensgeschichtlicher Belastungserfahrungen unbewusst wirksame internalisierte Konflikte, die in einer Belastungssituation aktualisiert werden und mit störungswertigen Symptomen einhergehen. Hierbei beinhaltet die Zielsetzung die Konzentration auf die umschriebene Konfliktdynamik. Der Therapeut nimmt im Gespräch mit dem Patienten über klärende Fragen und interpretativ-supportive Interventionen eine aktive Rolle ein und berücksichtigt Übertragung und Gegenübertragung

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(Leichsenring et al. 2015). Die typische Therapiefrequenz beträgt eine Sitzung pro Woche. Die analytische Psychotherapie gilt als Anwendung der Psychoanalyse auf die Behandlung krankheitswertiger Störungen. Ziel kann etwa sein, langandauernde situationsübergreifende intra- und/oder interpersonelle Konfliktdynamiken zu bearbeiten oder dissoziierte Persönlichkeitsanteile zu integrieren. Das therapeutische Vorgehen zeichnet sich durch Deutung, technische Neutralität und Analyse von Übertragung und Gegenübertragung aus (Kernberg 2016). Die typische Therapiefrequenz beträgt 2–3 Sitzungen pro Woche. Die kognitive Verhaltenstherapie fokussiert beobachtbare Verhaltensweisen sowie Kognitionen, Emotionen und physiologische Aspekte menschlichen Erlebens. Im Kern wird angenommen, dass Kognitionen (z. B. dysfunktionale Gedanken) Emotionen und Verhalten kausal beeinflussen und sich psychopathologisch niederschlagen (Hofmann et al. 2013). Die Interventionen sind direktiver angelegt und umfassen etwa kognitive Umstrukturierung oder verhaltensbezogene Experimente. Zentrale Bedeutung kommt neben achtsamkeitsbasierten Techniken der kognitiven Neubewertung als adaptiver Strategie der Emotionsregulation zu. Die typische Frequenz beträgt eine Sitzung pro Woche.

5.3

Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Akutkliniken

Die stationäre bzw. teilstationäre Akutbehandlung psychischer Störungen kann in Deutschland sowohl in Fachkliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie als auch in Fachkliniken für Psychiatrie und Psychotherapie erfolgen. In 253 psychosomatischen Fachkliniken stehen derzeit ca. 10.500 Betten zur Verfügung, wobei die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei 40 Tagen liegt (Deter et al. 2018). Durchgeführt wird meist eine multimodale, wesentlich auf Psychotherapie fußende Komplexbehandlung, die im Hinblick auf einen initial formulierten Fokus angelegt ist. Multimodale Behandlung beinhaltet u. a. Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Bezugspflege, Soziotherapie, Psychoedukation, Psychopharmakotherapie, Somatotherapie sowie Gestaltungs-, Bewegungs- und Körpertherapie. Ferner existiert die Möglichkeit der tagesklinischen Behandlung, bei der die Patienten morgens in die Klinik kommen und am frühen Abend ins häusliche bzw. familiäre Umfeld zurückkehren. Diese Behandlungsform eignet sich u. a. für Alleinerziehende und die wachsende Zahl an Menschen, die einen Angehörigen zuhause pflegen. Ein spezifisches Indikationskriterium stellen z. B. Ängste vor Nähe dar, da Patienten die Intensität der Therapie in diesem Setting besser selbst steuern können (Herzog et al. 2017). Zur Versorgung von psychischen Störungen bei Patienten in somatischen Abteilungen von Krankenhäusern steht der

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psychosomatische Konsiliar- und Liasiondienst zur Verfügung. Im Wesentlichen steht hier die in einem hoch stratifizierten Kliniksystem notwendige Vernetzung von Patienten, Angehörigen, medizinischen Spezialisten und fachärztlicher psychosomatisch-psychotherapeutischer Versorgung im Vordergrund (Herzog et al. 2017). Häufig beinhaltet die Arbeit des Psychosomatikers hier sowohl Diagnostik und Indikationsstellung als auch therapeutische Weiterbetreuung der Patienten. Zur Wiedereingliederung einer kranken oder von Behinderung bedrohten Person in das berufliche und gesellschaftliche Leben existieren in Deutschland, getragen durch die Rentenversicherung, oft auf bestimmte Störungsbereiche spezialisierte Fachkliniken für psychosomatische Rehabilitation mit insgesamt 25.000 Betten (Linden 2014). Die Patienten selbst, behandelnde Ärzte oder – im Sinne eines Fremdauftrags – die Krankenkasse bzw. die Rentenversicherung können eine Aufnahme initiieren. Das Störungs- bzw. Krankheitsbild muss länger als sechs Monate bestehen und mit Einbußen in der Teilnahme am sozialen oder Arbeitsleben einhergehen. Die Behandlungsdauer beträgt meist etwa fünf Wochen. Inhaltlich stehen Entlastung von den Alltagsanforderungen, Tagesstrukturierung, Modelllernen und Psychotherapie im Vordergrund. Am Aufenthaltsende erfolgt eine Berichterstattung, inwieweit Arbeitsfähigkeit bzw. Minderung der Erwerbsfähigkeit besteht.

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Zusammenfassung und Ausblick

Psychosomatische Medizin ist in Deutschland nicht nur eine Facharztdisziplin, sondern stellt als Querschnittsfach einen integralen Bestandteil vieler anderer klinischer Fächer dar. Durch die konsequente Akzentuierung der Erste-Person-Perspektive der Patienten ist die Psychosomatische Medizin stets auch Beziehungsmedizin. Ihre historischen Wurzeln liegen einerseits in der Anwendung der Psychoanalyse innerhalb der Medizin, andererseits in der Integrierten Psychosomatischen Medizin der Inneren Medizin (und Neurologie), welche das Zusammenwirken von Körper und psychischem Erleben fokussiert. Affektive, Belastungs- und somatoforme Störungen, Essstörungen sowie psychische Störungen in Verbindung mit oder in Folge von körperlichen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen stellen das typische Krankheits- und Störungsspektrum der Psychosomatischen Medizin dar. Da sich psychische Störungen allerdings oft über einen längeren Zeitraum entwickeln, besteht vielfach ein ausreichendes Zeitfenster, um diesen noch vor Einsetzen erster Symptome entgegenzuwirken, was die Bedeutung der Prävention für das Fachgebiet der Psychosomatischen Medizin verdeutlicht. Für psychische Störungen hält die Psychosomatische Medizin zahlreiche ambulante, (teil-)stationäre und/oder rehabilitationsorientierte Behandlungskontexte vor.

Gleichsam müssen sich die Akteure des deutschen Gesundheitssystems in den nächsten Jahren auf zahlreiche Veränderungen und Herausforderungen einstellen: So rückt der demografische Wandel beispielsweise Fragen nach der bestmöglichen psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgung bisher unterversorgter Bevölkerungsgruppen in den Vordergrund, während die fortschreitende Digitalisierung und damit einhergehende Innovationen (z. B. Online-Therapien oder Smartphone-gestützte, poststationäre Nachsorge) neue Möglichkeiten, aber auch damit verbundene Risiken bereithalten. Insgesamt dürfte sich hinsichtlich Identifikation, Analyse und Lösung der mit diesem gesellschaftlichen Wandel einhergehenden psychosomatischen Fragestellungen die Vielfalt der Betätigungsfelder für Gesundheitswissenschaftler in diesem Fach noch weiter erhöhen.

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Zur Bedeutung der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin in den Gesundheitswissenschaften

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Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten

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Johann Carstensen

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

2 Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2.1 Indirekte soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2.2 Direkte soziale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 3

Moderatoren und Kontextfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

4

Probleme der Messbarkeit und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

5

Zusammenfassung und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

1

Einleitung

Soziale Beziehungen in ihrer Gesamtheit spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle für die individuelle Gesundheit. Ihre Wirkung auf den Gesundheitszustand ist möglicherweise sogar ähnlich stark wie die des Rauchens (Holt-Lunstad et al. 2010). Spätestens seit der Erkenntnis, dass verheiratete Personen eine höhere Lebenserwartung und einen besseren Gesundheitszustand haben als Unverheiratete (Berkman und Syme 1979; House et al. 1982), spiegelt sich dies auch in der sozialepidemiologischen Forschung wider. Vieles deutet dabei darauf hin, dass sich die Ausstattung mit sozialen Ressourcen (unter anderem) über das Gesundheitsverhalten auf die Gesundheit auswirkt. In einer Studie von Gove (1972) fanden sich unter Verheirateten geringere Prävalenzen für alle Erkrankungen, die mit Gesundheitsverhalten assoziiert sind. Als mögliche Gründe dafür nennt Gove neben gesteigertem Wellbeing auch ein weniger stark ausgeprägtes Risikoverhalten und eine bessere Compliance für therapeutische Behandlungen. Als einer der möglichen Mechanismen, die soziale

J. Carstensen (*) Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung GmbH, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]

Beziehungen mit dem Gesundheitsverhalten verbinden, wird in der gesundheitssoziologischen Forschung soziale Kontrolle diskutiert. Der folgende Überblick fasst konzeptionelle Arbeiten und empirische Forschung zu diesem Mechanismus zusammen.

2

Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten

Zu Beginn der Beschäftigung mit dem Einfluss sozialer Beziehungen auf Gesundheit wurden diese noch als eher einheitliches Konstrukt behandelt, wenn auch schon früh unterschiedliche Mechanismen vermutet wurden (House et al. 1982). In der Auseinandersetzung mit diesen Mechanismen wurde dann auch zunehmend eine Differenzierung der unterschiedlichen wirksamen Bestandteile sozialer Beziehungen vorgenommen. " In der neuesten Forschung lassen sich drei wichtige Elemente unterscheiden (Rook 2015): (1) soziale Unterstützung, (2) Gemeinschaft (companionship) und (3) soziale Kontrolle.

Soziale Unterstützung (1) tritt besonders in kritischen Lebensphasen in den Vordergrund, wenn physische, psychi-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_28

289

290

sche oder soziale Stressoren eine Gefahr für das Wohlbefinden darstellen. Soziale Kontakte können in solchen Fällen Hilfe, instrumentelle und psychische Unterstützung zur Verfügung stellen. Die Stressoren entfalten eine weniger schädliche Wirkung, wenn soziale Unterstützung in stärkerem Ausmaß zur Verfügung steht, sie wirkt also wie ein Puffer zwischen dem Stressor und dem Gesundheitszustand (Cassel 1974; Cobb 1976). Allerdings gibt es auch Evidenz, die zeigt, dass nicht alle Arten von Beziehungen diese puffernde Wirkung haben; in bestimmten Fällen können soziale Beziehungen Stress auch verstärken oder sogar auslösen (Umberson und Montez 2010). Gemeinschaft (2) wird nicht in allen Konzeptualisierungen als eigenständiger Inhalt sozialer Beziehungen gesehen, vielmehr wird dieser Aspekt oft als Teil sozialer Unterstützung aufgefasst. Gemeinschaft und Zugehörigkeitsgefühl produzieren über positive Affektreaktionen Wohlbefinden. Noch deutlicher wird der Zusammenhang, wenn das Fehlen von Gemeinschaft oder Zugehörigkeit, also Einsamkeit, betrachtet wird, die mit schlechter physischer und psychischer Gesundheit assoziiert ist (Thoits 2011). Soziale Kontrolle (3) zählt zu den ältesten und bedeutendsten Konzepten der Soziologie (Durkheim 1996; Ross 1901). " Definition soziale Kontrolle Die Theorie sozialer Kon-

trolle konstatiert, dass soziale Beziehungen eine regulatorische Funktion auf riskantes oder abweichendes Verhalten ausüben, sodass besser integrierte Personen weniger geneigt sind, ein solches Verhalten auszuüben (Tucker und Anders 2001). Die Erwähnung von Risikoverhalten legt bereits die Hypothese nahe, dass Gesundheitsverhalten wie Rauchen, Ernährung, körperliche Aktivität oder auch die regelmäßige Einnahme von Medikamenten im Falle chronischer Erkrankungen auch durch Mechanismen sozialer Kontrolle beeinflusst werden. Dieser Zusammenhang wurde in dieser expliziten Form zuerst von Umberson (1987) vorgeschlagen und dadurch ein weiterer Mechanismus zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen sozialer Integration und Mortalität hinzugefügt. " Alle drei Elemente sozialer Beziehungen können als positive oder negative soziale Austauschsituationen vorkommen (Rook et al. 2010; Christakis und Fowler 2007).

Während jedoch im Falle von Unterstützung und Gemeinschaft lediglich deren Ausbleiben oder Umkehrung (z. B. Ausschluss statt Integration) als negative Formen relevant sind, kann soziale Kontrolle unterschiedliche negative Formen annehmen. Zunächst kann sie, selbst wenn sie erfolgreich eine Verhaltensänderung bewirkt, zusätzlich Stress oder

J. Carstensen

eine verminderte Selbstwirksamkeitserfahrung erzeugen. Sie kann aber auch von vornherein auf ein gesundheitsschädliches Verhalten ausgerichtet sein. So können nahe Angehörige die Erreichung von persönlichen Gesundheitszielen behindern, indem sie beispielsweise zu schädlichem Ernährungsverhalten oder geringer physischer Aktivität verleiten (Henry et al. 2013; Wang et al. 2014).

2.1

Indirekte soziale Kontrolle

" Definition indirekte soziale Kontrolle Indirekte soziale

Kontrolle bezeichnet den Prozess der Internalisierung von Normen aus dem sozialen Umfeld, ohne dass eine bewusste direkte Einflussnahme stattfinden muss. Thoits (2011) nennt unter den Mechanismen, die soziale Beziehungen und Gesundheit verbinden, zwei, die auch unter indirekter sozialer Kontrolle subsumiert werden können: sozialen Einfluss und Sinn. Sozialer Einfluss kennzeichnet die Orientierung, die durch den Vergleich mit anderen, ähnlichen Personen im sozialen Netzwerk hinsichtlich bestimmter Orientierungen und Verhaltensweisen besteht. Normen über akzeptables Gesundheitsverhalten können so implizit oder explizit verhandelt und adaptiert werden (Thoits 2011). Der Aspekt des Sinns wiederum beschreibt die mit bestimmten Rollenkonfigurationen (wie z. B. der Mutterrolle) einhergehenden Verpflichtungen und Erwartungen sowie die sich daraus ergebenden Verhaltensorientierungen, die durch auf jene Rollen bezogene Normen transportiert werden. Auch dieser Prozess kann als eine Form indirekter sozialer Kontrolle bezeichnet werden (Umberson 1987; Christakis und Fowler 2007; Umberson et al. 2010). Zudem kann der soziale Status, der einem bestimmten Gesundheitsverhalten zugeordnet wird, zur Übernahme dieses Verhaltens führen, wenn er als erwünscht angesehen wird, wie am Beispiel des Rauchens oder Alkoholkonsums unter Jugendlichen deutlich wird (Umberson und Montez 2010). Evidenz zur Diffusion von Gesundheitsverhalten in sozialen Netzwerken oder Dyaden existiert zahlreich. Christakis und Fowler (2007) untersuchten beispielsweise die „soziale Ansteckung” mit Übergewicht in einem sozialen Netzwerk und konnten zeigen, dass das Übergewicht von Netzwerkpartnern die Wahrscheinlichkeit erhöht, selber Übergewicht zu entwickeln. Dabei fanden sie auch Hinweise dafür, dass der Effekt über die regulierende Wirkung von Normen verursacht wird und nicht durch Selektion, gemeinsame Exposition, Imitation oder Scheinkorrelationen (wie z. B. die Gewichtszunahme beim Rauchstopp). Die wahrgenommenen Trainingsgewohnheiten von Partnern wie von engen Freunden haben einen unabhängigen Einfluss auf die eigenen Trainingsgewohnheiten (Darlow und Xu 2011) und in einer Studie von Cruz et al. (2012) konnten auch nach Kontrolle auf genetische

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Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten

Faktoren Effekte der Peergroup auf Höhe und Persistenz des Alkoholkonsums nachgewiesen werden. Obwohl sich die Forschung zu sozialer Kontrolle in der Mehrheit auf informelle soziale Kontakte beschränkt, können natürlich auch formale soziale Bindungen, beispielsweise durch Mitgliedschaft in einer religiösen Vereinigung oder die Integration durch andere soziale Institutionen wie Gemeinden und Freiwilligenorganisationen, einen ähnlichen Einfluss ausüben wie dyadische Beziehungen (Umberson et al. 2010).

2.2

Direkte soziale Kontrolle

" Definition direkte soziale Kontrolle Im Gegensatz zur

indirekten sozialen Kontrolle bezeichnet direkte soziale Kontrolle den expliziten und bewussten Versuch von sozialen Kontakten, auf das (Gesundheits-)Verhalten einer Person Einfluss zu nehmen. Vielfältige Studien fanden positive Effekte direkter sozialer Kontrolle durch Partner, Freunde, Verwandte und andere soziale Kontakte auf erfolgreiche Veränderungen des Gesundheitsverhaltens in eine gesundheitsförderliche Richtung (Lewis und Rook 1999; Lewis und Butterfield 2007; Okun et al. 2007; Westmaas et al. 2002), obwohl bei weitem nicht alle Studien die erwartete Wirkung bestätigen können (Franks et al. 2006; Helgeson et al. 2004; Stephens et al. 2013). Die Heterogenität des Forschungsstandes gibt also Anlass für tiefergehende Betrachtungen. " Dass soziale Beziehungen nicht nur in eine Richtung wirken, sondern neben gesundheitlichem Nutzen auch Kosten beinhalten, wurde schon früh erkannt (Hughes und Gove 1981). Diese Kosten bestehen in psychischen Belastungen wie Stress und werden durch negative Affektreaktionen auf die Kontrollversuche verursacht (Lewis und Rook 1999).

Empirisch erhielt diese sogenannte „Dual-Effects-Hypothese“ jedoch wenig Unterstützung. Insbesondere Studien, die zwar Kosten in Form psychischer Belastungen, jedoch keine positive Wirkung sozialer Kontrolle fanden (Franks et al. 2006; Rook et al. 1990, 2010; Tucker und Anders 2001), waren mit ihr nicht in Einklang zu bringen. Als Weiterentwicklung der Dual-Effects-Hypothese, die diese Diskrepanz aufgreifen sollte, wurde das domänenspezifische Modell vorgeschlagen (Tucker und Anders 2001). In diesem wird zwischen positiver und negativer sozialer Kontrolle unterschieden, deren Wirkung auf das Gesundheitsverhalten über positiven und negativen Affekt mediiert wird. Es existieren unterschiedliche Klassifikationen positiver und negativer Kontrollstrategien. Lewis und Butterfield (2005) beschreiben negative soziale Kontrolle als solche,

291

die über den Ausdruck negativer Gefühle durch den kontrollierenden Partner oder den Versuch, solche im kontrollierten Partner auszulösen (z. B. über Schuldgefühle), funktioniert. Positive Kontrolle hingegen beinhaltet Überzeugen, rationale Logik, Diskussion, Vorbildfunktionen und positive Verstärkung von erwünschtem Verhalten. Unter den negativsten Strategien finden sich Nörgeln, Kritisieren oder der Versuch, das gewünschte Verhalten zu erzwingen (Berzins et al. 2017). Beispiele für positive soziale Kontrolle beinhalten das Ausüben einer Vorbildfunktion, Einführen struktureller Änderungen und das gemeinsame Ausüben des gewünschten Verhaltens (Lewis et al. 2004). Negative Interaktionen erzeugen Stress, welcher wiederum Stresshormone ausschüttet, die unter bestimmten Umständen gesundheitliche Schädigungen, beispielsweise im kardiovaskulären, neuroendokrinen oder Immunsystem, nach sich ziehen können (Rook 2014). Die empirische Evidenz zu negativer sozialer Kontrolle ist besonders uneinheitlich (Craddock et al. 2015). Tendenziell lässt sich jedoch konstatieren, dass positive Kontrolle eher die gewünschte Verhaltensänderung nach sich zieht, während negative soziale Kontrolle eher nicht zu einer Verhaltensänderung, dafür aber zu heimlicher Ausübung des unerwünschten Verhaltens oder zu anderen Formen von Reaktanz führt (Tucker und Mueller 2016; Logic et al. 2009; Fekete et al. 2009). Wenig Zweifel besteht hingegen daran, dass negative Kontrolle zu negativen emotionalen Reaktionen bis hin zu Depressionen führt, während positive Kontrolle solche Wirkungen eher nicht aufweist (Tucker und Mueller 2016; Fekete et al. 2009). Das domänenspezifische Modell geht davon aus, dass positive soziale Kontrolle positiven Affekt erzeugt, während negative Kontrolle negative Affektreaktionen hervorruft (Okun et al. 2007; Tucker und Anders 2001). Allerdings werden diese Beziehungen als distinktiv aufgefasst, weshalb keine Effekte zwischen den Domänen auftreten sollten. Positive soziale Kontrolle sollte demnach keinen Effekt auf negativen Affekt haben, negative soziale Kontrolle keinen Effekt auf positiven Affekt. Einen Schritt weiter geht das Mediationsmodell (Tucker und Anders 2001; Tucker et al. 2006b), das ebenso den Zusammenhang zwischen positiver sozialer Kontrolle und positivem Affekt betont, der wiederum das erwünschte Verhalten bewirkt. Dasselbe gilt für negative Kontrolle, negativen Affekt und negative bzw. unerwünschte Outcomes. Auch hier sollten keine Korrelationen zwischen den Domänen auftreten. Positive Kontrolle sollte demnach keinen Effekt auf unerwünschte Outcomes haben, negative Kontrolle sollte keine Veränderung des Gesundheitsverhaltens zum Positiven bewirken (Logic et al. 2009). Die Evidenz zu diesen zwei Modellen ist gemischt. Während sie von einigen Studien gestützt werden (McErlean und Fekete 2017), finden sie in vielen Anwendungen keine vollständige Bestätigung. Tucker und Anders (2001) beobachte-

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J. Carstensen

ten zwar, dass negative soziale Kontrolle zu Backfiring und negativen psychischen Zuständen, positive soziale Kontrolle hingegen zu besserem Wellbeing führt. Der Affekt mediierte diesen Zusammenhang auch wie erwartet, jedoch nicht vollständig. Es blieb ein eigenständiger direkter Effekt, der im Modell nicht vorgesehen ist. Auch bei Logic et al. (2009) fand sich keine vollständige Mediation. In einer Studie von Fekete et al. (2009) traten Zusammenhänge zwischen den Domänen auf, die vom Modell nicht vorhergesagt werden, genauso bei Craddock et al. (2015). Allerdings arbeiteten all diese Studien mit unterschiedlichen Populationen, was ursächlich für die Diskrepanzen im Forschungsstand sein könnte (Logic et al. 2009). Ein weiterer Aspekt wird im Kontextmodell aufgegriffen (Craddock et al. 2015; Tucker 2002), das von einer moderierenden Wirkung von Kontexteigenschaften auf der Beziehungsebene, aber auch von individuellen Charakteristika der am sozialen Austauschprozess Beteiligten ausgeht. Relevante Kontextfaktoren für beide Formen sozialer Kontrolle werden im folgenden Abschnitt beschrieben.

3

Moderatoren und Kontextfaktoren

Diverse Kontextfaktoren können einen Einfluss auf soziale Interaktionen haben, in denen direkt oder indirekt soziale Kontrolle ausgeübt wird. Auf der Individualebene wird am häufigsten das Vorliegen von Geschlechtereffekten konstatiert. Der ursprüngliche Befund der geringeren Mortalität für Verheiratete ist für Männer stärker ausgeprägt als für Frauen (House et al. 1982; Berkman und Syme 1979). Ein möglicher Grund dafür ist in Geschlechterrollen zu suchen, die bei Männern stärker zugunsten von Risikoverhalten ausfallen, während Frauen Risikoaversion und Fürsorglichkeit zugeschrieben wird (Umberson 1987). Im Ergebnis erscheint es passend, dass Männer mehr direkte soziale Kontrolle von ihren Partnerinnen empfangen als andersherum (Lewis und Butterfield 2007). Frauen berichten im Gegenzug mehr indirekte soziale Kontrolle (Tucker et al. 2006a). Auch die Wahl der Strategien direkter Kontrolle (Lewis und Butterfield 2007) sowie die Arten von Gesundheitsverhalten, auf die sich soziale Kontrolle mehrheitlich bezieht, differieren nach Geschlecht (Lewis et al. 2004). Welche Gruppen von sozialen Kontakten den stärksten Einfluss ausüben, ist im Lebensverlauf veränderlich. In der Kindheit und Jugend verlagert sich die Kontrolle über die Gesundheit von den Eltern auf die Person selber (Umberson et al. 2010). In diese Phase fällt auch ein stärkerer Einfluss der Peergroup, insbesondere bezogen auf riskantes Gesundheitsverhalten (Umberson et al. 2010). Während in der Adoleszenz noch Eltern, Freunde und Partner einen starken Einfluss ausüben (Brunson et al. 2014; Thorpe et al. 2008), wird im Erwachsenenalter meist die besondere Bedeutung

von (Ehe-)Partnern betont (Lewis et al. 2004; Thorpe et al. 2008; Umberson und Montez 2010). Partnerschaften stellen auch die am häufigsten untersuchte Art von Zweierbeziehung dar, insbesondere bezogen auf die Analyse direkter sozialer Kontrolle (s. z. B. Berzins et al. 2017; Butterfield und Lewis 2016; Henry et al. 2013). Dabei sollte jedoch der Einfluss anderer Bezugspersonen nicht übersehen werden. So nimmt z. B. der Einfluss von Freunden insbesondere im höheren Alter wieder zu (Rook und Ituarte 1999). Das Alter ist auch über die Assoziation mit verschiedenen Bezugspersonen hinaus relevant. So ist in der Adoleszenz auch die Reaktanz auf wahrgenommene Einschränkungen der persönlichen Freiheit besonders stark ausgeprägt (Miller und Quick 2010). Je älter Personen sind, desto weniger direkte soziale Kontrolle berichten sie, während die empfundene indirekte soziale Kontrolle mit dem Alter zunimmt (Tucker et al. 2006a). Mit fortschreitendem Alter berichten Personen mehr positive Emotionen, die sie aus ihren sozialen Kontakten gewinnen (English und Carstensen 2014), was einem gesteigerten Harmoniebedürfnis im Alter entspricht. Dieses führt allerdings auch dazu, dass das Verheimlichen ungesunden Verhaltens in höheren Altersgruppen eher vorkommt (Tucker et al. 2006b). Persönlichkeitseigenschaften können die Wahrnehmung von und Empfänglichkeit gegenüber sozialer Kontrolle beeinflussen. Tucker et al. (2006a) konnten feststellen, dass gewissenhaftere Menschen stärker auf indirekte soziale Kontrolle reagieren als weniger gewissenhafte. Gleichzeitig geht mehr Gewissenhaftigkeit aber auch mit stärkeren positiven Affektreaktionen auf direkte soziale Kontrolle einher. Insgesamt scheint Gewissenhaftigkeit stärker mit internalisierter Verantwortung und Verpflichtung gegenüber anderen einherzugehen als mit direkten Aktionen der Netzwerkpersonen. Neurotischere Personen berichten mehr direkte soziale Kontrollversuche ihres Umfeldes (Tucker et al. 2006a). Der Grund dafür kann allerdings auch darin liegen, dass ihr Verhalten häufiger Anlass dazu gibt. Gleichzeitig reagieren sie aber auch stärker mit negativem Affekt auf direkte soziale Kontrolle. Im Gegensatz zu wenig neurotischen Personen hatte die Art des Einflusses (positiv/negativ) bei ihnen weniger Einfluss auf die behaviorale Reaktion. McErlean und Fekete (2017) untersuchten den Zusammenhang zwischen sozialer Kontrolle und Verhaltensänderung in Abhängigkeit der Risikowahrnehmung. Teilweise unerwartet stellten sie fest, dass die Risikowahrnehmung den Zusammenhang zwischen positiver sozialer Kontrolle und positiven Outcomes abschwächte, während sie den Zusammenhang zwischen negativer sozialer Kontrolle und negativen (emotionalen) Outcomes verstärkte. Als mögliche Erklärung dafür konstatieren sie, dass Ängstlichkeit im Zusammenhang mit stärkerem Risikobewusstsein zu schlechterem Gesundheitsverhalten führen könne.

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Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten

" In einer sozialökologischen Perspektive betonen Butterfield und Lewis (2016) die Wichtigkeit, sowohl Eigenschaften von beiden Beteiligten einer Kontrollsituation als auch der Beziehung und des Kontexts zu berücksichtigen, um die Wahl einer Strategie und deren Wirkung vorhersagen zu können.

In ihrer Studie zeigen sie, dass der Wunsch nach Veränderung sowohl der kontrollierenden als auch der kontrollierten Person eine große Rolle für den Erfolg des Kontrollversuches spielen. Welche Strategie der Kontrollagent auswählt, hängt sowohl von vergangenen eigenen Erfahrungen mit sozialer Kontrolle als auch von der Reaktion des Partners ab (Reaktanz). Im Gegensatz zu einigen anderen Studien (z. B. Knoll et al. 2012) finden Butterfield und Lewis allerdings weder Effekte für die Beziehungszufriedenheit noch für die empfundene Nähe, jedoch für das Ausmaß von Hierarchie in der Beziehung. Ungleiche Beziehungen fördern demnach das Auftreten unilateraler Kontrollstrategien. Reich und Olmsted (2007) stellten in einem Sample von Patienten mit Fibromyalgie fest, dass körperliche Schmerzen und Unsicherheit über den weiteren Krankheitsverlauf den Einfluss sozialer Kontrolle auf die Beziehungszufriedenheit moderierten. So führte soziale Kontrolle bei Vorhandensein von Schmerzen gepaart mit hoher Unsicherheit zu höherer Beziehungszufriedenheit, während geringe Schmerzen und Unsicherheit geringe Beziehungszufriedenheit als Folge sozialer Kontrolle nach sich zogen. Offenbar provozieren unterschiedliche Arten von Gesundheitsverhalten auch unterschiedliche Kontrollstrategien. Wenn es um die Reduktion gesundheitsschädlichen Verhaltens geht, werden häufiger negative Kontrollstrategien angewandt, als wenn gesundheitsförderliches Verhalten bestärkt werden soll (Butterfield und Lewis 2016). Da aber viele Studien soziale Kontrolle über die Wahrnehmung des Empfängers operationalisieren, ist es ebenso möglich, dass hier ein Endogenitätsproblem vorliegt, wenn die Einordnung von Kontrollstrategien als positiv oder negativ von der Art des Gesundheitsverhaltens abhängt. Studien zu spezifischen Gesundheitsverhalten gibt es indes nur wenige (s. z. B. Westmaas et al. 2002 zum Rauchen). Hier könnte zukünftige Forschung zur weiteren Klärung beitragen. Eine besondere Relevanz hat die Betrachtung derjenigen Fälle, in denen eine chronische Erkrankung vorliegt. Hier liegen oft besonders kritische und schwerwiegende Erfordernisse hinsichtlich des Gesundheitsverhaltens und der Compliance mit therapeutischen Maßnahmen vor. In diesen Fällen kann der Einfluss des sozialen Umfelds eine große Wirkung auf das Verhalten der Patienten haben. Besonders deutlich wird dies bei Diabeteserkrankungen, da hier mit der Ernährung ein hochgradig sozialer Bereich berührt ist. Zwei Studien mit Stichproben von Typ-2-Diabetikern fanden

293

keine positiven Effekte von häufiger sozialer Kontrolle, selbst wenn diese Überzeugung statt Druck beinhaltete (Stephens et al. 2013; Thorpe et al. 2008). Negative soziale Kontrolle ging in beiden Fällen mit negativen emotionalen Wirkungen einher, während positive Kontrolle sich in der Studie von Thorpe et al. (2008) über positive emotionale Wirkungen langfristig positiv auf den Gesundheitszustand auswirkte. Helgeson et al. (2004) fanden unter Patienten mit Prostatakrebs keine Wirkung sozialer Kontrolle auf das Gesundheitsverhalten der Patienten im Zeitverlauf. Mehr soziale Kontrolle führte zu schlechterem Wohlbefinden, wobei dieser Zusammenhang nicht für alle Kontrollstrategien signifikant war. Alle Strategien korrelierten allerdings mit Depression. Zu ganz anderen Ergebnissen kommt eine Studie zur Rehabilitation von Patienten nach Kniegelenksersatzoperationen (Stephens et al. 2009). Hier führten alle Kontrollstrategien durch Partner zu einer Verbesserung des Gesundheitsverhaltens, die jedoch in keinem Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand zu einem späteren Zeitpunkt stand, lediglich die emotionale Reaktion auf die soziale Kontrolle war ausschlaggebend. Positive soziale Kontrolle führte zu positiven emotionalen Reaktionen und damit zu einer verbesserten Heilung, während die durch negative Kontrolle ausgelöste negative emotionale Reaktion die Heilung verschlechterte. Ähnliches berichten Franks et al. (2006) für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wobei hier nicht nach der Art der sozialen Kontrolle differenziert wurde. So lautet der allgemeine Befund hier nur, dass sich in querschnittlicher Betrachtung kein, in längsschnittlicher ein negativer Effekt der Kontrolle durch den Partner auf das Gesundheitsverhalten und auf die psychische Gesundheit zeigte. In einer Studie zu HIV-positiven Personen war positive Kontrolle positiv mit Aspekten der psychischen Gesundheit korreliert, während negative Kontrolle den gegenteiligen Effekt zeigte (Fekete et al. 2009). Diese Effekte wurden durch negativen Affekt mediiert. Über die psychische Gesundheit mediiert konnte sich soziale Kontrolle auch positiv auf das Gesundheitsverhalten auswirken. " Es ist auffällig, dass für die Gruppe chronisch Kranker auch die Befunde für positive soziale Kontrolle weniger erfolgversprechend ausfallen als in Studien zur (erwachsenen) Gesamtbevölkerung (s. auch Thorpe et al. 2008). Allerdings basieren die meisten Studien auf Querschnittserhebungen, womit eine umgekehrte Kausalität nicht ausgeschlossen werden kann.

Trotz dieser methodischen Vorbehalte ist es denkbar, dass sich die Prozesse zwischen diesen Gruppen unterscheiden. Zukünftige Forschung sollte dazu beitragen, diesen Zusammenhang weiter zu explizieren.

294

4

J. Carstensen

Probleme der Messbarkeit und Kausalität

Die meisten berichteten Befunde zu indirekter sozialer Kontrolle basieren auf Querschnittsanalysen von Befragungsdaten. Mehrere Gründe sprechen dagegen, sie vorschnell als kausal zu interpretieren. Zunächst besteht die Möglichkeit, dass den gezeigten Zusammenhängen Selektionsprozesse zugrunde liegen, die gleichermaßen die soziale Integration wie die beobachteten Outcomes determinieren. Im Fall des Befundes besserer Gesundheit von Verheirateten besteht eine Möglichkeit für einen solchen Selektionsprozess darin, dass sich Einflussfaktoren aus der Kindheit im Erwachsenenalter als psychischer Zustand manifestieren, der gleichermaßen zu einem schlechten Gesundheitsverhalten führt wie zu einer geringeren Neigung oder Fähigkeit, zu heiraten und eine Familie zu gründen (Umberson 1987). Gleichermaßen ist es denkbar, dass Personen mit derselben Neigung zu Übergewicht, kritischem Substanzkonsum oder anderem Risikoverhalten sich vielmehr zueinander selektieren, als dass sie sich gegenseitig mit ihrem Verhalten anstecken. Ähnliches gilt für die Selektion in Rollen, mit denen bestimmte Normensets assoziiert sind. Es ist denkbar, dass bereits vorher vorhandene Charakterdispositionen oder internalisierte Normen ebenso für die Selektion, z. B. in die Elternrolle, verantwortlich sind wie für das verbesserte Gesundheitsverhalten. Nur wenige Studien unternehmen Versuche, solche Selektionsmechanismen auszuschließen (z. B. Christakis und Fowler 2007). Der Forschungsstand zu direkter sozialer Kontrolle in Bezug auf Gesundheitsverhalten ist uneinheitlich, wenngleich gewisse Tendenzen klar erkennbar sind. Dies mag zum einen, wie oben bereits angedeutet, an der Heterogenität der Kontexte und individuellen Charakteristika liegen, inklusive der Anstoß gebenden Verhaltensweisen, die Gegenstand der sozialen Kontrolle sind. Ein anderer möglicher Grund ist jedoch die Uneinheitlichkeit in der Operationalisierung des Konstrukts und der Studiendesigns, die es untersuchen. Das Problem beginnt bei den Fragen, welche Strategien als soziale Kontrolle definiert und welche davon als negative und welche als positive Kontrolle interpretiert werden. Ein Verhalten, das in gewissem Ausmaß als positiv empfunden wird (z. B. Erinnern, Aufklären), kann bei übermäßiger Anwendung auch als störend, negativ oder aufdringlich empfunden werden. Die Wahrnehmung der Kontrollversuche spielt demnach eine zentrale Rolle für deren Effekt (Lewis und Butterfield 2005). " Die subjektive Komponente beim Empfänger sozialer Kontrolle ist in der Operationalisierung unverzichtbar, erschwert jedoch die Identifikation kausaler Effekte stark und reduziert den empirischen Nutzen des Konstrukts.

Von ähnlich großer Tragweite sind jedoch noch weitere Aspekte der Operationalisierung. Einige Studien geben vor, auf welche Art von Bezugspersonen sich die Befragten beziehen sollen (z. B. Tucker und Mueller 2016), andere lassen dies offen (z. B. Fekete et al. 2009). Manche Studien beziehen sich auf hypothetische Szenarien (Lewis und Butterfield 2005; Westmaas et al. 2002), andere auf tatsächlich erlebte Situationen (Butterfield und Lewis 2016; Lewis und Butterfield 2007; Tucker et al. 2006a, b). Weiterhin unterscheiden sich empirische Studien auch in der Frage, welche Perspektive sie berücksichtigen. Nur einige wenige Studien haben Paarbefragungen durchgeführt, in denen sie die Perspektiven beider an derartigen Interaktionen beteiligten Partner berücksichtigen (Butterfield und Lewis 2016; Reich und Olmsted 2007; Tucker und Anders 2001). Das Verhalten der Akteure kann jedoch nicht als voneinander unabhängig angesehen werden (Lewis et al. 2004). Da es sich um einen interdependenten/interaktiven partnerschaftlichen Prozess handelt, in dem sich die Beteiligten emotional und verhaltensmäßig aufeinander einstellen, ist die Reihenfolge von Veränderungen und somit die Kausalität in Querschnitten und teilweise auch in Panelerhebungen nicht zu bestimmen (Stephens et al. 2009). Beispielsweise ist es möglich, dass negative Kontrollstrategien dann besonders häufig gewählt werden, wenn vergangene Erfahrungen gezeigt haben, dass andere Strategien nicht zielführend sind. Wenn diesem Befund eine Persönlichkeitsdisposition zugrunde liegt (z. B. eine starke Neigung zu Reaktanz), würde eine Häufung von erfolglosen negativen Kontrollversuchen entstehen, der jedoch kein kausaler Effekt der Kontrollstrategien auf das Outcome zugrunde läge. Zuletzt können Effekte unmittelbar sein oder auch mit starker Verzögerung eintreten (z. B. Umberson und Montez 2010 bezogen auf soziale Beziehungen allgemein). Neben retrospektiven Studien, in denen ein Erinnerungsbias und Prozesse der Postrationalisierung auftreten können, bieten nur Längsschnittstudien mit zeitlich verzögerter Messung der Outcomes bzw. wiederholten Messungen einen Ausweg für dieses Problem. Letztere sind im Forschungsstand jedoch ebenfalls rar, Ausnahmen stellen die Arbeiten von Stephens et al. (2009), Franks et al. (2006) und Helgeson et al. (2004) dar. Die höchste Auflösung und damit die größte Chance, entsprechende Prozesse korrekt abzubilden, haben Studien, die mit Tagebuch-/Kalendermethoden arbeiten, wie diejenigen von Berzins et al. (2017) und Stephens et al. (2013). Der Befund, dass negative soziale Kontrolle weniger wirksam in der Veränderung von Gesundheitsverhalten ist als positive, setzt voraus, dass es keine Drittvariablen gibt, welche die Wahrnehmung von sozialer Kontrolle als positiv oder negativ erklären und zugleich mit dem Outcome korreliert sind. Wäre beispielsweise die individuelle Veränderungsbereitschaft ein Prädiktor für die Unterscheidung zwischen Informieren und Nörgeln, wären die oben beschriebenen Befunde

25

Soziale Kontrolle und Gesundheitsverhalten

nicht mehr haltbar. Zukünftige Forschung sollte stärker als bisher auf dieses Problem eingehen und durch sorgfältige Operationalisierung und Drittvariablenkontrolle oder durch geeignete (z. B. quasiexperimentelle) Methoden ausschließen, dass es sich bei bisherigen Befunden um Artefakte handelt.

5

Zusammenfassung und Schluss

Auch wenn sich bei näherer Betrachtung des Konzeptes sozialer Kontrolle im gesundheitssoziologischen Kontext durchaus Probleme und Unschärfen offenbaren, ist es dennoch von größter Relevanz. Wenn der Fokus sich von der hier geschilderten Form sozialer Interaktionen und ihrer gesundheitlichen Konsequenzen weitet, hin zu umfassenderen theoretischen Perspektiven der sozialen Determinanten von Krankheit und Gesundheit, wird schnell deutlich, dass die vollständige Integration der unterschiedlichen sozialen Mechanismen, die soziale Beziehungen und Gesundheit miteinander verbinden, unumgänglich ist. Erkenntnisse in diesem Bereich können nicht nur helfen, individuelles Verhalten unter bestimmten Kontextbedingungen besser vorherzusagen, sondern auch in der Public-Health-Forschung dazu beitragen, effektive Interventionen zu gestalten. Viele theoretische Ansätze, die dort Anwendung finden, beinhalten Dimensionen, für welche die geschilderten Mechanismen bedeutsam sind. Die Theorie geplanten Verhaltens (Ajzen 1985) setzt beispielsweise das Vorhandensein einer subjektiven Norm bezüglich des fraglichen Verhaltens voraus. Wie solche Normen vermittelt und internalisiert werden, kann teilweise durch soziale Kontrolle erklärt werden. Direkte soziale Kontrolle kann außerdem Kosten und Nutzen von Handlungsalternativen verändern und extrinsische Motivation erzeugen, die Bestandteile des Health Belief Model (Rosenstock 1974) oder des Stages of Change Model (Prochaska und Diclemente 1986) zur Vorhersage individuellen Gesundheitsverhaltens sind. Die sozialkognitive Lerntheorie (Bandura 1986), die in der Public-Health-Forschung häufige Anwendung findet, beinhaltet nicht nur Aufmerksamkeitsprozesse, in denen der oder die Lernende in Abhängigkeit der sozialen Beziehung zum Modell eine Nachahmungsbereitschaft für ein beobachtetes Verhalten entwickelt, sondern auch externe Bekräftigungen bei der Ausführung gelernten Verhaltens. Auch hier können Prozesse sozialer Kontrolle gewinnbringend integriert werden. " Dabei ist allerdings wichtig, dass diese Prozesse nicht isoliert betrachtet werden, sondern auch deren Wirkung auf die Beziehungen, innerhalb derer sie stattfinden, und damit die Wechselwirkung mit anderen Komponenten, wie der sozialen Unterstützung.

295

Ein genaueres Verständnis der sozialen und psychologischen Prozesse im Zusammenhang mit sozialer Kontrolle kann also in vielerlei Hinsicht zur besseren Erklärung von Gesundheitsverhalten beitragen. Zukünftige Forschung sollte sich deshalb darum bemühen, kausale Strukturen und die genauen Umstände, unter denen sie zutage treten, zu identifizieren.

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Teil V Gesundheitshandeln und -verhalten

Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung

26

Sonia Lippke und Benjamin Schüz

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Modelle zur Motivationsbildung und zur Verhaltensrealisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell gesundheitlicher Überzeugungen und Theorie der Schutzmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie des geplanten Verhaltens und sozial-kognitive Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Absicht zum Verhalten: Volitionale Modelle des Gesundheitsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rubikonmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handlungspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Stadienmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

4

Hybridmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

5 5.1 5.2 5.3

Externe Einflüsse auf Gesundheitsverhalten – Alltagsumgebung und soziale Struktur . . . . . . . . Stimuluskontrolle und Hinweisreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorie der zeitlich bezogenen Selbstregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Ungleichheit im Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300 300 301 301 302 302

305 305 305 306

6 Multiple Gesundheitsverhaltensänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 6.1 Compensatory Carry-Over Action Model . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 7

Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

1

Einleitung

In diesem Kapitel geht es um Theorien und Modelle des Gesundheitsverhaltens bzw. des gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung. Unter Theorien und Modellen verstehen wir in diesem Zusammenhang abstrakt Sätze von Annahmen, die zusammen Verhalten erklären. Das heißt,

S. Lippke (*) Department of Psychology and Methods; Health Psychology & Behavioral Medicine, Jacobs University Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Schüz Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected]

dass in solchen Theorien und Modellen Annahmen darüber gemacht werden, welche Einflussgrößen sich auf Gesundheitsverhalten auswirken. Gesundheitsverhalten ist dabei jegliches Verhalten, das Menschen ausüben und das die Gesundheit fördert und langfristig erhält, Schäden und Einschränkungen fernhält und die Lebenserwartung verlängert. Gesundheitsverhalten kann auch die Unterlassung eines Risikoverhaltens sein, also wenn Verhaltensweisen, die die Gesundheit gefährden, aufgegeben oder reduziert werden. Warum sollten wir uns in diesem Zusammenhang mit Theorien und Modellen beschäftigen? Aus den Annahmen, die in den Theorien gemacht werden (z. B. Einflussgröße X wirkt sich förderlich auf Verhalten Y aus) lassen sich Hypothesen ableiten, die dann empirisch überprüft werden können. Aus den Ergebnissen dieser Untersuchungen lässt sich dann ableiten (Evidenz), wie gut die Annahmen der Theorie mit der Wirklichkeit

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_29

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S. Lippke und B. Schüz

übereinstimmen. Dies hat einen ganz praktischen Nutzen für die Verhaltensänderung: Wenn die Forschung gezeigt hat, dass eine bestimmte Einflussgröße von Bedeutung ist, dann sollte diese Einflussgröße in Interventionen auch gezielt angesprochen werden (Michie et al. 2018). So können sie die Anleitungen für die Entwicklung von effektiveren Verhaltensänderungsmaßnahmen sein (z. B. Bartholomew Eldredge et al. 2016). " Theorien und Modelle des Gesundheitsverhaltens beschreiben, wie und unter welchen Bedingungen bestimmte Einflussfaktoren zusammenwirken und ein Verhalten (z. B. mit dem Rauchen aufzuhören) beeinflussen. Es lassen sich Hypothesen aus ihnen ableiten, um die Theorie zu testen (was Evidenz für oder gegen die Annahmen im Modell schafft), und auf der Grundlage dieser Evidenz können dann Interventionen zur Veränderung von Gesundheitsverhalten entwickelt werden.

2

Modelle zur Motivationsbildung und zur Verhaltensrealisation

Modelle zur Motivationsbildung und Verhaltensrealisation zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass in ihnen Motivation als zentrale Einflussgröße auf Verhalten angenommen wird. Eine Gruppe von Theorien (Modell gesundheitlicher Überzeugungen, Theorie der Schutzmotivation und das erweiterte parallele Prozessmodell) gehen davon aus, dass Menschen vor allem durch den Wunsch, gesundheitliche Gefahren und Risiken abzuwehren, zu Gesundheitsverhalten motiviert werden. Eine zweite Gruppe von Theorien (Theorie des geplanten Verhaltens/Reasoned Action Approach und die sozial-kognitive Theorie) gehen davon aus, dass es allgemeine Erwartungen über die Auswirkungen von Verhalten und eigenes Erleben sind, die für die Ausbildung von Motivation verantwortlich sind. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, die Annahm, dass höhere Motivation dazu führt, dass Menschen sich eher gesundheitsförderlich verhalten.

2.1

Modell gesundheitlicher Überzeugungen und Theorie der Schutzmotivation

Diese beiden Modelle nehmen an, dass die Abwehr von gesundheitlichen Risiken die zentrale Motivation für gesundheitsbezogenes Verhalten darstellt. Daraus leiten sich auch viele Maßnahmen zur gesundheitlichen Aufklärung seitden 1950er-Jahren ab: Durch die Kommunikation von Risiken (Furchtappelle) von ungesundem Verhalten sollten Menschen zu gesünderem Verhalten motiviert werden. Das Modell der gesundheitlichen Überzeugungen (Health Belief Model, HBM; Becker 1974; Rosenstock 1966) erklärt menschliches Handeln als rational und stammt aus der Tra-

dition der Erwartungs-x-Wert-Modelle, wie z. B. jenes von Lewin (1951). Dabei sind vor allem Erwartungen der eigenen Vulnerabilität (der Wahrscheinlichkeit, eine Erkrankung zu bekommen) und Überzeugungen zum Schweregrad dieser Erkrankung wichtig: „Je wahrscheinlicher es ist, dass ich eine Erkrankung bekomme, und je schwerwiegender diese Erkrankung ist, desto eher bin ich motiviert, mein Verhalten zu ändern.“ Die Befundlage unterstützt dieses Modell allerdings nicht mehr: Diverse Prozesse sind nicht berücksichtigt und wichtige Faktoren wie Intention und Selbstwirksamkeitserwartung fehlen (Abraham und Sheeran 2005; Schwarzer 2004). Die Theorie der Schutzmotivation (Protection Motivation Theory, PMT; Rogers 1975) baut auf dem HBM auf. Rogers wollte mit dem Modell erklären, wie Furchtappelle auf Gesundheitsverhalten Einfluss nehmen: Demnach beeinflussen Furchtappelle Bedrohungseinschätzungen (Verwundbarkeit, Schweregrad), führen dadurch zu mehr Schutzmotivation (Intention) und anschließend verändertem Verhalten. Ferner sollte eine höhere Handlungswirksamkeit eine höhere Intention zur Verhaltensänderung und damit mehr erwünschtes Verhalten zur Folge haben. Rogers erweiterte sein Modell 1983, indem er Selbstwirksamkeitserwartung und Handlungskosten, Belohnungen und Informationsquellen berücksichtigte. Die Informationsquellen wie Beobachtungslernen, verbale Überzeugungen, Persönlichkeitsvariablen und Erfahrungen würden wiederum Einfluss nehmen auf die Bedrohungseinschätzung und die Bewältigungseinschätzung. Im Einklang mit Rogers’ Theorie fanden Witte und Allen (2000), dass Furchtappelle nur dann wirksam zu Verhaltensänderungen motivieren, wenn sie auch die Bewältigungskompetenzen unterstützen. Dieser mittlerweile klassische Befund wurde auch durch verschiedene Metaanalysen wie die von Tannenbaum et al. (2015) sowie Sheeran et al. (2014) repliziert. Sheeran et al. (2014) fanden heraus, dass eine Erhöhung der Bedrohungseinschätzung zu Effekten von d+ = 0,31 auf Intention und d+ = 0,23 auf Verhalten führten. Wenn Bedrohungseinschätzung und Bewältigungskompetenzen gemeinsam adressiert wurden, dann waren die Effekte auf Intention mit d+ = 0,98 und 0,45 auf Verhalten am größten. Auch Peters et al. (2013) konnten in ihrer Metaanalyse die Interaktion zwischen Bedrohungseinschätzung und Bewältigungskompetenzen mit Effektstärken zwischen d = 0,31 bis 0,71 finden. Die Effektivität von Furchtappellen zur Verhaltensänderung wird aktuell debattiert. Zentral dabei ist, dass viele Interventionen lediglich auf Komponenten setzen, die Bedrohungseinschätzungen beeinflussen, anstatt sowohl Bedrohungs- als auch Bewältigungskomponenten anzusprechen (Peters et al. 2018). Allgemein ist festzustellen, dass Menschen Risiken unterschiedlich interpretieren (optimistischer Fehlschluss, vgl. Weinstein 1980) und unterschiedlich auf Bedrohungserleben reagieren, aber Furcht eher kurzfristige Effekte erzielt (s. Kok et al. 2017).

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Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung

" Furchtappelle können einen Einfluss auf Gesundheitsverhalten nehmen und das HBM und die PMT stellen theoretische Rahmen dafür dar. Der Nutzen der PMT kann darin gesehen werden, dass sie neben Bedrohungseinschätzung verschiedene personale Ressourcen (Bewältigungseinschätzung) berücksichtigt. Die explizite Integration der Schutzmotivation (Intention) und der Selbstwirksamkeit stellt den Vorteil der PMT gegenüber dem HBM dar.

2.2

Theorie des geplanten Verhaltens und sozial-kognitive Theorie

Zwei Theorien, die Erwartungen als zentrale Einflussgröße auf Motivation (Intention) annehmen, sind die Theorie des geplanten Verhaltens und die sozial-kognitive Theorie. Hier spielen insbesondere Erwartungen über die Ergebnisse von Handlungen und Erwartungen über die eigene Kompetenz, Verhalten durchführen zu können (Selbstwirksamkeitserwartung), eine wichtige Rolle. In der Psychologie gab es in den 1960er-Jahren eine Wende hin zu kognitiven Modellen zur Erklärung von Verhalten. Dazu gehörten zum einen die Erwartungs-x-Wert-Theorien, aus denen beispielsweise die Theorie des geplanten Verhaltens hervorging. Zum anderen zählte dazu besonders die Arbeit von Albert Bandura zum Modelllernen. Die Theorie des geplanten Verhaltens (Theory of Planned Behavior, TPB) von Ajzen (1991) ist eine Erweiterung der Theorie des überlegten Handelns (Theory of Reasoned Action, TRA, Fishbein und Ajzen 1975, die hier nicht weiter behandelt werden soll). Die TPB postuliert, dass Verhaltensänderungen durch Einstellungen, subjektive Norm, und wahrgenommene Verhaltenskontrolle beeinflusst werden und dass ihr Einfluss durch die Intention mediiert wird. Mit Einstellungen sind positive oder negative Bewertungen des Zielverhaltens gemeint. Subjektive Normen stellen den erlebten sozialen Druck dar, das Zielverhalten auszuüben oder zu unterlassen. Die wahrgenommene Verhaltenskontrolle ist der Selbstwirksamkeitserwartung sehr ähnlich, umfasst aber neben eigenen Kompetenzen auch äußere Kontrollfaktoren. McEachan et al. führten 2011 eine Metaanalyse zur TPB durch und fanden, dass die TPB für bestimmte Verhaltensbereiche besser geeignet zu sein scheint: Bei körperlicher Aktivität konnte 24 % der Verhaltensvarianz aufgeklärt werden und 21 % der Varianz des Ernährungsverhaltens. Im Vergleich dazu konnte weniger Varianz in Früherkennungsmaßnahmen, Safer Sex und Drogenentzug erklärt werden (zwischen 14 und 15 %). Die Autoren begründen dies damit, dass diese Verhaltensweisen zusätzlichen Einflussgrößen, die in der TPB nicht berücksichtigt sind, unterworfen sind. Ähnliche Annahmen wie die Theorie des geplanten Verhaltens trifft die sozial-kognitive Theorie (Social-Cognitive Theory, SCT) von Bandura (1997). Ziele (Intentionen)

301

bestimmen, ob Menschen ihr Verhalten ändern oder aufrechterhalten. Sie mediieren den Einfluss von Selbstwirksamkeitserwartung, Handlungsergebniserwartung sowie soziostrukturellen, behindernden und unterstützenden Faktoren auf das Verhalten. Die Selbstwirksamkeitserwartung nimmt (genauso wie in der TPB angenommen) direkten Einfluss auf das Verhalten (Abb. 1). In einer Metaanalyse von Young et al. (2014) zeigt sich, dass vor allem Selbstwirksamkeitserwartung, Barrieren und soziale Unterstützung bedeutsam für die Vorhersage von Verhalten waren. Jedoch nimmt Bandura (2004) an, dass das Wissen um Gesundheitsrisiken und -gewinne eine wichtige Voraussetzung für Änderungen ist. Nur wenn Menschen sich bewusst sind, dass ihr Lebensstil Einfluss auf ihre Gesundheit nimmt, können sie eine Entscheidung treffen, den gewohnten Lebensstil zu ändern. Dazu müssen sie jedoch ausreichend Selbstwirksamkeitserwartung und funktionale Ergebniserwartungen haben. Ergebniserwartungen können positiv und negativ sein und haben nach Bandura physische, soziale und selbst-evaluative Komponenten. Typischerweise haben Menschen mit Schwierigkeiten zu kämpfen, bekommen aber auch Hilfe aus der Umgebung. Ferner nehmen soziokulturelle Faktoren Einfluss, die z. B. im Gesundheitssystem liegen können. All diese Faktoren bewirken, dass Menschen sich etwas vornehmen, also Ziele setzen. Diese Ziele können kurzfristig oder langfristig sein. Diese Annahmen Banduras sind mittlerweile auch empirisch bestätigt worden (Warner et al. 2014, 2018). " Die Verdienste der beiden Theorien (SCT und TPB) sind vor allem in der Berücksichtigung persönlicher Kompetenzerwartungen zu sehen (in der SCT „Selbstwirksamkeitserwartung“ genannt und in der TPB unter dem Namen „Verhaltenskontrolle“) und der Integration der Verhaltensabsicht (in der SCT „Ziel“ und in der TPB „Intention“). Es werden verschiedene weitere sozial-kognitive Variablen berücksichtigt, die für beide Theorien umfangreich untersucht wurden. Zusätzlich zu einigen methodischen Problemen (z. B. kaum Untersuchung von Veränderungen) geben die beiden Theorien keine Auskunft darüber, wie Menschen es schaffen, ihre Absichten auch in Verhalten umzusetzen.

2.3

Von der Absicht zum Verhalten: Volitionale Modelle des Gesundheitsverhaltens

Die Theorien im vorhergehenden Abschnitt nahmen Motivation als zentrale Einflussgröße für Verhalten an. Allerdings lassen sich Konzepte bestimmen, die zwischen Intention und Verhalten wirken oder den Prozess der Umsetzung von Intentionen in Verhalten realisieren. Je mehr Menschen wissen, wie sehr sie einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind,

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S. Lippke und B. Schüz

Abb. 1 Gemeinsamkeiten (durchgezogene Pfeile) und Unterschiede in der Theorie des geplanten Verhaltens (gepunktete Pfeile) und der sozial-kognitiven Theorie (gestrichelte Pfeile). (Quelle: Eigene Abb. der Verfasser)

je mehr sie daran glauben, dass eine Verhaltensänderung dieses Gesundheitsrisiko abwenden kann, je mehr sie darauf vertrauen, ihr Verhalten selbst verändern zu können usw., desto eher nehmen sie sich vor, ihr Verhalten zu ändern. Aber obwohl sie es sich vornehmen, ändern viele Menschen ihr Verhalten nicht: Sie verhalten sich so wie bisher und entsprechend ihren lieb gewonnenen Gewohnheiten. In einer neueren Metaanalyse haben Wood et al. (2016) ebenfalls nur kleine Effekte von Intention auf Verhalten von d+ = 0,24 gefunden. Es scheint also etwas zwischen der Intention und dem Verhalten zu fehlen. Eine Intention (z. B. Sport zu treiben) stellt nicht sicher, dass entsprechendes Verhalten nachfolgt. Mit diesem Phänomen beschäftigen sich volitionale Modelle des Gesundheitsverhaltens.

Tab. 1 Handlungsphasen des Rubikonmodells (nach Achtziger und Gollwitzer 2018) Handlungsphase Prädezisional (motivational)

Postdezisional (volitional)

Aktional (volitional)

Postaktional

2.4

Rubikonmodell

Theorien, die den Prozess nach der Intentionsbildung genauer betrachten, können erklären, wieso es zu einer Handlungsausführung oder Aufgabe der Intention kommt. Solch eine Theorie ist das Rubikonmodell von Heckhausen (1989), in dem vier Phasen unterschieden werden, die in Tab. 1 wiedergegeben sind. Dies legt nahe, dass Menschen, die sich in unterschiedlichen Phasen befinden, sich über unterschiedliche Aspekte von Verhalten Gedanken machen – und dass möglicherweise unterschiedliche Informationen und psychologische Prozesse vonnöten sind, um in die nächste Phase zu kommen. Handlungspläne (implementation intentions) sind dabei der Prozess, der die meiste Forschung angeregt hat.

2.5

Handlungspläne

Handlungspläne spezifizieren, wann, wo und wie ein Verhalten ausgeübt werden soll, und haben die Struktur von „Wenn . . . dann“-Beziehungen (z. B. „Wenn das letzte Seminar vorbei ist, dann gehe ich zum Yoga“). Damit wird ein Automatismus in Gang gesetzt, durch den die Kontrolle des Verhaltens vom Individuum an die Umwelt übertragen wird.

Inhalte Verschiedene konkurrierende Ziele (z. B. zum Yoga oder zur Onlineparty gehen) werden gegeneinander abgewogen, um Prioritäten aufgrund von Attraktivität und Realisierbarkeit zu setzen Eine Entscheidung für ein Ziel (z. B. Yoga) wurde getroffen. Diese wird nun genauer geplant (z. B. wann, wo und wie Yoga auszuüben) Die Handlung wird initiiert (z. B. in Form von Aufsuchen des Yoga-Kurses). Es wird auf das effiziente Erreichen des Handlungsergebnisses fokussiert (z. B. sicherstellen, dass währenddessen das Handy ausgeschaltet ist) Die Handlung wird bewertet (z. B. nach dem Yoga mit sich zufrieden zu sein)

Wenn der „Reiz“ (der Wenn-Teil) eintritt, dann wird die „Reaktion“ (der Dann-Teil) ausgelöst. Je konkreter Handlungspläne sind (in Form von wann-wo-wie-Plänen), desto einfacher können sie auch umgesetzt werden. Beispielswiese haben schon Leventhal et al. in den 1960er-Jahren gezeigt, dass Furchtappelle zwar immer zu einer Intentionssteigerung führen, sie aber nur dann eine Verhaltensänderung initiieren, wenn konkrete Handlungspläne gebildet wurden (Leventhal et al. 1965). Dies ist vielfach repliziert worden und die Wirksamkeit von Handlungsplänen (action plan, implementation intentions) ist in verschiedenen Verhaltensbereichen gezeigt worden. Metaanalytisch wurden mittlere bis hohe Effektstärken im Bereich von d+ = 0,54 (Koestner et al. 2002) bis d+ = 0,70 (Sheeran 2002) für den Zusammenhang zwischen Plänen und Zielerreichung bestimmt. Gollwitzer und Sheeran (2003) analysierten Gesundheitskontexte separat und fanden hier eine Effektstärke von d+ = 0,59 zwischen Plänen und Verhaltensausführung. Allgemein ist Folgendes festzustellen: Menschen, denen man hilft, Pläne zu machen, erreichen ihre Ziele eher als diejenigen, die nicht dazu veranlasst wurden, Pläne zu formulieren (d+ = 0,65, experimentelle Studien). Es hilft aber

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Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung

auch einfach, (mehr) Pläne zu haben (d+ = 0,70, korrelative Untersuchungen, beide nach Gollwitzer und Sheeran 2003). Pläne helfen nicht nur, leichter Ziele zu erreichen, sondern können sich sogar auf subjektives Wohlbefinden auswirken (d+ = 0,61; Koestner et al. 2002; Gray et al. 2017). Es gilt also, konkrete Pläne zu erstellen, die vor allem bei schwierigen Situationen helfen, an den Zielen festzuhalten. Schwierige Situationen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass „etwas dazwischen kommen“ kann. Schwierigkeiten schon mal konkret zu antizipieren, also sich vor dem inneren Auge vorzustellen, kann auch helfen, später zu wissen, wie man mit ihnen umgeht. Dazu müssen jedoch auch konkrete Pläne gebildet werden, was im Falle solcher Schwierigkeiten gemacht wird; diese Pläne werden auch Bewältigungsplanung genannt. Dabei ist allerdings wichtig, dass sich Pläne auf ein selbst gesetztes (also selbst motiviertes) Ziel beziehen. Muss ein fremdgesetztes Ziel geplant werden (z. B. der Arzt „verordnet“ körperliches Training), das man selbst nicht ausführen möchte, so bringt Planung keinen Vorteil: Orthopädische Patienten, die die Absicht hatten, regelmäßig körperlich aktiv zu werden und Handlungs- und Bewältigungspläne formulierten, waren zu 14 % aktiver als diejenigen, die keine Pläne formulierten. Dieser Unterschied zeigte sich allerdings nicht bei denjenigen, die keine Absicht zu mehr körperlicher Aktivität hatten (Lippke et al. 2004). Von Planung profitieren also nur Menschen, die sich in der postintentionalen Phase befinden, nicht jedoch in der präintentionalen Phase. Dies legt nahe, dass in der präintentionalen Phase andere Prozesse wichtig sind als in der postintentionalen Phase. " Der Verdienst der volitionalen Modelle und Konzepte ist vor allem darin zu sehen, dass sie die Lücke zwischen Intention und Verhalten schließen. Sie ergänzen damit die motivationalen Theorien. Pläne sind „Wenn-dann“Verbindungen, die eine automatische Auslösung von Intentionen veranlassen. Es sollte geplant werden, wann, wo und wie die Intention umgesetzt werden soll (Handlungsplanung). Ferner kann es hilfreich sein, Barrieren zu antizipieren und ihre Bewältigung zu planen (Bewältigungsplanung).

3

303

im gleichen Stadium. Die Unterschiede bestehen in Gedanken, Gefühlen und im Verhalten. Das bekannteste und am weitesten verbreitete Stadienmodell ist das Transtheoretische Modell (Transtheoretical Model, TTM; Prochaska et al. 1992) mit seinen fünf bzw. sechs Stadien. Zentral ist die Ansicht, dass Menschen nur einem Stadium zugeordnet werden können. In den Stadien haben Menschen charakteristische Gedanken und Gefühle, sog. „mindsets“. Personen lassen sich entsprechend den Stadien einstufen. Die zentrale Annahme von Stadienmodellen ist, dass Menschen nicht einfach immer mehr Intention entwickeln, sondern dass sie eine Entwicklung durchleben, bei der sie die Stadien nacheinander durchlaufen (wie ein Schmetterling: Ei ! Raupe ! Puppe ! Schmetterling). Auf den unterschiedlichen Stufen wirken unterschiedliche Einflüsse. So ist z. B. der Anstoß durch einen Zeitungsartikel, der Informationen vermittelt, im Präkontemplation-(PC)-Stadium hilfreich, um sich bewusst zu werden, dass es überhaupt ein Zielverhalten gibt, das gesundheitlich wichtig ist. Im Kontemplation-(C)-Stadium kann die Information aus der Zeitung das Treffen einer Entscheidung unterstützen. Danach, also im Präparation-(P)-Stadium, geht es jedoch um die konkrete Planung und Vorbereitung. Wenn die Zeitung nur Informationen zu den Vorteilen durch das Zielverhalten anbietet, kann sie bei der Planung und Vorbereitung nicht helfen und wird damit unwichtig. Wird das Verhalten initiiert (Aktion, A; Aufrechterhaltung, M), sind Kontrollmechanismen wichtiger, die Schwierigkeiten bei der Handlungsausführung bewältigen helfen. Die Befundlage zur stadienspezifischen Wirksamkeit von Interventionen ist allerdings uneindeutig – zum einen zeigen sich zwar teils große Effekte von stadienspezifischen Interventionen im Vergleich zu Kontrollinterventionen, keinen Interventionen oder Interventionen, die zu anderen Stadien passen. Stadienspezifisch passende Interventionen können dabei allerdings nicht nur bessere Ergebnisse zeigen, sondern vor allem auch beim Einsparen von Ressourcen helfen. Dies sind jedoch Verdienste, die allgemein durch Anpassung oder Maßschneiderung von Interventionen auf Grundlage unterschiedlicher Modelle erreicht werden können. Trotz seiner Beliebtheit in Forschung und Praxis sind Studien über das TTM mit verschiedenen spezifischen theoretischen und methodischen Problemen konfrontiert.

Stadienmodelle

Modelle, die annehmen, dass Menschen sich in unterschiedlichen „Zuständen“ der Verhaltensänderung befinden, werden auch Stufen- oder Stadienmodelle genannt – in diesem Sinne ist auch das Rubikonmodell ein Stadienmodell. Nach diesen Modellen unterscheiden sich die Stadien qualitativ, d. h. Personen in einem Stadium unterscheiden sich stark von denjenigen in anderen Stadien und kaum von Personen

" Der Nutzen von Stadienmodellen liegt darin, dass mit einer Stadiendiagnostik eine Passung (matching) von Maßnahmen relativ einfach vorgenommen werden kann, wenn klar ist, welche Behandlungen stadienspezifisch wirksam sind. Letzteres bietet derzeit noch viel Raum für Kritik und weist auf Desiderata hin bzw. darauf, dass weitere theoriegeleitete Forschung notwendig ist. Ein bekanntes Stadienmodell ist das TTM, das 5 Stadien

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S. Lippke und B. Schüz

(bzw. 6 inklusive dem Stadium Stabilisierung) postuliert. Zentral ist bei der Untersuchung von Stadien zu berücksichtigen, dass Stadien kategoriale oder evtl. ordinale Variablen sind (und keine intervallskalierte Daten). Es liegt mittlerweile eine Reihe von Stadienmodellen und Weiterentwicklungen vor.

4

Hybridmodell

Ein Modell, das die bewährten Modellkomponenten in den bis hierher beschriebenen Theorien integriert, ist das sozialkognitive Prozessmodell des Gesundheitsverhaltens (Health Action Process Approach, HAPA; Schwarzer 1992, 2001). Der HAPA ist ein Modell, das explizit lineare und Stadienannahmen kombiniert und deshalb als Hybridmodell bezeichnet werden kann (Abb. 2; nach Schwarzer 2004). Die linearen Anteile umfassen motivationale Komponenten (Zielsetzung) und volitionale Modellanteile (post-dezisionale Anteile wie z. B. Pläne). Danach wird angenommen, dass Menschen zunächst einen konflikthaften Entscheidungs- und Motivierungsprozess durchlaufen, der in einer Zielsetzung gipfelt, bevor sie darangehen, das neue oder schwierige Verhalten zu planen und in den Alltag zu integrieren. In der ersten Phase (prä-dezisionale Phase, nicht-intentionales Stadium) werden Menschen von Kognitionen geleitet, vor allem von Risikobewusstsein, Ergebniserwartungen und Selbstwirksamkeitserwartungen. Wenn Menschen sich ein konkretes Handlungsziel setzen, steigen sie in die volitionale Phase ein, in der es zunächst um die Planung

(post-dezisional prä-aktiv, intentionales Stadium) und Handlungsinitiative und -aufrechterhaltung (aktives/aktionales Stadium) geht. In der volitionalen Phase sind personale und soziale Ressourcen bedeutsam: Wer optimistisch an die eigene Kraft zum Durchhalten glaubt (also eine hohe Selbstwirksamkeitswartung hat) und bei Bedarf sein soziales Netz geschickt zu mobilisieren weiß (um soziale Unterstützung zu erhalten), kann Widerstände überwinden und seine Ziele dauerhaft in die Tat umsetzen. Die beiden Grundprinzipien dieses Modells sind: eine bestimmte Stufe wird erst dann erreicht, wenn die vorhergehende Stufe durchlaufen wurde. Bei Menschen in den unterschiedlichen Stadien sind verschiedene sozialkognitive Faktoren charakteristisch im Vergleich zu den anderen Stadien. Außerdem sind unterschiedliche Variablen verantwortlich für das Überwechseln in das jeweils nächste Stadium (vgl. Schwarzer 2004). Bis eine Person sich ein Ziel gesetzt hat, gilt sie als Non-Intender („Ich habe nicht die Absicht, täglich 20 Minuten lang Yoga zu machen“). Die Risikowahrnehmung einer Person ist als die subjektive Einschätzung des Schweregrads von Erkrankungen sowie der eigenen Verwundbarkeit definiert („Mein Risiko, einen Herzinfarkt zu bekommen, ist hoch“). Wird eine Bedrohung wahrgenommen, kommt es zum Abwägen von Handlungsergebniserwartungen bezüglich des Gesundheitsverhaltens („Wenn ich täglich laufe, dann . . . halte ich meinen Kreislauf fit“ und „. . . habe ich weniger Zeit für andere Dinge“). Selbstwirksamkeitserwartung ist darüber hinaus für die Zielsetzung erforderlich („Ich bin mir sicher, dass ich mich täglich zum Yoga überwinden kann, auch wenn ich hohen

Abb. 2 Sozial-kognitives Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (Health Action Process Approach; HAPA, eigene Abbildung nach Schwarzer 2004)

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Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung

Termindruck habe“). Mit der Zielsetzung („Ich habe die Absicht, täglich 20 Minuten lang Yoga zu machen“) endet die Motivationsphase und die Personen wechseln vom Non-Intender zum Intender, also in die Volitionsphase über. In der intentionalen Phase erfolgt zunächst die genaue Planung („Ich will täglich nach der Arbeit gegen 17 Uhr mit meiner Freundin Yoga machen“). Selbstwirksamkeit ist in dieser Phase weiterhin wichtig. Mit der Initiierung der Handlung beginnt die aktionale Phase, d. h. ein Intender wird zum Aktiven. Während dieser Phase findet eine ständige Handlungsausführungskontrolle statt, bei der es darum geht, sowohl die Handlung als auch die Intention gegenüber Distraktoren abzuschirmen. Metakognitive Abschirm- und Durchhaltetendenzen können dafür sorgen, dass man nicht vom Ziel abkommt, die Handlung nicht unterbricht oder seine Aufmerksamkeit nicht ständig anderen Dingen zuwendet. Barrieren müssen gemeistert und personale und soziale Ressourcen so genutzt werden, dass das Verhalten zielgerichtet ausgeübt werden kann. Die Selbstwirksamkeitserwartung bleibt nach wie vor von großer Bedeutung. Insgesamt bietet das HAPA-Modell viele Ansatzpunkte für weitere Forschung und evidenzbasierte, theoriegeleitete Orientierung für die Förderung von Gesundheitsverhalten.

5

Externe Einflüsse auf Gesundheitsverhalten – Alltagsumgebung und soziale Struktur

Die Theorien im vorhergehenden Teil konzipieren Verhalten vor allem als durch Kognitionen bedingt. In diesem Abschnitt werden wir beschreiben, wie sich die Umwelt sowohl über Hinweisreize oder Stimuli als auch über die soziale Struktur auf gesundheitlich relevantes Verhalten auswirken kann.

5.1

Stimuluskontrolle und Hinweisreize

Die grundlegende Idee dieser Perspektive besteht darin, dass Verhalten eben nicht wie in den vorher besprochenen Theorien durch kognitive Prozesse kontrolliert wird, sondern durch konditionierte, d. h. vorher möglicherweise mit dem Verhalten nicht zusammenhängende Reize (Stimuli) ausgelöst werden kann. Dies wird vielleicht durch ein Beispiel aus der Forschung zum Rauchen deutlicher: Durch die wiederholte Paarung von eigentlich neutralen Umgebungsvariablen (z. B. einer bestimmten Tageszeit oder ein bestimmter Ort wie die Raucherecke) mit den psychoaktiven Effekten von Nikotin (Erregung, Euphorie) werden diese Umgebungsvariablen mit den Effekten von Nikotin assoziiert, also klassisch konditioniert. Wenn nun Raucher nach diesem Konditionierungsprozess diesen Orten oder Zeiten nahe kommen, werden damit die Assoziationen mit den psychoaktiven

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Effekten von Nikotin aktiviert, und Verlangen (craving) nach diesen Effekten setzt ein – was in der Konsequenz die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Person in dieser Situation auch tatsächlich raucht. Auch für Essverhalten sind solche Zusammenhänge gezeigt worden. Hier sind es vor allem die regelmäßige Paarung von zucker- und fettreichen Nahrungsmitteln und bestimmte Umgebungsvariablen, die dann craving auslösen. Interessanterweise wird dieses Verlangen dann oft individuell als Hunger interpretiert (Lowe und Butryn 2007). Mit dem Ansatz der Stimuluskontrolle ist der von Hinweisreizen auf Verhalten eng verwandt. Hier wird davon ausgegangen, dass bestimmte Faktoren Hinweischarakter für ein bestimmtes Verhalten aufweisen, also bereits bestehende Assoziationen zwischen Verhalten und erwarteten Konsequenzen aktivieren. Dabei wird zwischen internen Hinweisreizen (z. B. momentane Stimmung) und externen Hinweisreizen (z. B. soziale Faktoren, physikalische Umgebung) unterschieden. Wenn Menschen Hinweisreizen ausgesetzt sind, die Verknüpfungen zwischen den Verhaltenskonsequenzen (z. B. psychoaktive Effekte des Rauchens, positive Stimmungsmodifikation nach Zucker- und Fettkonsum) und dem Verhalten aktivieren, empfinden sie craving, und die Wahrscheinlichkeit von Verhalten nimmt zu. In einer Reihe von Studien, in denen Teilnehmende mehrmals täglich ihr Essverhalten und die An- oder Abwesenheit von Hinweisreizen dokumentierten, zeigte sich beispielsweise, dass akute negative Stimmung, die Anwesenheit von anderen Personen, die aßen, und das Vorhandensein von Essen die Wahrscheinlichkeit erhöhten, dass die Probanden selbst eine Zwischenmahlzeit einnahmen (Schüz et al. 2015). Hinweisreize zeigten sich auch in der weiteren baulichen Umgebung: Die Wahrscheinlichkeit, dass Probanden eine kalorienreiche Zwischenmahlzeit zu sich nahmen, stieg, wenn sie einem Schnellrestaurant näher waren (Elliston et al. 2017b). Außerdem lassen sich individuelle Unterschiede in der Tendenz, auf solche Hinweisreize mit Essen zu reagieren, feststellen: Teilnehmende mit höherem BodyMass-Index reagierten stärker auf soziale Hinweisreize als Personen mit niedrigerem Body-Mass-Index (Schüz et al. 2017a). Die Mechanismen, die diesen Effekten zugrunde liegen, können momentane Veränderungen in der subjektiven Wahrnehmung von Personen sein. Wenn jemand anderes isst, dann ist es in diesem Moment sozial angebrachter und womöglich weniger negativ belegt, selbst eine Zwischenmahlzeit zu sich zu nehmen (Schüz et al. 2018).

5.2

Theorie der zeitlich bezogenen Selbstregulation

Diese im vorangehenden Abschnitt diskutierte Perspektive legt nahe, dass Personen zu unterschiedlichen Zeiten (Situa-

306

tionen) unterschiedlichen Einflussgrößen von Verhalten ausgesetzt sind. Diese Idee findet sich auch in der Theorie der zeitlich bezogenen Selbstregulation (Temporal Self-Regulation Theory; Hall und Fong 2007) wieder. Hier wird davon ausgegangen, dass Verhalten Einflussgrößen in zwei „Sphären“ ausgesetzt ist, einer motivationalen Sphäre und einer Sphäre von umgebungsbezogenen temporalen Kontingenzen (oder „momentane“ Sphäre). Die motivationale Sphäre erinnert dabei an die oben diskutierten sozialkognitiven Modelle des Gesundheitsverhaltens, weil hier vor allem Kognitionen wie Erwartungen über die Konsequenzen von Verhalten eine Rolle spielen, aber auch, wann diese Konsequenzen eintreten (zeitliche Bewertung). In der momentanen Sphäre sind dagegen selbstregulative Kompetenzen und situative Einflussgrößen wichtig, also beispielsweise das Vorhandensein von Hinweisreizen und einer förderlichen Umgebung (verhaltensbezogene Vorspannung). Selbstregulative Kompetenzen (die Fähigkeit, Verhalten im Einklang mit übergeordneten Zielen zu regulieren) werden dabei als moderierende Einflussgröße angenommen: Je förderlicher die Umgebungsvariablen und je höher die selbstregulative Kompetenz, desto stärker wirkt sich Intention auf Verhalten aus (Abb. 3; Hall und Fong 2007). Dieses Verhaltensmodell ist vor allem deswegen so bedeutsam, weil es die oft angenommenen parallelen Prozesse oder Systeme bei der Bildung von Verhaltensentscheidungen (z. B. System 1/System 2 bei Kahnemann und Tversky 1984, oder die reflexiven und impulsiven Pfade zur Verhaltensregulation bei Hofmann et al. 2011) in zwei distinkte Phasen aufteilt. Die Forschung zu diesem Modell und seine Anwendung auf gesundheitlich relevante Verhaltensweisen stehen noch relativ am Anfang. Eine der ersten Studien, die alle Komponenten des Modells im Rahmen einer intensiven Längsschnittstudie mit Mehrebenen-Design überprüfte (Elliston

Abb. 3 Theorie der zeitbezogenen Selbstregulation (Übersetzung und eigene Abb. der Verfasser)

S. Lippke und B. Schüz

et al. 2017a) zeigte, dass momentanes Essverhalten (also situativ unterschiedliches Verhalten) nicht signifikant durch Intentionen zur gesunden Ernährung, aber durch selbstregulative Kompetenzen und die situationalen Einflussgrößen erklärt werden konnte. Dies bedeutet, dass Interventionen zur Verhaltensänderung sowohl motivationale Komponenten, die für die Ausbildung von Absichten zur Veränderung von Verhalten wichtig sind, als auch Kompetenzen zur Regulation von Verhalten in spezifischen Situationen berücksichtigen sollten und zusätzlich überlegt werden muss, wie sich Umgebungen so verändern lassen, dass sie gesundes Verhalten unterstützen.

5.3

Soziale Ungleichheit im Gesundheitsverhalten

Es gibt überzeugende empirische Belege dafür, dass nicht nur Gesundheit, sondern auch Gesundheitsverhaltensweisen sozial ungleich verteilt sind (z. B. Stringhini et al. 2011). So zeigen beispielsweise Daten aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (2015), dass der Anteil von Rauchern in Gruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status fast doppelt so hoch ist wie in Gruppen mit hohem soziökonomischem Status. Ähnlich sieht es bei körperlicher Aktivität (oder Inaktivität), der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und gesundem Ernährungsverhalten aus (z. B. Stringhini et al. 2011). Wir wissen allerdings erstaunlich wenig über die verhaltensbezogenen Ursachen für diese Ungleichheiten. Insbesondere im Bereich der Psychologie und Verhaltensforschung spielt die Frage nach den Ursachen von Ungleichheiten in gesundheitlich relevanten Verhaltensweisen bislang eine eher untergeordnete Rolle. Wenn wir uns die oben eingeführten Theorien und Modelle näher anschauen, stellen wir fest, dass sich struktu-

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Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung

relle Faktoren wie soziale Ungleichheit in diesen Modellen kaum wiederfinden. Wenn überhaupt, werden solche Faktoren als distale Einflussgrößen spezifiziert, deren Einfluss über die Faktoren in den Modellen vermittelt wird (Mediation). Eine Person, die über niedrigere Bildung verfügt, hätte dementsprechend beispielsweise weniger positive Einstellungen oder weniger unterstützende normative Wahrnehmungen über gesunde Ernährung und würde dementsprechend schwächere Intentionen zur Verhaltensänderung ausbilden. Allerdings kann sich Ungleichheit auch durch unterschiedliche Effekte (Moderation) von Variablen in Theorien und Modellen auf Verhalten auswirken. Eine aktuelle Metaanalyse (Schüz et al. 2017a) zeigt z. B. anhand von Studien, die die Effekte von Variablen aus der Theorie des geplanten Verhaltens auf körperliche Aktivität untersuchten, dass insbesondere die Zusammenhänge von Intentionen mit Verhalten in Studien mit besser gebildeten Stichproben signifikant größer ausfielen als bei Studien mit Stichproben mit niedrigerer Bildung (Abb. 4). In einer Studie mit Mehrebenen-Design (Schüz et al. 2012) fanden sich stärkere Effekte von Einstellungen und Handlungs- sowie Bewältigungsplanung auf körperliche Aktivität bei Menschen, die in Landkreisen mit besseren finanziellen Ressourcen lebten, was darauf hinweist, dass auch sozioökonomische Merkmale der Umgebung Einfluss auf Verhalten nehmen können. Wie eine Konzeption des Einflusses von sozialer Ungleichheit auf Gesundheitsverhalten auf mehreren Ebenen aussehen kann, diskutiert Schüz (2017) ausführlicher. Diese unterschiedlichen Effekte von verhaltensbezogenen Determinanten nach sozioökonomischen Merkmalen bedeuten, dass Theorien und Modelle, die diese Determinanten berücksichtigen, für manche Populationsgruppen weniger gut passen. Schwächere Effekte von Intentionen auf Verhalten bei Menschen mit niedrigerer Bildung implizieren beispielsweise, dass in dieser Gruppe durch Modelle mit Intentionen weniger Varianz im Verhalten aufgeklärt wird. Das würde wiederum bedeuten, dass möglicherweise wichtige Abb. 4 Korrelationen zwischen Intention und körperlicher Aktivität in Stichproben mit hohem vs. niedrigem Einkommen, hoher vs. niedriger Bildung und hohem vs. niedrigem Berufsprestige. (Quelle: Eigene Abb. nach Daten aus Schüz et al. 2017a)

307

Einflussgrößen für Verhalten bei Menschen mit niedrigerer Bildung in diesen Modellen nicht berücksichtigt sind und die Modelle überarbeitet werden müssten. Für Interventionen sind diese Überlegungen interessant, weil sie nahelegen, dass Maßnahmen auf Grundlage dieser Modelle bei manchen Bevölkerungsgruppen weniger effektiv sind. Zum Beispiel zeigen sich sozioökonomische Unterschiede in den Effekten von Tabakkontrollmaßnahmen (Hill et al. 2014) – Menschen mit höherem sozioökonomischem Status reduzieren ihr Rauchen stärker als Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status, was dazu führen kann, dass gesundheitliche Ungleichheiten womöglich noch zunehmen. Allerdings steckt auch in diesem Bereich die systematische Forschung erst in den Anfängen, aber erste Studien (z. B. Lehne und Bolte 2017) zeigen, wie sozial ungleich verteilte Effekte von Interventionen untersucht und bewertet werden können – und damit hoffentlich eine Grundlage dafür gelegt werden kann, dass Interventionen gesundheitliche Ungleichheiten verkleinern anstatt zu vergrößern.

6

Multiple Gesundheitsverhaltensänderung

6.1

Compensatory Carry-Over Action Model

Das Compensatory Carry-Over Action Model (CCAM; Lippke 2014) berücksichtigt mehrere Verhaltensweisen gleichzeitig bzw. in Abfolge miteinander. Beispiele sind gesunde Ernährung und körperliche Bewegung als zwei Gesundheitsverhaltensweisen, oder Rauchen und Alkoholkonsum als zwei Risikoverhaltensweisen. Gleichermaßen können aber diese Verhaltensweisen auch im Zusammenhang mit ganz anderen Lebenszielen stehen wie erfolgreich im Studium oder Beruf zu sein oder für Familienangehörige zu sorgen. Es werden nicht nur die psychologischen Prozesse hin zum Aufbau eines gesunden Lebensstils innerhalb der einzelnen

308

Verhaltensweisen, sondern auch Mechanismen zwischen den Bereichen berücksichtigt (sog. verhaltensübergreifende Mechanismen). Dabei wird angenommen, dass verschiedene Verhaltensweisen und die unterliegenden Ziele miteinander interagieren, was auch in Studien bestätigt wurde (z. B. Paech und Lippke 2017) Wenn mehrere Verhaltensweisen (z. B. Bewegung und Ernährung) einem übergeordneten Ziel (z. B. Erhaltung der Gesundheit durch Gewichtsabnahme) dienen, werden diese Verhaltensweisen in Bezug auf ihre Auftretenswahrscheinlichkeit und die kognitiven Einflussgrößen stärker miteinander zusammenhängen als Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit ganz anderen Lebenszielen stehen, wie beispielsweise erfolgreich im Studium oder Beruf zu sein oder für die Familie zu sorgen. Ein weiteres Postulat ist, dass sich Verhaltensweisen gegenseitig befördern oder stören können, und dass diese Prozesse durch situative und temporale Faktoren veränderbar sind (Gray et al. 2017). Sie werden von emotional relevanten, höhergeordneten Zielen geleitet (z. B. „Ich möchte möglichst lange erwerbsfähig bleiben“). Diese Ziele sind dabei handlungsleitend, indem sie die verschiedenen Verhaltensweisen initiieren und in ihrer Aufrechterhaltung unterstützen. Allerdings können diese übergeordneten und eher zeit-invalenten Ziele in ihrer Priorität gelegentlich nach unten wandern, so dass sie in einer besonderen Situation oder zu einer bestimmten Zeit (z. B. eine Party, bei der zu viel Alkohol getrunken wird) weniger salient, d. h., weniger handlungsleitend sind. Die Bedeutung von solchen Zielen und das Reflektieren dieser Ziele hat sich wiederholt gezeigt: Die Effekte auf Intention sind mit d+ = 0,14 kleiner als auf Verhalten mit d += 0,32 (Epton et al. 2015). Das CCAM hat folgende Annahmen, sog. Axiome: 1. Verschiedene Verhaltensweisen und multiple Ziele bezüglich dieser Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit Gesundheit stehen (z. B. Bewegung und Ernährung), interkorrelieren. 2. Emotional relevante, höhergeordnete Ziele (z. B. „ich möchte möglichst lange erwerbsfähig bleiben“) sind dabei der Motor dieser Verhaltensweisen, indem sie die verschiedenen Verhaltensweisen initiieren und in ihrer Aufrechterhaltung unterstützen. 3. Innerhalb der jeweiligen Verhaltensweisen gibt es kognitive Ressourcen, die für die Veränderung bzw. Aufrechterhaltung der Verhalten Voraussetzung sind. Diese kognitiven Ressourcen sind begrenzt und z. B. Intentionen/ Ziele, Handlungspläne und Selbstwirksamkeitserwartung. Das heißt, es gibt nur eine begrenzte Kapazität zur Selbstregulation, deren Aufteilung die Zielerreichung bedingt. 4. Es gibt psychologische Mechanismen, die zwischen den verschiedenen Verhaltensweisen wirken und übertragen werden können durch Mastery-Experience: Ressourcen

S. Lippke und B. Schüz

können von einem Bereich in den anderen übertragen werden (durch sog. Carry-over-Mechanismen, Transferüberzeugungen oder auch durch direkten Transfer von Selbstwirksamkeitserwartung durch Mastery Experience) Kompensatorische Kognitionen, (compensatory cognitions/compensatory health beliefs, Miquelon et al. 2012 wirken) zwischen den verschiedenen Verhaltensweisen. Sie können die Intentionsbildung und tatsächliche Realisierung des anderen Verhaltens anregen oder auch hemmen. Diese Prozesse zwischen den Verhaltensbereichen werden durch situationale Emotionen, Umweltreize und Kontextveränderungen beeinflusst, was in Form der Tempting Situation (Herausforderung) abgebildet wird. 5. Diese Verhaltensweisen tragen direkt zur Belastungsbewältigung bei und können das Wohlbefinden positiv beeinflussen. Veränderungen treten situativ und temporal auf, d. h., dass es Variationen über den Tag bzgl. der Belastungsbewältigung geben kann.

7

Zusammenfassung und Fazit

Weshalb sollte man nun verschiedene Modelle kennen und nicht einfach das, das am überzeugendsten klingt, als Grundlage für Interventionen nehmen? Drei zentrale Gründe lassen sich zusammenfassen: Es ist wichtig, • die Entwicklung der verschiedenen Theorien und Modelle über die Zeit zu kennen, (um z. B. die Furchtappellforschung und die derzeitige Praxis besser einschätzen zu können). • beurteilen zu können, welche Theorie Aspekte berücksichtigt, die für eine bestimmte Verhaltensweise relevant, für eine andere aber irrelevant sein könnten. • über die Kenntnis von Theorien Evidenz aus Studien zu diesen Theorien kritisch einschätzen und als Grundlage für Interventionen nehmen zu können.

" Wichtig dabei ist, dass es nicht „die eine“ Theorie gibt, die optimal auf alle Probleme passt. Es gibt, wie oben diskutiert, Überschneidungen zwischen Theorien (s. auch Cane et al. 2012). Ziel der Entwicklung von Theorien sollte sein, Gesundheitsverhalten optimal beschreiben, erklären und verändern zu können. Mit der Übersetzung von Theorien in Programme können Änderungen von Gesundheitsverhalten effektiver und ressourcensparend gestaltet werden.

In diesem Kapitel haben wir die -unserer Ansicht nachwichtigsten Theorien und Modelle für Gesundheits- und Risikoverhalten beschrieben, wobei die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wir haben außerdem gezeigt, welche externen Einflussgrößen sich auf Verhalten

26

Modelle gesundheitsbezogenen Handelns und Verhaltensänderung

auswirken, und wie multiple Verhaltensweisen in theoretische Überlegungen integriert werden könnten. Diese Punkte zeigen, dass die Theoriebildung und -entwicklung ein fortlaufender Prozess ist, bei dem sich über die Zeit neue Erkenntnisse ergeben und Veränderungen zu erwarten sind.

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309

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Bewältigung und Umgang mit chronischen Krankheiten

27

Karin Lange

Inhalt 1 Chronische Krankheiten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1.1 Epidemiologie chronischer Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1.2 Heterogenität chronischer Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2

Folgen chronischer Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Theoretische Konzepte der Krankheitsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transaktionale Stresstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Krankheitsbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier-Phasen-Modell der Krankheitsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfreiche Bewältigungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

313 314 315 316 317

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Professionelle Interventionen zur Unterstützung der Krankheitsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnoseübermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturierte Patientenschulungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identifikation von Belastungen und Hilfebedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsspezifische psychologische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versorgungsstrukturen und interprofessionelle Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

318 318 318 319 319 319

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

1

Chronische Krankheiten in Deutschland

Mit dem Rückgang von Infektionskrankheiten hat sich das Krankheitsspektrum in modernen Industriegesellschaften grundlegend gewandelt. Chronische Krankheiten sind bereits bei Kindern und Jugendlichen, vor allem aber in allen folgenden Alterskohorten in den Fokus der medizinischen Versorgung gerückt. Entsprechend bestimmen in Deutschland seit einigen Dekaden nicht-übertragbare Krankheiten das Morbiditäts- und Mortalitätsgeschehen (WHO 2014; Robert Koch-Institut 2015).

1.1

Epidemiologie chronischer Krankheiten

In der aktuellen Welle 1 der Studie zu Gesundheit und Krankheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland K. Lange (*) Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]

(KiGGS) gaben die Eltern von 16,2 % der 0- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen an, dass bei ihrem Kind ein lang andauerndes chronisches Gesundheitsproblem vorläge. Jedoch sei nur jedes fünfte Kind (3,2 %) eingeschränkt oder daran gehindert, Dinge zu tun, die Gleichaltrige tun können (Neuhauser et al. 2014). Bei dieser Erfassung von chronischer Krankheit im Kindesalter wurden schwerwiegende Erkrankungen wie zystische Fibrose (CF), Typ-1-Diabetes, Epilepsie, angeborene Herzfehler, Rheuma oder seltene genetische Erkrankungen, aber auch solche mit leichten Verlaufsformen oder nur temporären Beschwerden, z. B. Heuschnupfen oder allergisches Kontaktekzem, gleichermaßen gezählt (Schmitz et al. 2014). Etwa 14 % aller Kinder hatten nach Angabe ihrer Eltern einen speziellen medizinischen Versorgungsbedarf. Die Prävalenz war am niedrigsten bei Säuglingen und Kleinkindern und stieg in den folgenden Lebensphasen bis auf etwa 20 % bei den 14- bis 17-Jährigen an. Der Anteil Erwachsener mit einer oder mehr chronischen Erkrankungen nimmt mit dem Alter auch wegen der

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_30

311

312

K. Lange

qualifizierten medizinischen Versorgung, verbesserter Prognose und damit längerer Lebenserwartung kontinuierlich zu. So gaben etwa 60 % der Frauen über 65 Jahre und 54 % der Männer in der deutschen GEDA-Befragung an, von einer oder mehr chronischen Krankheiten betroffen zu sein (Scheidt-Nave 2010). Dazu zählen vor allem HerzKreislauf-Erkrankungen wie koronare Herzkrankheit und Schlaganfall, Diabetes, Krebs und chronische Atemwegserkrankungen. In Deutschland sind außerdem chronische Muskel-Skelett-Erkrankungen, psychische Erkrankungen, Seh- oder Hörbeeinträchtigungen sowie genetisch determinierte Krankheiten relevant (Plass et al. 2014; Robert Koch-Institut 2015). Unterschiedliche Prävalenzangaben zu chronischen Erkrankungen sind vor allem auf verschiedene Definitionen und Operationalisierungen von „chronischer Krankheit“ in der Literatur und in der Alltagssprache zurückzuführen. " Definition chronische Erkrankung Als Gemeinsamkei-

ten chronischer Erkrankungen werden eine langsame und fortschreitende Entwicklung dauerhafter Gesundheitsprobleme (regelmäßige ärztliche Behandlung mindestens über vier Quartale eines Jahres) und bleibende Krankheitsfolgen, z. B. Behinderung, Störung der Organ- und Körperfunktionen und Behandlungsbedarf, genannt (ScheidtNave 2010). Da chronische Krankheiten nicht unmittelbar zum Tod führen, auf der anderen Seite aber auch nicht durch medizinische Interventionen geheilt werden können, haben sie weitreichende Konsequenzen für die Lebenssituation und Lebensqualität der Betroffenen. Notwendige Therapien sind dabei oft mit hohen Ansprüchen an das tägliche Selbstmanagement verbunden, z. B. bei Typ-1-Diabetes (Lange 2018), nach Organtransplantation (Rainer et al. 2010; Fredericks et al. 2014), bei CF (Müller et al. 2015) oder seltenen chronischen Erkrankungen (von der Lippe et al. 2017). Die damit verbundenen direkten und indirekten Kosten für das Gesundheitssystem sind erheblich (Robert Koch-Institut 2015; Statistisches Bundesamt 2017).

1.2

Heterogenität chronischer Krankheiten

Unter dem Dach der wenigen Gemeinsamkeiten „chronischer Krankheit“ werden einige häufige, aber auch eine Vielzahl (sehr) seltener Krankheiten (orphan diseases) zusammengefasst, die sich in wichtigen Merkmalen unterscheiden (s. folgende Übersicht). Betroffene und auch deren Angehörige werden entsprechend mit sehr unterschiedlichen Bewältigungsaufgaben konfrontiert.

Zentrale Unterscheidungsmerkmale chronischer Krankheiten

• Alter bei Diagnose: Kinder mit einer angeborenen Stoffwechselstörung, z. B. Phenylketonurie (PKU), wachsen mit der Krankheit auf, während bei Diagnosen in späteren Lebensphasen, z. B. Typ-2-Diabetes in der fünften Lebensdekade, ein gewohnter Lebensstil aufgegeben werden muss. Abhängig vom kognitiven Entwicklungsstand müssen Krankheit, Therapie und Prognose verständlich vermittelt werden, Eltern von jungen Kindern stehen zusätzlich vor der Doppelaufgabe einer möglichst „normalen“ Erziehung und gleichzeitig einer sachgerechten Therapie des kranken Kindes. • Prognose und Lebenserwartung: Bei sachgerechter Therapie unterscheidet sich die Lebenserwartung, z. B. bei Typ-1-Diabetes oder PKU, nicht von der der Allgemeinbevölkerung, bei anderen, z. B. amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder CF, ist sie derzeit deutlich reduziert. • Verlauf: Schnelle lineare Verläufe (ALS, Glioblastom) müssen von progredienten Verläufen mit akuten Krisen und Erholung (Multiple Sklerose (MS), COPD, CF, koronare Herzkrankheit (KHK) über viele Jahre unterschieden werden. • Beeinflussbarkeit: Während für einige Krankheiten wirksame therapeutische Konzepte und Medikamente existieren (KHK, Hypertonie, Diabetes, Asthma, einzelne onkologische Erkrankungen), sind die Behandlungsmöglichkeiten bei anderen limitiert. • Aufwand durch die Therapie im Alltag: Die notwendige Behandlung reicht vom Verzicht auf einzelne Nahrungsmittel, z. B. bei Allergien, einmal täglicher Tabletteneinnahme, über Diäten, der Substitution fehlender Hormone bis hin zu Dialyse oder kontinuierlicher Beatmung. • Aversivität therapeutischer Maßnahmen: Hier spielen unerwünschte Medikamentenwirkungen, z. B. von Kortikosteroiden, Immunsuppressiva oder Chemotherapeutika, ebenso eine Rolle wie schmerzhafte Injektionen oder wiederholt notwendige chirurgische Eingriffe. • Verletzung körperlicher Integrität und Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, z. B. Amputation infolge einer Tumorerkrankung, Fatigue. • Beeinträchtigungen des Alltags: Bezogen auf Berufstätigkeit, Partnerschaft, Fertilität, Familie, Hilfebedarf, finanzielle Situation. Schließlich muss die große Heterogenität innerhalb fast jeder Krankheitsentität berücksichtigt werden. Hier stehen

27

Bewältigung und Umgang mit chronischen Krankheiten

beispielweise gesundheitlich nicht beeinträchtigte Menschen mit 60 Jahren Typ-1-Diabetesdauer deutlich jüngeren Menschen gegenüber, bei denen es nach weniger als 20 Jahren als Folge des Typ-1-Diabetes zu einer Niereninsuffizienz gekommen ist. Vergleichbar große interindividuelle Differenzen werden bei onkologischen, neurologischen, pulmonalen oder auch kardiovaskulären Erkrankungen berichtet.

2

Folgen chronischer Krankheiten

Trotz der Heterogenität chronischer Krankheiten ergeben sich für fast alle Betroffenen vielfältige Belastungen in unterschiedlichen Lebensbereichen (z. B. Kulzer et al. 2013; Leitlinienprogramm Onkologie 2014; Kendel und Sieverding 2012):

Belastungen durch chronische Erkrankungen

• Körperliche Beschwerden (Schmerz, irritierende Symptome, Fatigue, Veränderungen des Körperbilds, akute Komplikationen) • Psychische Belastungen (Angst vor akuten Komplikationen, Progressionsangst, Depression, Stress, Überforderung) • Abhängigkeit von kontinuierlicher (Selbst-)Therapie • Hohe Anforderungen an das Selbstmanagement und Änderung des Lebensstils • Eingeschränkte Leistungs- und Funktionsfähigkeit • Aufgabe von Alltagsaktivitäten und Zukunftsplänen • Einschränkung sozialer Beziehungen • Infragestellung sozialer Rollen in Schule, Studium, Beruf und Familie • Auseinandersetzung mit der Krankenrolle • Finanzielle Belastungen durch berufliche Einschränkungen • Auseinandersetzung mit akuten Exazerbationen, unsicherem Verlauf, Progredienz und Lebensbedrohlichkeit Diese keineswegs erschöpfende Zusammenstellung vermittelt einen ersten Eindruck dazu, wie die oft unerwartete Diagnose einer nicht mehr heilbaren Krankheit die Betroffenen in einer Lebensphase fordert, in der ihre körperliche und oft auch emotionale Belastbarkeit krankheitsbedingt begrenzt ist. Es liegt auf der Hand, dass die Bewältigung in keinem Fall kurzfristig geleistet werden kann. Sie ist vielmehr ein langfristiger Prozess der Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichte, der Ressourcen, der sozia-

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len Unterstützung, der Leistungen des Gesundheitssystems, der sozio-kulturellen Erfahrungen und der individuellen Persönlichkeit. Unabhängig davon ist die Diagnose einer relevanten chronischen Krankheit für alle Betroffenen und ihre Angehörigen mit erheblichem Stress, emotionaler Belastung und Zukunftssorgen verbunden, die es zunächst individuell zu bewältigen gilt. Gefühle wie Angst, Lähmung, Wut und Zorn, Trauer und Niedergeschlagenheit spiegeln dabei keinesfalls psychopathologische Reaktionen wider. Diese Gefühlsschwankungen sind auch über Wochen nach der existenziellen Krise durch eine schwerwiegende Diagnose normal. Patienten sollten vor zu schneller Psychopathologisierung geschützt werden. Viele chronische Krankheiten verlaufen phasenweise stabil. Es kann jedoch auch immer wieder zu akuten Komplikationen oder einer Progression kommen (Abb. 1), die nach einer ersten gelungenen Akzeptanz zu neuen Herausforderungen und emotional geprägten Zyklen führen (Zimmermann und Heinrichs 2015). Beispielsweise erfordert jeder Krankheitsschub bei Multipler Sklerose (MS) oder die Diagnose eines Rezidivs bei Brustkrebs erneute emotionale, kognitive und auch verhaltensbezogene Anpassungsleistungen.

3

Theoretische Konzepte der Krankheitsverarbeitung

" Definition

Krankheitsbewältigung Krankheitsbewältigung (synonym Krankheitsverarbeitung) fasst die Gesamtheit aller adaptiven Prozesse zusammen, die dazu dienen, bestehende oder erwartete Belastungen als Folge einer Krankheit kognitiv, emotional oder durch konkrete Handlungen aufzufangen, auszugleichen oder zu bewältigen (Lazarus und Folkmann 1984).

Im englischen Sprachraum wird der Begriff „Coping“ (to cope with, „bewältigen, überwinden“) verwendet, der die Art des Umgangs mit einem als bedeutsam und schwierig empfundenen Lebensereignis oder einer Erkrankung beschreibt. Coping bezieht sich auf eine adaptive Orientierung mit dem Ziel der Stressreduktion, der Regulation damit verbundener Emotionen und der Wiedergewinnung von Kontrolle über den eigenen Lebensweg. Anders als der Begriff „Krankheitsbewältigung“, der einen abgeschlossenen Prozess nahelegt, steht Krankheitsverarbeitung für einen kontinuierlichen Prozess der Anpassung an die Herausforderungen einer chronischen Gesundheitsstörung. Dabei lassen sich sowohl zeitlich als auch inhaltlich verschiedene Verarbeitungsstile, z. B. eher emotionsorientiert oder auf konkrete Handlungen ausgerichtet, differenzieren.

314

3.1

K. Lange

Transaktionale Stresstheorie

Weitreichende individuelle Unterschiede in den Reaktionen auf vergleichbar schwerwiegende chronische Erkrankungen und Stressoren bildeten die Grundlage der sog. transaktionalen Stresstheorie, die Lazarus und Folkmann (1984) formuliert wurde. Die Autoren definieren Coping als die sich ständig verändernden kognitiven und verhaltensmäßigen Bemühungen einer Person, um spezifische externe und/oder interne Anforderungen zu bewältigen. Das transaktionale Stressmodell sieht Stressbewältigung als das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen den Anforderungen der Situation und der Bewertung durch betroffene Personen. Im Gegensatz zu älteren primär reizorientierten Stresstheorien gehen diese Autoren davon aus, dass nicht die (objektive) Abb. 1 Exemplarische schematische Verläufe chronischer Krankheiten. a) Typ-1-Diabetes mit langer Lebenserwartung, wenigen akuten Komplikationen, jedoch mit hohem Therapieaufwand; b) Amyotrophe Lateralsklerose mit schneller, kaum zu beeinflussender Progression; c) verschiedene Verläufe einer Brustkrebserkrankung abhängig vom Auftreten von Rezidiven

Beschaffenheit einer Situation für eine individuelle Stressreaktion von Bedeutung ist, sondern die (subjektive) Bewertung durch die Erkrankten. Dies knüpft an die philosophische Schule der Stoiker an, deren Vertreter Epiktet (um 50–138 n. Chr.) entsprechend formulierte: „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen“ (Übersetzung: Steinmann 2014). Menschen können auf einen bestimmten Stressor, z. B. die Diagnose eines noch symptomlosen Typ-2-Diabetes, höchst unterschiedlich reagieren: Für den einen mag die Diagnose eine wenig relevante Information sein, der kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Für andere ist sie bedingt durch Erfahrungen in der Familie mit massiven Ängsten vor schweren Folgeerkrankungen, z. B. Amputation oder Nieren-

27

Bewältigung und Umgang mit chronischen Krankheiten

Reize (Stressoren)

PERSON

PERSON

z. B. beim Check-up: Blutglukose 146 mg/dl Diagnose: Typ-2-Diabetes

Primäre Bewertung Interpretation der Diagnose Typ-2-Diabetes positiv „Der Wert ist doch okay“

bedrohlich / relevant „Das ist ein Gesundheitsrisiko“

irrelevant „Viele haben hohe Werte“

Sekundäre Bewertung Analyse der Ressourcen zur Senkung des BG-Werts mangelnde Ressourcen „Das schaffe ich nicht“

ausreichende Ressourcen „Das kann ich behandeln“

PERSON

Coping: Krankheitsbewältigung emotionsorientiert Angst reduzieren, Ablenken

problemorientiert Informieren, aktiv werden

Neubewertung: „Ich habe gelernt, wie der BG-Wert gesenkt werden kann, und ich schaffe es auch.“

Abb. 2 Elemente des transaktionalen Stressmodells zur Krankheitsbewältigung (Lazarus und Folkmann 1984) am Beispiel der Diagnose Typ-2-Diabetes

insuffizienz, verbunden. Das transaktionale Modell stellt damit den individuellen Bewertungsprozess zwischen Stressor und Stressreaktion in den Fokus der Krankheitsbewältigung Abb. 2).

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lungsmöglichkeiten bewältigt werden kann. Dazu zählen unter anderem Kenntnisse, Erfahrungen der Selbstwirksamkeit bei Gesundheitsproblemen, eine qualifizierte ärztliche Versorgung, soziale Unterstützung, eine optimistische Grundhaltung und auch materielle Ressourcen. Werden die Ressourcen als ausreichend bewertet, werden sie zur aktiven Bewältigung der Situation oder zur Problemlösung genutzt. Wenn die Ressourcen als nicht ausreichend gesehen werden, dann folgt eine individuelle Stressreaktion mit spezifischen Strategien der Bewältigung. Häufige Verhaltensweisen sind dann z. B. Aggression, Flucht, Umdeuten der Situation, Verdrängen des Problems, Änderung der Bedingung oder Verleugnung der Krankheit. In einem dritten Bewertungsschritt wird der Erfolg der jeweiligen Bewältigungsstrategie eingeordnet (Folkmann 2011). Damit wird eine kontinuierliche Anpassung an neue Situationen gewährleistet. Lernt ein Patient, z. B. mit einer chronischen Stoffwechselstörung, wie er der Bedrohung seiner Gesundheit durch gesunde Ernährung und körperliche Aktivität effektiv begegnen kann, stellt sie sich aktuell nur noch als eine Herausforderung dar. Ebenso kann eine Herausforderung, z. B. die Senkung zu hoher Lipidwerte, zur Bedrohung werden, wenn die empfohlenen Therapien nicht durchführbar oder ohne Erfolg sind. Diese Möglichkeit der Veränderung der Erstbewertung wird als „re-appraisal“ (Neubewertung) bezeichnet und betont die Dynamik des Krankheitserlebens. Im Laufe der Auseinandersetzung mit einer chronischen Krankheit, wiederholten erfolgreichen und weniger effektiven Therapieversuchen lernen Patienten immer wieder neu, welche Bewältigungsstrategien für sie individuell zielführend sind.

3.2 " Nicht nur die objektive Symptomatik einer Krankheit, sondern auch die damit verbundenen individuellen Bewertungen bestimmen die Ausprägung der Belastung.

Dabei werden zwei Ebenen der subjektiven Bewertung unterschieden: die primäre und die sekundäre Einschätzung (sog. primary und secondary appraisal). Primär entscheidet ein Patient danach zunächst, welche Bedeutung ein Ereignis oder eine Diagnose für ihn überhaupt hat. So können erstmalig festgestellte erhöhte Blutdruck-, Cholesterin- oder Blutzuckerwerte, die noch zu keinen spürbaren Symptomen führen, primär als irrelevant, günstig oder schon belastend eingeordnet werden. Eine als irrelevant definierte Einschätzung wird keine Handlungen nach sich ziehen. Wird ein pathologisch erhöhter Stoffwechselwert dagegen als aktuelle oder zukünftige Bedrohung, Schädigung oder Herausforderung erlebt, folgt die sekundäre Bewertung. Dabei überprüft die erkrankte Person, ob die Situation mit den eigenen verfügbaren Ressourcen und den damit verbundenen Hand-

Formen der Krankheitsbewältigung

Lazarus und Folkmann (1984) unterscheiden drei Copingstrategien, um das Gleichgewicht zwischen Anforderungen durch die Diagnose einer schweren Krankheit und den individuellen Ressourcen wiederherzustellen: das problemorientierte, emotionsorientierte und das bewertungsorientierte – kognitive – Coping. Problemorientiertes Coping Beim problemorientierten Coping stehen die Informationssuche, konkrete Handlungen oder auch Unterlassen von gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen im Vordergrund. Patienten suchen Beratungen auf, nehmen an Schulungen teil, informieren sich über aktuelle Therapien, entscheiden sich partizipativ mit ihren Therapeuten für eine Behandlungsoption und setzen diese eigenverantwortlich und konsequent um. Sie reduzieren gesundheitliche Risiken, indem sie auf Nikotin und Alkohol verzichten, sich ausgewogen ernähren und regelmäßig körperlich aktiv werden. Sie sind gleichzeitig auch für Konzepte jenseits der

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Schulmedizin offen und nehmen ihr Schicksal aktiv in die Hand. Sie versuchen, ihre Krankheit zu beherrschen, statt sich davon beherrschen zu lassen. Diese Strategien sind vor allem hilfreich, wenn es gut belegte, erfolgreiche Therapiekonzepte für das jeweilige Krankheitsbild gibt. Dies trifft besonders auf die verschiedenen Diabetesformen, Stoffwechselstörungen, kardiovaskuläre und pneumologische Krankheiten zu. Strukturierte Patientenschulungen und Selbstmanagementkurse sind bei diesen Krankheitsbildern zur Förderung des Empowerments (Anderson et al. 1991; Powers et al. 2017) seit Jahren als integraler Bestandteil der Langzeittherapie etabliert (G-BA 2018). Dieser Bewältigungsstil wird auch als aktives, handlungsorientiertes Coping beschrieben. Emotionsorientiertes Coping Beim emotionsorientierten Coping stehen intrapsychische Prozesse im Vordergrund. Dabei suchen Betroffene nach Wegen, um hohe emotionale Belastungen in Verbindung mit einer Diagnose zu reduzieren, z. B. durch Umdeutung der Situation, Ablenkung, Leugnung des Risikos, aber auch durch Suche nach emotionaler Unterstützung oder Sinnfindung und Spiritualität (Folkmann 2011). Viele Selbsthilfegruppen und Patienteninitiativen im Internet bieten über Krankheitsinformationen hinaus die Möglichkeit, sich mit Gleichbetroffenen über typische emotionale Belastungen auf Augenhöhe auszutauschen. Sie bieten soziale Unterstützung und wirken Isolation und Rückzug entgegen. Bewertungsorientiertes Coping Das bewertungsorientierte – kognitive – Coping ist schließlich vor allem dadurch gekennzeichnet, dass Belastungen eher als Herausforderungen umgedeutet werden. Eine positivere, hoffnungsvolle Sicht auf eine chronische Krankheit setzt eher Ressourcen frei, um auf konkrete Anforderungen angemessen zu reagieren. Auch hier können individuelle Beratungen und qualifizierte Schulungen (G-BA 2018) zu einer realistischen Risikoeinschätzung beitragen, Resignation vorbeugen und das Gefühl von Selbstwirksamkeit im Umgang mit der Krankheit stärken. Letztlich trägt diese Form des Copings dazu bei, Patienten auf ein aktives, problemorientiertes Coping vorzubereiten. Ob die eine oder andere Copingstrategie hilfreich (adaptiv) oder weniger hilfreich (maladaptiv) ist, kann nicht grundsätzlich beantwortet werden. Dazu müssen die Beeinflussbarkeit der jeweiligen chronischen Krankheit, die individuelle Situation des Patienten, z. B. akute emotionale Überforderung nach unerwarteter schwerer Diagnose, persönliche Ressourcen, mögliche soziale Unterstützung und Hilfen durch das Gesundheitssystem beachtet werden. Bei einer infausten Diagnose, die nur noch palliative Optionen vorsieht, kann eine intensive Informationssuche zu noch höherer Belastung führen, während emotionale Strategien der Ablenkung und Leugnung zu besserer Lebensqualität beitragen

K. Lange

können. Der aus der Psychoanalyse stammende Begriff der Abwehrmechanismen (Fritsche und Söllner 2017), d. h. der unbewusste Versuch, selbstwertbedrohliche Emotionen zu reduzieren, kann bei einer Überforderung, z. B. in Verbindung mit Todesangst oder ausgesprochener Hilflosigkeit, zunächst als Notfallmechanismus dienen. Kritisch wird dieses Abwehrverhalten jedoch, wenn dadurch mögliche Behandlungen hinausgezögert oder verhindert werden. Bei gut behandelbaren Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Hypertonie oder Asthma würde der Verzicht auf Informationen durch Beratung oder strukturierte Patientenschulung zum Fortschreiten der Krankheit und mittelfristig beeinträchtigter Lebensqualität führen. Hier wären Ablenkung und Leugnung maladaptiv (de Ridder et al. 2008).

3.3

Vier-Phasen-Modell der Krankheitsverarbeitung

Ein heuristisches Modell der Krankheitsverarbeitung ist das Vier-Phasen-Konzept von Patricia Funnell (2003). Es betont den dynamischen Prozess der langfristigen Auseinandersetzung mit andauernden Belastungen und kann als Orientierung bei der Entwicklung und der Auswahl von Interventionen für chronisch Kranke dienen (Zimmermann und Heinrichs 2015). In der ersten Phase – „der Krise“ – steht der Schockzustand nach einer unerwarteten Diagnose im Vordergrund. Starke Emotionen beeinträchtigen die Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit für Informationen zu Therapie und Prognose. Das „Nicht-wahrhaben-Wollen“ der nun bestätigten Erkrankung ist ein häufiger Schutzmechanismus bei emotionaler Überforderung. Betroffene hoffen, aus dem Albtraum zu erwachen und das bisherige Leben uneingeschränkt fortsetzen zu können. Sie konzentrieren sich auf ihre Arbeit, Projekte in der Familie und lassen keinen Gedanken an die Krankheit zu. Es kann aber auch zu unrealistischen Verhaltensweisen kommen wie z. B. der Glaube an eine Fehldiagnose oder Verwechslung bis hin zur Verzögerung oder sogar Verweigerung der notwendigen Behandlung. Andere Betroffene hadern mit ihrem Schicksal, sind frustriert und fragen sich, warum es gerade sie getroffen hat, was sie möglicherweise falsch gemacht haben. Die sog. Kausalattribuierung oder subjektive Krankheitstheorie, d. h. die eigene Erklärung der Ursachen, hat weitreichende Folgen für die weitere Bewältigung, das emotionale Befinden und die Lebensqualität. Insbesondere irrationale Schuldgefühle stehen einer konstruktiven Krankheitsbewältigung entgegen. Mit ihnen ist ein hohes Risiko für Resignation, Rückzug und Depression verbunden (Leitlinienprogramm Onkologie 2014; Neu et al. 2016). So fällt es Eltern von Kindern, bei denen gerade ein Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde, besonders schwer, die Krankheit anzunehmen,

27

Bewältigung und Umgang mit chronischen Krankheiten

wenn sie glauben, durch Ernährungsfehler, zu viel Stress oder durch die Trennung der Eltern die Krankheit des Kindes verursacht zu haben. Viele Mythen, gezielte Fehlinformationen in Publikationen und auf Websites, aber auch fundamentalistische religiöse Überzeugungen tragen bei vielen Krankheiten, vor allem auch bei onkologischen Erkrankungen, zu hohen unbegründeten Belastungen bei. Die Übertretung der einen oder anderen (religiösen) Verhaltensregel wird danach durch eine schwere eigene oder Erkrankung des Kindes „bestraft“. Aber auch viele, vor allem jüngere Kinder glauben im Sinne eines immanenten Gerechtigkeitsprinzips, dass sie ihre Krankheit durch Fehlverhalten verursacht hätten. Die Suche nach einer möglichen Ursache, einem Auslöser, ist eine normale Reaktion. Obwohl sich bei vielen Krankheiten keine wissenschaftlich begründete Antwort auf die Frage nach der Ursache geben lässt, sollten Schuldgefühle erfragt, korrigiert oder reduziert werden. " Die subjektive Krankheitstheorie und mögliche – oft irrationale – Schuldgefühle sollten bei jeder Diagnoseübermittlung angesprochen und einfühlsam geklärt werden.

Erst zum Ende der ersten Phase, wenn intensive Gefühle nicht mehr das gesamte Denken und Handeln bestimmen, ist es den meisten Patienten und Angehörigen möglich, differenzierte Information zur Therapie und Prognose aufzunehmen und gemeinsam mit dem Behandlungsteam abzuwägen. Nahezu alle Kranken haben bei Diagnose ein großes Informationsbedürfnis. Diverse Untersuchungen haben gezeigt, dass zwischen 80 und 95 % der Patienten über ihre Erkrankung, deren Behandlung und die eigene Prognose informiert werden wollen. Ebenso zeigen aktuelle Umfragen in Deutschland, dass mehr als 80 % der chronisch Kranken gemeinsam (partizipativ) mit ihrem Arzt über die Behandlung entscheiden wollen (Braun und Marstedt 2014). Vor allem bei chronischen Krankheiten, deren Behandlung Patienten selbst im Alltag verantworten, z. B. Diabetes, CF, COPD, Hypertonie oder Fettstoffwechselstörungen, ist der Wunsch nach dem sog. „shared decision making“ einer partizipativen Entscheidung groß. Etwas seltener wünschen sich Hochbetagte oder Menschen mit geringem Bildungsgrad aktiv einbezogen zu werden. Etwas höher ist auch die Rate der Krebspatienten, die sich bei der Entscheidung für die nächsten Therapieschritte lieber auf den ärztlichen Rat verlassen und eine eigene Fehlentscheidung fürchten (Braun und Marstedt 2014). " Die große Mehrheit der Patienten mit chronischer Krankheit wünscht eine umfassende Information und eine partizipative Entscheidung bei der Auswahl ihrer Therapien.

Die zweite Phase des heuristischen Modells ist durch den Begriff „Stabilisierung“ charakterisiert. Patienten und Ange-

317

hörige werden zunehmend mit dem Verlauf und den Notwendigkeiten der Krankheit vertraut und integrieren die Behandlungsschritte in ihren Alltag. Es wird jedoch, so weit möglich, versucht, das bisherige Leben wieder aufzunehmen oder weiterzuführen. Je nach Krankheitsbild wird einem Teil der Betroffenen klar, dass dies trotz großer Anstrengung nicht gelingen kann und Kompromisse unumgänglich sind. In der dritten Phase des Modells „der Resolution“ wird die Realität der Krankheit mit dem Lebensstil und Gewohnheiten in Einklang gebracht. Die Krankheit wird als Teil des persönlichen Lebens angenommen und in die Zukunftspläne integriert. Die Kräfte werden für die Bewältigung im Alltag eingesetzt und nicht mehr dafür, die Diagnose vor anderen zu verheimlichen oder deren Existenz zu leugnen. Die letzte, vierte Phase wird als „Integration“ beschrieben. Dabei werden vor allem Aspekte des Selbst, wie es vor der Erkrankung war, mit neuen Aspekten verbunden, die sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit den neuen Anforderungen ergeben haben. Die Erkrankung ist kein Fremdkörper, sondern Teil des „normalen“ individuellen Lebens geworden. Das folgende Zitat illustriert diese Haltung im Umgang mit chronischer Krankheit oder Behinderung: „Es ist normal, verschieden zu sein“ (von Weizsäcker 1993). Dieses relativ einfache heuristische Modell kann für behandelnde Teams handlungsleitend sein, um den Status und die aktuellen Bedürfnisse eines chronisch Kranken einzuordnen. Es hilft, ungünstige Muster, z. B. eine langfristige Leugnung, d. h. das Verharren in Phase 1, zu erkennen und zielgerichtet zu intervenieren. Ebenso kann, bedingt durch akute Komplikationen oder fortschreitende Behinderung, der Bewältigungsprozess immer wieder erneut durchlaufen werden. Das Modell darf jedoch nicht als starre Abfolge missverstanden werden. Vielmehr ist es abhängig vom Verlauf einer Erkrankung möglich, einzelne Phasen zu überspringen, zurückzugehen oder zu wiederholen.

3.4

Hilfreiche Bewältigungsstrategien

Zusammenfassend zeigen die vorangehenden Abschnitte, dass Krankheitsbewältigung immer eine einzigartige Auseinandersetzung mit einem meist unerwarteten einschneidenden Lebensereignis und dessen Folgen darstellt. Sie wird geprägt durch die Spezifika der Krankheit, durch individuelle Bewertungen, die Persönlichkeit und den psychosozialen Hintergrund der erkrankten Person. Ob eine Bewältigungsstrategie mehr oder weniger hilfreich ist, kann letztlich nur die betroffene Person entscheiden. Jedoch haben sich allgemein in der aktuellen Forschung Copingstrategien als günstiger für die Lebensqualität und Funktionsfähigkeit erwiesen, die sich auf eine aktive, kämpferische Bewältigung beziehen (de Ridder et al. 2008; Janowski et al. 2014). Besonders gilt dies für Krankheiten, die

318

K. Lange

durch ein engagiertes Selbstmanagement in ihrem Verlauf günstig beeinflusst werden und die Patienten dadurch die Kontrolle über ihr Leben zurückerhalten können. Entsprechend stehen therapeutische Konzepte zur Förderung des Selbstmanagements, z. B. bei den verschiedenen Diabetestypen, bei Asthma, COPD, KHK und weiteren chronischen Stoffwechselstörungen, im Fokus therapeutischer Bemühungen (Powers et al. 2017; Chrvala und Sherr Lipman 2016; Neu et al. 2016; Ernst et al. 2016). Dagegen werden Copingstrategien, die durch Selbstvorwürfe, Resignation, Depression, Wunschdenken und Hoffnungslosigkeit charakterisiert sind, häufig mit beeinträchtigter Lebensqualität und schlechteren Therapieergebnissen assoziiert (Kulzer et al. 2013; Compas et al. 2012). Während Vermeidungsverhalten kurzfristig zu emotionaler Entlastung führen kann, birgt es längerfristig das Risiko einer unzureichenden Therapie. In der Regel betrifft die chronische Krankheit nicht nur den einzelnen Patienten, sie hat weitreichende Auswirkungen auf dessen Partnerschaft, die Kinder und weitere Angehörige. Krankheitsverarbeitung ist daher auch eine Familienaufgabe. Die sachgerechte Information und Einbindung von nahen Angehörige im Sinne sozialer Unterstützung hat sich daher ebenfalls als hilfreiches Konzept bei der langfristigen Bewältigung chronischer Krankheiten bewährt (Compas et al. 2012; Kovacs Burns et al. 2013).

4

Professionelle Interventionen zur Unterstützung der Krankheitsverarbeitung

Jeder Kontakt mit einem Mitglied des therapeutischen Teams beeinflusst die Krankheitsverarbeitung Betroffener. „Man kann in der Auseinandersetzung mit einem chronisch kranken Menschen nicht nicht kommunizieren“ (angelehnt an Watzlawick et al. 2007). Nicht nur die Tatsache, dass es sich um eine schwerwiegende Diagnose handelt, prägt das Erleben und Verhalten chronisch Erkrankter. Viel wichtiger ist oft, wie die Aufklärung über die Diagnose gestaltet wurde. Viele Patienten und deren Angehörige können das Diagnosegespräch noch nach Jahrzehnten erinnern.

4.1

Diagnoseübermittlung

Die Übermittlung einer Diagnose sollte – neben der sachgerechten Information des Patienten – immer den Aufbau einer vertrauenswürdigen und tragfähigen Therapeut-PatientBeziehung zum Ziel haben. Der erste Eindruck, mit seinen intensiven Emotionen und Ängsten angenommen zu werden, Fragen stellen zu können und aktiv in die zukünftige Behandlung einbezogen zu werden, stellt zentrale Weichen für die

weitere Auseinandersetzung mit der Krankheit (Köhle 2017). Lehrbücher und Trainings zu patientenzentrierter Kommunikation vermitteln heute allen therapeutisch Tätigen zentrale Grundfertigkeiten, wie dieser erste Kontakt vorbereitet und gestaltet werden kann (Silverman et al. 2013; Baile et al. 2000; Vitinius et al. 2013). Dazu zählen u. a. die Gewährleistung eines angemessenen Setting, ruhige und konzentrierte verbale und nonverbale Kommunikation, am Kenntnisstand und den Wünschen des Patienten orientierte Informationen, Raum für emotionale Reaktionen und Reflexion, Vermeidung von Entscheidungsdruck und ein – wenn möglich – authentisch hoffnungsvoller Ausblick auf die weitere Zusammenarbeit.

4.2

Strukturierte Patientenschulungen

In den letzten Jahren wurden für einige chronische Krankheiten, z. B. Diabetes, Asthma, Hypertonie, COPD, KHK, Dyslipidämie, PKU, CF, Epilepsie, strukturierte Schulungsprogramme entwickelt und evaluiert (http://www.zentrumpatientenschulung.de, http://www.kompetenznetz-patienten schulung.de. Zugegriffen am 27.06.2018). Die von qualifizierten Schulungskräften durchgeführten Gruppenprogramme vermitteln nicht nur Kenntnisse über die jeweilige Erkrankung und Therapie. Die Schwerpunkte liegen vor allem in der Vermittlung praktischer Fertigkeiten, der Förderung von Problemlösekompetenz und Selbstwirksamkeit, im Aufbau von Motivation, der Integration der Krankheit in den Alltag und der Unterstützung bei der emotionalen Bewältigung von Ängsten, Frustration und Überforderung (Kulzer et al. 2013; Lange 2018). Die folgende Übersicht stellt die Ziele von zeitgemäßen Patientenschulungen zum Selbstmanagement dar. Ziele von Patientenschulungen (Edukation)

• Differenziertes praxisrelevantes Krankheits- und Therapieverständnis • Verbesserte Körperwahrnehmung • Verbesserte Problemlösefähigkeiten und praktische Fertigkeiten • Verbesserte Grundlage für eine partizipative Entscheidung • Verbesserte Adhärenz und Selbstmanagement • Angemessen hoffnungsvolle Zukunftssicht • Verbesserte Lebensqualität • Weniger krankheitsspezifische Belastungen • Förderung sozialer Integration in Familie und Beruf • Vermeidung akuter Komplikationen • Verbesserung der langfristigen Prognose

27

4.3

Bewältigung und Umgang mit chronischen Krankheiten

Identifikation von Belastungen und Hilfebedarf

Etwa 30–50 % der Patienten äußern in der ersten Phase nach einer Krebsdiagnose den Wunsch nach psychosozialer Unterstützung (Mehnert et al. 2014). Noch höher ist die Rate unter Eltern chronisch kranker Kinder, die entsprechende Hilfen nicht nur initial, sondern auch im weiteren Verlauf nachsuchen. Von einigen Autoren und Fachgesellschaften wird ein regelmäßiges einfaches Screening auf solche psychischen Belastungen und Risiken empfohlen, die sich ungünstig auf die Bewältigung einer chronischen somatischen Erkrankung auswirken können (Neu et al. 2016; Kulzer et al. 2013; Leitlinienprogramm Onkologie 2014; Young-Hyman et al. 2016). Ziel ist es hier, zeitnah therapeutische oder soziale Hilfen durch das Behandlungsteam anzubieten, um einer Chronifizierung psychischer Komorbidität entgegenzuwirken. Aber auch Beratungen zum Schulbesuch, zur beruflichen Integration, zu sozialrechtlichen Hilfen wie dem Schwerbehindertengesetz oder zu Leistungen der Pflegeversicherung können die Krankheitsverarbeitung günstig beeinflussen. Durch eine sensible Erfassung der gesamten Lebenssituation eines chronisch kranken Kindes oder Erwachsenen im ärztlichen Gespräch lässt sich der Bedarf ebenfalls identifizieren und in einer empathischen Arzt-Patient-Kommunikation adressieren. Hier sollten alle Teammitglieder entsprechend geschult und für die Belastungen der Patienten sensibilisiert sein (Köhle 2017).

4.4

319

Patienten können mit Blick auf ihre Ressourcen und Kompetenzen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit aufbauen und erlernter Hilflosigkeit entgegenwirken. Ebenso kann erarbeitet werden, wie das familiäre und berufliche Umfeld über die Krankheit informiert werden kann und welche Unterstützung wirklich gewünscht wird. Einzelgespräche bieten außerdem einen geschützten Raum, um Verzweiflung zuzulassen und mit dem Therapeuten zu teilen, ohne für andere stark sein zu müssen. Häufig richten Patienten den Fokus ausschließlich auf ihre kranken Anteile. Im therapeutischen Gespräch können gesunde Anteile betont, aktiviert und zur psychischen Stabilisierung genutzt werden (Haynes et al. 2011). Paar- und Familiengespräche können den Austausch über Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Ängste unterstützen und helfen, die Veränderungen in die Beziehung zu integrieren. Gerade Kindern, die die Belastung ihrer Eltern durch eine schwerwiegende Diagnose spüren, aber noch nicht in ihrer Tragweite verstehen können, sollten altersgemäß Informationen angeboten werden, die ihre irrationalen Ängste und Fantasien auffangen und ihnen Sicherheit im Alltag vermitteln. Paargespräche können bei Bedarf durch eine Sexualberatung ergänzt werden, die sachkundig auf krankheits- oder therapiebedingte Veränderungen und Beeinträchtigungen eingeht und Partner unterstützt, sich über Wünsche und Befürchtungen auszutauschen. Schließlich können symptomorientierte Verfahren, z. B. Entspannungstechniken, Imagination oder Biofeedback, zur Reduktion von Stress und Angst und zur Bewältigung chronischer Schmerzen angeboten werden.

Krankheitsspezifische psychologische Interventionen 4.5

Für krankheitsspezifische psychologische Interventionen, die sich auf die konkreten emotionalen Belastungen durch eine jeweilige Erkrankung, die Therapie und die damit verbundenen Beeinträchtigungen beziehen, konnten in diversen randomisierten kontrollierten Studien positive Effekte bezogen auf die Lebensqualität, krankheitsbezogenen Distress, Angst und Depressivität nachgewiesen werden (z. B. Kulzer et al. 2013; Faller et al. 2013; Zimmermann und Heinrichs 2015; Young-Hyman et al. 2016). In (supportiven) Einzelgesprächen können Patienten unterstützt werden, ein positiveres (realistisches) Bild der Krankheit zu entwickeln und übertriebene Ängste und Bewertungen zu relativieren. Hier können dysfunktionale Gedanken und Überzeugungen, z. B. „nun nichts mehr wert zu sein“ identifiziert, hinterfragt und durch angemessene Bilder ersetzt werden. Techniken zur kognitiven Umstrukturierung, des Gedankenstopps oder imaginative Techniken können dazu genutzt werden.

Versorgungsstrukturen und interprofessionelle Kommunikation

In vielen evidenzbasierten Leitlinien zur Langzeittherapie bei unterschiedlichen chronischen Krankheiten findet sich übereinstimmend die Forderung nach einem multiprofessionellen, eng kooperierenden Behandlungsteam, dem Fachärzte, Schulungskräfte, z. B. Diabetesberater, Psychologen, Sozialarbeiter und nach Bedarf Diätassistenten, Physiotherapeuten und andere Fachgruppen angehören. Zentrale Aspekte sind gemeinsam getragene Behandlungsphilosophien, abgestimmte Therapieziele zwischen Patient und allen Behandlern, qualifizierte Behandler-Patient-Kommunikation und Unterstützung von Selbstmanagement im Alltag. Ein solches, gut abgestimmtes interdisziplinäres Behandlungskonzept wird als Grundlage für ein möglichst gutes somatisches Therapieergebnis in Verbindung mit bestmöglicher Lebensqualität bei chronischer Krankheit empfohlen (exemplarisch für viele andere chronische Krankheiten:

320

Cameron et al. 2013; Leitlinienprogramm Onkologie 2014; Smyth et al. 2014; Young-Hyman et al. 2016; Montalban et al. 2018).

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Ernährung und Gesundheit

28

Reinhard Pietrowsky

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Zum Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kardiovaskuläre Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes mellitus Typ 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metabolisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krebserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323 324 325 326 326 326

2 2.1 2.2 2.3

Gesundheitspsychologische Theorien des Ernährungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modell gesundheitlicher Überzeugungen und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialkognitive Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialkognitives Prozessmodell gesundheitlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

327 327 327 327

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Psychologische Aspekte des Ernährungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Egoistische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

328 328 329 329 330

4

Nutriceuticals und functional food . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

5

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

1

Zum Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit

Es steht außer Frage, dass es einen bedeutenden Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit gibt. In den letzten Jahren ist die Ernährung sehr stark in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt, auch unter dem Einfluss, dass der Ernährung neben gesundheitlichen Aspekten identitätsstiftende, psychologische und ethische Funktionen zukommen. Jedoch gibt es auf der anderen Seite immer wieder Unstimmigkeiten und Unklarheiten darüber, welche Art der Ernäh-

R. Pietrowsky (*) Abteilung Klinische Psychologie, Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected]

rung als gesund zu betrachten ist. Darüber hinaus haben viele Ernährungsempfehlungen nur eine kurze Gültigkeitsdauer. Unbestritten ist, dass es eine ganze Reihe von Krankheiten gibt, die durch die Ernährung wesentlich verursacht oder ungünstig beeinflusst werden können. Hierzu zählen insbesondere Diabetes mellitus Typ 2, Adipositas, Herz-KreislaufErkrankungen (Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit), Hypertriglyzeridämie (erhöhte Werte von Blutfetten) und bestimmte Krebsarten (z. B. Dickdarmkrebs). Auch für Alterungsprozess und Demenzen werden ungünstige Ernährungsfaktoren angenommen (Bowen et al. 2018; Canevelli et al. 2016; Khazrai et al. 2014; Morris 2016; Saha et al. 2017; Torres et al. 2015). Es ist offensichtlich, dass die ernährungsbedingten Erkrankungen zu gravierenden und in vielen Fällen tödlich endenden Erkrankungen führen. Darüber hinaus sind Ernährungsfaktoren im Sinne ganz spezifischer Diäten bei den unter-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_31

323

324

R. Pietrowsky

schiedlichsten medizinischen Krankheitsbildern von großer Bedeutsamkeit, auf welche hier aber nicht weiter eingegangen wird (als weiterführende Literatur s. Biesalski et al. 2010). Wenn die Art der Ernährung Krankheiten begünstigen kann, legt dies den Schluss nahe, dass es ungesunde Nahrungsmittel gäbe. Ungesunde Nahrungsmittel als solche gibt es jedoch nicht, es ist letztlich eine Frage der aufgenommenen Menge und der körperlichen Verfassung (insbesondere dem Vorhandensein von Risiko- und Schutzfaktoren), ob ein Nahrungsmittel „ungesund“ und damit gesundheitsschädlich sein kann. Das gilt es immer zu berücksichtigen, wenn nachfolgend von Ernährungseinflüssen auf die Entstehung von Krankheiten die Rede ist. Diese Wirkungen treten stets in Wechselwirkung mit (zumeist genetisch bedingten) Risiko- oder Schutzfaktoren auf. Im deutschen Sprachraum können die zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE 2017) für eine vollwertige Ernährung als ein aktueller und fundierter Rat für gesunde Ernährung angesehen werden. Diese Regeln sind (in gekürzter Form): Zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (2017)

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Lebensmittelvielfalt genießen Gemüse und Obst – nimm „5 am Tag“ Vollkorn wählen Mit tierischen Lebensmitteln die Auswahl ergänzen Gesundheitsfördernde Fette nutzen Zucker und Salz einsparen Am besten Wasser trinken Schonend zubereiten Achtsam essen und genießen Auf das Gewicht achten und in Bewegung bleiben

Die DGE hat im Sommer 2017 ihre zehn Ernährungsregeln aktualisiert, z. B. wird kein ausgedehnter Verzehr von Getreideprodukten und Kartoffeln mehr empfohlen (wegen Gewichtszunahme), dafür Vollkornvarianten von Getreideprodukten. Ebenso gibt es auch keine Empfehlung mehr zu fettreduzierten Nahrungsmitteln und wenig Fett zu essen. Dies gilt deshalb, weil fettreduzierte Nahrungsmittel oft deutlich mehr Kohlenhydrate haben oder Zusatzstoffe und im Grunde nicht kalorienärmer und gesünder sind. Den Konsum von Eiern einzuschränken und cholesterinarm zu essen, ist ebenfalls weggefallen, da nach neueren Erkenntnissen die Aufnahme extern zugeführten Cholesterins nicht per se gesundheitsschädlich ist. Auch von Vollmilch und Milchprodukten wird nicht mehr abgeraten. Milchfett ist sogar gut für Herz und Gefäße. Die DGE folgt damit Empfehlungen USamerikanischer Fachgesellschaften. Diese veränderten Ernährungsempfehlungen zeigen, wie variabel Empfehlungen zur gesunden Ernährung sind, wie schnell sich auch wissenschaft-

lich gestützte Ernährungsempfehlungen ändern können und wie schwierig es daher für jeden Konsumenten ist, einzuschätzen, was eine gesunde Ernährung ist. Angesichts dessen muss als wichtigster Grundsatz für gesunde Ernährung ausdrücklich betont werden, dass eine ausgewogene Ernährung, wie sie ja auch in der 1. Regel der DGE genannt ist, die beste Voraussetzung für eine gesunde Ernährung darstellt. Im Folgenden wird der aktuelle Forschungsstand zum Einfluss der Ernährung auf die wichtigsten Erkrankungen, für die ein solcher Einfluss nachgewiesen ist, vorgestellt. Es sind dies die kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Krebserkrankungen und Demenzen. Auf die Adipositas (Fettleibigkeit) wird nicht gesondert eingegangen, da hier der Zusammenhang zur Ernährung evident ist. Für spezifischere Informationen wird auf Herpertz et al. (2015) verwiesen.

1.1

Kardiovaskuläre Erkrankungen

Die kardiovaskulären Erkrankungen stellen in den industrialisierten Ländern die Haupttodesursache dar (de Jesus et al. 2016). Zu den bedeutendsten kardiovaskulären Erkrankungen zählen die Atherosklerose, der Bluthochdruck (Hypertonie) und die koronare Herzkrankheit (Angina pectoris, Herzinfarkt). Die Atherosklerose (auch Arteriosklerose) kann als wesentlicher Bedingungsfaktor für die Entstehung von Bluthochdruck und der koronaren Herzkrankheit angesehen werden, weshalb ihr auch unter ernährungswissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Schlüsselrolle zukommt. Sie besteht in der Einlagerung von Fetten (vornehmlich Cholesterin) in die Gefäßwand der Arterien, wodurch sich deren Durchmesser verringert und die Elastizität des Gefäßes nachlässt, was beides zu einer Blutdruckerhöhung führt. Zudem können die atherosklerotischen Veränderungen einreißen, wodurch sich Blutgerinnsel bilden können, was zu Lungenembolie, Schlaganfall oder Herzinfarkt führen kann. Eine gesunde Ernährung zur Vermeidung kardiovaskulärer Erkrankungen sollte also primär darauf ausgerichtet sein, eine Atherosklerose zu verhindern. Man geht davon aus, dass die Ernährung für ca. 73 % der Todesfälle durch kardiovaskuläre Erkrankungen letztlich verantwortlich ist (Bowen et al. 2018). Eine gesunde Ernährung zur Vermeidung der Atherosklerose sollte entsprechend arm an tierischen Fetten sein. Hier spielt vor allem das Cholesterin eine wichtige Rolle. Das Cholesterin wird für seinen Transport im Blut an verschiedene fettlösliche Stoffe gebunden, die wichtigsten sind das Low-Density Lipoprotein (LDL) und das High-Density Lipoprotein (HDL). Für die gefäßschädigende Wirkung ist vor allem das an LDL gebundene Cholesterin verantwortlich, während das an HDL gebundene Cholesterin sogar gefäßschützende Wirkungen hat. Entsprechend ist eine Senkung des LDL-Cholesterins zur Vermeidung der Atherosklerose

28

Ernährung und Gesundheit

angezeigt, was durch die verminderte Aufnahme gesättigter Fettsäuren erreicht werden kann (Mensink et al. 2003). Diese sollten durch mehrfach ungesättigte Fettsäuren ersetzt werden. Ebenso erhöhen Transfettsäuren (Transfette) in enormem Maße das LDL-Cholesterin. Transfettsäuren sind in industriell gehärteten ungesättigten Fettsäuren enthalten, vor allem in Margarine und Frittierfett. Sie haben einen deutlich förderlichen Effekt auf die Atherosklerose und damit auf kardiovaskuläre Erkrankungen (Mozaffarian et al. 2006). Hingegen scheint die generelle Reduktion der Cholesterinzufuhr keinen Effekt auf die Senkung des LDL-Cholesterins zu haben (Eckel et al. 2014), so dass vor allem die Reduktion gesättigter Fette und Transfette, nicht aber die generelle Senkung der Cholesterinzufuhr einen positiven Effekt auf die Senkung des LDL-Cholesterins hat. Einen positiven Effekt auf die Senkung des LDL-Cholesterins und damit des Risikos für Atherosklerose hat die Aufnahme von Vitamin B3 (Niacin), welches in Fisch, Fleisch, Leber, Getreide, Erdnüssen und Hülsenfrüchten vorkommt, und von Taurin, welches ebenfalls in Eiern und Fleisch vorkommt (Torres et al. 2015). Die Befundlage zu den positiven Wirkungen von Omega-3-Fettsäuren (die vor allem in Meeresfischen vorkommen) auf kardiovaskuläre Erkrankungen ist inkonsistent und stammt wesentlich von Studien mit Omega3-Fettsäuren als Nahrungsergänzung, weniger von der Aufnahme natürlich vorkommender Omega-3-Fettsäuren (de Jesus et al. 2016). Neben den beschriebenen Ernährungsfaktoren, die vornehmlich auf die Atherosklerose als einem wesentlichen Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen wirken, spielt die Aufnahme von Kochsalz noch eine Rolle für die Entstehung oder Aufrechterhaltung des Bluthochdrucks, als Risikofaktor für die koronare Herzkrankheit und Schlaganfall. Eine erhöhte Einnahme von Kochsalz kann bei Personen mit einem entsprechenden genetischen Risiko zu einer Blutdruckerhöhung führen aufgrund der durch die Salzaufnahme erhöhten Wassereinlagerung und der damit verbundenen Volumenerhöhung im kardiovaskulären System. Metaanalysen zeigten einen signifikanten Rückgang des systolischen und diastolischen Blutdrucks bei einer kochsalzarmen Diät (Bowen et al. 2018). Somit kann zusammengefasst werden, dass die Vermeidung von gesättigten Fettsäuren und Transfetten, aber vor allem eine vielseitige und ausgewogene Ernährung, die dann auch in geringem Umfang Eier und Fleisch und damit bestimmte protektive Faktoren wie Niacin, Taurin und Omega3-Fettsäuren enthält, für die Verhinderung der Atherosklerose und damit der kardiovaskulären Erkrankungen den günstigsten Einfluss hat. Neuere Forschung hat auch gezeigt, dass häufig falsche Befunde erhoben und damit falsche Ernährungsempfehlungen gegeben werden, wenn nur einzelne Nahrungsmittel oder Nahrungsbestandteile hinsichtlich ihres Risikos für kardiovaskuläre Erkrankungen untersucht werden

325

und nicht deren Wechselwirkungen mit anderen Nahrungsmitteln bzw. die Berücksichtigung des gesamten Speiseplans einer Person (Bowen et al. 2018).

1.2

Diabetes mellitus Typ 2

Diabetes mellitus Typ 2 bezeichnet eine erworbene Störung der Insulinsekretion, meist aufgrund einer jahrelangen Überbeanspruchung des Insulin-sezernierenden Systems aufgrund einer kohlenhydratreichen Ernährung oder entzündlicher Prozesse der Bauchspeicheldrüse. Daher wurde dieser Subtyp des Diabetes früher auch als Altersdiabetes bezeichnet, da er typischerweise erst im mittleren oder höheren Lebensalter auftrat. In neuerer Zeit kommt Typ-2-Diabetes aber zunehmend auch bei jüngeren Menschen vor. Beim Typ-2-Diabetes kommt es also zu einer allmählichen Verringerung der Insulinwirkung, bedingt sowohl durch eine allmählich sich vermindernde Insulinsekretion als auch durch eine verminderte Sensitivität auf das zirkulierende Insulin (Insulinresistenz). Dadurch kommt es zur Erhöhung des Blutzuckers, die eine Reihe von sekundären Folgeschäden verursachen kann (z. B. Polyneuropathie, Gefäßschädigungen, die sich in Funktionsstörungen der Nieren oder der Augen niederschlagen können). Der Typ-2-Diabetes, der somit überwiegend durch den Lebensstil (Ernährung und Bewegung) verursacht wird, macht etwa 90 % aller Fälle mit Diabetes mellitus aus. Im Gegensatz dazu ist der Diabetes mellitus Typ 1 (auch juveniler Diabetes) die Folge einer Autoimmunerkrankung, bei der die Insulin-produzierenden Langerhans-Zellen der Pankreas zerstört werden und gar kein Insulin mehr produziert wird, so dass dieses vollständig substituiert (gespritzt) werden muss. Die diesen Diabetestyp verursachende Autoimmunerkrankung kann bereits ab dem Kleinkindalter auftreten und ist nicht durch Ernährungsfaktoren verursacht. Die Ursachen für Diabetes mellitus Typ 2 liegen in einer vermehrten Kohlenhydratzufuhr, reduzierter Bewegung und damit in aller Regel in einem Übergewicht oder einer Adipositas. Ernährungsbedingte Maßnahmen zur Verringerung des Übergewichts sind somit zugleich geeignet, dieser Stoffwechselerkrankung vorzubeugen (Kulzer 2015). Vor Ausbruch des Typ-2-Diabetes liegen bei den meisten betroffenen Personen neben Übergewicht auch die Merkmale des metabolischen Syndroms vor, also viszerales Fett, Bluthochdruck, Insulinresistenz und Hypertriglyzeridämie (Kulzer 2015). Als weiterer Vorläufer des Typ-2-Diabetes kann eine gestörte Glukosetoleranz angesehen werden, die sich in erhöhten Nüchternglukosewerten und erhöhten HbA1c-Werten zeigt. In diesem Stadium kann durch eine Gewichtsreduktion noch relativ leicht die Manifestation des Typ-2-Diabetes verhindert werden. Bei einem manifest gewordenen Typ-2-Diabetes gelten dieselben Empfehlungen bezüglich Gewichtsreduktion und Ernährungsumstellung. Zur Verbesserung der Blut-

326

R. Pietrowsky

zuckerwerte ist dazu – entgegen früherer Annahmen – eine Diät mit niedrigem Kohlenhydratanteil nicht überlegen, jedoch wird mir ihr eine stärkere Gewichtsabnahme erreicht als mit einer Diät mit hohem Kohlenhydratanteil (van Wyk et al. 2016).

1.3

Metabolisches Syndrom

Das metabolische Syndrom stellt keine eigenständige Erkrankung dar, ist aber eine Kombination aus viszeralem Fett, Bluthochdruck, Hypertriglyzeridämie und Insulinresistenz. Es geht mit einem besonders hohen Risiko für koronare Herzkrankheit und Diabetes mellitus Typ 2 einher und stellt damit eine besonders ungünstige Kombination für das Auftreten der beiden zuvor dargestellten Krankheitsbilder dar (Eckel et al. 2010). Es wird in mehrfacher Hinsicht durch ungünstige Ernährungsfaktoren bedingt: durch die Einlagerung von viszeralem Fett (zu viel Verzehr von Alkohol oder Fett), durch die Hypertriglyzeridämie, was durch einen erhöhten Verzehr von tierischen Fetten bedingt sein kann, durch eine Hypertonie, die aufgrund einer Atherosklerose entstehen kann, und durch die Insulinresistenz, die aufgrund von Übergewicht und kohlenhydratreicher Ernährung entstehen kann.

1.4

Krebserkrankungen

Krebserkrankungen werden durch genetische Vulnerabilitäten wie auch durch eine Vielzahl von noxischen Umweltfaktoren begünstigt. Auch die Ernährung kann einen förderlichen Effekt auf die Entstehung oder den Verlauf von Krebserkrankungen haben. Dabei werden nicht alle Krebsformen in gleichem Maße durch Ernährungsfaktoren bestimmt. Dies gilt insbesondere für Dickdarm- und Leberkrebs. Es wird angenommen, dass 30–35 % der Krebsfälle mit Über- oder Fehlernährung verbunden sind (Saha et al. 2017). Eine wesentliche vermittelnde Rolle für den Zusammenhang zwischen Ernährung und der Krebsentstehung scheint der oxidative Stress zu spielen (Saha et al. 2017). Unter oxidativem Stress versteht man einen physiologischen Zustand, der durch viel Sauerstoffradikale (reaktive Sauerstoffspezies, ROS) und insbesondere viele freie Sauerstoffradikale gekennzeichnet ist. Dieser oxidative Stress scheint über entzündliche Faktoren besonders die Entwicklung von Krebs in der Leber und der Bauchspeicheldrüse zu begünstigen. Vor allem eine Überernährung mit einem hohen Anteil an Fetten und Kohlenhydraten ist für die Entwicklung des oxidativen Stresses verantwortlich, wie auch eine erhöhte Zufuhr von Alkohol. Auf der anderen Seite wirken sich Nahrungsbestandteile wie Omega-3-Fettsäuren, Ballaststoffe, Vitamine (vor allem C, D und E) und Flavonoide

(Substanzen, die in allen Pflanzen vorkommen) günstig auf die Hemmung des oxidativen Stresses aus und wirken damit einer Krebsentwicklung entgegen (Saha et al. 2017). Ein weiterer Mechanismus, über den die Ernährung Krebserkrankungen beeinflussen kann, sind epigenetische Veränderungen (Sapienza und Issa 2016). Darunter versteht man, dass Umwelteinflüsse die genetische Aktivität beeinflussen und somit ins Genom aufgenommen werden können. Dies ist besonders relevant bei genetischer Disposition für die Entwicklung bestimmter Krebsarten. So konnte gezeigt werden, dass bestimmte Ernährungsformen (die bereits beschriebene stark fett- und kohlenhydrathaltige Ernährung) das in den Genen angelegte Risiko für die Entwicklung einer Krebserkrankung erhöhen können, die Reduktion dieser Nahrungsbestandteile und eine Zunahme pflanzlicher Kost dieses Risiko senkt. Dabei ist wichtig, dass unter der Annahme epigenetischer Veränderungen nicht nur die genetisch angelegte Vulnerabilität für Krebserkrankungen nicht zum Ausbruch kommt, sondern darüber hinaus die Ernährungsfaktoren auch das Genom verändern, also das ursprünglich genetisch angelegte Krebsrisiko auf genetischer Ebene reduzieren (Joseph et al. 2016; Sapienza und Issa 2016). Eine wichtige vermittelnde Rolle scheinen dabei chronische Entzündungen (der entsprechenden Organe) zu spielen, da chronische Entzündungen ein bedeutsamer Auslöser für die Entwicklung von Tumoren sind und bestimmte Ernährungsweisen (hoher Fett- und Kohlenhydratanteil) signifikant mit chronischen Entzündungen assoziiert sind (Joseph et al. 2016; Sapienza und Issa 2016). Zusammengefasst und durch Metaanalysen bestätigt lässt sich sagen, dass Alkohol, rotes Fleisch und Fleischprodukte, Salz und Beta-Karotin (als Nahrungsergänzung) das Krebsrisiko erhöhen können, während Obst und Gemüse, Ballaststoffe und Molkereiprodukte es senken (Latino-Martel et al. 2016).

1.5

Demenz

Die bislang beschriebenen Krankheitsbilder sind üblicherweise Erkrankungen, die in höherem Alter auftreten, so dass vermutet werden kann, dass ungünstige Ernährungsfaktoren sich über die Zeit hinweg akkumulieren und daher im Alter zu der Krankheitsentstehung beitragen. Daher ist es von besonderem Interesse, wie die Ernährung auf eine Gruppe von Krankheiten wirkt, die als typische Alterskrankheiten gelten: die Demenzen. Es gibt klare Hinweise dafür, dass Ernährungsfaktoren einen Einfluss auf die Entstehung von Demenzen haben können (Canevelli et al. 2016; Morris 2016). So schützen die B-Vitamine und generell Gemüse, Beeren und Meerestiere vor Demenz, während gesättigte Fettsäuren das Demenzrisiko erhöhen (Morris 2016). Vor allem die sog. mediterrane Diät scheint einen besonderen

28

Ernährung und Gesundheit

neuroprotektiven Effekt zu haben (Morris 2016). Es konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass eine entsprechende Ernährung bei älteren Menschen einen günstigen Verlauf auf kognitive Funktion und die Verlangsamung demenzieller Erkrankungen haben kann (Canevelli et al. 2016). Die genannten Krankheitsbilder weisen übereinstimmend auf, dass sie durch eine Ernährungsweise, die reich an tierischen Fetten und Kohlenhydraten und arm an pflanzlicher Kost ist, ungünstig beeinflusst werden. Dies deckt sich mit den obigen Empfehlungen der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2017). Somit gelten die Empfehlungen der DGE zur Prävention dieser Krankheiten. Dabei ist eine Ernährung gemäß den zehn Regeln der DGE ausreichend und es müssen nicht bestimmte Nahrungsergänzungsmittel zusätzlich aufgenommen werden.

2

Gesundheitspsychologische Theorien des Ernährungsverhaltens

Gegenstand der Gesundheitspsychologie ist das Erleben und Verhalten des Menschen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit. Dabei widmet sie sich vor allem riskanten Verhaltensweisen und der Prävention und der Interaktion psychischer und sozialer Faktoren auf körperliche Erkrankungen (Lippke und Renneberg 2006). Angesichts zahlreicher Theorien und Modelle zur Erklärung des Gesundheitsverhaltens sollten die wichtigsten gesundheitspsychologischen Theorien nachfolgend in Kürze beschrieben werden, bevor dann auf die psychologischen Faktoren im Einzelnen eingegangen wird, die für eine gesunde Ernährung wichtig sind.

2.1

Modell gesundheitlicher Überzeugungen und Erwartungen

Das Modell gesundheitlicher Überzeugungen („Health Belief Modell“, HBM; Becker 1974) ist die früheste Theorie, die explizit auf gesundheitspsychologische Fragestellungen angewandt worden ist. Der Grundgedanke des HBM ist, dass es menschliches Handeln – und damit auch gesundheitsbewusstes Handeln – im Sinne einer Kosten-Nutzen-Analyse als rational bestimmt annimmt. Gemäß dieser Theorie wägt eine Person ab, für wie anfällig sie sich für eine bestimmte Krankheit (z. B. Typ-2-Diabetes) aufgrund ihrer Lebensweise, Vorerkrankungen usw. hält. Diese Anfälligkeit wird mit dem Schweregrad der gesundheitlichen Bedrohung beim Eintritt der Krankheit „verrechnet“, der etwa beim Typ-2-Diabetes hoch und chronisch ist. Als Produkt aus Anfälligkeit und Schweregrad ergibt sich ein subjektives Maß für die Bedrohung durch die Krankheit. Gleichzeitig wird angenommen, dass die Person um entsprechende gesundheitsfördernde Maßnahmen als Schutz vor dieser Bedrohung weiß. Beispielsweise

327

kann der Aufwand, mehr Sport zu treiben und weniger tierische Fette zu essen, zwar hoch sein, der Nutzen eines verminderten Diabetes-Typ-2-Risikos aber diesen Aufwand übersteigen. Aus diesem Kosten-Nutzen-Vergleich resultiert ein Handlungsimpuls für das tatsächliche individuelle Gesundheitsverhalten. Das HBM ist vielfach wegen seiner mangelhaften theoretischen Exaktheit und der Vernachlässigung anderer wichtiger psychologischer Variablen kritisiert worden. Dennoch lassen sich aus ihm konkrete Implikationen für gesundheitsförderndes Verhaltens ableiten. Besonders wichtig ist die Voraussage, dass durch entsprechende Informationen aus den Medien die Bewertung der gesundheitsfördernden Maßnahmen immer wieder angestoßen werden kann. Obwohl es zahlreiche empirische Untersuchungen gibt, die die Theorie überprüft haben, gibt es nur wenige Untersuchungen, die sie auf Ernährungsverhalten angewandt haben (Pietrowsky 2006).

2.2

Sozialkognitive Theorie

Die sozialkognitive Theorie von Bandura (1979) ist eine sehr einflussreiche Theorie für die gesamte Klinische Psychologie, Verhaltensmedizin und Gesundheitspsychologie. Die wesentlichsten Faktoren dieser Theorie sind die Selbstwirksamkeit und die Ergebniserwartung. Unter Selbstwirksamkeit („self-efficacy“) versteht man die Erwartung einer Person, dass sie eine angestrebte Verhaltensänderung auch tatsächlich umsetzen kann. Unter der Ergebniserwartung („outcome expectancy“) versteht man die Erwartung der Person, dass diese angestrebte Verhaltensänderung auch zu den gewünschten Resultaten führt. Im Bereich des Ernährungsverhaltens konnte gezeigt werden, dass der Erfolg einer achtwöchigen Gewichtsreduktionsmaßnahme vom Ausmaß der persönlichen Selbstwirksamkeit zu Beginn der Maßnahme abhängt (Weinberg et al. 1984). In die ähnliche Richtung weisen Untersuchungen von Anderson et al. (2000, 2001), mit denen die Autoren zeigen konnten, dass die Selbstwirksamkeit einen wichtigen Einfluss auf das Ernährungsverhalten (Kauf gesunder Nahrungsmittel) hat. Und dies wurde vor allem über die Steigerung der körperlichen Ergebniserwartung erreicht. Wer also glaubte, dass er die gesunde Ernährung durchhält, ist auch eher geneigt, die körperlichen Vorteile einer gesunden Ernährung hoch zu schätzen. Zudem zeigte sich ein Einfluss des sozioökonomischen Status: Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status hatten auch eine höhere Ergebniserwartung in die gesundheitlichen Effekte der gesunden Ernährung.

2.3

Sozialkognitives Prozessmodell gesundheitlichen Handelns

Dieses Modell stellt die Erweiterung der sozialkognitiven Theorie um den Aspekt des Willens zur Handlungsausfüh-

328

R. Pietrowsky

rung dar, also der Umsetzung einer einmal gefassten Absicht in die Tat, was als Volition bezeichnet wird (Schwarzer 2004). Das Modell geht davon aus, dass zur Bildung einer gesundheitlichen Absicht eine Interaktion zwischen KostenNutzen-Abwägungen und Wirksamkeitserwartungen stattfindet. Diese Handlungsabsicht oder Intention ist aber noch von der Handlungsausführung getrennt, da erst ein volitionaler Prozess, bestehend aus Handlungsplanung und Handlungskontrolle, die Handlungsabsicht in tatsächliches Verhalten umsetzt. Auch die Volition unterliegt den subjektiven Kompetenzerwartungen. Der wesentliche Beitrag dieses Modells besteht darin, dass es Gesundheitsverhalten nicht schon durch das Bilden einer Verhaltensabsicht vollständig erklärt, sondern die Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung dieser Intention in das gewünschte Verhalten auftreten, genauer analysiert. Dadurch werden auch die im sozialkognitiven Modell beschriebenen Wirksamkeitserwartungen weiter differenziert, je nachdem ob sie sich auf den intentionalen oder volitionalen Bereich beziehen. Diese Differenzierung hat bedeutsame Konsequenzen wenn es darum geht, gesundes Ernährungsverhalten zu fördern. Es ist somit nicht damit getan, die betroffenen Personen darüber zu informieren, welche Ernährung als gesund empfohlen werden kann, sondern für die Steigerung der Wirksamkeitserwartung zur Handlungsausführung, also den volitionalen Teil, ist es förderlich, den Personen auch mitzuteilen, wo sie die gesunden Nahrungsmittel kaufen können oder wie sie z. B. trotz Übergewicht oder Hänseleien Sport treiben können. Die genannten Theorien und Modelle bieten einen guten Ansatz zu beschreiben, wann Menschen gesundes Verhalten zeigen bzw. welche Voraussetzungen (Kosten und Nutzen bzw. Erfolgserwartungen) gegeben sein müssen, damit sich einzelne Menschen gesund verhalten bzw. ernähren. Naturgemäß haben diese Theorien einen hohen Allgemeinheitsgrad, so dass sehr viele unterschiedliche Aspekte dessen, was psychologisch als Kosten (erwartete Nachteile) und Nutzen (erwartete Vorteile) angesehen wird, damit berücksichtigt werden können. Zugleich haben sie für eine einzelne Person jedoch nur eine geringe Vorhersagekraft, wenn deren individuelle psychologische Aspekte des Ernährungsverhaltens nicht bekannt sind. Solche sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

3

Psychologische Aspekte des Ernährungsverhaltens

Ernährung dient in Gesellschaften, in denen ein ausreichendes Nahrungsangebot vorhanden ist, nicht allein dem Stillen des Hungers und der Lebenserhaltung, sondern weist zahlreiche psychologische und soziale Aspekte auf. So dient die Ernährung zur Befriedigung emotionaler Bedürfnisse; sie ist

Ausdruck der eigenen Identität, wie sie auch der Gesunderhaltung oder Gesundung dient und bis hin zur Verbesserung kognitiver Leistungen eingesetzt wird. Heutzutage dient die Ernährung daher bei vielen Menschen in unserer Kultur zur Erfüllung mehrerer Bedürfnisse gleichzeitig (Pietrowsky und Barthels 2016). Diese verschiedenen Motive, deren Befriedigung die Ernährung heutzutage dient, lassen sich grob in vier Gruppen einteilen, auch wenn diese nicht immer deutlich zu trennen sind: Faktoren des Ernährungsverhaltens

• Emotionale Faktoren • Kognitive Faktoren • Soziale Faktoren (soziale Normen, Modelllernen, soziodemografische Variablen ) • Egoistische Faktoren

3.1

Emotionale Faktoren

Emotionale Faktoren können etwa Entspannung, Ärger oder Angst sein. Positive emotionale Faktoren für das Essen sind beispielsweise, wenn Essen dazu dient, eine entspannte Stimmung oder eine entspannte Situation herbeizuführen oder zu unterstützen (wobei hier eine Überlappung mit sozialen Faktoren gegeben sein kann). Dies kann bei gemeinschaftlichem Essen der Fall sein, aber auch, wenn die Nahrungsaufnahme der eigenen Belohnung dient. Viele Menschen haben oft in ihrer Kindheit Süßigkeiten bekommen, wenn sie etwas Gutes geleistet haben. Damit wurde oft gelernt, Nahrung als Belohnung einzusetzen. Damit hat die Nahrungsaufnahme – und besonders oft die von Süßigkeiten – einen hohen konditionierten Belohnungswert. Negative Emotionen können sowohl zu einem vermehrten Essen als auch zu einer Änderung der Nahrungszusammensetzung führen. So kann Essen generell eine Spannungsreduktion bewirken und wirkt damit negativ verstärkend auf erlebte Furcht, Anspannung oder Trauer. Auch hier ist zu beachten, dass Kinder häufig Süßigkeiten zum Trost bekommen, wenn es ihnen schlecht geht oder sie traurig sind, was dazu führt, dass bestimmten, besonders gut schmeckenden Nahrungsmitteln eine negativ verstärkende Wirkung zur Reduktion von Trauer, Anspannung oder Unbehagen zukommt. Dies ist vor allem dann auch der Fall, wenn die Betroffenen ihre negativen Gefühle nicht richtig diskriminieren oder einordnen können oder über wenig andere Möglichkeiten verfügen, mit diesen negativen Emotionen umzugehen. Darüber hinaus können bestimmte Nahrungsmittel (v. a. Süßigkeiten) einen spezifisch spannungsreduzierenden und stimmungsaufhellenden Effekt haben, der vermutlich über eine Wirkung auf das serotonerge Transmittersystem vermittelt ist. Diese emotionale Wirkung

28

Ernährung und Gesundheit

kann auch gelernt werden und dann zur konditionierten übermäßigen Aufnahme von Süßigkeiten führen. Insbesondere bei depressiven Verstimmungen findet sich häufig eine Störung des Appetits, die sich entweder in einem verminderten oder vermehrten Appetit äußert und vermutlich auch über Störungen des serotonergen Transmittersystems mitbedingt wird. Daher erleben viele Menschen in einer Depression oder Trauer eine Verbesserung ihrer Stimmung durch den Verzehr von Süßigkeiten (carbohydrate craving obesity). Auch der Volksmund kennt das Phänomen des „Kummerspecks“.

3.2

Kognitive Faktoren

Kognitive Faktoren wie Risikoeinschätzungen, Wirksamkeitserwartungen und Attributionsprozesse stellen die Kernvariablen der oben beschriebenen Theorien dar, die somit eher auf kognitiv-rationale als auf kognitiv-emotionale oder soziale Faktoren abzielen. Risikoeinschätzung meint, in welchem Maße sich ein Mensch durch eine gesundheitliche Gefährdung bedroht sieht, also z. B. die Wahrscheinlichkeit einschätzt, einen Herzinfarkt oder Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Dabei wird zwischen der Schwere der Bedrohung und der persönlichen Gefährdung unterschieden. Üblicherweise tendieren Menschen dazu, ihre eigene Gefährdung zu unterschätzen (subjektiver Optimismus). Das Konzept der Wirksamkeitserwartung bezeichnet, für wie wirksam eine Person angestrebte Verhaltensänderungen erwartet und wird – wie oben beschrieben – in die Selbstwirksamkeit und die Ergebniserwartung unterteilt. Eine Person wird viel eher den Fettanteil in ihrer Nahrung dauerhaft reduzieren, wenn sie glaubt, dass sie eine solche Diät aus bestimmten Gründen auch durchhalten kann (self-efficacy) und diese auch tatsächlich die gewünschten gesundheitlichen Effekte hat (outcome expectancy). Gerade für den letztgenannten Punkt wirken sich die vielen Ernährungsempfehlungen, die oft nur eine kurze Gültigkeit haben, sehr ungünstig und demotivierend aus. Es erscheint immer schwieriger, eine bestimmte Empfehlung zu gesunder Ernährung umzusetzen und durchzuhalten, wenn sich dann nach einiger Zeit herausstellt, dass diese Ernährungsempfehlung gar nicht den gewünschten gesundheitlichen Effekt hat. Attributionen sind subjektive Ursachenzuschreibungen für bestimmtes Verhalten oder für bestimmte Ereignisse. Übergewicht zu haben, kann von einem Betroffenen auf ganz unterschiedliche Ursachen attribuiert werden, z. B. auf genetische Veranlagung oder auf persönliche Belastung (Trauer). Im ersten Fall wird das Übergewicht also stabilen, kaum veränderbaren in der Person liegenden Faktoren zugeschrieben, im zweiten Fall auf eher veränderbare in der Person liegende Faktoren. Es werden nach Weiner (1994) drei grundsätzliche Attributionsdimensionen unterschieden: intern vs. extern, stabil vs. variabel und generell vs. spezifisch.

329

Die Rolle der Attributionsdimension intern vs. extern wurde besonders gründlich untersucht und von Rotter (1966) im Konzept der Kontrollüberzeugung für ein Verhalten angenommen. Darunter versteht man die Auffassung, ob Menschen die Ursache für ein bestimmtes Verhalten oder Ereignis eher bei sich (interne Kontrollattribution) oder eher bei anderen Menschen (externe Kontrollattribution auf andere) oder nicht kontrollierbaren externen Faktoren (externe Kontrollattribution auf Zufall) sehen. So könnte z. B. eine Person die Ursache für ihr Übergewicht allein in unkontrollierbaren genetischen Dispositionen sehen (externe Kontrollüberzeugung auf Zufall) und daher keine Anstrengungen unternehmen, durch eine entsprechende Ernährung ihr Gewicht zu reduzieren. Hingegen wird eine Person mit hoher interner Kontrollüberzeugung der Meinung sein, durch eine entsprechende gesunde Ernährung schlank werden zu können und ernährungsbedingten Krankheiten vorbeugen zu können (Pietrowsky 2006).

3.3

Soziale Faktoren

Zu den sozialen Einflussfaktoren auf die Ernährung gehören soziale Normen, Modelllernen und bestimmte soziodemografische Variablen. Sozialen Normen kommt eine wesentliche Rolle bei der Ernährung zu. So orientiert sich die Art der Ernährung über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg an bestimmten und veränderbaren Normen und Wertvorstellungen. Während es heutzutage in den höheren sozialen Schichten sozial angemessen ist, sich fettarm und ausgewogen zu ernähren, gilt in den unteren sozialen Schichten eine eher fettreiche Ernährung (z. B. Fast Food) als normativer Standard. Dabei ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass dieser Unterschied nicht in den Kosten für die Nahrungsmittel liegt, da sich fettarme und ausgewogene Nahrung in den Kosten nicht wesentlich von fettreicher Ernährung unterscheidet. Gerade hinsichtlich der Ernährung ändern sich die sozialen Normen relativ rasch. Vegetarische und vegane Ernährung ist gegenwärtig sehr in Mode und in bestimmten Kreisen ist es schon fast sozial blamabel, Fleisch zu essen. Zu anderen Zeiten war es das Los der armen Bevölkerung, sich fleischlos zu ernähren. Weitere Beispiele für sich schnell ändernde soziale Normen bezüglich der Ernährung sind der Konsum von „Light-Produkten“, die insgesamt aber als nicht gesundheitsförderlich angesehen werden können, oder der Konsum von Taurin-haltigen Getränken bei Jugendlichen und in jüngster Zeit der Konsum von Nutriceuticals, also Nahrungsmitteln, denen eine pharmakologische Wirkung zugeschrieben wird (s. unten). Modelllernen findet bei der Ernährung vor allem dadurch statt, dass die Ernährungsweise anderer Personen übernommen wird. Das ist anfänglich sicherlich die Ernährung im Elternhaus, später die Art der Ernährung von Peers oder

330

R. Pietrowsky

bestimmten Rollenvorbildern. Hier kann auch eine Vermengung mit sozialen Normen häufig vorliegen, Modelllernen geht aber darüber hinaus davon aus, dass bestimmte modellhaft gelernte Ernährungsweisen sehr stabil sind und lang anhaltende Ernährungsvorlieben und -aversionen bedingen. Die Art der Ernährung in unterschiedlichen sozialen Schichten ist vermutlich nicht nur durch soziale Normen, sondern in starkem Maße auch durch Modelllernen bedingt. Soziodemografische Variablen (wie Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status) sind oft nicht direkt auf das Ernährungsverhalten wirksam. Sie bestimmen aber über die für die jeweilige soziale Schicht oder Altersgruppe geltenden sozialen Normen oder Lebensstile und über das jeweils charakteristische Ernährungswissen in erheblichem Maße das Ernährungsverhalten. So sind Ernährungsgewohnheiten in unserer Gesellschaft stark altersabhängig. Ältere Menschen tendieren eher dazu, selbst zu kochen, während Jüngere eher auswärts essen oder sich Fertiggerichte zubereiten. Gleiches gilt für Alleinlebende. Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status ernähren sich im Allgemeinen gesünder als Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status. Dies liegt vor allem daran, dass Menschen aus höheren sozialen Schichten meist ein besseres Wissen über gesunde Ernährung haben und aufgrund sozialer Normen sich auch dieses Wissens bedienen (Pietrowsky 2006). Darüber hinaus haben Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status häufig eine generell höhere Selbstwirksamkeitserwartung. In zahlreichen Studien konnte der förderliche Einfluss eines höheren sozialen Status auf gesunde Ernährung immer wieder bestätigt werden (z. B. Beier und Ackerman 2003; Kolip 2004). Ein weiterer soziodemografischer Faktor mit Einfluss auf das Ernährungsverhalten ist das Geschlecht. So essen Männer generell fettreicher als Frauen, reduzieren dies aber mit zunehmendem Alter. Ernährungsfragen stellen für Frauen vermutlich aufgrund ästhetischer Faktoren schon in jüngeren Jahren stärkere Handlungsimpulse für ein gesundes Ernährungsverhalten dar. Bei Männern entwickeln sich ernährungsspezifische Fragen hingegen erst im mittleren oder höheren Lebensalter, wenn es zu unmittelbar bedrohlichen Erkrankungen aufgrund ungesunder Ernährung kommt oder schon gekommen ist (Pietrowsky 2006).

3.4

Egoistische Faktoren

Hierunter sind Faktoren zu verstehen, die der Identitätsstiftung und Selbstwerterhöhung dienen. Die Art der Ernährung war in unserer Kultur – und ist es vermutlich in fast allen Kulturen – immer schon auch Ausdruck eines jeweiligen Lebensstils, sofern ein ausreichendes Nahrungsangebot zur Verfügung steht. So markierte und markiert das Schwelgen in üppigen und teuren Lebensmitteln symbolisch die Distanz

der höheren Schichten zu einfachen oder gar verarmten Bevölkerungsanteilen. Betrachtet man die Ernährungsgewohnheiten in den westlichen Ländern der letzten Jahrzehnte, so zeigt sich, dass sich diese stark verändert haben und Ausdruck von persönlichen Einstellungen und gesellschaftlichen Werthaltungen geworden ist. In letzter Konsequenz dient die Ernährung somit dazu, das eigene Selbstbild und die eigene Identität zu markieren und somit zu einer Selbstwerterhöhung. In dem Maße, wie in vielen anderen Bereichen die Gesellschaft immer konformer und gleichartiger wird und die Betonung der Individualität immer weniger in der Kleidung oder dem äußeren Erscheinen und Verhalten zum Ausdruck kommt, wird diese Funktion dem Ernährungsstil übertragen. Die Zunahme vegetarischer oder veganer Ernährungsweise, die sich nicht allein nur aus gesundheitlichen, ethischen oder ökologischen Gründen erklären lässt oder die in vielen Fällen medizinisch nicht gerechtfertigte Vermeidung von Laktose oder Glutamat, speisen sich zum Teil aus dem Bedürfnis, über die Ernährung das Selbstbild zu markieren. Die besondere Ernährung symbolisiert die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und die eigene Identität als moralischer oder sensibler Mensch.

4

Nutriceuticals und functional food

Der Begriff „Nutriceutical“ (auch Nutraceutical) ist ein Kunstwort aus den Worten „Nutrition“ (Ernährung) und „Pharmaceutical“ (Pharmazeutikum) und soll zum Ausdruck bringen, dass es sich um Nahrungsmittel oder Teile von Nahrungsmitteln handelt, die neben ihrem Nährwert auch einen Einfluss auf physiologische Funktionen und Gesundheit haben. Typische Nutriceuticals sind Fasern und Ballaststoffe, Prä- und Probiotika, mehrfach ungesättigte Fettsäuren und Antioxidanzien, die in sehr vielfältiger Form meist als Einzelprodukte den Lebensmitteln zugesetzt oder zur Nahrungsergänzung angeboten werden (z. B. Berberin, Krillöl, Omega-3-Fettsäuren, Knoblauchextrakt). Empirische Nachweise für den gesundheitsfördernden Effekt, der über den Verzehr dieser Nahrungsmittel im Rahmen einer üblichen, ausgewogenen und vielfältigen Diät hinausgehen, sind rar. Häufig beruhen empirische Forschungsergebnisse zur gesundheitlichen Wirkung von Nutriceuticals auf laborexperimentellen Studien (an Tieren), was ihre Aussagekraft bezüglich gesundheitsfördernder Wirkungen einschränkt. Dennoch scheinen sie, als Nahrungsergänzungsmittel gegeben, einen positiven Effekt auf den Bluthochdruck, die Senkung des Cholesterinspiegels, die Entwicklung des Typ-2Diabetes und oxidativen Stress zu haben (Rajasekaran et al. 2008; Santini et al. 2017). Es sei aber darauf hingewiesen, dass alle die als Nutriceuticals genannten Stoffe im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung in der Regel in ausreichender Menge aufgenommen werden.

28

Ernährung und Gesundheit

Mit „functional food“ (funktionelle Lebensmittel) werden zum einen zwar auch die Nutriceuticals bezeichnet. Der Begriff kann aber noch weiter gefasst werden und beinhaltet auch Nahrungsmittel, die eine vermutete positive Wirkung auf kognitive Prozesse („brain food“) oder das Aussehen („beauty food“) haben. Diese Wirkungen sind empirisch nicht nachgewiesen und es erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch recht unwahrscheinlich, dass kognitive Leistungen durch bestimmte Nahrungsbestandteile in nennenswerter Weise beeinflusst werden könnten. Zum einen ist allein Glukose der Energielieferant des Gehirns und für die Beeinflussung der zentralnervösen Wirkung müssten die entsprechenden Nahrungsbestandteile die Blut-Hirn-Schranke überwinden und an entsprechende Rezeptoren im Gehirn binden, wofür es keine Evidenz gibt, außer für die bekannten Drogen- und Suchtmittelwirkungen. Eine Ausnahme stellt jedoch die Aufnahme der Aminosäure Tryptophan dar, die über einen bekannten Mechanismus zur Erhöhung des Serotoninspiegels im Gehirn und damit zu einer Stimmungsaufhellung führt, ebenso wie die Aufnahme kohlenhydratreicher Nahrung (Wurtman und Wurtman 1988). Die gegenwärtig sehr beliebten Nutriceuticals und funktionellen Lebensmittel sind Ausdruck der im vorigen Kapitel genannten Funktion der Ernährung als Ausdruck und Spiegel der eigenen Identität. Das Bestreben nicht nur gesund zu essen, sondern mit der Nahrung auch seine geistige Leistungsfähigkeit gezielt zu steigern, sagt vermutlich viel über die Defizite der jeweiligen Person aus. Und es birgt die Gefahr, die Funktion der Ernährung zu überstrapazieren und sie in magische Bereiche auszudehnen, mit dem Resultat, dass die Nahrungsaufnahme immer weniger ein physiologischer Prozess bzw. das Essen ein sinnlicher Genuss ist.

5

Fazit

Die Ernährung hat einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit, das gilt vor allem für chronische und lebensbedrohliche Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebserkrankungen, aber auch Demenzen. Dennoch ist es so, dass einzelne Nahrungsmittel nicht grundsätzlich als gesund oder ungesund anzusehen sind, sondern immer ist die verzehrte Menge der vermeintlich ungesunden Nahrungsmittel entscheidend. Somit kann es nur der Ernährungsstil sein, der ungesund ist, nicht das einzelne Lebensmittel. Daraus folgt, dass eine ausgewogene Ernährung, wie sie in den Ernährungsregeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung abgebildet ist, als am besten für die Gesundheit anzusehen ist. Dass sich Menschen oft wider besseres Wissen ungesund ernähren liegt häufig an psychologischen Faktoren, so dass emotionale oder soziale Aspekte, z. B. Essen aus Trauer oder aufgrund sozialer Normen, hier eine wichtige Rolle spielen. Oft ist es auch so, dass Menschen

331

an ihrer Kompetenz, eine gesunde Ernährung umsetzen zu können, zweifeln oder an der tatsächlichen gesundheitsfördernden Wirkung einer gesünderen Ernährung, was durch kognitive psychologische Prozesse erklärt werden kann. Damit betrifft eine gesunde Ernährung nicht nur medizinische und ökotrophologische Aspekte, sondern ist ganz wesentlich auch eine psychologische Frage. Auf der anderen Seite ist aber auch zu beobachten, dass dem Thema Ernährung gegenwärtig in unserer Kultur eine sehr große Bedeutung zugeschrieben wird, die über gesundheitliche und sensorische Aspekte des Essens hinausgeht. So werden Nahrungsmittel Funktionen als Medikamente und Einflüsse auf mentale Prozesse zugeschrieben, wie auch der Ernährungsstil zunehmend die Funktion der Identitätsstiftung und Selbstwerterhöhung hat. Damit besteht auch die Gefahr, dass der Ernährung in einem gewissen Sinn magische Funktionen zugeschrieben werden. Ob Nahrungsmittel tatsächlich die in letzter Zeit propagierten pharmakologischen und psychogenen Effekte haben, muss zukünftige Forschung zeigen. Es ist aber eher zu bezweifeln, dass solche Wirkungen im Rahmen einer physiologischen Ernährung reliabel beobachtbar sind. Unser Wissen über und unsere Einstellung zum gesundheitlichen Aspekt der Ernährung ändert sich gegenwärtig sehr stark und es bleibt spannend zu beobachten, wie sich dieses interessante Feld der Gesundheitswissenschaften weiter entwickeln wird.

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Bewegung und Gesundheit

29

Eszter Füzéki und Winfried Banzer

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

2 Allgemeine Bewegungsempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2.1 Risiken körperlicher Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 3 3.1 3.2 3.3 3.4

Bewegung im Lebensverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Gesundheitseffekte durch Bewegung im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335 335 336 336 336

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Bewegung in Prävention und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herz-Kreislauf-Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metabolische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onkologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen des Bewegungsapparats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337 337 338 340 341 342

5

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

1

Einleitung

Während seiner gesamten Evolution war der Mensch auf Bewegung angewiesen. Ob wegen Nahrungssuche oder Flucht, stets war Bewegung ein elementarer Teil des Lebens. Die zunehmende Modernisierung und technische Entwicklung erlauben uns jedoch, dass wir unseren Alltag auch ohne körperliche Anstrengungen weitestgehend bewältigen können. Während der Homo erectus noch Gehstrecken bis zu 15 km täglich zurücklegen musste (Cordain et al. 1998), kommen heute viele Zeitgenossen auf wenige hundert oder wenige

E. Füzéki (*) · W. Banzer Institut für Sportwissenschaften, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

tausend Schritte am Tag. Zudem schaffen Globalisierung und Urbanisation häufig bewegungsfeindliche Lebenswelten. Chronische Erkrankungen, vor allem Herz-KreislaufErkrankungen, Krebserkrankungen, Diabetes mellitus, chronische Lungenerkrankungen, Muskel-Skelett-Erkrankungen und psychische Störungen, sind aufgrund ihrer hohen Prävalenz für die öffentliche Gesundheit besonders bedeutsam. Diese Krankheiten sind zu einem beachtlichen Maße vermeidbar und weisen gemeinsame Risikofaktoren auf, u. a. Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, körperliche Inaktivität. Das Vorhandensein einer chronischen Erkrankung wie z. B. Bluthochdruck ist gleichzeitig ein Risikofaktor für weitere chronische Erkrankungen. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen mehreren Erkrankungen, die auch in der Therapie eine Herausforderung darstellt (Scheidt-Nave et al. 2010). Da chronische Erkrankungen aktuell nicht heilbar sind und sie die Lebensqualität, Arbeits-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_32

333

334

E. Füzéki und W. Banzer

fähigkeit und Lebenserwartung beeinträchtigen, und eine hohe finanzielle Belastung für das Gesundheitssystem mit noch nicht abzuschätzenden Folgekosten bedeuten, kommt der Prävention eine besondere Bedeutung zu.

2

Allgemeine Bewegungsempfehlungen

Der Fokus aktueller Empfehlungen liegt auf der gesundheitsbezogenen Fitness sowie auf Bewegung als somatische und psychosoziale Gesundheitsressource. Im Einklang mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürworten die Nationalen Bewegungsempfehlungen, dass Erwachsene und ältere Erwachsene wöchentlich mindestens 150 Minuten aerobe oder ausdauerorientierte Aktivität mit moderater Intensität oder 75 Minuten mit hoher Intensität sowie muskelkräftigende Aktivität 2- bis 3-mal durchführen (Füzéki et al. 2017; Global Recommendations on Physical Activity for Health 2010). Wichtig ist dabei, dass man Bewegungseinheiten von mindestens 10 Minuten addieren darf. Wir gehen heute davon aus, dass für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden der Gesamtumfang und nicht einzelne andere Aspekte der Bewegung wie Dauer, Häufigkeit, Intensität oder Typ ausschlaggebend ist. Dies impliziert u. a., dass neben dem „klassischen“ Sport auch andere Bewegungsarten gesundheitsfördernd sind. Alltagsbewegungen, vor allem Gehen, sind relativ leicht in das alltägliche Leben zu integrieren, erfordern weder besondere Fähigkeiten noch spezielle Ausrüstung und eignen sich deswegen mit wenigen Ausnahmen für alle – hier liegt das große Public-Health-Potenzial dieser Aktivitäten. Die Gesundheitseffekte von Gehen und Fahrradfahren sind sehr gut erforscht und nachgewiesen (Füzéki und Banzer 2013; Kelly et al. 2014). Bei der Interpretation der Bewegungsempfehlungen ist es außerordentlich wichtig zu betonen, dass auch Bewegung unterhalb der Empfehlungen gesundheitswirksam ist (Wen et al. 2011). Der größte Zugewinn aus Public-Health-Sicht wäre, wenn aktuell gänzlich inaktive Personen zumindest geringfügig aktiv werden, auch wenn sie die Aktivität des empfohlenen Umfangs nicht erreichen. Untersuchungen zeigen zudem auch, dass Aktivität, die nur 1- bis 2-mal in der Woche stattfindet (z. B. nur an Wochenendtagen) bereits zu positiven Gesundheitseffekten führt (O’Donovan et al. 2017). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass langes, ununterbrochenes Sitzen ein Gesundheitsrisiko darstellen könnte (Füzéki et al. 2015). Deswegen ist neben regelmäßiger körperlicher Aktivität auch das Einschränken langen Sitzens ratsam. Optimal wäre die lebenslange Aktivität, gleichzeitig ist es wissenschaftlich nachgewiesen, dass selbst im späteren Alter aufgenommene Bewegung gesundheitsrelevant ist: sie kann die Überlebenschancen verbessern und funktionelle Einbußen verlangsamen (Stessman et al. 2009).

" Definition Bewegungsintensität Die Intensität körperli-

cher Aktivität lässt sich neben apparativen Methoden auch durch physiologische Merkmale gut einschätzen. Bei leichter Intensität empfindet man eine niedrige Anstrengung. Bei moderater Intensität steigen der Puls und die Atemfrequenz etwas an, man kommt etwas außer Atem und ein leichtes Schwitzen kann eintreten. Die Ausübung von Aktivität mit hoher Intensität ist durch starkes Schwitzen, stark erhöhten Puls und stark erhöhte Atemfrequenz gekennzeichnet.

2.1

Risiken körperlicher Aktivität

Die Ausübung von körperlicher Aktivität ist nicht gänzlich ohne Risiken. Unerwünschte Ereignisse können in erster Linie den Bewegungsapparat und das Herz-Kreislauf-System treffen.

2.1.1 Kardiale Ereignisse Das am meisten befürchtete unerwünschte Ereignis während einer sportlichen Aktivität ist der plötzliche Herztod. Schätzungen zur Folge stehen nur 4–17 % der Herzinfarkte bei Männern und deutlich weniger bei Frauen in Zusammenhang mit körperlicher Anstrengung (Goodman et al. 2013). In den meisten Fällen, bei denen körperliche Anstrengung vorliegt, begünstigen (bis zum Ereignis oft undiagnostizierte) Vorerkrankungen oder pathologische Veränderungen das Auftreten (Goodman et al. 2013). Das Risiko eines plötzlichen Herztodes in der gesunden sporttreibenden Allgemeinbevölkerung wird nach aktuellen Erkenntnissen als „extrem niedrig“ eingestuft (Goodman et al. 2013). Aus sportmedizinischer Sicht ist die Aufklärung der Sportler von großer Bedeutung und bei Einstieg oder Wiedereinstieg in den Sport sowie in regelmäßigen Abständen eine sportmedizinische Untersuchung mit ausführlicher Anamnese und körperlicher Untersuchung empfehlenswert (Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention 2007). 2.1.2 Muskuloskelettale Ereignisse Die Verletzungsraten bei unterschiedlichen Bewegungsarten variieren erheblich. Kollisions- und Kontaktsportarten, wie z. B. Eishockey, Ringen, Fußball und Basketball, weisen eine größere Verletzungshäufigkeit auf als Nicht-Kollisionssportarten, wie z. B. Schwimmen, Gehen und Nordic-Walking. 2.1.3 Strategien der Risikominderung Durch die Beachtung einiger Sicherheitsvorkehrungen lassen sich Risiken für unerwünschte Ereignisse senken. Sowohl der Umfang als auch die Intensität der Bewegung sollten nur langsam gesteigert und genügend Zeit für die physiologische Adaptation und Regeneration eingeplant werden.

29

Bewegung und Gesundheit

Die gewählte Sportart sollte den Vorerfahrungen, Fähigkeiten und dem aktuellen Fitnessstand der Sporttreibenden entsprechen. Eine adäquate und sichere Ausrüstung sowie praktische und wettergerechte Bekleidung sind unverzichtbar. Bei Bewegung im Freien sollte man auch auf den Sonnenschutz achten. Die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr sollten an der Belastung und den Umweltbedingungen orientiert sein. Sporttreibende müssen lernen, auf ihren Körper zu hören, Schmerzen nicht zu ignorieren und etwaige Verletzungen vollständig auszukurieren. Bei akuter fiebriger Krankheit darf nicht trainiert werden. Zusammengefasst muss man festhalten, dass die positiven Gesundheitseffekte regelmäßiger moderater Aktivität die Risiken bei Weitem übertreffen.

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Im Kindes- und Jugendalter sind bestimmte Elemente des freien Spiels, wie z. B. Klettern oder sich hoch ziehen, als muskelkräftigende Aktivität einzustufen. " Definition Koordination Koordination ist die Fähigkeit,

Bewegungsabläufe kontrolliert, aufeinander abgestimmt und harmonisch zu steuern und erfordert das Zusammenspiel von Sinnesorganen, Nervensystem und Bewegungsapparat. Nachlassende Koordination im Alter ist ein Risikofaktor für Stürze. " Definition Flexibilität Flexibilität oder Beweglichkeit ist

die Fähigkeit des Muskel-Gelenk-Systems, Bewegungen mit einem großen Bewegungsausmaß durchführen zu können.

" Definition Ausdauer Ausdauer bezeichnet die Fähigkeit

des Körpers, eine Leistung über längere Zeit hinweg ohne Ermüdung zu erbringen. Durch regelmäßige Ausdaueraktivität lässt sich die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems (kardiorespiratorische Fitness) steigern. Zudem tragen Ausdaueraktivitäten zu einer besseren Erholungsfähigkeit der Muskulatur nach Belastung bei. Ausdaueraktivitäten sind z. B. Gehen, (Nordic) Walking, Joggen, Schwimmen oder Radfahren. " Definition Intervalltraining Intervalltraining ist eine Trai-

ningsmethode, die im Leistungssport seit Jahrzehnten etabliert ist. Die Besonderheit dieser Methode ist das Aufeinanderfolgen von Belastungs- und Erholungsphasen. Sowohl die Anzahl und Dauer der Phasen als auch die jeweiligen Intensitäten können unterschiedlich gestaltet werden. Ein spezifisches Intervalltraining ist das high intensity interval training (HIIT). Das Gemeinsame an den sehr variablen Protokollen sind die sehr kurzen – je nach Protokoll zwischen 10 Sekunden bis ca. 4 Minuten – Belastungsphasen und die sehr hohe – nah an der maximalen Leistungsfähigkeit – Intensität. Diese Methode hat sich in den letzten Jahren auch bei unterschiedlichen Patientenkollektiven als effektiv und sicher durchführbar erwiesen (Wormgoor et al. 2017; Ribeiro et al. 2017). " Definition Muskelkraft Kraft ist die Fähigkeit des neu-

romuskulären Systems, Widerstände zu überwinden, sie zu halten oder ihnen entgegenzuwirken. Muskelkraft hat einen sehr starken prädiktiven Wert auf die Gesamt- und kardiovaskuläre Mortalität sowie auf den Herzinfarkt und Schlaganfall (Leong et al. 2015). Muskelkräftigende Aktivitäten können in vielen unterschiedlichen Formen durchgeführt werden. Training an Geräten, mit Gewichten oder Kleingeräten, Übungen mit dem eigenen Körpergewicht, wie Liegestütze, Klimmzüge etc., eignen sich gleichermaßen.

3

Bewegung im Lebensverlauf

3.1

Bewegung im Kindes- und Jugendalter

Die Bewegungsempfehlungen der WHO für Kinder und Jugendliche lauten täglich mindestens 60 Minuten Aktivität mit moderater-hoher Intensität. Weiterhin sollten mindestens 3-mal in der Woche muskelkräftigende und knochenwachstumsfördernde Aktivitäten durchgeführt werden (Global Recommendations on Physical Activity for Health 2010). Nach Daten der vom Robert Koch-Institut durchgeführten „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS Welle 2) erreichen ca. 22,4 % der Mädchen und 29,4 % der Jungen im Alter von 3–17 Jahren diese Empfehlungen, der Geschlechterunterschied ist besonders in der Altersgruppe 14–17 stark ausgeprägt. Insgesamt nimmt der Umfang der körperlichen Aktivität mit dem Alter ab. Der Vergleich der Daten der KIGGS Wellen 1 und 2 zeigt eine leichte Abnahme der Prävalenz für das Erreichen der WHO-Bewegungsempfehlungen bei Mädchen, nicht aber bei Jungen (Finger et al. 2018). Bewegung ist sowohl ein elementares Bedürfnis des Kindes als auch ein Erfahrungsinstrument. Das Kind lernt die Welt und seinen Körper durch Bewegung kennen. Für die weitere motorische und ganzheitliche Entwicklung des Kindes ist es relevant, dass es schon im Vorschulalter eine Reihe von Bewegungsmustern ausprobieren und erlernen kann. Wie viel und mit welcher Intensität sich Kinder bewegen, ist zwar u.a. genetisch determiniert, dennoch spielen Umwelteinflüsse, Anreize und Übungsmöglichkeiten eine große Rolle. Zahlreiche Studien belegen, dass sich gesundheitsrelevante Verhaltensweisen schon im Kindesalter etablieren. So persistiert Übergewicht im Kindesalter in der Regel ins Jugend- und Erwachsenenalter (Simmonds et al. 2015). Ähnlich lassen sich bestimmte Muster des Bewegungsver-

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E. Füzéki und W. Banzer

haltens bis in das Erwachsenenalter hinein beschreiben (Jones et al. 2013). Entsprechend wäre diese Altersgruppe prädestiniert dafür, Hauptrezipient gesundheits- und bewegungsfördernder Maßnahmen zu sein. Die am besten dokumentierten Effekte der Bewegung im Kindes- und Jugendalter liegen im Bereich Knochengesundheit vor (Xu et al. 2016; Herrmann et al. 2012). Zum optimalen Aufbau und Erhalt der Knochensubstanz benötigt der Knochen den ständigen Wechsel von Belastung wie Druckund Zugbelastungen sowie Entlastung. Beobachtungsstudien zeigen, dass aktivere Kinder eine höhere Knochenfestigkeit haben als weniger aktive. In Interventionsstudien konnte sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen eine Zunahme der Knochenfestigkeit an der Lendenwirbelsäule, den Hüften und am Oberschenkelhals durch gezielte Bewegungsinterventionen nachgewiesen werden. Nach unserem heutigen Wissensstand ist die Zeit unmittelbar vor und während der Pubertät eine sensible Phase, die Effekte sind hier besonders deutlich (Xu et al. 2016). Die maximale Knochenmasse gilt als Prädiktor für Osteoporose und Frakturen in Erwachsenenalter. Empfohlene Bewegungsformen für den optimalen Knochenaufbau und -erhalt sind gewichtstragende Aktivitäten mit hoher Bodenreaktionskraft wie z. B. Springen, Hüpfen, Tennis und Basketball sowie muskelkräftigende Aktivitäten wie z. B. Spiele mit dem eigenen Körpergewicht und Krafttraining. Diese Aktivitäten sollten mindestens 3-mal wöchentlich durchgeführt werden (Xu et al. 2016). " Definition Osteoporose Osteoporose („Knochenschwund“

oder übersetzt „poröse Knochen“) ist eine systemische Skeletterkrankung, die durch einen Abbau an Knochenmasse und eine Verschlechterung der Knochenstruktur gekennzeichnet ist und durch die verminderte Knochendichte häufig zu Knochenbrüchen (Fraktur) führt.

3.2

Bewegung im Erwachsenenalter

Im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes wurde eine national repräsentative Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA) durchgeführt. Erhoben wurden Daten zum Gesundheitsverhalten, so auch zur Bewegung. Nach Angaben der Befragten erfüllen ca. 42,6 % der Frauen und 48,0 % der Männer die ausdauerorientierten Bewegungsempfehlungen der WHO. Die Gesamtempfehlungen, d. h. sowohl ausdauerorientierte als auch muskelkräftigende Aktivitäten werden allerdings lediglich von ca. jeder fünften Frau und jedem vierten Mann erreicht (Finger et al. 2017). Es zeigt sich hierbei ein sozialer Gradient bei beiden Geschlechtern und in allen Altersgruppen: Personen mit einer

höheren Schulbildung erfüllen die Empfehlungen häufiger als Personen mit niedrigeren Schulabschlüssen (Finger et al. 2017). Diese Daten verdeutlichen, dass Bewegungsförderung eine dringende Aufgabe bleibt.

3.3

Bewegung im Alter

Dem Thema Bewegung im Alter kommt eine große Bedeutung zu: zum einen wächst aufgrund des demografischen Wandels der Anteil Älterer in der Gesellschaft, zum anderen stellt das Alter an sich ein Risikofaktor für viele der oben genannten chronischen Erkrankungen dar.

3.3.1

Physiologie des Alterns und der Bewegung im Alter Das physiologische Altern ist ein normaler biologischer Prozess, dessen Ablauf allerdings von vielen unterschiedlichen, z. T. modifizierbaren Faktoren beeinflusst wird. Dies impliziert auch, dass der Alterungsprozess von einer hohen intraindividuellen Variabilität gekennzeichnet ist, die eine Differenzierung zwischen kalendarischem und biologischem Alter erfordert (Cesari et al. 2013). Der strukturelle und funktionelle Abbau der Organsysteme ist bis zu einem bestimmten Alter relativ langsam, danach beschleunigt er sich merkbar. Die Abnahme der Funktionen kann die Fähigkeit, Alltagsaktivitäten („activities of daily living“, ADL), wie z. B. sich selbst zu versorgen, Körperpflege, Mobilität, Treppensteigen zu verrichten allmählich erschweren, und ggf. zum Verlust der Selbstständigkeit führen. Lange dachte man, dass der menschliche Organismus im Alter zu keinen positiven Adaptationen fähig ist. Dies ist mittelweile widerlegt. Wie eine aktuelle Metaanalyse belegt, können Ältere durch regelmäßiges, moderates Ausdauertraining ihre kardiorespiratorische Leistungsfähigkeit deutlich steigern (Huang et al. 2015). Das „optimale“ Training sollte mit wöchentlich 3–4 Einheiten à 40–50 Minuten mit moderater Intensität durchgeführt werden (Huang et al. 2015). Diesen Befund bestätigt eine weitere Übersichtsarbeit, die Studien mit Teilnehmern über 70 Jahren eingeschlossen hat (Bouaziz et al. 2017). Auch Kraft lässt sich im Alter effektiv trainieren: eine weitere Metaanalyse fand sehr überzeugende Evidenz dafür, dass moderat anstrengendes Krafttraining mit ca. 2 Einheiten pro Woche zu signifikantem Kraftzuwachs führt (Borde et al. 2015).

3.4

Positive Gesundheitseffekte durch Bewegung im Alter

Die krankheitsbezogenen präventiven und therapeutischen Effekte der Bewegung werden in den entsprechenden Unter-

29

Bewegung und Gesundheit

kapiteln besprochen. Hier geben wir einen Überblick über ausgewählte, im Alter besonders bedeutsame Gesundheitsthemen, bei denen Bewegung und Training präventiv oder therapeutisch wirksam sein kann.

3.4.1 Mortalität Regelmäßige Bewegung, und zwar auch, wenn sie erst im späteren Lebensverlauf aufgenommen wird, geht mit einem Überlebensvorteil einher (Hupin et al. 2015). Die neun Kohortenstudien zusammenfassende Metaanalyse zeigt, dass auch schon Bewegung unterhalb der aktuellen Empfehlungen das Gesamtmortalitätsrisiko bei Älteren (60 Jahre und älter) im Vergleich zu Inaktiven um ca. 22 % reduzieren kann (Hupin et al. 2015). 3.4.2 Stürze Stürze im Alter sind häufig schwerwiegende Ereignisse, nicht selten mit fatalen Folgen. Zwar erfordert ein Großteil der Stürze keine unmittelbare ärztliche Versorgung, 30–70 % gehen mit Verletzungen, Frakturen und psychosozialen Beeinträchtigungen einher (Balzer et al. 2012). Bei bestehender Osteoporose können Stürze Frakturen verursachen, von denen insbesondere Hüft- und Oberschenkelhalsfrakturen häufig zu Krankenhauseinweisungen, Mobilitäts- und Lebensqualitätsverlust führen. Da Stürze im Alter oft mit Multimorbidität und Gebrechlichkeit in Zusammenhang stehen, lässt sich eine sturzbedingte Mortalität methodisch schwer nachweisen (Balzer et al. 2012). Weil Stürze eine multikausale Ätiologie aufweisen, sind auch viele Prophylaxeprogramme multidimensional ausgerichtet und beinhalten u. a. Screening der Wohnumgebung, Visuskorrektion und Überprüfung der Medikation und des Schuhwerkes. Bedeutsam sind auch Interventionen, die auf den Erhalt bzw. die Verbesserung von motorischen Fähigkeiten abzielen. Programme, die über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden und mehrere motorische Funktionen (z. B. Balance, Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit) ansprechen bzw. komplexe Bewegungsformen (z. B. Tai Chi) anwenden, können das Sturzrisiko bei nicht sehr gebrechlichen Älteren senken (Balzer et al. 2010). Bei Personen mit schon erheblichen Beeinträchtigungen können solche Interventionen sogar das Sturzrisiko erhöhen (Balzer et al. 2010). " Definition Gebrechlichkeit Gebrechlichkeit (vgl. „frailty“)

bezeichnet einen „Zustand erhöhter Anfälligkeit gegenüber externen und internen Stressoren“ (Zeeh 2015). Aufgrund geschwächter physiologischer Reserven ist die Anpassungsfähigkeit der Körpers eingeschränkt und die Wiederherstellung einer Homöostase erschwert. Gebrechlichkeit ist ein starker Prädiktor für ein erhöhtes Sturz-, Hospitalisationsund Mortalitätsrisiko (Fried et al. 2001).

337

3.4.3 Funktionale Gesundheit Im späteren Lebensalter bekommt die Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens zu verrichten, eine ganz besondere Bedeutung. Für viele ältere Personen ist ihr wichtigstes Ziel, ihre Autonomie und Selbstständigkeit möglichst lange zu erhalten, und möglichst nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. In der Forschung und Praxis existieren zahlreiche Instrumente mit unterschiedlichen Operationalisierungen zur Erfassung des funktionellen Status. Diese Methodenvielfalt und die Heterogenität der in den Studien eingeschlossenen Populationen erschweren die eindeutige Aussage zu der Frage, welches körperliche Training zum Erhalt und zur Verbesserung des funktionellen Status zu welchem Maße beitragen kann. Dieser Einschränkungen zum Trotz gehen wir davon aus, dass multimodale Interventionen, die mehrere motorische Fähigkeiten ansprechen, zumindest bestimmte Aspekte des funktionellen Status verbessern können (Chou et al. 2012; Giné-Garriga et al. 2014).

4

Bewegung in Prävention und Therapie

4.1

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Herz-Kreislauf-Erkrankungen umfassen eine Gruppe von Krankheiten des Herzens, des Blutkreislaufs und der Gefäße. Die bedeutsamsten sind Bluthochdruck (Hypertonie), ischämische Herzkrankheiten (z. B. koronare Herzkrankheit [KHK] und Herzinfarkt) sowie zerebrovaskuläre Krankheiten (z. B. Hirnblutung und Hirninfarkt). Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind mit ca. 40 % die häufigste Todesursache in Deutschland: Im Jahr 2015 waren sie für ca. 356.000 Todesfälle verantwortlich. Allein Herzinfarkte forderten mehr als 51.000 Personen das Leben. Dabei sind vor allem ältere Menschen betroffen: 92 % der an einer Krankheit des Herz-Kreislauf-Systems Verstorbenen waren 65 Jahre und älter (Gesundheitsberichterstattung des Bundes Sterbefälle, Sterbeziffern 2015). Körperliche Aktivität bzw. Inaktivität gilt als einer der relevantesten modifizierbaren Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen und die Evidenz für die protektiven Effekte körperlicher Aktivität ist überzeugend (Alves et al. 2016). Die Empfehlungen in der Primärprävention von HerzKreislauf-Erkrankungen orientieren sich an den allgemeingültigen Leitlinien zur körperlichen Aktivität der WHO.

4.1.1 Bluthochdruck Bluthochdruck zählt zu den häufigsten chronischen Erkrankungen und ist gleichzeitig ein Risikofaktor für weitere Erkrankungen wie KHK, Schlaganfall und Herzinsuffizienz. An einem ärztlich diagnostizierten Bluthochdruck leidet fast

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jeder dritte Erwachsene in Deutschland (Neuhauser et al. 2017). Die Prävalenz steigt mit dem Alter stark an und erreicht fast zwei Drittel bei den über 65-Jährigen (Neuhauser et al. 2017). Regelmäßige moderate Ausdauerbelastung (ca. 30–45 Minuten, 3-mal/Woche) kann den Blutdruck bei sowohl Gesunden als auch bei Hypertoniepatienten senken (Cornelissen und Smart 2013). Anders als früher behauptet ist Krafttraining bei Bluthochdruck nicht kontraindiziert. Im Gegenteil, dynamisches Krafttraining, mit moderaten Lasten und unter Vermeidung der Pressatmung ist ähnlich wirksam wie Ausdaueraktivitäten (Cornelissen und Smart 2013).

4.1.2 Koronare Herzkrankheit Die koronare Herzkrankheit (KHK) ist eine chronische Herzerkrankung, die durch eine Arteriosklerose und eine dadurch verursachte zunehmende Verengung der Herzkranzgefäße charakterisiert ist. In der Folge kommt es zur Mangeldurchblutung des betroffenen Herzmuskelgewebes verbunden mit einer unzureichenden Sauerstoffversorgung. Häufige Folgeerkrankungen der KHK sind Herzinfarkt, Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen. Die 12-Monats-Prävalenz einer KHK in Deutschland (definiert als Herzinfarkt, chronische Beschwerden infolge eines Herzinfarktes oder Angina pectoris) wird bei Frauen mit 3,7 % und bei Männern mit 6,0 % angegeben (Busch 2017a). Die Prävalenz steigt mit dem Alter sehr stark an, und erreicht 16,0 % bei Frauen und 24,1 % bei Männern bei den über 75-Jährigen (Busch 2017a). Der Bildungsgradient ist bei Frauen deutlich ausgeprägter als bei Männern (Busch 2017a). Körperliche Aktivität ist auch bei einer schon bestehenden stabilen KHK sicher durchführbar und therapeutisch hochrelevant. Frühere Studien fanden, dass Bewegung die Mortalität um 30–40 % senken kann (Schwarz et al. 2016). Ein aktuelles Cochrane-Review bestätigt eine gesenkte kardiovaskuläre, aber nicht Gesamtmortalität bei Patienten in Rehabilitationsmaßnahmen mit Bewegung vs. ohne Bewegung (Anderson et al. 2016). Der Grund für diese abweichenden Ergebnisse kann in der insgesamt deutlich verbesserten kardiovaskulären Rehabilitation liegen. Bewegung führt zu niedrigeren Krankenhaltsaufenthalten und zu gesteigerter Lebensqualität bei dieser Patientengruppe (Anderson et al. 2016).

E. Füzéki und W. Banzer

4.1.4 Schlaganfall Bei einem Schlaganfall führt ein Gefäßverschluss oder eine Hirnblutung zu einer Schädigung des Hirngewebes. Die 12-Monats-Prävalenz von Schlaganfall oder chronischen Beschwerden infolge eines Schlaganfalls steigt von weniger als 1 % bei den unter 55-Jährigen auf über 6 % bei der Altersgruppe 75 und älter an (Busch 2017b). Je nach Lokalisation und Schwere des Schlaganfalls kann es zu massiven neurologischen Ausfällen und Störungen kommen. Zahlreiche epidemiologische Studien liefern überzeugende Evidenz, dass regelmäßige Bewegung das Schlaganfallrisiko mindern kann (Howard und McDonnell 2015; Li und Siegrist 2012). Der Umfang der Risikominderung wird durch den Vergleich der aktiven und der inaktiven Gruppen berechnet und mit ca. 20 % angegeben (Li und Siegrist 2012; Howard und McDonnell 2015). Ausdauertraining inkl. Gehtraining als Teil der Schlaganfallrehabilitation kann die Leistungsfähigkeit und die Gehgeschwindigkeit verbessern, die Kombination aus Ausdauer- und Krafttraining verbessert zudem die Gehfähigkeit und das Gleichgewicht (Saunders et al. 2016). 4.1.5 Herzinsuffizienz Bei einer Herzinsuffizienz ist das Herz nicht mehr in der Lage, den Organismus mit der nötigen Blutmenge zu versorgen. Symptome einer Herzinsuffizienz sind Kurzatmigkeit, verminderte körperliche Belastbarkeit und Müdigkeit. Eine aktuelle Metaanalyse berichtet auf Basis von 12 Kohortenstudien über einen linearen Dosis-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Bewegung und der Entstehung einer Herzinsuffizienz in der Allgemeinbevölkerung (Pandey et al. 2015). Nach dieser Analyse geht ein Bewegungsumfang analog zu den aktuellen Empfehlungen mit einer nur relativ kleinen Risikoreduktion von ca. 10 % einher, das 2- bzw. 4-Fache an Aktivität führt zu einer Risikominderung von 19 bzw. 35 % (Pandey et al. 2015). Bewegungstherapie in der Therapie von Herzinsuffizienzpatienten reduziert das Risiko von Krankenhauseinweisungen um 25–40 % und führt zu einer klinisch bedeutsamen Verbesserung der Lebensqualität (Taylor et al. 2014). Mehrere Übersichtsarbeiten zeigen, dass auch HIIT eine effektive Trainingsalternative in der kardialen Rehabilitation sein kann (Hussain et al. 2016; Hannan et al. 2018).

4.2 4.1.3 Herzinfarkt Ein Herzinfarkt entsteht durch einen akuten Verschluss eines Herzkranzgefäßes. Die betroffenen Herzmuskeln werden nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt und sterben ab. Auch Patienten nach akutem Myokardinfarkt profitieren von körperlicher Aktivität: Bewegungstherapie nach einem Herzinfarkt halbiert nahezu das Risiko, erneut einen Infarkt zu erleiden und senkt das kardiovaskuläre und Gesamtsterberisiko um 34 bzw. 26 % (Lawler et al. 2011).

Metabolische Erkrankungen

4.2.1 Diabetes mellitus Unter Diabetes versteht man eine Gruppe von Stoffwechselerkrankungen, die durch einen zu hohen Zuckergehalt (Glukose) im Urin gekennzeichnet ist und zu einer chronischen Hyperglykämie führt. Aus Sicht der Pathophysiologie ist die Erkrankung die Folge, je nach Diabetestyp, von unzureichender Insulinausschüttung und/oder unzureichender Insulinwirkung.

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Bewegung und Gesundheit

Diabetestypen

• Typ-1-Diabetes: Mangel an Insulin infolge einer autoaggressiven Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen. • Typ-2-Diabetes: Kombination aus unzureichender Insulinsekretion und Insulinresistenz. In der ersten Phase der Erkrankung wird noch ausreichend Insulin produziert, allerdings kann Insulin nicht richtig an der Zellmembran wirken (Insulinresistenz), so dass die Glukose nicht in die Zellen gelangen kann. Im späteren Krankheitsverlauf lässt auch die Insulinproduktion nach. • Gestationsdiabetes: erstmalig in der Schwangerschaft diagnostizierter Diabetes. • Typ-3-Diabetes: Gruppe seltener anderer Diabetesentitäten, z. B. nach Virusinfekten oder Alkoholmissbrauch. Bei einem unzureichend kontrollierten Diabetes oder bei einem längerfristig unentdeckten Diabetes zeigt sich ein stark erhöhtes Risiko für (fatale) Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenfunktionsstörungen, Erblindung und Fußamputationen. Gemäß GEDA 2014/2015 beträgt die 12-Monats-Prävalenz des Diabetes mellitus bei Erwachsenen 7,7 % (7,0 % bei Frauen und 8,6 % bei Männern) (Heidemann et al. 2017). Die Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter deutlich an und zeigt einen sozialen Gradienten (Heidemann et al. 2017). So wie die Entstehung von Diabetes mellitus stark durch Lebensstilfaktoren (Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten, Rauchen) beeinflusst wird, setzen die meisten Präventionsprogramme auch multimodal an, und beinhalten Ernährungsumstellung und die Steigerung der körperlichen Aktivität. Eine aktuelle Übersichtsarbeit fand überzeugende Evidenz, dass solche Programme die Entstehung von Diabetes Typ-2 in der Risikogruppe um bis 40 % mindern und die relevanten kardiometabolischen Risikofaktoren wie Übergewicht, Hypertonie und gestörten Fettstoffwechsel verbessern kann (Balk et al. 2015). Eine weitere, prospektive Kohortenstudien zusammenfassende Metaanalyse stellt fest, dass Bewegung nach den aktuellen Empfehlungen eine Risikominderung von 26 % in der Allgemeinbevölkerung mit sich bringt (Smith et al. 2016). Im Diabetesmanagement ist Bewegung mittelweile als unverzichtbares Element verankert. Die Nationale Versorgungsleitlinie empfiehlt ein Stufenprogramm, das zunächst die Steigerung der Alltagsaktivitäten und darauf bauend strukturierte Bewegungsprogramme vorsieht (Bundesärztekammer, Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Ärztekammern, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2014). Bewegung verbessert die Insulinsensitivität der Zellen, diese Wirkung lässt aber nach ungefähr 2 Tagen nach. Ent-

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sprechend sollten Diabetiker versuchen, nicht mehr als 2 Tage ohne körperliches Training zu bleiben (Colberg et al. 2016). Vergleichbar mit Gesunden, sollten auch Diabetespatienten sowohl Ausdauer als auch Kraft trainieren (Colberg et al. 2016). Zwei aktuelle Übersichtsarbeiten schlussfolgern auf Basis der noch nicht sehr ergiebigen Datenlagen, dass HIIT bei Prädiabetikern und Diabetikern aufgrund vergleichbaren Gesundheitseffekten als eine Alternative zum traditionellen Training gesehen werden kann (Wormgoor et al. 2017; de Nardi et al. 2018). Für viele Diabetiker ist Bewegung mit höherer Intensität und Sport schwer umsetzbar. Es gibt gute Evidenz dafür, dass eine einfache Bewegungsform, das Gehen, für diese Patientengruppe gut geeignet und effektiv im Hinblick auf die glykämische Kontrolle ist (Qiu et al. 2014). Ein mit den allgemeinen Bewegungsempfehlungen vergleichbarer Umfang (120–150 Minuten pro Woche) Gehen senkt den Blutglukosespiegel und reduziert den BMI (Qiu et al. 2014). Wegen des stark erhöhten kardiovaskulären Risikos bei Diabetespatienten ist die Verbesserung dieser Parameter von großer Bedeutung. Ausdauerorientiertes Training kann die Funktionsfähigkeit der innersten Gefäßschichten, den oxidativen Stress, Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht und kardiorespiratorische Fitness günstig beeinflussen (Miele und Headley 2017). " Definition HbA1c Glykosyliertes Hämoglobin (HbA1c)

ist eine Unterform des Hämoglobins an der Glykose andockt. Der Wert gibt an, wie hoch der Anteil des „verzuckerten“ Hämoglobins im Blut ist, und spiegelt die Blutzuckerwerte der letzten 2–3 Monate wider. Aus diesem Grund wird es umgangssprachlich als „Blutzuckergedächtnis“ bezeichnet. Der HbA1c-Wert wird auch bei der Diagnose eines Diabetes bzw. Prädiabetes herangezogen.

4.2.2 Fettstoffwechselstörungen Unter Fettstoffwechselstörung (Dyslipidämie) versteht man die pathologische Veränderung der Zusammensetzung der Blutfette. Dies gilt als einer der wichtigsten Risikofaktoren z. B. für die Entstehung der KHK. Neben dem Gesamtcholesterinwert werden z. B. pathologische Veränderungen von Low-Density-Lipoprotein (LDL), High-Density-Lipoprotein-Cholesterin (HDL) sowie Triglyzeride (TG) als prognostisch relevant angesehen (Mann et al. 2014). Die Gesamtprävalenz von Fettstoffwechselstörungen wird in Deutschland aktuell mit 64,5 % bei Männern bzw. 65,7 % bei Frauen im Alter von 18–79 Jahren angegeben (ScheidtNave et al. 2013). Es besteht überzeugende Evidenz, dass sowohl Ausdauerals auch Krafttraining die Lipidwerte günstig beeinflussen kann (Mann et al. 2014; Lin et al. 2015). Als gesichert gelten eine Zunahme des HDL-Cholesterins und eine Abnahme der Triglyzeride als Folge regelmäßiger moderater-intensiver

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Bewegung (Lin et al. 2015). Bei Personen mit schon bestehenden kardiometabolischen Erkrankungen kann auch das Gesamt- und LDL-Cholesterin gesenkt werden – dieser Effekt lässt sich bei Gesunden nicht beobachten (Lin et al. 2015).

4.2.3 Übergewicht und Adipositas Wie in den meisten Industrieländern sind Übergewicht und Adipositas auch in Deutschland weit verbreitet. Laut GEDA 2014/2015 sind 54,0 % der Erwachsenen (46,7 % der Frauen und 61,6 % der Männer) übergewichtig oder adipös und die Prävalenz steigt mit dem Alter an (Schienkiewitz et al. 2017). Von Adipositas betroffen sind 18 %, hier zeigt sich kein Unterschied zwischen den Geschlechtern (Schienkiewitz et al. 2017). Die Prävalenzen bleiben in den letzten Jahren unverändert hoch. " Definition Body Mass Index Der Body Mass Index

(BMI) ist das am häufigsten verwendete Maß zur Beurteilung des Gewichtszustandes, und berechnet sich als Körpergewicht in kg durch Körpergröße zum Quadrat in Meter. Da diese Werte relativ einfach zu erheben sind, eignet sich der BMI als Indikator auch für große epidemiologische Studien. Die schwerwiegendste Limitation der Verwendung von BMI als Maß des Übergewichtes ist, dass er keine Informationen über die Körperzusammensetzung, d. h. über den jeweiligen Anteil von Fett- bzw. Muskelmasse gibt. Nach dem Klassifikationsschema der WHO spricht man bei einem BMI von weniger als 18,5 kg/m2 von Unter-, bei einem BMI zwischen 18,5 und weniger als 25 kg/m2 von Normal-, bei einem BMI von 25 bis unter 30 kg/m2 von Übergewicht. Ein BMI über 30 kg/m2 nennt man Adipositas. Adipositas ist mit zahlreichen Komorbiditäten und gesundheitlichen Komplikationen assoziiert. Das jeweilige Risiko erhöht sich mit der Ausprägung und Dauer der Adipositas. Gleichzeitig deuten z. B. die repräsentativen Daten der amerikanischen National Health and Nutrition Examination Surveys (NHANES) darauf hin, dass der BMI kardiometabolische Auffälligkeiten nur sehr ungenau abbildet (Wildman et al. 2008). In den letzten zwei Jahrzehnten haben Forscher immer wieder die Beobachtung gemacht, dass übergewichtige und adipöse Menschen, wenn sie gleichzeitig eine gute bis hohe kardiorespiratorische Fitness aufwiesen, im Vergleich zu normalgewichtigen fitten Personen kein erhöhtes kardiovaskuläres (Ortega et al. 2016; Oktay et al. 2017) und Gesamtsterberisiko haben (Barry et al. 2014). In anderen Worten, die positiven Gesundheitseffekte von Bewegung zeigen sich in allen Gewichts- und BMI-Klassen. Die Ergebnisse dieser Beobachtungsstudien werden auch von Interventionsstudien untermauert, die belegen, dass Bewegung bei Übergewichtigen und Adipösen auch ohne

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nennenswerte Gewichtsreduktion zu einer Verbesserung vieler kardiometabolischer Risikoparameter führt (Ross und Janiszewski 2008). Durch regelmäßiges aerobes Training lässt sich viszerales Fett reduzieren, das HDL-Level erhöhen und die Trigylzeridwerte senken sowie der Blutdruck mindern. Krafttraining kann bei Adipösen sehr sinnvoll in die Bewegungstherapie integriert werden: es erhöht die Muskelund reduziert die Fettmasse.

4.3

Onkologische Erkrankungen

Onkologische Erkrankungen bedeuten mit etwa 253.000 Neuerkrankungen bei Männern und 230.000 bei Frauen eine hohe Krankheitslast in Deutschland. Die häufigsten Entitäten sind bei Frauen Mamma-, Kolon-, und Bronchialkarzinom, bei Männern Prostata-, Bronchial-, und Kolonkarzinom. Krebs ist nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Deutschland die zweithäufigste Todesursache und für ca. jeden vierten Todesfall verantwortlich (Barnes 2016; Gesundheitsberichterstattung des Bundes Sterbefälle, Sterbeziffern 2015). Fortschritte und Neuentwicklungen von Früherkennungs-, Diagnostik- und Therapieoptionen verbessern zunehmend die Überlebensdauer und -raten sowie Prognose und resultieren in einer steigenden Zahl an onkologischen Patienten und Langzeitüberlebenden. Durchschnittlich überleben ca. 61–66 % aller an Krebs Erkrankten mindestens 5 Jahre die Diagnose, mit großen Unterschieden in Abhängigkeit zur Tumorentität und zum Erkrankungsstadium (Barnes 2016). Die steigenden Neuerkrankungs- und Überlebensraten führen dazu, dass auch die Anzahl von Personen, die in ihrem Leben von einer Krebserkrankung und -therapie betroffen waren, stetig wächst (Barnes 2016). Krebs ist ein sehr heterogenes Krankheitsbild mit einer multifaktoriellen Pathogenese mit vielfältigen zum Teil beeinflussbaren Lebensstil- und umweltbezogenen Risikofaktoren. Eine allgemeine Aussage zu protektiven Effekten von Bewegung auf Krebserkrankungen ist jedoch nicht möglich, sondern eine differenzierte Betrachtung in Abhängigkeit der Tumorentitäten erforderlich. Eine aktuelle 12 Kohortenstudien zusammenfassende Analyse mit insgesamt 1,44 Mio. Teilnehmern kommt zum Schluss, dass Bewegung bei 13 von den untersuchten 26 Entitäten eine Risikominderung mit sich bringt (Moore et al. 2016). Bei 7 Entitäten beträgt die Risikoreduktion mindestens 20 % (Moore et al. 2016). Wichtige Erkenntnis der Analyse ist weiterhin, dass sich die protektiven Effekte weitestgehend unabhängig vom BMI zeigen, in anderen Worten auch übergewichtige und adipöse Menschen profitieren von Bewegung (Moore et al. 2016). Eine präzise Bewegungsempfehlung für die Primärprävention von Krebserkrankungen lässt sich aktuell aus der wissenschaftlichen Literatur nicht ableiten, verwiesen wird häufig auf die allgemeinen Bewegungsempfehlungen.

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Bewegung und Gesundheit

Onkologische Erkrankungen selbst und deren Therapie schädigen oft das kardiovaskuläre, pulmonale, neurologische und endokrine sowie das Muskel-Skelett- und Immunsystem (Schmitz et al. 2010). Viele Patienten büßen ihre Leistungsfähigkeit ein, verlieren an Muskel- und nehmen an Fettmasse zu und entwickeln das sog. Fatigue-Syndrom, einen physischen, mentalen und kognitiven Erschöpfungszustand (Steins Bisschop et al. 2012; Bower 2014). Diese negativen Auswirkungen können lange anhalten und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen. Die herausragende Bedeutung der Bewegung – unter Berücksichtigung des aktuellen individuellen Gesundheitszustandes und etwaiger akuter Kontraindikationen – während und nach einer onkologischen Therapie ist mittelweile auf dem höchsten wissenschaftlichen Niveau gesichert. Regelmäßige Bewegung wirkt den krankheits- und therapiebedingten körperlichen und mentalen Einbußen entgegen. So zeigen Übersichtsarbeiten, dass Ausdauertraining die Leistungsfähigkeit, körperliche Funktionen (Fong et al. 2012) und die Lebensqualität der Patienten signifikant verbessern (Mishra et al. 2014) und die FatigueSymptomatik deutlich mindern kann (Meneses-Echávez et al. 2015). Krafttraining führt zu einer günstigeren Körperzusammensetzung und zu großem Kraftzuwachs in den trainierten Extremitäten (Keilani et al. 2017; Cheema et al. 2014). Regelmäßige körperliche Aktivität nach der Diagnose scheint bei Brust-, Darm- und Prostatakrebs sogar einen Überlebensvorteil zu bieten. Eine aktuelle Übersichtarbeit beziffert diese Mortalitätsrisikoreduktion mit ca. 37 % (Friedenreich et al. 2016). Auch eine hohe Ausdauerleistungsfähigkeit wirkt protektiv (Schmid und Leitzmann 2015). Einer Metaanalyse zur Folge haben fitte Patienten ein um 45 % niedrigeres Sterberisiko als unfitte, und zwar unabhängig vom Adipositasstatus (Schmid und Leitzmann 2015). Aufgrund der Heterogenität von Krebsentitäten und Krankheitsstadien, der unterschiedlichen Therapien sowie des aktuellen individuellen Gesundheits- und Fitnesszustands der Patienten zeigen Studien, dass individuelle Bewegungsberatung und Supervision den Betroffenen am meisten hilft. Für Patienten ohne akute Kontraindikationen und in stabilem Allgemeinzustand können die allgemeinen Bewegungsempfehlungen Orientierung geben, bei starken Einschränkungen und niedriger Leistungsfähigkeit sollten diese eher als langfristige Ziele verstanden werden (Jones et al. 2010). Grundsätzlich gilt, wie bei gesunden Personen auch, dass jede Bewegung besser ist als keine.

4.4

Erkrankungen des Bewegungsapparats

Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems sind die wichtigsten Ursachen von chronischen Schmerzen, körperlichen Funktionseinschränkungen und Verlust an Lebensqualität (Briggs et al. 2016). In Deutschland leiden jeder dritte

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Mann und jede zweite Frau zwischen 50 und 79 Jahren an mindestens einer Erkrankung des muskuloskelettalen Systems (Fuchs et al. 2013). Die Lebenszeitprävalenz von chronischem Rückenschmerz (mind. 3 Monate Dauer) wird mit 30,9 %, die 12-Monats-Prävalenz mit 20,9 % beziffert (Kuntz et al. 2017). Die Prävalenz liegt bei Frauen höher als bei Männern und steigt mit dem Alter kontinuierlich an (Kuntz et al. 2017). Die Lebenszeitprävalenz der Arthrose bei 18- bis 79-Jährigen beträgt 20,2 % (Fuchs et al. 2013). An Osteoporose leiden 8,5 % der 18- bis 79-Jährigen, wobei Frauen deutlich häufiger betroffen sind (Fuchs et al. 2013). " Definition Arthrose Arthrose ist eine vor allem im Alter

häufig auftretende degenerative Gelenkerkrankung, die zu massiven Einschränkungen und Behinderungen führen kann. Bei der Arthrose wird der Gelenkknorpel allmählich beschädigt und führt zu Einschränkungen der Bewegungsamplitude der Gelenke. Dieser Prozess kann bis hin zur Freilegung der Knochenoberfläche führen. Von der Arthrose kann prinzipiell jedes Gelenk betroffen sein, am häufigsten sind es Gelenke des Knies, der Hüfte, der Hand, der Hals- und Lendenwirbelsäule, der Schulter und der Großzehe. Aktuell existieren kaum evidenzbasierte Empfehlungen für die Primärprävention von Rückenschmerzen (Raspe 2012). Bei bestehenden Rückenschmerzen und auch zur Vermeidung der Chronifizierung sollten Patienten körperliche Aktivität soweit es geht beibehalten, wobei sich die Form an die Präferenzen und Möglichkeiten der Patienten orientieren soll (Bundesärztekammer, Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Ärztekammern, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2017). Eine Vielzahl von Bewegungs- und Trainingsformen zeigt Wirksamkeit in der Behandlung von Rückenschmerzen: Kraft-, Koordinations- und Stabilisationstraining (Searle et al. 2015), Pilates (Yamato et al. 2015). Eine Überlegenheit einer spezifischen Form ist bislang nicht nachgewiesen. Wenn weniger intensive Therapien keine Wirksamkeit zeigen, können multimodale Ansätze mit edukativen, somatischen, psychotherapeutischen, sozialen und berufsbezogenen Therapieanteilen hilfreich sein (Bundesärztekammer, Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Ärztekammern, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2017). Welche Rolle Bewegung bei der Entstehung von Arthrose spielt, wird kontrovers diskutiert (Cassel et al. 2017). Gesichert ist, dass Gelenkverletzungen das Entstehen von Arthrose begünstigen. Zudem wird angenommen, dass sowohl intensive Aktivität und bestimmte Bewegungen, wie z. B. plötzliche Rotationsbelastungen, als auch Inaktivität das Risiko, Arthrose zu entwickeln, erhöhen (Cassel et al. 2017). Moderate Bewegung dagegen wirkt über die Kräfti-

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gung der gelenkstabilisierenden Muskulatur und des Gesunderhaltens des Knorpels nachweislich protektiv (Cassel et al. 2017). Entgegen weitverbreiteter Meinung ist Bewegung bei bestehender Arthrose der Hüftgelenke nicht kontraindiziert. Aktuelle Übersichtsarbeiten zeigen, dass Kraft- und Ausdauertraining und Thai Chi (Fransen et al. 2015) sowie Wassergymnastik (Bartels et al. 2016) die Schmerzen lindern und die Funktion verbessern können. Regelmäßige Bewegung und Sport ab dem Kindesalter können die Knochenmineralisation und die maximale Knochendichte – als Prädiktor für Osteoporose und Frakturen im Erwachsenenalter – günstig beeinflussen (Abschn. 3). Im Erwachsenenalter kann speziell ein gezieltes Krafttraining, High-impact-Aktivitäten, wie Hüpfen, Springen oder Stepping, aber auch gewichtstragende Ausdaueraktivitäten den Knochenstoffwechsel stimulieren und in Folge den Knochendichteverlust in fraktur-relevanten Regionen, z. B. Wirbelsäule und Hüfte, verlangsamen oder zu einer Zunahme der Knochendichte führen und das Frakturrisiko reduzieren. Generell ist körperliche Aktivität invers mit dem osteoporosebedingten Frakturrisiko assoziiert, wobei Studien eine Dosis-Wirkungs-Beziehung indizieren (Xu et al. 2016).

4.5

Psychische Erkrankungen

Mentale Krankheiten und seelische Belastungen sind weit verbreitet und haben erhebliche individuelle und gesellschaftliche Folgen. Laut GEDA 2014/2015 liegt die Prävalenz einer aktuellen depressiven Symptomatik in Deutschland bei Frauen mit 11,6 % signifikant höher als bei Männern mit 8,6 % (Bretschneider et al. 2017). Verglichen mit der oberen, weist die untere Bildungsgruppe eine 2,5-fach höhere Häufigkeit auf (Bretschneider et al. 2017). Die Angabe, in den letzten 12 Monaten von einer Ärztin oder einem Arzt die Diagnose einer Depression erhalten zu haben, machen 9,7 % der Frauen und 6,3 % der Männer (Thom et al. 2017). Die Prävalenz ist in der Altersgruppe 45–64 am höchsten, und Personen mit einem niedrigen Bildungsstatus sind statistisch gesehen ungefähr doppelt so häufig von der Krankheit betroffen wie Personen mit einem hohen Bildungsstatus (Thom et al. 2017). Die Evidenzlage, wie weit Bewegung depressive Symptomatiken mindern kann, ist nicht ganz eindeutig. Ein Cochrane-Review stellt einen moderaten Effekt fest, der allerdings als klein einzustufen ist, wenn man nur qualitativ hochwertige Studien der Analyse zugrunde legt (Cooney et al. 2013). Eine Metaanalysen zusammenfassende Übersicht bewertet die Studienlage als überzeugend, und berechnet eine moderate bis hohe Effektstärke (Wegner et al. 2014). Eine präzise Trainingsempfehlung mit Angaben zur Bewegungsform, Häufigkeit, Intensität, Dauer lässt sich allerdings nicht ableiten (Wegner et al. 2014).

Neben den oben differenziert dargestellten somatischen Effekten beeinflusst Bewegung auch das Wohlbefinden und die Lebensqualität positiv sowohl bei Gesunden als auch bei chronisch Kranken (Gillison et al. 2009; Kelley et al. 2009). Positive Effekte zeigen sich bei unterschiedlichen Intensitäten (auch schon niedrige Intensitäten können wirksam sein) und unterschiedlichen Bewegungsformen (Windle et al. 2010; Gillison et al. 2009). Chronischer Stress weist in Deutschland eine hohe Prävalenz auf (Hapke et al. 2013), und wird als Risikofaktor bei der Entstehung von kardiovaskulären Erkrankungen diskutiert (An et al. 2016). Bewegung kann eine stressregulierende Wirkung entfalten und Stressreaktionen lindern (Klaperski et al. 2014). Für diese Effekte reicht bereits moderate Intensität und die Verbesserung der Fitness ist nicht unbedingt notwendig (Klaperski et al. 2014). Ein- und Durchschlafstörungen sowie nicht erholsamer Schlaf, die in Deutschland weit verbreitet sind (Schlack et al. 2013), gelten als eigenständiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität (Sofi et al. 2014), Diabetes (Anothaisintawee et al. 2016) und Depression (Baglioni et al. 2011). Eine aktuelle Metaanalyse stellt fest, dass Bewegung einen kleinen akuten positiven Effekt auf unterschiedliche Schlafparameter hat (Kredlow et al. 2015). Der Effekt bei regelmäßiger Bewegung über eine große Breite an Intensitäten dahingegen ist moderat bis groß, vergleichbar mit dem von Pharmako- oder Verhaltenstherapie (Kredlow et al. 2015).

5

Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass regelmäßige Bewegung eine relevante präventive und therapeutische Gesundheitsressource darstellt. Die positiven Effekte der Bewegung auf körperliche und psychische Aspekte der Gesundheit lassen sich bei Kindern und Jugendlichen, Männern und Frauen, in jeder Altersklasse und unabhängig vom Körpergewicht nachweisen. Bereits moderate Umfänge körperlicher Aktivität führen zur Verbesserung zahlreicher gesundheitsrelevanter Risikofaktoren und zur Minderung des Sterberisikos. Diese auf dem höchsten wissenschaftlichen Niveau gesicherten Erkenntnisse stehen in Widerspruch zu der weit verbreiteten Inaktivität bzw. Bewegungsarmut in unserer Gesellschaft. Somit bleibt die nachhaltige Förderung körperlicher Aktivität eine dringende Public-Health-Aufgabe.

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Bewegung und Gesundheit

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Stress und Gesundheit

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Lena Werdecker und Tobias Esch

Inhalt 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2 Theoretische Stressmodelle – Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 3 Stressoren – Auslöser von Stressreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 4 Stressreaktionen – Antwort auf Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 5 Gesundheitsbezogene Auswirkungen von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 6 Gesundheitsökonomische Folgen von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 7 Stressmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 8 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

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Einführung

" Definition Stress Stress beschreibt die physiologische,

psychologische und verhaltensbezogene Anpassung eines Organismus (Stressreaktion) auf umweltbezogene und psychosoziale Reize, sog. Stressoren. Die Einordung eines Reizes als Stressor erfolgt im Gehirn. In der deutschlandweiten Studie zur Gesundheit Erwachsener (DEGS1) geben Frauen mit 13,9 % und Männer mit 8,2 % eine überdurchschnittliche Stressbelastung an (Hapke et al. 2013). In der Studie zeigte sich u. a., dass eine chronische Stressbelastung häufig mit weiteren Beeinträchtigungen wie einer depressiven Symptomatik, Schlafstörungen oder einem diagnostiziertem „Burnout-Syndrom“ einhergeht (Hapke et al. 2013). Mit steigender Stressbelastung nimmt auch die Anzahl vorhandener Beeinträchtigungen zu (Hapke et al.

L. Werdecker · T. Esch (*) Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

2013). Der Stressreport der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016 mit 1500 Befragten zeigt auf, dass sich 23 % der Befragten häufig oder manchmal gestresst fühlen (Techniker Krankenkasse 2016, S. 6). Fast jeder dritte Befragte mit einem subjektiv weniger guten oder schlechten Gesundheitszustand war häufig „im Stress“ (Techniker Krankenkasse 2016, S. 10). Mehr als die Hälfte (53 %) der Befragten, deren psychische Gesundheit in den vergangenen drei Jahren beeinträchtigt war, fühlten sich oft gestresst, unter den gesunden Befragten fühlten sich hingegen knapp 20 % häufig gestresst (Techniker Krankenkasse 2016, S. 10). Im DAK-Gesundheitsreport 2012 wird darauf verwiesen, dass knapp jeder zehnte Arbeitnehmer (9,3 % von n = 3035 Beschäftigten) im Jahr 2011 an einer potenziell gesundheitsgefährdenden Form von Arbeitsstress (Gratifikationskrise, s. unten) litt (IGES 2012, S. 97). Ergebnisse des Präventionsradars des Schuljahrs 2016/2017 (n = 6902 Schülerinnen und Schüler) lassen vermuten, dass die Stressbelastung bei Kindern und Jugendlichen höher ausgeprägt ist: 43 % der Befragten gaben eine häufige oder sehr häufige Stressbelastung an (IFT-Nord 2017, S. 13).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_33

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L. Werdecker und T. Esch

Diese Untersuchungen verdeutlichen beispielhaft die gesundheitswissenschaftliche Relevanz des Stressphänomens: Es herrscht in Deutschland eine hohe Prävalenz von Stress mit potenziell pathophysiologischen Auswirkungen. Der Begriff Stress wird im alltäglichen Sprachgebrauch wenig einheitlich genutzt, sodass zu Beginn dieses Beitrags ein kurzer historischer Überblick über grundlegende Stresstheorien (Abschn. 2) gegeben wird, bevor die Begriffe Stressor (Abschn. 3) und Stressreaktion (Abschn. 4) als wesentliche Elemente von Stress vertiefend erläutert werden. Anschließend werden Auswirkungen von Stressreaktionen auf die Gesundheit (Abschn. 5) thematisiert und gesundheitsökonomische Folgen von Stress (Abschn. 6) betrachtet. Präventive und gesundheitsförderliche Maßnahme mit dem Ziel der Reduktion und Vermeidung von Stressoren, dem Vorbeugen und Abschwächen von Stressreaktionen sowie der Stärkung von Ressourcen für einen positiven Umgang mit Stressoren (Abschn. 7) werden abschließend diskutiert.

2

Theoretische Stressmodelle – Historischer Überblick

In der Stressforschung wurden seit den 1930er-Jahren verschiedene Stressmodelle entwickelt und postuliert. Diese können unterteilt werden in biomedizinische Modelle, die autoregulative Reaktionen des Organismus beschreiben, und psychologische Theorien, bei denen der Fokus auf der Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewältigung von potenziell Stress auslösenden Reizen liegt (Franke und Franzkowiak 2015). Das aktuell gültige Stressmodell der allostatischen Last bzw. allostatischen Ladung (McEwen 1998b) kombiniert beide Mechanismen und stellt die Selbstregulation des Organismus, die Allostase, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Im biomedizinischen Konzept wird Stress als Reaktion auf einen Reiz verstanden. Walter Cannon, Professor für Physiologie an der Harvard University, war der erste Wissenschaftler, der das Stressphänomen an Säugetieren beschrieb (Cannon 1914). Er beobachtete: Wenn Gefahr droht, reagiert der Körper mit einem schützenden physiologischen Mechanismus, bei dem alle verfügbaren Energiereserven aktiviert und dadurch die Leistungsbereitschaft des Körpers erhöht wird, um so das Überleben zu sichern (fight-or-flight response, zu Deutsch „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ (Cannon 1914, 1915)). Ist die Situation vorüber, beruhigt sich der Organismus wieder (Esch et al. 2003). Anknüpfend an die Erkenntnisse von Walter Cannon beobachtete Hans Selye, Mediziner (Endokrinologe) und Biochemiker, in seinen Experimenten, dass bei ganz unterschiedlichen Reizen ähnliche Reaktionsmuster im Organismus ablaufen und schlussfolgerte daraus, dass es sich bei der Stressreaktion um universelle physiologische Anpassungsreaktionen unabhängig vom Stressor handelt (Selye 1974). Die

Erkenntnisse seiner Forschung postulierte er als Allgemeines Adaptationssyndrom (Selye 1952). Sowohl Cannon als auch Selye beschrieben physiologische Stressreaktionen im Körper. Erst später wurden kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Aspekte mit externen und/oder internen Reizen in Verbindung gebracht (Wirtz und von Känel 2017). In diesem Zusammenhang ist auch die kognitiv-transaktionale Stresstheorie von Lazarus, die in den 1960er-Jahren entwickelt wurde, zu nennen. Sie wird der psychologischen Perspektive auf das Stressphänomen zugeordnet und beleuchtet die kognitive Verarbeitung und Bewertung (appraisal) eines potenziell stressrelevanten Reizes (Folkman und Lazarus 1985). Im Gegensatz zu den Annahmen von Selye geht diese Theorie von einer dynamischen Wechselwirkung von Umwelt und Individuum aus. Es bedarf für das Auslösen einer Stressreaktion der Wahrnehmung und kognitiven Interpretation des Reizes durch das Individuum (Dougall und Baum 2012). Ist ein Reiz für das eigene Wohlbefinden des Individuums relevant, so wird er als Stressor wahrgenommen. Es handelt sich nach Lazarus und Folkman (1984) um eine höchst individuelle Einschätzung und steht Selyes Erkenntnissen entgegen, der eine Stressreaktion auf einen universellen Reiz postulierte. Die Theorie der Ressourcenerhaltung (Conservation of Resources-Theory, COR) wurde von Stevan Hobfoll (1989, 1998) entwickelt und baut auf der kognitiv-transaktionalen Stresstheorie auf. Im Vergleich zur Theorie von Lazarus, bei der die subjektive Bewertung eines Reizes zentral ist, stehen bei dieser kognitionspsychologischen Theorie die Stressbewältigung und die Motivation für eben diese im Fokus der Betrachtung. Hobfoll nimmt an, dass die vorrangige Motivation von Menschen die Vermeidung eines Ressourcenverlusts ist (Hobfoll et al. 2003; Hobfoll 1989). Nach der Theorie ist Stress eine Reaktion auf die Umwelt, weil a) ein Verlust von Ressourcen droht, b) ein tatsächlicher Verlust von Ressourcen eintritt oder c) ein Zugewinn nach einer Investition von Ressourcen versagt bleibt (Hobfoll 1989). Nach Hobfoll (1989) lassen sich vier Arten von Ressourcen unterscheiden: 1. Gegenstände als materielle Ressourcen (z. B. Haus, Auto) 2. Bedingungen als nicht-materielle Ressourcen (z. B. Partnerschaft, Arbeitssituation) 3. Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Selbstwirksamkeit, Kohärenzgefühl) 4. Energien, die Zugang zu anderen Ressourcen wie Zeit, Geld und Wissen ermöglichen Hobfoll (1998) beschreibt eine Gewinn- bzw. Verlustspirale in Bezug auf die Ressourcen. Gemeint ist damit, dass Menschen mit mehr Ressourcen Anforderungen gut bewältigen können und ihre Ressourcen durch eine erfolgreiche Bewältigung ausbauen können. Menschen, die jedoch über

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Stress und Gesundheit

geringe Ressourcen verfügen und Anforderungen nur ungenügend bewältigen können, verlieren aufgrund des Misserfolgs immer mehr Ressourcen (Chen et al. 2015). In der heute gültigen Stresstheorie – vgl. allostatic load, zu Deutsch allostatische Last bzw. allostatische Ladung – verbindet der Neurobiologe Bruce McEwen biologische und psychologische Stressmechanismen. Seine Theorie baut auf dem Konzept der Allostase auf, das von Sterling und Eyer (1988) entwickelt wurde und eine Erweiterung des Konzepts der Homöostase ist (Selye 1973; Cannon 1967). " Definition Homöostase Gemeint ist die Selbstregulation

des Körpers durch innere Prozesse zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in der Interaktion mit der Umwelt (Cannon 1967). Diese ständige Anpassung an innere und äußere Einflüsse, um einen Gleichgewichtszustand aufrecht zu erhalten, hat eine Schlüsselfunktion bei Stress (Esch 2011). Die Allostase ist definiert als: " Definition Allostase „Stability through change“ (Sterling

und Eyer 1988, S. 636), zu Deutsch „Erhaltung von Stabilität durch Wandel“ (Esch 2011, S. 46). Gemeint sind damit kontinuierliche Anpassungen physiologischer Parameter an sich ständig verändernde Umwelt- und Lebensbedingungen, sodass auch von einem dynamischen Gleichgewicht gesprochen wird (Esch 2011). Es handelt sich um eine größere Flexibilität des Organismus, auf die Umwelt zu reagieren, als es im Konzept der Homöostase vorgesehen ist, d. h. dass beispielsweise auch Sollwerte angepasst werden (McEwen und Wingfield 2003; McEwen 1998b). Es gibt zwei wesentliche Formen der Allostase: 1. eine akute Anpassung an einen tatsächlichen Bedarf mit anschließender Rückkehr zum Ausgangszustand, 2. eine chronische Erregung aufgrund antizipierter veränderter Anforderungen, z. B. dauerhafter psychosozialer Stress (Sterling und Eyer 1988). Eine andauernde, exzessive oder eine wiederkehrende allostatische Anpassung resultiert in einer chronischen Überaktivität des allostatischen Systems und in einer Abnutzung des Organismus (McEwen 1998b). Diese Kumulation wird als allostatische Last bezeichnet (McEwen 1998b, 2017; McEwen und Wingfield 2003; McEwen und Stellar 1993). Wie im kognitiv-transaktionalen Stressmodell wird im Konzept der allostatischen Last die Wahrnehmung von Stressoren durch psychosoziale, demografische und umweltbezogene Charakteristika beeinflusst und ist somit individuell (McEwen 1998b, 2007).

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3

Stressoren – Auslöser von Stressreaktionen

In unserer heutigen Gesellschaft gibt es Umweltreize und vielfältige Anforderungen im privaten oder beruflichen Leben, die als Stressoren wirken und eine Stressreaktion im Organismus auslösen. In den Anfangszeiten der Stressforschung dominierten physikalische Gefahren oder Noxen die Stressforschung (Selye 1974; Cannon 1915). Heutzutage sind vielmehr psychosoziale Belastungen vorherrschend (Esch und Esch 2016). Stressoren können außergewöhnliche, punktuell auftretende Ereignisse sein, zu denen die Diagnose einer schwerwiegenden Erkrankung, der Verlust eines nahe stehenden Menschen oder des Arbeitsplatzes gehören. In Abgrenzung dazu gibt es auch kumulative Anhäufungen sich wiederholender oder verlängerter Stressexposition, wie beispielsweise Zeitdruck oder soziale Konflikte (Lazarus und Folkman 1984). Zu bedenken ist, dass manche akute Stressoren wie Unfälle, Gewalterfahrungen oder Naturkatastrophen ihre chronische Wirkung erst nach einiger Zeit entfalten (McEwen 2006). Die nachfolgende Aufzählung gibt einen Überblick über Stressoren (Münzel et al. 2018; Brown et al. 2017; Valtorta et al. 2016; Hapke et al. 2013; Steptoe und Kivimäki 2013; Hänsel et al. 2010; Dimsdale 2008; McEwen 2006): Stressoren

• Physikalische Umweltfaktoren: Kälte, Wärme, Lärm, Schmutz • Alltagsbezogene Faktoren: Zeitdruck bei der Arbeit, familiäre Verpflichtungen wie Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen, finanzielle Sorgen • Körperliche Faktoren: Schmerzen, Verletzungen, körperliche Einschränkungen, Infektionen, Hunger, Durst, Schlafentzug, Substanzabhängigkeit • Psychosoziale Faktoren: soziale Isolation/Einsamkeit, Über- und Unterforderung, zwischenmenschliche Konflikte, Konkurrenz, Rollenkonflikte Stressoren können auch kritische Übergänge im Lebensverlauf sein: Entwicklungsaufgaben in der Pubertät und jungem Erwachsenenalter (Lampert et al. 2017), Renteneintritt oder der Auszug von Kindern (Mitchell und Wister 2015; Tesch-Römer und Engstler 2008). Erfahrungen, die das Kindesalter prägten, können das Risiko für chronische Stresszustände im Erwachsenenalter erhöhen (Nurius et al. 2016; Gardner 1992). Hierzu zählen beispielsweise Krieg oder Missbrauch (Kivimäki und Steptoe 2017).

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Stressreaktionen – Antwort auf Stressoren

Stressreaktionen beschreiben physiologische, psychologische und verhaltensbezogene Anpassungen des Organismus auf psychosoziale und umweltbezogene Reize, die das innere Gleichgewicht verletzen (Wirtz und von Känel 2017; Lee et al. 2015; McEwen 1998b; Esch 2011). Die Stressantwort ist evolutionär entstanden, um in auftretenden Gefahrensituationen das Überleben zu sichern (Cannon 1915). Der Fokus wird auf die Gefahrensituation gerichtet, sodass die gesamte Energie gebündelt wird, um eine Handlung zu ermöglichen ( fight-or-flight response, Cannon 1915). Dies beinhaltet eine Atembeschleunigung, einen Blutdruckanstieg, eine Energiesteigerung sowie eine Verminderung der Stoffwechsel- und Fortpflanzungsaktivität (Esch 2002, 2003, 2017; Park et al. 2013). Wichtig ist festzuhalten, dass die Auslösung von Stressreaktionen nicht zwingend die bewusste Wahrnehmung von Stressoren (Stress) und die prinzipielle Bewältigungsarbeit voraussetzt. Im Gegensatz zur Theorie von Lazarus und Folkman ist es in Ausnahmefällen möglich, nachweislich (physiologisch) gestresst zu sein, ohne diese „Alarmiertheit“ als solche zu empfinden (Benson und Stefano 2005). In unserer heutigen Gesellschaft ist ein Individuum ständig gefordert, auf Veränderungen der sozialen und physischen Umwelt zu reagieren. Die autonom ablaufenden Anpassungsreaktionen des Organismus werden über Veränderungen im Gehirn und über hormonelle Vorgänge in einem sich selbst regulierenden System abgestimmt (Esch 2011; McEwen 2007). Ziel ist es dabei, Gleichgewicht, Autonomie und Selbstregulation in herausfordernden Situationen zu bewahren (Esch und Stefano 2010b). Im Gehirn wird „entschieden“, was bedrohlich und potenziell stressig ist (McEwen 2007, 2017). Fällt die Entscheidung, den Stressor zu bewältigen, so erfolgt die Aktivierung einer physiologischen und verhaltensbezogenen Anpassung hauptsächlich über zwei Stressachsen: Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) und dem sympathischen Nervensystem (Esch und Stefano 2010b; Selye 1952, 1973). Bei der HPA-Achse werden Signale über die Sinnesorgane aufgenommen und die wahrgenommenen Stressoren im Kortex, in Hirnstammarealen und dem limbischen System verarbeitet (Esch 2017). Vom Hypothalamus werden Signale an die Hypophyse gesendet, wo Vorläuferhormone abgegeben werden, die insbesondere die Ausschüttung von Cortisol in der Nebennierenrinde veranlassen (Esch 2017; Esch und Stefano 2010b). Zugleich wird der Sympathikus über das sympathisch autonome Nervensystem aktiviert. Hier ist ebenfalls der Hypothalamus, aber auch der Hirnstamm beteiligt (Esch 2017; Esch und Stefano 2010b). Im Nebennierenmark werden Katecholamine wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Über Nervenimpulse werden die Zielorgane erreicht (Esch 2017; Esch und Stefano

2010b). Der Impuls für eine Stressantwort geht also vom Gehirn aus, hat aber für den gesamten Körper weitreichende Folgen (Esch 2017; Esch und Stefano 2010b). Stressreaktionen können im eigenen Körper oder sichtbar von außen als Schwitzen, Herzrasen/-klopfen, Gesichtsröte, pulsierendes Blut, innere Unruhe, Anspannung, Zähneknirschen, Muskelverspannungen, drängendes Wasserlassen, Durchfall oder Verstopfung, Bauch- und Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Gewichtsschwankungen, Ohrgeräusche, Schlaflosigkeit, Hörsturz oder Tinnitus usw. wahrgenommen werden (Esch 2017; Esch und Esch 2016). Weiterhin kann auf kognitiver Ebene die Gedächtnisleistung in Folge von Stress beeinträchtigt (Shields et al. 2017b; Gärtner et al. 2014; Esch 2011) sowie die Lernfähigkeit und Merkfähigkeit reduziert sein (Esch 2017). Es können sich ein verringertes Konzentrationsvermögen, Kreativitätseinbußen, Entscheidungsschwäche, reduzierte Problemlösungsfähigkeiten, negative Gedanken, verzerrte Denkweisen oder unrealistische Einschätzungen bemerkbar machen (Esch und Esch 2016). Auf kognitiver und verhaltensbezogener Ebene wird von Bewältigungsstrategien (Coping) gesprochen. Diese können generell in zwei Formen unterschieden werden: Die Regulation der Emotionen (emotionsfokussiertes Coping) und das Handeln, um das zugrunde liegende Problem des Stresses anzugehen (problemfokussiertes bzw. instrumentelles Coping) (Franke und Franzkowiak 2015; Folkman und Lazarus 1985). Das problemorientierte, aktive Coping wird vermehrt dann eingesetzt, wenn eine Situation bzw. der Stressor veränderbar erscheint. Ziel ist es, die Ursache für die Stressreaktion in den Mittelpunkt der Bewältigungshandlung zu stellen und beispielsweise Lebens- und Umweltbedingungen zu verändern. Das emotionsfokussierte, passive Coping kommt hingegen eher dann zum Einsatz, wenn das Problem als nicht veränderbar eingeschätzt wird (Folkman und Lazarus 1985). Diese Bewältigungsstrategie stellt die Symptome in den Mittelpunkt. Zum emotionsfokussierten Coping gehören beispielsweise das positive Umdenken, die Kontrolle negativer Gedanken, eine emotionale Distanzierung oder Ablenkung durch andere Aufgaben oder Tätigkeiten und die Suche von emotionaler Unterstützung (Folkman und Lazarus 1985). Individuen kombinieren beide Formen des Copings in vielen verschiedenen Arten und zu verschiedenen Zeitpunkten der Auseinandersetzung mit einem Stressor (Folkman und Lazarus 1985). In Bezug auf das Verhalten zeigen sich daher Stressreaktionen in Form von ausweichendem und unruhigem Verhalten sowie einem ungesunden Lebensstil mit ungesundem Ernährungs- und Bewegungsverhalten, wenig Schlaf, Rauchen und Alkoholkonsum, Medikamenten- und Substanzmissbrauch, um Leistungsfähigkeit zu erhalten, sowie ein gesteigertes Risikoverhalten (Kaluza 2018; McEwen 1998b, 2006, 2017; Dunn und Conley 2015; Dougall und Baum

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Stress und Gesundheit

2012; Hamer 2012; Kivimäki et al. 2012). Im sozialen Miteinander lässt sich ein starkes Klammern oder sozialer Rückzug und ein hohes Konfliktpotenzial beobachten (Esch und Esch 2016; Esch 2011; McEwen 2006). Auf emotionaler Ebene äußern sich daher Stressreaktionen in Form von Zweifeln, Sorgen, Ängsten, Gereiztheit, Aggressionen, Ungeduld, Lustlosigkeit, Unsicherheit und Unzufriedenheit (McEwen 2017; Esch und Esch 2016).

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Gesundheitsbezogene Auswirkungen von Stress

Im Verständnis der Salutogenese nach Antonovsky (1993) ist die fortlaufende, flexible Anpassung und aktive Bewältigung verschiedener Anforderungen Voraussetzung für Gesundheit (Franke 2011). Die Herstellung eines Gleichgewichts ist sozusagen der Normalzustand. Die Stressreaktion hat eine unverzichtbare Rolle bei der Sicherung des Überlebens eines Organismus und ist daher nicht grundsätzlich gesundheitsschädigend (Kronenberg et al. 2017; Dhabhar 2014; McEwen 2007). Prinzipiell ist eine kurzfristige, durch Stress induzierte Leistungssteigerung als Schutzmechanismus zu verstehen, da es dem Individuum den Umgang mit akuten Herausforderungen ermöglicht (Dhabhar 2014). Eine erfolgreiche Anpassung löst u. a. im hirneigenen Belohnungs- und Motivationszentrum eine positive Rückmeldung aus, die das Individuum für zukünftige herausfordernde Situationen motiviert und vorteilhaftes Verhalten belohnt (McEwen 2017; Esch und Stefano 2010b). Damit Stress als positiv empfunden wird und Leistung erbracht werden kann, muss nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz ein Zustand erreicht werden, in dem Anforderungen und Können in einem optimalen Verhältnis zueinander stehen (Yerkes und Dodson 1908). Mit diesem Zustand sind positive Emotionen wie Freude und Zuversicht verbunden. Herausfordernde Situationen sind Voraussetzung, um sich beansprucht zu fühlen und leistungsfähig zu sein. Wird die Anforderung jedoch zu hoch, so nimmt die Leistungsfähigkeit ab (Esch und Esch 2016). Es wird daher auch von der umgekehrten U-Hypothese gesprochen: zu wenig Anforderung verhindert eine vollständige Leistungsfähigkeit, zu viel Anforderung verringert sie wiederum (Yerkes und Dodson 1908). Entsprechend der Theorie der allostatischen Last kommt es bei einer dauerhaften oder langandauernden bzw. „überdosierten“ Reizung durch einen Stressor ohne ausreichende Entspannungsphasen zu einer Überbeanspruchung des Organismus, da die normalerweise zeitlich begrenzte physiologische Stressreaktion aufrechterhalten bleibt (Esch und Stefano 2010b). Die Stressreaktion beeinflusst alle wichtigen Organsysteme, sodass eine Störung der Selbstregulation enorme Auswirkungen auf das körperliche, psychische, soziale und spirituelle Wohlbefinden hat (Kronenberg et al. 2017; Park

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et al. 2013; Esch 2011; Esch und Stefano 2010b; Thoits 2010). Störungen in den Abläufen der physiologischen Stressantwort sind bei einer Vielzahl von Erkrankungen bedeutend: Stress kann als Risikofaktor bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle spielen, aber auch in der Behandlung, dem Fortschreiten der Erkrankung, während der Erholungsphase oder auch bei einer Remission wirken (Muscatell et al. 2015; Dougall und Baum 2012). Allostatische Last wird daher als ein universell pathogenetischer Faktor verstanden, der mit verschiedenen (kostenintensiven) chronischen Erkrankungen assoziiert ist (Liu et al. 2017; Franke und Franzkowiak 2015; Lee et al. 2015; Kobrosly et al. 2014; Parente et al. 2013; Sterling und Eyer 1988). Als wichtiger Mechanismus zwischen Stressoren, allostatischer Last und pathophysiologischen Prozessen wird neben der Rolle der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem (McEwen 2013; McEwen und Seeman 1999) auch die Entzündungsreaktion (Inflammation) gesehen (Liu et al. 2017; Shields et al. 2017a; Rohleder 2014; Slavich et al. 2010; Stefano et al. 2010; Esch und Stefano 2002). Auf molekularer Ebene spielen Stresshormone wie Cortisol und Noradrenalin sowie Stickstoffmonoxid eine bedeutende Rolle (Esch und Stefano 2010b). Auch Veränderungen des Gesundheitsverhaltens sind als Folge von anhaltender Stressbelastung nicht zu vernachlässigen und können mit einer Erhöhung von Risikofaktoren, wie z. B. Alkoholmissbrauch, Rauchen oder mangelnde Bewegung, für chronische Erkrankungen einhergehen. Diese pathophysiologischen Prozesse der Stressreaktion manifestieren sich in kardiovaskulären, metabolischen, immunologischen, neuroendokrinen, psychischen oder neurodegenerativen Erkrankungen (Esch und Stefano 2010b; McEwen und Seeman 1999). Bluthochdruck, Arteriosklerose/Gefäßerkrankungen, aber auch erhöhte Blutfettwerte können beispielsweise durch die veränderte kardiovaskuläre Physiologie aufgrund der chronischen Stimulation durch eine dauerhafte Anpassungsreaktion die Entstehung und das Fortschreiten von kardialen Krankheiten begünstigen (Subhani et al. 2018; Ginty et al. 2017; Münzel et al. 2017; Siegrist und Li 2017; Backe et al. 2012; Dimsdale 2008; Yusuf et al. 2004; Bairey Merz et al. 2002; Esch et al. 2002b; McEwen 1998a). Stress ist mit einem erhöhten Risiko für koronare Herzkrankheit (Kivimäki et al. 2015; Steptoe und Kivimäki 2013; Virtanen et al. 2013), Herzinfarkt (Münzel et al. 2018; Kronenberg et al. 2017; Steptoe und Kivimäki 2013) und Schlaganfall (Münzel et al. 2018; Kronenberg et al. 2017) verbunden. Eine kontinuierliche Aktivierung der HypothalamusHypophysen-Nebennieren-Achse und des sympathischen Nervensystems erhöht das Level an Stresshormonen und Cortisol, was das Immunsystem beeinträchtigt (Subhani et al. 2018; McEwen 2017; Esch et al. 2002a). Stress steht

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daher auch im Zusammenhang mit metabolischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ II (Münzel et al. 2018; McEwen 1998a) und Krebserkrankungen (Yildirim et al. 2018). Veränderungen der Gehirnstruktur durch dauerhafte Stressreaktionen (McEwen 2007, 2013; Chattarji et al. 2015), wie z. B. die Veränderung der Amygdala (Roozendaal et al. 2009) sowie eine Schrumpfung/Degeneration des Hippocampus und des präfrontalen Kortexes (Arnsten 2015; Chattarji et al. 2015) können sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken und ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel steht beispielsweise mit Beeinträchtigungen im Form von Schlaf- und Entscheidungsproblemen, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsdefiziten und anderen neuropsychologischen Symptomen in Verbindung (Subhani et al. 2018; McEwen 1998b; Esch et al. 2002c). Angststörungen, Depressionen (Dragano et al. 2017; Marin et al. 2011; de Kloet et al. 2005; Siegrist 2005), Burnout (Marin et al. 2011; de Kloet et al. 2005) und Posttraumatische Belastungsstörungen (Marin et al. 2011; de Kloet et al. 2005) sind mit allostatischer Last assoziiert (Esch et al. 2002c). Bei den neurologischen Erkrankungen wurde beispielsweise ein Zusammenhang mit Stress bei Epilepsie (Novakova et al. 2013), Parkinson (Hemmerle et al. 2012), Alzheimer (Marin et al. 2011) und Multipler Sklerose (Burns et al. 2014) aufgezeigt (Esch et al. 2002c). Aufgrund der Beeinträchtigung des körperlichen, emotionalen und psychologischen Wohlbefindens beeinflusst Stress auch das soziale Leben und steht mit einer verringerten Lebensqualität im Zusammenhang (Subhani et al. 2018).

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Gesundheitsökonomische Folgen von Stress

Aus gesellschaftlicher Perspektive sind auch die ökonomischen Auswirkungen stressassoziierter Erkrankungen und deren Folgen bedeutend. Relevant sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Krankheitskosten und Arbeitsunfähigkeitstage. Im Jahr 2016 wurden in Deutschland 356.537 Mio. EUR für Gesundheit ausgegeben. Das macht einen Anteil von 11,3 % des Bruttoinlandprodukts aus (Statistisches Bundesamt 03.04.2018). Im Jahr 2015 teilten sich die Krankheitskosten nach Diagnosegruppen der ICD-10-Klassifikation wie folgt auf: Die höchsten Ausgaben entstanden für Kreislauferkrankungen (I00-I99) mit 46.436 Mio. EUR (13,7 % der gesamten Ausgaben). Der Anteil für psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99) betrug 44.372 Mio. EUR. Für Krankheiten des Verdauungssystems (K00-K93) entstanden Kosten in Höhe von 41.620 Mio. EUR und für Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (M00-M99) wurden 34.193 Mio. EUR ausgegeben (GBE Bund 2018b).

Für das Jahr 2016 werden 561.504 Mio. Arbeitsunfähigkeitstage der gesetzlich Krankenversicherten ausgewiesen (GBE Bund 2018a). Im Durchschnitt entstanden 12,91 Arbeitsunfähigkeitstage je Arbeitsunfähigkeitsfall. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA 2016) schätzt den Produktionsausfall anhand der Lohnkosten auf insgesamt 75.000 Mio. EUR und den Verlust an Arbeitsproduktivität (Bruttowertschöpfungskette) auf 133.000 Mio. EUR (BAuA 2016). Diese enormen volkswirtschaftlichen Ausfälle und Ausgaben für die Gesundheitsversorgung aufgrund stressassoziierter Erkrankungen verweisen auf ein großes Potenzial präventiver und gesundheitsförderlicher Maßnahmen.

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Stressmanagement

Aufgrund der hohen Last an Stressoren, pathophysiologischen Auswirkungen der Stressreaktion sowie der epidemiologischen und ökonomischen Bedeutung stressassoziierter Erkrankungen ist die Reduktion oder Vermeidung von Stressoren, das Vorbeugen und Abschwächen von Stressreaktionen sowie die Stärkung der individuellen Ressourcen im Umgang mit ständig wechselnden Lebens- und Arbeitsbedingungen eine primäre Aufgabe der Gesundheitswissenschaften. Im Fokus steht das dynamische Wechselspiel zwischen äußeren Anforderungen und dem Individuum mit seinen Fähigkeiten und Ressourcen. Präventive und gesundheitsförderliche Maßnahmen im Kontext von Stress sind wichtig, um grundlegende physiologische Prozesse des Stressmanagements in unserer Bevölkerung zu aktivieren (Esch und Stefano 2010b). " Definition Gesundheitsförderung Präventive Maßnah-

men zielen darauf ab, Krankheiten früh zu erkennen, zu verhindern sowie deren Ausbreitung oder Verschlechterung zu vermeiden (Franzkowiak 2015). Die Gesundheitsförderung hat zum Ziel, Ressourcen und Gesundheitspotenziale zu identifizieren und diese gezielt zu fördern. Ausgangspunkt ist das Konzept der Salutogenese, das der Beobachtung folgt, dass Individuen trotz schwierigster Bedingungen oder tief greifender Erlebnisse gesund bleiben können (Antonovsky 1993). Gesundheitsförderung zielt sowohl auf den Lebensstil als auch auf die Lebensbedingungen ab (Kaba-Schönstein 2017). Lebensbedingungen sollten so modelliert werden, dass eine Anhäufung allostatischer Ladung vermieden oder reduziert wird. Beispielsweise sollten dabei sozioökonomische Bedingungen in den Blick genommen werden, um gesundheitliche Ungleichheit zu reduzieren (Mielck 2005; Richter und Hurrelmann 2009), denn der sozioökonomische Status kann Stressreaktionen hervorrufen oder sie begünstigen (Gruenewald et al. 2012; Gustafsson et al. 2011; Seeman

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et al. 2010; Szanton et al. 2005; McEwen und Wingfield 2003). Der sozioökonomische Status von Personen spiegelt sich in den Umweltreizen, den verfügbaren Ressourcen und dem Gesundheitsverhalten wider (Algren et al. 2018). Aus der deutschlandweiten Studie zur Gesundheit Erwachsener (DEGS1) lässt sich schlussfolgern: Je niedriger der sozioökonomische Status, desto höher die Stressbelastung (Hapke et al. 2013). Auch eine Untersuchung aus Dänemark hat gezeigt, dass Menschen, die in benachteiligten Stadtteilen leben, eine höhere Wahrscheinlichkeit für wahrgenommenen Stress haben als die Allgemeinbevölkerung (Algren et al. 2018). Physische Reize aus der Umwelt wie Lärm und Schmutz können durch präventive Maßnahmen, wie z. B. Schallmauern oder Umweltzonen, eingedämmt werden. In Hinblick auf psychosoziale Stressoren gilt es z. B. den Arbeitsstress in den Blick zu nehmen, einer der am häufigsten untersuchten Stressoren bei Erwachsenen. Die zunehmende Globalisierung, Rationalisierung, rasant fortschreitende Informationsund Kommunikationstechnologien, neue Arbeitsformen und Arbeitszeitmodelle (Eichhorst und Buhlmann 2015; Badura et al. 2012) gehen beispielsweise einher mit Jobunsicherheit, Multitasking, Zeitdruck, Arbeitsintensivierung und Einkommensungleichheiten (Dragano et al. 2017). Im Bereich der Arbeitsstressforschung haben sich das Anforderungs-Kontroll-Modell von Robert Karasek (1979) und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen von Johannes Siegrist (1996) etabliert. Ersteres besagt, dass hohe Anforderungen und eine geringe Kontrolle bei der Arbeit ( job strain) Stressreaktionen hervorrufen. Hohe Anforderungen und verschiedene Einflussmöglichkeiten tragen hingegen dazu bei, dass die Arbeit positiv wahrgenommen wird (Karasek 1979). Beim Modell beruflicher Gratifikationskrisen steht die Balance von Anforderungen und Gratifikationen im Mittelpunkt der Betrachtung. Ist die Reziprozität (das Wechselspiel von Geben und Nehmen im sozialen Kontext) beeinträchtigt, kommt es zur Stresswahrnehmung bzw. Stresserhöhung (Siegrist 1996). Als Gratifikationen werden beispielsweise die Arbeitsplatzsicherheit, Aufstiegsmöglichkeiten, Gehalt oder auch soziales Prestige durch den Beruf angesehen (Siegrist 1996). Stresserleben und Stressbewältigung sind individuelle Vorgänge. Die Förderung des selbstbestimmten Umgangs mit der eigenen Gesundheit (empowerment) ist zentrales Anliegen der Gesundheitsförderung (Kaba-Schönstein 2017). In der Salutogenese spielen generelle Widerstandsressourcen, sog. Schutzfaktoren, eine entscheidende Rolle im Kontext von Stress (Franke 2011). Mithilfe der zur Verfügung stehenden Ressourcen können Krisen und belastende Alltagssituationen bewältigt und Ressourcen in herausfordernden Situationen ausgebaut werden (Moksnes und Lazarewicz 2017; Park et al. 2013). Ressourcen können dabei a) präventiv beim proaktiven Bewältigungshandeln wirken, um Stressoren zu vermeiden, b) als Puffer für das Gesundheitsverhalten eingesetzt werden, um

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einen konstruktiven Umgang mit Stressoren zu ermöglichen und dabei das Ausmaß und die Häufigkeit der Reaktion auf Stressoren einzuschränken, und c) individuelles Gesundheitsverhalten stärken (Wiley et al. 2017; Taylor und Broffman 2011). Diese psychosozialen Ressourcen können auf gesellschaftlicher und individueller Ebene gefördert werden. Auf gesellschaftlicher Ebene handelt es sich um sicherheitsschaffende politische und ökonomische Strukturen (Franke 2011), die Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten sowie die Förderung sozialer Unterstützung (interindividuelle Ressourcen). Als äußerer Faktor hat das soziale Umfeld wie Familie und Freunde eine entscheidende Bedeutung (Hobfoll 1998). Soziale Unterstützung kann helfen, Ressourcen auszubauen oder verfügbar zu machen, um umweltbezogene Anforderungen zu erfüllen und persönliche Ziele zu erreichen (Folkman und Lazarus 1985). Soziale Unterstützung bezieht sich auf emotionale, informationelle oder praktische Unterstützung (Folkman und Lazarus 1985). Auf individueller Ebene können Persönlichkeitseigenschaften gefördert werden, die zu einer positiven Bewältigung von Lebensanforderungen beitragen können (intraindividuelle psychologische Ressourcen). Dazu gehören beispielsweise Resilienz, Hardiness, Selbstwirksamkeit, Optimismus oder das Kohärenzgefühl (Badura et al. 2012; Taylor und Broffman 2011; Antonovsky 1993; Kobasa 1979). Resilienz meint die psychische Widerstandsfähigkeit eines Individuums und wird heutzutage als ein dynamischer Prozess im Lebensverlauf angesehen, der von stabilen Phasen psychischer Gesundheit während und nach einem herausfordernden Lebensereignis gekennzeichnet ist (Kalisch et al. 2015). Es handelt sich um einen aktiven Anpassungsmechanismus, der auf einer biologischen Basis beruht (Kalisch et al. 2015). Resilienz steht im engen Zusammenhang mit weiteren Fähigkeiten, die im Umgang mit Stress relevant sind, wie z. B. Hardiness, Selbstwirksamkeit und Kohärenzgefühl. Hardiness baut auf drei Bausteinen auf (Kobasa 1979): Commitment (Selbstverpflichtung gegenüber den Dingen, die eine Person tut), Control (Einfluss haben auf den Lauf der eigenen Erfahrung) und Challenge (Veränderung werden nicht als Bedrohung, sondern Herausforderung angesehen) (Kobasa 1979). Häufig wird als vierter Faktor noch Connectedness, d. h. das „In-Beziehung-sein“, ergänzt (Esch und Esch 2016). Selbstwirksamkeit bezeichnet den Glauben einer Person an die eigenen Fähigkeiten, bestimmte Handlungen erfolgreich ausführen zu können (Bandura 1977). Optimismus beschreibt das Ausmaß, mit dem Individuen positive Erwartungen an die Zukunft haben (Taylor und Broffman 2011). Das Kohärenzgefühl berücksichtigt drei Komponenten, die bei der Bewältigung von Stressoren positiv wirken: Verstehbarkeit (Zusammenhänge im Leben verstehen), Handhabbarkeit (das Leben gestalten können) und Sinnhaftigkeit (Sinn des

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Lebens) (Antonovsky 1993). Diese benannten Ressourcen und Potenziale sind Gegenstand von gesundheitsförderlichen Maßnahmen zur Stressbewältigung (Kaluza 2018; Esch und Esch 2016). Stressreaktionen und Versuche der Bewältigung äußern sich mitunter in Form von gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen. Daher ist bei der Entwicklung von StressmanagementInterventionen immer auch auf die Förderung proaktiver Bewältigungsstrategien zu achten, da diese gesundheitsförderliche Verhaltensweisen implizieren. Passive Bewältigungsstrategien (emotionsfokussiertes Coping) begünstigen hingegen eher einen gesundheitsgefährdenden Lebensstil und somit eine Entstehung von chronischen Erkrankungen (Dunn und Conley 2015). Im Kontext der Veränderung gesundheitsbezogenen Verhaltens soll an dieser Stelle auf bereits vorhandene theoretische Modelle verwiesen werden: Theoretische Modelle gesundheitsbezogener Verhaltensänderung

• Transtheoretisches Modell der Verhaltensänderung, in dem die Entscheidungsbalance und Selbstwirksamkeitserwartung eine wesentliche Rolle spielen (Prochaska und DiClemente 1982) • Health Action Process Approach (HAPA-Modell), bei dem neben der Selbstwirksamkeitserwartung auch die Handlungsergebniserwartung und die Risikowahrnehmung sowie situative Barrieren einen hohen Stellenwert haben (Schwarzer 1992) • Modell gesundheitlicher Überzeugungen (Health Belief Model), bei dem eine wahrgenommene Gesundheitsbedrohung und eine Kosten-Nutzen-Analyse neben modifizierenden Variablen (demografische und psychosoziale Variablen) berücksichtigt werden (Rosenstock et al. 1988) Aus neurobiologischer Perspektive ist bei der Verhaltensveränderung der limbische Belohnungs- und Motivationskreislauf besonders wichtig (Esch und Stefano 2004, 2005, 2011). Eine positive Motivation führt zu einer nachhaltigen und tief greifenden Verhaltensänderung (Esch 2011). Sofern mit dem Verhalten ein inneres Wohlgefühl ausgelöst werden kann, also eine Belohnung erfahren wird, so wird das Individuum das gewünschte Verhalten wiederholen. In der medizinischen Versorgung haben sich Mind-BodyInterventionen etabliert, die auf lebensstilassoziierte Erkrankungen ausgerichtet und mit einer Reduzierung von Stress verbunden sind, da sie die Autoregulationsfähigkeit des Organismus proaktiv stärken (Muehsam et al. 2017; Esch und Stefano 2010a). Studien zeigen Veränderungen von Gehirnregionen (zerebraler Kortex, Amygdala, Hippocampus), eine psychologische Stressreduktion und Erregungsminderung, Veränderungen in Verbindung mit einem

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erhöhten parasympathischen und reduzierten sympathischen Tonus, eine reduzierte Produktion an Entzündungsfaktoren und u. a. eine erhöhte Sensitivität von Glukokortikoiden (Cortisol) (Muehsam et al. 2017; Hölzel et al. 2010). Durch die Regulierung der Hypothalamus-HypophysenNebennieren-Achsen und des sympathischen Nervensystems kommt es zu einer verbesserten Herzratenvariabilität, Regulierung der Immunfunktion und Entzündungsreaktion sowie Veränderungen der Darmbeweglichkeit und -flora (Muehsam et al. 2017). Mind-Body-Interventionen sind dadurch, dass sie die Selbstheilungsfähigkeit des Körpers ansprechen, in der Lage, gesundheitsschädliche Auswirkungen allostatischer Last aufzuheben oder zu verringern (Muehsam et al. 2017; Esch und Stefano 2010b). Als Untergruppe von MindBody-Interventionen haben sich im Kontext von chronischen und stressassoziierten Erkrankungen auch Programme wie Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) und Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) in Bezug auf die Förderung der Gesundheit und Reduktion von Krankheit etabliert (Janssen et al. 2018; Gotink et al. 2016; Khoury et al. 2015). Diese Programme zielen mithilfe von beispielsweise Meditation und Yoga auf die Erhöhung von Achtsamkeit im Alltag ab und erreichen durch eine verbesserte Regulation der Emotionen eine Reduzierung von Stress und Angst (Crane et al. 2017; Hölzel et al. 2010). Als Stressbewältigungsprogramm mit Elementen der Mind-Body-Therapie gibt es in Deutschland beispielsweise das Programm „BERN – Gesund im Stress“ (Esch und Esch 2016; Esch und Stefano 2010b). Zuweilen wird hier auch überbegrifflich von der Mind-Body-medizinischen Stressreduktion (MBMSR) gesprochen. BERN steht dabei für Behavior (positives Denken und Handeln in Stresssituationen), Exercise (regelmäßige und ausreichende Bewegung), Relaxation (regelmäßige Entspannung) und Nutrition (gesunde Ernährung) (Esch 2017, S. 215; Esch und Esch 2016). Hohe Relevanz im Stressmanagement haben auch die soziale Unterstützung und Spiritualität (Esch und Stefano 2010b). Im Bereich des Verhaltens geht es um die Integration der positiven Psychologie (Zuversicht, Dankbarkeit, Glück) in den Alltag (Seligman 2014). Auf neurobiologischer Ebene wirkt „vergnügliches“ Verhalten aufgrund der Verbindung zum Belohnungszentrum im Gehirn stressreduzierend (Esch und Stefano 2010b). In Interventionen wird beispielsweise eingeübt, Stressoren und Stressreaktionen bewusst wahrzunehmen, um so Situationen und Ereignisse als kontrolliert erlebbar zu machen und alternative Handlungen zu ermöglichen (Esch 2011). Bewegung fördert eine autoregulative Stressreduktion ebenfalls durch die neurobiologische Wirkung im Belohnungszentrum des Gehirns (Esch und Stefano 2010b). Die protektive Funktion von aerober und moderater Bewegung kann damit auch das Risiko z. B. für kardiovaskuläre Erkrankungen reduzieren (Gerber et al. 2016; Hamer 2012).

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Im Bereich der Entspannung wird die Entspannungsantwort gezielt trainiert. Im biomedizinischen Konzept der Selbstregulation erfolgt als Reaktion auf einen Stressreiz auch eine physiologische Gegenreaktion, die relaxation response (Esch et al. 2003; Benson und Klipper 2000). Im Gegensatz zur Stressantwort ist die Entspannungsantwort ein physiologischer Zustand, der als abnehmende Erregung des sympathischen Nervensystems verstanden wird (Engert et al. 2017; Moraes et al. 2017; Bhasin et al. 2013; Dusek und Benson 2009). Mithilfe verschiedener Techniken, die leicht erlernbar und einfach in den Alltag zu integrieren sind, kann dieser Zustand der Entspannungsantwort hervorgerufen werden. Dazu gehören beispielsweise Meditation, Yoga, Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung, Atemübungen und Tai Chi. Auch repetitive Übungen (mentale oder körperliche Übungen) können beispielsweise eine achtsame Geisteshaltung (Gedanken ziehen lassen) herbeiführen und so ebenfalls eine Entspannungsantwort fördern (Khoury et al. 2017; Gimpel et al. 2014; Feicht et al. 2013; Benson und Klipper 2000). Diese Praktiken haben direkten Einfluss auf die neurobiologische Plastizität, Resilienz und Flexibilität, die Immunfunktion und die Stimmung (Muehsam et al. 2017; Esch und Stefano 2010b). Als besonders niederschwellige Form der Intervention zur Reduzierung allostatischer Last soll an dieser Stelle auch auf die Waldtherapie („Waldbaden“) hingewiesen sein (Oh et al. 2017; Ochiai et al. 2015; Haluza et al. 2014). Die Nahrungsaufnahme ist aus neurobiologischer Perspektive ebenfalls eine Quelle für Zufriedenheit. Autoregulative Mechanismen werden dabei aktiviert, die Wohlbefinden und Entspannungsreaktionen auslösen (Esch und Stefano 2010b). In Bezug auf die Ernährung gilt es, die sinnliche Wahrnehmung zu stärken (Genuss) und mediterrane Kost zu bevorzugen, dabei achtsam zu essen, um so Momente der Zufriedenheit und Belohnung aktiv zu fördern (Esch und Esch 2016).

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Fazit und Ausblick

Stressreaktionen wirken nicht per se gesundheitsschädigend. Sie sind physiologisch sinnvoll und wichtig, um die volle Leistungsfähigkeit abzurufen und im ursprünglichen Sinne das Überleben zu sichern. Bei wiederkehrenden und lang anhaltenden Stressoren, die ständig eine Stressreaktion auslösen, kommt es hingegen zur „Abnutzung“ des Organismus. Das An- und Abschalten von Stressreaktionen im Körper ist dann häufig gestört. Die ursprünglich positive Anpassungsfähigkeit kehrt sich jetzt ins Gegenteil, sodass pathophysiologische Prozesse ausgelöst werden (McEwen 2017). Aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive kann auf präventiver und gesundheitsförderlicher Ebene interveniert werden. Es gilt dabei, gemeinsam mit Betroffenen Maßnahmen zu entwickeln, die Individuen befähigen, mit Herausfor-

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derungen des Lebens und der Umwelt konstruktiv umzugehen. Gleichzeitig sollten Lebenswelten gesundheitsförderlich und krankheitsvorbeugend gestaltet werden. Im medizinischtherapeutischen Bereich kann der Blick auf die Verbindung zwischen Körper und Geist bei der Stress- und Entspannungsantwort durch eine Stärkung der Mind-Body-Medizin gesteigert werden. Autoregulative, gesundheitsförderliche Prozesse sollten proaktiv durch Interventionen gefördert werden und können von jedem Individuum durch Routinen im Alltag umgesetzt werden (Esch und Stefano 2010b). Trotz zahlreicher Forschungsbemühungen sind noch längst nicht alle Mechanismen der Stressreaktion im Körper und deren pathophysiologischen Auswirkungen verstanden. Es besteht weiterhin Forschungsbedarf hinsichtlich valider Messparameter, die auch chronische Stresszustände verlässlich abbilden können. Außerdem ist es aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive essenziell zu verstehen, wie Ressourcen im Wechselspiel untereinander wirken und welche biologischen Mechanismen psychologischen Konzepten wie Selbstwirksamkeit zugrunde liegen (McEwen 2013). Vor dem Hintergrund der Großzahl an stressassoziierten Erkrankungen, verbunden mit hohen Gesundheitsausgaben, ist es für die Gesundheitswissenschaften eine prioritäre Aufgabe, weiter in die Forschung zum Verständnis zugrunde liegender Mechanismen zu investieren und aus den Erkenntnissen Präventionspotenzial und gesundheitsförderliche Maßnahmen abzuleiten.

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Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen

31

Tatjana Crönlein

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

2 2.1 2.2 2.3

Neurobiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messung des Schlafes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Schlafmedizin und die Klassifikation der Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

4

Schlafbezogene Atmungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

362 362 363 364

5 Motorische Störungen im Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 5.1 Restless Legs Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 5.2 Periodische Beinbewegungen im Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 6

Parasomnien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

7

Hypersomnien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

8 8.1 8.2 8.3

Insomnie – Diagnostik und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatik und Erklärungsmodell der Insomnie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Behandlung der Insomnie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Verhaltenstherapie der Insomnie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

368 368 369 370

9 Diagnostische Methoden der Schlafmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 9.1 Schlafprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 10

Prävention in der Schlafmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

1

Einleitung

Die hohe Prävalenz und steigende Inzidenz von Schlafstörungen gehören zu den aktuellen Herausforderungen des Gesundheitssystems (Leger und Bayon 2010). Vor allem ältere Personen und Personen mit eingeschränkter Mobilität zeigen einen gestörten bzw. nicht erholsamen Schlaf. Schlafstörungen sind keine Befindlichkeitsstörungen. Sie können

zu vermehrten Unfällen (Hillman et al. 2006) und einer Erhöhung des kardiovaskulären Risikos führen und vor allem den Verlauf von Begleiterkrankungen wie z. B. einer Depression verschlechtern. Gestörter Schlaf tritt in allen Altersklassen auf. Untersuchungen zeigen eine Prävalenz von ca. 30 % bei Erwachsenen. Die Krankheitsbilder der Schlafmedizin sind weitaus komplexer, als es die Symptomatik „gestörter Schlaf“ vermuten lässt.

T. Crönlein (*) Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_34

361

362

2

T. Crönlein

Neurobiologische Grundlagen

Die Schlafmedizin ist ein relativ junges Forschungsgebiet. Die ersten systematischen Untersuchungen wurden durch Kleitmann und Mitarbeiter in den 1950er-Jahren durchgeführt. Trotz differenzierter Methodik ist die Frage nach der Funktion des Schlafes in Gänze noch unbeantwortet. Derzeit kann Schlaf vor allem in Abgrenzung zu anderen Bewusstseinszuständen wie z. B. dem Koma folgendermaßen definiert werden: " Definition Schlaf

• • • •

Geschlossene Augen Ruhige Atmung und Motorik Schlaftypische Muster im Elektroenzephalogramm Erhaltende Erweckbarkeit

Einschlafen ist kein On-off-Phänomen, sondern vielmehr ein Prozess. Das Gehirn ist während des Schlafes aktiv, allerdings von der Umwelt abgeschottet. Das wohl bekannteste Modell zur Schlaf-Wach-Regulation ist von Borbely und Mitarbeitern formuliert worden (Borbely und Achermann 1999). In dem Zwei-Prozess-Modell wird von einer Homöostase zwischen Wachen und Schlafen ausgegangen, der durch einen sog. Schlafdruck (auch als Prozess S bezeichnet) und zirkadianen Verläufen mitbestimmt wird. Je länger wir wach sind, desto mehr steigt der Schlafdruck, bis er nach dem Einschlafen vor allem im Tiefschlaf abgebaut wird. Durch das Borbely-Modell wurden schlafkompensatorische Phänomene, wie z. B. eine höhere Intensität des Tiefschlafes nach Schlafentzug, begreifbar. Es geht von der Annahme aktiver schlafinduzierender Faktoren aus, die sich kumulativ vor der Schlafphase aufbauen. Während normalerweise Thalamus und Großhirnrinde gekoppelt sind, scheint sich dies beim Einschlafen aufzulösen. Magnin et al. (2010) konnten bei Patienten mit Tiefenelektroden sehen, dass die Aktivität des Thalamus beim Einschlafen vor der Großhirnrinde abnimmt. Sie interpretieren dass die Aktivität des Thalamus beim Einschlafen vor derjenigen der Großhirnrinde abnimmt. Sie schlossen daraus, dass der Thalamus als Tor zum Bewusstsein mit seiner Filterfunktion heruntergefahren wird und Signale sozusagen ungefiltert auf den Kortex stoßen. So erklären sich die Forscher das Vorkommen von Halluzinationen oder auch einer verzögerten Schlafwahrnehmung beim Einschlafen (Magnin et al. 2010). Nicht nur neurologisch, sondern auch hormonell ist Schlaf ein hochkomplexer Prozess. Während des Tiefschlafes hat das Wachstumshormon (growth hormone) einen Peak, und zwar unabhängig vom Zeitpunkt des Einschlafens. Dem schlafinduzierenden GHRH (growth hormone releasing hormone) und dem wachinduzierenden CRH (corticotrophin releasing hormone) werden ein reziproker Einfluss auf die

Schlafregulation zugesprochen. ACTH und Cortisol steigen während des Schlafes an und haben nach dem Erwachen ihren Höhepunkt. Der Cortisolspiegel ist während des Tiefschlafes eher niedrig, was als eine Down-Regulierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse gewertet wird (Steiger 2007). Der morgendliche rasche Anstieg des Cortisols nach dem Aufwachen (die sog. cortisol awakening response) wird in Verbindung mit Stress vor dem Schlafengehen und einem höheren Wachheitsgrad in Verbindung gebracht (Elder et al. 2014). Während des Schlafes zeigen sich erhöhte Melatoninwerte, woraus jedoch nicht auf einen schlafanstoßenden Effekt des Melatonins geschlossen werden sollte. Die Melatoninausschüttung ist vor allem an Dunkelheit gebunden (Claustrat et al. 2005). Einer der wichtigsten Botenstoffe im Schlaf ist jedoch γ-Aminobuttersäure (GABA), ein inhibitorischer Neurotransmitter. Die Formatio reticularis (speziell aszendierendes retikuläres aktivierendes System, ARAS) kontrolliert Wachheit, mit wesentlicher Beteiligung des Thalamus. Der GABAergen Senkung des tonischen Aktivitätsniveaus des ARAS während des Wachseins wird eine schlafinduzierende Wirkung zugeschrieben. Benzodiazepine verstärken die sedative Wirkung von GABA und werden als Hypnotika eingesetzt. Trotz einiger ausgewiesener richtungsweisender neurobiologischer Befunde zum Schlaf ist die Frage nach der Funktion des Schlafes und letztendlich nach den ultimativen schlafregulatorischen Mechanismen noch ungeklärt.

2.1

Messung des Schlafes

Weckreize waren vor der Elektroenzephalografie die einzige Möglichkeit festzustellen, ob jemand schläft oder nicht. Einer der ersten Studien zum Schlaf hat gezeigt, dass die Weckintensität zu Beginn der Schlafperiode höher ist als am Ende (Kohlschütter 1862 „Festigkeit des Schlafes“). Dank der Erfindung des Elektroenzephalogramms (EEG) ist eine Untersuchung der Gehirnaktivität während des Schlafes möglich. Die betreffende Person muss nicht mehr gestört werden. Ein wesentliches Ergebnis dieser Schlafuntersuchungen war, dass Schlaf kein Zustand des Gehirns ist, sondern ein Prozess bei dem das Gehirn sehr aktiv ist. Einer der ersten systematischen Untersuchungen des Schlafes wurden von Aserinsky und Kleitmann geleistet. Die amerikanische Arbeitsgruppe machte sich vor allem um die Entdeckung des Rapid-Eye-Movement (REM)-Schlafes verdient und wurde durch Arbeiten von Dement und Kleitmann zur Abfolge des REM- und NREM-Schlafes weitergeführt. Das Schlaflabor mit seiner Elektroenzephalografie ist nach wie vor Goldstandard in der Schlafmedizin. Hier werden physiologische Parameter gemessen (Tab. 1), die für die Bestimmung der Schlafqualität notwendig sind. Ein stationäres Schlaflabor besteht aus einem separaten Ableiteraum mit

31

Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen

einem Bett und einer Überwachungseinheit. Die Signale werden verstärkt, gefiltert und in einen Computer eingelesen. Abb. 1 zeigt eine Seite einer Polysomnografie über 30 Sekunden. Man sieht ein langsam-welliges EEG überwiegend mit Delta-Aktivität, was typisch für den sog. Tiefschlaf ist. Für die Bestimmung einer schlafbezogenen Atmungsstörung werden auch die Sauerstoffsättigung und Atemparameter erfasst. Anhand der unterschiedlichen Grafoelemente im Schlaf werden die 30-Sekunden-Epochen Schlafstadien zugeordnet. Man unterscheidet neben dem Wachsein, den leichten Schlaf mit den Schlafstadien N1 und N2 und den tiefen Schlaf (N3). Der REM-Schlaf zeichnet sich als einziges Schlafstadium Tab. 1 Befundparameter in einem Schlaflabor Elektroenzephalogramm Elektrookulogramm

Elektromyogramm Atmung Sauerstoffsättigung Schnarchmikrofon Elektrokardiogramm

Bestimmung der Schlafstadien Aufzeichnung der Augenbewegungen, vor allem zur Bestimmung des REM-Schlafes Muskeltonus Bestimmung von Atempausen im Schlaf Bestimmung von Schnarchgeräuschen Herzfrequenz

363

durch rasche Augenbewegungen, die sakkadenartig auftreten, und durch einen sehr niedrigen Muskeltonus aus. Das Ergebnis einer Polysomnografie ist ein sog. Hypnogramm, eine grafische Darstellung des Schlafverlaufes (Abb. 2).

2.2

Schlafqualität

Im unten dargestellten Hypnogramm ist ein zyklischer Schlafablauf erkennbar, wodurch Aussagen über die Schlafqualität getroffen werden können. Zu Beginn zeigt sich mehr Tiefschlaf und am Ende vermehrt leichter Schlaf im Wechsel mit REM-Schlaf, wobei eine Zyklusdauer von ca. 60–90 Minuten als normal gilt. Eine Veränderung dieser Struktur (z. B. eine verkürzte REM-Latenz) kann auf das Bestehen einer anderen Schlafkrankheit z. B. der Narkolepsie hindeuten. Eine deutlich verzögerte REM-Latenz ist häufig bei Einnahme von Antidepressiva zu beobachten. Der Anteil der Schlafzeit an der insgesamt im Bett verbrachten Zeit wird als Schlafeffizienz bezeichnet. Wenn jemand nur 4 Stunden der 8 im Bett verbrachten Stunden schläft, beträgt die Schlafeffizienz 50 %. Je höher die Schlafeffizienz, desto besser wird der Schaf empfunden. Auch wenn die meisten gesunden Personen einen Schlafverlauf

Abb. 1 Eine 30-sekündige Epoche einer polysomnografischen Aufzeichnung mit Tiefschlaf (mit freundlicher Genehmigung von Dr. Geisler, Regensburg) (Crönlein et al. 2017)

364

T. Crönlein

Vorhersehung oder wie in der Psychoanalyse als Zugang zu verdrängten Konflikten. Das Problem der Traumforschung ist ein methodisches: Wir können Träume nicht messen, sondern nur erfragen.

W REM N1 N2 N3

23.00 Uhr

6.00 Uhr

Abb. 2 Normales Hypnogramm: schematische Darstellung der Abfolge von Schlafstadien eines gesunden Schlafes. W wach, REM Rapid Eye Movement, N1 Schlafstadium1, N2 Schlafstadium 2, N3 Tiefschlaf (Crönlein et al. 2017)

wie dargestellt zeigen, müssen Abweichungen nicht pathologisch sein. Für den gesunden Schlaf gibt es keine biologischen Normwerte mit einem Cut off für einen pathologischen Bereich. Die durchschnittliche Schlafdauer bei einem Erwachsenen beträgt ca. 7,5 Stunden, wobei ca. 20 Minuten zum Einschlafen benötigt werden (Danker-Hopfe et al. 2005). 5–10 Stunden Schlaf im Durchschnitt werden als normal angesehen. Wer im Schnitt mit weniger Schlaf auskommt und sich tagsüber fit fühlt, ist deswegen nicht abnormal oder krank. " Wesentlich für die Erholsamkeit des Schlafes ist die Schlafkontinuität. Das heißt, je weniger der Schlaf unterbrochen ist, desto besser kann sich das Gehirn erholen. Einige wenige Aufwachreaktionen sind vor allem um den REM-Schlaf herum normal. Lange Wachzeiten und sog. Arousals hingegen beeinträchtigen die Schlafqualität. Die Schlafeffizienz bemisst den Anteil des Schlafes an der im Bett verbrachten Zeit und sollte bei mindestens 85 % liegen.

Arousals sind ultrakurze Unterbrechungen des Schlafflusses, die nicht in ein Aufwachen einmünden müssen. Arousals sind in der Polysomnografie erkennbar. Sie können infolge von Atempausen, Beinbewegungen oder auch einfach Umgebungsfaktoren (Lärm) auftreten. Man nimmt an, dass Arousals die Erholsamkeit des Schlafes erheblich vermindern können, darum sollten bei vorhandener Tagesmüdigkeit etwaige organische Ursachen, die zu Arousals führen (z. B. periodische Beinbewegungen im Schlaf), auch behandelt werden.

2.3

Träume

Träume sind erlebte Visionen im Schlaf. Träume haben die Menschen schon immer inspiriert, galten als Zeichen der

Psychoanalyse Traum Für Freud waren Träume ein wesentlicher Zugang zur Bearbeitung unbewusster Konflikte. Er unterschied dabei zwischen dem latenten und dem manifesten Traum. Während der manifeste Traum sich in eher verworrenen Zeichen und Symbolen äußert, kann durch die sog. Traumdeutung der latente Traum erkannt werden. Im Wesentlichen zeigen sich im Traum Bedürfnisse, die so nicht gelebt werden können. Die Psyche bedient sich dabei Mitteln wie der sog. Verschiebung und Verdichtung, um die unbewussten Inhalte zu verschleiern. Diesen Vorgang nannte Freud Traumarbeit. Der Traum ist demnach sozusagen der Hüter des Schlafes, der ein zu hohes Erregungsniveau durch die unbewussten Bedürfnisse des Menschen im Schlaf und somit ein Aufwachen verhindert. Sind die Inhalte allerdings zu angstbesetzt, kann es zum Aufwachen, z. B. aus einem Albtraum, kommen. Träume treten vornehmlich im REM-Schlaf auf. Weckexperimente zeigen, dass hier plastisch geträumt wird, häufig mit dramatischen Inhalten. Allerdings werden Träume auch in leichten Schlafstadien berichtet. Es ist anzunehmen, dass auch im Tiefschlaf geträumt wird, da während des Schlafwandelns Handlungen stattfinden, die auf ein Traumerlebnis hindeuten. Beim sog. Pavor nocturnus, einer Störung die aus dem Tiefschlaf heraus auftritt, wachen die Personen mit einem lauten durchdringenden Schrei auf und zeigen deutliche Angstsymptome, die auf einen Albtraum deuten. Bei der REM-Schlaf-Behavior-Disorder werden Handlungen ausgeführt, die kohärent auf ein dramatisches psychisches Ereignis hindeuten. Betroffene berichten von teilweise dramatischen Träumen. Fallbeispiel (REM-Schlaf-Behavior-Disorder) Herr X zeigt nachts aus dem Schlaf heraus immer wieder motorische Äußerungen wie Schlagen oder Treten. Es ist schon vorgekommen, dass er seine Frau im Schlaf geschlagen habe. Er gab an, sich von Toten verfolgt gefühlt zu haben. Traumerleben ist auch bei der Narkolepsie häufig. Hier kann dissoziiertes Traumerleben in Form von hypnagogem oder hypnopompem Erleben auftreten. Die Patienten erleben beim Einschlafen oder beim Aufwachen Wahrnehmungen, die Pseudohalluzinationen ähnlich sind (z. B. Personen, die neben dem Bett stehen). Zum Traumerleben gibt es zwei unterschiedliche Positionen in der Schlafmedizin: Während die eine von einem psycho-kohärenten Erleben (Erlebtes am Tage oder der Vergangenheit) im Schlaf ausgeht, postulierte Hobson und McCarley, dass es sich bei Träumen lediglich um Zufallsbilder handelt, die durch die Erregungsmuster von Neuronen

31

Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen

im oberen Hirnstamm ausgehen (Hobson und McCarley 1977). Diese These konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Insbesondere beim luziden Träumen (auch Klarträume genannt), ist der Träumende gestalterisch im Traum tätig, was der Zufallsgenerierungshypothese widerspricht.

3

Schlafmedizin und die Klassifikation der Schlafstörungen

Die Schlafmedizin ist in Deutschland durch einen Dachverband, der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM), repräsentiert. Die DGSM akkreditiert Schlaflabore durch ein spezielles Prüfverfahren, um den Qualitätsstandard dieser Schlaflabore zu gewährleisten. Mittlerweile kann der staatlich anerkannte Schlafmediziner erworben werden, der von der DGSM anerkannte Titel heißt „Somnologe“ und die ihr eigene Fachzeitschrift „Somnologie“. Da die Arbeit in einem Schlaflabor und die Diagnostik und Behandlung von Schlafstörungen spezialisiertes Fachwissen voraussetzen, von der Applikation der Elektroden bis hin zum Wissen über die nasale Überdruckbeatmung, ist die Akkreditierung an ein Prüfverfahren gebunden. Schlafstörungen werden in der ICD-10 klassifiziert. Die sog. Internationale Klassifikation für Schlafstörungen ICSD (American Academy of Sleep Medicine 2005) liegt nun in dritter überarbeiteter Form vor. Sie ist ein Konsensuswerk über alle Schlafstörungen, deren diagnostische Kriterien und die Behandlung. Neben den ca. 310 anerkannten stationären Schlaflaboren gibt es auch zahlreiche niedergelassene Ärzte mit der Zusatzqualifikation Schlafmediziner überwiegend aus dem internistischen Bereich. Die DGSM bietet auch ein umfangreiches Kompendium der Schlafmedizin mit dezidierter Beschreibung aller relevanter Informationen (Schulz et al. 2017).

4

Schlafbezogene Atmungsstörungen

Die Prävalenz der schlafbezogenen Atmungsstörungen beträgt 2–4 % der Erwachsenen mittleren Alters (Mayer et al. 2009). Es lassen sich grob zentrale Apnoen, obstruktive Apnoen und Hypopnoen einteilen. Bei dem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom ist die Ursache in der Regel anatomisch mit einer Verengung der oberen Luftwege. Typische Befunde sind eine zu lange oder dicke Uvula, ein tief hängendes Gaumensegel oder hypertrophe Tonsillen. Übergewicht, Rückenlage im Schlaf und übermäßiger Alkoholkonsum sind zusätzliche Risikofaktoren. Lautes und unregelmäßiges Schnarchen ist meist als Vorstufe zu sehen. Schlafbezogene Atmungsstörungen sind mit Abfällen der arteriellen Sauerstoffsättigung und Blutsdruckschwankungen assoziiert. Unbehandelte schlaf-

365

bezogene Atmungsstörungen stellen ein erhöhtes Risiko für Schlaganfall und Herzinfarkt dar. Apnoen im Schlaf stellen nicht nur ein kardiovaskuläres Risiko dar, sie stören auch die Schlafkontinuität durch sog. Arousals. Die daraus resultierende Schlaffragmentation erklärt auch das Hauptsymptom, nämlich eine erhöhte Tagesmüdigkeit und eine Neigung zum Einschlafen in monotonen Situationen. Viele Patienten berichten, sich morgens müder als beim Zubettgehen zu fühlen und eine erhebliche Anlaufzeit zu brauchen. Symptome einer Schlafapnoe

• Gestörter bzw. nicht erholsamer Nachtschlaf, typischerweise bestehen Durchschlafstörungen • Tagesmüdigkeit und erhöhte Einschlafneigung, vor allem in monotonen Situationen (dadurch auch erhöhte Unfallgefahr) • Unregelmäßig lautes Schnarchen • Verschlechterung der Beschwerden nach Konsum von Alkohol oder Sedativa • Häufig Übergewicht Schlafbezogene Atmungsstörungen lassen sich anamnestisch gut diagnostizieren. Die typischen Symptome sind morgendliche Abgeschlagenheit, unregelmäßiges Schnarchen, gestörte Schlafqualität und erhöhte Tagesmüdigkeit. Nicht alle Patienten sind übergewichtig, allerdings ist die Mehrzahl der Patienten übergewichtig bis adipös. Polygrafen können ambulant eine grobe Einschätzung des Schweregrades geben. Sie geben Informationen über den Atemfluss, Schnarchereignisse und die Sauerstoffsättigung. Abb. 3 zeigt ein ausgeprägtes Schlafapnoe-Syndrom, gemessen mit einem ambulanten Polygrafen. Man sieht hier ein typisches Entsättigungsmuster, welches infolge gehäufter langer obstruktiver Apnoen auftreten kann. Eine Polysomnografie kann den exakten Apnoe-HypopnoeIndex messen und bietet vor allem den Vorteil, das Ausmaß der Schlaffragmentierung zu erfassen. Das bedeutet, hier kann gemessen werden, wie viele respiratorische Ereignisse mit Arousals assoziiert sind. Dies ist insbesondere bei niederschwelligen schlafbezogenen Atmungsstörungen mit Indizes bis zu 15/Stunde Schlaf von Bedeutung. Zur Behandlung der schlafbezogenen Atmungsstörungen stehen die kontinuierliche Überdruckbeatmung und operative Verfahren (Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde) zur Verfügung. In seltenen Fällen kann eine massive Gewichtsreduktion eine kontinuierliche Überdruckbeatmung (continous positive airway pressure; CPAP-Therapie) ersetzen. In den 1980er-Jahren stellte sich ein Patient mit einer schweren Schlafapnoe bei dem australischen Schlafforscher Sr. Sullivan vor. Die vorgeschlagene Tracheostomie wurde seitens der Familie des Patienten abgelehnt, so probierte er

366

T. Crönlein

Abb. 3 Screeningbefund eines ausgeprägten Schlafapnoe-Syndroms

seine eigene Forschungsarbeit an dem Patienten aus. Nach siebenstündiger Beatmung erwachte der Patient das erste Mal erholt seit Jahren wieder auf. Dies war die erste klinische Anwendung einer kontinuierlichen Überdruckbeatmung (CPAP). 1985 stellte die Firma Philips Respironics das erste CPAP-Gerät vor. " Bei ausgesprochener Tagesmüdigkeit und nicht erholsamem Schlaf sollte bei Patienten mittleren Alters auch in Richtung schlafbezogene Atmungsstörung untersucht werden. Weitere richtungsweisende Symptome sind hier Übergewicht und Schnarchen.

5

Motorische Störungen im Schlaf

5.1

Restless Legs Syndrom

Das Restless Legs Syndrom (auch Eckbom-Syndrom) ist hauptsächlich durch ein Unruhegefühl in den unteren Extremitäten gekennzeichnet (s. Übersicht RLS-Symptome). Dies tritt vornehmlich in den Abendstunden oder beim Zubettgehen auf. Die Dysästhesien können das Einschlafen erheblich erschweren oder den Schlaf stören.

RLS-Symptome

• Kribbeln, Ziehen oder schmerzhafte Empfindungen, einige Patienten beschreiben ein Gefühl wie „Ameisenlaufen“ • Die Missempfindungen werden durch Bewegungen spontan unterdrückt und treten dann bei Ruhe wieder auf • Massieren oder Kühlen kann Linderung schaffen • Auftreten an den Waden, Füßen, seltener an den Armen Die Prävalenz wird zwischen 5 und 10 % angegeben (Berger et al. 2004; Hogl et al. 2005). Neben einer genetischen Variante des RLS können die Beschwerden sekundär bei Urämie, Eisenmangelanämie und niedrigen Ferritinwerten sowie in der Schwangerschaft auftreten. Es gibt eine häufige Komorbidität mit Schlafapnoe-Syndromen und bei diversen neurologischen Erkrankungen. Problematisch ist ein pharmakogen induziertes RLS. Es kann bei klassischen Neuroleptika, bei Metoclopramid, tri- und tetrazyklischen Antidepressiva (wie z. B. dem Mirtazapin, welches häufig als schlafanstoßendes Mittel verschrieben wird), SerotoninWiederaufnahmehemmern und bei atypischen Neuroleptika beobachtet werden.

31

Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen

Das RLS verläuft – soweit es nicht sekundär bedingt ist – in der Regel progredient und kann von symptomenfreien Perioden unterbrochen sein. Für die Therapie stehen die dafür zugelassenen Substanzen wie Pramipexol und Levo-Dopa zur Verfügung. Problematisch bei der medikamentösen Therapie ist eine Augmentation unter der laufenden Medikation, die zu schwerst ausgeprägten RLS-Bildern führen kann (Mayer et al. 2009). Fallbeispiel Frau X kommt mit einem schwer ausgeprägten RLS in die Sprechstunde. Sie kann die Füße während des Gespräches nicht stillhalten und bewegt ununterbrochen die Beine, zieht die Füße an und streckt sie wieder aus. Manchmal steht sie auf und geht um den Stuhl herum. Sie ist kognitiv geordnet, die Stimmung ist gereizt verzweifelt. Sie berichtet, dass sie nicht mehr ruhig liegen oder sitzen kann, sie hat keine Möglichkeit mehr der Erholung, da die RLS-Beschwerden sie trotz der Einnahme von all den Medikamenten belasten. Differenzialdiagnostisch ist das RLS von einer Polyneuropathie und einer Akathisie (Sitzunruhe) abzugrenzen. Ein diagnostisches Merkmal ist der sog. L-Dopa-Test. Durch eine einmalige Gabe von 100 mg L-Dopa kann bei einem unbehandelten RLS innerhalb von 1–2 Stunden eine deutliche Minderung der Symptome beobachtet werden.

" Das RLS lässt sich nur beobachten und erfragen. Es gibt derzeit keine anderen diagnostischen Parameter wie z. B. Laborwerte oder neurologische Untersuchungszeichen.

5.2

Periodische Beinbewegungen im Schlaf

Eine motorische Störung, die häufig mit dem Restless Legs Syndrom assoziiert auftritt, sind periodische Beinbewegungen im Schlaf, auch periodic limb movement disorder (PLMD) genannt. Hierbei handelt es sich um Bewegungen der Beine oder nur der Füße (Dorsalflexion) mit einem Mindestabstand von 0,5–5 Sekunden (Coleman-Kriterien), welche periodisch auftreten. Diese Beinbewegungen können mit Arousals assoziiert sein und somit zu einer sog. Schlaffragmentation führen. PLMD sind den Patienten nicht bewusst, einige wenige berichten von einem zerwühlten Bett oder Bettnachbarn, die sich durch die Zuckungen gestört fühlen. Zur Diagnostik stehen neben dem Schlaflabor hochauflösende Bewegungsmesser, sog. Aktometer, zu Verfügung, mit denen das periodische Muster an Bewegungen im Schlaf gut abgebildet werden kann. Die Aktometer werden am Fußknöchel über Nacht getragen und können am nächsten Tag schon eine richtungsweisende Auswertung liefern.

367

Die Ursachen der periodischen Beinbewegungen sind weitgehend ungeklärt, man nimmt ein Ungleichgewicht im dopaminergen System an. Interessanterweise treten sie häufig bei schlafbezogenen Atmungsstörungen auf. Die Therapie der PLM deckt sich weitestgehend mit der des Restless Legs Syndroms, die Frage der Behandlungsrelevanz wird allerdings durchaus kontrovers diskutiert. Eine Therapie ist auf jeden Fall dann empfehlenswert, wenn durch die Schlaffragmentation eine Erholung des Schlafes beeinträchtigt ist.

6

Parasomnien

Parasomnie bezeichnet ein Phänomen, welches während („para“) des Schlafes auftritt. Zu den Parasomnien gehören klassischerweise das Schlafwandeln, aber auch noch andere motorische Störungen (Tab. 2). Parasomnische Störungen werden in REM-Schlaf- oder NREM-Schlaf-bezogen aufgeteilt. Allein die Frage, ob die Störung mehr am Anfang (wahrscheinlich NREM-Schlaf) oder am Ende (wahrscheinlich REM-Schlaf) auftritt, kann schon differenzialdiagnostische Hinweise geben. Während Schlafwandeln und Pavor nocturnus im Kindesalter relativ häufig sind, tritt die REMSchlaf-Behavior-Disorder überwiegend im frühen Senium bei Männern auf. Die sog. Schlafparalyse bezeichnet ein Aufwachen mit einer vollständigen Lähmung des gesamten Körpers außer der Atemmuskulatur. Dieser Zustand dauert in der Regel nur einige Sekunden, wird jedoch als sehr beängstigend erlebt. Sie tritt häufig bei der Narkolepsie auf, kann aber auch als singuläre Störung klassifiziert werden. Im Gegensatz zu anderen Schlafstörungen sind die therapeutischen Möglichkeiten bei den Parasomnien noch nicht ganz ausgereift. Beim Schlafwandeln steht vor allem der Sicherheitsaspekt im Vordergrund. Die REM-Schlaf-Behavior-Disorder wird mittlerweile als Prodromalsymptomatik für neurodegenerative Störungen (z. B. Parkinson) gesehen. Schlafwandeln ist bei Kindern häufig, kann aber auch bis in das Erwachsenenalter hinein persistieren. In allen Altersklassen kann Schlafwandeln gefährlich werden. Es kommt vor, dass Betroffene das Bett und sogar die Wohnung verlassen. Es kann sein, dass sie aus dem Fenster springen und ein geschlossenes Fenster im Schlaf öffnen. Auch wenn die meisten Schlafwandelformen eher harmlos sind, sollte die

Tab. 2 Parasomnische Störungsbilder REM-Schlaf REM-Behavior Disorder (Schenk Syndrom) Schlafparalyse

NREM-Schlaf Pavor nocturnus Schlafwandeln Bruxismus

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T. Crönlein

Umgebung gesichert werden. Das bedeutet, Fenster mit einem Schloss zu verschließen und Stolperfallen zu entfernen. " Die Umgebung muss bei Schlafwandeln gesichert werden!

Die Diagnose einer Narkolepsie wird im Schlaflabor gesichert. Hier kann mit Hilfe des sog. Mehrfach-Schlaf-LatenzTests tagsüber das Auftreten von REM-Schlaf nachgewiesen werden. " Definition Schlafmangelsyndrom Beim Schlafmangel-

7

Hypersomnien

Bei den hypersomnischen Syndromen liegt die Hauptbeschwerde in der eingeschränkten Tagesbefindlichkeit durch eine erhöhte Müdigkeit, die bis zum ungewollten Einschlafen gehen kann. Die Müdigkeit ist dabei nicht durch gestörten Nachtschlaf verursacht. Hypersomnische Patienten zeigen in der Regel unabhängig von der Dauer und der Qualität des Nachtschlafes eine pathologische Müdigkeit. Fallbeispiel Herr L. ist Student und stellt sich in der Schlafambulanz vor, weil er tagsüber immer wieder ungewollt einschläft. Er braucht morgens schon mehrere Wecker, um wach zu werden, und hat vor allem in den Vorlesungen extreme Probleme wachzubleiben. Die Müdigkeit ist völlig unabhängig von der Schlafdauer. Am Wochenende kann er bis zu 16 Stunden am Stück schlafen. Erhöhte Tagesschläfrigkeit, die nicht durch eine körperliche Schlafstörung, wie z. B. die Schlafapnoe oder durch eine andere Erkrankung bedingt ist, werden zu den Hypersomnien zentralen Ursprungs zusammengefasst. Hierzu zählen die idiopathische Hypersomnie, die Narkolepsien, aber auch das sog. Schlafmangelsyndrom (s. Definition). Der Narkolepsie liegt eine Dysregulation der Wach-, NREM- und REM-Abfolge zugrunde. Man nimmt eine Verminderung der Orexinkonzentration an. Orexin, auch Hypocretin genannt, wird im dorsolateralen Hypothalamus gebildet und ist u. a. für Aufmerksamkeit und Wachheit zuständig. Autopsiebefunde bei Narkolepsiepatienten haben eine Degeneration dieser Zellen ergeben. Bei 80 % der Narkolepsiepatienten mit Kataplexien ist Orexin im Liquor erniedrigt. Die Unfähigkeit, über einen längeren Zeitraum wach zu bleiben, ist auch das Hauptsymptom der Narkolepsie, verbunden mit sog. Kataplexien (einem einschießenden Muskeltonusverlust gebunden an einen emotionalen Trigger). Typischerweise beschreiben Narkolepsiepatienten auch einen gestörten Nachtschlaf. Hypersomnische Syndrome, vor allem die Narkolepsie, sind allerdings selten. Letztere hat eine Prävalenz von 0,026–0,036 % (Mayer et al. 2009). Für die Therapie der Narkolepsie stehen neben Amphetaminen das Modafinil zur Verfügung, ein Medikament, welches vor allem Müdigkeit unterdrückt. Zur Unterdrückung der Kataplexien können Antidepressiva gegeben werden. Neuere Studien zeigen, dass Natriumoxybat sowohl den gestörten Nachtschlaf bei Narkolepsie verbessern kann als auch die Tagesmüdigkeit und das Auftreten von Kataplexien.

syndrom ist die Müdigkeit durch chronischen Schlafmangel bedingt, der dem Betroffenen nicht bewusst ist. Die Schlafzeit ist im Verhältnis zum individuellen Schlafbedürfnis zu kurz. Die kurzen Schlafzeiten sind in der Regel äußeren Bedingungen geschuldet (wie z. B. Doppelbelastung durch mehrere Berufe).

8

Insomnie – Diagnostik und Behandlung

8.1

Symptomatik und Erklärungsmodell der Insomnie

Die Prävalenz von Insomnie wird in Deutschland mit 6 % angegeben (Schlack et al. 2013). Die Insomnie zeichnet sich durch anhaltende Ein- und Durchschlafstörungen mit beeinträchtigter Tagesbefindlichkeit ohne Nachweis einer organischen Ursache oder akuten psychischen Krise aus. Das zentrale Symptom ist dabei eine intensive Sorge um den eigenen Schlaf und die vermeintlichen Folgen der Schlafstörung. Fallbeispiel Frau T. berichtet seit Jahren unter gestörtem Schlaf zu leiden. Sie brauche teilweise Stunden zum Einschlafen und könne höchstens zwei Stunden am Stück durchschlafen. Sie wache immer vor dem Wecker um 6:00 Uhr auf. Tagsüber sei sie erschöpft und fühle sich in ihrem Beruf als Lehrerin zunehmend überfordert. Sie habe einfach keine Kraft mehr und habe schon eine richtige Angst vor dem Zubettgehen entwickelt. Eine Reduktion der Arbeitsstunden habe nur eine vorübergehende Besserung des Schlafes gebracht. Sie habe wegen der Schlafstörung bereits alles versucht, Heilpraktiker, homöopathische Methoden, Entspannungsverfahren und zwei oder drei Schlafmittel. Sie nehme nun immer wieder Zolpidem, habe aber Angst, abhängig zu werden. Die Ärzte könnten ihr auch nicht weiterhelfen, sie sei verzweifelt. Das Problematische an der Insomnie ist die Tendenz zur Chronifizierung trotz medikamentöser Behandlung. Zusätzlich leidet ein erheblicher Anteil von Personen, die Hypnotika einnehmen, unter insomnischen Beschwerden. Für Entstehung und Aufrechterhaltung der Insomnie wurden verschiedene Modelle entwickelt, die alle im Wesentlichen die Wechselwirkung zwischen den aufrechterhaltenden Faktoren wie dysfunktionales Verhalten, schlafbezogene Ängste bzw. Kognitionen und dem gestörten Schlafprozess beschreiben (Harvey 2002; Levenson et al. 2015; Perlis et al.

31

Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen

1997). Ein besonderes Moment der Insomnie ist die Fixierung auf den Einschlafprozess, die für sich schon eine schlafinkompatible Bedingung darstellt und von Espie als IntentionAttention-Effort-Pathway beschrieben wurde (Espie et al. 2006). Die Insomnie wird durch schlafbezogene Ängste und dysfunktionale Verhaltensweisen aufrechterhalten. Krisen fungieren oft als Auslöser, auch wenn viele Patienten sie als Ursachen ansehen. In dem sog. 3-P-Modell von Spielman wird zwischen prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren unterschieden. Hier wird von einer Vulnerabilität für die Entwicklung von Schlafstörungen ausgegangen (Spielman et al. 1987). Ein wesentliches Merkmal der Insomnie ist das sog. Hyperarousal (Bonnet und Arand 2010). Das Hyperarousal beschreibt ein erhöhtes Spannungsniveau sowohl auf physiologischer als auch psychischer Ebene. Studien haben gezeigt, dass Insomniepatienten trotz ihres objektiv schlechten Schlafes im Gegensatz zu Gesunden keine Schlafkompensation am Tage im Sinne einer erhöhten Einschlafneigung zeigen. Während Gesunde nach Schlafdeprivation schneller am Tage einschlafen, tun Insomniepatienten dies nicht. Insomniebetroffene zeigen auch Veränderungen in den Stressparametern wie z. B. dem Cortisol (Backhaus et al. 2004). Bis dato ist allerdings nicht geklärt, ob es sich hier um eine Folge des Teufelskreises Insomnie oder um eine Ursache handelt.

8.2

Medikamentöse Behandlung der Insomnie

Als Hypnotika stehen vor allem Benzodiazepin-RezeptorAgonisten und Benzodiazepine zur Verfügung, off label werden zunehmend auch andere Substanzen verschrieben (Mendelson et al. 2004). Benzodiazepine galten lange wegen ihrer sedierenden Wirkung als klassische Schlafmittel. Sie werden in lang-, mittel- und kurzwirksam eingeteilt und vorwiegend bei älteren Patienten gegeben. Benzodiazepine haben neben dem sedierenden Effekt auch einen anxiolytischen Effekt und können zu einer Langzeiteinnahme in niedriger Dosierung führen. Für den Kurzzeitgebrauch bei der Insomnie sind Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten wie das Zolpidem und das Zopiclon zugelassen. Das Zaleplon ist in Deutschland nicht mehr zugelassen. Laut Leitlinie sollte die Einnahme auf 4 Wochen begrenzt werden (Riemann et al. 2017). Es gibt allerdings auch Studien, die zeigen, dass auch eine prolongierte Einnahme bis zu 6 Monaten nicht zu Absetzeffekten führt (Perlis et al. 2008). Eine generelle Empfehlung zur Langzeitbehandlung mit Zolpidem und Zopiclon kann derzeit leitliniengemäß nicht gegeben werden. Viele Patienten sind allerdings auf eine längere Einnahme von Schlafmitteln angewiesen. Deshalb werden häufig Antidepressiva mit einem sedierenden Effekt verschrieben. Das Doxepin ist für die Behandlung der Insomnie

369 Tab. 3 Zugelassene Substanzen zur Behandlung der Insomnie

Wirkstoff Zopiclon Zolpidem

Empfohlene Dosierung [in mg] 3,75–7,5 5–10

Flunitrazepam Flurazepam Lormetazepam Nitrazepam Temazepam Triazolam Doxepin

0,5–1 15–30 0,5–1 5–10 10–20 0,125–0,25 3–100

Diphenhydramin Doxylamin

25–50 25–50

Beschreibung Benzodiazepin-RezeptorAgonisten zur Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen Benzodiazepine zur Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen

Antidepressivum mit Zulassung bei isolierter Schlafstörung Freiverkäufliche Antihistaminika

Quelle: S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen (Riemann et al. 2017)

zugelassen (Tab. 3). Nach den Leitlinien S3 kann für das Melatonin, für Antipsychotika, für Phytopharmaka und für sedierende Antidepressiva aufgrund der Datenlage derzeit keine Empfehlung ausgesprochen werden. Fallbeispiel Frau H. stellt sich in der Schlafambulanz vor. Sie nehme seit 10 Jahren eine Tablette Zopiclon am Abend und könne damit ca. 6 Stunden schlafen. Sie habe nun ihren Hausarzt gewechselt und der neue Arzt möchte sie in eine Entzugsklinik einweisen. Sie fühle sich aber nicht abhängig und suche nun schlafmedizinische Hilfe. Die Frage, ob eine Langzeiteinnahme eines Hypnotikums als Abhängigkeit zu werten ist, ist nicht selten. Viele Patienten sind dadurch verunsichert, da sie in der Regel sonst keinerlei Suchtverhalten zeigen und im Gegenteil eher ein hohes Gesundheitsbewusstsein haben. Die als Fallbeispiel vorgestellte Frau H. ist Nichtraucherin, trinkt selten Alkohol, ernährt sich vegan und treibt viel Sport, vor allem Yoga. Auch wenn es Fälle von Schlafmittelabhängigkeiten im klassischen Sinne mit erheblicher Dosissteigerung gibt, können die Langzeitkonsumenten von Hypnotika in Niedrigdosierung nicht als suchtkrank bezeichnet werden, da in der Regel kein Craving und keine Dosissteigerung bestehen. Im Gegenteil, Insomniepatienten stehen einer langfristigen Schlafmitteleinnahme eher misstrauisch und ablehnend gegenüber und nehmen die Mittel aus Mangel an einer effektiven Alternative. " Die Gabe von Schlafmitteln ist vor allem bei akuten Insomnien oder bei Insomnien bei psychiatrischer Komorbidität indiziert. Die Schlafmittelgabe ist auch dann indiziert, wenn aufgrund äußerer Umstände keine verhaltensthera-

370

T. Crönlein

peutischen Maßnahmen durchgeführt werden können. Man sollte die Gabe eines Hypnotikums jedoch auf jeden Fall zeitlich begrenzen und den Patienten darüber aufklären, dass es alternative Behandlungsmöglichkeiten gibt. Bei chronischer Insomnie sollte eine verhaltenstherapeutische Behandlung initiiert werden.

8.3

Kognitive Verhaltenstherapie der Insomnie

Im Gegensatz zu Hypnotika ist die Verhaltenstherapie eine ganzheitliche therapeutische Herangehensweise (Belanger et al. 2006). Es geht nicht primär darum, den Schlaf zu verbessern, sondern die aufrechterhaltenden Bedingungen für die Schlafstörung zu beseitigen. Dazu gehören in erster Linie dysfunktionales Denken (Edinger et al. 2001) und auch schlafstörende Verhaltensweisen. Metaanalysen zeigen, dass die Insomnie-spezifische Verhaltenstherapie (kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie, KVT-I) und Hypnotika vergleichbare Effekte zeigen (Riemann und Perlis 2009), wobei sie vor allem nachhaltiger wirkt (Backhaus et al. 2001). Auch 6 Monate nach Beendigung der Therapie konnten Patienten deutlich besser schlafen und auf die Einnahme von Hypnotika verzichten (Crönlein et al. 2014; Backhaus et al. 2001). Die KVT-I nutzt chronobiologische Gesetzmäßigkeiten des sog. Schlafdrucks nach dem Zwei-Prozess-Modell (Borbely und Achermann 1999). Nach diesem Modell bestimmt sich die Schlafqualität vor allem durch die Dauer der Wachzeit, die der Schlafperiode vorangeht. Durch eine Reduktion der Bettzeiten (in der Regel 5–6 Stunden) mit einem festen Aufstehzeitpunkt wird der Körper chronobiologisch wieder neu kalibriert. Weitere zentrale Pfeiler der KVT-I sind Entspannungsverfahren und vor allem die Psychoedukation. Da die Insomnie durch dysfunktionale Kognitionen aufrechterhalten wird, kommt der Korrektur derselben eine besondere Bedeutung zu (Morin et al. 2002). Schlafhygienische Maßnahmen können als allgemeiner Maßnahmenkatalog verstanden werden, der eine schlaffördernde und präventive Funktion haben kann. Schlafhygienische Empfehlungen

• Vermeiden Sie nachts auf die Uhr zu schauen. • Sorgen Sie für ausgeglichene Aktivität am Tage. • Sorgen Sie für ausreichend entspannte Momente am Tage. • Vermeiden Sie Stress unmittelbar vor dem Zubettgehen. • Vermeiden Sie Nickerchen vor der eigentlichen Nachtschlafperiode.

Die Verhaltenstherapie für Insomnie wird in der Regel in gruppentherapeutischen Sitzungen mit ca. 6–8 Einheiten angeboten, wobei sich ein gruppentherapeutisches Setting bewährt hat. Für die besonders schwer ausgeprägte Insomnie mit einer Therapieresistenz gegenüber ambulanter Behandlungsmethoden hat sich eine stationäre Therapieform bewährt (Crönlein et al. 2014).

9

Diagnostische Methoden der Schlafmedizin

Viele schlafmedizinische Krankheitsbilder lassen sich anamnestisch gut diagnostizieren. Abb. 4 zeigt einen Befragungsalgorithmus. Wenn ein gestörter Nachtschlaf oder eine erhöhte Tagesmüdigkeit vorliegen, sollten die wichtigsten schlafmedizinischen Krankheitsbilder abgefragt werden. Das routinemäßige Abfragen dieser möglichen Störungsbilder ist wichtig, da insbesondere schlafbezogene Atmungsstörungen oder Restless Legs Syndrome unterdiagnostiziert werden (Jacobs et al. 1988). Bei der Anamnese selber sollte neben dem gestörten Schlaf auch nach den Bettzeiten, der morgendlichen Befindlichkeit, der Art der Tagesbeeinträchtigung und Tagesschlaf gefragt werden. Vermehrte kurze Tagschlafepisoden können die Qualität des Nachtschlafes beeinträchtigen, was vor allem bei älteren und bei bettlägerigen Patienten ein Problem darstellen kann. Wie in Abschn. 2.1 beschrieben, ist die Polysomnografie die umfangreichste, aber auch die genaueste Methode, Informationen über den aktuellen Schlaf zu erhalten. Sie erlaubt nicht nur, sich ein Bild der Schlafqualität zu machen, sondern auch Informationen über körperliche Störungen wie z. B. schlafbezogene Atmungsstörungen oder motorische Störungen im Schlaf. Sie ist allerdings sehr aufwendig und oft mit langen Wartezeiten verknüpft. Je nach Fragestellung bietet die Schlafmedizin noch weniger komplexe diagnostische Methoden. Die einfachste dieser Art sind Fragebögen, die je nach Verdachtsdiagnose schon differenzialdiagnostischen Aufschluss geben können. Tab. 4 zeigt eine Auswahl an Fragebögen.

9.1

Schlafprotokolle

Eine relativ unkomplizierte Art der Schlafmessung ist das sog. Schlafprotokoll. Hier dokumentiert der Patient täglich seine Schlaf- und Bettzeiten. Schlafprotokolle sind vor allem bei Abweichungen vom 24-Stunden-Rhythmus und bei der Insomnie im Einsatz. Insbesondere in der Verhaltenstherapie sind sie eine wirksame Methode, mit dem Patienten an seinem Schlafverhalten zu arbeiten. Abb. 5 zeigt ein beispielhaftes Schlafprotokoll. Die dunklen Balken indizieren Schlaf

31

Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen

Abb. 4 Anamneseschema (Crönlein et al. 2017)

371

Gestörter Schlaf

Übergewicht oder Alter >50 Jahre oder Schnarchen

V. a. Schlafapnoesyndrom

Abendliche Unruhegefühle in den Beinen und Besserung durch Bewegung?

V. a. Restless-legsSyndrom

Vermehrte Besorgnis wegen der Schlafstörung oder nächtliches Grübeln? Lange Einschlafzeit?

Albträume? Hochschrecken aus dem Schlaf mit Angst? Bewegungen aus dem Schlaf heraus?

V. a. Insomnie

V. a. Parasomnie

Aggressive Handlungen aus dem Schlaf heraus?

Erhebliche Tagesmüdigkeit? Erhöhte Einschlafneigung oder Kataplexien?

Nein

Tab. 4 Fragebögen in der Schlafmedizin Insomnie

Restless Legs Syndrom

Zirkadiane Störung Tagesschläfrigkeit

Schlafqualität

Insomnia Severity Scale (ISI) (Bastien et al. 2001) Regensburger Insomnie Skala (RIS) (Crönlein et al. 2013) Johns Hopkins Restless Legs Severity Scale (JHRLSS) (Allen und Earley 2001) Rating Scale der International RLS Study Group (IRLSSG) (International Restless Legs Syndrome Study Group 2003) Morningness-Eveningness-Questionnaires (DMEQ; Griefahn et al. 2001) Epworth Sleepiness Scale (ESS) (Johns 1991) Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS) (Fronhofen et al. 2010) Karolinska Schläfrigkeits-Skala (KSS) (Akerstedt et al. 1994) Pittsburgh Sleep Quality Index (PSQI) (Buysse et al. 1989)

und man sieht hier deutlich, dass der Patient Ein- und Durchschlafstörungen hat und viel zu lange Bettzeiten. Weitere Schlafprotokolle sind auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin herunterladbar (http://www.dgsm.de. Zugegriffen am 04.06.2018).

Erhebliche Tagesmüdigkeit? Erhöhte Einschlafneigung? Unabhängig von der Schlaflänge?

V. a. Narkolepsie

V. a. Hypersomnie

Wann schicke ich jemanden in ein Schlaflabor? Schlaflabore sind zwar überwiegend in pulmologischen Kliniken angesiedelt, die schlafbezogene Atmungsstörung stellt allerdings nicht die einzige Indikation dar. Eine Untersuchung im Schlaflabor ist vor allem bei ausgeprägter Tagesmüdigkeit bzw. -schläfrigkeit indiziert, bei Verdacht auf Parasomnien und nächtlichen epileptischen Anfällen. Aber auch bei einer therapieresistenten Insomnie kann eine polysomnografische Untersuchung weiterführende diagnostische Informationen liefern.

10

Prävention in der Schlafmedizin

Schlafstörungen können ein harmloses und vorrübergehendes Phänomen sein, sollten bei längerer Dauer (über einen Monat) jedoch ernst genommen werden, da sie Ausdruck einer Erkrankung sein können. Wegweisend hier sind vor allem die Beeinträchtigung am Tage durch den gestörten Schlaf in Form von Tagesmüdigkeit oder erhöhter Einschlafneigung und der persönliche Leidensdruck, der durch die Unfähigkeit zum erholsamen Schlafen ausgelöst wird. Je nach Art der bestehenden Symptomatik sollten weitere diffe-

372

T. Crönlein

Abb. 5 Schlafprotokoll

renzialdiagnostische Maßnahmen ergriffen (Abschn. 9) bzw. schlafhygienische Empfehlungen umgesetzt werden (Abschn. 8.3). Als präventive Maßnahmen können folgende Verhaltensweisen gesehen werden: Präventive Maßnahmen für ungestörten Schlaf

1. Vermeidung langer Liegezeiten am Tage zur Erhaltung eines ausreichend hohen Schlafdrucks nachts 2. Regelmäßige Phasen der Entspannung am Tage zur Vermeidung eines kumulativen Stressniveaus 3. Vermeidung zu langer Bettzeiten. Die Bettzeit sollte sich grob an die Schlafdauer anpassen 4. Vermeidung vorschneller Gabe von Hypnotika 5. Ausreichende Tagesstruktur zur Vermeidung einer psychischen und körperlichen Unterstimulation Patienten mit Schlafstörungen sollten vor allem ernst genommen werden. Im Falle einer Bagatellisierung kann es sein, dass alternative Informations- und Behandlungsquellen

aufgesucht werden (z. B. Foren im Internet), die im ungünstigen Fall zu einer Verschlechterung der Symptomatik führen können. Da Patienten mit einer Insomnie lange funktionsfähig sein können, ohne dass sie ursachenspezifisch behandelt werden, besteht immer die Gefahr einer Chronifizierung. Daher ist eine frühzeitige Diagnostik auch bei Insomnie indiziert.

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31

Schlafstörungen – Diagnostische und präventive Maßnahmen

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Teil VI Gesundheitsförderung und Prävention

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen

32

Monika Rausch

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

2 2.1 2.2 2.3

Krankheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsexplikationen von Krankheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relation zwischen Krankheit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implikationen für gesundheitsbezogene Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

378 378 379 379

3 3.1 3.2 3.3

Interventionen zugunsten von Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis von Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

380 380 381 382

4 4.1 4.2 4.3

Akteure und gesetzliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Gesundheitsförderung in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383 383 384 385

5

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

1

Einleitung

Das veränderte Krankheitsspektrum mit einer Zunahme chronischer Erkrankungen und Erkenntnisse zu sozialen, ökologischen und kulturellen Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit verweisen auf die Grenzen eines kurativ ausgerichteten Gesundheitssystems. Für einen möglichst guten Gesundheitszustand der Bevölkerung werden neben Kuration, Rehabilitation und Pflege auch Prävention und Gesundheitsförderung benötigt. Letztere sind darauf ausgerichtet, die Verbreitung chronischer Erkrankungen langfristig zu reduzieren und die Morbidität am Ende der Lebensspanne zu komprimieren (Hurrelmann et al. 2016b). Die Notwendigkeit von Prävention und Gesundheitsförderung in einer leistungsfähigen Gesundheitsversorgung ist unbestritten.

Gesundheitsberufe sind mit unterschiedlichen Aufgaben in der Gesundheitsversorgung betraut. Vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen sowohl der unterschiedlichen Gesundheitsberufe als auch von Prävention und Gesundheitsförderung geht es im vorliegenden Kapitel um Verständnis und Praxis von Prävention und Gesundheitsförderung in ausgewählten Gesundheitsberufen. Wenn Prävention und Gesundheitsförderung als Interventionen charakterisiert werden, dann sind Gesundheitsberufe als Akteure zu betrachten, die diese Interventionen professionell und öffentlich autorisiert durchführen (Hurrelmann et al. 2014), mit dem Ziel, gesundheitliche Zustände zu erhalten bzw. zu verbessern. Daraus ergibt sich für dieses Kapitel eine Dreiteilung entlang der Leitfragen: Was sind das für Zustände, auf die präventive und gesundheitsförderliche Interventionen gerichtet sind? Wie sind die darauf gerichteten Interventionen zu charakterisieren? Welche Akteure intervenieren mit welchem Verständnis von Intervention und Zielbereich?

M. Rausch (*) Kath. Klinikum, Koblenz Montabaur, Deutschland E-Mail: monika@rausch-homeoffice.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_35

377

378

2

M. Rausch

Krankheit und Gesundheit

Umgangssprachlich sind Krankheit und Gesundheit Oppositionsbegriffe. In fachsprachlichen Definitionen sind aber Bedeutungsdimensionen zu finden, die mit einer einfachen Antonymie nicht zu vereinbaren sind. Deshalb geht es zunächst um Definitionen der einzelnen Begriffe, ehe das Verhältnis zueinander betrachtet wird.

2.1

Begriffsexplikationen von Krankheit und Gesundheit

Ein naturalistisches Verständnis bestimmt Krankheit als Störung von Lebensvorgängen in Organen oder im gesamten Organismus, die objektiv feststellbare körperliche, geistige oder seelische Veränderungen zur Folge haben und subjektiv wahrgenommen werden (Stellpflug und Kramer 2017). Das vorhandene medizinische Wissen über die veränderten Lebensvorgänge und deren Verläufe erlaubt die Prognose, inwieweit eine körperliche Veränderung nicht bloß vorübergehend ist, sondern der Behandlung bedarf. Behandlungsbedürftigkeit ist daher ein weiteres wesentliches Charakteristikum von Krankheit (Franzkowiak 2015a). Wegen der Beeinträchtigung des Wohlbefindens gehört der Bedarf an mitmenschlicher Zuwendung ebenso zu Krankheit wie auch gesellschaftliche Maßnahmen, die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung ausgleichen (etwa Krankschreibung oder Krankengeld) (Franke 2012). In dieser bio-organischen Perspektive, die auf physische, psychische und psychosomatische Krankheiten angewendet werden kann, wurden in der Entwicklungsgeschichte der modernen, wissenschaftlichen Medizin umfangreiche Wissensbestände über körperliche Strukturen und Funktionen erarbeitet, die in einem nosologischen System geordnet wurden. Naturwissenschaftlich geprägte Medizin geht von einem Kausalgefüge aus, in dem spezifische Ursachen unter bestimmten Bedingungen vorhersagbar zu gesetzmäßig bestimmten Abläufen führen, auch wenn in diesem Kausalgefüge noch nicht alle Einflussfaktoren bekannt sind. Das experimentell gesicherte organisch-funktionelle und pathophysiologische Wissen wird heute ergänzt durch epidemiologisches Wissen über Risikofaktoren. Kausales Denken bestimmt dabei die Interventionen, die Ursachen beseitigen oder beteiligte Risikofaktoren reduzieren sollen, soweit das möglich ist. Für die Mehrheit der chronischen, multifaktoriell und verhaltensbedingten Krankheiten gerät das bio-organische Modell an seine Grenzen und auch psychische Störungen können darin nur in einer einseitig medizinisch-organischen Perspektive betrachtet werden. Auch kann ein naturwissenschaftlich-somatisches Verständnis von Krankheit gesundheitliche Ungleichheit, d. h. den Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesund-

heit nicht erklären und auch nicht Zusammenhänge zwischen Verhalten, Lebensstil und Gesellschaft. Dazu bedarf es sowohl einer ergänzenden sozialwissenschaftlichen Perspektive, die den Einfluss gesellschaftlicher Bedingungen auf Gesundheit und Krankheit fokussiert (Franke 2012) als auch einer Integration von Theorien (Hurrelmann und Richter 2013). Entstehung und Verlauf vor allem chronischer Krankheiten werden nicht nur durch personale Faktoren wie genetische, körperliche und psychische Dispositionen, sondern auch durch behaviorale, soziokulturelle und ökologische Faktoren beeinflusst. Gesellschaftliche Verhältnisse und Verhalten bieten neben der biologischen Ausstattung von Personen weitere Ansatzpunkte für gesundheitsbezogene Interventionen. Auf der Suche nach einer Definition von Gesundheit finden sich in der Literatur vielfach Hinweise auf die Komplexität des Konstrukts, die mit unterschiedlichen Kategorisierungen für die Dimensionen (Franke 2012), Determinanten (Richter und Hurrelmann 2015) oder Kernvorstellungen von Gesundheit (Hurrelmann und Franzkowiak 2015) verbunden werden. Dabei spielen disziplinäre Sichtweisen und theoretische Paradigmen eine Rolle, so dass Gesundheit in einer bio-medizinischen Perspektive durch die Abgrenzung von Krankheit bestimmt werden kann, in einer soziologischen Perspektive als Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung, in einer gesundheitspsychologischen Perspektive als persönliche Stärke, Lebensstil oder auch als Wohlbefinden oder in einer salutogenetischen Perspektive als Gleichgewicht zwischen Gefährdungen und Abwehr oder als flexible Anpassung an Herausforderungen und Belastungen. Die unterschiedlichen Perspektiven verweisen auf die Multidimensionalität von Gesundheit, die durch körperliche, geistig-seelische und sozio-kulturelle Faktoren bestimmt wird. Umweltbedingungen und Transzendenz wurden inzwischen als ökologische und spirituelle Dimensionen von Gesundheit hinzugefügt (Hurrelmann und Franzkowiak 2015). Außerdem ist Gesundheit dynamisch und relativ. Sie ist demnach kein Zustand, sondern ein Stadium. Relativität von Gesundheit meint, dass es eine Bandbreite kontinuierlich unterschiedlicher Ausprägungen von Gesundheit gibt und nicht bloß Vorhandensein oder Abwesenheit von Gesundheit. Wie sehr die bio-organische Dimension, die den Kern der Definition von Krankheit bildet, in einer so vielschichtigen Bestimmung von Gesundheit zurücktritt (ohne völlig aufgegeben zu werden), zeigt sich in der Definition von Gesundheit, die Hurrelmann aus einer Synopse von Grundvorstellungen zentraler wissenschaftlicher Theorien abgeleitet hat (Hurrelmann und Franzkowiak 2015): „Gesundheit ist das Stadium des Gleichgewichts von Risikofaktoren und Schutzfaktoren, das eintritt, wenn einem Menschen eine Bewältigung sowohl der inneren (körperlichen und psychischen) als auch äußeren (sozialen und materiellen) Anforderungen gelingt. Gesundheit ist ein Stadium, das einem Menschen

32

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen

Wohlbefinden und Lebensfreude vermittelt.“ (Hurrelmann und Richter 2013, S. 147). Die Blickrichtung auf Wohlbefinden und damit auf die subjektive Wahrnehmung gehört zu den zentralen Bestimmungsstücken in der Definition von Gesundheit, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1946 in die Präambel ihrer Verfassung aufgenommen hat. Gesundheit ist darin bestimmt als ein Zustand des vollständigen bzw. umfassenden (Hurrelmann und Franzkowiak 2015) physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen (WHO 1946).

2.2

379

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Gesundheit der allgemeinere Begriff, der Krankheit miteinschließt. In den Gesundheitswissenschaften findet sich diese Relation der Begriffe, wenn für die Begriffsdefinition von „Gesundheitswissenschaften“ (etwa in Hurrelmann et al. 2016a) Gesundheit übergeordnet in die Bezeichnung der Disziplin gesetzt wird, deren Gegenstandsbereich die Analyse von Determinanten und Verläufen von Gesundheits- und Krankheitsprozessen ist. Auch wenn im Folgenden vom Gesundheitszustand oder Gesundheitsstatus von Individuen oder der Bevölkerung gesprochen wird, ist damit die Ausprägung eines dynamischen, relativen, mehrdimensionalen Gesundheits-Krankheits-Stadiums gemeint, das im Sinne eines orthogonalen Konzepts sowohl Anteile relativer Gesundheit als auch relativer Krankheit umfasst.

Relation zwischen Krankheit und Gesundheit 2.3

Das bisher Gesagte zeigt, dass ein dichotomes Verhältnis zwischen Gesundheit und Krankheit der Komplexität der Vorstellungen nicht gerecht wird. Die Aussage, ein Mensch sei entweder gesund oder krank, ist lediglich mit dem normativen Verständnis einer mechanistisch-naturalistischen Sichtweise vereinbar. Diese wird durch die Entscheidungsnotwendigkeit in der Versorgung begünstigt und gefordert. Denn in der Gesundheitsversorgung müssen Normen festgelegt sein, die eine Entscheidung über Behandlungsbedürftigkeit (ja oder nein) und damit verbundene heilkundliche und versorgungsrechtliche Folgen (Operation ja oder nein, Leistungspflicht der Krankenkasse ja oder nein) möglichst eindeutig ermöglichen. Nimmt man ein Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit an, ist das Verhältnis bipolar. Gesundheit und Krankheit sind danach Pole eines Kontinuums, auf dem der gesundheitliche Zustand bestimmt werden kann. Auch bei einer mehrdimensionalen Modellierung von Gesundheit und Krankheit wie etwa dem biopsychosozialen Modell kann ein Kontinuum angenommen werden. Auf jeder der Dimensionen eines solchen Modells ist ein „mehr oder weniger“ möglich, mit der ein individueller gesundheitlicher Zustand beschrieben werden kann. In einem orthogonalen Konzept der Relation zwischen Gesundheit und Krankheit schließlich bedeutet ein „Mehr an Krankheit“ nicht automatisch ein „Weniger an Gesundheit“. Ein Mensch kann sowohl krank als auch gesund sein. Damit gut vereinbar sind Vorstellungen um die subjektive und objektive Bestimmung des gesundheitlichen Zustands (Franke 2012). Im Extremfall kann jemand nach objektiven Kriterien krank sein, sich aber subjektiv gesund fühlen oder auch umgekehrt sich subjektiv krank fühlen, aber nach objektiven Maßstäben gesund sein. Diese Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung können für jede Dimension von Gesundheit und Krankheit (körperlich-psychisch-sozial) unterschiedlich sein (Hurrelmann und Richter 2013).

Implikationen für gesundheitsbezogene Interventionen

Ausgangsbedingungen und Entwicklungsverläufe von körperlichen, seelischen und sozialen Gesundheits- und Krankheitsdynamiken (Hurrelmann et al. 2016b) und die zugehörigen empirischen Befunde einschließlich der Daten zur gesundheitlichen Ungleichheit können durch unterschiedliche Modelle beschrieben und erklärt werden. Hurrelmann und Richter (2013) erläutern das Salutogenesemodell nach Antonovsky (1979, 1997) und das Sozialisationsmodell von Hurrelmann (2012) als Beispiele für Modelle, die unterschiedliche Theorieansätze integrieren. Übersichten über verschiedene Gesundheits- und Krankheitsmodelle finden sich etwa bei Franke (2012) oder Klemperer (2015). Aus solchen Modellen sind dann gesundheitsbezogene Interventionen insgesamt und Ansatzpunkte, Ziele und Zielgruppen für Prävention und Gesundheitsförderung begründet abzuleiten. In Darstellungen der Gesundheitswissenschaften finden sich auch Verweise auf die Bezugssysteme, in denen Krankheit und Gesundheit analysiert werden (Schwartz et al. 2012). Im Bezugssystem der Medizin und anderer Professionen geht es um Krankheit und Gesundheit, die mit Hilfe von objektivierbaren Normen für physiologische Strukturen und Funktionen bestimmt werden. Dieses Bezugssystem orientiert sich schwerpunktmäßig an Individuen. Im Bezugssystem der betroffenen Person steht dagegen die subjektive Wahrnehmung von gesund und krank im Mittelpunkt. Im Bezugssystem der Gesellschaft werden Gesundheit und Krankheit im Bevölkerungsmaßstab und in ihren Bezügen zur Gesellschaft analysiert, dazu gehört auch die Analyse der für Gesundheit zuständigen gesellschaftlichen Strukturen. Prävention und Gesundheitsförderung können in diesen Bezugssystemen analysiert und realisiert werden. Für die Gesundheitsberufe ist es deshalb notwendig, das jeweilige Bezugssystem für eigene präventive und gesundheitsförderliche Interventionen zu reflektieren. Auch die Unterschei-

380

M. Rausch

dung von Individuumsbezug und Bevölkerungsbezug ist für die späteren Ausführungen zu Prävention und Gesundheitsförderung wichtig. Wenn es im weiteren Text um Prävention und Gesundheitsförderung im Bevölkerungsmaßstab geht, wird von Strategien gesprochen, im Individuumsbezug von Maßnahmen. Abschließend sei darauf verwiesen, dass in den westlichen Gesundheitssystemen das Verständnis von Krankheit historisch, kulturell und gesellschaftlich anders entwickelt wurde als das Verständnis von Gesundheit. Damit zusammenhängend finden sich auch Unterschiede in der Begriffs- und Strategieentwicklung in Prävention und Gesundheitsförderung. Auch wenn integrative Erklärungsmodelle die Entstehungs- und Verlaufsdynamiken sowohl von Krankheit als auch von Gesundheit fokussieren und personale, bio-psychische Faktoren ebenso berücksichtigen wie behaviorale, soziale und ökologische Einflüsse, scheinen historisch früher entwickelte Vorstellungen wie das bio-organische Erklärungsmodell von Krankheit weiterhin wirksam, wenn nicht sogar dominant (Franzkowiak 2015a; Hurrelmann und Richter 2013). Dies ist für die Betrachtung der Handlungslogiken im folgenden Abschnitt ebenso wichtig wie die integrative Theoriebildung als Grundlage von Prävention und Gesundheitsförderung und die Unterscheidung von Individualgesundheit und Bevölkerungsgesundheit.

3

Interventionen zugunsten von Gesundheit

Ausgehend von interdisziplinär anschlussfähigen, mehrdimensionalen und möglichst integrativen Theorien und Modellen zur Erklärung von Gesundheits- und Krankheitsdynamiken werden nun Interventionen zugunsten von Gesundheit betrachtet. Ist der Krankheitsfall erst einmal eingetreten, werden die Interventionen zugunsten von Gesundheit kurativ (heilend), rehabilitativ (wiederherstellend) oder palliativ (lindernd) genannt. Diese Interventionen sind spezifisch auf bestimmte Krankheiten oder Krankheitsfolgen ausgerichtet. Präventive und gesundheitsförderliche Interventionen sind auf Gesundheit ausgerichtet, in der Regel bevor eine Krankheit eingetreten ist. Vor dem Hintergrund von Multimorbidität und auch mit Blick auf die Dynamik, Relativität und Mehrdimensionalität von Gesundheit und Krankheit, die in der obigen Begriffsbestimmung dargelegt wurden, ist Prävention und Gesundheitsförderung als integraler Bestandteil von Gesundheitsversorgung insgesamt zu sehen (Hurrelmann et al. 2014). " Prävention und Gesundheitsförderung werden demnach nicht kurativen, rehabilitativen, pflegerischen und palliativen Interventionen vorgeschaltet und eben nicht auf die Zeiträume beschränkt, in denen keine Krankheit eingetreten ist, sondern zielen mit spezifischen Interventionen und

als integraler Bestandteil von Interventionen auf Gesundheitsgewinne für gesunde, gefährdete, chronisch kranke und schwerkranke Menschen ab (Hurrelmann et al. 2016b; Walter et al. 2012).

3.1

Prävention

Der Gesundheitsgewinn durch Prävention soll erreicht werden, indem Ursachen, Vorstufen oder Risikofaktoren von Krankheiten beseitigt, vermieden oder zumindest reduziert werden. Deshalb wäre Krankheitsprävention auch der wissenschaftlich präzisere und strukturell eindeutigere Begriff (Franzkowiak 2015c).1 Voraussetzung ist die Kenntnis pathogener Dynamiken für bestimmte Krankheiten. Bei multifaktoriell bedingten Krankheiten und der oft multiplen Wirkung von Risikofaktoren zielt Prävention in der Regel nicht auf einzelne Krankheiten, sondern auf ganze Krankheitsspektren (Leppin 2014). Die Unterscheidung, ob Interventionen Veränderungen bei Individuen oder in den Lebensverhältnissen bewirken sollen, führt zu den Begriffen von Verhaltens- und Verhältnisprävention. Verhaltenspräventiv sind Interventionen, die auf die individuelle Veränderung von solchen Verhaltensweisen zielen, die ein Erkrankungsrisiko erhöhen. Verhältnispräventive Interventionen dagegen zielen auf Veränderungen der Umgebungsbedingungen, die das Auftreten von Krankheiten statistisch begünstigen. Eine andere Binnendifferenzierung von Prävention folgt der Zeitschiene von Krankheitsentstehung und Krankheitsverlauf und wird als triadisches Strukturmodell der Krankheitsprävention bezeichnet (Franzkowiak 2015c; Klemperer 2015). " Definition triadisches Strukturmodell Im triadischen Strukturmodell werden unter primärer Prävention alle Maßnahmen verstanden, die vor dem Auftreten von Krankheit durchgeführt werden, um das Auftreten oder Ausbrechen einer Krankheit zu verhindern. Sekundäre Prävention umfasst alle Maßnahmen, die zum Zeitpunkt erster Anzeichen von Krankheit durchgeführt werden, um im Sinne von Früherkennung und Frühbehandlung das Fortschreiten einer Krankheit bzw. den Schwergrad zu begrenzen. Zur tertiären Prävention gehören Maßnahmen, die nach Krankheitsbeginn eingesetzt werden, um Rückfälle oder Folgeerkrankungen zu vermeiden. Neben dieser sehr verbreiteten Dreiteilung gibt es weitere Einteilungsversuche mit weniger Kategorien (Primär- und Sekundärprävention als Maßnahmen vor bzw. nach einer Krankheitsmanifestation) und mit mehr Kategorien (Primordialprävention als vorbeugende Maßnahme für Gesunde, die

1

Wenn in diesem Text weiterhin von Prävention die Rede ist, wird der Wortteil „Krankheit“ ausschließlich aus Platzgründen ausgelassen.

32

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen

der Primärprävention als vorbeugende Maßnahme für Menschen mit bestimmten Krankheitsrisiken vorgeschaltet ist, so dass eine Vierteilung entsteht) (Hurrelmann et al. 2016b). Wenn Primordialprävention mit Verhältnisprävention (Kryspin-Exner und Pintzinger 2014) oder Gesundheitsförderung (Hurrelmann et al. 2016b) gleichgesetzt wird, trägt die Unterscheidung aber wenig zur Klärung der Sachverhalte bei. Darüber hinaus ist die Abgrenzung zwischen Risikofaktoren und Krankheiten nicht immer eindeutig, so dass je nach Einstufung eines Phänomens als Risiko oder als eigenständige Krankheit vorbeugende Maßnahmen als primäre oder sekundäre Prävention bezeichnet werden müssten. Tertiärprävention ist nicht gut zu Behandlung bzw. Rehabilitation abzugrenzen, der Begriff wird wenig verwendet (Hurrelmann et al. 2016b). Bei einer Orientierung am Gesundheitsstatus der Bevölkerung zielt primäre Prävention auf die Senkung der Inzidenz einer Erkrankung. Sekundäre Prävention soll die Krankheitsprävalenz senken, tertiäre Prävention die Rate von Chronifizierung reduzieren (Kryspin-Exner und Pintzinger 2014). In einem individualmedizinischen Sinne zielt primäre Prävention darauf, die Ursache einer Krankheit auszuschalten oder die Abwehr so zu stärken, dass eine Krankheit bei einem Individuum nicht auftritt. Impfungen gelten als eine solche Intervention. Sekundäre Prävention ist individualmedizinisch mit Früherkennung und Frühtherapie gleichzusetzen und beruht auf der Annahme, dass ein frühes medizinisches Eingreifen einer späteren Intervention überlegen ist und durch die Vorverlagerung von Behandlung Leiden und Kosten vermindert werden. Tertiäre Prävention ist individualmedizinisch eine Facette von Therapie und Rehabilitation. Eine andere Binnendifferenzierung von Prävention, das triadische Zielgruppenmodell (Klemperer 2015) kategorisiert entlang der Spezifität der Zielgruppe und der Verteilung von Risiken auf Bevölkerungsgruppen. " Definition triadisches Zielgruppenmodell Danach wer-

den Interventionen, die sich an große Bevölkerungsgruppen oder die Gesamtbevölkerung richten, als universelle Prävention bezeichnet, Interventionen für Gruppen mit einem vermuteten und erhöhten Risiko als selektive Prävention. Indizierte Prävention umfasst Interventionen, die sich an Gruppen mit einem gesicherten Risiko bzw. manifesten Störungen richten (Franzkowiak 2015c). In dieser Kategorisierung von Prävention wird die Bevölkerungsorientierung offensichtlicher als in der an Krankheitsstadien orientierten Dreiteilung. Der Nutzen von Prävention wird nicht am einzelnen Individuum gemessen, sondern an den Auswirkungen auf die jeweilige Bevölkerungsgruppe bzw. die Bevölkerung insgesamt. Dabei zeigt sich, dass indizierte Präventionsmaßnahmen (sog. Hochrisikostrategie) die Krankheitslast für die Bevölkerung insgesamt weniger redu-

381

zieren als universelle oder selektive Maßnahmen, weil die Zielgruppe der indizierten Prävention nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung ausmacht. Aus der Sicht des Individuums haben die wenigen Hochrisiko-Betroffenen zwar einen hohen Nutzen von der Präventionsmaßnahme, in Bezug auf die Gesamtbevölkerung werden aber nur wenige Krankheitsfälle vermieden. Wenn dagegen sehr viele oder alle eine Präventionsmaßnahme anwenden (sog. Bevölkerungsstrategie), selbst wenn jeder einzelne nur mit geringer Wahrscheinlichkeit in der Zukunft von der Krankheit betroffen sein würde und deshalb nur einen geringen Nutzen hat, ist der Nutzen für die Gesamtbevölkerung, gemessen an der gesellschaftlichen Krankheitslast (burden of disease), dagegen groß. Diese Zusammenhänge werden nach Rose (1992) als Präventionsparadox bezeichnet (Franzkowiak 2015b; Leppin 2014). Die Lösung des Präventionsparadox liegt in einer angemessenen Balance von Bevölkerungs- und Hochrisikostrategie (Franzkowiak 2015b), wie sie in der letztgenannten Dreiteilung erkennbar ist. Die Überlegungen zur Binnendifferenzierung stellen Versuche dar, die Mehrdimensionalität von Prävention zu fassen (Walter et al. 2012), und zeigen, dass zur oben erwähnten Kenntnis pathogener Dynamiken auch Wissen über Wirkweisen präventiver Interventionen gehört, die sich in unterschiedlichen individuumsbezogenen und bevölkerungsbezogenen Outcomes zeigen.

3.2

Gesundheitsförderung

Der Gesundheitsgewinn von Gesundheitsförderung soll erreicht werden, indem auf allen gesellschaftlichen Ebenen die Faktoren gestärkt werden, die zur Gesundheit beitragen, sie erhalten und verbessern. Voraussetzung dafür ist die Kenntnis salutogener Dynamiken (Hurrelmann et al. 2016b), zu denen Ressourcen und Schutzfaktoren, soziale Determinanten der Gesundheit und die Mechanismen der Entstehung von Gesundheit (Salutogenese) gehören (Klemperer 2015). Während Prävention sich aus der Sozialmedizin des 19. Jhd. entwickelte (Hurrelmann et al. 2016b), entstand Gesundheitsförderung erst seit den 1970er-Jahren (Klemperer 2015) und bekam durch die Prägung des Begriffs in der OttawaCharta von 1986 und durch die Theorieentwicklung der Salutogenese durch den israelischen Medizinsoziologen Antonovsky wesentliche Impulse (Altgeld und Kickbusch 2012). Kritik an einer einseitig naturwissenschaftlich orientierten Medizin und soziale Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre beeinflussten die Entwicklung ebenfalls (Kaba-Schönstein 2017b). Auf der Ersten Internationalen Konferenz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Ottawa wurden bereits fünf Handlungsebenen definiert: eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik, gesunde und gesundheitsförderliche Lebens-

382

welten, auf Gesundheit ausgerichtete Gesundheitsdienste, gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen und persönliche Kompetenzen (Altgeld und Kickbusch 2012; KabaSchönstein 2017a). Die bei der Konferenz verabschiedete Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung enthält eine Definition, wonach Gesundheitsförderung auf einen Prozess zielt, „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“ (WHO 1986). Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa-Charta ist ein emanzipatorischer und politischer Ansatz, der durch die beiden Leitgedanken von Intersektoralität und Setting-Orientierung bestimmt ist (Altgeld und Kolip 2014). Die Befähigung als zentrales Bestimmungsstück von Gesundheitsförderung zielt nicht nur auf Individuen ab, sondern auch auf Gruppen und Strukturen und deren gemeinsame Handlungsfähigkeit (Gutzwiller und Paccaud 2011) und erfordert bei der Strategieentwicklung eine frühzeitige Beteiligung der anvisierten Zielgruppen. Befähigung hat eine konzeptuelle Nähe zu dem in der amerikanischen Gemeindepsychologie entwickelten Konzept des Empowerment (Brandes und Stark 2016), das auf die Fähigkeiten von Menschen abzielt, ihr Leben selbst zu gestalten, statt es gestalten zu lassen. Partizipation und Empowerment verlangen von professionellen Akteuren eine andere Haltung als die hierarchisch organisierte, manchmal auch paternalistische Hilfe und Fürsorge in der kurativen Gesundheitsversorgung (Brandes und Stark 2016). Neben der Befähigung gehört Anwaltschaft sowie Vermittlung und Vernetzung zu den drei Handlungsstrategien, die in der Ottawa-Charta formuliert werden. Anwaltschaft meint die Vertretung gesundheitlicher Interessen von Betroffenen selbst, aber auch von Experten für die Betroffenen. Vermittlung und Vernetzung zielt darauf ab, nicht allein den Gesundheitsbereich für zuständig zu erklären, sondern ein koordiniertes Zusammenwirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Ebenen und Sektoren zu ermöglichen und Interessensunterschiede auszugleichen. Alle drei Handlungsstrategien gemeinsam zielen auf den Ausgleich sozial bedingter Ungleichheiten von Gesundheitschancen und sind deshalb in politisches Handeln insgesamt einzubetten. Intersektoralität im Sinne der WHO zielt auf eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik. In Nachfolgekonferenzen zur Gesundheitsförderung wurden politikfeldübergreifende Kooperationen als wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Gesundheitsförderung thematisiert und in Helsinki 2013 unter die Überschrift „Health in all policies – Gesundheit in allen Politikbereichen“ gestellt. Für die Förderung von Kindergesundheit beispielsweise sind Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik, aber auch Stadtraum- und Verkehrsplanung beteiligt, um nur einige zu nennen. Intersektoralität ist vor dem Hintergrund unterschiedlicher Handlungskulturen und Finanzierungen schwer zu realisieren.

M. Rausch

Das Konzept gesundheitsförderlicher Settings orientiert sich an der Maxime, dass Gesundheit im Alltagskontext hergestellt wird (Altgeld und Kickbusch 2012). Setting meint dabei einen „Sozialzusammenhang, in dem Menschen sich in ihrem Alltag aufhalten und der Einfluss auf ihre Gesundheit hat. Dieser Zusammenhang ist relativ dauerhaft und seinen Mitgliedern auch subjektiv bewusst.“ (Hartung und Rosenbrock 2015). Formale Organisation, regionale Situation, gleiche Lebenslage, gemeinsame Werte bzw. Präferenzen oder eine Kombination dieser Merkmale bestimmen ein Setting. Am Setting orientierte Gesundheitsförderung ermöglicht einen zielgruppenspezifischen Zuschnitt von Maßnahmen und eine sinnvolle Kombination von verhaltens- und verhältnisbezogenen Maßnahmen. Gesunde Städte und Regionen, gesundheitsfördernde Schulen, Hochschulen, Betriebe, Krankenhäuser und Gefängnisse sind die sieben von der WHO erschlossenen und vor der Implementierung erprobten Settings. Der Settingansatz gilt als wichtigste Umsetzungsstrategie der Gesundheitsförderung (Altgeld und Kolip 2014). Wichtig ist dabei, die relevanten Gruppen zu beteiligen, sich an Prozessen des Settings statt an vorgefertigten Programmen zu orientieren, Konzepte ins Setting zu integrieren statt punktuelle Einzelaktionen zu entwickeln, auf Verhalten und Verhältnisse gleichermaßen einzuwirken und Gesundheit als Querschnittsaufgabe zu verankern (Altgeld und Kickbusch 2012).

3.3

Verhältnis von Prävention und Gesundheitsförderung

Gesundheitsförderung und Prävention werden häufig als Doppelbegriff gebraucht. Dennoch erscheint es wichtig, beide Interventionen konzeptuell klar zu trennen, damit eine „differenzierende Auseinandersetzung mit den zu Grunde liegenden Inhalten“ stattfindet und der „radikale Perspektivwechsel“ der Orientierung an Krankheit oder an Gesundheit deutlich bleibt (Altgeld und Kolip 2014, S. 46). Prävention und Gesundheitsförderung orientieren sich am gleichen Ziel, einem Zugewinn an Gesundheit, haben als Konzepte aber eine unterschiedliche Entwicklung durchlaufen (Abschn. 3.1 und 3.2) und beinhalten verschiedene Handlungslogiken. Krankheitsprävention zielt auf die Verhinderung und Abwendung von Krankheitsursachen und Risiken und unterliegt damit einer Vermeidungslogik. Gesundheitsförderung zielt auf Fähigkeiten der Lebensbewältigung von Individuen und auf soziale, kulturelle und ökologische Bedingungen der Lebensgestaltung von Bevölkerungsgruppen (Hurrelmann et al. 2016a) und unterliegt damit einer Förder- oder Befähigungslogik. Der Vermeidungscharakter von Prävention baut auf Kenntnissen pathogenetischer Dynamiken auf, die einen Schwerpunkt auf physischen und psychischen Funktionen

32

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen

und Dysfunktionen haben. Soziokulturelle und ökologische Einflussfaktoren auf ein Krankheitsgeschehen, die auf Wahrscheinlichkeitsaussagen beruhen, können nicht mit der gleichen Vermeidungslogik angegangen werden, ohne dass nicht auch die Schattenseiten von Prävention reflektiert werden wie etwa Medikalisierung (Ausweitung der Medizin auf ursprünglich nichtmedizinische Lebensbereiche) oder disease mongering (Ausweitung von Krankheitsdefinitionen durch Normwertveränderungen). Die Überbetonung von Verhaltensprävention beinhaltet die Gefahr, Krankheit nicht als Schicksal, sondern als Folge von Fehlverhalten und damit als individuell verursacht zu betrachten. Die Überbetonung von Verhältnisprävention kann in Konflikt zu freiheitlichem Handeln stehen, so dass Einschränkungen sorgfältig gegen Schutzrechte abgewogen werden müssen. Prävention kann wegen des Vermeidungscharakters nicht alleinige Handlungsmaxime zur Erreichung von Gesundheitsgewinnen sein. Der Befähigungsgedanke von Gesundheitsförderung baut auf Kenntnissen salutogenetischer Dynamiken und wählt Ressourcen und Potenziale als Ausgangspunkt für Maßnahmen. In Bezug auf Individuen bieten integrierte Modelle von Gesundheits- und Krankheitsdynamiken Ansatzpunkte für Maßnahmen beispielsweise des Bewegungs- oder Ernährungsverhaltens. In Bezug auf die Gesundheit von Bevölkerungsgruppen sind die Ressourcen und Potenziale von Settings durch Partizipation und Empowerment zu erschließen. Gesundheit ist dabei als Voraussetzung für Wohlbefinden und Lebensqualität zu sehen und nicht als Selbstzweck oder Lebensziel, um nicht ähnliche Schattenseiten (wie etwa „healthism“ als das Bestreben Gesundheit als Ziel über alles zu stellen) hervorzurufen. Wegen der Mehrdimensionalität von Gesundheit und der aktiven Beteiligung der Adressaten, die wesentliches Merkmal von Befähigung ist, scheinen die Schattenseiten einer Befähigungslogik kleiner als die einer Vermeidungslogik. Gesundheitsförderung ist wegen der Befähigungslogik auch eher subjektorientiert, während Krankheitsprävention seinen Ausgangspunkt eher an objektiven Fakten orientiert. Als Wirksamkeitsnachweise von Krankheitsprävention kann die Reduzierung von Risiken an Laborwerten, Verhaltensweisen oder Expositionen gemessen werden und im Bevölkerungsmaßstab an Inzidenzen, Prävalenzen und Mortalität. Gesundheitsgewinne als Ergebnis gesundheitsförderlicher Strategien können im Bevölkerungsbezug ebenfalls in statistischen Kennwerten abgebildet werden. Auf individueller Ebene ist eine höhere Gesundheitsqualität aber nur mittelbar messbar und bleibt zumindest teilweise nur subjektiv zugänglich. Fachwissenschaftlich hat Gesundheitsförderung eine größere Nähe zu den Human- und Sozialwissenschaften (Altgeld und Kolip 2014) bzw. den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften (Hurrelmann et al. 2016a), während Krankheitsprävention dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Paradigma mit den medizinischen Subdisziplinen von Bio-, Verhaltens-,

383

Sozial-, Arbeits- und Umweltmedizin sowie der Epidemiologie und der klinischen Epidemiologie näher steht (Hurrelmann et al. 2016b). Sowohl Prävention als auch Gesundheitsförderung sind interdisziplinär orientiert. Die Medizin ist aber an der Entwicklung von Konzepten und Strategien der Gesundheitsförderung weniger beteiligt (Hurrelmann et al. 2016a). Gesundheitsförderung ist wegen der Intersektoralität ausdrücklich nicht auf das Gesundheitssystem beschränkt. Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es aber auch Gemeinsamkeiten von Prävention und Gesundheitsförderung. Beide sind in einem modernen Verständnis auf Gesundheitsgewinn ausgerichtet, unabhängig davon, ob eine Krankheit eingetreten ist oder wie stark die Gesundheit beeinträchtigt ist. Für beide wird eine Kombination von verhaltens- und verhältnisbezogenen Maßnahmen und Strategien empfohlen. Beide sind auch in einer gesundheitswissenschaftlichen Perspektive auf Bevölkerungsgesundheit ausgerichtet und weniger als kurative oder rehabilitative Maßnahmen auf individuelle Gesundheit. Vor dem Hintergrund von Unterschieden und Gemeinsamkeiten empfiehlt es sich daher, Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention nicht gegeneinander auszuspielen (Hurrelmann et al. 2014), sondern als sich wechselseitig ergänzende Interventionsformen (Hurrelmann et al. 2016a) zu betrachten. Bei aller sprachlichen Sperrigkeit werden deshalb beide Teile des Doppelbegriffs benötigt.

4

Akteure und gesetzliche Rahmenbedingungen

Akteure in Prävention und Gesundheitsförderung gibt es in großer Trägerpluralität in staatlichen Institutionen, öffentlichrechtlichen Körperschaften, bei freien Trägern und privaten Organisationen und zwar auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene (Robert-Koch-Institut 2015). Neben Akteuren aus Sozial- und Bildungswesen, der Privatwirtschaft sowie dem Arbeits- und Freizeitbereich sind auch Akteure des Gesundheitswesens in diesem Bereich tätig. Prävention und Gesundheitsförderung ist in der Regel aber nur eine von vielen Aufgaben dieser Akteure. Dies gilt auch für die in diesem Beitrag betrachteten Akteure, die im Gesundheitswesen tätig sind und nach der Logik der Krankenversorgung und deren gesetzlichen Grundlagen schwerpunktmäßig Aufgaben von Kuration und Rehabilitation wahrnehmen. Nach den Ausführungen in Abschn. 2.3 sind die Akteure im Bezugssystem der Medizin tätig.

4.1

Gesundheitsberufe

Für die im Gesundheitswesen tätigen Berufe gibt es keine einheitliche Taxonomie. Versteht man „Gesundheitsberufe“

384

M. Rausch

als Oberbegriff für alle Berufe, die im weitesten Sinne mit Gesundheit zu tun haben (BMG 2016), dann gibt es darunter eine Untergruppe, die unmittelbar am und mit Patienten arbeitet. Diese Berufe werden wegen der heilkundlichen Tätigkeit als Heilberufe bezeichnet. Das Gemeinsame dieser Untergruppe ist der direkte Kontakt zu Patienten, die besondere Verantwortung für das schützenswerte Gut Gesundheit und die verfassungsrechtlich zugeschriebene Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Das Bundesgesundheitsministerium (2018) listet 24 bundesgesetzlich geregelte Heilberufe auf. Die Klassifikation der Berufe „KldB-2010“, die die Grundlage amtlicher Statistiken bildet und mit der internationalen Klassifikation ILSCO-08 (International Standard Classification of Occupations) harmonisiert ist (Bundesagentur für Arbeit 2015), unterscheidet zwischen medizinischen Gesundheitsberufen und nichtmedizinischen Gesundheitsberufen. Unter der ersten Kategorie der medizinischen Gesundheitsberufe, die weitgehend dem verfassungsrechtlichen Begriff der Heilberufe entspricht, werden neben weiteren Berufsgruppen auch Human- und Zahnmediziner (Code 814), Berufe der Pflege, des Rettungsdienstes und der Geburtshilfe (Code 813) und Berufe der nicht-ärztlichen Therapie und Heilkunde (Code 817) gefasst. Nach dieser Klassifikation wies die Statistik für das Jahr 2016 (Statistisches Bundesamt 2018) 1,062 Mio. Berufsangehörige in Pflege, Rettungsdienst und Geburtshilfe aus, dazu 451.000 Human- und Zahnmediziner und insgesamt 324.000 Angehörige der therapeutisch-rehabilitativen Berufe (234.000 Physiotherapeuten, 61.000 Ergotherapeuten und 29.000 Logopäden/Sprachtherapeuten). Von den im deutschen Gesundheitswesen tätigen Gesundheitsberufen werden in diesem Kapitel Pflegekräfte als die größte Gruppe, Humanmediziner als aus historischen Gründen zentrale Gruppe sowie Physiotherapie, Logopädie/ Sprachtherapie und Ergotherapie als aktuell in wesentlichen Veränderungen befindliche Gruppe betrachtet.

4.2

Gesetzliche Grundlagen

Wesentliche gesetzliche Grundlage für Tätigkeiten im deutschen Gesundheitswesen ist das Fünfte Sozialgesetzbuch, das alle Regelungen für die gesetzliche Krankenversicherung bündelt. Den Rahmen für heilberufliche und heilkundliche Tätigkeiten ergänzen die Berufsgesetze der Heilberufe und das Heilpraktikergesetz, das die Ausübung von Heilkunde an eine Erlaubnis (als Arzt oder Heilpraktiker) bindet und Heilkunde definiert als „berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen“. Grundlage für Pflege und Rehabilitation bilden die Sozialgesetzbücher zur Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) und zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB

IX), die ebenfalls Regelungen zur Prävention und Gesundheitsförderung enthalten. Ohne eine explizite Definition von Krankheit und Gesundheit sind im SGB V die Grundlagen für die ambulante und stationäre Versorgung Kranker und deren Finanzierung gelegt. Dabei wird bereits im ersten Paragrafen ein Selbstverständnis der Krankenversicherung formuliert, das sich auf Gesundheit (gesundheitsbewusste Lebensführung, gesundheitliche Vorsorge, gesunde Lebensverhältnisse) ausrichtet und die Bedeutung von Eigenkompetenz und Eigenverantwortlichkeit betont. Prävention und Gesundheitsförderung sind im SGB V als Leistungen • zur Verhütung von Krankheiten und deren Verschlimmerung, • zur betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention arbeitsbedingter Gefahren sowie • zur Erfassung von gesundheitlichen Risiken und Früherkennung von Krankheiten verankert. Schutzimpfungen, Gruppen- und Individualprophylaxe zur Verhütung von Zahnerkrankungen, medizinische Vorsorgeleistungen und Gesundheitsuntersuchungen gehören als ärztlich-medizinische Präventionsmaßnahmen schon länger zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Leistungen der Betrieblichen Gesundheitsförderung wurden Ende der 1980er-Jahre in den Leistungskatalog aufgenommen und sind seit 2007 Pflichtaufgaben der GKV (Slesina 2008). Durch das 2015 verabschiedete Präventionsgesetz wurden begriffliche Unterscheidungen eingefügt zwischen primärer Prävention als Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken einerseits und Gesundheitsförderung als Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten andererseits. Leistungen zu Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten wurden neu in § 20a SGB V aufgenommen. Die bisherigen Regelungen zu krankenkassenfinanzierten Präventionskursen werden durch das Präventionsgesetz als individuelle verhaltensbezogene Prävention weitergeführt. Die Krankenkassen unter der Federführung des GKV-Spitzenverbandes haben bei der Gestaltung der verhaltensbezogenen Prävention sowohl acht im Gesetz genannte Gesundheitsziele als auch erweiterte Maßnahmen der Qualitätssicherung (Berücksichtigung von unabhängigem Sachverstand, Zertifizierung der Anbieter, ärztliche Präventionsempfehlung) zu berücksichtigen. Das Präventionsgesetz ermöglicht darüber hinaus die Erhöhung der Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung aus Versichertengeldern und den Aufbau einer Kooperations- und Koordinierungsstruktur, die aus Nationaler Präventionskonferenz, Nationalem Präventionsforum und Nationaler Präventionsstrategie mit Rahmenvereinbarungen

32

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen

auf Landesebene besteht (Gerlinger 2016). Gesetzliche Unfallversicherung, soziale Pflegeversicherung und private Versicherungen können sich an den Beratungen beteiligen, wenn sie Leistungen mitfinanzieren.

4.3

Prävention und Gesundheitsförderung in den Gesundheitsberufen

Wegen der unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen in SGB XI für die Pflege und in SGB V für ärztliche und therapeutische Tätigkeiten ergeben sich unterschiedliche Perspektiven für die Gesundheitsberufe.

4.3.1

Prävention und Gesundheitsförderung in der Pflege Pflege hat neben der Ausrichtung auf krankheitsbedingte Einschränkungen die Aufgabe, Ressourcen und verbliebene gesundheitsbezogene Potenziale Pflegebedürftiger zu fördern (Kuhlmey 2012; Schaeffer 2015) und damit gesundheitsförderliche Aufgaben. Auch die Vermeidung weiterer gesundheitlicher Beeinträchtigungen von Pflegebedürftigen wie etwa die Vermeidung von Infektionen durch Hygiene und verschiedene Prophylaxen (Dekubitus-, Thrombose- oder Sturzprophylaxe) gehört zu den Aufgaben von Pflegekräften (Lauber und Schmalstieg 2018). Pflege hat damit auch präventive Aufgaben. Gesundheitsförderung in der Pflege ist auf die Stärkung vorhandener Ressourcen ausgerichtet, auf Unterstützung von Autonomie und Selbstbestimmung, auf Erhalt und Verbesserung einzelner Fähigkeiten und auf das Wohlbefinden Pflegebedürftiger. Prävention in der Pflege richtet sich darüber hinaus auch auf die Prävention von Pflegebedürftigkeit durch Stärkung der Gesundheitskompetenz, edukative Maßnahmen, Bewegungsförderung und systematisches Monitoring (Schaeffer 2015). Wird die Zuständigkeit von Pflege erst am Ende einer linearen Versorgungskette gesehen, wenn präventive, kurative und rehabilitative Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wie dies die gesetzliche Vorgabe von „Rehabilitation vor Pflege“ impliziert (Kuhlmey 2012), ist das nicht mit dem international etablierten Aufgabenverständnis von Pflege vereinbar, wonach eine integrale Ressourcen- und Gesundheitsorientierung auch für die Pflege gilt (Schaeffer 2015). Das Verständnis, dass durch Prävention und Gesundheitsförderung Gesundheitsgewinne für alle Menschen, eben auch Kranke, Schwerkranke und Pflegebedürftige zu erzielen sind (Abschn. 3), stimmt mit dem internationalen pflegewissenschaftlichen Verständnis überein. Dieses Selbstverständnis wird in der Versorgungsrealität aber nur begrenzt umgesetzt (Kuhlmey 2012, Schaeffer 2015). Gründe hierfür liegen in der Krankheits- und Defizitorientierung von Versorgungs- und Pflegekontexten, im Mangel an pflegetheoretischen und pflegewissenschaftlichen

385

Konzepten (Kastenbutt 2014), aber auch in alltagspraktischen Beschränkungen wie Ausgrenzung präventionsrelevanter Aufgaben und Arbeitsverdichtung (Kuhlmey 2012). Gesundheitsförderung und Prävention betrifft also nicht nur die Pflegebedürftigen, sondern auch die Pflegekräfte selbst. Prävention muskuloskelettaler Erkrankungen durch rückenschonende Arbeitsweisen, Prävention von Infektionen durch Hygiene, Prävention psychischer Belastungsstörungen durch Maßnahmen der Psychohygiene, aber auch die Gestaltung institutioneller Rahmenbedingungen (Kleina et al. 2013) und die Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen (Kuhlmey 2012) dienen der Gesundheit von Pflegekräften. Darüber hinaus sind pflegende Angehörige wegen des höheren Risikos für eine physische oder psychische Erkrankung eine Zielgruppe für Prävention und Gesundheitsförderung (Budnick et al. 2015; Dräger et al. 2013; Hetzel et al. 2015).

4.3.2 Ärztlich-medizinische Prävention Medizinische Prävention sind Interventionen, die auf Ursachen oder Risikofaktoren (Primärprävention) oder beginnende Krankheitsprozesse (Sekundärprävention) oder Rückfälle oder Folgeerkrankungen (Tertiärprävention) gerichtet sind und diese durch medizinische Maßnahmen bzw. ärztliches Handeln beeinflussen (Robra 2017). Medizinische Prävention hat drei Schwerpunkte (Abholz 2006): Impfungen, Früherkennung und individualmedizinische Gesundheitsförderung. Impfungen haben dabei sowohl einen individualmedizinischen als auch einen bevölkerungsbezogenen Nutzen, während die individualmedizinische Gesundheitsförderung auf individuelle Verhaltensänderungen abzielt. Gesellschaftlich getragene Verhaltensprävention, bei der Verhalten über Kampagnen oder Preispolitik gesteuert wird, ist für den einzelnen Arzt nicht möglich (Abholz 2006). " Medizinische Primär- und Sekundärprävention ist bei multifaktoriellen Erkrankungen auf Risikofaktoren ausgerichtet, die möglichst früh beeinflusst und kontrolliert werden sollen. Risiken werden dabei epidemiologisch bestimmt. Medizinische Prävention ist deshalb an bevölkerungsbezogenen Outcomes zu messen und zielt auf Inzidenzabsenkung von Krankheit, Behinderung und vorzeitigem Tod (Walter et al. 2012).

Präventives ärztliches Handeln unterliegt einer anderen Handlungslogik als kuratives oder rehabilitatives Handeln. Ärztliches Handeln wird bei letzteren erst beim Auftreten erster Symptome oder einer vollständigen Manifestation einer Krankheit erforderlich. Dann aber muss der Arzt aus berufsethischen Gründen und auf der Grundlage von nosologischem und pathogenetischem Wissen den Symptomen auf den Grund gehen und die diagnostizierte Krankheit behandeln oder rehabilitative Maßnahmen nach dem aktuellen

386

Stand der Wissenschaft und der Versorgungsregularien einleiten. Nosologie und Pathogenese erlauben prognostische Aussagen über den Krankheitsverlauf, evidenzbasierte Medizin nach Möglichkeit auch über den Heilungsverlauf. Aussagen über Risikofaktoren, aus denen präventives Handeln abgeleitet wird, sind aber immer Wahrscheinlichkeitsaussagen, die das Auftreten von Erkrankungen in Bevölkerungsgruppen einschätzen. Wegen der unbekannten individuellen Konstellation von Risikofaktoren und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten können Krankheitsverläufe für den Einzelfall nicht prognostiziert werden (Robra 2017). Wenn Risikofaktoren wie Krankheitssymptome eingestuft und behandelt werden, führt das zu einer präventiven Ausweitung von Kuration. Dabei würden auch diejenigen behandelt, bei denen das Risiko nicht zum Tragen kommen würde. In der Kommunikation mit Patienten müssen diese Unterschiede zwischen dem Umgang mit Symptomen und Krankheitsverläufen und dem Umgang mit Risikofaktoren berücksichtigt werden (Abholz 2006). Für verpflichtende Früherkennungsuntersuchungen, sog. Screenings, wird deshalb mit Hilfe epidemiologisch-statistischer Methoden möglichst genau bestimmt, wie hoch der Nutzen und auch wie groß mögliche Gefahren (wie falschpositive Befunde, unnötige Diagnostik und Behandlungsmaßnahmen sowie deren Belastungen und gesundheitlichen Gefahren) sind. Potenzieller Nutzen wird gegen mögliche Schäden abgewogen, aber auch gegen den finanziellen Aufwand, der durch den Nutzen gerechtfertigt sein muss (Abholz 2006). Solche Abwägungen werden immer im Bevölkerungsmaßstab vorgenommen, da der individuelle Nutzen dem Präventionsparadox (Abschn. 3.1) unterliegt. Individuelle Gesundheits- und Verhaltensberatung als integraler Bestandteil medizinisch-ärztlicher Versorgung bezieht sich auf Ernährungs- und Bewegungsverhalten, auf Stressreduktion und Umgang mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Medikationen (Robra 2017). Durch das Präventionsgesetz sind die Regelungen zu den ärztlichen Gesundheitsuntersuchungen um einen Anspruch auf eine präventionsorientierte Beratung erweitert worden. Diese ist auf die alters-, geschlechts- und zielgruppengerechte Untersuchung und die Bewertung gesundheitlicher Risiken abgestimmt und mündet bei medizinischem Bedarf in eine Präventionsempfehlung, die zur Inanspruchnahme von individuellen Verhaltenspräventionsmaßnahmen berechtigt. Mit dieser Regelung stärkt das Präventionsgesetz die Rolle der Ärzte auf dem Gebiet individueller Verhaltensprävention (Gerlinger 2016).

Therapeutische Prävention und Gesundheitsförderung Die Heilberufe Ergotherapie, Logopädie/Sprachtherapie und Physiotherapie sind als sog. Heilmittel (nach § 32 SGB V) Teil der kurativen und rehabilitativen Versorgung. Sie erbrin-

M. Rausch

gen ihre Behandlungsleistungen auf Veranlassung eines Arztes (Verordnung). Voraussetzung für die Erbringung von Heilmitteln ist daher die Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit im Sinne einer dichotom bestimmten Krankheitsdefinition.2 Ein großer Teil ihrer Tätigkeit ist damit durch ein Krankheitsverständnis bestimmt, das Gesundheit von Krankheit möglichst trennscharf unterscheiden muss. Im Rahmen von Prävention sind Physiotherapeuten und Ergotherapeuten auch in der individuellen Verhaltensprävention nach § 20 Abs. 5 SGB V im Handlungsfeld Stressreduktion/Entspannung tätig, Physiotherapeuten zusätzlich auch im Handlungsfeld Bewegungsgewohnheiten. Durch die im Präventionsgesetz eingeführten ärztlichen Bescheinigungen über Präventionsempfehlungen unterliegen die individuellen Verhaltenspräventionen einem analogen Handlungsschema wie die kurativen und rehabilitativen Behandlungen, bei der Therapeuten nach ärztlicher Veranlassung (Verordnung oder Präventionsempfehlung) mit einzelnen Versicherten arbeiten, die je nach Handlungskontext als Kranke, d. h. Patienten, oder als evtl. gefährdete Gesunde, d. h. als Klienten, bezeichnet werden. Der radikale Perspektivwechsel, der bei einer Orientierung an Gesundheit statt an Krankheit notwendig wäre, wird durch diese Analogie erschwert. Prävention, nicht aber Gesundheitsförderung ist Teil des im Berufsgesetz formulierten Ausbildungsziels der Physiotherapie. Die Berufsgesetze der Ergotherapie und Logopädie enthalten dagegen kein Ausbildungsziel. Hilfsweise werden deshalb Definitionen der Berufsbilder herangezogen, die von den Verbänden als Interessenvertretung und Sprachrohr der Berufsgruppen konsentiert wurden, um das berufliche Selbstverständnis in Bezug auf Prävention und Gesundheitsförderung zu bestimmen. Die Definition von Ergotherapie, die in einem mehrjährigen Prozess im Deutschen Verband der Ergotherapeuten (dve 2007) erarbeitet wurde, enthält weder den Begriff Prävention noch Gesundheitsförderung. Die Auflistung der Fachbereiche der Ergotherapie auf der Website des Verbandes enthält aber neben medizinischen Teildisziplinen (z. B. Geriatrie, Neurologie, Pädiatrie) als Fachbereichsbezeichnung auch ausdrücklich den Fachbereich Prävention und Gesundheitsförderung und Fachbereichsbezeichnungen, die eine Setting-Orientierung erkennen lassen (z. B. schulbasierte Ergotherapie, gemeinwesenorientierte Ergotherapie). Die gleiche Bezeichnung von medizinischen Teilbereichen und ergotherapeutischen Fachbereichen lässt eine historisch gewachsene Nähe zur Medizin vermuten, wobei die Beschreibungen anderer ergotherapeutischer Fachbereiche Gesundheitsförderung und Prävention als integrale Bestandteile von Ergotherapie ausweisen. Die Definition von Logo-

4.3.3

2 Die Feststellung von Behandlungsbedürftigkeit wäre auch bei einem Direct Access erforderlich, der aktuell für die Heilmittelerbringer diskutiert wird.

32

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen

pädie wurde in einer Arbeitsgruppe des Europäischen Dachverbandes CPLOL konsentiert und enthält ausdrücklich Prävention und Förderung als logopädische Interventionen (dbl 2011), wobei offenbleibt, ob es sich um Sprach- oder Gesundheitsförderung handelt. Die Definition von Physiotherapie/Physical Therapy, die der Weltverband der Physiotherapeuten (WCPT 2016) auf seiner Website veröffentlicht, knüpft mit den Begriffen Lebensqualität und Wohlbefinden an ein mehrdimensionales Gesundheitsverständnis an und führt Gesundheitsförderung und Prävention unter den physiotherapeutischen Interventionen auf. Zum Verständnis von Prävention und Gesundheitsförderung und von Gesundheit und Krankheit in den Therapieberufen gibt es eine Reihe von empirischen Untersuchungen, die hier nur exemplarisch referiert werden. Darin zeigt sich etwa, dass sich belgische Physiotherapiestudierende bei der Erhebung der Vorgeschichte eher an biomedizinischen Faktoren als an einem psycho-sozialen Krankheitserleben orientieren (Roussel et al. 2016), dass die Implementierung von bevölkerungsbezogener Gesundheitsförderung in die individuumsbezogene Gesundheitsversorgung der Physiotherapie zusätzliche ethische Reflexionen verlangt (Delany et al. 2015) und dass Patienten der Physiotherapie es für angemessen halten, wenn Physiotherapeuten das Thema Gesundheitsverhalten in der Therapie ansprechen (Black et al. 2016). Britische Sprachtherapeuten verstehen Gesundheitsförderung als Training, Beratung und Aufklärung, die die therapeutischen Möglichkeiten erweitern, und sie erwarten für die Zukunft eine zunehmende Bedeutung von Gesundheitsförderung (Ferguson und Spencer 2012). Sprachtherapeutische Angebote sollten einen Bevölkerungsbezug und soziale Gradienten für kindliche Kommunikationsstörungen berücksichtigen und sich an der Ottawa-Charta orientieren (Law et al. 2013). In der Ergotherapie ist die Orientierung an Wohlbefinden und Lebensqualität sowie an sozialen und kulturellen Unterschieden sowohl Teil des professionellen Selbstverständnisses (McColl et al. 2015; Pizzi und Richards 2017) als auch Gegenstand ergotherapeutischer Forschung (Madsen et al. 2016). Insgesamt zeigt sich, dass es in den drei therapeutischen Heilberufen unterschiedliche Ausprägungen im Verständnis von Prävention und Gesundheitsförderung und noch keine klare theoretische Orientierung gibt. Gleichzeitig gibt es für alle drei Berufe in Deutschland einen gleichermaßen beschränkten rechtlichen Rahmen für Beiträge zu bevölkerungsbezogener Prävention und Gesundheitsförderung in der GKV. Die auf der Grundlage des beruflich-professionellen Selbstverständnis aufgebaute Expertise könnte also nur außerhalb des Gesundheitswesens eingebracht werden. Es ist zu vermuten, dass hier noch Potenzial für Prävention und Gesundheitsförderung vorhanden ist, das insbesondere durch verstärkte Reflexionen des Themas und eine bessere Vernetzung der Expertisen ausgeschöpft werden könnte.

387

4.3.4 Selbsthilfe Auch wenn Prävention und Gesundheitsförderung als Interventionen von professionellen oder öffentlich autorisierten Akteuren bestimmt wird (Hurrelmann et al. 2014), legen insbesondere die Überlegungen zur Gesundheitsförderung nahe, auch die Adressaten der Interventionen zu den Akteuren zu rechnen. Das kann wegen der Ausrichtung dieses Kapitels nicht weiter ausgeführt werden, sollte aber keinesfalls übersehen werden. An der Aufrechterhaltung von Gesundheit ist jeder Einzelne durch die Bewältigung von Anforderungen und die Nutzung von Ressourcen und Potenzialen beteiligt. Gleichzeitig wird Gesundheit als Menschenrecht (WHO 1946) zur staatlichen und weltgesellschaftlichen Verpflichtung. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld für Prävention und Gesundheitsförderung, in dem aufgeklärte Entscheidungen, angemessene Gesundheitskommunikation und partizipative Maßnahmenund Strategieentwicklung notwendig sind.

5

Schluss

Für die im Gesundheitssystem tätigen Gesundheitsberufe sind deshalb Überlegungen zur wissenschaftlichen Verortung von Prävention und Gesundheitsförderung einerseits und zur intersektoralen Praxis andererseits von Bedeutung. Dabei ist insbesondere der radikale Perspektivwechsel bei einer Orientierung an Gesundheit im Vergleich zur Krankheitsorientierung kurativer und rehabilitativer Leistungen zu berücksichtigen. Eine strenge Abgrenzung zur Kuration und Rehabilitation ist nicht erforderlich, wenn ein Zugewinn an Gesundheit und Gesundheitskompetenz Ziel und integraler Bestandteil aller Gesundheitsversorgungssegmente ist. Gleichzeitig ist die Unterscheidung von Individualbezug und Bevölkerungsbezug (unter Berücksichtigung von kausalen Zusammenhängen, Wahrscheinlichkeitsaussagen und Präventionsparadox) wegen der Konsequenzen für praktisches Handeln unbedingt zu reflektieren. Neben der an Krankheit und Risiken orientierten Vermeidungslogik von Prävention (Abschn. 3.3) scheint in der expliziten und reflektierten Berücksichtigung der Förder- und Befähigungslogik von Gesundheitsförderung Potenzial für Gesundheitsgewinne auf Individual- und Bevölkerungsebene zu liegen. Intersektoralität ist im Gesundheitswesen und erst recht über die Grenzen des Gesundheitswesens hinaus noch deutlich ausbaufähig (Brandhorst et al. 2017) und erfordert die Etablierung von Netzwerken, die bisher eher in Einzelprojekten realisiert und durch das Präventionsgesetz erst in Anfängen strukturell unterstützt werden. Der notwendige Sozialraumbezug und die Kombination von Verhaltens- und Verhältnisinterventionen sind in einem individuumszentrierten, naturwissenschaftlich-technisch und krankheitsorientierten System nur schwer zu realisieren.

388

Eine Perspektive für die weitere Entwicklung enthalten die von der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung in einem mehrjährigen und partizipativen Prozess erarbeiteten und 2013 verabschiedeten Prinzipien guter Gesundheitsförderung (BVPG 2013), die auch als Orientierung für das gesamte Gesundheitssystem dienen könnten. Eine konsequente Orientierung an Autonomie und Empowerment, an Partizipation, an Lebenswelt- und Lebensstilbezug sowie an umschriebenen, evaluierten, qualitätsgesicherten, nachhaltigen Konzepten im gesamten Gesundheitssystem bietet über die Sorge für individuelle Gesundheit hinaus Potenzial für gesundheitliche Chancengleichheit und Bevölkerungsgesundheit.

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32

Gesundheitsförderung und Prävention in den Gesundheitsberufen

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Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung

33

Ulla Walter und Dominik Röding

Inhalt 1

Problemaufriss und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

2 2.1 2.2 2.3

Zielgruppensegmentierung für Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensstiltypen als Zielgruppenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Milieus als Zielgruppenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenslagen als Zielgruppenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Zielgruppenspezifität in der Prävention und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398

4

Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

393 393 394 397

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

1

Problemaufriss und Überblick

Bereits die Definition der (Primär-)Prävention legt mit ihrem Ziel – die Verhinderung bzw. Verzögerung gesundheitlicher Schädigungen, die Senkung der Inzidenzrate oder der Eintrittswahrscheinlichkeit von Teilursachen einer Erkrankung bei einem Individuum oder einer (Teil-)Population – die Analyse entsprechender Risiken in der Bevölkerung und die Auswahl relevanter Bevölkerungsgruppen für präventive Maßnahmen, sog. Zielgruppen, nahe. Auch wenn sich die Maßnahmen wie bei der universellen Prävention an große Teil-Populationen oder gar an die gesamte Bevölkerung richten können (wie z. B. bei der Trinkwasserhygiene und Gurtpflicht), so erfordern spezifische präventive Interventionen eine genaue und umfassende Definition ihrer Zielpersonen bzw. -gruppen. Dieses gilt auch für die (im Folgenden nicht näher betrachtete) Sekundärprävention bzw. Krankheitsfrüherkennung und die Tertiärprävention mit ihrem Fokus auf bereits erkrankte Menschen (Walter et al. 2012).

U. Walter (*) · D. Röding Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

Die Gesundheitsförderung nach der WHO (1986) mit ihrer Ressourcenorientierung und systemischen Perspektive adressiert über die Auswahl geeigneter (benachteiligter) Settings (z. B. Kitas in benachteiligten Stadtteilen) und ihrer gesundheitsförderlichen Gestaltung die in diesem sozialen Gefüge agierenden unterschiedlichen Gruppen. Sowohl die Prävention als auch die Gesundheitsförderung müssen sich intensiv mit den von ihnen avisierten Bevölkerungsgruppen auseinandersetzen. Diese möglichst auf mehreren Merkmalen basierende Zielgruppenbildung wird als zentral für die Wirksamkeit der Maßnahmen angesehen. Sie ist deshalb auch ein wesentliches Merkmal der in der Prävention und Gesundheitsförderung relevanten Konzeptqualität. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen legte in seinem Gutachten 2000/2001 erstmals Priorisierungskriterien vor, die nachfolgend in die Konzepte und Ausgestaltung der Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland einflossen. Hierzu zählen die angemessene Häufigkeit der Gesundheitsstörung in (einer) Bevölkerungsgruppe(n) ebenso wie ihre medizinische Relevanz sowie die Wirksamkeit der vorbeugenden Maßnahmen „ohne unvertretbare bzw. unerwünschte Risiken“ (S. 156). Dieses schließt auch „Nebenwirkungen“ wie Stigmatisierung ein. Bereits im Zuge der im Jahr 2000 wieder eingeführten Primärprävention in der GKV (§ 20 SGB V) wurden Qualitätskriterien gesetzlich verankert, die auf eine wissenschaftsba-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_36

391

392

sierte Auswahl von Zielgruppen für präventive Maßnahmen zielten – nicht zuletzt, um dem Vorwurf der Umsetzung von Prävention in der Praxis nach dem „Gießkannenprinzip“ zu begegnen. Verschärft wurde dieser Anspruch durch die erstmals gesetzliche Einbindung des Zieles, dass die Maßnahmen zu einer Verminderung der Ungleichheit in Gesundheit beitragen sollen. Wird diese damalige Kann-Regelung und mit dem Präventionsgesetz 2015 verstärkte Soll-Regelung ernst genommen, erfordert dieses eine sehr sorgfältige Auswahl der Zielgruppe(n), die Entwicklung erfolgreicher Zugangswege und angemessene Interventionen, die den Lebensstil, Haltungen und das Umfeld der Zielgruppe berücksichtigen. Dabei sind, wie Blümel und Lehmann (2015) betonen, die eigentlichen Zielgruppen, bei denen Veränderungen erreicht werden sollen, nicht immer identisch mit den Personengruppen, die hierzu angesprochen werden müssen (Adressatinnen und Adressaten). Besonders augenscheinlich ist dieses bei Kindern in der Kita, die über den Einbezug ihrer Eltern und der pädagogische Fachkräfte in entsprechende Interventionen adressiert werden. Davon abweichen können die tatsächlichen Empfänger einer Maßnahme. Wie eine Recherche über das Suchportal LIVIO der Zentralbibliothek Medizin (Dezember 2018) zeigt, wird der Begriff der Zielgruppe im Fachgebiet Medizin und Gesundheit mindestens seit 1953 verwendet und erfuhr von den 1970erJahren bis etwa 2005 einen seichten, aber kontinuierlichen Anstieg, der dann bis etwa 2010 exponentiell anstieg und seitdem als Trend etwa genauso rapide wieder nach unten geht. Eine Recherche in der sozialwissenschaftlichen Literatur über das GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften führt zu einem ähnlichen Ergebnis, mit dem kleinen Unterschied, dass der exponentielle Trendanstieg dort schon seit Ende der 1990er-Jahre zu sehen ist und der Gegentrend bereits ab etwa 2007 eingesetzt hat. Der Begriff Zielgruppe scheint nicht länger ein Modebegriff zu sein, sondern ein Fachbegriff, der sich in den Lebens- und Sozialwissenschaften etabliert hat. Wer allerdings nach dem Terminus Zielgruppentheorie recherchiert, wird derzeit auf den beiden genannten Suchportalen nicht fündig. Selbst eine Suchanfrage über Google Scholar, die meist zu tausenden Treffern führt, führte in diesem Fall nur zu 24 Treffern. Dabei waren einige Quellen mehrfach angezeigt worden, sodass tatsächlich nur neun verschiedene Quellen aufgeführt waren. Hervorzuheben ist ferner, dass keine dieser Quellen eine Zielgruppentheorie beinhaltet. Drei dieser Quellen (Köthke 2004; Prixel 2010; Pittner 2014) erheben den Anspruch, sich auf eine Zielgruppentheorie zu beziehen. Folgt man dem entsprechenden Literaturbezug, dann gelangt man im Fall der Diplomarbeit von Köthke (2004) zu einem Sammelband zur Erwachsenenbildung und in den Fällen der Dissertation von Prixel (2010) und der Arbeit von Pittner (2014) zu einer Public-Relations-Theorie, der lediglich von Prixel und Pittner zugeschrieben wird, dass sie eine Zielgruppentheorie sei. Etwas anders sieht es aus, wenn der Terminus Zielgruppenforschung recherchiert wird. Hier wurden bei LIVIO sechs, bei

U. Walter und D. Röding

GESIS neun und bei Google Scholar 512 Treffer angezeigt. Dabei fällt auf, dass die Treffer bei beiden Suchportalen und die ersten 20 Treffer bei Google Scholar (weiter wurde nicht gesichtet) ausschließlich entweder aus der Marktforschung oder der Bildungsforschung kommen. Es lässt sich festhalten, dass sich noch keine explizite Zielgruppentheorie etabliert hat, aber eine empirische Zielgruppenforschung im Rahmen von Marktforschung, Kommunikationswissenschaft und Bildungsforschung betrieben wird. Wer sich mit der Literatur zu Zielgruppen befasst, wird zudem feststellen, dass sich die Bildungswissenschaft und die Marktforschung in ihrem Begriffsverständnis von Zielgruppe kaum unterscheiden, wenngleich der Impetus regelmäßig ein etwas anderer ist. " Definition Zielgruppe Mit dem Begriff Zielgruppe ist in

beiden Fällen verbunden, dass es eine Person oder ein Personenkollektiv gibt, die bzw. das ein Ziel verfolgt, welches sich auf ein abgrenzbares Personenkollektiv (die Zielgruppe) bezieht. Ziel ist, entweder konstatierte Bedarfe zu decken oder konstatierte Bedürfnisse zu stillen. Der Begriff dient der Thematisierung, wie der Grad der Erreichung dieses Ziels verbessert werden kann. Dies vor dem Hintergrund, dass sich die avisierten Menschen mitunter so stark voneinander unterscheiden, dass regelmäßig unterschiedliche – eben zielgruppenspezifische – Vorgehensweisen gewählt werden müssen, um das Ziel, alle Individuen annähernd gleich gut bzw. möglichst viele Individuen zu erreichen. Diese Begriffsklärung kann leicht zur Schlussfolgerung verführen, der Zielgruppenbegriff sei ein Segen für jene, die zu einer Zielgruppe gehören, geht es doch um die Optimierung, die Bedarfe der Zielgruppe zu decken oder deren Bedürfnisse zu stillen. Aus Sicht einer kritischen Public Health ist zum Konstatieren von Bedarfen und Bedürfnissen allerdings zumindest zu erwähnen, dass dies (auch trotz erforderlicher objektiver Parameter) immer durch Menschen geschieht und daher in bestimmtem Maße durch deren Eigeninteressen und ihre – oft von der Zielgruppe unterschiedlichen – Lebenserfahrungen und -situation gefärbt ist. " Eine zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung kann zu einem Dilemma werden, wenn sie gesundheitliche Bedarfe einer Zielgruppe decken möchte, die im Widerstreit mit deren Bedürfnissen stehen oder umgekehrt, wenn sie den Bedürfnissen einer Zielgruppe gerecht werden möchte, diese Bedürfnisse aber im Widerstreit mit der Deckung gesundheitlicher Bedarfe dieser Zielgruppe stehen.

Derartige theoretische Überlegungen werden künftig systematisch ausgearbeitet werden müssen, wenn man bedenkt, dass das Thema der Zielgruppenspezifität im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung vor allem wegen des

33

Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung

„Präventionsdilemmas“ (Bauer 2005) im Trend liegt: Die Teilnahmebereitschaft und das Interesse an Präventionsmaßnahmen ist bei jenen Bevölkerungsgruppen am geringsten ausgeprägt, denen aus Public-Health-Perspektive ein erhöhter Bedarf attestiert wird respektive umgekehrt. Der Einbezug von Vertretern der Zielgruppe, möglichst von der Planung über die Durchführung bis zur Evaluation der Maßnahme, gilt deshalb, um diesem Dilemma zu begegnen, als ein Schlüsselprinzip bei der Konzeption und Umsetzung entsprechender Maßnahmen. Diese mangelnde Partizipation bildet auch einen Kritikpunkt an dem Begriff Zielgruppe (Mielck 2014), der mit Vorstellung „ins Visier nehmen“ Einseitigkeit betont. Dennoch gibt es bislang keinen alternativen konsentierten Begriff. Zielgruppen werden typischerweise entlang Geschlecht, Altersgruppen, Familienstand, räumlicher Kategorien, Ethnien/Migrationsstatus, Bildungsstatus, Einkommensklassen, Berufsgruppen, Persönlichkeitstypen und/oder Lebensstilen segmentiert. Das Wissen um diese Kategorien, und dass diese am besten in Kombination einzusetzen sind, ist in der Prävention und Gesundheitsförderung hinlänglich bekannt. Es wird aber offenbar von den Akteuren der Prävention und Gesundheitsförderung regelmäßig unterschätzt, welches Know-how erforderlich ist, um anhand dieser und eventuell weiterer Merkmalsbereiche zu einer Segmentierung zu gelangen, die einen möglichst hohen Beitrag dazu leistet, den Grad der Zielerreichung zu optimieren. Im Abschn. 2 werden Typen elaborierter Ansätze und Konzepte vorgestellt, die den Anspruch erheben, hierfür eine Verbesserung zu bringen. Hierzu zählen erstens auf allgemein- und gesundheitssoziologische Lebensstilkonzepte fußende Ansätze (Abschn. 2.1), zweitens Ansätze auf der Grundlage sozialpsychologischmarktforscherischer oder kultursoziologischer Milieukonzepte (Abschn. 2.2) sowie drittens Ansätze gesundheitsbezogener Lebenslagen auf der Basis soziologischer Lebenslagenkonzepte (Abschn. 2.3). Im Anschluss daran werden in Abschn. 3 zielgruppenspezifische Zugangswege und Ansätze für das Feld der Prävention und Gesundheitsförderung vorgestellt. Der Beitrag schließt in Abschn. 4 mit einigen Schlussbemerkungen.

2

Zielgruppensegmentierung für Prävention und Gesundheitsförderung

2.1

Lebensstiltypen als Zielgruppenmodell

Entwicklungslinien

Der soziologische Lebensstilbegriff geht zurück auf Veblen (1993; zuerst 1899), Simmel (2009; zuerst 1900) und Weber. Die neuere Soziologie bezieht sich von diesen drei Klassikern schwerpunktmäßig auf (Fortsetzung)

393

Webers Lebensstilbegriff, wie er ihn zur Abgrenzung von Ständen zu Klassen verwendet hat. Häufiger noch bezieht sich die neuere Soziologie auf den Lebensstilbegriff von Bourdieu (1999; zuerst 1979), der eine Weiterentwicklung des Weberschen Lebensstilbegriffs mit Blick auf die bürgerlichen Gesellschaften moderner Industrienationen ist. Der soziologische Lebensstilbegriff meint im Wesentlichen, dass die verschiedenen Handlungsroutinen und ästhetischen wie ethischen Präferenzen eines jeden Individuums eine Gesamtgestalt (=Lebensstil) aufweisen, anhand derer sich die Individuen im Alltag gegenseitig klassifizieren bzw. im Sinne einer doing inequality sozial einordnen, integrieren und abgrenzen. Unterschiede in der Begriffsauffassung beziehen sich vor allem auf die Operationalisierung des Begriffs Lebensstil und auf die vermutete Wirkrichtung zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Lebensstilen und klassischen Ungleichheitsmerkmalen.

Das Konzept des Health Lifestyle oder des Gesundheitslebensstils geht zurück auf Abel (Abel und Kohlmann 1989; Abel und Cockerham 1993; Abel 1991, 1992; Cockerham et al. 1993; Abel und Rütten 1994) und wurde wesentlich mitgeprägt von Hradil (1993, 2005). Manche verstehen diesen Begriff als wissenschaftliche Fundierung des Lebensweisen-Begriffs aus der WHO Ottawa-Charta (WHO 1986). Die Weiterentwicklungen bezüglich des Begriffs des Gesundheitslebensstils waren in den letzten zwei Jahrzehnten durch eine Verknüpfung mit Bourdieu (1999) Habitus- und Milieutheorie geprägt (z. B. Abel et al. 2009; Cockerham 2013). In der gesundheitssoziologischen Lebensstilforschung lassen sich zwei typologische Forschungsrichtungen unterscheiden. Die ältere und größere davon sucht nach distinkten gesundheitsrelevanten Handlungssyndromen. Die jüngere und deutlich kleinere sucht nach „allgemeinen“ distinkten Handlungssyndromen (Lebensstilen) und untersucht, wie diese mit einzelnen gesundheitsrelevanten Handlungsweisen in Zusammenhang stehen (Wolf 2003; Gerhards und Rössel 2003). Letztere weist aufgrund des bisher verwendeten theoretischen Ansatzes (Schulze 1992) derart große Überschneidungen mit den Ansätzen auf, die im Abschn. 2.2 vorgestellt werden, dass eine eindeutige Zuordnung hier nicht möglich ist. Die typologische (Gesundheits-)Lebensstilforschung basiert überwiegend auf quantitativen Daten zu Konsum- und Freizeitverhalten/-präferenzen. Mittels clusteranalytischer Verfahren werden die Fälle anhand dieser Daten so zu distinkten Gruppen (Clustern) zusammengefasst, dass die Fälle, die einer Gruppe zugehören, sich hinsichtlich ihres Konsumund Freizeitverhaltens sehr ähnlich sind und sich gleichzeitig diesbezüglich von den Fällen aller anderen Gruppen (Cluster) signifikant unterscheiden. Anschließend bedarf es einer Deutung der Cluster anhand der für sie jeweils typischen Konsum-

394

U. Walter und D. Röding

Tab. 1 Übersicht zu über strukturentdeckende Verfahren ermittelter Gesundheitslebensstil-Typologien Lüschen und Niemann (1995) BE, FR, DE, NE Interventionists (14 %)

Health practitioners (50 %) Health nihilists (36 %)

Lamprecht und Stamm (1999) CH Umfassender Gesundheitsförderer (21 %) Gesundheitsförderer Sport (24 %) Risikovermeider (19 %) Passiv-Desinteressierte (17 %) Risikotyp (20 %)

Röding (2018) DE (regional) Interventionisten (30 %)

Röding (2018) DE (regional) I. Sport (16 %)

Verhältnismäßig gesundheitsförderliche Lebensweise (48 %)

Gesundheitspragmatiker (50 %)

I. Präparate (3 %) I. Ernährung (1 %) Gesundheitspragmatiker (60 %)

Unterdurchschnittliches Gesundheitsverhalten (34 %)

Gesundheitsnihilisten (20 %)

Persist. Nihilist (8 %) Jugendkultur. N. (8 %)

Müller und Heinzel-Gutenbrunner (2001) DE Interventionisten (18 %)

und Freizeitverhaltensmuster, um das rein statistische Ergebnis der Clusteranalyse auf die qualitative Ebene einer (Gesundheits-) Typologie zu heben. Bei der Deutung kommt es wesentlich darauf an, den Sinn zu rekonstruieren, der diesem Verhaltensoder Präferenzkomplex zugrunde liegt. Dies lässt sich gut anhand einer vergleichenden Gegenüberstellung von Gesundheitslebensstil-Typologien veranschaulichen (Tab. 1). Gemeinsam ist diesen Typologien, dass sie auf querschnittlichen Befragungsdaten zu gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen (zum Teil inkl. gesundheitsbezogener Einstellungen) basieren. Die Befragungen unterscheiden sich allerdings zumindest partiell deutlich entlang ihrer Grundgesamtheit, ihres Erhebungszeitpunkts und ihrer Instrumente. Auch wurde bei der statistischen Exploration des Datenmaterials teilweise deutlich unterschiedlich vorgegangen. Dennoch sind bei einer vergleichenden Gegenüberstellung dieser Typologien deutliche Überschneidungen zu beobachten. Auf einer sehr groben Ebene lassen sich drei Typen unterscheiden, die als Interventionist/Gesundheitsförderer, Gesundheitspragmatiker und Gesundheitsnihilist/Risikotyp bezeichnet werden können. Bei dieser Segmentierung in drei Gesundheitslebensstiltypen ist regelmäßig zu sehen, dass die Gruppe mit dem gesundheitszuträglichsten Lebensstil mit Erkrankungen und schlechter Gesundheit assoziiert ist, während die Gruppe mit dem gesundheitsabträglichen Lebensstil mit guter Gesundheit assoziiert ist. Die differenzierteren Typologien von Lamprecht und Stamm (1999) und Röding (2018) ermöglichen ein tieferes Verständnis dieser Typen. So zeigen sich deutliche Hinweise darauf, dass ein schlechter Gesundheitszustand zu einem gesundheitszuträglichen Lebensstil führt und ein sehr guter Gesundheitszustand in der Jugend zu gesundheitsabträglichen Verhaltensweisen verleitet. Bei beiden Varianten scheint der Einfluss des Gesundheitszustandes auf den Gesundheitslebensstil größer zu sein als umgekehrt. Es finden sich aber auch solche interventionistische Typen, die aus dem Präventionsgedanken rühren und mit sehr gutem Gesundheitszustand assoziiert sind, sowie gesundheitsnihilistische Typen unter Erwachsenen mittleren Alters, die mit schlechtem

Gesundheitszustand assoziiert sind. In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass der Zusammenhang vor allem durch den Effekt des Gesundheitslebensstils auf den Gesundheitszustand zu erklären ist. Die größte Gruppe bilden allerdings die Gesundheitspragmatiker mit ihren sehr inkonsistenten Gesundheitsverhalten. In einer Mixed-Methods-Studie von Atteslander et al. (1997) finden sich im qualitativen Studienteil Befunde zur Sinnrekonstruktion dieses Gesundheitslebensstils. Hier wird deutlich, dass für die breite Masse der Bevölkerung Gesundheit nur eine neben vielen alltäglichen Handlungsaufgaben darstellt. " Ein wesentlicher Nutzen von GesundheitslebensstilTypologien als Zielgruppenmodell für die Prävention und Gesundheitsförderung liegt darin, dass sie die Gründe verstehen lassen, weshalb verschiedene Lebensstiltypen (bislang) kaum präventives Gesundheitshandeln zeigen und ggf. sogar in größerem Umfang gesundheitsabträgliche Verhaltensweisen. Interventionen sollten vor allem an diesen Gründen ansetzen. Am Beispiel der jugendkulturellen Gesundheitsnihilisten liegen – in einer vulnerablen Phase heftiger physiologischer Veränderungen und Irritationen des Selbstbilds – die Gründe in einem Konglomerat aus Gegenwartsorientierung, Integrationsbedarfen, Bewährungsbedarfen und Rebellionsbedarfen. Dies kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Relevante Literatur hierzu ist z. B. Vester et al. (2001), Willis (1977) und Franzkowiak (1986, 1987).

2.2

Soziale Milieus als Zielgruppenmodell

Entwicklungslinien

Als Vorreiter moderner Milieu-Typologien, wie sie sich vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren etabliert (Fortsetzung)

33

Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung

hatten, gelten die sozialmoralischen Milieus nach Lepsius (1966). Die Verbreitung des Milieukonzepts in den 1980er-Jahren wurde durch das Marktforschungsinstitut SINUS ausgelöst, die Ende der 1970er-Jahre begonnen haben, mit diesem Konzept Zielgruppen zu segmentieren (Becker und Nowak 1982). Ende der 1980er-Jahre brachte eine Arbeitsgruppe um Vester den Ansatz von SINUS mit Bourdieus (1999; zuerst 1979) Forschungs- und Theorieansatz zusammen und somit das Milieu-Konzept von der Marktforschung zurück in die Soziologie. Diese Ansätze der Milieusegmentierung weisen hohe Überschneidungen mit den Ansätzen der Lebensstilsegmentierung auf. Dennoch gibt es solche Unterschiede, die es nötig machen, diese Variante der Zielgruppensegmentierung als eine eigenständige zu behandeln (Hradil 1992).

Mit Bezug auf die Entwicklungslinien ist es gerechtfertigt, zuerst auf das Potenzial des Ansatzes von SINUS (Becker und Nowak 1982) hinzuweisen. Dieser kommerzielle Ansatz wird seit einiger Zeit bereits zur Zielgruppensegmentierung im Gesundheitsmarkt (z. B. Müller und Spiller 2012) eingesetzt. Darüber hinaus ist der Ansatz auch in einer wissenschaftlichen Studie von einer Arbeitsgruppe um Wippermann und Möller-Slawinski (2011) angewandt worden. ® Nürnberg und Wirtz (2018) sehen die SINUS-Milieus als effektives Zielgruppenmarketinginstrument, mit dem in der betrieblichen Gesundheitsförderung die Teilnahmequoten erhöht werden können. Obgleich nicht in Abrede gestellt werden soll, dass dieser kommerzielle Ansatz einen hohen Nutzen für die Prävention und Gesundheitsförderung entfalten kann, wird im Folgenden ausschließlich der nichtkommerzielle, wissenschaftliche Ansatz von Vester et al. (2001) vorgestellt. Dieser ist bereits vor über zehn Jahren von Bauer (2005) als ein Ansatz aufgegriffen worden, mit dem sich das Präventionsdilemma verstehen und angehen lässt. Hierzu ist vor allem auf den Buchbeitrag von Bauer und Bittlingmayer (2015; zuerst 2006) mit dem Titel „Zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung“ zu verweisen, aber auch auf Bittlingmayer und Bauer (2007) und Vester (2009). Die Milieutheorie von Vester et al. (2001) ist kein eigenständiger Theorieentwurf, sondern eine Weiterentwicklung der Bourdieuschen Ungleichheitstheorie. Diese Theorie erklärt, weshalb wir innerhalb des Schichtungsgefüges auf jeder Ebene sozialer Schichtung Milieus finden, die sich hinsichtlich Mentalität und Lebensstil erheblich voneinander unterscheiden. Diese horizontalen Unterschiede sind uns vor allem durch begriffliche Gegensätze „wie progressiv-konservativ, traditionell-modern oder konventionell-individuell gegenwärtig.“ (Vester et al. 2001, S. 29). Ein Hauptergebnis der Untersuchungen von Vester et al. (2001, S. 29) ist, „daß sich

395

mindestens fünf solche (in sich weiter unterteilbare) Traditionslinien sozialer Milieus unterscheiden lassen [. . .].“ Wie bereits bei Bourdieus Ansatz teilt sich die Oberschicht auch bei Vesters Ansatz nach dem „klassischen Gegensatz“ von Bildung und Besitz bzw. Geist und Macht. Auf der einen Seite steht ein durch Besitz und/oder hoheitlicher Machtpositionen geprägtes Milieu. Dieses zeichnet sich durch einen exklusiven Lebensstil sowie ein Elite- und Machtbewusstsein aus. Man findet dort kaum Menschen, die es geschafft haben, von einer darunter liegenden Statusgruppe in dieses Milieu zu kommen. Auf der anderen Seite der Oberschicht stehen die „humanistischen und dienstleistenden“ Elite-Milieus. Diese Milieus legen großen Wert auf eine verdeckte Abgrenzung und soziale Schließung. Dies erreichen sie, indem sie einen Habitus der hochkulturellen Bildung pflegen sowie die Überzeugung, eine Mission gegenüber den anderen Milieus erfüllen zu müssen. Ferner verteidigen sie das Prinzip, dass soziale Positionen nicht vererbt werden können sollen, sondern durch Leistung erarbeitet werden müssen. Allerdings findet man hier auch ein avantgardistisches Milieu, das sich von diesem Prinzip löst und es durch das Prinzip der schönen Künste und Lebensstile oder das Prinzip der idealistischen Lebensentwürfe ersetzt. Vester et al. (2001) kommt aber nicht nur der Verdienst zu, Bourdieus Sozialstrukturkonzept auf Deutschland und die neuere Zeit angepasst zu haben, sondern auch, das Klassenmodell Bourdieus insbesondere für die Mittelschicht weiter ausdifferenziert zu haben. Ganz wesentlich dabei ist zum einen, dass die Linie, die die herrschende Klasse in jene trennt, die die kulturelle versus die ökonomische Hegemonie halten, auch die breite Mittelschicht in zwei Lager spaltet. Zum anderen konnten Vester et al. (2001) diese beiden Mittelschichtfraktionen entlang einer vertikalen Statushierarchie weiter ausdifferenzieren. Kennzeichnend für alle Milieus, die auf der Seite der kulturellen Hegemonie stehen, ist: „Sie richten sich nicht gerne nach Autoritäten, sondern wollen eigenverantwortlich und gleichberechtigt handeln, gegründet auf ein besonderes Arbeits-, Bildungs- und Gemeinschaftsethos. Die Milieus dieser Traditionslinie sind zugleich sehr modern und historisch sehr alt, da sie auf die vorindustriellen Volkmilieus freier Bauern, Handwerker und Stadtbürger zurückgehen. Ihrer innengeleiteten Mentalität entspricht ein besonderes ‚soziales Gewissen‘. Solidarität folgt dem Grundsatz ‚Leistung gegen Leistung‘, außer wenn jemand unverschuldet in Not gerät.“ (Vester et al. 2001, S. 30). Demgegenüber sind jene Milieus, die auf der Seite der ökonomischen Hegemonie stehen, durch folgendes Weltbild gekennzeichnet: „Es entspricht der Herkunft aus kleinbürgerlich-ständischen Traditionen, wie sie sich über lange Zeit in den ‚subalternen‘ Milieus von stadtbürgerlichen, staatsbürokratischen

396

oder dorfgemeinschaftlichen Hierarchien herausgebildet und konserviert haben. Väter, Chefs, Honoratioren und Politiker gelten noch als Vorbilder. Ihnen ist zu folgen, sie haben aber auch eindeutige Fürsorgepflichten gegenüber ihren Untergebenen. In diesem Patron-Klient-Verhältnis gilt der Grundsatz ‚Treue gegen Treue‘. Am äußeren rechten Rand finden sich hier auch noch ungebrochen autoritäre Arbeiter und Angestellte.“ (Vester et al. 2001, S. 30; die Hervorhebung im Zitat stammt aus dem Original). Die unterprivilegierten Volkmilieus (Unterschicht) sind nach Vester et al. (2001) durch eine Perspektive der Ohnmacht geprägt, die durch die „unterständischen“ Schichten vorindustrieller Gesellschaften bis heute tradiert wird: „In einer solchen unsicheren und unkalkulierbaren Lebenslage schien es wenig Sinn zu haben, die für eine planmäßige Lebensführung notwendige ‚innengeleitete‘ Selbstdisziplinierung zu erwerben. Es kam vielmehr darauf an, flexibel und spontan auf gebotene Gelegenheiten zu reagieren, rasch dazuzulernen und Stärkere zu finden, an die man sich anlehnen konnte. [. . .] Dieser Mischung von Gelegenheitsorientierung und Anlehnung entsprechen Strategien eines ‚aktiven Fatalismus‘. Zeitweise wird eine sorglose Lebensweise im Hier und Heute vorgezogen, die die Augen vor Risiken verschließt [. . .].“ (Vester et al. 2001, S. 32). In der Milieutheorie von Vester et al. (2001) sind Bourdieus Theorie folgend Lebensstile immer auch ein Mittel im alltäglichen Kampf um Macht und Anerkennung, und sie dienen der sozialen Abgrenzung und Integration. Die Kämpfe um Abgrenzung gegenüber statusniedrigeren Gruppen und um Anerkennung des eigenen Status und der eigenen Deutungshoheit spielen dabei eine zentrale Rolle, führen sie doch zu mehr Macht und Einfluss. Mit Verweis auf Bourdieu wird dies in der Milieutheorie als Distinktionsgewinn oder symbolischer Gewinn bezeichnet. „Gesundheitsrelevante Lebensstilmuster sind in diesen Distinktionsmechanismus längst einbezogen. [. . .] Gerade das Gesundheits- und Vorsorgeverhalten ist [. . .] exklusiv.“ (Bauer und Bittlingmayer 2015, S. 708). Es gehört zu Bourdieus (1999; zuerst 1979) großen Verdiensten, die Spielregeln herausgearbeitet zu haben, nach denen diese Kämpfe ausgetragen werden. Jene, die größere Macht über das ökonomische Kapital einer Gesellschaft erlangt haben, hüten die Regel, dass diese Macht immer nur innerhalb derer verteilt wird, die bereits diese Macht haben, und sie hüten die Regel, dass diese Macht nicht zu hinterfragen ist, weil sie grundsätzlich auf Verdienst beruht. Die, die bereits von diesem Milieu als ihresgleichen anerkannt sind, haben höhere Chancen, an diese Machtpositionen zu gelangen. Es lässt sich daher beobachten, dass jene, die neu in dieses Milieu hineinkommen möchten, nicht selten durch einen entsprechenden Lebensstil zu signalisieren versuchen, dass sie bereits zu diesem Milieu gehören. Jene, die größere Macht über das kulturelle Kapital einer Gesellschaft erlangt

U. Walter und D. Röding

haben, hüten die Regel, diese Macht nur an jene weiterzugeben, die sich einen Habitus der hochkulturellen Bildung aufgebaut haben und die Überzeugung teilen, gegenüber den anderen Milieus eine Mission erfüllen zu müssen. Auch hier lässt sich beobachten, dass jene, die nach diesen Machtpositionen streben, den hochkulturellen Habitus und Lebensstil nachahmen und sich in der Missionsarbeit verausgaben. Für die Prävention und Gesundheitsförderung bietet dieses Modell viele nützliche Einsichten in die Lebenswelt dieser Milieus, aber eben auch einen heftigen Impuls zur Selbstreflexion, wenn man die eben genannte Missionsüberzeugung bedenkt: „Es ist leicht zu erkennen, welche Position dieses Panorama für die [Akteure der Prävention und Gesundheitsförderung] bereithält. Es ist die Position der bildungsbürgerlichen und bildungsbürgerlich orientierten, sich durch Distinktion von den Massen wie vom Besitzbürgertum absetzenden kulturellen, pädagogischen, medizinischen, kirchlichen, naturwissenschaftlichen [. . .] Intellektuellen [. . .], die ihre Bewährung in der Funktion finden: Das triebhafte, nicht langfristig denkende (‚hedonistische‘) Volk und die ausbeuterischen Besitzenden Herren (‚führende Eliten‘) müssen zu einem nachhaltigeren Umgang mit ihrem Leben und den natürlichen Ressourcen der Umwelt aufgerufen werden. [. . .] Diese Position gefährdet tendenziell den Respekt vor der Autonomie der Lebenspraxis der Adressierten [. . .]. Daher ist jede pflegerische gesundheitsförderliche Unterstützung, jeder Rat gefährdet, als Rat vom Oben der volksversittlichenden Bildungsbürger nach unten anzukommen, als Besserwisserei und Bevormundung, als – bei allem Mitleid (wegen zu wenig Ressourcen) und aller weltverbessernden Programmatik – Verletzung des Stolzes durch Gesundheitsapostel. Gesundheitsförderung kann die krank machen, die ihren Forderungen nicht genügen können.“ (Behrens 2009, S. 65 f.). Dieser Ansatz der Zielgruppensegmentierung legt – folgt man Behrens – folgende Lösung nahe: „Nicht die pädagogische Aufforderung zu einer einzelnen Verhaltensänderung, nicht die Bereitstellung von Ressourcen, sondern der respektierende Bezug auf den Habitus eröffnet Chancen.“ (Behrens 2009, S. 66). Bislang ist noch wenig darüber klar, wie dies umgesetzt werden kann. Genau dies wäre aber ein Akt der Zielgruppenspezifizierung, der in der Prävention und Gesundheitsförderung künftig zu leisten ist. Ein erster Lichtblick in diesem bislang unterbelichteten Feld ist das Konzept der Habitussensibilität (Sander 2014). In dem von Sander herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Habitussensibilität. Eine neue Anforderung an professionelles Handeln“ werden unter anderen pilothafte Lösungsansätze vorgestellt, die derzeit im Bereich Polizeiarbeit und Studienberatung getestet werden. Die Mehrheit der Beiträge eröffnet aber zumindest einen Diskurs darüber, wie eine solche Habitussensibilität in den Kanon des professionellen Handelns verschiedener Berufs-

33

Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung

gruppen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen sowie dem Bildungssystem integriert werden kann.

2.3

Lebenslagen als Zielgruppenmodell

Entwicklungslinien

Diese Art soziologischer Lebenslagenkonzepte geht auf Neurath (1931, 1937) und Weisser (1951) zurück. Entsprechend war das Konzept zunächst in der Ökonomik und später in der Politikwissenschaft zu finden. In der Soziologie wurde es erst durch Hradil (1983, 1987) vor dem Hintergrund der These der Pluralisierung der Lebenslagen (Beck 1983) in die Breite getragen. Mit dieser Verbreitung entwickelten sich zwei Typen soziologischer Lagenkonzepte. Zum einen solche, die zumindest dem Anspruch nach ihren Fokus auf direkt (un)vorteilhafte Lebensbedingungen und deren Verschränkungen legen (z. B. Schwenk 1999; Röding 2018). Zum anderen sind dies solche, die abweichend davon ausschließlich klassische Segmentierungsmerkmale (Alter, Geschlecht, sozialer Status und ähnliches) miteinander kombinieren (z. B. Habich et al. 1997). Letzterer Typus hat sich im Rahmen von Genderdiskursen in den letzten Jahren fast schon explosionsartig verbreitet. Dies scheinbar in Unkenntnis und in jedem Fall ohne Bezug zu den genannten Traditionslinien wird das Konzept dort als Innovation verstanden und trägt das Label Intersektionalität. Die beiden Ansätze gesundheitsbezogener Lebenslagen von Babitsch (1998) und Sperlich (2009) stellen Mischformen dieser beiden Typen dar. Das Konzept gesundheitsbezogener Lebenslagen wurde in den 1990er-Jahren von Hradil (1993, 1997) vorskizziert. Anwendung fand dieses Konzept durch Babitsch (1998), Sperlich (2009) und Röding (2018). Deren Ergebnisse zeigen, dass es dieses Konzept in besonderem Maße ermöglicht, Bevölkerungen nach ihren Gesundheitschancen zu segmentieren. Man kann auch sagen, diese Ansätze ermöglichen es in besonderem Maße, Zielgruppen zu identifizieren, die einen besonderen Bedarf einer Verbesserung ihrer Gesundheitschancen haben. Zum anderen zeichnen diese Ansätze lebensweltnahe Bilder von Zielgruppen. Diese lebensweltnahen Einblicke haben zumindest das Potenzial, Aufschluss darüber zu geben, welche Ansätze und Methoden der Prävention und Gesundheitsförderung mehr oder weniger gut geeignet sind, um die Gesundheitschancen einzelner Zielgruppen effektiv zu fördern (Sperlich et al. 2012). Dies wird dadurch erreicht, dass beim Lebenslagenkonzept der Fokus weg von den klassischen Segmentierungsmerkmalen wie Alter, Geschlecht,

397

Migrationsstatus, Bildungsstand und berufliche Stellung verschoben wird, hin zu direkt (un)vorteilhaften Lebensbedingungen wie bestimmte Wohn-, Freizeit- und Arbeitsbedingungen sowie vor allem deren Verschränkungen. Wenn man Menschen anhand einer Vielzahl konkreter Lebensbedingungsmerkmale beschreibt, lässt sich zunächst feststellen, dass jeder Mensch in einer individuellen Lebenslage ist. Ordnet man allerdings diese Lebenslagen nach dem Grad ihrer (Un)Ähnlichkeit in einem multidimensionalen Raum an, zeigt sich, dass die individuellen Lebenslagen weit weniger individuell sind als zunächst zu vermuten ist. Stattdessen tritt zum Vorschein, dass die Lebenslage eines jeden Individuums zwar eine individuelle Färbung aufweist, im Wesentlichen aber eine von einer überschaubaren Anzahl distinkter kollektiver Lebenslagen darstellt. In einem zweiten Schritt wird dann untersucht, mit welchen der klassischen Segmentierungsmerkmale diese kollektiven Lebenslagen korrespondieren. Nach diesen beiden primär quantitativstatisch geprägten Arbeitsschritten werden diese komprimierten Daten in einem qualitativ-hermeneutischen Arbeitsschritt im Sinne einer verstehenden Soziologie gedeutet und zu dichten Beschreibungen weiterverarbeitet. Im Folgenden wird das Konzept gesundheitsbezogener Lebenslagen mit seinen Vorzügen für die Segmentierung von Zielgruppen für Prävention und Gesundheitsförderung exemplarisch anhand des Ansatzes von Röding (2018) illustriert. Dieser Ansatz fußt auf einer Sekundäranalyse von Daten einer Befragung aus dem Jahr 2008 unter der volljährigen Bevölkerung in einer Stichprobe (n = 14) ländlichperipherer Gemeinden Nordostdeutschlands (Elkeles et al. 2012). Für diesen Lebenslagenansatz konnten aus den Daten dieser Befragung Indikatoren zu gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen aus folgenden Sphären herangezogen werden: • Erwerbsarbeitssphäre (überlange Arbeitszeiten, lange Pendelzeiten, Formen von Schichtarbeit oder Wechseldienst, strenge Kontrolle der eigenen Arbeitsleistung und damit fehlender Autonomie sowie verschiedene Formen körperlicher Belastungen) • Haus- und Familienarbeitssphäre (Workload durch Formen von Hausarbeit, durch Kinderbetreuung und durch Pflege von Angehörigen) • Arbeitslosigkeitserleben (verschiedene Belastungen, die aus Arbeitslosigkeit rühren) • Sozialleben und Freizeit im Sinne von sozialer Integration und Unterstützung • Wirtschaftliche Lage des Haushalts, in dem man lebt (Netto-Äquivalenzeinkommen) Tab. 2 zeigt eine Synopse der Ergebnisse einer Clusteranalyse, mittels derer Röding (2018) die von ihm untersuchte erwachsene Landbevölkerung in distinkte Lebenslagen hat

398

U. Walter und D. Röding

Tab. 2 Synopse aus Ergebnissen von Röding (2018)

Ressourcen Soziale Integration Netto-Äquivalenzeinkommen Belastungen Nachteile aus Arbeitslosigkeit Workload Hausarbeit Workload Kinderbetreuung Workload Laienpflege Workload Erwerbsarbeit Zeitaufwand für Pendeln Schichtarbeit/Wechseldienst Strenge Kontrolle bei Arbeit Körperlich beanspruchende Arbeit

Cluster 1

Cluster 2

Cluster 3

Cluster 4

Cluster 5

Cluster 6

Cluster 7

Cluster 8

Cluster 9

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Waagerechte Pfeile bezeichnen eine durchschnittliche Ausprägung der Ressource bzw. der Belastung. Nach oben bzw. unten zeigende Pfeile bezeichnen eine über- bzw. unterdurchschnittliche Ausprägung Ressource bzw. der Belastung in drei Intensitätsstufen. Mit Kursivdruck hervorgehoben sind besonders unterdurchschnittliche Ausprägungen bei den Ressourcen sowie besonders überdurchschnittliche Ausprägungen bei den Belastungen

unterscheiden lassen. Der Ansatz wird im Folgenden exemplarisch anhand der typologischen Lebenslagenbeschreibungen zu Cluster 1 und Cluster 5 illustriert. Cluster 1 Etwa 10 % der untersuchten Bevölkerung befinden sich in dieser Lebenslage. Die zentrale soziale Determinante dieser Lebenslage ist häufige und/oder langandauernde Arbeitslosigkeit. In der Untersuchungsregion betrifft diese Lebenslage auch Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen. Lediglich hohe Bildungsabschlüsse (Hochschulreife oder -abschluss) sind im Sinne eines Protektivfaktors mit dieser Lebenslage assoziiert. Es zeigt sich, dass diese Lebenslage auch unter statistischer Kontrolle von Alter, Geschlecht, sozialem Status und Gesundheitslebensstil in besonderem Maße mit Erkrankungen und schlechtem Gesundheitszustand assoziiert ist. Die Ergebnisse der Clusteranalyse legen nahe, dass die Gesundheitschancen dieser Bevölkerungsgruppe durch drei Ansatzpunkte zu verbessern ist: (1) Steigerung der sozialen Integration und Unterstützung, (2) Steigerung der finanziellen Ressourcen und (3) Minderung der aus Arbeitslosigkeit rührenden finanziellen, psychischen und sozialen Belastungen. Zwar ist hierfür vor allem das Instrument der Arbeitsförderung (Integration in den Arbeitsmarkt) geeignet, allerdings ist dies für den besonders stark von Peripherisierungsprozessen betroffenen Untersuchungsraum allenfalls bedingt möglich. Spezifisch für den Untersuchungsraum müsste man daher, möchte man die Gesundheit dieser Gruppe effektiv fördern, auf einer Makroebene mit Strukturfördermaßnahmen intervenieren. Cluster 5 Von der untersuchten Bevölkerung befinden sich etwa 14 % in dieser Lebenslage. Die beiden sozialen Determinanten

dieser Lebenslage sind für die Untersuchungsregion mittlere Bildung und mittleres Erwachsenenalter (30–50 Jahre). Ferner korreliert diese Lebenslage mit männlichem Geschlecht, wobei sie keinesfalls auf dieses begrenzt ist. Auch diese Lebenslage ist unter statistischer Kontrolle von Alter, Geschlecht, sozialem Status und Gesundheitslebensstil in besonderem Maße mit Erkrankungen und schlechtem Gesundheitszustand assoziiert. Die Ergebnisse der Clusteranalyse legen nahe, dass die Gesundheitschancen dieser Bevölkerungsgruppe durch eine Reduzierung der für ihre Lage typisch mehrfach vorliegenden gesundheitsabträglichen Arbeitsbedingungen zu verbessern sind. Konkret handelt es sich dabei um überlange Arbeitszeiten, körperlich stark beanspruchende Arbeit, die teilweise mit Schicht- und/oder Wechseldienst sowie mit strenger Kontrolle durch Vorgesetzte verbunden ist. Denkbar ist hier z. B. eine Verknüpfung von auf der einen Seite arbeits- und sozialpolitischer Maßnahmen und auf der anderen Seite Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung. Dabei sollte zum einen im Zentrum stehen, dass diese Bevölkerungsgruppe für ihr durchschnittliches Einkommen eher weniger Arbeitsstunden leisten muss, und zum anderen, dass die Belastungen am Arbeitsplatz so gering wie möglich gehalten werden.

3

Zielgruppenspezifität in der Prävention und Gesundheitsförderung

Die Planung und Umsetzung präventiver und gesundheitsförderlicher Maßnahmen sollte sich am Public Health Cycle orientieren, dessen einzelne Schritte in den unterschiedlichen Qualitätstools wie Quintessenz, QuiP etc. detailliert aufgezeigt sind. Sämtliche Schritte sind geeignet, die Zielgruppen-

33

Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung

399

Abb. 1 Zugangswege und Anspracheformen. (Aus: Walter und Jahn 2015)

spezifität zu reflektieren. Auf eine gesonderte Darstellung z. B. der Ermittlung des Bedarfs wird deshalb an dieser Stelle verzichtet. Vielmehr sollen einige grundsätzliche Aspekte beispielhaft erörtert werden. Einen Überblick gibt Abb. 1. Um eine Maßnahme zielgruppenspezifisch planen zu können, ist es notwendig, theoriebasiert und empirisch gestützt das Ziel so klar wie möglich zu definieren sowie die Zielgruppe(n) zu beschreiben. Hieran schließt sich die Frage an, wo und wie die Zielgruppe erreicht werden kann. Grob lassen sich Zugangsstrukturen in sog. Komm-Strukturen und Zugeh-Strukturen unterscheiden. Erstere setzen traditionell Ankündigungen z. B. via Flyer, Plakat oder in Medien (z. B. Zeitschriften der Krankenkassen) ein, auf die üblicherweise nur „gesundheitsbewusste Gesunde“ reagieren. Häufig ist dieser Zugang besonders für vulnerable Zielgruppen ungeeignet. So konnten im Rahmen eines evaluierten Projektes zur Suchtprävention über öffentliche Ankündigungen in einschlägigen Einkaufsläden, Aushänge und Postwurfinformationen für eine türkisch- bzw. russischsprachige Informationsveranstaltung keine Teilnehmenden gewonnen werden. Ein eher aussuchender Zugang über Moscheen und Vereine unter Einbindung von muttersprachlichen Mediatoren erwies sich dagegen als erfolgreicher (Krauth et al. 2011). Ein Bei-

spiel für ein erfolgreiches Modell sind auch die Stadtteilmütter. Aus der Gruppe der Peers wurden hierbei Personen geschult und gezielt in Stadtteiltreffs eingebunden, um andere Mütter zu erreichen (Berg et al. 2015; weitere Beispiele s. Supplement Gesundheitswesen 2015, zu Zielgruppen in der Betrieblichen Gesundheitsförderung s. Walter und Brandes 2016). Zuweilen ist eine weitere Selektion der Zielgruppe im Vorfeld erforderlich. Ein Beispiel hierfür ist der von Gesundheitsfachkräften durchgeführte präventive Hausbesuch, dessen Zugangswege modellhaft im Rahmen eines Projektes erprobt und evaluiert wurden (Patzelt et al. 2016; Patzelt et al. 2012). Zur Auswahl der Zielgruppe wurden anhand ausgewählter Krankenkassendaten ältere Menschen identifiziert und persönlich angeschrieben. Da im Vorfeld allerdings nur eine grobe Selektion insbesondere hinsichtlich des Alters, Geschlechts und Pflegebedarfs möglich war, wurde ein kurzer Fragebogen konzipiert, der in einem Telefongespräch zur Identifikation der potenziellen Zielgruppe diente. " Zentral ist die Konzeption einer zielgruppenspezifischen Kommunikationsstrategie. Hierbei ist vor allem zu klären, welche Medien bzw. Kommunikationsmittel (z. B. E-Mail

400

und Website), welcher Stil der Kommunikation (z. B. Spannungsschema) und welche zentralen Themen mit den Zielgruppen und dem Maßnahmenkonzept in Einklang stehen. In Einklang stehen heißt in diesem Fall vor allem, dass die Information auch den Weg zur Zielgruppe findet und sich die Zielgruppe von der Form, wie ihr die Information dargeboten wird, angesprochen fühlt.

Mit der zunehmenden Digitalisierung ist auch diese für den Zugang zu präventiven Interventionen relevant. Besonders in jüngeren Zielgruppen werden entsprechende Wege seit längerem von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eingebunden und weiter entwickelt (Nöcker und Quast 2015). Verfahren, wie sie im Gesundheitsbereich z. T. in den USA eingesetzt werden, bei denen Informationen je nach Typ optisch aufbereitet und präsentiert werden, werden derzeit von den Krankenkassen in Deutschland (noch) nicht eingesetzt. Ein besonderes Augenmerk sollte auf der Ansprache der Personen liegen, die ebenfalls optimalerweise gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Zielgruppe gestaltet werden sollte. So wurde z. B. in dem zuvor beschriebenen Projekt der von den Anbietern gewählte Name der Veranstaltung „gesund älter werden“ von den Betroffenen abgelehnt und vielmehr der von ihnen vorgeschlagene Titel „selbständig leben im Alter“ als aufmerksamkeitssteigernd und motivierend erlebt. Wichtig ist oft auch eine genderspezifische Ansprache. So können (ältere) Frauen für körperliche Aktivitäten eher über die Adressierung sozialer Aspekte angesprochen werden, Männer sind eher empfänglich für körper- und leistungsorientierte Stimuli (Patzelt et al. 2012, 2016). Über ein gendergerechtes Anschreiben konnte so eine – wenn auch geringe – Zunahme der Teilnahme erreicht werden. Zusammenfassend sollte auf Basis einer Analyse der Zielgruppe, eines adäquaten Zielgruppenmodells (Abschn. 2) und durch Beteiligung der Zielgruppe geklärt werden, welcher Ansatz und welche Zugangsstrukturen, welche Methoden, welcher Stil (z. B. Spannungsschema) und welche Inhalte mit den Bedarfen und Bedürfnissen der Zielgruppe in Einklang stehen. In diesem Prozessschritt wird deutlich, ob auch alle Personen aus der anfangs definierten Zielgruppe tatsächlich mit einer einzigen Variante der Maßnahme erreicht werden können, oder ob ggf. die Maßnahme diversifiziert – also in mehreren Varianten konzipiert – werden muss. Deutlich wird, dass der Auswahl und dem Zugang zur Zielgruppe ebenso große Aufmerksamkeit beigemessen werden muss wie der zielgruppengerechten Konzeption der Intervention selbst. So zeigen Evaluationen, dass die Kosten für den Zugang durchaus dem der Intervention entsprechen können, diese Intervention aber lohnenswert ist (Krauth et al. 2002). Eine gründliche Klärung und Ausarbeitung dieser Aspekte ist sehr aufwändig, sie trägt allerdings zur Wirksamkeit der Maßnahme bei.

U. Walter und D. Röding

" Die Evaluation von Zielgruppenspezifität kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden, wobei aus Public-HealthPerspektive die Frage nach einer zielgruppenspezifischen Wirksamkeit von herausragender Bedeutung ist. Zentral ist dabei zu berücksichtigen, ob die definierte Zielgruppe tatsächlich erreicht wurde und von der Maßnahme profitiert.

4

Schlussbemerkungen

Auch wenn die Relevanz der Zielgruppenorientierung in der Prävention und Gesundheitsförderung seit langem bekannt ist, so bleiben viele Fragen offen. Forschungen, die sich explizit mit dem Zugang befassen, sind noch eher selten. Dennoch ist in Deutschland die Sensibilität für diese Themen gestiegen, Zielgruppenspezifität, die Einbindung der Betroffenen in die Planung und Umsetzung sowie die Entwicklung und Erprobung neuer Zugangswege sind wichtige Themen in der Prävention und Gesundheitsförderung. Die Einbindung neuer Medien und Nutzung (digitaler) Spiele (gamification) steht noch am Anfang. Zu fragen ist allerdings auch nach den Grenzen der Zielgruppenspezifität, die insbesondere die Konzeption der Angebote betrifft. Damit einher geht auch die Frage nach der Verbindung spezifischer Maßnahmen mit generellen Setting-Ansätzen.

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Prävention und Gesundheitsförderung in Settings und Lebenswelten

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Kevin Dadaczynski

Inhalt 1

Einleitung: ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

2

Multifaktorielle Determination von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404

3 Settingansatz der Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 3.1 Begriffsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 3.2 Settingansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 4 Umsetzung und Herausforderungen des Settingansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 4.1 Aktuelle Praxis der settingbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 4.2 Herausforderungen der settingbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 5

Von der setting- zur lebensweltorientierten Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . . 409

6

Anforderungen an die lebensweltorientierte Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . 410

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

1

Einleitung: ein Fallbeispiel

Max und Michelle sind beide fünf Jahre alt und besuchen die Kindertagesstätte „Kunterbunt“ in einer Stadt mittlerer Größe. Abgesehen hiervon stellt sich die Lebenssituation der beiden unterschiedlich dar. Während Max mit seinen Eltern und seiner 7-jährigen Schwester in einem Einfamilienhaus in einem beliebten Stadtteil unweit der Kita wohnt, lebt Michelle mit ihrer Mutter in einem kleinen Vorort. Auch wenn die Kita „Kunterbunt“ eine halbe Stunde Fahrzeit erfordert, mag Michelle diese sehr gerne. Leider kann sie wegen der Fahrzeit nicht an Aktivitäten außerhalb der regulären Kita-Zeit teilnehmen. Die Eltern leben getrennt und es besteht kein Kontakt zum Vater, daher muss die Mutter die kleine Familie mit ihrer halben Stelle in einem Supermarkt alleine versorgen. Zwar liegt der Wohnort sehr idyllisch, hält aber kaum Angebote für Kinder bereit (kein

K. Dadaczynski (*) Fachbereich Pflege und Gesundheit, Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland E-Mail: [email protected]

Sportverein oder sonstige Freizeiteinrichtungen). Da kürzlich ein Überfall in der Nähe der Wohnung stattgefunden hat, erlaubt die Mutter ihrer Tochter nicht, alleine draußen zu spielen. Damit bleiben Michelle und ihre beste Freundin oftmals drin und schauen Fernseher. Hingegen hat das Wohnhaus von Max einen großen Garten und viel Platz zum Spielen. Da das Haus in einer verkehrsberuhigten Zone liegt, trifft er sich mit seinen Freunden regelmäßig zum Skateboarden direkt in der Spielstraße. Bewegung spielt in der Familie eine große Rolle. Regelmäßig unternimmt die Familie Ausflüge ins Grüne (z. B. Fahrradtouren). Durch die verkehrsgünstige Lage hat es Max nicht weit zum Kindergarten „Kunterbunt“ und auch zum Sportverein, in den er zweimal wöchentlich zum Fußballtraining geht. Dieses hier vorgestellte Beispiel illustriert zwei kontrastierende Fälle, die in ihrer Gegenüberstellung zwar etwas überzeichnet wirken, jedoch u. a. verdeutlichen sollen, wie die Kontexte, in denen (junge) Menschen situiert sind, einen Einfluss auf die Gestaltungs- und Lebensmöglichkeiten haben, von denen wiederum ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die Gesundheit ausgeht. Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass sich (junge) Menschen zwar durch

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_37

403

404

K. Dadaczynski

den Besuch eines gemeinsamen Settings (hier eine Kita) auszeichnen, dass dieser spezifische (hier organisationale) Kontext jedoch nur ein Teilelement einer komplexen Lebenswelt darstellt. Diese Gedanken stellen den Ausgangspunkt dieses Kapitels dar, welches sich mit Settings und Lebenswelten der Prävention und Gesundheitsförderung befasst. Nach einer kurzen Bestimmung zentraler Determinanten von Gesundheit wird im Folgenden zunächst der klassische Settingansatz, wie ihn die Weltgesundheitsorganisation (1986) in die Fachdiskussion eingeführt hat, eingehender vorgestellt und dessen Umsetzungsstand diskutiert. Hiervon abzugrenzen sein wird im weiteren Verlauf der Lebensweltansatz, der in den letzten Jahren, insbesondere mit der Verabschiedung des Präventionsgesetzes (PrävG) in Deutschland, eine hohe terminologische Bedeutung erfahren hat. Der Beitrag schließt mit den aus Sicht des Autors zentralen Anforderungen an die Umsetzung einer ganzheitlichen lebensweltbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention.

2

Multifaktorielle Determination von Gesundheit und Krankheit

Seit dem Beginn ihrer Aufzeichnung im Jahr 1871 ist die Lebenserwartung in Deutschland kontinuierlich gestiegen und lag für Neugeborene im Jahr 2015 übergreifend bei etwa 80,8 Jahren (männlich: 78,31 Jahre, weiblich: 83,20 Jahre, Statistisches Bundesamt 2018). Alleine im Vergleich zum Jahr 2000 ergibt sich über einen Verlauf von nur 15 Jahren ein Anstieg der Lebenserwartung von durchschnittlich zwei Jahren. Gründe hierfür sind deutliche Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen, eine Zunahme des gesellschaftlichen Wohlstands sowie vor allem medizinische Fortschritte, die zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung geführt haben. Zur Bewertung der gesundheitlichen Lage stellt sich unabhängig hiervon jedoch auch die Frage der Verbreitung von Krankheiten. Hier zeichnete sich in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Verschiebung des Krankheitsspektrums ab. Im Gegensatz zu Infektionskrankheiten und akuten Krankheiten haben vor allem nichtübertragbare und chronische Erkrankungen an Bedeutung gewonnen. " So ließen sich im Jahr 2016 weltweit etwa 57 Mio. Todesfälle auf nichtübertragbare Erkrankungen zurückführen, was einem Anteil von 71 % aller Todesfälle entspricht (WHO 2018). Der Anteil der in Deutschland auf nichtübertragbare Krankheiten zurückfahrbaren Todesfälle beträgt sogar 91 %, wovon Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, Krebserkrankungen oder auch Krankheiten des Atmungssystems einen Großteil ausmachen (WHO 2014; RKI 2015).

Bei der Erforschung der Ätiologie von (lebensstilassoziierten) Erkrankungen wurden in Überwindung einer ausschließlich biomedizinischen Betrachtung vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene längsschnittlich angelegte Kohortenstudien initiiert. Im Gegensatz zu isolierten Einzeleinflüssen standen hier vor allem die multikausale Genese und die komplexe Wechselwirkung verschiedener Einflussfaktoren im Mittelpunkt des Interesses (für einen Überblick s. Ahrens und Pigeot 2012). So haben u. a. die Ergebnisse der Framingham-Studie zur Entwicklung von epidemiologischen Risikofaktorenmodellen beigetragen, die später, u. a. inspiriert durch die Ergebnisse der WhitehallStudien, zur Aufnahme von sozialen Aspekten (u. a. sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheit) geführt haben. Aktuelle Modellvorstellungen gehen entsprechend dieser Erkenntnisse von einer multifaktoriellen Genese von Gesundheit und Krankheit aus und berücksichtigen neben Risikofaktoren ebenfalls Schutzfaktoren und deren Interaktion. Innerhalb des in Abb. 1 dargestellten sozialökologischen Ansatzes werden fünf übergeordnete Kategorien von Gesundheit differenziert (Dahlgren und Whitehead 2006). Während das Individuum den unveränderbaren soziodemografischen und genetisch-physiologischen Kern darstellt, umfasst die Dimension „individuelle Lebensweise“ Aspekte des individuellen Gesundheitsverhaltens (z. B. körperliche Aktivität, Teilnahme an Früherkennung), einschließlich ihrer Determinanten (z. B. Wissen, Einstellungen, Verhaltenskontrolle). Fokus der darüber liegenden Mesoebene sind vor allem Einflüsse des sozialen Umfelds, die aus der Interaktion in Dyaden und Gruppen resultieren (z. B. Freunde, Familie, Partnerschaft). Die individuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen (z. B. im Bereich Bildung, Erziehung, der Arbeit oder der Wohnverhältnisse) konstituieren eine weitere Kategorie dieses Ansatzes, die vor allem in der Prävention und Gesundheitsförderung im Zusammenhang der Verhältnisprävention und des Settingansatzes prominent vertreten wird. Schließlich stellen makrosystemische Faktoren wie politische, ökologische und ökonomische Einflüsse (Werbung, Gesundheitspolitik) sowie kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen (z. B. Normen und Werte) einen gesellschaftlichen Rahmen dar, der außerhalb des Einflussbereiches einzelner Personen liegt. Gerade im Zusammenhang der Prävention nichtübertragbarer Erkrankungen wird in den letzten Jahren die zunehmende Einflussnahme durch industrielle Akteure (commercial determinants of health; Kickbusch et al. 2017) und damit die Bedeutsamkeit regulatorischer Maßnahmen (z. B. Steuerpolitik) diskutiert (Schaller und Mons 2018). In der Abb. 1 nicht berücksichtigt, jedoch in der systemorientierten Theorie Uri Bronfenbrenner (1986) zentral, ist die zeitliche Struktur der unterschiedlichen Ebenen (Chronosystem). Obgleich die einzelnen Ebenen bzw. Kategorien von Determinanten eine gewisse Stabilität und Allgemeingültig-

Prävention und Gesundheitsförderung in Settings und Lebenswelten

mmunale N d ko etz n u we e l r zia idue

Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion

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Wasser und sanitäre Anlagen

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405

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B

34

Gesundheitsversorgung

Alter, Geschlecht und Erbanlagen Wohnverhältnisse

Abb. 1 Determinanten von Gesundheit (Dahlgren und Whitehead 2006, S. 20). Mit freundlicher Genehmigung der WHO, Regional Office Europe, Copenhagen

keit aufweisen, können diese in einzelnen Lebensphasen sowie über den zeitlichen Verlauf für Individuen eine unterschiedliche Bedeutung erlangen. Hierbei lässt sich zwischen Lebensübergängen (Veränderungen von Rollen durch den Übergang in einen neuen Lebensbereich, z. B. Übergang von der Kita zur Schule oder von der Schule zum Beruf) einerseits und einer Lebenslaufperspektive (die Betrachtung über längere biografische Zeiträume hinweg) andererseits unterscheiden.

3

Settingansatz der Gesundheitsförderung und Prävention

Als Kernstrategie finden sowohl der Begriff „Setting“ als auch der hiermit verbundene Ansatz in der vor mehr als 30 Jahren in Ottawa verabschiedeten Charta zur Gesundheitsförderung erstmalig ihre Verankerung (WHO 1986). In Anlehnung an die in Abb. 1 dargestellten Ebenen von Determinanten formuliert auch die Weltgesundheitsorganisation (1986): " „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstän-

de auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen.“

3.1

Begriffsverständnis

Auch wenn hiermit eine erste Grundkontur geschaffen ist, besteht bislang keine Einigkeit darüber, was genau unter einem Setting zu verstehen bzw. darunter zu subsummieren ist. Ohne die Vielfalt der internationalen Diskussion an dieser Stelle in erschöpfender Tiefe wiederzugeben, lassen sich die zentralen Bestimmungsversuche zwei grundlegenden Lesarten zuordnen. Während eher eng gefasste Definitionsversuche Settings in ihrer sozial-räumlichen Beschränkung zu beschreiben versuchen, betonen eher weit gefasste Begriffsbestimmungen, dass physische oder strukturelle Aspekte mögliche, jedoch keine hinreichenden und ausschließlichen Charakteristika von Settings darstellen. In ihrer vielbeachteten Definition versteht die WHO (1998, S. 19) unter einem Setting: " Definition Setting nach WHO „[. . .] the place or social

context in which people engage in daily activities in which environmental, organizational and personal factors interact to affect health and wellbeing. [. . .] Settings can normally be identified as having physical boundaries, a range of people with defined roles, and an organizational structure.“

406

K. Dadaczynski

Die physische Struktur und die räumliche Begrenzung stellen hierbei ebenso wie definierte soziale Rollen und organisationale Strukturen konstituierende Elemente dar. Eine vergleichbar (enge) Auffassung vertreten Barić und Conrad (1999, S. 18), denen zufolge Settings zuvorderst Organisationen darstellen. Jede Organisation wird durch eine definierbare Gruppe von Menschen repräsentiert, die zur Erreichung ihrer Ziele Aktivitäten im Sinne eines Managementansatzes koordinieren. Im Vergleich hierzu plädieren weitgefasste Begriffsbestimmungen für ein organisationsübergreifendes Verständnis. Stellvertretend sei auf die Definition von Hartung und Rosenbrock (2015) verwiesen, denen zufolge Settings als Sozialzusammenhänge definiert werden, in denen sich Menschen tagtäglich bewegen und von denen ein Einfluss auf die Gesundheit ausgeht. Wenngleich die formale Organisation auch hier ein konstituierendes Element darstellt, wird das Verständnis von Settings an dieser Stelle um verschiedene Aspekte wie die regionale Ausgangssituation (z. B. Anzahl der Einwohner in einer Kommune), die Lebenslage (z. B. Kinder aus sozial benachteiligten Stadtteilen), die gemeinsam geteilten Werte und Präferenzen der Mitglieder (z. B. kulturelle und religiöse Einstellungen) oder auch durch eine Kombination dieser Merkmale deutlich erweitert. Schließlich lässt sich mit Wenzel (1997) ein Vertreter eines noch breiter gefassten Verständnisses anführen. Hier werden Settings als räumliche, zeitliche und kulturelle Bereiche der direkten Interaktion im Alltag verstanden, von denen ein Einfluss auf die Entwicklung und Gestaltung gesundheitsrelevanter Lebensstile und Lebensbedingungen ausgeht. " Werden nun die exemplarisch vorgetragenen Ansätze hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten betrachtet, ist allen Bestimmungsversuchen die Annahme gemein, dass sich Menschen für einen Großteil ihres Alltags in verschiedenen Settings (entweder Organisationen oder soziale Kontexte) aufhalten und somit von diesen beeinflusst werden. Gemäß der Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung können Menschen diese aber auch als aktiv handelnde Subjekte selbst gestalten. Die jeweils in den Settings wirkenden Faktoren können einen gesundheitsförderlichen bzw. stabilisierenden oder einen gesundheitsabträglichen Einfluss haben. Folglich gilt es, diese individuellen, umweltbezogenen oder organisationalen Faktoren zu identifizieren und gezielt durch gesundheitsförderliche Interventionen zu beeinflussen.

3.2

Settingansatz

Während der Begriff Setting eher den Kontext beschreibt, bezieht sich der Settingansatz auf die Art und Weise der strategischen Umsetzung und Ausrichtung von Interventio-

nen. Auch wenn der Settingansatz sowohl in der OttawaCharta als auch in den WHO-Nachfolgekonferenzen als Schlüsselstrategie zur Umsetzung der Prinzipien der Gesundheitsförderung bezeichnet wird, besteht in der Frage des „Wie“ bislang kein einheitliches Vorgehen. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt (Dadaczynski et al. 2016; Dooris 2009), lässt sich der Settingansatz durch ein Set an übergreifenden, miteinander interagierenden Kerndimensionen beschreiben: Ökologisches Modell von Gesundheit: In Abgrenzung einer biomedizinischen Betrachtung, in der Krankheiten auf individuelle Störungen im normalen Funktionieren begrenzt sind (Faltermaier 2017), stellt Gesundheit im Settingansatz entsprechend sozialökologischer Ansätze das Ergebnis eines komplexen Geflechts von individuellen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Determinanten dar. Dementsprechend rekurriert der Settingansatz auf zwei der in der OttawaCharta formulierten Handlungsebenen der Gesundheitsförderung: (1.) die Entwicklung gesundheitsförderlicher Kompetenzen (engl.: develop personal skills) und (2.) die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten (engl.: create supportive environments). Ein „holistisches“ Verständnis von Gesundheit erfordert sodann, dass die in der Prävention und Gesundheitsförderung oftmals geführte Diskussion um die Bevorzugung eines ausschließlich verhaltens- oder verhältnispräventiven Vorgehens zugunsten einer aufeinander abgestimmten kombinierten Strategie aufgegeben wird. Systemische Perspektive: Settings wie Familien, Schulen, Kommunen oder Betriebe können als komplexe und dynamische Systeme verstanden werden, deren einzelne Elemente (z. B. Menschen, Werte, physische Struktur) miteinander in Beziehung stehen und sich wechselseitig beeinflussen. Systemtheoretischen Überlegungen zufolge nehmen diese Systeme Einflüsse von außen auf (Input, z. B. eine gesundheitsförderliche Intervention wie eine Ernährungsberatung für Multiplikatoren), verarbeiten diese (Throughput) und geben diese wieder in das System ab (Output, z. B. Etablierung eines Schulfrühstücks), um einen positiven Einfluss auf die Gesundheit zu erzielen (Outcome, z. B. gesundes Ernährungsverhalten). Aufgrund der Komplexität sozialer Systeme sind Interventionen und deren Wirkungen im Settingansatz nicht immer gänzlich vorhersagbar. Ganzheitliche Organisationsentwicklung: Der Settingansatz bedient sich verschiedener Methoden der Organisationsentwicklung, sofern ein organisationaler Interventionskontext (z. B. Betrieb, Schule, Kita, Krankenhaus) adressiert wird. Hierzu gehört im Sinne systematischer Entwicklungs- und Änderungsprozesse u. a. eine Organisationsdiagnose, Coachingmaßnahmen oder auch Capacity Building durch Perso-

34

Prävention und Gesundheitsförderung in Settings und Lebenswelten

nal- oder Teamentwicklung. Idee solcher Maßnahmen ist, Gesundheit in alle Prozesse und Strukturen des Settings zu integrieren („health mainstreaming“, Hascher und Baillod 2008). Dies ist vor allem dann aussichtsreich, wenn die gesundheitsbezogenen Interventionen eine hohe Passung mit den Kernanliegen und -zielen des jeweiligen Settings aufweisen (z. B. Produktivität im Setting Betrieb oder Bildungsqualität im Setting Schule). Diese Ausführungen machen deutlich, dass sich der Settingansatz der Gesundheitsförderung und Prävention vor allem durch ein hohes Ausmaß an Komplexität auszeichnet. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass der Begriff der „komplexen Interventionen“ vor allem in der internationalen Public-Health-Forschung in den letzten Jahren eine zunehmende Beachtung erfahren hat (u. a. Campbell et al. 2000; Patticrew 2011). Komplexe Interventionen

Zentrale Kennzeichen komplexer Interventionen sind nach Guise et al. (2017, S. 7), dass diese: • verschiedene, miteinander interagiere Komponenten umfassen (intervention complexity) und • multiple Wirkungspfade, Feedback-Loops, Synergien und Drittvariablen in der Erzeugung ihrer Wirkungen aufweisen (pathway complexity). Weitere mögliche Eigenschaften komplexer Interventionen sind überdies: • die Adressierung verschiedener Zielgruppen, Akteure oder Einrichtung (population complexity), • die Interaktion mit dynamischen Umwelten (contextual complexity) sowie • die Tatsache, dass entsprechende Interventionen vielfältige aufeinander abgestimmte Strategien der Integration und Akzeptanz bedürfen (implementation complexity).

4

Umsetzung und Herausforderungen des Settingansatzes

4.1

Aktuelle Praxis der settingbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention

Seit Verabschiedung der Ottawa-Charta vor mehr als 30 Jahren erfreut sich der Settingansatz in der Gesundheitsförderung und Prävention national wie international einer hohen Beliebtheit. So werden in der deutschen Datenbank des Kooperationsver-

407

bundes „Gesundheitliche Chancengleichheit“ über die 26 zur Auswahl gestellten Settings aktuell insgesamt etwa 1500 Projekte gelistet1 (http://www.gesundheitliche-chancengleichheit. de. Zugegriffen am 22.08.2018). Darüber hinaus weist der Präventionsbericht des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherungen aus, dass im Jahr 2016 durch Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention insgesamt etwa 35.500 nicht-betriebliche und mehr als 13.000 betriebliche Settings erreicht werden konnten, was einer Gesamtanzahl von mehr als 4,7 Mio. Menschen (d. h. etwa 6 % der Bevölkerung in Deutschland) entspricht (Schempp und Strippel 2017). Im Vergleich zum Vorjahr konnte im Jahr 2016 ein Anstieg von etwa 37 % verzeichnet werden, was vor allem auf die im Zuge der Präventionsgesetzgebung festgelegte Erhöhung jährlich zu verausgabender Mittel auf 7 EUR pro Versicherten zurückzuführen ist. Mit Blick auf Settings und Themen zeigt sich, dass Kitas und Grundschulen mit 59 % die am häufigsten adressierten nicht-betrieblichen Settings darstellen. Dabei überwiegen bei den durch die gesetzlichen Krankenversicherungen finanzierten und durchgeführten Maßnahmen vor allem die Themen Ernährung, Bewegung, psychische Ressourcen und Stressreduktion, wobei die durchschnittliche Laufzeit 22 Monate beträgt. Auf Ebene der betrieblichen Settings besonders häufig adressiert sind das verarbeitende Gewerbe, das Gesundheitsund Sozialwesen sowie der Dienstleistungssektor, wobei Kleinund Kleinstunternehmen am seltensten angesprochen wurden. Inhaltlich überwiegen auf Ebene des Verhaltens die Themen Bewegung und Stressprävention und auf Ebene der Verhältnisse die gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitstätigkeiten und -bedingungen allgemein sowie die bewegungsförderliche Umgebungsgestaltung im Besonderen (ebda.). " Auch wenn die Zahlen auf den ersten Blick recht beeindruckend erscheinen, so sagen diese wenig darüber aus, in welchem Ausmaß die jeweiligen Maßnahmen und Projekte umgesetzt worden sind und dem Settingansatz gemäß den Kerndimensionen tatsächlich entsprechen. Nach wie vor lässt sich ein Mangel an Forschung bezüglich der Implementierung von Interventionen in und mit Settings konstatieren.

Positiv hervorzuheben ist die Übersichtsarbeit von Whitelaw et al. (2001), die auf Basis einer Literatursichtung und eigener Erfahrung fünf Typen von Settingaktivitäten in der Praxis differenzieren konnten (Tab. 1). Während Gesundheit im „passiven“ Modell ausschließlich im individuellen Zuständigkeitsbereich verankert wird und somit das Setting ein passiver Zugriffsort zur Zielgruppe darstellt, wird im

1

Ausgeschlossen wurden Projekte, die zum Zeitpunkt der Recherche bereits abgeschlossen waren.

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K. Dadaczynski

Tab. 1 Typen von Settingsaktivitäten in der Praxis. (Mod. nach Whitelaw et al. 2001) Typ Passives Modell

Aktives Modell

VehikelModell

Organisches Modell

Umfassendes Modell

Merkmale – Fokus auf individuelles, gesundheitsbezogenes Verhalten – Setting als (passiver) Zugangsweg zu Individuum bzw. Gruppe – Vermittlung von Gesundheitsinformation für Verhaltensänderung – Fokus auf individuelles, gesundheitsbezogenes Verhalten – Verhaltensänderung ist durch strukturelle Settingmerkmale mitbestimmt – Modifikation der Verhältnisse erforderlich – Bearbeitung einzelner Gesundheitsthemen in Settinginterventionen – Projekte zielen auf Systemveränderungen im Setting ab – Fokus auf strukturelle Merkmale und deren Einfluss auf Gesundheit – Soziale Systeme als das Produkt des Zusammenwirkens von Individuen und Gruppen – Beeinflussung von Gesundheit im Setting über psychosoziale Faktoren – Herbeiführung systemischer Veränderungen angestrebt – Partizipation und Empowerment als Schlüsselkonzepte – Gestaltung von Gesundheit durch Settingeinflüsse – Settings sind übergeordnete Systeme – Individuum hat kaum eigene Gestaltungsmöglichkeiten – Anregung und Umsetzung von Maßnahmen top-down

„aktiven Modell“ zumindest eine Mitbeeinflussung interindividueller Settingmerkmale anerkannt. Im „Vehikel-Modell“ stellen zunächst fokussierte, oftmals verhaltensbezogene Themen den Ausgangspunkt dar, werden jedoch im weiteren Verlauf um Aktivitäten mit dem Ziel der Entwicklung des Settings erweitert. Ein solch „gestuftes Vorgehen“ ist durchaus sinnvoll und findet sich auch in der deutschsprachigen Interventionspraxis. So zeigen die Erfahrungen der schulischen Gesundheitsförderung, dass sich Schulen oftmals aus einer Notsituation heraus mit Fragen der Gesundheitsförderung und Prävention konfrontiert sehen (z. B. akuter Mobbingfall). Hier können verhaltensbezogene Maßnahmen (z. B. ein Mobbingpräventionsprogramm) eine erste Annäherung darstellen, die dann in einem zweiten Schritt durch systemische Maßnahmen der Organisationsentwicklung (z. B. Schulregeln, Pausenhofgestaltung) erweitert und anschließend systematisch mit den Kerndimensionen der guten gesunden Schule verknüpft werden (Dadaczynski et al. 2015). Das als „organisch“ beschriebene vierte Modell basiert am stärksten auf den Grundprinzipien der Gesundheitsförderung, indem es die Beteiligung der Betroffenen des jeweiligen Systems bei der Umsetzung

von Veränderungsprozessen betont. Hingegen wird im sog. „umfassenden Modell“ von der deterministischen Bedeutung übergeordneter Verhältnisse und Rahmenbedingungen ausgegangen, auf die einzelne Individuen nur begrenzt Einfluss ausüben können. Demzufolge werden hier Maßnahmen nach dem „top-down“-Prinzip favorisiert (z. B. durch regulatorische Maßnahmen). Eine weitere vereinfachte Systematik findet sich zudem bei Rosenbrock und Michel (2007), die neben der „reinen“ Verhaltens- oder Verhältnisprävention Interventionen der kontextorientierten („verhältnisgestützte“) Verhaltensprävention sowie der ganzheitlichen settinggestützten Interventionen der Prävention und Gesundheitsförderung unterscheiden. Kontextorientierte („verhältnisgestützte“) Verhaltensprävention bezieht sich auf Maßnahmen für genau definierte Zielgruppen (z. B. Schülerinnen und Schüler), bei denen das Setting zuvorderst als Zugangsweg zur Zielgruppe dient („Gesundheitsförderung im Setting“). Hingegen verfolgen ganzheitliche Settinginterventionen das Ziel, ihren „Gesundheitsgewinn“ durch die systematische Verknüpfung verhaltens- und verhältnisbezogener Interventionskomponenten zu erzielen. Da das Setting (z. B. Kita und Schule) hier explizit zum Interventionsgegenstand gemacht wird, werden entsprechende Interventionsstrategien auch als „gesundheitsförderndes Setting“ bezeichnet.

4.2

Herausforderungen der settingbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention

Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, lassen sich aus den Erfahrungen der aktuellen Umsetzung sowie auch der wissenschaftlichen Diskussion (siehe u. a. Dooris 2006) mindestens drei Herausforderungen der settingbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention ableiten. Diese sollen hier lediglich in zusammenfassender Form wiedergegeben werden (für eine umfassendere Darstellung s. Dadaczynski et al. 2016): Mangelndes theoretisches Fundament Im Gegensatz zu seiner Beliebtheit zeichnet sich der Settingansatz durch einen Mangel an theoretischer Fundierung aus. Zwar wird mehrheitlich auf verschiedene Theoriebestände aus verschiedenen Disziplinen, z. B. zur Erklärung des individuellen Gesundheitsverhaltens oder von Veränderungsprozessen in Organisationen, Bezug genommen (für einen Überblick s. Engelmann und Halkow 2008), jedoch existiert derzeit kein umfassendes, theoriegeleitetes Rahmengerüst des Settingansatzes. Die Entwicklung eines solchen Bezugsrahmens ist u. a. aufgrund der Interaktion und wechselseitigen Determination von Verhalten und Verhältnissen innerhalb eines als auch über verschiedene Settings hinweg eine komplexe Herausforderung, würde aber den Vorteil einer wirkungsorientierten Interventionsplanung und -umsetzung und der daraufhin ausgerichteten Evaluation bieten.

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Prävention und Gesundheitsförderung in Settings und Lebenswelten

Mangelnde Evidenzlage Während eher isolierte und hochstandardisierte Interventionen vergleichsweise gut evaluiert sind, mangelt es für Settingmaßnahmen nach wie vor an methodisch angemessenen Wirksamkeitsbelegen. Dieses auch als „inverse evidence law“ bezeichnete Phänomen (Nutbeam 2003) hat nicht zuletzt auch aufgrund des erhöhten Ressourcenbedarfs in den vergangenen Jahren immer wieder zu Diskussionen bezüglich der Legitimation komplexer Settinginterventionen geführt. Die Gründe für die Evidenzproblematik sind vielfältiger Natur und lassen sich neben der zuvor ausgeführten mangelnden theoretischen und planerischen Fundierung auf eine sehr kontrovers geführte Diskussion bezüglich der Eignung von Evaluationsstandards der evidenzbasierten Medizin (z. B. Randomized Controlled Trial) zurückführen. Gerade in der jüngeren Vergangenheit werden jedoch Evaluationsdesigns und -verfahren erarbeitet, die den Besonderheiten komplexer Interventionen (z. B. unter Berücksichtigung von Kontextfaktoren) ausreichend Rechnung tragen (Campbell et al. 2000; Pfadenhauer et al. 2017; RKI und Bayrisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit 2012). Binnenlogik des Settingansatzes Schließlich ist zu konstatieren, dass sich die Entwicklung des Settingansatzes vor allem mit Fokus auf distinkte, d. h. klar abgrenzbare Sektoren vollzogen hat. Im Vordergrund standen lange Zeit isolierte Settings, die sich durch einen spezifischen gesellschaftlichen Auftrag bzw. darauf bezogenen Zielvorstellungen auszeichnen und für die klare Zuständigkeiten (d. h. Akteure) definiert sind. Exemplarisch zu nennen ist das Setting Schule, das sich durch einen gesetzlich festgeschriebenen Bildungsauftrag legitimiert und durch klare strukturelle Rahmenbedingungen (Schulen, Schulträger), Zuständigkeiten (Kultusministerium, unterrichtendes und nicht-unterrichtendes Schulpersonal) und Zielgruppen (Schülerinnen und Schüler) auszeichnet. Für die Schule wie auch für andere Settings wurden zahlreiche (Modell-)Projekte durchgeführt und jeweils eigene Netzwerke gegründet, die weitestgehend isoliert voneinander operierten. So wichtig diese Entwicklung für die Gestaltung einzelner gesundheitsförderlicher Settings war, so sehr führt diese settingfokussierte Perspektive zu einer Fragmentierung und übersieht, dass einzelne Systeme (z. B. Kita, Schule) miteinander in Beziehung stehen und sich wechselseitig beeinflussen.

5

Von der setting- zur lebensweltorientierten Gesundheitsförderung und Prävention

Insbesondere seit Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (PrävG) im Juli 2015 hat abseits des historisch gewachsenen Begriffs „Setting“ vor allem der Terminus „Lebenswelt“ in der

409

deutschsprachigen Fachdiskussion eine zunehmende Verbreitung erfahren. Auffallend ist hierbei, dass die terminologische Verschiebung weniger entlang einer differenzierten fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung erfolgte, sondern u. a. Ergebnis eines sozialgesetzgeberischen Prozesses ist. So werden Lebenswelten im Rahmen des Präventionsgesetzes (§ 20, Abs. 1, SGB V) definiert als: " Definition Lebenswelt „[. . .] für Gesundheit bedeutsame,

abgrenzbare soziale Systeme insbesondere des Wohnens, des Lernens, des Studierens, der medizinischen und pflegerischen Versorgung sowie der Freizeitgestaltung einschließlich des Sports“. Im Vergleich mit der in Abschn. 3.1 vorgenommenen Begriffsbestimmung lassen sich deutliche Überschneidungen zum Settingbegriff feststellen, da auch Settings als distinkte soziale Systeme zu bezeichnen sind, von denen ein Einfluss auf die Gesundheit ausgeht. So ist es kaum verwunderlich, dass die Begriffe Setting und Lebenswelt in der aktuellen Diskussion weitestgehend synonym verwendet werden (u. a. Hartung und Rosenbrock 2015; Schempp und Strippel 2017). Jedoch lassen sich unter Rückgriff auf verschiedene disziplinäre Strömungen Ansatzpunkte identifizieren, die zu einer differenzierten Begriffsverwendung ermuntern (s. auch Engelmann und Halkow 2008). So werden Settings innerhalb der Psychologie als Ausschnitt einer Umwelt bezeichnet, die spezifische physikalische Eigenschaften aufweisen und in denen Individuen zu bestimmten Zeitabschnitten mit definierten Rollen aktiv sind (Oerter 2002, s. auch Ausführungen zum sozialökologischen Ansatz in Abschn. 2). Nach dem sog. „Behavior-Setting“-Konzept lässt sich aus diesen Umweltausschnitten (z. B. Kita, Kirche) eine Regelhaftigkeit des Handelns ableiten, welche an das objektiv fassbare Umfeld gerichtet ist (Barker 1968). Demgegenüber bezieht sich der Begriff „Lebensraum“ innerhalb der Feldtheorie Kurt Lewins auf die subjektive Bedeutung, die Individuen Umwelten im Lebenslauf beimessen. Parallelen hierzu finden sich ebenfalls im Konzept der lebensweltorientierten sozialen Arbeit, das in den 1960er-und 1970er-Jahren durch Hans Thiersch entwickelt wurde. Innerhalb dieses Konzeptes wird der Mensch in der Erfahrung seiner Wirklichkeit gesehen, wodurch Lebenswelten als Orte der Erfahrung und Bewältigung eine Schnittstelle von Objektiven und Subjektiven darstellen (Grunwald und Thiersch 2016). Da Lebenswelt eine komplexe subjektive Konstruktion mit jeweils spezifischen Erfahrungen, Interpretationen und darauf bezogenen Handlungen darstellt, versteht sich die Rekonstruktion als Ausgangspunkt des methodischen Handelns der sozialen Arbeit (ebda.) Mit dem Ziel der Klärung einer differenzierten Positionsbestimmung der Begriffe Setting und Lebenswelt lassen sich auf Basis der kurzen Ausführungen zwei Kernpunkte destillieren:

410

K. Dadaczynski

1. Im Gegensatz zu einem synonymen Begriffsverständnis kann Lebenswelt grundlegend als eine übergeordnete Einheit verstanden werden. Mögliche Subeinheiten bilden hierbei Settings wie Kitas, Schulen oder Sportvereine, die jeweils einen Ausschnitt darstellen und in ihrer Gesamtheit eine komplexe Lebenswelt bilden. Neben den eher klassischen Subeinheiten umfasst die Lebenswelt auch weitere umweltbezogene Einflüsse, die sich einer sozialräumlichen Struktur bzw. einer physischen Begrenzung entziehen. Hierzu zählen ebenfalls virtuelle Feldausschnitte (z. B. Social Media), die infolge der informationstechnischen Entwicklung eine hohe Bedeutung im Alltag von Menschen aufweisen (Loss et al. 2014). Im eingangs eingeführten Fallbeispiel stellt die gemeinsame Schnittstelle von Max und Michelle die Kita „Kunterbunt“ dar. Sie ist aber lediglich ein Feldausschnitt einer sehr komplexen und divergierenden Lebenswelt von Max und Michelle. Ein umfassendes Verständnis der Lebenswelt setzt die Auseinandersetzung mit allen für Max und Michelle relevanten Kontexten und ihren Wechselwirkungen voraus. 2. Lebenswelt wird vorwiegend als subjektive Repräsentation der für eine Person relevanten Einzelsettings verstanden, d. h. die individuelle Wahrnehmung stellt ein konstituierendes Element von Lebenswelt dar. Zwar sind die einzelnen Ausschnitte anhand objektiver Parameter (z. B. Typ, Strukturierungs- und Formalisierungsgrad, Rollen, Aufgaben) beschreibbar, jedoch sind die Lebenswelt und die in ihr ausgeführten Handlungen immer Ergebnis der subjektiven Bewertung und Deutung und somit erst aus der Perspektive des Betroffenen erschließbar.

6

Anforderungen an die lebensweltorientierte Gesundheitsförderung und Prävention

" Im vorliegenden Beitrag wurden Settings und Lebenswelten als voneinander abgrenzbare Begriffe und Konzepte eingeführt. Gemäß den vorhergehenden Ausführungen werden Lebenswelten als Gesamtheit der für eine Person relevanten Einzelsettings verstanden, die sich erst aus der subjektiven Wahrnehmung und Deutung des Betroffenen erschließen lassen.

Aus diesem Verständnis ergeben sich verschiedene Anforderungen für die Gesundheitsförderung und Prävention: Intersektorale Vernetzung: Wenn sich eine Lebenswelt aus verschiedenen (Umwelt- oder Feld-)Ausschnitten (d. h. Settings) zusammensetzt, dann leitet sich für die Gesundheitsförderung und Prävention der Bedarf an einer integrierten und sektorübergreifenden Interventionsstrategie (wie er

z. B. im Ansatz der Präventionskette beschrieben wird, Richter-Kornweitz und Utermark 2013) ab. Während sich der Settingansatz aufgrund seiner historischen Entwicklung oftmals durch eine Binnenperspektive auszeichnet, geht es nun verstärkt um Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Settings. Wie in Abb. 2 dargestellt, lässt sich der Perspektivwechsel als Entwicklung von einer vertikalen Binnenperspektive in Richtung einer horizontalen Lebensweltperspektive beschreiben. Eine solche Entwicklung ist für die jeweiligen Fachakteure mit einem hohen Bedarf an Vernetzung und Austausch verbunden. Auf Basis internationaler Studienbefunde wurden in den letzten Jahren Erfolgsfaktoren und Barrieren der intersektoralen Kooperation ermittelt und in hilfreiche Rahmenmodelle überführt (z. B. Collaboration Evaluation Improvement Framework, Woodland und Hutton 2012, Diagnosis of Sustainable Collaboration, Pucher et al. 2015). Deren Übertragung und systematische Anwendung auf die deutschsprachige Prävention und Gesundheitsförderung steht bislang jedoch noch weitestgehend aus. Individuum als zentraler Ausgangspunkt: Wesentliches Charakteristikum intersektoraler Ansätze wie jener der Präventionsketten ist eine individuumszentrierte Perspektive. Entgegen einer institutionellen Betrachtung ist hier das Individuum mit seinen jeweiligen Bedürfnissen Dreh- und Angelpunkt jeglicher Aktivitäten der Gesundheitsförderung und Prävention. Entsprechend formuliert auch der 11. Kinder- und Jugendbericht, dass Lebensweltorientierung die „[. . .] konsequente Hinwendung zu und Orientierung an den Lebenslagen und Lebensverhältnissen sowie den Deutungsmustern und Sichtweisen der Adressatinnen und Adressaten (bedeutet). Sie sind Ausgangs- und Angelpunkt der Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Damit werden entgegen einem expertenhaft, distanzierten Handeln verstärkt die Ressourcen der Beteiligten einbezogen und ihre Eigenverantwortung und ihre Teilhabemöglichkeiten gestärkt“ (BMFSFJ 2002, S. 64). Hiermit einhergehend fordert auch das im Juli 2015 verabschiedete PrävG, dass Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung immer auch einen Beitrag zur Reduzierung sozial- und geschlechtsbedingter Ungleichheiten von Gesundheit leisten sollen. Beteiligung der Zielgruppe: Da Lebenswelten immer der subjektiven Wahrnehmung zu einzelnen Umweltausschnitten unterliegen, stellt die Partizipation der Zielgruppe ein wesentliches methodisches Element des Lebensweltansatzes dar. Dies ist grundsätzlich keine neue Forderung, immerhin ist die Beteiligung von Menschen ein zentrales Prinzip der Gesundheitsförderung. Jedoch zeigt auch hier die Praxis, dass Partizipation vielfach nicht in der von Wright et al. (2010) vorgeschlagenen Form von Mitbestimmung, partieller Entscheidungskompetenz oder Entscheidungsmacht umgesetzt wird. Partizipation in der lebensweltbezogenen Gesundheits-

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Prävention und Gesundheitsförderung in Settings und Lebenswelten

411

Settingübergreifende Lebensweltperspektive

Binnenfokussierte Settingperspektive Abb. 2 Von der Setting- zur Lebenslaufperspektive am Beispiel „gesundes Aufwachsen“

förderung und Prävention geht jedoch über die interventionsbezogene Beteiligung der Zielgruppe hinaus. Lebenswelt in dem hier vorgeschlagenen Verständnis basiert immer auf den in den einzelnen Settings gemachten Alltagserfahrungen und deren subjektive Deutung, aus der heraus erst (gesundheitsbezogene) Handlungsmuster erklärbar werden. Um für diese Zusammenhänge ein tieferes Verständnis zu entwickeln, ist die Zielgruppe bereits im Rahmen des Forschungsprozesses (im Sinne der Aktionsforschung) viel stärker zu beteiligen.

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Aufgaben und Bedeutung der Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen

35

Britta Wulfhorst

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

2

Begriffsklärung und Verortung von Gesundheitspädagogik in den Erziehungswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Legitimierung von Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Programmatiken der WHO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventionsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positionspapiere, Stellungnahmen und Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsgesetze, Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen und Rahmenlehrpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

416 416 417 417 417

Gesundheitspädagogische Aufgaben, Kompetenzen und theoretische Bezüge für die Gesundheitsberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Theoretische Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kompetenzentwicklung für die Gesundheitsberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

418 418 418 419

4

5

Evidenzbasierung gesundheitspädagogischer Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

6

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

1

Einleitung

Gesundheitspädagogik ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit Kompetenzen, Aufgaben und Tätigkeitsfeldern der Gesundheitsberufe eher selten verwendet wird. Häufiger wird auf „Prävention und Gesundheitsförderung“ fokussiert, ohne dass begrifflich klar unterschieden wird, ob bestimmte Methoden, Interventionsstrategien oder wissenschaftliche (Teil-)Disziplinen betrachtet werden (Wulfhorst und Hurrelmann 2009). Zudem wird Gesundheitspädagogik als Titel für Studienprogramme verwendet, die entweder eine eigenständige Profession Gesundheitspädagogik (Nicolaus et al. 2009) oder Lehrer für Gesundheitsberufe ausbilden (Arens und Brinker-Meyendriesch 2018).

B. Wulfhorst (*) Health Education, MSH Medical School Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Aufgrund dieser uneinheitlichen und häufig unsystematischen Begriffsverwendung wird zunächst ein Vorschlag für ein Begriffsinstrumentarium rund um „Gesundheitspädagogik“ dargelegt, das sich an einer Verortung der Gesundheitspädagogik in den Erziehungswissenschaften orientiert. Daran anknüpfend wird die Legitimierung von Gesundheitspädagogik als Gegenstand der Aus-, Fort- und Weiterbildung in den Gesundheitsberufen aber auch als praktisches Aufgabenfeld in den Blick genommen. So werden programmatische Impulse und Positionspapiere zur Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe ebenso betrachtet wie gesetzliche Grundlagen, die einen „gesundheitspädagogischen Auftrag“ der Gesundheitsberufe begründen. Zudem wird am Beispiel der Verankerung des „gesundheitspädagogischen Auftrags“ in nahezu allen gesundheitsberuflichen Curricula dargestellt, dass die Anbahnung gesundheitspädagogischer Kompetenzen für die Gesundheitsberufe kein nebensächliches Geschehen bleiben sollte. Anschließend daran werden einige gesundheitspädagogische Handlungsfelder näher betrachtet.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_38

413

414

B. Wulfhorst

Aus diesen Themenbereichen erschließt sich die Bedeutung der Gesundheitspädagogik, die abschließend am Beispiel aktueller Entwicklungen zur Förderung der Gesundheitskompetenz beleuchtet wird.

2

Begriffsklärung und Verortung von Gesundheitspädagogik in den Erziehungswissenschaften

Die Verwendung von Begrifflichkeiten rund um die Bezeichnung „Gesundheitspädagogik“ folgt häufig keiner stringenten Begriffssystematik. Aus diesem Grunde erfolgt an dieser Stelle eine systematische Verortung der Gesundheitspädagogik als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin (Wulfhorst 2016). Bei dem Versuch, sich der Definition von Gesundheitspädagogik zu nähern, liegt es nahe, zunächst die Einzelbegriffe des Begriffskompositums zu betrachten. Somit rückt zum einen der Gesundheitsbegriff in den Fokus. Ohne die vielschichtigen Dimensionen von Gesundheit und die Schwierigkeit, diese objektiv zu definieren, außer Acht lassen zu wollen, soll hier die Definition der Weltgesundheitsorganisation zugrunde gelegt werden, wonach Gesundheit „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ ist (WHO 2014, S. 1). Zum anderen geht es um „Pädagogik“ als Begriff, der hier ebenfalls nur knapp skizziert werden soll. Pädagogik soll hier als Wissenschaft von der Erziehung des Menschen verstan-

Abb. 1 Disziplinäre Verortung der Gesundheitspädagogik in den Erziehungswissenschaften. Mod. nach Wulfhorst und Hurrelmann 2009, S. 17

den werden (Seel und Hanke 2015). Somit stellt Pädagogik den „formalen Rahmen“, d. h. eine bestimmte Perspektive bzw. ein bestimmtes Erkenntnisinteresse, verbunden mit einer wissenschaftlichen Tradition und sich daraus herleitenden Theorien sowie Methoden für die Beschäftigung mit dem „Phänomen Gesundheit“ als materialem Gegenstand der „Gesundheitspädagogik“ dar (Wulfhorst 2002). " Gesundheitspädagogik wird ausgehend von den Grundbegriffen Gesundheit und Pädagogik begriffssystematisch hergeleitet. Das Begriffskompositum legt Gesundheit als materialen und Pädagogik als formalen Gegenstand der Betrachtung fest. Somit wird Gesundheitspädagogik im Kanon der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen verortet – analog zu Umweltpädagogik, Berufspädagogik etc. (Seel und Hanke 2015), die jeweils mit pädagogischem Fokus einen bestimmten Gegenstand (Umwelt, Beruf etc.) theoretisch bearbeiten.

Abb. 1 verdeutlicht die Verortung der Gesundheitspädagogik in den Erziehungswissenschaften. Wenngleich die Verortung der Gesundheitspädagogik in den Erziehungswissenschaften erfolgt, sind weitere Bezugsdisziplinen zur Bearbeitung spezifischer gesundheitspädagogischer Fragestellungen heranzuziehen. Dies sind zum einen die (Teil-) Disziplinen im Kanon der Gesundheitswissenschaften, zu dem auch die Gesundheitspädagogik gehört. Sie sind dem medizinisch-naturwissenschaftlichen oder dem sozial-verhaltenswissenschaftlichen Paradigma zuzuordnen, wie z. B.

35

Aufgaben und Bedeutung der Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen

Medizin, Gesundheitspsychologie oder Gesundheitssoziologie (Hurrelmann et al. 2016; Schneider 2017). Zum anderen wird auf die klassischen Bezugsdisziplinen der Pädagogik verwiesen, die Soziologie und die Psychologie (Seel und Hanke 2015). Begriffssystematisch ist Gesundheitspädagogik als Theorie von der Gesundheitserziehung zu bezeichnen, die sich verschiedener Bezugsdisziplinen bedient. Gesundheitserziehung ist die Anwendungs- und Reflexionsebene der Gesundheitspädagogik mit diversen Anwendungsfeldern, wie z. B. Patientenschulung. " Definition Gesundheitspädagogik Gesundheitspädago-

gik wird vor dem Hintergrund der disziplinären Verortung in den Erziehungswissenschaften als „Dachbegriff verstanden, unter dem sämtliche bisherigen, auf die Beeinflussung gesundheitsrelevanten Verhaltens, die Vermittlung gesundheitsrelevanter Inhalte, die Förderung gesundheitsrelevanter Verhältnisse – sofern sie unmittelbar das in erster Linie zu fokussierende Verhalten bedingen – bezogenen Theorien, Modelle, Konzeptionen, Maßnahmen und Methoden zusammengefasst werden können, unter der zentralen Voraussetzung, dass sie wissenschaftlich begründet sind.“ (Wulfhorst 2002, S. 33). Mit der Klärung des Begriffs Gesundheitspädagogik ist die Theorieebene umrissen worden, die sich auf ein erziehungswissenschaftliches Handlungs- oder Praxisfeld, die Gesundheitserziehung, bezieht. Gesundheitserziehung wiederum bezieht sich dann auf die Gesamtheit gezielter Interventionen mit dem Ziel der Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens zur Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der individuellen Gesundheit als auch der Befähigung aktiv an der Gestaltung der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt teilzunehmen. Damit ist abschließend auch die Aufgabe der erziehungs- und gesundheitswissenschaftlichen Forschung fixiert, die darin besteht, solche Formen der Gesundheitserziehung zu identifizieren, die konzeptionell wissenschaftlich begründet, methodisch gerechtfertigt und in ihrer Wirksamkeit überprüft sind (Wulfhorst und Hurrelmann 2009). Zahlreiche weitere Begriffe, die in der Fachliteratur zum Teil unsystematisch und/oder synonym verwendet werden und in engem Zusammenhang mit dem Begriff Gesundheitspädagogik stehen (z. B. Gesundheitsbildung), können an dieser Stelle nicht ausführlich definiert werden (Wulfhorst 2002; Wulfhorst und Hurrelmann 2009). Cassens (2014) bezeichnet beispielsweise die Begriffe Gesundheitsinformation, Gesundheitsaufklärung und Gesundheitsförderung als terminologisch schwer in eine auf die Systematik der Erziehungswissenschaften aufbauende Begriffslogik zu integrieren. Der im Englischen verwendete Begriff „Health Education“ integriert die im deutschsprachigen Raum geführte Diskussion zur Unterscheidung von Bildung und Erziehung und ist auf die Beeinflussung von gesundheitsrelevantem Verhal-

415

ten bezogen (Glanz et al. 2015). Durch die Bezugnahme auf die Begriffe „Health Promotion“ und „Health Literacy“ wird die hierarchische Verortung von Gesundheitserziehung möglich. So wird Health Education wie folgt definiert: " Definition Health Education „Systematic application of a

set of techniques to voluntatily and positively influence health through changing the antecedents of behavior (awareness, information, knowledge, skills, beliefs, attitudes, and values) in individuals, groups or communities“ (Sharma 2016, S. 274). Demgegenüber macht die Definition von Gesundheitsförderung (Health Promotion) deutlich, dass Gesundheitserziehung (Health Education) eine auf die Beeinflussung von Gesundheitsverhalten bezogene Interventionsstrategie von mehreren Strategien zur Erreichung der mit diesem Begriff verknüpften Zielsetzung ist: " Definition Health Promotion „Process of empowering

people to improve their health by providing educational, political, legislative, organizational, social, and community supports“ (Sharma 2016, S. 274). Zuletzt sei die Definition von Health Literacy (im Deutschen häufig mit Gesundheitskompetenz übersetzt) betrachtet: " Definition Health Literacy „The capacity of an individual

to obtain, interpret, and understand basic health information and services and the competence to use such information and services in ways that are health enhancing“ (Sharma 2016, S. 274). Health Literacy resp. Gesundheitskompetenz zu fördern ist somit als ein Gegenstandsbereich von gesundheitspädagogischen Interventionen zu verstehen, die u. a. durch die Gesundheitsberufe umgesetzt werden. Damit steht die für diesen Beitrag zugrunde gelegte Begriffsverwendung in einiger Differenz zu der von Ernstmann et al. (2018). Diese beziehen sich auf Sørensen et al. (2012) und heben hervor, dass „Gesundheitskompetenz das Wissen, die Motivation und die Fähigkeit von Individuen [beschreibt], Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und bei gesundheitsrelevanten Entscheidungen anzuwenden, um die Gesundheit und Lebensqualität zu erhalten oder zu verbessern“ (Sørensen et al. 2012). Im hier dargelegten Verständnis greift die Zuspitzung auf Gesundheitsinformationen zu kurz, vielmehr sind diese nur eine Komponente von Gesundheitskompetenz. Diese würde sich – in Anlehnung an den in den Bildungswissenschaften etablierten Kompetenzbegriff von Weinert (2001) – auf die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kogni-

416

B. Wulfhorst

Abb. 2 Zielsetzung und Ergebnisse von und Einflussgrößen auf zentrale Gesundheitsförderungsstrategien. Übersetzt und mod. nach WHO 2012, S. 17

tiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte gesundheitsbezogene Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen gesundheitsrelevanten Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können, beziehen. Es wird deutlich, dass hier eine generelle Problemlösekompetenz in Bezug auf gesundheitliche Herausforderungen hervorgehoben wird. Zusammenfassend ist in Abb. 2 die Interdependenz der hier diskutierten Begriffe dargestellt. Tones (2005) hat die Kernaussage zum Zusammenhang der strategischen Konzepte von Gesundheitsförderung treffend zusammengefasst: „My own view has been that Health Promotion is best viewed as a synergistic interaction between Health Education and ‚healthy public policy‘“ (Tones 2005, S. 618).

3

Legitimierung von Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen

Wenn Gesundheitspädagogik die Theorieebene zum Handlungsfeld der Gesundheiterziehung darstellt, die wiederum verschiedene Anwendungsfelder in den Blick nimmt, muss die programmatische und administrative Bezugsebene zur Legitimierung von Gesundheitspädagogik im Allgemeinen und in Bezug auf die Rolle und Aufgabe für die Gesundheitsberufe im Speziellen beleuchtet werden. Hierbei geht es um eine grundlegende Ausrichtung auf normative Zielsetzungen, z. B. von Gesundheitsförderung und Prävention sowie um

bestehende verbindliche Vorgaben für Interventionen zur Beeinflussung gesundheitsrelevanten Verhaltens.

3.1

Programmatiken der WHO

Zum einen erfolgt die Verortung der Ziele von gesundheitspädagogischen Konzeptionen in politischen Programmatiken. So lassen sich die Ziele der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (WHO 1986) mit den derzeit in der pädagogischen Fachdiskussion als relevant betrachteten Erziehungszielen verknüpfen. Beispielsweise wird in der WHO-Ottawa-Charta die Förderung von Verhaltens- und Handlungskompetenzen zu einer Zieldimension erklärt, die den Vollzug von autonomem und zielorientiertem Handeln zur Verbesserung und Erhaltung der Gesundheit ermöglichen soll. Für die Gesundheitsberufe ist die Reflexion derartiger programmatischer Vorlagen Voraussetzung für die Zielklärung von konkreten Interventionen, durch die Gesundheitsverhalten von Einzelnen oder Gruppen positiv beeinflusst werden sollen. In Folgekonferenzen der WHO sind die Zielsetzungen der WHO-Ottawa-Charta weiter ausdifferenziert und akzentuiert worden, zuletzt im Rahmen der Globalen Konferenz zur Gesundheitsförderung in den Zielen zur nachhaltigen Entwicklung (WHO 2017). Hier sind drei Säulen der Gesundheitsförderung akzentuiert worden. In der dritten Säule wird die Befähigung der Menschen zur Förderung ihrer Gesundheitskompetenz (Health Literacy) hervorgehoben, die eine Ermöglichung und Stärkung der gesundheitlichen Chancengleichheit bedeute.

35

Aufgaben und Bedeutung der Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen

Aus den Verweisen auf die Zielsetzungen verschiedener WHO-Programmatiken wird die Bedeutsamkeit einer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin, die die Beeinflussung gesundheitsrelevanten Verhaltens zu ihrem Forschungs- und Handlungsfeld erklärt, unterstrichen.

3.2

Präventionsgesetz

Auf nationaler Ebene kann zur Legitimierung von Gesundheitspädagogik für die Gesundheitsberufe auf das Präventionsgesetz hingewiesen werden (Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention 2015). Wenngleich sich dort fixierte Qualitätsansprüche auf gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen beziehen, die durch die Träger der Kranken-, Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung finanziert werden, sind hier Settings genannt, die die gesundheitliche Versorgung betreffen und somit Handlungsfelder der Gesundheitsberufe. Zunächst sei auf eine unmittelbar den gesundheitspädagogischen Zugang zu Prävention und Gesundheitsförderung betreffende Zielsetzung hingewiesen: In acht Gesundheitszielen werden mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad (z. B. gesund aufwachsen/gesund älter werden, Reduktion von Tabak- und Alkoholkonsum etc.) prioritäre Ansätze für Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung benannt. Die Erhöhung gesundheitlicher Kompetenzen wird als eigenes Ziel aufgeführt, wenngleich dieses implizit auch in den meisten anderen Zielsetzungen relevant ist. Darüber hinaus wird in Bezug auf die Qualitätssicherung die Einbeziehung „unabhängigen, insbesondere gesundheitswissenschaftlichen, ärztlichen, arbeitsmedizinischen, pflegerischen, ernährungs-, sport-, sucht-, erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Sachverstandes sowie des Sachverstandes der Menschen mit Behinderung“ gefordert (Artikel 1, Abs. 2 PräVG 2015).

3.3

Positionspapiere, Stellungnahmen und Empfehlungen

Neben den genannten WHO-Programmatiken und dem Präventionsgesetz, in denen nicht exklusiv auf die Rolle und die Aufgaben der Gesundheitspädagogik für die Gesundheitsberufe eingegangen wird, sind für die Gesundheitsberufe weitere Positionspapiere, Stellungnahmen und Empfehlungen relevant. In dem viel beachteten Lancet-Report (Frenk et al. 2010), auf den hier in der deutschen Übersetzung Bezug genommen wird (Careum Stiftung 2011), wird auf die Rolle von Gesundheitsfachleuten als Dienstleister verwiesen. Diese fungierten als Bindeglied zwischen den Menschen einerseits und Technik, Information und Wissen andererseits. Gleichzeitig seien sie Betreuer, Kommunikatoren und Erzieher, Teammitglieder, Manager, Führungspersönlichkeiten und

417

Entscheidungsträger. Weiter wird explizit auf die Rolle als Wissensvermittler hingewiesen, somit seien die Beschäftigten im Gesundheitsbereich das menschliche Gesicht des Gesundheitssystems. Unstrittig werden hier gesundheitspädagogische Kompetenzen deutlich (Wissensvermittler, Kommunikatoren, Erzieher), über die Gesundheitsfachleute verfügen müssen (Careum Stiftung 2011). Auch der Wissenschaftsrat (2012) nimmt im Zusammenhang mit der erforderlichen Reaktion auf veränderte Anforderungen in der Gesundheitsversorgung und einer daraus resultierenden Notwendigkeit einer verbesserten interprofessionellen Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe Stellung zu übergreifenden Qualifikationen, u. a. in Bezug auf gesundheitspädagogische Aufgaben. So würden in bestimmten Bereichen – wie z. B. der Patientenedukation und Beratung – komplexe Aufgaben von Gesundheitsberufen übernommen, auf die in der Ausbildung der Gesundheitsberufe vorbereitet werden müsse.

3.4

Berufsgesetze, Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen und Rahmenlehrpläne

Exklusiv sind Festlegungen zum Tätigkeitsprofil für Gesundheitsberufe, die gesundheitspädagogisch fundierte Interventionen zur Gesundheitserziehung legitimieren, in verschiedenen Gesetzen und administrativen Vorgaben für die Ausbildung in den Gesundheitsberufen festgelegt. Für die Berufe, die nicht nach Berufsbildungsgesetz (BBiG 2005) ausgebildet werden, sind Berufsgesetze und von diesen abgeleitete Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen als Legitimierungsgrundlage für gesundheitspädagogische Interventionen zu nennen. Für die Gesundheitsberufe, die nach Berufsbildungsgesetz ausgebildet werden, sind entsprechend die Rahmenlehrpläne der Kultusministerkonferenz heranzuziehen. Als Ausgangspunkt hinsichtlich der Festschreibung eines Aufgabenprofils, das gesundheitspädagogische Bestandteile aufweist, ist das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz von 2003 zu bezeichnen. Hier wird bereits durch die Änderung der bis dato ausschließlich krankheitsbezogenen Berufsbezeichnungen in „Gesundheits- und Krankenpflegerin“ oder „Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin“ eine Perspektive auch auf Gesundheit und deren positive Beeinflussung durch Pflegekräfte reklamiert (KrPflG 2003). Ein gesundheitspädagogischer Bezug leitet sich noch akzentuierter aus dem 2017 erlassenen Gesetz zur Reform der Pflegeberufe (2017) ab. Dort ist in § 4 Abs. 3 festgelegt, dass die Ausbildung insbesondere dazu befähigen solle, eine Bedarfserhebung und Durchführung präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen selbstständig auszuführen. Auch in älteren Berufszulassungsgesetzen und den dazugehörigen Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen für ver-

418

B. Wulfhorst

schiedene Gesundheitsberufe lassen sich Anknüpfungspunkte für erforderliche gesundheitspädagogische Kompetenzen identifizieren. Die theoretischen Ausbildungsinhalte für die Gesundheitsfachberufe (Bals 1993), die nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG 2005) ausgebildet werden, sind durch Rahmenlehrpläne der Kultusministerkonferenz geregelt. Hier findet sich z. B. für die Medizinischen Fachangestellten (Kultusministerkonferenz 2005) ein ganzes Lernfeld 11 „Patienten bei der Prävention begleiten“, das gesundheitspädagogische Kompetenzen definiert, die sich auf Aufgabenbereiche wie Patientenberatung und -schulung beziehen lassen.

4

Gesundheitspädagogische Aufgaben, Kompetenzen und theoretische Bezüge für die Gesundheitsberufe

Gesundheitspädagogisch akzentuierte Aufgaben für die Gesundheitsberufe lassen sich in nahezu allen ambulanten und stationären Settings der Gesundheitsversorgung ausmachen. Steinbach (2018) benennt als Settings für Gesundheitsförderung durch Angehörige der Pflegeberufe zum einen das stationäre und zum anderen das ambulante Setting als klassische Handlungsfelder für edukative Interventionen zur Förderung der Gesundheitskompetenz. Zudem wird hier das extramurale Setting, die Langzeitpflege und als Handlungsfeld mit Blick auf die Gesundheitsförderung und Prävention für Angehörige der Gesundheitsberufe die Arbeitsmedizin und die betriebliche Gesundheitsförderung benannt. Steinbach (2018) ebenso wie Glanz et al. (2015) fokussieren auch auf neuere Handlungsfelder für die Pflege, in denen die edukativen Aspekte zur Entwicklung der Gesundheitskompetenz von Patienten/Klienten fokussiert werden – hier wird die Community Nurse, die Familiy Health Nurse und die School Nurse in den Blick genommen. Neben kontinuierlich erfolgenden Beratungen von Patienten und Klienten in Bezug auf gesundheitsförderliche und präventive Verhaltensweisen (Schaeffer und SchmidtKaehler 2012) sind auch Patientenschulungen als standardisierte und manualisierte Programme (Küffner und Reusch 2014) zu nennen, die zunehmend von Angehörigen der Gesundheitsberufe durchgeführt werden (Wissenschaftsrat 2012) und als gesundheitspädagogisches Anwendungsfeld einzuordnen sind (Mertin 2017).

4.1

Theoretische Bezüge

In der berufspraktischen gesundheitspädagogischen Tätigkeit von Angehörigen der Gesundheitsberufe bedarf es erziehungswissenschaftlich-didaktischer Kompetenzen, z. B. um eine Zielgruppe und deren Vorwissen und subjektive Krankheitstheorien zu analysieren und um komplexe fachwissen-

schaftliche Inhalte zu reduzieren sowie methodisch aufzubereiten, z. B. in Form von Experimenten, Bildern, Rollenspielen oder unter Rückgriff auf komplexere Methoden, wie z. B. das „Problemorientierte Lernen“. Zudem wird naturwissenschaftlich-medizinisches Wissen im jeweiligen Spezialgebiet (z. B. bei krankheitsspezifischen Patientenschulungen) benötigt, das dann wiederum zielgruppenadäquat didaktisch reduziert und transformiert werden muss. Die Kenntnis und transformative Anwendung gesundheitspsychologischer Modelle über die Aufnahme und Beibehaltung gesundheitsbezogener Verhaltensweisen sind bei der Konzeption und Evaluation von gesundheitspädagogischen Maßnahmen entsprechend hilfreich (Lippke und Schüz 2018). Eine paradigmatische Leitorientierung kann zudem die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF (DIMDI 2005) sein. Unter Zugrundelegung dieser Klassifikation können weitere Zielsetzungen und Herausforderungen für die Entwicklung der Gesundheitsberufe integriert werden, so z. B. die interprofessionelle Kooperationskompetenz.

4.2

Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz

Im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (Schaeffer et al. 2018) wird der Handlungsbedarf in der Prävention und Gesundheitsförderung in den alltäglichen Lebenswelten, im Gesundheitssystem, beim Leben mit chronischer Krankheit und in der Forschung für Deutschland skizziert. In insgesamt 15 Empfehlungen wird aufgezeigt, wie die Gesundheitskompetenz in Deutschland gestärkt werden kann. Abzuleiten ist aus diesem Dokument der Bedarf an einer Weiterentwicklung gesundheitspädagogischer Kompetenzen für die Angehörigen der Gesundheitsberufe. Für alle zur Stärkung von Gesundheitskompetenz benannten Handlungsfelder lassen sich konkrete gesundheitspädagogische Aufgaben der Gesundheitsberufe identifizieren, wenngleich diese im Handlungsfeld Gesundheitssystem zahlreicher sind, als z. B. im Bereich Bildung und Erziehung. Wobei auch für diesen Bereich Bezüge, wie z. B. die Diskussion um die Einführung von School Nurses, hergestellt werden können. Einzelne Studienergebnisse lassen hier eine höhere Wirksamkeit gesundheitspädagogischer Interventionen erkennen, wenn diese von School Nurses im Vergleich zu Klassenlehrern durchgeführt werden (Borawski et al. 2015). Eine weitere Empfehlung für das Handlungsfeld alltägliche Lebenswelten bezieht sich auf den Beruf und den Arbeitsplatz. Auch hier können Gesundheitsberufe von gesundheitspädagogischen Interventionen aus den eigenen Reihen profitieren. Ebenso lassen sich Ansätze der Community Nurse mit der Empfehlung 5 „Die Kommunen befähi-

35

Aufgaben und Bedeutung der Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen

gen, in den Wohnumfeldern die Gesundheitskompetenz ihrer Bewohner zu stärken“ (Schaeffer et al. 2018, S. 36) verknüpfen. Aus dem Verständnis von Gesundheitskompetenz im Nationalen Aktionsplan erwachsen Konsequenzen für die Entwicklung von Interventionen und Maßnahmen. Bezüglich der Anforderungen innerhalb des Gesundheitssystems wird betont, dass die Gesundheitsberufe entsprechende Rahmenbedingungen benötigen, um die Gesundheitskompetenz fördern zu können. So sei es für eine nachhaltige Förderung der Gesundheitskompetenz notwendig, diese Aufgabe strukturell und programmatisch im Gesundheitssystem und seinen Organisationen zu verankern und zugleich auch die Gesundheitsprofessionen entsprechend zu sensibilisieren und besser zu qualifizieren. Hier müssten wissenschaftlich fundierte Standards für die Qualifizierung aller Gesundheitsprofessionen im Bereich der Kommunikations- und Vermittlungskompetenz entwickelt, erprobt und fest in den Curricula, den Lehrplänen und Bildungsstandards der Hochschulen und Aus-, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen der Gesundheitsprofessionen verankert werden. Des Weiteren wird auf die Notwendigkeit verwiesen, als Unterstützung für eine wirksame und nutzerfreundliche Kommunikation didaktisch aufbereitete Arbeitshilfen, Medien und Materialien zu erarbeiten, erproben und systematisch einzuführen (Schaeffer et al. 2018).

4.3

Vorbild in der Regel gesundheitserzieherische Aufgaben nicht als Kernaufgabe in ihrem Tätigkeitsprofil aufweisen. Übersicht über Verantwortlichkeiten für das akademische Berufsbild „Gesundheitserziehung“ in Anlehnung an die National Commission for Health Education Credentialing (2015)

Tätigkeitsfeld/Verantwortlichkeit für Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung • Bereich I: Erhebung des Bedarfs, der Ressourcen und des Leistungsvermögens von Gesundheitserziehung und -förderung • Bereich II: Planung von Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung • Bereich III: Implementierung von Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung • Bereich IV: Evaluation und Forschung zu Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung • Bereich V: Administration und Management von Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung • Bereich VI: Als Mittler für Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung handeln • Bereich VII: Kommunikation, Förderung und Anwaltschaft für Gesundheit, Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung sowie für die Professionsentwicklung

Kompetenzentwicklung für die Gesundheitsberufe

Basierend auf den skizzierten Settings und den Forderungen nach einem wissenschaftlich fundierten Standard für die Qualifizierung aller Gesundheitsberufe im Sinne einer Kompetenzentwicklung zur Förderung von Gesundheitskompetenz sei erneut auf die WHO hingewiesen, die in verschiedenen Papieren die Bedeutung der Gesundheitserziehung (Health Education) als Aufgabe für die Gesundheitsberufe hervorgehoben hat. So z. B. in dem Dokument (WHO 2012): Health education: theoretical concepts, effective strategies and core competencies. Hier werden entlang von sieben Verantwortungsbereichen (Übersicht), einzelne Kompetenzen gelistet, über die ein Gesundheitserzieher verfügen sollte. Diese Kompetenzen entsprechen den Kompetenzprofilen von in den USA bestehenden Studiengängen zur akademischen Ausbildung von Gesundheitserziehern (National Commission for Health Education Credentialing 2015). Derartige Kompetenzprofile sollten hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf in Deutschland zu konzipierende Aus- und Weiterbildungsangebote zur Gesundheitserziehung diskutiert werden. Insbesondere werden Differenzierungen in Bezug auf die Aufgabenprofile einzelner Gesundheitsberufe erforderlich sein, da diese im Vergleich zu den grundständigen Ausbildungen zum Gesundheitserzieher nach US-amerikanischen

419

5

Evidenzbasierung gesundheitspädagogischer Interventionen

Wie für alle Interventionen im Bereich der gesundheitlichen Versorgung ist die Evidenzbasierung auch für gesundheitspädagogische Interventionen paradigmatischer Ausgangspunkt bereits für die Planung von Maßnahmen. Ohne eine Evidenzbasierung laufen Interventionen Gefahr, zu Verschwendung, Desorientierung und Desorganisation zu führen (Kliche 2009). Bezüglich einer bereits bei der Planung von Interventionen zur Beeinflussung gesundheitsrelevanten Verhaltens ansetzenden Systematik, die Aspekte der Evaluation und eine stringente Evidenzbasierung berücksichtigt, sei auf das REAIM-Framework verwiesen (Harden et al. 2015). " REAIM ist ein Akronym für die Dimensionen, die bei Interventionsprogrammen berücksichtigt werden müssen, um eine nachhaltige Annahme und Implementierung von effektiven, generalisierbaren und evidenzbasierten Interventionen zu gewährleisten. REAIM steht für „R=Reach the target population, E=Effectiveness or Efficacy, A=Adoption by target staff, settings, or institutions, I=Implemen-

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B. Wulfhorst

tation consistency, costs and adaptions made during delivery und M=Maintenance of intervention effects individuals and settings over time“ (http://www.re-aim.org/ [Zugegriffen am 07.01.2019], Glasgow et al. 1999, S. 1323).

Bei der Planung, Durchführung und Evaluation von gesundheitspädagogischen Maßnahmen sollte zudem eine systematische Reflexion aller Prozessdimensionen erfolgen. So wird der Public Health Action Cycle als gesundheitspolitischer Aktionszyklus bezeichnet, der die Intervention in vier Phasen gliedert: „1. Definition und Bestimmung des zu bearbeitenden Problems (Problembestimmung), 2. die Konzipierung und Festlegung einer zur Problembearbeitung geeignet erscheinenden Strategie bzw. Maßnahme (Strategieformulierung), 3. die Durchführung der definierten Aktionen (Umsetzung) sowie 4. die Abschätzung der erzielten Wirkungen (Bewertung)“ (Rosenbrock und Hartung 2015, S. 1). Die Berücksichtigung derartiger Systematiken bedeutet die Steigerung der Qualität und Vergleichbarkeit von Studien zu gesundheitspädagogischen Interventionen. In Bezug auf gesundheitspädagogische Interventionen, die von oder unter Beteiligung von Gesundheitsberufen durchgeführt wurden, wächst die Zahl von Reviews und z. T. auch Metaanalysen. Diese bieten eine Orientierung über wirksame Programme zur Beeinflussung des gesundheitsrelevanten Verhaltens. Überwiegend wird die Evidenz bestimmter Programme als schwach eingeschätzt (Lewis et al. 2018). Dennoch sind derartige zusammenfassende Betrachtungen des Forschungsstandes unerlässlich für die Weiterentwicklung einer evidenzbasierten Gesundheitspädagogik, weil die Identifikation von bisher nicht vorliegender Evidenz bestimmter Programme wiederum in zukünftigen Studien inhaltlich und methodisch berücksichtigt werden kann. Es finden sich jedoch auch optimistischere Aussagen, so z. B. von Liu et al. (2017). Sie haben ein „Umbrella“-Review zur Gesundheitserziehung für Patienten mit akutem Koronarsyndrom sowie Typ-2-Diabetes-mellitus erstellt. Die Autoren konstatieren eine solide Evidenzbasis für die Effektivität von Gesundheitserziehung für Patienten mit den genannten Krankheitsbildern. Svavarsdóttir et al. (2016) resümieren zu Patientenschulungen, dass der Anspruch der Evidenzbasierung nur erfüllt werden könne, wenn durchführende Health Professionals über spezifische Kenntnisse sowie fortgeschrittene kommunikative Skills und pädagogische Kompetenzen verfügten, die es ihnen ermöglichten, Patienten zu motivieren und eine effektive lebensstilbezogene Patientenberatung durchzuführen.

6

Fazit

Gesundheitspädagogik kann als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin legitimiert werden. Das in der Bildungs- und gesundheitlichen Versorgungspraxis vorhandene Handlungs-

feld Gesundheitserziehung zeichnet sich durch weitgehend fehlende handlungsanleitende erziehungswissenschaftliche Theorien aus. Vielmehr wird fast ausschließlich auf theoretische Grundlagen der Bezugsdisziplinen zurückgegriffen. Eine solche bezugswissenschaftliche Orientierung wird auch zukünftig notwendig sein, sofern sich aus den beispielsweise gesundheitspsychologischen, -soziologischen oder medizinischen Theorien und Modellen konkrete gesundheitspädagogische Handlungsstrategien ableiten lassen. Erfolgt eine Qualifizierung von Gesundheitspädagogen jedoch ausschließlich fremdwissenschaftlich, können spezifisch pädagogische Fragestellungen und Ansätze nicht hinreichend berücksichtigt werden. So müssen z. B. unter Rückgriff auf erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse Fragen nach didaktischen Möglichkeiten der Darstellung und Vermittlung gesundheitsrelevanter Inhalte geklärt werden. In der berufspraktischen gesundheitspädagogischen Tätigkeit bedarf es u. a. didaktischer Kenntnisse, z. B. um eine Zielgruppe und deren Vorwissen und subjektive Krankheitstheorien zu analysieren und um komplexe fachwissenschaftliche Inhalte zu reduzieren sowie methodisch aufzubereiten. Weiterhin wird naturwissenschaftlich-medizinisches Wissen im jeweiligen Spezialgebiet benötigt. Die Kenntnis gesundheitspsychologischer Modelle über die Aufnahme und Beibehaltung gesundheitsbezogener Verhaltensweisen strukturiert die Konzeption und Evaluation von gesundheitspädagogischen Maßnahmen. Abschließend sei in Bezug auf die Chance, in der aktuellen Situation der Neuorientierung und Neuausrichtung der Gesundheitsberufe die gesundheitspädagogische Kompetenzentwicklung zu etablieren, die WHO (2013) zitiert: „Producing more health professionals alone will not be sufficient; what a population needs is a health workforce with the right competencies to respond to its evolving needs“ (WHO 2013, S. 21).

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Aufgaben und Bedeutung der Gesundheitspädagogik in den Gesundheitsberufen

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Partizipation, Teilhabe und Gesundheit

36

Knut Tielking

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 2 Partizipation und Teilhabe: Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 3 Partizipation und Teilhabe im Kontext von Gesundheit und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . 427 4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430

1

Einleitung

Ob Partizipation oder Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gemeint sind, wird sich bezüglich beider Begriffe kaum eindeutig klären lassen, da in Definitionen beide Begriffe miteinander erklärt und sowohl synonym wie auch unterschiedlich in der Literatur verwendet werden. Nähert man sich der Thematik, dann wird die Grundproblematik der Teilhabe von der Liga der freien Wohlfahrtsverbände im Kontext der Gesundheit wie folgt skizziert: „Sozial benachteiligte Menschen leben in materieller, sozialer, kultureller Armut und sind daher in ihrer Existenz gefährdet. Sie sind aufgrund von Arbeitslosigkeit bzw. prekären Beschäftigungsmöglichkeiten und daraus resultierenden finanziellen Einschränkungen an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert. Ihr Leben ist häufig geprägt durch dauerhafte Überschuldung, Partnerschaftsprobleme, fehlende eigene Wohnung und/oder der Unfähigkeit, alleine selbstbestimmt leben und den Tag strukturieren zu können. Für einen Teil der Menschen kann das soziale Isolation bedeuten, resultierend aus Suchtmittelabhängigkeit, gesundheitlichen und psychische Einschränkungen bzw. Erkrankungen. Es bezieht

K. Tielking (*) Hochschule Emden/Leer, Emden, Deutschland E-Mail: [email protected]

sich insbesondere auf den Aspekt der Teilhabe am Arbeitsleben mit dem Ziel, von dieser auch ohne zusätzliche Transferleitungen den Lebensunterhalt bestreiten zu können“ (LIGA LSA zit. n. Wendt 2017). Es zeigt sich eine Vielfalt an Schwierigkeiten, die in gesundheitlichen Mangel- und Risikolagen zum Ausdruck kommen und die gesellschaftliche Teilhabe gefährden (Wendt 2017). Teilhaben am Leben in der Gemeinschaft ist in Theorie und Praxis kein neues Thema, sondern vielmehr ein immer wiederkehrender gesellschaftlicher Diskurs, der bereits eine Vielzahl theoretischer Ansätze hervorgebracht hat (Elias 2009; Nussbaum 2014; Rosenbrock und Hartung 2012; Scheu und Autrata 2013; Sen 2013; Straßburger und Rieger 2014; Wittig-Koppe et al. 2013). Dabei bieten die unterschiedlichen Ansätze, wie insbesondere • Teilhabe (FOCO und Stiftung Mitarbeit 2014; GöhringLange 2011; Grampp et al. 2013), • Inklusion (Hinz et al. 2008; Kubek 2012; Luhmann 1997; Wittig-Koppe et al. 2013), • Soziale Kohäsion (Chiesi 2005; Schiefer et al. 2012) und • Partizipation (Rosenbrock und Hartung 2012; Scheu und Autrata 2013; Straßburger und Rieger 2014) Anhaltspunkte im Sinne gesellschaftlicher Perspektiven und liefern Eckpunkte für eine notwendige Rahmung für anwendungsorientierte Fragestellungen und Lösungen, die im

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_39

423

424

Anspruch von Partizipation und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erörtern sind. Betrachtet man Teilhabe im Zusammenhang mit Partizipation, dann sind beide Begriffe eng verbunden und werden auch aus der Partizipationsperspektive miteinander erklärt. Partizipation „fand und findet eine häufige, aber wenig geklärte Verwendung. Ausgehend von der Wortbedeutung ‚Teilhabe‘, mit der sich der entsprechende lateinische Begriff ‚participatio‘ übersetzen lässt, ist der grundlegende Zusammenhang angedeutet: Teilhabe ist der Prozess, bei dem einzelne oder mehrere Menschen einen Teil vom Ganzen in Besitz nehmen. Das bleibt vorerst noch vage, was das Ganze und Teile von diesem Ganzen sein könnten, ist noch unzureichend bestimmt. Auffällig ist, dass Partizipation und verwandte Begriffe wie Teilhabe, Mitbestimmung oder Demokratisierung eine hohe Aufmerksamkeit ab den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bekommen hat.“ (Scheu und Autrata 2013). Partizipation wie auch Teilhabe folgen in einem synonymen Verständnis dem Anspruch, dass möglichst viele in allen gesellschaftlichen Bereichen mitwirken. Somit beziehen sich die folgenden Ausführungen auf die Teilhabe und damit in der Regel auch auf die Partizipationsmöglichkeiten, es sei denn es wird in ausgewählten Sachverhalten explizit das eine oder das andere genannt. Als politisches, wirtschaftliches und soziales Konzept umfasst Teilhabe alle Lebensbereiche. Die Angebote und Maßnahmen richten sich grundsätzlich an alle Menschen wie auch an besonders benachteiligte Personengruppen über die gesamte Lebensspanne. Die Förderung der Teilhabe beginnt in der Betreuung von Schwangeren und damit im ungeborenen Leben, geht für die Kinder über die frühkindliche Förderung, weiter in die Grundschulen – z. B. durch besondere Lernarrangements –, bietet Bildungs- und Teilhabepakete für Kinder und Jugendliche im Schulalter, umfasst die Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne des am 01.07.2001 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuches (SGB) IX, bietet speziell Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben, fokussiert den Sozialraum bzw. das Setting als Ort der Teilhabe, nimmt besondere Personengruppen in den Blick wie z. B. Menschen mit Migrationshintergrund, erwerbslose Menschen, ältere Menschen und Menschen mit Suchtproblemen oder anderen psychischen, physischen oder sozialen Störungsbildern. So vielfältig die Teilhabegruppen ausfallen, so vielfältig sind die gesellschaftlichen Bereiche wie insbesondere: • • • •

Soziale Teilhabe Politische Teilhabe Wirtschaftliche Teilhabe Kulturelle Teilhabe

Dem Anspruch, die gesellschaftliche Teilhabe aller zu fördern, folgt ein Kanon an unterschiedlichen Angeboten und Leistungen, von denen nachfolgend unter Bezug auf

K. Tielking Tab. 1 Ausgewählte Angebote und Leistungen zur Förderung der Teilhabe aus dem SGB Angebote und Leistungen zur Förderung der Teilhabe Leistungen zur Teilhabe Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, insbesondere auch Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben Inklusive Kindertagesstätten und Beschulung Lokaler Teilhabeplan Eingliederungshilfen Ambulant betreutes Wohnen (ABW) Medizinische Rehabilitation Teilhabe am Arbeitsleben Leistungen zur sozialen Teilhabe Persönliches Budget Teilhabegeld

SGB-Paragraphen 4 SGB IX 55–59 SGB IX 58 SGB IX

4, 19 SGB IX, 35 SGB VIII, 53, 54 SGB XII 10 SGB IX, 58, 40 SGB XII 53, 54 SGB XII 53, 54, 67 ff. SGB XII 26–32 33–43, 49 SGB IX 76 SGB IX 57 SGB XII 56 SGB IX

das Sozialgesetzbuch in Tab. 1 wichtige Bestimmungen beispielhaft benannt werden. Derartige Angebote und Maßnahmen sind Ausdruck gesellschaftlicher Verantwortung, die dem Einzelnen ermöglichen sollen, ein selbstbestimmtes Leben (§ 10 SGB I) innerhalb gemeinsamer Werte und Regeln zu führen. Dies gelingt bis heute aber nur bedingt, wie das nachfolgende Beispiel zeigt: „Während 15 Prozent der Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensführung als gering wahrnehmen, trifft dies nur auf zehn Prozent der Menschen ohne Beeinträchtigungen zu.“ (Engels et al. 2016). Versteht man Teilhabe als gesellschaftlichen und individuellen Prozess über die gesamte Lebensspanne, kommen Fragen der Lebensqualität in den Blickpunkt (Nussbaum 2014). Ein weiterer Ansatz ist der der Lebenslagen, der über die Dimension der Lebensqualität hinausgeht. Hier werden unterschiedliche Lebensbereiche durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme in Anlehnung an Luhmann (1997) mehrdimensional und in ihrer Wechselwirkung betrachtet (Nussbaum 2010; Röh 2013; Sen 2010, 2013). Lebenslagendimensionen werden auch als Teilhabefelder bezeichnet und umfassen die in der Übersicht benannten Bereiche: Lebenslagen und Teilhabefelder (BMAS 2013; Engels et al. 2016)

• • • •

Familie und soziales Netz Bildung und Ausbildung Erwerbstätigkeit und materielle Lebenssituation Alltägliche Lebensführung, inklusive der Themen: Wohnen, öffentlicher Raum, Mobilität, ambulante Dienstleistungen, persönliche Assistenz (Fortsetzung)

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Partizipation, Teilhabe und Gesundheit

• Freizeit, Kultur und Sport, inklusive des Themas Reisen • Politische und gesellschaftliche Partizipation • Gesundheit • Sicherheit und Schutz der Person Gesundheit ist somit als ein Teilhabefeld unter anderen zu sehen. Zugleich stehen die Teilhabefelder in Wechselwirkung zueinander und müssen ganzheitlich betrachtet werden. Der Lebenslagenansatz umfasst die Gesamtheit der Ressourcen und Beschränkungen, die eine Person bei der Verwirklichung eigener Lebensvorstellungen beeinflussen (Röh 2013). Diese wie auch die unterschiedlichsten Lebensentwürfe und Ansprüche der Selbstverwirklichung fallen individuell unterschiedlich aus. In dem Sinne wird Teilhabe zu einem gesellschaftlichen Konzept, das sowohl bottom-up als auch top-down umgesetzt werden muss. Eine Teilhabegesellschaft bringt somit individuelle Gestaltungsmöglichkeiten mit sich und braucht zugleich Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse der Teilhabe die durch Verantwortliche – z. B. Politiker oder Vertreter öffentlicher Einrichtungen – organisiert werden. " Partizipation und Teilhabe sind definitorisch nur bedingt voneinander abzugrenzen. Sie stehen als gesellschaftliche Konzepte im Zusammenhang mit anderen Ansätzen wie beispielsweise dem der Lebenslagen. Teilhabeförderung ist gesamtgesellschaftlich orientiert und richtet sich auf alle wie auch auf besondere Personengruppen, umfasst die gesamte Lebensspanne und Angebote bzw. Leistungen in allen Lebens- bzw. Teilhabebereichen.

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Übersetzung von participation und inclusion im UN-Übereinkommen über die Rechte behinderter Menschen, denn Partizipation wird mit Teilhabe, Teilnahme, Mitwirkung, Mitarbeit, Beteiligung übersetzt, aber nicht mit Einbezogensein. Einbezogensein steht dort für Inklusion. Damit entsteht die eigenartige Situation, dass Einbezogensein sowohl für Teilhabe (ICF [International Classification of Functioning, Disabality and Health; Anm. d. Verfassers]) als auch für Inklusion (UN-Übereinkommen) verwendet wird. [  ] Teilhabe steht für die Inhalte, die durch Inklusion als Form verwirklicht werden sollen.“ (Grampp et al. 2013) Schon dieser begriffliche Abriss verdeutlicht die angesprochene Begriffsvielfalt, wie auch die komplexe Thematik der Partizipation und Teilhabe und zeigt, dass Teilhabe wie von der WHO (2006) und im Fokus von New Public Health (Razum und Hurrelmann 2016) identisch mit Partizipation verstanden wird. Zugleich gibt es aufgrund von Übersetzungen aber auch Unterschiede und Unklarheiten. Rosenbrock und Hartung schreiben ergänzend zum Thema Gesundheit, Partizipation und Teilhabe: „Selbstbestimmte Teilhabe an den subjektiv wichtigsten Aktivitäten, Bezügen und Feldern des Lebens trifft als Konzept eines gelingenden Lebens wahrscheinlich auf einige Zustimmung. Die Qualität eines Gemeinwesens wäre danach daran zu bemessen, inwieweit seinen Mitgliedern solche Teilhabe ermöglicht.“ (Rosenbrock und Hartung 2012). Das Gelingen von Teilhabe braucht dementsprechend zwei Ansätze: 1. die Gelegenheiten dazu und 2. die Nutzung dieser Gelegenheiten. So heißt es weiter zur Definition der Partizipation:

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Partizipation und Teilhabe: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Haben die ersten Definitionen der Begriffe Partizipation und Teilhabe bereits die Komplexität des Themas wie auch die Ausrichtung beider Begriffe angedeutet, werden die folgenden Definitionen helfen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu benennen und so eine eindeutigere Verwendung oder doch zumindest eine bewusstere Verwendung der beiden Begriffe zu fördern. Der Begriff „Teilhabe“ wurde mit dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) 2001 in Deutschland eingeführt und hat den Begriff „Rehabilitation“ abgelöst. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versieht Partizipation und Teilhabe mit der gleichen Bedeutung und versteht darunter: " Definition Teilhabe „das Einbezogensein in eine Lebens-

situation [  ] Allerdings zeigt sich ein Problem bei der

" Definition Partizipation „Unter Partizipation verstehen

wir die individuelle oder auch kollektive Teilhabe an Entscheidungen, die die eigene Lebensgestaltung und die eigene soziale, ökonomische und politische Situation und damit immer auch eigene Gesundheit betreffen. [  ] Partizipation wird vorwiegend als Teilhabe an relevanten Entscheidungen in Situationen, Lebensbereichen bzw. Settings betrachtet, in denen Gesundheit explizit ein Thema ist.“ (Rosenbrock und Hartung 2012) Die Teilhabe an Entscheidungen kann dabei unterschiedlich ausgeprägt sein. Nicht alles was partizipativ erscheint ist auch tatsächlich Partizipation im Sinne der Definition. Partizipation wird deshalb hinsichtlich des Ausprägungsgrades der Teilhabe abgestuft dargestellt. Das in Tab. 2 dargestellte Stufenmodell der Partizipation umfasst neun Stufen (Wright et al. 2010). Entlang der dargestellten Partizipationsstufen werden die Abstufungen der Partizipation und Teilhabe deutlich.

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Tab. 2 Stufen der Partizipation Stufen der Partizipation 1. Instrumentalisierung 2. Anweisung 3. Information 4. Anhörung 5. Einbeziehung 6. Mitbestimmung 7. Teilweise Entscheidungskompetenz 8. Entscheidungsmacht 9. Selbstorganisation

Partizipationsgrad Nicht-Partizipation Nicht-Partizipation Vorstufe der Partizipation Vorstufe der Partizipation Vorstufe der Partizipation Partizipation Partizipation Partizipation Geht über Partizipation hinaus

Mit dem dargelegten Verständnis von Partizipation und Teilhabe wird auf weitere einschlägige Quellen bezüglich theoretischer Grundlagen und Definitionen verwiesen (Göhring-Lange 2011; Grampp et al. 2013; Kubek 2012; Rosenbrock und Hartung 2012; Scheu und Autrata 2013; Schwalb und Theunissen 2012; Straßburger und Rieger 2014; WittigKoppe et al. 2013) und zugleich ist eine Orientierung für das Thema Partizipation und Teilhabe gegeben. Betrachtet man das Konzept der Teilhabe und damit verbunden die Partizipation, ist festzustellen, dass der Begriff der Teilhabe, bevor er in anderen Arbeitsfeldern eine Rolle spielte, lange Zeit primär in der Behindertenhilfe geläufig war und im SGB IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ mündete. Dort wurde Teilhabe als Ziel und Leitbild fixiert (Göhring-Lange 2011). Auch wurden Leistungen damit konkreter definiert, wie z. B. die geltenden „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ nach § 55 SGB IX, die beispielsweise „Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben“ benennen. Teilhabe ist zudem seit über 10 Jahren als konzeptioneller Ansatz gebräuchlicher geworden (BAR 2006) und gilt als Maßstab für soziale Gerechtigkeit aller Menschen in der Gesellschaft. Teilhabe ist dabei als neues wissenschaftliches und politisches Konzept zu verstehen, das als gesellschaftlicher Wert für alle Bürger gelten soll (Göhring-Lange 2011). Das schlägt sich dementsprechend auch in der deutschen Gesetzgebung nieder. So wird bereits im Diskriminierungsverbot (Artikel 3, Abs. 3) des Grundgesetzes (GG) auf das Recht zur Teilhabe verwiesen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Behinderung wurde hierbei als individuelles Problem verstanden, dessen Ursachen bio-psychischer Art sind. Folglich bot der Staat als Antwort auf die Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen fürsorgende Hilfen an. Von diesem Verständnis ist man abgerückt und definiert den menschenrechtlichen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben und soziale Teilhabe (BMAS 2013). Im Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG), das am 1. Mai 2002 in Kraft trat, wird die Gleich-

stellung behinderter und nicht behinderter Menschen gesetzlich hervorgehoben. Berücksichtigung findet das Teilhabekonzept des Weiteren in aktuellen politischen Diskussionen hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), in der Umsetzung der International Classification of Functioning, Disabality and Health (ICF) wie auch im 2016 verabschiedeten Bundesteilhabegesetz (BTHG, BAR 2017; BMAS 2015; Engels et al. 2016). „Im Sinne der ICF ist Behinderung eine negative Wechselwirkung zwischen dem Gesundheitsproblem und den Kontextfaktoren und weiter gefasst als der Behinderungsbegriff gemäß SGB IX, der sich vor allem auf eine gesundheitlich bedingte drohende oder manifeste Beeinträchtigung der Teilhabe bezieht.“ (BAR 2006). Geregelt wird die Anwendung der ICF in Deutschland u. a. in den Richtlinien über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 16. März 2004. Seither stehen Anwendungsfragen der ICF in der Rehabilitation bzw. Teilhabeförderung im Blickpunkt und sog. Core-Sets wurden von Expertengruppen entwickelt (Amann et al. 2011). Zudem wird in Berichtslegungen das Teilhabekonzept zugrunde gelegt, wie z. B. im Armuts- und Reichtumsbericht und in der sozioökonomischen Berichterstattung in Deutschland. Den Armuts- und Reichtumsbericht bringt die Bundesregierung zur Legitimierung ihrer Arbeit seit 2001 regelmäßig heraus (aktuell liegt der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht vor, BMAS 2017). Hier schreibt sie der Teilhabe eine wichtige Funktion im Sozialstaat zu: „In einer Gesellschaft wie der unsrigen, die stark vom Gedanken der Leistungsgerechtigkeit geprägt ist, sind persönliche Zufriedenheit und sozialer Zusammenhalt sehr eng damit verbunden, ob Leistung sich lohnt, die Verteilung der Einkommen, soziale Teilhabe- und Aufstiegschancen und die soziale Sicherung alles in allem als ‚gerecht‘ empfunden werden.“ (BMAS 2017). Dabei zeichnet sich der Armuts- und Reichtumsbericht dadurch aus, dass die Teilhabe- und Verwirklichungschancen und der Lebenslagenansatz (Nussbaum 2010; Röh 2013; Sen 2010, 2013) zur Grundlage gemacht werden. Dies wird auch als Paradigmenwechsel vom Ressourcenmangel zu Teilhabedefiziten gesehen (Göhring-Lange 2011) und wirft die Frage auf, wie pro-aktiv Partizipation und Teilhabe gefördert werden können. In der sozioökonomischen Berichterstattung wird Teilhabe als Bewertungsmaßstab für Entwicklungen von Gesellschaften herangezogen. Hier werden individuelle Teilhabemuster von Personen in Haushalten und die institutionellen Veränderungen im deutschen Produktions- und Sozialmodell analysiert. Grundlage ist das normative Zielsystem, das an individuellen Entfaltungsmöglichkeiten orientiert wird. Hierbei werden die Vielfalt von Lebensführungsmustern und die sozialstrukturelle Ungleichheit der Teilhabemöglichkeiten berücksichtigt (Mayer-Ahuja et al. 2012).

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Partizipation, Teilhabe und Gesundheit

" Partizipation und Teilhabe werden teilweise synonym, teilweise unterschiedlich definiert und verwendet. Die Unterschiede resultieren auch aus Übersetzungen von Originaldokumenten der UN und der WHO.

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Partizipation und Teilhabe im Kontext von Gesundheit und Gesundheitsförderung

Nachdem zunächst Partizipation und Teilhabe definiert und erläutert wurden, folgt nun eine nähere Betrachtung des Zusammenhangs mit Gesundheit und Gesundheitsförderung. Das nachfolgende Zitat verdeutlicht zunächst den Zusammenhang von Teilhabe und Gesundheit: „Der individuelle Gesundheitszustand einer Person beeinflusst die wahrgenommene Lebensqualität und hat Auswirkungen auf die Teilhabechancen in verschiedenen Lebensbereichen. Gleichzeitig wirkt sich die Teilhabe wiederum auf die objektive und die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität sowie auf den Gesundheitszustand aus. Der individuelle Gesundheitszustand einer Person ist dabei als ein Produkt von Risiko- und Schutzfaktoren zu verstehen, die in personalen und umweltbedingten Merkmalen der Lebenslage einer Person bestehen.“ (BMAS 2013). Das heterogene Verständnis von Gesundheit kommt in einer Vielzahl unterschiedlicher Gesundheits- bzw. Krankheitsmodelle zum Ausdruck. Das immer noch weit verbreitete biomedizinische Krankheitsmodell ist das prävalente Modell in der Medizin und der Gesundheitsversorgung. Darin wird davon ausgegangen, dass Menschen durch die Infizierung mit Erregern erkranken. Menschen gelten im biomedizinischen Modell nicht als Individuen, sondern lediglich als Krankheitsträger. Verhalten und Verhältnisse von Personen werden außer Acht gelassen (Bruns 2013). Krankheiten werden definiert als die Deviation der Norm und damit als Dichotom zur Gesundheit. Somit können Gesundheit und Krankheit im Verständnis dieses Modells nicht gleichzeitig nebeneinander existieren. Das biomedizinische Modell wurde ergänzt um das Risikofaktorenmodell bei dem auch individuelles Gesundheitsverhalten wie Bewegung, Ernährung und organische Risikofaktoren wie Bluthochdruck sowie manifeste Krankheiten einen Stellenwert erhalten. Entgegen der pathogenen Ausrichtung dieser Modelle bilden ressourcenorientierte Gesundheitsmodelle wie u. a. das systemische Anforderungs-Ressourcen-Modell, das Resilienzmodell und das Salutogenesemodell eine andere Blickrichtung (Klemperer 2015). Letzteres hat weltweit Anerkennung gefunden und ist Grundlage zeitgemäßer Gesundheitsförderung. In diesem Modell wird der Erhalt von Gesundheit und nicht die Vermeidung von Krankheit fokussiert. Das Kernstück sind die

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generalisierten Widerstandsressourcen, das GesundheitsKrankheits-Kontinuum und das Kohärenzgefühl. Das Salutogenesemodell ist angelehnt an die Bewältigungstheorien und stellt das Pendant zur Pathogenese dar. Trotz dessen erkennt Antonovsky die pathogene und die salutogene Sichtweise nicht als Antagonismen an, sondern versteht sie vielmehr als sich gegenseitig ergänzende Modelle. Es ist ebenso wichtig zu wissen, was Menschen gesund hält, wie zu wissen, wodurch sie erkranken. Hier spielen die Verstehbarkeit, die Sinnhaftigkeit und die Handhabbarkeit eine zentrale Rolle (Antonovsky 1997). Der letztgenannte Aspekt betrifft damit ganz wesentlich die Partizipation und Teilhabe. Gesundheit ist im Verständnis der WHO „ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens“ (WHO in Kaminski 2013). Als Determinanten der Gesundheit gelten Umweltfaktoren, die einen erheblichen Einfluss auf den Gesundheitszustand eines Individuums nehmen. Diese Determinanten sind im Folgenden aufgelistet:

Determinanten von Gesundheit (Kaminski 2013)

• Soziales Gefälle (gemessen am individuellen sozioökonomischen Status) • Stress • Frühkindliche Entwicklung (die Entwicklung des Ungeborenen ist eingeschlossen) • Soziale Ausgrenzung aufgrund von Diskriminierung und Armut • Arbeit und Beruf • Arbeitslosigkeit • Unzufriedenheit • Überforderung und Unterforderung • Soziale Unterstützung • Suchtmittelabhängigkeit • Ernährung • Verkehr und Fortbewegung Die Determinanten können je nach Ausprägung zu gesundheitlicher Ungleichheit führen und die Teilhabe des Individuums beeinträchtigen. Dabei versteht die WHO Gesundheit als ein Grundrecht der Menschen: „The enjoyment of the highest attainable standard of health is one of the fundamental rights of every human being without distinction of race, religion, political belief, economic or social condition.“ (WHO 2006). Im Hinblick auf eine teilhabeorientierte Gesundheitsförderung erscheint es relevant, Gesundheit nicht als die bloße Abwesenheit von Krankheit zu beschreiben, sondern dem alltäglichen Verhältnis von Gesundheit und Krankheit Beachtung zu schenken und mit Hilfe von gesundheitsförderlichen Settings (Hurrelmann et al. 2014) bzw. Sozialräumen (Röh 2013) der gesundheitlichen Ungleichheit entgegenzuwirken

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und damit Teilhabe zu fördern. Gesundheit ist dabei als sehr komplexes Geschehen zu verstehen. Sie wird auch als ein Teil des täglichen Lebens bezeichnet, welcher beschreibt, in welchem Umfang Individuen selbst in der Lage sind, ihren Wünschen und Hoffnungen nachzugehen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Umwelt zu meistern (Naidoo und Wills 2010). Dies entspricht der oben vorgestellten Definition der Teilhabe und umfasst wesentliche Merkmale von Selbstbestimmung und Partizipation aus der Perspektive des Teilhabefeldes Gesundheit. Faktoren, die den Zusammenhang von sozialer Benachteiligung und fehlender Teilhabe im Zusammenhang mit der Gesundheit beschreiben, sind das Einkommen, das Bildungsniveau, die arbeitsweltbezogenen bzw. schulischen Einflüsse, die Erwerbslosigkeit und der Migrationshintergrund (Lampert et al. 2011). Es ist bekannt, dass sozial benachteiligte Gruppen im Allgemeinen ein riskanteres Gesundheitsverhalten aufweisen und sich ihre gesundheitliche Situation schlechter darstellt. So zeigt sich beispielsweise: „55 Prozent der Erwachsenen mit Beeinträchtigungen bewerten ihren Gesundheitszustand als ‚weniger gut‘ oder ‚schlecht‘ im Vergleich zu 9 Prozent derjenigen ohne Beeinträchtigungen. Auch das psychische Wohlbefinden wird als schlechter wahrgenommen.“ (BMAS 2013). Vor dem Hintergrund dieses vielfältigen Verständnisses von Gesundheit stellt sich nun die Frage, wie Gesundheit durch Partizipation und Teilhabe gefördert werden kann. Hier kommt die Gesundheitsförderung in den Blick. " Definition Gesundheitsförderung „Gesundheitsförderung

zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.“ (WHO in Kuhn 2012) Als weiteres Ziel der Gesundheitsförderung wird in der Ottawa-Charta das umfassende Wohlbefinden der Menschen genannt, welches erreicht werden soll durch die Bedürfnisbefriedigung des Individuums sowie der des Kollektivs. Die Menschen sollen befähigt werden, selbst über ihre Gesundheit entscheiden zu können. Dadurch soll Gesundheit letztlich kein utopisches Ziel, sondern alltäglich sein. Gesundheitsförderung wird dargestellt als eine soziale Veränderung auf organisatorischer als auch auf persönlicher Ebene. Sie soll als Antwort auf die Belastungen des Alltags fungieren (Brösskamp-Stone und Dietscher 2011) und kommt in einer gelungenen Teilhabe zum Ausdruck. Die Gesundheitsförderung kann grundsätzlich in zwei Ansätze geteilt werden, dem verhältnisorientierten und dem verhaltensorientierten Ansatz. Verhaltensorientierte Gesundheitsförderung hat zum Ziel, die Individuen zu gesundheitsrelevanten Lebensweisen zu befähigen, durch „bildende, beratende und verhaltenstherapeutische Maßnahmen“ (Hartmann und

K. Tielking

Seidl 2014). Gesundheitsschädliche Verhaltensweisen sollen so minimiert und gesundheitsförderliche Verhaltensweisen gestärkt werden. Verhältnisbasierte Gesundheitsförderung zielt auf die Lebens-, Umwelt- und Arbeitsverhältnisse, sowie strukturelle Probleme der Individuen ab (Hartmann und Seidl 2014). Empfehlenswert ist die Kombination beider Ansätze, wie sie im Setting-Ansatz verfolgt wird. Dieser besagt, dass Menschen mit Gesundheitsförderung und Prävention da erreicht werden sollen, wo sie leben, arbeiten und wohnen (Hurrelmann et al. 2014). Somit sind Settings auch die Sozialräume (Röh 2013), in denen es für die Menschen um Fragen von Partizipation und Teilhabe geht. Während in Anlehnung an das oben beschriebene Gesundheitsverständnis die Gesundheitsförderung salutogenetisch ausgerichtet ist und bei der Analyse und Stärkung von Gesundheitsressourcen ansetzt, ist die Krankheitsprävention pathogen ausgerichtet und orientiert sich an den Risikofaktoren. Prävention leitet sich ab aus dem lateinischen Wort „praevenire“, welches übersetzt werden kann mit „zuvorkommen“. Das Ziel besteht demnach darin, einer Krankheit zuvorzukommen und es nicht zu ihrem Ausbruch kommen zu lassen (Hurrelmann et al. 2014). Dementsprechend basiert Krankheitsprävention auf einer Zukunftsvorhersage darüber, welche Krankheiten am wahrscheinlichsten auftreten werden, und der Erfolg wird gemessen am Nichteintreten der erwarteten Krankheit. Trotz der inhaltlichen Unterschiede von Gesundheitsförderung und Prävention ergänzen sich die beiden Strategien. Während der Fokus der Prävention auf der Vermeidung von Krankheiten liegt und das Hauptaugenmerk der Gesundheitsförderung auf der Stärkung der Ressourcen liegt, bleibt das Ziel dasselbe: der Gesundheitsgewinn der Menschen (Hurrelmann et al. 2014). " Definition Ressourcen „Ressourcen sind als Potenziale

von Menschen oder deren Umwelt zu verstehen, die helfen, Aufgaben oder Lebensereignisse zu bewältigen oder Ziele zu erreichen. Dabei kann es sich z. B. um gegebene Fähigkeiten handeln, Begabungen, angeeignete Fertigkeiten, Geschicklichkeit, Talente, Interessen, Kenntnisse, Erfahrungen, physische Potenziale (z. B. gesunde Konstitution, Kraft, Ausdauer), psychische Ressourcen (z. B. identitätsstiftende Lebensziele, Optimismus, Aufgaben oder die Zukunft bewältigen zu können), kreativ-künstlerische Talente, Bindungen, Kontakte, soziale Beziehungen (einschließlich Kritik- und Konfliktfähigkeit), Zugehörigkeiten, Überzeugungen, Motive, Wertehaltungen, Einstellungen oder Netzwerke.“ (Wendt 2017) Somit spielt für eine Teilhabe-orientierte Gesundheitsförderung nicht nur die Ermöglichung von Teilhabe eine zentrale Rolle, sondern vielmehr noch die tatsächliche Realisierung der Teilhabe, insbesondere durch vulnerable Individuen und Gruppen. Hierbei sind Ressourcen (Wendt 2017), Empowerment (Laverack 2010) und Partizipation (Rosenbrock und

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Partizipation, Teilhabe und Gesundheit

Hartung 2012) im Sinne von Selbstbestimmung und Teilhabe von besonderer Bedeutung. Empowerment steht dabei ebenfalls im engen Zusammenhang mit der Definition von Partizipation und Teilhabe und richtet sich darauf, die Fähigkeit der Menschen zu entwickeln und zu verbessern und ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten (Laverack 2010). Dabei sind die Förderung von Partizipation und Teilhabe sowie Gemeinschaftsbildung wichtige Strategien des Empowermentprozesses (Laverack 2010). " Partizipation und Teilhabe sind ausschlaggebend für Gesundheit. Gesundheitsförderung und Prävention im Zusammenhang mit Partizipation richten sich deshalb auf Ressourcen der Menschen und umfassen Maßnahmen, die im Sinne von Selbstbestimmung und Empowerment partizipative Elemente benötigen.

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Zusammenfassung und Ausblick

Auch wenn die Definitionen zu Partizipation und Teilhabe inhaltlich stark überlappen, zeigen beide Begrifflichkeiten einen deutlichen Zusammenhang zur Gesundheit. Gesundheit wurde als Teilhabefeld definiert, das wiederum in Wechselwirkung mit anderen Teilhabefeldern zu sehen ist. Teilhabe ist ein zentraler Ansatz der Angebote in Gesundheitsförderung und Prävention wie auch weiterer Hilfen im Versorgungssystem in Beratung, Behandlung und Nachsorge geworden. Dies ist im Zusammenhang mit internationalen Entwicklungen zu sehen, die sich auf die deutsche Gesetzgebung ausgewirkt haben. Insbesondere die UN-BRK, Grundrechte, das SGB und das BTHG bringen zum Ausdruck, dass Partizipation und Teilhabe gesellschaftliche Ziele sind, die zu verfolgen und deren konkrete Umsetzung zu überprüfen sind. So brachte die Kritik zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland letztlich einen entscheidenden Impuls zur Erarbeitung und Verabschiedung des BTHG (BAR 2017; Engels et al. 2016; Morfeld und KochGromus 2016). Partizipation und Teilhabe sind in der Umsetzung der gesetzlichen Regelungen als gesellschaftlicher und individueller Prozess zu verstehen. Zudem haben die Ansätze, Leistungen und Maßnahmen zur Förderung von Partizipation und Teilhabe gezeigt, dass eine Vielzahl und Vielfalt an Leistungen zur Verfügung steht, die in den unterschiedlichen Teilhabefeldern und bei unterschiedlichen Lebenslagen zum Einsatz gebracht werden können (BAR 2017; BMAS 2017). Im Zusammenhang mit den Determinanten von Gesundheit wurden Faktoren genannt, die zu Gesundheitsproblemen, Armut und Ausgrenzung und damit zu fehlender Teilhabe führen können. Zugleich wurde auf Ressourcen hingewiesen, die auch bei gesundheitlichen Belastungen und Beeinträchtigungen dazu beitragen können, Anforderungen gesund zu bewältigen und eine Gesundheitsbalance zwischen Anforde-

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rungen und Bewältigungsmöglichkeiten herzustellen (Hurrelmann et al. 2014). Im Versorgungssystem in Deutschland wurden aufgrund der Erkenntnisse aus den neueren Gesundheitsmodellen die Angebote in der Gesundheitsförderung und Prävention entsprechend ausgerichtet. Beispiele der Teilhabeförderung verdeutlichen in verschiedenen Teilhabefeldern die Bedeutung des Teilhabefeldes Gesundheit (s. Übersicht oben). Durch gesundheitsfördernde Leistungen werden weitere Teilhabefelder berührt und wirken sich aufgrund der Wechselwirkungen auf die Teilhabe insgesamt positiv aus. Dies wird im 2. Teilhabebericht der Bundesregierung anhand aktueller Daten zu allen Teilhabefeldern bestätigt (Engels et al. 2016), wie auch in anderen Studien. So zeigt eine aktuelle Studie zum Thema Erwerbslosigkeit und Gesundheit, dass durch gesundheitsförderliche Angebote und die damit verbundene Besserung der gesundheitlichen Lage der erwerbslosen Menschen sich auch deren Teilhabe am Arbeitsleben verbesserte (Rühle und Tielking 2016). Ähnliches gilt für das Teilhabefeld „Alltägliche Lebensführung“ im Zusammenhang mit älteren Menschen und deren Leben in Senioren-Wohngemeinschaften kombiniert mit ambulanter Pflege. Hier zeigt eine neuere Untersuchung, dass sich durch den Einsatz partizipativer Methoden in der Pflege der Partizipationsgrad älterer Menschen steigern ließ und dadurch die gesundheitliche Lage verbessert werden konnte (Haefker und Tielking 2017). Auch in anderen Teilhabefeldern bestätigen Untersuchungen die Bedeutung und Wirksamkeit von Leistungen und Maßnahmen, die gesundheitsfördernd und/oder präventiv ausgerichtet sind und dadurch die Teilhabe insgesamt wie auch in einzelnen Teilhabefeldern verbessern (u. a. BMAS 2013, 2017; Engels et al. 2016; Grampp et al. 2013; Kubek 2012; Schwalb und Theunissen 2012; Wittig-Koppe et al. 2013). Die Liste der Positivbeispiele zur Teilhabeförderung könnte in Anlehnung an die Angebote und Leistungen zur Förderung der Teilhabe (Tab. 1) fortgeschrieben werden. Stellen die gesetzlichen Regelungen den gesellschaftlichen Kompromiss im Umgang mit Teilhabe dar, zeigen die Ergebnisse zur Umsetzung der Förderung der Teilhabe in allen Teilhabebereichen positive Effekte. Ob es beispielsweise der Teilhabeplan im kommunalen Kontext der Eingliederungshilfen oder das Ambulant Betreute Wohnen als niedrigschwellige Form eines selbstbestimmten Wohnens mit professioneller Betreuung sind. Hier geben die aktuellen Ergebnisse des Teilhabeberichtes (Engels et al. 2016) und des Armuts- und Reichtumsberichtes (BMAS 2017) der Bundesregierung Bestätigung, dass Teilhabeförderung notwendig, sinnvoll und effektiv gemessen an gesellschaftlichen Zielen wie der Teilhabe sein kann. Partizipation und Teilhabe brauchen aber weitere Forschung. Dabei wurde auch die Forschung hinsichtlich Methodik und Methoden partizipativer ausgerichtet (Behrisch und Wright 2018). Gerade im Gesundheitsbereich findet dieser

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Ansatz zunehmend Verbreitung vor allem im Zusammenhang mit Maßnahmen, die im Sinne der Ottawa-Charta der WHO zur Gesundheitsförderung auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen abzielen, um deren Gesundheitslage positiv zu beeinflussen (Wright et al. 2013). Die partizipative Evaluation hat sich bereits als sehr erfolgreich im Hinblick auf ein anderes Verständnis von Forschung erwiesen, bei dem nicht nur Wissenschaftler Forschung betreiben, sondern Akteure im Untersuchungsfeld aktiv und partizipativ in Forschungsvorhaben und -prozesse einbezogen werden (Wright et al. 2013; Behrisch und Wright 2018). Partizipative Forschungsmethoden finden sich beispielsweise in den angesprochenen Studien, die Anregungen für eine partizipative Evaluation bieten (u. a. Haefker und Tielking 2017; Rühle und Tielking 2016). Derartige Studien machen auch deutlich, dass der ohne Frage erhöhte Aufwand der wissenschaftlichen Arbeit durch die Beteiligung der Akteure im Feld nicht davon abhalten sollte, partizipative Methoden einzusetzen, da der Erkenntnisgewinn und die qualitative Weiterentwicklung der Teilhabefelder den Aufwand rechtfertigen (Behrisch und Wright 2018). Abschließend ist festzustellen, dass Partizipation, Teilhabe und Gesundheit untrennbar zusammengehören und den aktuell diskutierten gesellschaftlichen Paradigmen von Teilhabe und Inklusion zuspielen (Kubek 2012; WittigKoppe et al. 2013). Die Bedeutung der Gesundheit als zentrales Teilhabefeld kann gar nicht hoch genug bewertet werden, beeinflusst die Gesundheit doch ganz zentral weitere Teilhabefelder und wird umgekehrt von ihnen beeinflusst (Engels et al. 2016). Hier kann eine partizipative und Teilhabe-orientierte Ausrichtung von Leistungen zur Förderung der Gesundheit des Einzelnen wie auch einer gesünderen Gesellschaft wesentlich zu beitragen. Dass hier auch in Zukunft weitere Bemühungen notwendig sind, um Teilhabedefizite auszugleichen, machen sowohl die genannten Teilhabeberichte, Armuts- und Reichtumsberichte, Forschungsarbeiten als auch die Diskussion um das BTHG deutlich.

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Apps in der digitalen Prävention und Gesundheitsförderung

37

Urs-Vito Albrecht und Ute von Jan

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 1.1 Aspekte der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 1.2 Smarte Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2 mHealth und Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2.1 Angebote und Zielgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2.2 Apps, ihre Komponenten und präventionsbezogenen Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 3 3.1 3.2 3.3

Nutzungsbarrieren für den Einsatz von mHealth-Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technik und Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435 435 436 436

4 4.1 4.2 4.3

Qualitätsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum Qualitätssiegel keine Lösung darstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualität von Gesundheits-Apps bestimmen und erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worauf vor dem Einsatz geachtet werden sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

437 438 438 438

5

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

1

Einleitung

1.1

Aspekte der Digitalisierung

Unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen hat jeder Bürger Deutschlands vielfältige Berührungspunkte mit der Digitalisierung. Auch wenn die Bundesrepublik in Sachen digitalem Wandel hinter ihren europäischen Nachbarn liegt, ist der Anschluss an das Breitbandinternet durch Smartphones, Tablets und Wearables gegeben und wird auch intensiv genutzt. Es ist demnach sehr schwierig sich dem Thema zu entziehen und mit steigendem Komfort für das Alltagsleben durch diese Technologien wird die ohnehin

U.-V. Albrecht (*) · U. von Jan Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

schon hohe Akzeptanz gegenüber „Smartphone“ und „Internet“ noch weiter zunehmen. Die Demokratisierung von Information begann mit der Öffnung des Internets gegenüber dem Alltagspublikum. In Deutschland lässt sich der Zeitpunkt auf die frühen 1990erJahre verorten, als noch mit geringer Geschwindigkeit via lauten Modems über die weltweite Datenautobahn geschlichen wurde. Seither hat sich viel getan und längst hat das „mobile“ Internet mit schnellen Zugriffen über Smartphones dem antiquiert wirkenden Verkehr über Desktop-Rechner den Rang abgelaufen. Eine ganz natürliche Entwicklung unter Berücksichtigung der menschlichen Bedürfnispyramide, die alles favorisiert, was einfach, komfortabel und in der Regel „mobil“ ist. Anna Bager von IAB brachte den Grund für den mobilen Erfolg auf den Punkt, als sie 2012 feststellte, dass es sich bei „mobile“ um eine Verhaltensweise und nicht um eine Technologie handle („Mobile is a behaviour, not a technology“, in einem Interview mit clickz.com; Charlesworth 2014). Implizit bedeutet das, dass es eben der unver-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_40

433

434

U.-V. Albrecht und U. von Jan

bindliche, ungebundene und flexible Einsatz der Technologie ist, der sie so erfolgreich macht: Smartphones, Tablets, Wearables sind Alltagsgegenstände geworden und damit so selbstverständlich, wie andere technische Geräte (Geschirrspüler, Waschmaschine, Fernseher). Der technische Fortschritt erlaubt den Menschen dank „smart“ und „mobile“ die räumlich und zeitlich entkoppelte Befriedigung des Informations- und Kommunikationsbedürfnisses. Was sie allerdings besonders und hochinteressant macht, ist die kontextabhängige und persönliche Nutzung. Es gibt wohl kaum einen technischen Gegenstand, der näher und länger an unserem Körper ist, uns in nahezu jeder Lebenssituation begleitet und individueller auf uns eingestellt ist, als Smartphones und Wearables. Die Technologie ist in der Lage, uns in jedem Moment kontextnah Hilfestellung zu bieten. Als Beispiel sei hier die GPS-Navigation vom aktuellen Standpunkt zu einem entfernten Ziel, mit Mitteilung der Wetterlage und aktuellen regionalen Einkaufstipps angeführt. Das kann allerdings nur funktionieren, wenn die Geräte ständig in Verbindung mit dem Internet und so zu den Diensteanbietern stehen – wird die Verbindung gekappt und der Informationsstrom versiegt, ist auch ziemlich schnell Schluss mit dem Komfort.

1.2

Smarte Entwicklungen

Die Darbietung maßgeschneiderter Informationen für die individuelle Lebenswirklichkeit der Nutzer gelingt nur aufgrund einer Beurteilung von unterschiedlichsten Daten, die eine Abbildung der Umwelt und Situation extrapolieren lassen. Die Mobiltechnologie bietet zur Echtzeitanalyse alles, was nötig ist auf kleinstem Raum und unauffällig verpackt: die heutigen Smartphones haben sehr wenig mit den alten Mobiltelefonen der 1990er-Jahre zu tun. Es handelt sich mittlerweile um Hochleistungsrechner mit exzellenter und weitreichender Sensorik. Verbaut werden neben Beschleunigungssensoren, Kreiselkompassen zur Lage- und Bewegungsregistrierung auch Sensoren zur Messung ultravioletter Strahlung, zur Bestimmung des Luftdrucks oder des Magnetfelds. Diese Liste wird noch durch Zubehörsensorik ergänzt, seien es Impedanzsensorik (Choi et al. 2015) zur Bestimmung des Hautleitwertes oder Widerstandsmessungen zur Bestimmung der Reizleitung (Chow et al. 2016) des Herzens (EKG) oder chemische Analysesysteme zur Blutzuckerbestimmung (Heintzman 2015). Zusammengenommen darf von einem mobilen Feldlabor gesprochen werden (Albrecht et al. 2013a), das je nach Wunsch und Zweck erweitert werden kann. Allerdings werden Daten nicht nur erhoben: Smartphones und Co. sind zum Datenaustausch geschaffen worden. Es ist kein Zufall, dass für diese Hochleistungsrechner der Formfaktor „Mobiltelefon“ gewählt wurde. Die Akzeptanz der Nutzer gegenüber dem Datenaustausch durch diese Technologie liegt auch hierdurch

begründet, erläutert sie doch das Grundprinzip der Kommunikation und begründet die Notwendigkeit des Datenaustauschs am Bild des „Ferngesprächs“. Die Informationsübermittlung durch Sprache dient als Allegorie für andere Austauschkanäle (E-Mail, SMS), was letztendlich in der Akzeptanz von Datenaustauschmethoden mündete, die eben ohne direkte Eingabe durch den Nutzer erfolgen. Dazu zählt Kommunikation von Sensordaten als Teil einer für uns unsichtbaren Kommunikation über uns (Metakommunikation) zur Befriedigung unserer kontextabhängigen Bedürfnisse. All dies gelingt am besten über dezentrale Cloud-Dienste, unter Verwendung von „künstlicher Intelligenz“ zur Verarbeitung personenbezogener Daten und der Integration weiterer Informationsquellen, die auch aggregiert vorliegen können. Das Ziel ist, ein individuelles digitales Abbild des Nutzers zu schaffen, um idealerweise seine Bedürfnisse im Kontext der Umwelt zu erkennen und vorhersagen zu können. Hiermit ließe sich eine optimal technische Unterstützung mit höchstem Benutzerkomfort erreichen. Das Smartphone und in Zukunft andere mobile Formfaktoren werden so im Alltag, ebenso wie potenziell auch bei Gesundheitsfragen, zu ultimativen Assistenten für die Nutzer – was Apps angeht, wird solchen, die gesundheitsbezogene Themen bedienen, enormes Marktwachstum vorhergesagt. Ziel dieses Kapitel ist es, einige grundlegende Fragen zur Bedeutung von mHealth in den Anwendungsfeldern Prävention und Gesundheitsförderung zu erörtern. Anhand eines kurzen Überblicks über beispielhaft verfügbare Lösungen (im Sinne einer Marktübersicht) sollen auch die Herausforderungen dargelegt werden, denen sich Hersteller wie Nutzer stellen müssen, um die Potenziale mobiler Lösungen für Prävention und Gesundheitsförderung nutzbar zu machen.

2

mHealth und Prävention

2.1

Angebote und Zielgruppen

Die Stores der großen Mobilplattformen machen es Herstellern leicht, Apps zu entwickeln und zu vertreiben. Die nötigen Entwicklungsumgebungen und Tools sind einfach zu bekommen und zu bedienen. Mit den Stores stehen den Entwicklern Vertriebsplattformen zur Verfügung, die sie von dem Aufwand entbinden, selbst eine entsprechende, auf nationaler wie internationaler Basis nutzbare Infrastruktur aufbauen zu müssen. Die so bereitstehenden Möglichkeiten werden von vielen Kreativen fleißig genutzt und führen zu einem enormen Angebot für die verschiedensten Anwendungsfälle und Zielgruppen. Von ca. 500 Apps, mit denen Apple im Jahr 2007 startete, ist das Angebot bis Oktober 2017 auf über 2 Mio. Apps angestiegen, beim Mitbewerber Google sind es sogar über 3 Mio. (AppBrain, TechCrunch 2018).

37

2.2

Apps in der digitalen Prävention und Gesundheitsförderung

Apps, ihre Komponenten und präventionsbezogenen Anwendungsbereiche

Apps mit Gesundheitsbezug sind allseits beliebt und stark vertreten. Anfang Februar 2018 zählten wir beispielsweise in Apple App Stores über 103.000 Apps in den beiden StoreKategorien „Medizin“ und „Gesundheit und Fitness“, und konnten dabei mittels stichwortbasierter Suche in den (in deutscher Sprache verfügbaren) Store-Beschreibungen der Apps 554 Apps mit offensichtlichem Präventionsbezug identifizieren. Präventions-Apps adressieren die unterschiedlichsten Zielgruppen und verteilen sich auf Primär- und Sekundärebenso wie Tertiärprävention. Viele Apps dienen der Informationsvermittlung, z. B. bezüglich Früherkennung und Vermeidung von Erkrankungen. Ebenso finden sich Applikationen für Primär- und Sekundärprävention, die beispielsweise zur Stressreduktion, Unterstützung bei Ernährungsfragen und zur Gewichtsreduktion sowie um dem oft beklagten Bewegungsmangel zu begegnen eingesetzt werden können. Es werden auch schädliche Einflüsse von (Freizeit-)Drogen und Schlafdefiziten und mögliche Abhilfen adressiert (Jackowska und Steptoe 2015). Für den Bereich der Tertiärprävention stehen Apps im Zentrum, die darauf abzielen, erkrankungsbedingte Spätfolgen zu vermeiden oder zu lindern. Neben Funktionen zur Vereinfachung des Selbstmanagements, z. B. der (automatischen) Dokumentation von Vitalwerten und krankheitsbezogenen Parametern mittels Smartphone oder zusätzlicher externer Sensorik (u. a. Wearables) sind hier auch statistische Auswertungen, grafische Darstellungen des Verlaufs oder die Warnung vor überschrittenen Grenzwerten ebenso wie die Erinnerung an Termine oder benötigte Medikamente zu nennen. Ein Mehrwert all dieser Apps kann darin liegen, dass die in der alltäglichen Lebenswelt der Patienten erfassten Werte potenziell in die medizinische Versorgung einfließen und dort zur Unterstützung von Diagnostik und Therapie genutzt werden können (Albrecht et al. 2016; Rutz et al. 2016a). Auch der Ansatz (Charlesworth 2014), demzufolge bei „mobilen“ Lösungen nicht die Technik selbst, sondern vielmehr deren Einfluss auf das Verhalten im Vordergrund steht, kommt bei Präventions-Apps gegenüber anderen „digitalen“ Präventionslösungen zum Tragen. Insbesondere rechnergebundenen (stationären) Maßnahmen sind sie damit überlegen: Dadurch, dass sie mobil eben „immer dabei“ sind, lassen sie sich unauffällig in den Alltag integrieren und können durch den kommunikativen Charakter der Geräte, auf denen sie laufen, auch schnell dazu genutzt werden, mit anderen Betroffenen in Verbindung zu treten, z. B. zur Motivationssteigerung oder Hilfestellung.

435

3

Nutzungsbarrieren für den Einsatz von mHealth-Anwendungen

Anwender und Hersteller sehen sich durch das übergroße Angebot und technische Fragen oftmals vor Herausforderungen gestellt. Das betrifft einerseits die Wahl der Apps, andererseits aber auch Aspekte, die zu deren sicherem und nutzbringendem Einsatz beitragen. Die Vielzahl verfügbarer Apps macht es für Anwender schwer, die für sie passende(n) zu identifizieren. Genauso ist die Beurteilung, ob die zunächst als Kandidaten identifizierten Apps qualitativ (inhaltlich wie funktionell) hochwertig genug sind, schwierig. Auch für Entwickler ist es in manchen Bereichen nicht trivial, eine für sie passende Nische zu identifizieren, in der sie sich – vielleicht durch das Angebot besonderer Funktionalitäten und Inhalte – von ihren Mitbewerbern unterscheiden und zudem wirtschaftlich Erfolg haben können. Beim Themenkomplex Wirtschaftlichkeit sind zudem Überlegungen hinsichtlich einer möglichen Kostenübernahme seitens verschiedener Kostenträger einzubeziehen, wofür zuvorderst die Nutzenfrage geklärt werden muss. Hinzu kommen zusätzlich rechtliche und technische Fragen, die – oft eher aus Unkenntnis als aus Unwillen – nicht immer adäquat bei der Umsetzung berücksichtigt werden. Alles in allem also ein großes, aber nicht unüberwindbares Konglomerat möglicher Hürden.

3.1

Evidenz

Der Nutzen der oben skizzierten Präventionslösungen scheint sprichwörtlich „auf der Hand“ zu liegen, doch sind wissenschaftlich fundierte Nachweise (wie auch bei anderen gesundheitsbezogenen Anwendungsfällen) rar. Dies spiegeln auch die Ergebnisse einer von Rutz et al. im Rahmen der CHARISMHA-Studie (Albrecht 2016a) durchgeführten Analyse der zum Thema Primärprävention verfügbaren Literatur wider (Rutz et al. 2016b), die 86 relevante Publikationen identifizierte. Oftmals waren die behandelten Ansätze nicht auf deutsche Verhältnisse übertragbar, da sie in anderen Gesundheitssystemen untersucht wurden, u. a. USA, Australien oder Großbritannien. Zudem scheinen sich randomisiert kontrollierte Studien (RCT) wie auch systematische Reviews zu entsprechenden Apps erst seit 2013 zu etablieren, was aber im Einklang mit der relativen Neuheit dieser Lösungen steht. Hier spiegelt sich der spezifische Charakter mobiler Technologien wider: die Technologie an sich ist noch nicht lange genug auf dem Markt, um beispielsweise Langzeitevaluationen zu erlauben. Ferner sind die Entwicklungszyklen für Apps ebenso wie für die Geräte, auf denen sie laufen, einem rapiden technischen Wandel unterworfen. Ständig kommen neue, spannende Möglichkeiten hinzu, die Entwickler natürlich in ihren Produkten berücksichtigen wollen, die aber auch

436

U.-V. Albrecht und U. von Jan

dazu führen können, dass eine vor Monaten entwickelte Lösung ohne Adaption evtl. nicht mehr auf neueren Geräten oder Betriebssystemen lauffähig ist. Studien mit kurzen Laufzeiten und geringen Fallzahlen liefern immerhin Indizien bzgl. des punktuellen Nutzens, reichen für die Evaluation langfristiger Effekte allerdings nicht aus (Rutz et al. 2016a, b). Ziel muss daher langfristig der Aufbau einer Wissensbasis zum Nutzen bzw. zur Wirksamkeit sein. Ohne entsprechende Nachweise kann kaum eine Akzeptanz seitens der Kostenträger geschaffen werden und damit wird auch eine Kostenübernahme erschwert, die ein wesentliches Element des wirtschaftlichen Erfolgs sein kann. Die Situation ist hier analog zu anderen GesundheitsApps mit medizinischem Auftrag zu sehen, für die versucht wird, eine nachhaltige Etablierung im ersten Gesundheitsmarkt zu erreichen (Albrecht et al. 2018). Der Nutzennachweis ist und bleibt jedoch die große Herausforderung: neben den Kosten, die entsprechende Untersuchungen verursachen, ist die Wahl bzw. Gestaltung eines Studiendesigns, das den speziellen Anforderungen mobiler Technologien Rechnung trägt, schwierig, und hier sind Hersteller ebenso wie Kostenträger und nicht zuletzt die Wissenschaft gefordert (Albrecht et al. 2018).

3.2

Technik und Umsetzung

Apps und Smartphones sind komfortabel anzuwenden und aus dem Leben vieler Nutzer nicht mehr wegzudenken. Dennoch können vielfältige Gründe dazu führen, dass Nutzer sich von den Apps abwenden und so deren potenzieller Gesundheitsbenefit bzw. Nutzen verpufft. Entweder werden sie gar nicht über ein erstes Ausprobieren hinaus eingesetzt oder die Nutzung ist langfristig zu frustrierend. Aus den Bewertungskommentaren in den App Stores lassen sich nur bedingt Rückschlüsse über sämtliche Ursachen ziehen, da die genannten Gründe oft wenig präzise formuliert sind. Als Hinweisgeber reichen sie dennoch. Probleme können durch unzureichende oder fehlerhafte (programmiertechnische) Umsetzung ebenso wie durch Designfehler (und darauf basierende schlechte Usability; Albrecht 2016b) bedingt sein. Zudem kann es vorkommen, dass eine App für ihre vollständige Funktionalität von bestimmten Voraussetzungen ausgeht, z. B. bezüglich der Güte vorhandener Sensoren oder der im Gerät bereitstehenden Rechenkraft, und dies nicht ausreichend an die Nutzer kommuniziert wird bzw. im Betrieb keine Warnmeldung erfolgt, falls die Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Ebenso können unzureichende oder überholte Inhalte, die nicht mehr dem aktuellen Wissensstand zum Thema entsprechen bzw. mangelnde Berücksichtigung von Leitlinien (Huckvale et al. 2012; Buijink et al. 2013) problematisch sein.

Es ist leicht nachvollziehbar, dass Probleme bei Apps mit Zweckbestimmung in den Bereichen Diagnostik oder Therapie ein gesundheitliches Risiko für die Anwender bedeuten können. Auch präventiv einsetzbare Apps bleiben hier nicht völlig außen vor. Verbreiten diese veraltete oder unzutreffende Information oder leiten sie z. B. falsch oder in übertriebenem Umfang zum Training an, kann auch hier die Gesundheit negativ beeinflusst werden. Denkbar ist dies u. a. bei Fitness-Apps, die neben der gelaufenen Strecke (über Schrittzähler oder GPS-Daten) auch die Herzfrequenz der Anwender während des Trainings (z. B. über einen zusätzlichen Brustgurt) aufzeichnen. Erkennen diese Apps eine mögliche Überforderung der Anwender nicht und feuern diese vielleicht gar noch weiter zu Höchstleistungen an (statt zu bremsen), kann dies bei vorliegenden kardiovaskulären Risikofaktoren problematisch werden. Insgesamt ist die Evidenzlage zu tatsächlich stattgefundenen Vorkommnissen dürftig. Es existieren allerdings Studien die entsprechende Schadpotenziale nahelegen. So berichteten Wolf et al. (2013) über Apps deren Ziel es war, ein Screening verdächtiger Hautbefunde über mit Smartphonekamera aufgenommene Bilder vorzunehmen und zu beurteilen, ob diese möglicherweise bösartig seien. Von vier getesteten Apps versuchten drei, dies mittels automatischer BildanalyseAlgorithmen zu leisten und lieferten nicht akzeptable, oft falsch negative Ergebnisse (bei tatsächlicher Malignität der vorgelegten Befunde). Sie waren damit der vierten App, die die aufgenommenen Bilder zur Beurteilung an einen Facharzt versandte, deutlich unterlegen; nur bei dieser App lagen die Ergebnisse im akzeptablen Rahmen. Wird in diesem Einsatzfeld jedoch (bei falsch negativen Befunden) unberechtigter Weise Entwarnung gegeben, kann dies zur Verzögerung einer validen, durch den Facharzt gestellten Diagnose und folglich auch Verzögerung der dringend gebotenen Therapie führen (Wolf et al. 2013). Dieses unzufriedenstellende Ergebnis muss nicht einmal vollständig den in den Apps integrierten Methoden anzulasten sein; schließlich haben auch in dermatologischen Praxen zur Beurteilung und Verlaufsdokumentation entsprechende Systeme Einzug gehalten. Vielmehr wird bei der mobilen Anwendung die nicht-standardisierte Aufnahmesituation und -technik die Ergebnisse beeinflussen. Das reicht von der variablen Qualität der in den Anwendergeräten verbauten Kameras bis hin zu wechselnden Lichtverhältnissen (zu dunkel oder zu hell), Verwacklungen bei der Aufnahme und so weiter (Albrecht und von Jan 2017a).

3.3

Datenschutz

mHealth-Applikationen sind typische Vertreter des AppGenres, wenn es um die Aufnahme, Verarbeitung, Speicherung oder den Versand bzw. Abruf persönlicher Daten geht. An allen diesen Stellen kann bei ihnen, ebenso wie bei anderen

37

Apps in der digitalen Prävention und Gesundheitsförderung

Apps, bei fehlerhafter, ebenso wie bei einer nicht regelkonformen Umsetzung der genannten Funktionen ein Datenmissbrauch begünstigt oder ermöglicht werden (Kotz et al. 2016). Entsprechendes wird des Öfteren berichtet (z. B. Huckvale et al. 2015; Peterson 2016) und steht in der Wahrnehmung von durch Apps verursachten Risiken oft im Vordergrund. Ob dies seitens der Hersteller beabsichtigt ist oder nicht: unzweifelhaft weckt die Ware „Daten“ auf vielen Seiten Begehrlichkeiten und diverse Geschäftsmodelle, derer sich die Hersteller bei Apps bedienen, beziehen den Verkauf von Nutzerdaten oder deren Auswertung zu Zwecken, die nicht dem Wohle der Anwender dienen, mit ein. Hierüber können beispielsweise – selbst wenn die Auswertung anonym erfolgt – Profile von Zielgruppen erstellt werden, die u. a. für Werbekampagnen oder allgemein zur Marktanalyse wertvoll sind. Viele Fitness-Apps binden soziale Netzwerke ein, um Nutzer mit Gleichgesinnten in Kontakt treten lassen zu können, aber auch um Kontakt zu Trainern oder Therapeuten aufzunehmen (Hartz et al. 2014). Gerade beim Austausch von Informationen, die vielleicht über reine sportliche Aspekte hinausgehen, aber auch schon durch die Zusammensetzung der „Freundesliste“ in bestimmten sozialen Netzwerken sowie durch weitere in den Netzen bekannte Metainformationen kann es z. B. selbst bei einem eigentlich verantwortungsbewussten Umgang mit den eigenen Daten zu einer nicht intendierten Identifikation Einzelner kommen, was u. a. in Hartz (2014) beschrieben wurde (Albrecht 2016b). Potenziell sind dies für Dritte wie Arbeitgeber oder Versicherungen wertvolle Informationen. Über die Datenschutzproblematik und Verletzungen der Vertraulichkeit hinaus sind jedoch auch mögliche emotionale Einflüsse durch die Nutzung sozialer Netzwerke beschrieben worden. Einerseits ist es hier ja gerade der Kontakt mit Gleichgesinnten, von dem man sich eine Motivationssteigerung der Anwender erhofft, doch reagieren die möglichen Kontaktpartner vielleicht nicht immer in der erhofften Weise, wodurch evtl. unnötige Ängste zur eigenen Gesundheit ebenso wie Frustration, Verwirrung oder Gefühl der Ablehnung bzw. Minderwertigkeit ausgelöst werden können (Pousti und Burstein 2014; Hors-Fraile et al. 2016). Probleme können generell entstehen, wenn eine Erhebung, Auswertung oder Speicherung von Daten ohne Information (und Einwilligung) der Betroffenen erfolgt. Transparenz seitens der Hersteller und Anbieter der Apps ist hier essenziell – bei entsprechenden Vorkommnissen leidet nicht nur der Ruf der betroffenen Produkte, sondern eventuell der von ähnlichen Apps gleich mit. Abhilfe schaffen kann hier aber zusätzlich ein größeres Verantwortungsbewusstsein auf Anwenderebene, und hier tut sich über den gesundheitlichen Nutzen von (Präventions-)Apps noch ein weiteres Präventionsfeld auf, nämlich das der Stärkung digitaler Gesundheitsbildung für die Allgemeinheit. Hierzu gehört auch das Bereitstellen von Informationen zur Problematik „Datenschutz“.

437

4

Qualitätsanforderungen

Allen zuvor geschilderten Punkten zum Trotz – ob praktisch bekannt oder eher theoretischer Natur – soll nicht der Anschein erweckt werden, dass möglicherweise problematische Apps bewusst mit unlauteren Absichten, ohne ausreichende Qualität bzw. mit Datendiebstahlsabsicht angeboten werden. Es liegt tatsächlich im Eigeninteresse der Hersteller, möglichst gute Produkte auf den Markt zu bringen, um auf diesem überhaupt bestehen zu können. Qualität und qualitätsgesicherte Entwicklung sind zumindest im professionellen Umfeld täglich genutzte, teils schon überstrapazierte Stichworte. Für im Bereich Gesundheit einzusetzende Software schließt nach ISO-Norm 25010 (ISO/IEC 2011) der Qualitätsbegriff folgende Punkte mit ein: Einerseits soll sie Anwender bei der Erreichung ihrer gesetzten Ziele effektiv und effizient unterstützen sowie flexibel für den jeweiligen Zweck einsetzbar sein. Weitestmögliche Risikofreiheit wird ebenfalls gefordert und dazu gehört, dass weder der gesundheitliche noch soziale oder wirtschaftliche Status der Anwender oder ihrer Umgebung durch die Nutzung Schaden nehmen darf. Auch die Anwenderzufriedenheit soll gewährleistet werden, insbesondere dadurch, dass die Software bzw. App tatsächlich nützt, den Bedürfnissen der Anwender gerecht wird und sich so verhält, wie es erwartet wird. Doch sind gerade wenn es um Apps geht nicht alle im Umfeld Tätigen mit den hierfür nötigen Grundlagen vertraut. Das ist insbesondere der liberalen Marktsituation mit extrem niedrigen Einstiegsbarrieren, die ja andererseits auch Basis für den durchschlagenden Erfolg des App-Konzeptes sind, geschuldet. So finden sich vielfach auch Apps von Laienentwicklern oder Fachfremden in den Stores, die weder mit qualitätsgesicherter Entwicklung noch mit den im Gesundheitssektor üblichen Anforderungen vertraut sind, u. a. auch bezüglich regulatorischer Erfordernisse. Von Seiten der Store-Betreiber, die ja die Plattform für den Vertrieb bereitstellen, sind diesbezüglich kaum Kontrollen zu erwarten. Ein möglichst variantenreiches, großes und fortschrittliches Angebot an verschiedensten Apps unterstreicht nämlich für Kunden den wandelbaren Charakter der Geräte, weckt Appetit auf mehr (und fördert damit auch den Umsatz) – sowohl was die Apps, aber auch die mobilen Geräte angeht. Maßnahmen, die diesem Konzept entgegenstehen und ein eingeschränktes Wachstum bedeuten könnten, werden bzgl. der Store-Betreiber daher nur zögerlich ergriffen. Auch eine staatliche Kontrolle besteht – abgesehen von solchen, die Medizinprodukte darstellen – nur in geringem Umfang. Auch sind gerade Präventions-Apps kaum im Bereich Medizinprodukte verortet, und eine vollumfängliche (staatliche oder anderweitige) Kontrolle sämtlicher bereitstehender Apps ist allein aufgrund der schieren Anzahl und der extrem kurzen Lebenszyklen im App-Bereich schon von vorneherein zum Scheitern verurteilt (Albrecht 2016b). Wie also kann man nun allen Widrigkeiten zum Trotz Qualität abbilden bzw. erkennen?

438

4.1

U.-V. Albrecht und U. von Jan

Warum Qualitätssiegel keine Lösung darstellen

Einen möglichen Ansatz – zumindest in den Augen mancher Stakeholder – stellen Qualitätssiegel dar. Dieser Bereich wird von Initiativen etc. bedient, die aus den unterschiedlichsten Interessenlagen heraus versuchen, Geschäftsmodelle zur „Qualitätskontrolle“ bzw. „Qualitätsnachweisen“ im Umfeld gesundheitsbezogener Apps zu gestalten (Albrecht 2018). Gelänge es, ein valides und umfassendes Siegel zu etablieren, das die Qualität, Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit von Apps verlässlich abbildet, wäre dies in der Tat ein großer Gewinn. Doch weisen Erfahrungen, die mit Siegeln bei anderen (digitalen) gesundheitsbezogenen Anwendungen gemacht wurden, darauf hin, dass die Aussagekraft dieser Siegel ebenso wie ihre Bekanntheit eingeschränkt ist. So konnten sich beispielsweise Siegel für Webseiten, die gesundheitsbezogene Informationen bereitstellen, bislang kaum durchsetzen (Wetter 2015). Auch kann ein Zusammenhang zwischen der „Erfüllung definierter Qualitätskriterien“ und „inhaltlicher Korrektheit“ der Webseiten kaum bestätigt werden (Keselman et al. 2008). Gleiches scheint sich im App-Sektor zu wiederholen. Ebenso sollte der finanzielle wie zeitliche Aufwand, den eine valide Testung, die die Basis einer Siegelvergabe darstellt, nicht unterschätzt werden. Hieran sind manche Initiativen, die, um schnell auf den Markt zu kommen, trotz an sich guter und transparent kommunizierter Konzepte an der einen oder anderen Stelle gespart haben, bereits gescheitert (Dolan 2013). Andererseits sind nicht alle Anbieter von Siegeln bereit, ihre Testmethoden und -inhalte vollumfänglich kundzutun, da eine Offenlegung eben nicht nur zur Validierung genutzt werden, sondern auch Mitbewerbern wertvolle Einblicke geben würde, was wiederum Wettbewerbsnachteile bedingen könnte. Sich widersprechende Interessenlagen der Beteiligten, also der Anbieter, die ihre „Geheimnisse“ aus geschäftlichen Gründen schützen wollen, und der Interessenten, die ausreichende Informationen benötigen, um die Validität eines angebotenen Siegels überhaupt beurteilen zu können, sind folglich vorprogrammiert (Albrecht 2018) und eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung ist schwer zu finden.

4.2

Qualität von Gesundheits-Apps bestimmen und erkennen

Ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum Einsatz qualitativ hochwertiger mHealth-Anwendungen ist es, Nutzer selbst in die Lage zu versetzen, bereits vor Download und Installation eine weitgehende Risiko-Nutzen-Abwägung anhand der verfügbaren Informationen zur App vornehmen zu können. Dazu gehört neben einer ausreichenden Gesundheits- und Digitalalphabetisierung auch die Aufklärung über Qualitäts-

und Vertrauenswürdigkeitsaspekte (Albrecht 2016c) und die Sensibilisierung für mögliche Probleme in diesem Bereich. Keine leichte Aufgabe, da Apps oft eher flexibel, ungezwungen und unverbindlich eingesetzt werden. Doch führt gerade dieser auf wenigen Konventionen beruhende Einsatz der Apps, ohne Lenkung durch vielleicht mit umfänglicherem Wissen zur Problematik ausgestattete Dritte, zu einer größeren Eigenverantwortung der Nutzer. Es muss ihnen jedoch dabei geholfen werden, diese auch wahrnehmen zu können. Eine transparente Informationspolitik der Anbieter über die von ihnen bereitgestellten Apps ist zur Erfüllung dieser Aufgabe unerlässlich. Forderungen hiernach kommen von vielen Seiten, seien es Stakeholder, die eine Bewertung für bestimmte Nutzergruppen durchführen wollen (z. B. Patienten- und Verbraucherverbände, medizinische Fachgesellschaften, Versicherungen), oder Endanwender. Leicht zugängliche, verständliche und in standardisierter Weise bereitgestellte Produktinformationen wären hierfür ein kostenneutraler und leicht zu erstellender Anfang; Entwürfe hierzu liegen bereits, u. a. in Form einer App-Synopse, vor (Albrecht et al. 2013b; Albrecht 2013). Mittels der hierüber vorgegebenen standardisierten und strukturierten Darstellungsform ist es einerseits für Hersteller ein leichtes, die nötigen Informationen zusammenzustellen und an möglichst zugänglicher Stelle, z. B. über die App-Store-Beschreibungen, ebenso wie in den Apps selbst zu veröffentlichen. Andererseits können die für eine Beurteilung relevanten Informationen von Interessenten leicht abgerufen werden und in eine Entscheidung für oder gegen eine App einfließen (afgis e.V. 2015; Albrecht et al. 2015; Albrecht 2016c).

4.3

Worauf vor dem Einsatz geachtet werden sollte

Im Rahmen der CHARISMHA-Studie (Albrecht 2016a) wurden Empfehlungen zur Einschätzung von Gesundheits-Apps für Anwender erarbeitet, die auch im Präventionskontext anwendbar sind. Es lassen sich 11 Punkte für eine erste Einschätzung wie folgt zusammenfassen (Albrecht 2016a; Albrecht und von Jan 2017b): Empfehlungen zur Einschätzung von Gesundheits-Apps

1. Organisatorisches. Organisatorische Angaben zum App-Hersteller sollen auf Vollständigkeit überprüft werden. Hierzu zählt auch das Impressum, indem die postalische Adresse, Internetadresse, E-Mail, Telefonnummer etc. angeführt werden sollen. Bei Vorliegen dieser Daten können mögliche Interessenkonflikte leichter erkannt werden und die Kon(Fortsetzung)

37

Apps in der digitalen Prävention und Gesundheitsförderung

2.

3.

4.

5.

6.

taktaufnahme bei Fragen oder der Meldung von Problemen ist leichter möglich. Fehlen die nötigen Angaben, ist die Nutzung kritisch zu sehen und die Installation sollte unterbleiben. Qualifikationen der Beteiligten, Quellen. Es sollte überprüft werden, ob und falls ja welche Angaben zu den Qualifikationen der beteiligten Autoren und Entwickler vorliegen. Diese sollen medizinisches Fachwissen, technische Fachkenntnisse bzw. Erfahrungen vorweisen können. Die verwendeten Quellen müssen seriös und aktuell sein. Nur so kann sichergestellt werden, dass die App auf inhaltlich relevanten Daten und von dafür qualifizierten Personen umgesetzt wurde. Aktualität und Pflege. Die rapiden Entwicklungszyklen der Technik, aber auch Fortschritte in der Medizin erfordern regelmäßige Aktualisierungen und Anpassungen. Eine regelmäßige Pflege ist ein Qualitätsmerkmal. Apps, bei denen die letzte Aktualisierung schon länger zurückliegt, sind nicht zu empfehlen. Angaben zu Anwendungszweck und Zielgruppe. Es muss für den Anwender klar ersichtlich sein, für welchen Zweck und welche Zielgruppe die App gedacht ist. Fehleinschätzungen führen bestenfalls zum Frust beim Anwender, können aber auch gesundheitliche Risiken als Konsequenz nach sich ziehen. Ist nicht sichergestellt, dass eine App tatsächlich dem gewünschten Anwendungszweck dient und für die gewünschte Zielgruppe geeignet ist, sollte von ihrer Nutzung Abstand genommen werden. Bereitgestellte Funktionalitäten, mögliche Limitationen. Eine Beschreibung der in der App zur Verfügung gestellten Funktionen ist essenziell. Das schließt auch Nutzungseinschränkungen ein. Nur so lässt sich erkennen, ob die App den eigenen Anforderungen entspricht oder für den angedachten Anwendungsfall ungeeignet ist. Diese Angaben können zudem ein Indiz für die Seriosität des Anbieters der App sein. Datenschutz. Der Anbieter soll eine Datenschutzerklärung vorhalten, die nicht nur allgemein zum Datenschutz informiert, sondern spezifisch auf die bereitgestellten Funktionen und deren datenschutzrelevanten Aspekte, Art und Umfang der Datensammlung, die Datenverarbeitung (Ort und zu welchem Zweck), Weitergabe, Löschung usw. eingeht. Geht eine App über rein informative Zwecke hinaus und erfordert die Erfassung von Daten, sollte (Fortsetzung)

439

7.

8.

9.

10.

11.

bei fehlender Datenschutzerklärung auf den Einsatz der App verzichtet werden. Angeforderte Rechte der App. Abhängig von der bereitgestellten Funktionalität fordern Apps einen Zugriff auf bestimmte Ressourcen an. Apps sollten nur die absolut nötigen Rechte anfragen und der Hersteller sollte offen kommunizieren, wozu diese nötig sind. Geht die Rechteanforderung über den erwarteten Umfang hinaus, sollte der Einsatz der App hinterfragt und der Anbieter noch einmal genauer überprüft werden. Regulation. Apps, denen der Hersteller einen diagnostischen oder therapeutischen Zweck zuschreibt, müssen entsprechende regulatorische Anforderungen erfüllen. Der Hersteller erklärt dann die Konformität mit diesen Anforderungen und bringt an seinem Medizinprodukt eine CE-Kennzeichnung an. Bei Apps, die aufgrund ihrer Funktionen offensichtlich ein Medizinprodukt darstellen, zu denen aber dennoch keine Hinweise auf das Durchlaufen der Regulationsverfahren erkennbar sind, sollte eine Nutzung unterbleiben. (Qualitäts-)Siegel, Tests. (Qualitäts-)Siegel, Testberichte usw., die zu einer App verfügbar sind, können bei der Entscheidungsfindung unterstützen. Allerdings muss die Seriosität des Siegelanbieters und seiner Vergabemethode bekannt sein. Interessenkonflikte führen möglicherweise in eine ungerechtfertigt positive Einschätzung. Liegen keine Informationen über die angewandten Verfahren oder die beteiligten Institutionen vor, sollte entsprechenden Siegeln bzw. Testberichten skeptisch begegnet werden. Studienlage. Für die Qualität einer App spricht das Vorliegen wissenschaftlicher Studien zur Wirksamkeit, die in renommierten Fachblättern publiziert wurden. Wurden bei den angegebenen Studien wissenschaftliche Standards offensichtlich verletzt, spricht dies gegen die Nutzung der App. Store-Bewertungen. Nutzerbewertungen können insbesondere bei problematischen Inhalten oder Funktionen wertvolle Hinweise geben. Zu beachten ist, dass positive Bewertungen evtl. gekauft und negative Bewertungen hingegen auch von Mitbewerbern veranlasst worden sein können. Store-Bewertungen sollten vor diesem Hintergrund nur als Hinweise, aber nicht als alleiniges Bewertungskriterium herangezogen werden.

440

5

U.-V. Albrecht und U. von Jan

Fazit

mHealth-basierte Lösungen schaffen für den Einsatz im präventiven Kontext einen niedrigschwelligen Zugang für verschiedene Nutzergruppen. Sie ermöglichen auch die Teilhabe von zuvor nicht oder nur schwer erreichbaren Anwenderkreisen. Basierend auf Apps ist die Gestaltung von Präventionsangeboten denkbar, die ohne Einsatz entsprechender Technologien zuvor von den Anbietern bzw. Verantwortlichen als zu aufwendig verworfen wurden. Insgesamt können digitale Angebote und insbesondere mHealth-basierte Lösungen viele spannende Möglichkeiten im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung bieten. Allerdings werden die Potenziale, nicht zuletzt aufgrund fehlender wissenschaftlicher Nachweise zum Nutzen bzw. zur Qualität, nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft. Abgesehen von der durch das Fehlen entsprechender Nutzennachweise schwierigen Implementierung dieser Angebote in die Gesundheitsvorsorge (abseits des Selbstzahlerbereiches) erschwert die derzeit chaotische Situation – sowohl was die Apps selbst als auch Angebote, die bei der Bewertung ihrer Qualität helfen wollen, angeht – allen Beteiligten die Orientierung bzw. das Identifizieren hochwertiger, nutzbringend und sicher zu nutzender Apps. Zudem sind mögliche Risiken und Maßnahmen zu deren Vermeidung auf Anbieter- wie Anwenderseite nicht ausreichend bekannt; auch dies sollte in den vorerwähnten Maßnahmen zur Aufklärung aller Beteiligten berücksichtigt werden. Aufklärung wird hier eher zum Erfolg führen als mögliche Sanktionen. Ebenso muss aber darauf geachtet werden, die Potenziale nicht durch eine zu sehr den Risiken gewidmete Berichterstattung zu verspielen, die Ängste (und möglicherweise auf offizieller Seite „(über-)regulatorische Reflexe“) auslösen, die Technologie langfristig blockieren und Innovationen hemmen kann. Im Resultat würden Lösungen vielleicht auf Umwegen, außerhalb hierzulande möglicher Aufsicht (z. B. zu Datenschutz, Verbraucherschutz) umgesetzt – aufgrund des internationalen Charakters des AppMarktes wird es kaum zu verhindern sein, dass bei Fehlen hierzulande erstellter Lösungen von Anwendern auf international verfügbare Apps zurückgegriffen wird. Eine Mitsprache im Gestaltungsprozess wäre dann jedoch nur noch stark eingeschränkt möglich. Die mobile Nutzung von Angeboten zur Prävention und Gesundheitsförderung stellt eine mit wenig Aufwand verbundene Integration in die individuellen Tagesabläufe der Anwender dar und fordert diese dazu heraus, sich selbst aktiv einzubringen und Verantwortung zu übernehmen statt lediglich „passiv“ entsprechende Angebote zu konsumieren. Die Eigenverantwortung endet dabei jedoch nicht bei den rein gesundheitsbezogenen Aspekten. Verantwortungsbewusster und nutzbringender Umgang mit der Technologie muss dabei, gerade auch wegen der so variablen und ständig neue

Nischen erschließender Einsatzmöglichkeiten, immer ein sorgfältiges Abwägen der für oder gegen den Einsatz einer bestimmten Lösung sprechenden Punkte beinhalten. Das schließt insbesondere Datenschutz, Inhalte, Funktionen und Qualitätsaspekte ein. Hierzu müssen jedoch die verschiedenen Stakeholder, seien es Einzelne ebenso wie Vertreter von Interessengruppen, die vielleicht eine Vorauswahl für ihre Mitglieder treffen wollen, überhaupt erst in die Lage versetzt werden. Denkbare Maßnahmen können hierbei je nach Anwenderkreis die Stärkung der Gesundheits- und Digitalalphabetisierung ebenso einschließen wie die Schaffung größtmöglicher Transparenz auf Anbieterseite – dazu sind gleichermaßen die Hersteller der Apps wie die jeweiligen Store-Betreiber aufgefordert.

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37

Apps in der digitalen Prävention und Gesundheitsförderung

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Teil VII Diversität von Krankheit und Gesundheit

Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit

38

Tilman Brand

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445

2

Was bedeutet gesundheitliche Ungleichheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

3

Strukturen sozialer Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

4

Zusammenhang zwischen sozialstruktureller Position und gesundheitlicher Ungleichheit . . . . . 448

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozioökonomische Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnregion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Verschränkung der einzelnen Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452

7

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

448 449 450 451 451 452

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

1

Einleitung

Folgt man dem Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Amartya Sen (2002), so handelt es sich bei der Gesundheit um ein Gut, dem ein besonderer Wert zukommt. Dieser liegt darin, dass Gesundheit zu den grundlegenden Bedingungen menschlichen Lebens zählt. Aus dem Blickwinkel seiner Theorie der sozialen Gerechtigkeit argumentiert Sen deshalb, dass ohne eine gerechte Chancenverteilung auf die Verwirklichung eines gesunden Lebens, soziale Gerechtigkeit in weiteren Lebensbereichen nicht erreicht werden kann. Jeder Mensch sollte dementsprechend eine faire Chance auf ein Leben in Gesundheit haben, um in der Lage zu sein, die eigenen Lebensziele zu verfolgen. Dass Gesundheit ein besonders schützenswertes Gut ist, dem haben auch die Vereinten Nationen Rechnung getragen, indem sie Gesundheit in

die Menschenrechtscharta aufgenommen haben. Jeder Mensch hat demnach das Recht auf das höchste erreichbare Maß an körperlicher und geistiger Gesundheit (United Nations General Assembly 1966). Dem steht gegenüber, dass Ungleichheiten in der Gesundheit ein allgegenwärtiges Phänomen sind. Sie existieren zwischen Ländern ebenso wie zwischen Bevölkerungsgruppen innerhalb einzelner Länder. Im Jahr 2015 betrug die Lebenserwartung von Frauen in Japan 86,3 Jahre im Vergleich zu 51,7 Jahren für Frauen in der Zentralafrikanischen Republik (http:// www.thelancet.com/lancet/visualisations/life-expectancy. Zugegriffen am 04.07.2018). Innerhalb Deutschlands wurde der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der höchsten Einkommensklasse und der niedrigsten auf 10 Jahre bei Männern und 8 Jahre bei Frauen geschätzt (Lampert und Kroll 2014). Ähnliche Unterschiede in der Mortalität zeigen sich auch in anderen europäischen Ländern (Mackenbach et al. 2016, 2008).

T. Brand (*) Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie - BIPS, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_41

445

446

T. Brand

Das Ziel, Ungleichheiten in der Gesundheit zwischen Bevölkerungsgruppen zu reduzieren, ist Bestandteil vieler nationaler und internationaler Politikprogramme (Commission on Social Determinants of Health 2008; Pillay 2008; WHO 2013b). In Deutschland sieht beispielsweise das Präventionsgesetz von 2015 vor, dass die Leistungen der Gesetzlichen Krankenkassen zur Prävention und Gesundheitsförderung zu einer Verminderung sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen sollen (Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland 2015). In diesem Beitrag werden verschiedene Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit und deren Verschränkungen vorgestellt. Unter diesen Dimensionen werden in diesem Beitrag einzelne Faktoren sozialer Schichtung verstanden, die in spezifischer Weise mit Gesundheit verbunden sind. Für ein Verständnis dieser Dimensionen ist es jedoch wichtig, sich zunächst mit den Konzepten der gesundheitlichen und sozialen Ungleichheit und deren Zusammenwirken auseinanderzusetzen. Abschließend werden mit dem Ansatz der Intersektionalität bzw. Superdiversität zwei neuere Forschungsrichtungen vorgestellt, welche die Verschränkungen der einzelnen Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit untersuchen.

2

Was bedeutet gesundheitliche Ungleichheit?

Im Englischen wird bisweilen zwischen health inequalities und health inequities unterschieden. Mit health inequalities werden Kawachi et al. (2002) zufolge jegliche Unterschiede in der Gesundheit oder Gesundheitsversorgung zwischen einzelnen Personen oder Personengruppen beschrieben. Der Begriff enthält keine wertende Komponente hinsichtlich der Frage, ob die beobachteten Unterschiede gerecht oder ungerecht sind. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Begriff health inequities systematische Unterschiede in der Gesundheit oder Gesundheitsversorgung zwischen Personengruppen, die sozial produziert werden und daher nicht notwendig und so vermeidbar sind und als ungerecht gelten. Verschiedene Autoren weisen jedoch darauf hin, dass sich die Unterscheidung zwischen inequality und equity im englischen Sprachraum nicht durchgesetzt hat und diese häufig synonym verwendet werden (Braveman 2006; Whitehead und Dahlgren 2007). Im Deutschen wird mit dem Begriff gesundheitliche Ungleichheit sprachlich nicht zwischen unfairen Unterschieden in der Gesundheit und solchen, die keine ethische Bewertung enthalten, differenziert. Benutzt wird der Begriff, um den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit zu beschreiben (Hurrelmann und Richter 2009; Mielck 2005) und somit im obigen Sinne von health inequities. Alternativ werden auch die Begriffe sozial bedingte Ungleichheit in der Gesundheit oder gesundheitliche Chancengleichheit verwendet. Während

der erste Begriff deutlich macht, dass es um Ungleichheiten geht, die durch die soziale Herkunft oder die aktuelle Stellung in der Gesellschaft verursacht werden, nimmt der zweite Begriff die Ideen der Gerechtigkeit und der Fairness auf, indem auf Chancengleichheit Bezug genommen wird. Für die Beschreibung von Ungleichheiten in der Gesundheit, die nicht vermeidbar oder ungerecht erscheinen (beispielsweise ein Vergleich zwischen jungen und älteren Erwachsenen), bietet es sich an, schlicht von Unterschieden in der Gesundheit zu sprechen. Um zu beurteilen, ob beobachtete Ungleichheiten ungerecht sind, hat Margaret Whitehead (1992) vorgeschlagen, sieben Determinanten von Unterschieden in der Gesundheit zu unterscheiden. Determinanten gesundheitlicher Unterschiede

Drei davon charakterisieren Unterschiede, die nicht als ungerecht einzustufen sind: • Natürliche biologische Variation • Gesundheitsschädigendes Verhalten, sofern frei gewählt (z. B. die Ausübung von Extremsportarten) • Vorübergehende Gesundheitsvorteile von Personengruppen, die schneller als andere Personengruppen ein gesundheitsförderliches Verhalten adaptieren Die folgenden vier Determinanten beziehen sich dagegen auf Unterschiede, die Whitehead zufolge als ungerecht zu bewerten sind: • Gesundheitsschädigendes Verhalten als Folge sehr begrenzter Wahlmöglichkeiten des Lebensstils • Exposition gegenüber ungesunden Lebens- und Arbeitsbedingungen • Inadäquater Zugang zu grundlegenden gesundheitlichen und sozialen Diensten • Armut und sozialer Abstieg als Folge von Erkrankungen Auffällig ist, dass das letzte Kriterium nicht ganz in die Determinanten-Logik passt. Hier beschreibt Whitehead den Fall, dass eine Erkrankung durch hohe Behandlungskosten und den Ausschluss vom Arbeitsmarkt zu Armut und dem Verlust der gesellschaftlichen Stellung führt. Die Erkrankung ist also die Determinante, die zu ungleichen Chancen in anderen Lebensbereichen führt. Während Kriterien wie biologische Variation und inadäquate Gesundheitsversorgung relativ eindeutig erscheinen, sind Ungleichheiten in der Gesundheit, die auf mehr oder weniger frei gewähltes schädigendes Gesundheitsverhalten zurückzuführen sind, schwerer zu bewerten. Bei Alkoholabhängigkeit oder anderen Abhängigkeitserkrankungen kann

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Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit

darüber diskutiert werden, wie freiwillig das Verhalten ist. Auch Unterschiede, die aufgrund von schnellerer Adaption von gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen entstehen, sind unter ethischen Gesichtspunkten diskutabel. Unterschiedliche Entwicklungen in der Rauchprävalenz zwischen Einkommens- und Bildungsgruppen könnten in diesem Sinne als vorrübergehendes, ethisch unbedenkliches Phänomen bewertet werden. In Anbetracht der unterschiedlichen psychosozialen Ressourcen in diesen Gruppen und der Mittelschichtsorientierung vieler Präventionsprogramme, erscheint diese Sichtweise wenig angemessen. In den letzten Jahren hat sich in diesem Zusammenhang die Forschung zu interventionsgenerierten Ungleichheiten verstärkt. In dieser Forschung wird untersucht, wie und welche Public-HealthInterventionen zu einer Vergrößerung von gesundheitlichen Ungleichheiten führen. Insgesamt macht die Liste der von Whitehead vorgeschlagenen Determinanten deutlich, dass eine eingehende Prüfung der Gründe von Unterschieden in der Gesundheit notwendig sein kann, um zu bestimmen, ob diese als ungerecht anzusehen sind oder nicht. Der Einfachheit halber haben andere Autorinnen und Autoren deshalb vorgeschlagen, jegliche Unterschiede in der Gesundheit zwischen besser und schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen als ungerecht einzustufen (Braveman 2006). Am Beispiel der Gesundheitsversorgung lässt sich zeigen, dass Gerechtigkeit und Gleichheit nicht gleichzusetzen sind. Hier wird zwischen horizontaler und vertikaler Gerechtigkeit unterschieden. Von horizontaler Gerechtigkeit wird gesprochen, wenn Personen mit gleichem Bedarf die gleichen Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung haben. Von vertikaler Gerechtigkeit wird gesprochen, wenn Personen mit ungleichen Bedarfen an Gesundheitsversorgung diese auch in ungleichem Maß nutzen (Goddard und Smith 2001; Oliver und Mossialos 2004; von dem Knesebeck et al. 2009). Dass beispielsweise Personen mit einer körperlichen Behinderung Gesundheitsversorgung in stärkerem Maße in Anspruch nehmen als Personen ohne körperliche Behinderung, entspricht den unterschiedlichen Bedarfen und ist somit im Sinne der vertikalen Gerechtigkeit. Zusammengefasst bezeichnet der Begriff gesundheitliche Ungleichheit systematische Unterschiede in der Gesundheit oder gesundheitlichen Versorgung zwischen Bevölkerungsgruppen, die potenziell vermeidbar und ungerecht sind. Die soziale Ungleichheit zwischen Bevölkerungsgruppen ist dabei von zentraler Bedeutung.

3

Strukturen sozialer Ungleichheit

Menschen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Dazu gehören Merkmale wie beispielsweise die Haarfarbe, die Körpergröße, das Geschlecht, der Beruf, das Alter. Merk-

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male, die Auswirkungen auf das soziale Handeln haben und die Zuweisung zu einer Position in der gesellschaftlichen Hierarchie haben, werden sozialstrukturelle Merkmale genannt (Huinink und Schröder 2014). Auf welche Merkmale dies zutrifft, unterscheidet sich zwischen Gesellschaften und hängt mit historisch gewachsenen Strukturen der Ungleichheit zusammen. Ob beispielsweise jemand in Deutschland evangelisch oder katholisch ist, ist – im Gegensatz zur Situation in Nordirland – nahezu bedeutungslos. Folgt man der Definition von Huinink und Schröder (2014), so bezeichnet soziale Ungleichheit gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten der Lebens- und Handlungsbedingungen, die es Menschen in unterschiedlichem Maße erlauben, allgemein anerkannte Lebensziele zu verwirklichen. Sozialstrukturelle Merkmale lassen sich dahingehend unterscheiden, ob ihnen eine Rangfolge innewohnt oder nicht (Blau 1994). Bildungsabschlüsse, Einkommen und Vermögen lassen sich in eine Rangfolge bringen. Hier wird zum Teil von vertikalen Ungleichheitsmerkmalen gesprochen. Geschlecht, Familienstand, Staatsangehörigkeit oder Religionszugehörigkeit lassen sich nicht in eine Rangfolge bringen. Sie werden auch als horizontale Ungleichheitsmerkmale bezeichnet. Dies ist etwas irreführend, weil gesellschaftliche Dominanzverhältnisse und spezifische Expositionen, wie Sexismus und Diskriminierung, durchaus eine soziale Ungleichwertigkeit in diesen Kategorien nahelegen. Nichtsdestoweniger ist es richtig, dass sich diese Merkmale, insbesondere wenn mehr als zwei Ausprägungen vorliegen, nicht in eine hierarchische Reihenfolge bringen lassen. Dies hat auch Implikationen für die Messung und Analyse von gesundheitlicher Ungleichheit (Harper und Lynch 2006). Personen, die aufgrund eines sozialstrukturellen Merkmals, die gleiche Position in der Sozialstruktur einnehmen (z. B. Frauen, Selbstständige, Menschen mit Migrationshintergrund), werden als sozialstrukturelle Gruppe bezeichnet (Huinink und Schröder 2014). Da Personen gleichzeitig verschiedenen sozialstrukturellen Gruppen angehören, ergeben sich verschiedene sozialstrukturelle Profile (z. B. eine beruflich selbstständige Frau mit Migrationshintergrund). Je nach Vielfalt der Ausprägungen in den sozialstrukturellen Merkmalen (Formen des Zusammenlebens, ethnische Zugehörigkeit, Aufenthaltsstatus, anerkannte Schulabschlüsse, Einkommens- und Beschäftigungsformen) kann eine Gesellschaft mehr oder weniger heterogen sein. Um die Strukturen sozialer Ungleichheit abzubilden, wurden im 20. Jahrhundert in der Soziologie verschiedene Modelle entwickelt. Gemeinsam ist diesen Modellen, dass sie die berufliche Stellung als zentrales Merkmal sozialer Schichtung behandeln. Neuere Ansätze wie der Lebenslagenansatz (BMAS 2008) oder der Milieu- und der Lebensstilansatz (Rössel und Otte 2011; Vester et al. 2001) versuchen, der gesteigerten gesellschaftlichen Vielfalt Rechnung zu tragen und identifizieren eine größere Zahl sozialstruktureller Grup-

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pen. Zum Teil werden hier auch subjektive Einstellungen und (Konsum-)Verhalten in die Modelle einbezogen. Kritik an diesen neueren Modellen richtet sich unter anderem darauf, dass dadurch die Zentralität der klassischen Schichtungsfaktoren für die Lebenschancen aus dem Blick geraten ist und die Modelle durch ihre induktive Konstruktion in verschiedenen empirischen Datensätzen kaum reproduzierbar sind (Geißler 2014).

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Zusammenhang zwischen sozialstruktureller Position und gesundheitlicher Ungleichheit

Die WHO Commission on Social Determinants of Health hat das derzeit wohl bekannteste Rahmenmodell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit vorgelegt (Solar und Irwin 2010). Im Anschluss an Diderichsen et al. (2001) werden vier zentrale Mechanismen benannt: • • • •

Soziale Stratifizierung Unterschiedliche Expositionen Unterschiedliche Anfälligkeit (Vulnerabilität) Unterschiedliche Folgen

Gesellschaftliche Regeln und Verhältnisse weisen einer Person ihre sozialstrukturellen Positionen zu. Aufgrund dieser sozialen Stratifizierung werden Personen unterschiedlichen Expositionen ausgesetzt. Mit Expositionen sind hier sowohl materielle als auch psychosoziale und verhaltensbezogene Faktoren gemeint. Diese unterschiedlich verteilten Expositionen führen zu unterschiedlichen Vulnerabilitäten für die Entstehung von Erkrankungen in sozialstrukturellen Gruppen. Letztlich verfügen die sozialstrukturellen Gruppen auch über unterschiedliche Möglichkeiten, mit den Folgen von Erkrankungen umzugehen, beispielsweise durch unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung und deren Qualität oder durch soziale Unterstützung. Eine zentrale Frage in der Forschung bezieht sich auf die Richtung dieses Zusammenhangs: Beeinflusst der Gesundheitszustand die sozioökonomische Position (Selektionshypothese) oder beeinflusst die sozioökonomische Position den Gesundheitszustand (Kausationshypothese)? Tatsächlich gibt es Belege für beide Hypothesen. Allerdings wird der Beitrag zur gesundheitlichen Ungleichheit, der durch Selektionsmechanismen (sozialer Abstieg durch Erkrankung) entsteht, als gering eingeschätzt. Ein Großteil der gesundheitlichen Ungleichheit geht auf Unterschiede in der sozioökonomischen Position zurück und wird somit sozial verursacht (Solar und Irwin 2010). Deshalb wird diese Richtung als soziale Kausation (Verursachung) bezeichnet. Der Einfluss der sozioökonomischen Position auf die Gesundheit ist indirekt. Er wird über

materielle Bedingungen, psychosoziale Faktoren und verhaltensbezogene Faktoren vermittelt. Verhaltensbezogene Faktoren beziehen sich auf die Ungleichverteilung von Verhaltensweisen wie Rauchen, exzessivem Alkoholkonsum, Ernährung und Bewegung zwischen sozioökonomischen Gruppen. Der materialistisch orientierte fundamental cause-Ansatz geht davon aus, dass Menschen in einer höheren sozioökonomischen Position aufgrund ihrer besseren Ressourcenausstattung immer besser in der Lage sind, Gesundheitsrisiken zu vermeiden und die Folgen von Erkrankungen abzufedern (Phelan et al. 2010). Der psychosoziale Erklärungsansatz fokussiert dagegen auf alltägliche Stressbelastungen und deren subjektive Bewertung. Eine niedrigere sozioökonomische Position geht häufig mit einer höheren Belastung durch kritische Lebensereignisse einher, wie Verlust des Arbeitsplatzes oder Scheidung, chronische Alltagsbelastungen und geringe Kontrolle im beruflichen Kontext. Es konnte gezeigt werden, dass diese dauerhaften Belastungen sich über die psychobiologische Stressreaktion des Körpers auf das Immun- und Herz-Kreislauf-System auswirken und zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen, Bluthochdruck und Atherosklerose führt (Brunner und Marmot 2008). Materielle, psychosoziale und verhaltensbezogene Faktoren haben ihren jeweils eigenen Anteil an der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit. International vergleichende Studien konnten hierzu erste Hinweise liefern, welche der Faktoren für das Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit von Bedeutung sind (Mackenbach et al. 2017). Insbesondere konnte der psychosoziale Ansatz Pfade aufzeigen, wie soziale Expositionen psychobiologische Prozesse beeinflussen, welche zu Gesundheitsschädigungen führen. In diesem Zusammenhang ist auf das Konzept des embodiments zu verweisen, welches beschreibt, wie soziale Ungleichheit im wörtlichen Sinne inkorporiert wird (Krieger 2005). Hinzuweisen ist ebenfalls auf die Lebenslaufperspektive in der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung, welche querliegend zu den anderen Erklärungsansätzen die Akkumulation von Expositionen und deren phasenspezifische Wirkung untersucht (Corna 2013).

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Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit

Will man gesundheitliche Ungleichheit analysieren, stellt sich die Frage, welche Faktoren der sozialen Schichtung berücksichtigt werden sollen. Die soziologische Sozialstrukturanalyse legt nahe, dass die klassischen Stratifizierungsfaktoren Einkommen, Beruf und Bildung nicht mehr ausreichen, um die Vielfalt der Lebenslagen abzubilden. Die WHO hebt neben den klassischen Stratifizierungsfaktoren, das Geschlecht, die Wohnregion, Ethnizität, Religionszugehörigkeit und das Sozi-

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Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit

alkapital als zentrale equity stratifiers zur Beschreibung von gesundheitlicher Ungleichheit hervor (WHO 2013a). Die Equity Group der Cochrane Collaboration geht von denselben Stratifizierungsfaktoren aus, ergänzt jedoch in ihrem PROGRESS-Plus Charakteristika wie Behinderung oder die Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit, die mit Diskriminierung einhergehen können (O’Neill et al. 2014; Petticrew et al. 2012). Es lässt sich sicherlich darüber diskutieren, ob dies nun alle relevanten sozialstrukturellen Merkmale abdeckt und ob allen Merkmalen die gleiche Relevanz bezüglich gesundheitlicher Ungleichheit zukommt. In diesem Abschnitt werden die sozioökonomische Position, das Geschlecht, Migration und Ethnizität, die Wohnregion, und die Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit als Dimensionen sozialstruktureller Stratifizierung dargestellt. Dies reflektiert die aktuelle Diskussion über soziale Determinanten von gesundheitlicher Ungleichheit, ohne den Anspruch zu haben, dass dies eine vollständige Liste aller potenziellen Determinanten ist.

5.1

Sozioökonomische Position

Die sozioökonomische Position einer Person innerhalb einer Gesellschaft lässt sich durch die Indikatoren Bildung, Beruf und Einkommen/Vermögen charakterisieren. Dies sind die klassischen Faktoren sozialer Schichtung. Statt sozioökonomischer Position wird auch der Begriff sozioökonomischer Status verwendet. Beide Begriffe werden in der Regel bedeutungsgleich verwendet. Allerdings weisen manche Autorinnen und Autoren darauf hin, dass das Wort Status sich in erster Linie auf das soziale Prestige bezieht und weniger auf das Verfügen über materielle Ressourcen (Krieger 2001). Deshalb wird der Begriff sozioökonomische Position als neutraler angesehen. Für jeden dieser Indikatoren ist in einer Vielzahl von Studien ein Zusammenhang zur Gesundheit und Gesundheitsversorgung nachgewiesen worden. Zur Bestimmung der sozioökonomischen Position wird von einer Kongruenz zwischen Bildung, Beruf und Einkommen ausgegangen: In der Regel wird der Zugang zu einzelnen Berufen über schulische und berufliche Bildungszertifikate geregelt. Die Vergütung richtet sich wiederum häufig nach den Bildungsabschlüssen und die Zeit, die dafür aufgewendet werden musste. So haben beispielsweise Ganzeboom et al. (1992) auf Grundlage der Bildungsabschlüsse und des Einkommens einen Index für die sozioökonomische Position für 271 Berufsgruppen entwickelt. In der deutschen Gesundheitsforschung wird in vielen Studien ein mehrdimensionaler Schichtindex eingesetzt, der Einkommen, berufliche Stellung und Bildungsabschlüsse integriert (Lampert et al. 2013). Ein solcher Index hat den Vorteil, dass komplexe Informationen in einem Maß vereinigt werden. Der damit verbundene Informationsverlust führt jedoch dazu, dass Inkonsistenzen zwischen den einzelnen Indikatoren nicht

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sichtbar werden, wie ein hoher Bildungsabschluss bei gleichzeitig geringem Einkommen. Empirisch ist die Kongruenz zwischen Bildung, Beruf und Einkommen weit weniger oft gegeben als vermutet (Huinink und Schröder 2014). Zudem wird bei dem Schichtindex von einer Gleichwertigkeit der einzelnen Indikatoren ausgegangen, da es sich um einen additiven Index handelt. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich integrierte Schichtindices gut zur Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit eignen, während zur Identifizierung der Mechanismen, die die sozioökonomische Position mit der Gesundheit verbinden, eine intensivere Auseinandersetzung mit den einzelnen Indikatoren notwendig ist.

5.1.1 Bildung Neben der oben beschriebenen Beziehung zwischen Bildung, Beruf und Einkommen gibt es weitere Mechanismen, die Bildung mit Gesundheit verbinden. Zu nennen ist hier das gesundheitsbezogene Wissen, welches als Bestand z. B. im Biologieunterricht vermittelt wird. Dafür, dass dieses Wissen die gesundheitliche Ungleichheit zwischen Bildungsabschlüssen erklärt, gibt es allerdings kaum Belege. Vielmehr scheint das Erlangen von übergeordneten Fähigkeiten, wie abstraktes Denken, Bedürfnisaufschub und Verhaltensregulation, und die Auseinandersetzung mit kognitiv fordernden Tätigkeiten im späteren Leben eine Rolle zu spielen (Glymour et al. 2014). Ein weiterer Mechanismus betrifft die sozialen Beziehungen. Soziale Netzwerke haben über soziale Kontrolle und soziale Normen einen erheblichen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten (Berkman und Krishna 2014). Soziale Freundschaftsund Bekanntschaftsnetzwerke weisen häufig eine Homophilie auf, das bedeutet, dass die Mitglieder eines Netzwerks über ähnliche Eigenschaften verfügen – wie z. B. den Bildungsabschluss. Dadurch können sich gesundheitsbezogene Lebensstile herausbilden, die nach Bildungshintergrund variieren. Für das Rauchverhalten konnten Christakis und Fowler (2008) anhand von Daten der Framingham-Heart-Studie zeigen, dass die Freundschaft zu einer Person mit höherem Bildungsabschluss die Wahrscheinlichkeit Raucher zu sein reduziert. 5.1.2 Beruf Die berufliche Stellung hat neben der ökonomischen Dimension noch weitere Dimensionen, die sie mit gesundheitlicher Ungleichheit verbinden. Auf der materiellen Ebene sind dies vor allem gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen, wie die Exposition gegenüber Feinstaub, Lärm, Schichtarbeit oder körperlich anstrengender Arbeit. Diese arbeitsbezogenen Belastungen sind sozial ungleich verteilt (Kroll et al. 2011). Prestige und Handlungsfreiheit sind zwei weitere Dimensionen sozialer Ungleichheit, die mit dem Beruf verbunden sind. Das berufliche Prestige ist die soziale Anerkennung, die für die Ausübung eines Berufes gewährt wird. Obwohl häufig von einer engen Assoziation zwischen beruflichem Prestige und

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Einkommen ausgegangen wird, zeigt eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, dass Krankenpfleger nach Ärzten das zweithöchste Berufsprestige haben (IfD Allensbach 2013). Dies spiegelt sich in der Einkommenshierarchie nicht wider. Andere Klassifikationssysteme, wie das Erikson-Goldthorpe-Portocarero (EPG) Klassenschema (1979), beziehen die Handlungsfreiheit der Berufsgruppen mit ein. Neben der Klassenlage (Arbeitgeber, Selbstständige, Arbeitnehmer) wird im EGP-Schema auch berücksichtigt, wie eng die Vorgaben für das berufliche Handeln sind bzw. wie eigenständig gearbeitet werden kann. Neben dem Aspekt der Machtverteilung zwischen sozialstrukturellen Gruppen auf gesellschaftlicher Ebene haben sich Autonomie und Kontrolle im beruflichen Kontext als wichtige psychosoziale Faktoren für die Gesundheit erwiesen. So sind hohe psychische Anforderungen bei gleichzeitig geringem Entscheidungsfreiraum sowie eine hohe Verausgabung bei geringer Belohnung mit einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen und koronare Herzerkrankungen verbunden (Marmot et al. 2008; Stansfeld und Candy 2006; Steptoe et al. 2004). Ein Nachteil der Ermittlung der sozioökonomischen Position über die berufliche Stellung liegt darin, dass dieser Indikator Personen, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind, ausschließt oder nur durch Hilfskonstruktionen (die letzte ausgeübte Berufstätigkeit bei Rentnern) einen Wert zuweisen kann.

5.1.3 Einkommen Einkommen ist der Indikator, der am direktesten den Zugang zu materiellen Ressourcen misst. Im Vergleich zu Bildungsabschlüssen und Berufen ist Einkommen am schwierigsten zu erfassen. Zum einen kann die Bestimmung des Nettoeinkommens aus allen Einkommensquellen nach Abzug aller Abgaben plus der erhaltenen Transferleistungen recht kompliziert sein und ist daher anfällig für fehlerhafte Angaben. Zum anderen wollen Befragte häufig keine Angaben zu ihrem Einkommen machen. Dazu kommt, dass sich das Einkommen im Vergleich zu Bildung und Beruf relativ schnell ändern kann. Zur Berechnung des Einkommens wird in der Regel das gewichtete Haushaltsnettoeinkommen benutzt. Die Gewichtung erfolgt anhand der Anzahl der Haushaltsmitglieder (Nettoäquivalenzeinkommen; BMAS 2008). Eine Diskussion kreist um die Frage, ob absolute oder relative Unterschiede im Einkommen entscheidend sind. Unbestritten ist, dass ein absolutes Mindestmaß an finanziellen Ressourcen notwendig ist, um Kosten für Lebensmittel, Unterkunft sowie Zugang zu Strom, sauberem Wasser und Sanitäranlagen decken zu können. Auch darüber hinaus lässt sich ein absoluter Einkommensgradient in der Gesundheit feststellen, d. h. eine stetige Verbesserung der Gesundheit mit steigendem Einkommen (Kawachi und Subramaniam 2014).

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In entwickelten Industriegesellschaften wird Einkommensarmut in der Regel nicht in absoluter, sondern in relativer Form bestimmt. Nach EU-Kriterien gelten Haushalte, die über weniger als 60 % des medianen Nettoäquivalenzeinkommens in einer Gesellschaft verfügen, als von relativer Armut bedroht. Das Konzept der relativen Armut geht über die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse hinaus und bezieht die Teilhabe am gesamten gesellschaftlichen Leben mit ein. Aus psychosozialer Perspektive hat das Ausmaß der Einkommensungleichheit innerhalb einer Gesellschaft einen Einfluss auf die Gesundheit. Wahrgenommene Ungleichheiten führen demnach zu Frustration, Angst, Scham und Depression, weil das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden verletzt wird. Die ungleichen Lebensbedingungen führen zu einer – oft auch räumlichen – Trennung zwischen armen und reichen Einkommensschichten, was sich negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirkt. Es wird davon ausgegangen, dass sich Einkommensungleichheit als kontextueller Faktor auf die Gesundheit und das Wohlbefinden aller Bevölkerungsgruppen auswirken kann (Wilkinson und Pickett 2009).

5.2

Geschlecht

Das Besondere an der Kategorie Geschlecht ist, dass das Geschlecht sowohl eine biologische Komponente (sex) als auch eine soziale Komponente (gender) enthält. Beide können einen Einfluss auf die Gesundheit haben. Dabei ist zu beobachten, dass der Einfluss des Geschlechts häufig auf biologische Unterschiede reduziert wird (Krieger 2003). Geschlecht ist selbst eine Determinante der sozioökonomischen Position. Dies war über eine geraume Zeit an einer schlechteren Bildungsbeteiligung von Frauen zu erkennen. Mittlerweile ist in Deutschland der Anteil der Frauen mit einem hohen Bildungsabschluss größer als der der Männer. Geschlechtlich segregierte Arbeitsmärkte und eine schlechtere Bezahlung von Frauen bei gleicher Tätigkeit führen allerdings nach wie vor zu ungleichen sozioökonomischen Positionen und ungleichen beruflichen Expositionen von Männern und Frauen (Artazcoz et al. 2007). Die Bedeutsamkeit von Geschlecht geht jedoch über Unterschiede in der sozioökonomischen Position hinaus. Frauen haben in fast allen Ländern eine längere Lebenserwartung als Männer, gleichzeitig verfügen sie jedoch oft über eine geringere subjektive Gesundheit und höhere gesundheitliche Belastungen. Die Unterschiede in der Lebenserwartung erscheinen dabei nur zu einem geringen Anteil (ca. ein Jahr) durch biologische Unterschiede erklärbar zu sein (Luy 2003). Der Großteil geht auf verhaltensbezogene Faktoren wie Rauchen und exzessivem Alkoholkonsum zurück. Zur sozialen Komponente der Kategorie Geschlecht gehören unterschiedliche soziale Normen und Rollenerwartungen an Männer und Frauen. Gesellschaftlich akzeptierte Normen,

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Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit

die eine Ungleichwertigkeit von Männern und Frauen legitimieren, gehen mit einem größeren Ausmaß an häuslicher Gewalt gegenüber Frauen und den damit verbundenen gesundheitlichen Folgen einher (Garcia-Moreno et al. 2006; Yount et al. 2018). Ebenso gibt es Hinweise, dass solche Geschlechternormen zu einer erhöhten Mortalität unter weiblichen Säuglingen führt (Rosenstock et al. 2013). Aus psychosozialer Perspektive hat die häusliche Arbeitsteilung ebenfalls einen Einfluss auf die gesundheitliche Ungleichheit von Frauen und Männern. In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass eine ungleiche häusliche Arbeitsteilung in einem von Geschlechtergleichheit geprägten Kontext (Schweden) mit einer erhöhten psychischen Belastung bei Frauen und bei Männern assoziiert ist (Harryson et al. 2012). Obwohl epidemiologische Analysen sehr oft getrennt für Frauen und Männer durchgeführt werden, kommt die systematische Berücksichtigung von Geschlecht als Determinante von Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit häufig zu kurz (Jahn et al. 2017). Babitsch (2009) hat in diesem Zusammenhang ein umfassendes geschlechterdifferenziertes Modell für die Analyse von gesundheitlicher Ungleichheit vorgeschlagen, um den unterschiedlichen Wirkungspfaden bei Männern und Frauen Rechnung zu tragen. Eine geschlechtersensitive Ungleichheitsforschung sollte zudem bei der Messung der Variable Geschlecht über die einfache Einteilung in männliche und weibliche befragte oder untersuchte Personen hinausgehen. Dies kann beispielsweise durch die Erfassung von Geschlechterrollen, geschlechtssensitiver Belastungen, wie häusliche Arbeitsteilung und Gewalt, und Indikatoren auf der gesellschaftlichen Ebene geschehen (s. Gender Equality Index) (Phillips 2011).

5.3

Migration

Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund macht in den meisten westlichen Gesellschaften einen großen Anteil an der Gesamtbevölkerung aus. Dies ist sicherlich ein Grund, weshalb Migration oder die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit als bedeutsame Determinante von gesundheitlicher Ungleichheit wahrgenommen wird (Rechel et al. 2014). Die Kategorie Migrationshintergrund wird außerhalb Deutschlands kaum verwendet. Definitionsgemäß gehören zu dieser Gruppe alle Personen, die selbst oder deren Eltern nicht mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren wurden (Statistisches Bundesamt 2018). Das Ereignis Migration und die kulturelle Herkunft einer Person werden dadurch in einer Kategorie vermischt. Bezüglich der kulturellen Herkunft wird in anderen Gesellschaften wie Großbritannien der Begriff Ethnizität verwendet. Ebenso wie das Geschlecht ist auch der Migrationshintergrund eine Determinante der soziökonomischen Position. Personen mit Migrationshintergrund haben häufiger keinen Schulabschluss, sind häufiger erwerbslos oder sind trotz Er-

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werbstätigkeit von Armut bedroht (Statistisches Bundesamt 2017). Für Migrantinnen und Migranten ist der Zusammenhang zwischen Bildung, Beruf und Einkommen schwächer ausgeprägt, weil Bildungs- und Berufsabschlüsse des Öfteren nicht anerkannt werden. Neben den Mechanismen, die durch die im Mittel schlechtere soziökonomische Position wirken, sind migrationsspezifische Mechanismen zu berücksichtigen. Spallek et al. (2011) haben in diesem Zusammenhang ein migrationsbezogenes Lebenslaufmodell entwickelt. Einen Einfluss haben demnach: • Expositionen, denen Migrantinnen und Migranten in ihrem Heimatland ausgesetzt, und Gründe, die zur Migration geführt haben, • Exposition während der Migration, • Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen nach Ankunft im Aufnahmeland sowie • langfristige Lebensbedingungen für die Nachfahren der Einwanderer. Obwohl Migrantinnen und Migranten vor und während der Migration zum Teil erheblichen gesundheitsgefährdenden Expositionen ausgesetzt sind, ist die gesundheitliche Lage dieser Gruppe nicht durchgehend schlechter als die der Personen ohne Migrationshintergrund. Beispielsweise werden geringere Mortalitätsraten berichtet (Kohls 2015). Neben methodischen Problemen ist dies durch Selektionseffekte (healthy migrant effect) zu erklären: Personen, die auswandern bzw. die Strapazen der Migration überleben, haben oft eine sehr gute gesundheitliche Konstitution. Dazu kommt, dass es sich bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund um eine sehr heterogene Gruppe handelt, was die Herkunftsregion, Motive und Umstände der Migration und der sozialen und kulturellen Distanz zum Aufnahmeland angeht. Obwohl nicht durchgängig gesundheitlich schlechter gestellt, ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund aufgrund der sozioökonomischen Benachteiligung und den spezifischen Expositionen als vulnerable Gruppe einzustufen. Dies zeigt sich auch daran, dass sich der gute Gesundheitszustand bei Ankunft im Aufnahmeland mit der Dauer merklich verschlechtert (Brzoska et al. 2015). Dass der politische Kontext im Aufnahmeland einen Einfluss auf die Gesundheit von Migrantinnen und Migranten hat, konnten Malmusi et al. (2017) zeigen. In Staaten mit einer exkludierenden Migrationspolitik waren Migrantinnen und Migranten häufiger von depressiven Symptomen betroffen als in Staaten mit einer inkludierenden Migrationspolitik.

5.4

Wohnregion

Gesundheitliche Ungleichheit zwischen Regionen dieser Welt lassen sich anhand der eingangs genannten Unterschiede in der Lebenserwartung eindrücklich ablesen. Diese

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Unterschiede lassen sich zu einem großen Anteil auf die Ungleichverteilung von ökonomischen Ressourcen, kriegerische Auseinandersetzungen, Seuchen und Umweltkatastrophen zurückführen. Variationen in der Gesundheit lassen sich aber auch zwischen Regionen innerhalb einzelner Länder bis auf die Nachbarschaftsebene hinunter nachweisen. Für Deutschland wurden in den letzten Jahren einige Studien vorgelegt, die Unterschiede in der Mortalität, der Prävalenz von Erkrankungen, Gesundheitsverhalten und Zugang zur Gesundheitsversorgung zwischen Bundesländern, Kreisen, Gemeindeverbänden oder Stadtteilen zeigen (Bozorgmehr et al. 2015; Diederichs et al. 2017; Eberle et al. 2010; Kroll et al. 2017; Maier et al. 2013). Bei der Analyse dieser Unterschiede ist zwischen kompositionellen und kontextuellen Effekten zu unterscheiden (Diez Roux 2007). Bei kompositionellen Effekten sind die Unterschiede in der Gesundheit auf die Zusammensetzung der Bevölkerung in einer Region zurückzuführen. Die Unterschiede gehen in diesem Fall auf die Bündelung von sozioökonomischen Benachteiligungsfaktoren oder auf eine Überalterung der Bevölkerung in der Region zurück. Dies wird auch als regionale Deprivation bezeichnet. Zur regionalen Deprivation gehören aber auch Effekte, die mehr sind als die Summe individueller Benachteiligungsfaktoren. Dies sind die kontextuellen Effekte. Sie ergeben sich aus der physischen und sozialen Umwelt der Wohnregion. Zu den Einflussfaktoren der physischen Umwelt gehören Belastungen durch Lärm und Luftverschmutzung, aber auch Aspekte der gebauten Umwelt, wie der Zugang zu Grünflächen, ein öffentliches Verkehrssystem, sichere Rad- und Gehwege, ebenso wie die Konsumumwelt, beispielsweise in Form von Werbung für Zigaretten oder Fast Food und deren Verfügbarkeit. Zur sozialen Umwelt gehören z. B. die (wahrgenommene) Kriminalität, die soziale Unterstützung und der soziale Zusammenhalt. Letzteres wurde in den vergangenen Jahren verstärkt unter dem Konzept des Sozialkapitals diskutiert. Es existieren verschiedene Definitionen von Sozialkapital. Es wird von manchen als individuelle Ressource im Sinne von nützlichen sozialen Beziehungen definiert. Es kann jedoch auch als kollektives Phänomen von sozialen Beziehungsnetzwerken verstanden werden. Sozialkapital kann das Vertrauen und die Kooperation innerhalb einer sozialstrukturellen Gruppe charakterisieren (bonding social capital), aber auch den Fluss von Informationen oder anderen Gütern und die Beziehung zwischen verschiedenen sozialstrukturellen Gruppen (bridging social capital) (Kawachi und Berkman 2014). Als dritte Form wurde linking social capital als Beziehung zwischen Individuen, Gruppen, zivilgesellschaftlicher Akteure und öffentlicher Institutionen beschrieben (Solar und Irwin 2010). Eine effektive Arbeitsbeziehung zwischen verschiedenen sozialstrukturellen Gruppen und staatlichen Akteuren kann dabei als wichtiger Faktor

T. Brand

für die Etablierung gesundheitsförderlicher Strukturen in einer Wohnregion gesehen werden.

5.5

Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit

Die Forschung zur gesundheitlichen Lage von sexuellen Minderheiten hat sich recht unabhängig von der Forschung zu anderen sozialen Determinanten entwickelt. Zu diesen Minderheiten werden zumeist lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Personen gezählt. Basierend auf der englischen Bezeichnung hat sich die Abkürzung LGBT (lesbian, gay, bisexual, transgender) durchgesetzt. Die Gesundheit von sexuellen Minderheiten ist vor allem hinsichtlich erhöhter Risiken für HIV/Aids in den Fokus geraten (Baral et al. 2013; Oldenburg et al. 2014). Aus der sozialen Ungleichheitsperspektive steht jedoch vor allem das Stigma, das mit der Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit verbunden ist, im Zentrum bzw. dessen Auswirkung auf die Gesundheit. Dieses Stigma operiert auf den Ebenen der persönlichen Identität (Coming-out der sexuellen Orientierung), auf der interpersonellen Ebene (Opfer von Gewalt und Ablehnung) und auf der strukturellen Ebene (soziale Normen und Gesetze) (Hatzenbuehler und Pachankis 2016). Durch diese Mechanismen werden sexuelle Minderheiten an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Tatsächlich hat erst in jüngster Vergangenheit ein Prozess eingesetzt, Geschlechteridentitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit (transgender) nicht länger als psychische Erkrankung zu verstehen (Winter et al. 2016). In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2017 entschieden, dass der Gesetzgeber eine dritte Option bei der Angabe des Geschlechts in Geburtenund Einwohnermelderegistern vorsehen muss. Als gesundheitliche Folgen der Stigmatisierung sind vermehrte depressive Symptome, Angststörungen, Suizidalität und ein erhöhter Substanzmissbrauch belegt (Schulman und Erickson-Schroth 2017; Streed et al. 2017). Durch einen mangelnden Einbezug bzw. durch eine schlechte Erfassung der Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit in Gesundheitssurveys bestehen allerdings noch einige Wissenslücken hinsichtlich der gesundheitlichen Lage dieser Gruppen (Reisner et al. 2016) .

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Verschränkung der einzelnen Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit

Jede der bisher dargestellten Ungleichheitsdimensionen wirkt sich über spezifische Pfade auf Gesundheit aus. Abb. 1 fasst die bisherige Darstellung zu den spezifischen Expositionen in den einzelnen Ungleichheitsdimensionen zusammen. Es sei noch-

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Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit

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Abb. 1 Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit im Überblick

mals darauf hingewiesen, dass es sich nicht um einer Darstellung aller möglichen Ungleichheitsdimensionen handelt. Neben der Betrachtung einzelner Dimensionen gibt es jedoch auch theoretische Perspektiven, die sich auf die Verschränkung und das Zusammenwirken der einzelnen Dimensionen fokussieren. In der Forschung werden aktuell verstärkt die Konzepte der Intersektionalität und der Superdiversität diskutiert. Beide Konzepte haben eine ähnliche Perspektive, stammen jedoch aus unterschiedlichen Forschungstraditionen. Das Konzept der Intersektionalität kommt aus der Geschlechterforschung, Superdiversität aus der Migrationsforschung. Die Intersektionalitätsforschung geht davon aus, dass sich aus der Kreuzung (intersection) sozialstruktureller Merkmale spezifische Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie ergeben, die mit Privilegien und Benachteiligungen verbunden sind (Gkiouleka et al. 2018; Hankivsky 2012). Die zentrale Annahme ist, dass diese Privilegien und Benachteiligungen sich nicht einfach summarisch auf die Zugehörigkeit zu einzelnen sozialstrukturellen Gruppen zurückführen lassen. Entstanden ist diese Perspektive aus der Erfahrung schwarzer Frauen in den USA, die weder Teil der schwarzen, männlich dominierten Bürgerrechtsbewegung noch der weißen, bürgerlich dominierten Frauenrechtsbewegung waren. Kritik wird an der analytisch getrennten Betrachtung von

sozialstrukturellen Merkmalen geübt, die tatsächlich immer gleichzeitig auf einzelne Personen wirken. Betont wird die Notwendigkeit, Ungleichheitsanalysen in gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen zu verorten und die subjektive Seite sozialstruktureller Positionen (soziale Identitäten) zu berücksichtigen. Es lassen sich drei Richtungen intersektioneller Herangehensweisen unterscheiden: die antikategoriale, intrakategoriale und die interkategoriale Orientierung (McCall 2005). Die antikategoriale Orientierung dekonstruiert die sozialhistorische Entstehung von sozialstrukturellen Kategorien wie Geschlecht, sexuelle Orientierung oder ethnische Zugehörigkeit und wie diese Kategorien in Diskursen genutzt werden, um Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren. Die intrakategoriale Orientierung beschäftigt sich mit der Heterogenität innerhalb einer sozialstrukturellen Gruppe. Die interkategoriale Orientierung akzeptiert zunächst die gegebenen sozialstrukturellen Kategorien und untersucht das Zusammenwirken und die Interaktion zwischen den Merkmalen. Dies ist die Orientierung, die in der Gesundheitsforschung zumeist eingenommen wird. Die drei Orientierungen finden sich auch in der Superdiversitätsforschung. Während es in der Intersektionalitätsforschung vor allem um das Zusammenspiel verschiedener Dominanzverhältnisse und Diskriminierungen geht, ist der

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Ausgangspunkt der Superdiversitätsforschung eine gesellschaftliche Dynamik, welche durch erhöhte weltweite Mobilität und sich verändernde Migrationsmuster ausgelöst wird (Bradby et al. 2017; Phillimore 2016; Vertovec 2007). Diese Dynamik führt auch zu neuen und sich verändernden Ungleichheiten, beispielsweise zwischen etablierten Migrantengruppen wie den Spätaussiedlern in Deutschland und neu ankommenden Gruppen wie den Flüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan. Die Dynamik der Ungleichheiten darf dabei nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen (z. B. Finanzkrise, demografische Alterung, Fachkräftemangel, Erstarken rechter Parteien) gesehen werden (Vertovec 2015). In antikategorialer Orientierung geht es der Superdiversitätsforschung auch darum, etablierte sozialstrukturelle Merkmale („die Migranten“) infrage zu stellen oder aufzubrechen und eine Problematisierung oder Stigmatisierung einzelner Gruppen zu vermeiden. So sind Menschen mit Migrationshintergrund nicht grundsätzlich als benachteiligt anzusehen. Dies bietet allerdings auch Anlass zu Kritik daran, dass die Superdiversitätsforschung die Kategorien verschwimmen lässt und sozialstrukturelle Dominanzverhältnisse zwischen Gruppen nicht deutlich macht (Brynin et al. 2017). Die antikategoriale Orientierung der Intersektionalitätsund Superdiversitätsforschung legen qualitative Herangehensweisen nahe, die an den Erfahrungen des Individuums oder den gesellschaftlichen Diskursen ansetzen. Es gibt jedoch auch quantitative Arbeiten, welche die Verschränkung der unterschiedlichen Ungleichheitsdimensionen als statistische Interaktionen oder durch Mehrebenenanalysen untersuchen (Bauer 2014; Evans et al. 2017). So konnte Veenstra (2011) zeigen, wie sich statistische Interaktionen zwischen der ethnischen Zugehörigkeit, der sozioökonomischen Position, Geschlecht und der sexuellen Orientierung auf das Risiko für Bluthochdruck auswirken. Ein weiteres Beispiel ist die Mehrebenenanalyse von Evans et al. (2017), in welcher durch Einbezug der Kategorien Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Bildung, Einkommen und Alter 384 spezifische sozialstrukturelle Positionen hinsichtlich der Verteilung des Body Mass Index untersucht wurden. Solche Analysen erfordern in der Regel jedoch sehr große Stichproben und sind bisher fast ausnahmslos explorativ angelegt. Kritisiert werden kann, dass eine solche Vielzahl von Gruppen sich schwerlich in eine eindeutige Hierarchie bringen lässt, so dass die Beziehung zwischen diesen Gruppen zum Teil offen bleiben ebenso wie die Wahl der angemessenen Referenzkategorie. Eine weitere Kritik an der Intersektionalitäts- und Superdiversitätsforschung ist, dass es nahezu unmöglich ist, alle Verschränkungen zwischen sozialstrukturellen Merkmalen in einer Analyse zu berücksichtigen. Dies stellt diese Ansätze jedoch nicht grundsätzlich infrage. Es ist durchaus legitim, sich auf einzelne theoretisch begründete Verschränkungen von Ungleichheitsdimensionen zu beschränken.

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Fazit

Gesundheitliche Ungleichheit bezeichnet vermeidbare und ungerechte Unterschiede in der Gesundheit oder Gesundheitsversorgung zwischen sozialstrukturellen Gruppen. Die bisherige Forschung hat eine Vielzahl von spezifischen Pfaden identifiziert, welche soziale Ungleichheit mit Gesundheit verbinden. Neben materiellen Unterschieden spielen psychosoziale Belastung, verhaltensbezogene Faktoren sowie gruppenspezifische Faktoren eine zentrale Rolle in der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit. Um der Vielfalt der Lebensbedingungen Rechnung zu tragen, haben sich zusätzlich zur sozioökonomischen Position die Berücksichtigung weiterer Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit in der Forschung etabliert. Als neue Forschungsansätze sind die Intersektionalitäts- und die – Superdiversitätsforschung zu nennen, welche die Verschränkung der einzelnen Dimensionen untersuchen. Bisher liegen hierzu vor allem explorative Untersuchungen vor. Bei diesen neueren Ansätzen muss sicherlich darauf geachtet werden, dass die Komplexität der Kategorien und Bedingungen nicht zu einer Unübersichtlichkeit und mangelnden Vergleichbarkeit der Ergebnisse führen, und dadurch nur wenig spezifische Aussagen über soziale und gesundheitliche Ungleichheit möglich werden. Dennoch versprechen diese Ansätze ein großes Potenzial, um ein Abbild der Lebenswirklichkeit gesundheitlicher Ungleichheit zu erhalten und zu untersuchen, wie sich strukturelle gesellschaftliche Prozesse auf die Gesundheit von differenzierten sozialstrukturellen Gruppen auswirken.

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Diversität und Gestaltbarkeit von Gesundheit und Krankheit im Alter

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Stefan Pohlmann

Inhalt 1 Altersverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 2 Altersdifferenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 3 Alterserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 4 Altersbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 5 Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464

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Altersverläufe

Will man wirksame Alterungsverläufe – jenseits von beeinflussenden Umweltbedingungen und individuellen Bewertungs- und Verhaltensmustern – verstehen, benötigt man ein genaueres Verständnis der Biologie des Alterns. Krankheitswertige Veränderungen sind zweifelsfrei das Resultat sehr komplexer biochemischer, genetischer und metabolischer Veränderungen (Ebert 2016, S. 1). Bevor jedoch pathologische Alterungsprozesse greifen, sind zunächst normale somatische Vorgänge des Lebenslaufs zu identifizieren, die gegebenenfalls die Voraussetzungen für eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber Krankheiten im Alter bilden. " Besonders populär sind hierbei zwei empirisch belegte Erklärungsmuster und zwar deterministische Wirkungsmuster, im Sinne vordefinierter Entwicklungsabläufe, und stochastische Prozesse, die in erster Linie ungesteuert stattfinden und hinsichtlich ihrer Auswirkungen damit wie zufällig wirken (Pohlmann 2016, S. 43).

S. Pohlmann (*) Hochschule für Angewandte Wissenschaften, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

Deterministische Theorien gehen von einem Alterungsprozess aus, der auf einem quasi intern festgelegten Verfallsdatum köpereigener Strukturen beruht. Altersbedingte Defekte resultieren nach dieser Sichtweise aus genetisch vorprogrammierten Schäden, die eine normale Zellenfunktion empfindlich stören und dadurch unausweichlich zum Auslöschen der betroffenen Bereiche führen. Degenerative Veränderungen, die mit einer vorregulierten Lebenszeit einhergehen, bezeichnet man in der Literatur als Seneszenz (Foersch 2017). Heute besteht allgemeine Einigkeit darüber, dass das Altern zwar immanente Einzelveränderungen aufweist, wir jedoch nicht von einem ausschließlich endogen gesteuerten Bauplan ausgehen können. Eine Biomorphose, die Gesamtveränderungen eines Organismus von der Keimzelle bis zum Tod als Schicksal vorherbestimmt, ist auszuschließen. Es mag ein Trost sein, dass sich der Körper nicht vollends den eigenen Dispositionen ausliefert. Zwar belegen Analogstudien die Existenz von Regulatorgenen, die einen deutlichen Einfluss auf die Langlebigkeit einer Spezies haben, doch zeigen daneben einschlägige Forschungsergebnisse im Humanbereich, dass schätzungsweise nicht mehr als 20 % der menschlichen Alterung auf der Genetik beruht (Belsky et al. 2015). Aus diesem Grund gelten parallel stattfindende stochastische Alterungsprozesse als besonders plausibel. Dabei handelt es sich um weitgehend chaotisch ablaufende Verschleiß-

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S. Pohlmann

erscheinungen von Zellen, Organen oder Organsystemen. Abnutzungserscheinungen dieser Art sind hinreichend dokumentiert und werden als passives Altern (vgl. Martin 2011) bezeichnet. Die zunehmenden Einzelbeeinträchtigungen des Körpers wirken sich im Laufe des Lebensalters in ihrer Gesamtheit immer gravierender aus und können über die körpereigenen Reparatursysteme nicht mehr kompensiert werden. Diese scheinbar wahllos auftretenden Abbauergebnisse stehen in Einklang mit der gut belegten Heterogenität von Altersverläufen innerhalb einzelner Generationen. Sie stimmen zudem mit den Befunden überein, dass selbst Einzelpersonen biologisch uneinheitlich altern, das heißt einzelne Organe stärker von Verschleiß betroffen sein können als andere. Da aber gleichwohl prototypische Bereiche einer Vulnerabilität im Alter auszumachen sind (vgl. Hoffmann und Sieber 2017), stehen deterministische und stochastische Prozesse in einem wirksamen, aber schwer vorhersehbaren Wechselverhältnis. Insgesamt reduzieren biologische Prozesse die Leistungs-, Kompensations- und Restitutionsreserven älterer Menschen und sind mit einer deutlich erhöhten Anfälligkeit einerseits und mit funktionellen Einbußen andererseits verbunden. Heute besteht in der Wissenschaft mehrheitlich Einigkeit darüber, dass Krankheiten im Alter nicht auf einen einzigen Wirkmechanismus zurückzuführen sind. Stattdessen ist von einer komplexen Wechselwirkung verschiedener hier angesprochener, aber auch weiterer Prozesse auszugehen. Biologische Altersverläufe erscheinen damit als kumulative, hoch komplexe und interaktiv verbundene Einzelveränderungen mit schwer abschätzbaren Folgewirkungen. Aufgrund der vielfältigen Variationsmöglichkeiten und der damit einhergehenden Dynamiken erscheint die Alterung zwar mit bestimmten Morbiditätsrisiken verbunden – aber dennoch weitgehend unbestimmt. Als wichtige Biomarker werden heute neben der Nieren- und Lungenfunktion auch Werte der Leber und des Immunsystems angesehen (vgl. Johnson 2006). Hinzu kommen viele weitere Einflussfaktoren wie Cholesterinwerte, Herzfitness und die Länge der Chromosomenenden (vgl. Sprott 2010). Welche Beeinträchtigungen mit welchen Symptomen oder Laborwerten im Alter als noch normal und welche im Gegensatz dazu bereits als krankhaft gelten, ist das Ergebnis kultureller oder professionsbezogener Setzungen. Die Grenzziehungen erweisen sich dabei als fließend und mitunter willkürlich.

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Altersdifferenzierungen

Dem oben skizzierten Zusammenspiel von Verschleißerscheinungen einerseits und genetischen Programmen andererseits kommt der körperlichen Alterung unzweifelhaft eine zentrale Rolle zu. Dessen ungeachtet lässt sich – wie bereits betont – das Alter(n) weder als Zustand noch als Prozess

allein auf somatische Veränderungen hin reduzieren. Eine Bezugnahme auf das Geburtsdatum einer Person erweist sich angesichts sehr unterschiedlicher Altersverläufe demzufolge als eher unzuverlässiger Prädiktor für Gesundheit und Krankheit. Die gebräuchliche Angabe des kalendarischen oder auch chronologischen Alters täuscht eine Vergleichbarkeit von Geburtskohorten vor, die zwar als grobe Annäherung dienlich ist, aber keine präzise Beschreibung individueller biologischer Abläufe erlaubt. " Insofern existieren keine festen Altersnormen bezogen auf organische Beeinträchtigungen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten und Risiken für bestimmte Erkrankungen.

Hinzu kommen die subjektiven Befindlichkeiten, gesellschaftlichen Bewertungen und umweltbezogenen Rahmenbedingungen, die Auslösung und Verlauf von Beschwerden beeinflussen. Als zentrale Größe kommen somit das Erleben und Verhalten der betroffenen Menschen und ihres sozialen Umfelds zum Tragen. Normen, Modelle, Kontext und Erwartungen flankieren und interagieren mit biologischen Prozessen. Gemeint sind damit die Auswirkungen des psychischen und des sozialen Alters, die nicht gänzlich unabhängig vom kalendarischen Alter stattfinden, aber auf die Entstehung von und den Umgang mit Symptomen einwirken. Eigene und fremde Beurteilungen des Altseins und Altwerdens spielen eine gewichtige Rolle für den Erhalt oder die Anfälligkeit der Gesundheit (vgl. Faltermaier 2017). Die evidenzbasierte Forschung bietet zudem eine Fülle empirischer Arbeiten, die den Effekt des Gesundheitsverhaltens hervorheben (Hoque et al. 2017). Dazu gehören persönliche Handlungsspielräume wie physische, kognitive und soziale Aktivitäten einschließlich Ernährung und Bewegung ebenso wie externe Unterstützungsoptionen durch Infrastrukturen und Netzwerke. Ältere Personen sind deshalb nicht auf ihre gelebten Jahre zu reduzieren, sondern in ihrer jeweiligen Lebenslage und mit ihren internen und externen Ressourcen differenziert zu betrachten. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der gut untersuchte Effekt sozialer Ungleichheiten auf Morbidität, Pflegebedürftigkeit und Mortalität älterer Menschen (Borchert 2008). Bildung, Beruf und Einkommen erweisen sich hierbei als wichtige Schlüsselfaktoren. Personen mit einem daraus abgeleiteten niedrigen sozialen Status entwickeln zu einem weitaus größeren Anteil langwierige Erkrankungen oder Funktionseinschränkungen und sind in ihrer Lebensqualität und Partizipation deutlich schlechter gestellt als statushöhere Vergleichspersonen (Kruse und Schmitt 2016). Im Gegensatz zum fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2017) verweist der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands (Lampert und Rosenbrock 2017, S. 8) darauf, dass Männer, die an oder unter der Armutsgrenze leben, im Schnitt 10,8 Jahre früher

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Diversität und Gestaltbarkeit von Gesundheit und Krankheit im Alter

sterben als wohlhabende Personen des gleichen Geschlechts. Auch der Wohnort spielt hierbei eine Rolle (Augustin und Koller 2016). Bei Frauen beträgt die Differenz rund 8 Jahre. Insgesamt spielen sich Gesundheit und Krankheit offenbar auf unterschiedlichen Ebenen ab. Man kann auch im Alter zugleich krank und gesund sein. Ganz im Sinne der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2005) ist für ein vollständiges Verständnis einer risikoorientierten Lebensbewältigung ein komplexes, dynamisches Interaktionsgeflecht biopsychosozialer Belastungs- und Bewältigungsfaktoren zu berücksichtigen (vgl. Cerniauskaite et al. 2010). Gesundheit und Krankheit erweisen sich nach dieser Logik als relative und durchaus unbeständige Zustände. Und doch bestehen trotz aller Unterschiedlichkeit auch Gemeinsamkeiten im Alter. Dazu ist allerdings eine Binnendifferenzierung in verschiedene Generationen des höheren Lebensalters unerlässlich (Pohlmann 2011, S. 106 ff.). Die 55- bis 69-Jährigen bilden die jungen Alten. In dieser Phase endet zumeist das reguläre Arbeitsleben und es bedarf einer Anpassung an neue Aufgaben. Für diesen Personenkreis sind Fitness und hohe Funktionsfähigkeit weiterhin bestimmende Charakteristika. Man bezeichnet diese Gruppe daher auch im internationalen Jargon als Best Ager. Davon abgegrenzt werden die Älteren zwischen 70 und 80 Jahren. In diesem Lebensjahrzehnt nehmen Altersbeschwerden und Verlusterfahrungen zu. Dennoch stehen in der Regel nach wie vor interne und externe Bewältigungspotenziale zur Verfügung. Die Bezeichnung der Hochaltrigkeit kommt bei den über 80-Jährigen zur Anwendung. Diese Personen müssen zunehmend mit Gesundheitsproblemen und Funktionsverlusten rechnen, die teilweise zu schweren Beeinträchtigungen führen können. Als Langlebige gelten schließlich die über 100-Jährigen. Diese demografisch rasant anwachsende Gruppe ist für die Gesundheitswissenschaften nicht nur aber auch deshalb von Interesse, weil man von ihr erfahrungsbasierte Auskünfte bezogen auf ein erfolgreiches Alter erwartet. Kategorien des hohen Lebensalters

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55- bis 69-Jährige ! junge Alte 70- bis 80-Jährige ! Ältere Über 80-Jährige ! Hochaltrige Über 100-Jährige ! Langlebige

Die genannten vier Einteilungsversuche des hohen Erwachsenenalters erscheinen lediglich bei der Formierung von größeren Gruppen tauglich und wenn es um Aussagen und Abgrenzungen zwischen bestimmten Bevölkerungsanteilen geht. Daher ist für diese Unterscheidung der Blick aus einer Makro- und auch bedingt aus einer Mesoperspektive heraus sinnvoll.

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Alterserkrankungen

Auftretende Erkrankungen weisen – wie schon angeführt – keinen kausalen Zusammenhang zum kalendarischen Alter einer Person auf. Niemand wird allein aufgrund seines Geburtstages krank. Vielmehr stellt sich das Alter als sog. Trägervariable dar (vgl. Pohlmann 2013), die auf eine assoziierte Wahrscheinlichkeit und korrelative Verbindung zwischen dem Risiko für bestimmte pathologische Erkrankungen auf der einen und dem hohen Alter auf der anderen Seite verweist. Indes stellen Erkrankungen auch keine bloße Koinzidenz dar. Treffender ist ein erhöhtes Risiko, im Alter bestimmte Krankheiten auszubilden und auch gegenüber anderen vergleichsweise unangefochten zu bleiben. Angemessen ist daher der Begriff der alterskorrelierten Erkrankungen, die auf signifikante, konditionale Zusammenhänge verweisen. Die oben skizzierten Alterskategorien zeigen, dass gesundheitliche Einschränkungen und Gesundheitsprobleme nicht vorherbestimmt sind, aber vermehrt Menschen treffen, die bereits die Schwelle zur Hochaltrigkeit überschritten haben. Ein Teil dieser Gruppe gilt als vulnerabel, im Sinne einer besonders hohen Risikobelastung, ein anderer Teil bereits als gebrechlich („frail“), sofern sich bereits verschiedene Erkrankungen und Einschränkungen zugleich manifestieren. Während das Robert Koch-Institut (RKI 2015, S. 10) im Rahmen der seit 2008 laufenden Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) festhält, dass 2,8 % der untersuchten 65- bis 79-jährigen Frauen und 2,3 % der gleichaltrigen Männer an körperlichen Mehrfacherkrankungen leiden, weist die Hochaltrigenstudie von Stückler und Ruppe (2015, S. 15) bereits knapp die Hälfte ihrer Probanden als mehr oder weniger gebrechlich aus. Besonders zwischen dem 80. und 85. Lebensjahr besteht nach ihren Daten eine signifikante Zunahme altersbedingter Funktionseinschränkungen in Kombination mit einem Anstieg von Hilfe- und Unterstützungsbedarf, Mobilitätseinschränkungen sowie mit zunehmender Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen. Prinzipiell können sich Erkrankungsverläufe im Alter stetig oder sprunghaft vollziehen und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Schweregraden entfalten (Siegel 2012). Auf der anderen Seite profitieren die jüngeren Alten von den epidemiologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Eine Reihe von Studien belegt, dass diese Kohorten insgesamt gesünder und aktiver leben, als dies früher der Fall war (Ferrucci et al. 2008). Ein solcher Krankheitsrückgang wird auf eine Kompression der Morbidität zurückgeführt (Trachte et al. 2015). Schwerwiegende Krankheiten und Gebrechen setzen demnach erst zu einem späteren Zeitpunkt ein und dauern im Vergleich zu früheren Generationen auch weniger lange an. Obschon genaue Angaben in Anbetracht lückenhafter Datenmaterialen nicht ganz einfach sind, gehen vorsichtige Schätzungen von einem Gesundheitsstatus der

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heute 70-Jährigen aus, der sich im Vergleich zu derselben Altersgruppe vor 30 Jahren um etwa fünf gute Altersjahre unterscheidet (vgl. Lehr und Thomae 2000). Die gegenwärtig lebenden Senioren sind demnach zumindest in den meisten Industrienationen besser gegen Erkrankungen gewappnet als ihre Eltern und Großeltern. In welchem Ausmaß sich dieser Trend fortsetzt, bleibt abzuwarten. Unbestreitbar finden sich bei älteren Menschen überzufällige Häufungen ganz bestimmter Krankheitsbilder. Eine nachlassende körperliche Leistungsfähigkeit wird allgemein auf Beeinträchtigungen der inneren und äußeren Organe, des Skeletts und der Leitungssysteme zurückgeführt (vgl. RKI 2015). Eine dazu passende Taxonomie von alterskorrelierten Syndromen zu erstellen ist nicht trivial, da Krankheitsbilder gerade für diese Population in der Regel nicht ganz trennscharf in Erscheinung treten (Yashin et al. 2016). Es lassen sich aber zumindest bestimmte topografische Zuordnungen vornehmen. Übergreifend sind neun Krankheitsgruppen erkennbar, die mit auffälligen Inzidenz- und Prävalenzdaten verbunden sind: Zur ersten Gruppe gehören vor allem Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems. Darunter fallen neurologische Beeinträchtigungen in Folge von Demenz, Schlaganfall oder auch Parkinson sowie weitere Hirnleistungsausfälle unterschiedlicher Ursachen. Kognitive Beeinträchtigungen gehören zu den größten subjektiven Ängsten und lösen enorme Befürchtung von Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit aus (Pohlmann 2016). Allein von demenziellen Veränderungen sind derzeit fast 1,6 Mio. Menschen in Deutschland betroffen. Täglich kommen rund 100 weitere Erkrankte hinzu (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2016). Eine zweite Gruppe bilden Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen. Hierzu zählen u. a. Angina pectoris, Myokardinfarkt, Rhythmusstörungen, Koronarsklerose, Herzinsuffizienz, Ödeme, Arteriosklerose, Bluthochdruck, periphere arterielle Verschlusskrankheiten und Thrombosen. Nach der amtlichen Todesursachenstatistik stellen die ischämischen Herzkrankheiten wie der klassische Herzinfarkt die häufigste Todesursache bei den über 65-Jährigen dar. An dieser Krankheit sterben etwa 16 % der über 65-jährigen Frauen und 18 % der gleichaltrigen Männer (Nowossadeck und Nowossadeck 2011, S. 4). Gleichwohl sinkt seit geraumer Zeit die Sterblichkeitsrate bezogen auf diese Ursache (Müller-Riemenschneider et al. 2010). Erkrankungen des Kreislaufsystems führen allerdings am häufigsten zu Krankenhausaufenthalten im Alter (StatBA 2016, S. 56). Ein dritter Bereich formiert sich als Einschränkungen des Bewegungsapparats: Osteoporose, Rheumatismus, Arthrose, Gicht, allgemeine Störungen der Gangsicherheit und Spätfolgen von weiteren Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen lassen sich darunter subsumieren. In diesem Feld finden auch die meisten operativen Eingriffe im Alter statt. Im Jahr 2014 wurden in der Gruppe 65plus rund 6,8 Mio. chirurgische Korrekturen vor-

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genommen (StatBA 2017, S. 57). Ein vierter Beschwerdekomplex im Alter bezieht sich auf Beeinträchtigungen des Fett- und des Zuckerstoffwechsels. Adipositas, Diabetes mellitus Typ II und Gicht stellen zentrale Erkrankungsmuster in diesem Feld dar. Diese Erkrankungen werden in den Statistiken als sehr häufige Begleiterkrankungen ausgewiesen (ebd., S. 56). In den höheren Altersgruppen gelten zudem mehr als die Hälfte der Menschen als übergewichtig (ebd., S. 48). Funktionseinbußen der Atemwege umfassen als fünfte Gruppe z. B. obstruktive Lungenerkrankungen, Asthma, Bronchitis, Lungenblähung und Lungenembolie. Diese beeinträchtigen die Lebensqualität in beträchtlicher Weise. Eine sechste Gruppe wird durch sensorische Defizite gebildet. Katarakt, Glaukom, Makuladegeneration, Presbyakusis und weitere Veränderungen des Sehens und Hörens lassen sich hier einordnen. Diese Defizite können die soziale Teilhabe empfindlich stören. Bösartige Neubildungen betreffen als weitere Gruppe unterschiedlichste Organe und Körperregionen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum weist darauf hin, dass die Krebssterblichkeit in Deutschland seit Jahren zurückgeht und die Lebenserwartung Betroffener stark angestiegen ist. Nach wie vor ist jedoch für alle Krebsarten ein höheres Erkrankungsrisiko bei älteren Menschen belegbar. Bei den Neuerkrankungen kommen auf einen unter 15-Jährigen, der eine Krebsdiagnose erhält, rund 250 über 80-Jährige mit der gleichen Diagnose (RKI 2017, S. 22). Die achte Krankheitsgruppe bezieht sich auf Verdauungsorgane und Harnwege. Hierunter können etwa Gastritis, Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre und Prostatahypertrophie subsumiert werden. Bei den psychischen Erkrankungen als neunte und letzte Gruppe fallen vor allem Depressionen, Angststörungen und Suchmittelabhängigkeiten – speziell Medikamentenmissbrauch – ins Gewicht. Pott (2017, S. 171) verweist auf eine Quote von rund 25 % in der Population der über 65-Jährigen mit psychischen Problemen. Das hier gelistete und häufig miteinander interagierende Alterserkrankungsspektrum ist damit ausgesprochen groß. Da aufgrund fehlender geriatrisch-gerontologischer Screenings und unzureichender Routineuntersuchungen die Pathologie im Alter tendenziell unterschätzt wird, ist mit einem noch höheren Ausmaß körperlicher oder psychosomatischer Erkrankungen zu rechnen. Diese Unterschätzung wird als Underreporting bezeichnet (Gibbons et al. 2014).

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Altersbewältigung

Gleiche Erkrankungen können im Alter sehr wohl unterschiedliche Verlaufsrichtungen mit sich bringen. Neben progressiv progredienten, sich also fortschreitend verschlimmernden Beeinträchtigungen, sind auch vollständige Heilungen (Remissionen) oder auch Genesungen mit verbleibenden Reststörungen (Residuale) sowie Interaktionen mit

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anderen Erkrankungen (Komorbiditäten) vertreten (vgl. RKI 2015). Mehrfacherkrankungen lassen das Risiko einer Pflegebedürftigkeit ab einem Alter von 75 Jahren jedoch insgesamt statistisch deutlich ansteigen. Ab 90 Jahren liegt die Quote der Pflegebedürftigen bereits bei 64 % (StatBA 2017, S. 56). Gleichzeitig ist eine signifikante Zunahme von Schwerbehinderungen auszumachen. Betrachtet man diese Bilanzen, stellen sich die Fragen, was zum einen den Teil Hochaltriger auszeichnet, der nicht , und zum anderen, warum die gleichen Erkrankungen nicht mit klar vorhersehbaren Prognosen verbunden sind. Ganz offenbar bewältigen ältere Menschen Erkrankungen und damit verbundene Risiken auf unterschiedliche Art und Weise. Bei bestimmten Personen lassen sich belastende Lebensstile und eine eher destruktive Lebensgestaltung ausmachen. Eine falsche Ernährung, nicht indizierte Selbstmedikation, hoher Alkoholkonsum, unzureichende Bewegung sowie eine starke körperliche oder psychische Beanspruchung erhöhen nicht nur die Erkrankungswahrscheinlichkeit, sondern erschweren auch die Bewältigung eingetretener Beeinträchtigungen (vgl. Klein und Rapp 2013). Umgekehrt ist aber eine ausgesprochen hohe Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit bei älteren Menschen gut dokumentiert. Viele Menschen verfügen demnach auch im Alter über vielfältige Bewältigungsmöglichkeiten, um alterskorrelierte Beeinträchtigungen auszugleichen oder um mit chronischen Einbußen konstruktiv umzugehen. Pathologische Entwicklungen und Störanfälligkeiten können Gestaltungsspielräume zweifelsfrei einschränken – sie machen die Betroffenen gleichwohl nicht zwangsläufig taten- oder willenlos. Mit dem Ausmaß der Nutzung verbliebener Ressourcen und der Aktivierung externer Hilfen zeigen sich auch die Optionen für ein gelingendes Alter(n). Dies mag auch erklären, warum die persönlich getroffene Gesundheitsbilanz für einen Teil älterer Menschen häufig deutlich besser ausfällt, als unter den jeweiligen Gesundheitsbedingungen zu erwarten wäre. Die erfolgreiche Bewältigung von negativen Ereignissen und alterskorrelierten Defiziten wird als Resilienz bezeichnet (Fröhlich-Gildhoff und Rönnau-Böse 2009). Widerstandsfähig sind ältere Menschen vor allem dann, wenn sie sich auch im Angesicht eines permanenten Risikostatus positiv weiterentwickeln oder trotz extremer temporärer Stressbedingungen ihre Alltagsanforderungen weiterhin zu erfüllen vermögen. Hinzu kommt die Fähigkeit, kritische oder einschneidende Ereignisse effizient zu verarbeiten (Brinkmann 2014, S. 495). Dennoch können gerade im hohen Alter Umstände und Schicksalsschläge in Erscheinung treten, die Personen schwächen (vgl. Abilgaard 2016), selbst wenn sie an einer Krise nicht zerbrechen. Ein Beispiel für die Grenzen der Bewältigungsfähigkeit ist die Demenz im Alter. Mit zunehmendem Schweregrad verlieren die Betroffenen die Kohä-

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renz von Denken, Gedächtnis und Orientierung. Selbst alltägliche Aktivitäten können in gravierenden Fällen nicht mehr eigenständig durchgeführt werden (vgl. Kruse 2012). Die Bewältigung wird damit zu einer Gemeinschaftsaufgabe. Weil aber insbesondere die Störungen der geistigen Funktion die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis in Mitleidenschaft ziehen, ist eine interaktive Bewältigung eingeschränkt. Erkrankte, Angehörige, Fachkräfte und das Umfeld müssen hierbei auf Augenhöhe zu interagieren lernen. Dazu braucht es die Bereitschaft, die durch die Erkrankung verursachten Verluste zu akzeptieren, die Vulnerabilität zu respektieren und durch Verbundenheit echte Nähe aufzubauen (Pohlmann 2018). Noch stehen nur wenige forschungsbasierte Instrumente und Methoden zur Verfügung, die einen solchen Ansatz erleichtern. Die aktuellen Entwicklungen beim Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) weisen aber genau in diese Richtung. Der im Aufbau befindliche Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ soll im ersten Halbjahr 2018 zunächst modellhaft implementiert und fachlich begleitet werden. Die soziale Eingebundenheit erkrankter älterer Menschen erhält damit die notwendige und überfällige Aufmerksamkeit.

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Altersversorgung

Der von der Bundesregierung in Auftrag gegebene siebte Altenbericht (BMFSFJ 2016, S. 149) betrachtet die Daseinsvorsorge als wesentliches Kernelement des Gesundheitssystems. Sie soll ein vielfältiges und chancenreiches Leben auch trotz eintretender Beeinträchtigungen ermöglichen. Gerade im hohen Alter stehen aus Sicht der Sachverständigen damit neben der Wahrung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit auch die Kompensation von Defiziten und Verlusten ebenso wie der Erhalt der Partizipation und Integrität einer Person im Fokus der Bemühungen. Vor dem Hintergrund des oben genannten Spektrums alterskorrelierter Erkrankungsrisiken ist die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit ein zentrales Anliegen. Dabei ergeben sich auch ohne ernst zu nehmende pathologische Veränderungen vielfältige Beratungs- und Unterstützungsbedarfe für ältere Menschen und ihre Angehörigen. Ein unzureichender Zugang zu Gesundheitsleistungen ist ein gewichtiger Indikator für gesellschaftliche Benachteiligung. Will man eine schleichende Rationierung von Gesundheitsleistungen im Alter verhindern, ist neben einer Qualifizierungsoffensive auch eine gerechte Entlohnung für Gesundheitsberufe und hier ganz ausdrücklich für die Profession der Pflege unverzichtbar. Es braucht zudem verlässliche, qualitativ hochwertige und bezahlbare Gesundheitsleistungen, auf die ältere Menschen dauerhaft und rechtzeitig zugreifen können. Ent-

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sprechend müssen Unter- und Fehlversorgungsanteile vermieden werden. So dürfen älteren Menschen Gesundheitsleistungen trotz guter Prognosen und ungeachtet einer akzeptablen Kosten-Nutzen-Relation keine Leistung vorenthalten werden. Gleichzeitig darf es nicht zu kontraindizierten und schädlichen Maßnahmen kommen, die einer fehlenden Diagnostik, eines steigenden Rationierungsdrucks oder unzureichenden Interventionskenntnissen folgen. Die aktuelle Versorgungsrealität zeichnet allerdings ein in Teilen wenig erfreuliches Bild (vgl. Jacobs et al. 2017). Prävention und Gesundheitsförderung im Alter sollen dazu beitragen, soziale Risiken und gesundheitliche Belastungen bereits frühzeitig zu erkennen und abzumildern (Pohlmann 2016, S. 15). Insgesamt sind Maßnahmen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung für die Zielgruppe älterer Menschen bislang nur punktuell verankert. Trotz zunehmender Forschungsansätze und Praxismodelle in diesem Feld bleibt festzuhalten, dass zentrale wissenschaftliche Erkenntnisse auf diesem Gebiet teilweise nur sehr lückenhaft Eingang in die Praxis gefunden haben und dass umgekehrt virulente Fragen aus den relevanten Handlungsfeldern in theoretischen Konzeptionen ungenügend aufgenommen wurden. Auch erfolgreiche Vorsorgeprogramme finden keine hinreichende Verstetigung (vgl. Brinkmann 2014). Trotz eines salutogenen Grundverständnisses im Hinblick auf gesundheitsfördernde Angebote (vgl. Schnabel 2006) haben in der Praxis oftmals eher krankheitsorientierte Ansätze Vorrang (vgl. Naidoo und Wills 2003). Außerdem fehlen Initiativen, die psychosoziale Ressourcen stärken, bevor erwartbare Problemlagen eintreten (vgl. Wright 2010). Unnötige Wartezeiten und Irrläufer zwischen den Gesundheitsinstanzen erhöhen die Dauer bis zum Einsetzen passgenauer Hilfen (Jacobs et al. 2017). Ferner geraten Präventionsansätze gegenüber akuten Problemlagen eher in den Hintergrund. Deswegen mangelt es an einer zielgerichteten Prophylaxe und verborgene Potenziale des Alters kommen kaum an die Oberfläche. Daraus resultieren vermeidbare Häufungen von gleichermaßen individuellen wie kollektiven Beeinträchtigungen. Wenn die körperliche oder auch seelische Unversehrtheit ernstlich bedroht ist, liegt das Folgeziel einer Daseinsvorsorge darin, eine möglichst passgenaue und bedarfsorientierte pflegerische Versorgung sicherzustellen. Genau dieser Punkt wird in der aktuellen politischen Diskussion heftig diskutiert. Dabei ist vom Pflegenotstand die Rede, der sich gerade für ältere Patientinnen und Patienten gravierend auswirkt. Die im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarten Stellenaufstockungen weisen zwar in die richtige Richtung, lassen allerdings eine akkurate Einschätzung der Dimensionen vermissen. Rothgang et al. haben bereits 2012 im Pflegereport der Bertelsmann Stiftung vorausberechnet, dass die Versorgungslücke in den Bundesländern und Kommunen sehr unterschiedlich ausfällt. Für die Landkreise und kreisfreien Städte gehen die Autoren bis zum Jahr 2030 von

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einem Anstieg der Pflegebedürftigen auf 3,4 Mio. aus. Gleichzeitig sinkt nach ihrer Schätzung die Zahl der Pflegefachkräfte deutlich. Wenn strukturelle Gegenmaßnahmen ausbleiben, ist nach ihren Daten mit einem Vollzeitkräftemangel von 500.000 Stellen zu rechnen. Zukünftig brauchen demnach deutlich mehr ältere Menschen eine professionelle Unterstützung, können aber immer weniger auf entsprechende Angebote zurückgreifen. Die Altersversorgung durch eine Pflegebedürftigkeit führt in der Regel zu einer Langzeitaufgabe für alle Beteiligten (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2014). Von einer flächendeckenden und bedarfsorientierten Versorgung im Alter kann im Zuge dieser Daueranforderung keine Rede sein. Derzeit wird mit rund 73 % der überwiegende Teil pflegebedürftiger Menschen in privaten Haushalten versorgt (StatBA 2017, S. 5). Damit sind es vor allem die Angehörigen, die teilweise in Kombination mit Pflegediensten oder privat initiierten Pflege-Arrangements die Hauptlast der Versorgung schultern. Viele von ihnen werden von dieser (Vollzeit-) Aufgabe physisch und psychisch stark beansprucht. Auf der anderen Seite sind Würdigung und Unterstützung für diese Gruppe eher gering ausgeprägt (Büker 2015). Damit entwickeln sich auch die pflegenden Angehörigen zu einer vulnerablen Risikogruppe, die in chronischen Überforderungssituationen deutliche Krankheitsrisiken aufweist (Kitwood 2004). Bereits aus dem Grundgesetz, der Allgemeinen UN-Erklärung der Menschenrechte und der EU-Grundrechtecharta ist eine Fürsorgeverantwortung gegenüber denjenigen ableitbar, die nicht selbst für ihre Rechte eintreten können. Ein ausdrücklicher Rechtsschutz, der die Sicherstellung des Altenwohls direkt adressiert, ist hingegen in der deutschen Rechtsordnung nicht eigenständig kodifiziert (Zenz und Pohlmann 2014). Persönlichkeitsrechte in Unterstützungs-, Pflege- und Betreuungsbeziehungen gelten lebenslang und erfordern daher vermeintlich keine Sonderregelung. Wie aber lässt sich ein solcher Rechtsanspruch in der Praxis durchsetzen? In den letzten Jahren häufen sich alarmierende Berichte über menschenunwürdige Bedingungen bei der Pflege hilfsbedürftiger und kranker älterer Menschen gerade in der institutionellen Versorgung, die auf ein Versagen bei der Aufrechterhaltung des Altenwohls hindeuten. Auch wenn man die Verlässlichkeit und wissenschaftliche Güte insbesondere medial inszenierter Fallbeispiele bezweifeln mag und das gesamte Ausmaß über Versäumnisse und Vergehen nicht leicht zu beurteilen ist, muss doch bereits auf der Grundlage bestehender Dokumentationen die gegenwärtige Situation abhängiger älterer Menschen zumindest in bestimmten Versorgungssettings als hoch problematisch eingestuft werden. Aus den Pflegequalitätsberichten des Spitzenverbands des Medizinischen Dienstes auf Bundesebene der Krankenkassen (MDS) lassen sich ganz konkrete Pflegemissstände ablesen. Regelwidrige und menschenunwürdige

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Diversität und Gestaltbarkeit von Gesundheit und Krankheit im Alter

Zustände werden nach diesen Quellen auf 5–20 % der Heimbewohner bezogen (Moritz 2014, S. 101). Darstellungen wie diese haben zu einem massiven Imageverlust und einer „Sippenhaft“ auch jener Pflege- und Altenheime beigetragen, die gute Arbeit leisten. Staatliche Organe sind nach dem Heimgesetz verpflichtet, die Qualität der Versorgungsleistungen zu prüfen und damit die Bevölkerung vor etwaigen „schwarzen Schafen“ zu schützen. Eine Qualitätsprüfung und Qualitätssicherung sollte jedoch nicht nur auf Gefährdungen und Problembereiche aufmerksam machen, sondern auch die positiven Qualitätsmerkmale der Dienstleistungen hervorheben können. Daher ist eine Analyse jeder einzelnen Dienstleistung im Hinblick auf eine geeignete Qualitätsdefinition und festlegbare Qualitätsstandards notwendig (vgl. Knorr und Halfar 2000, S. 67). Allerdings stellt sich in der institutionellen Versorgung die zentrale Frage, woran genau die Qualität der Leistungen festgemacht werden kann. Aus der Komplexität der Ansprüche und der Vielfältigkeit dieses Angebotes heraus ist es bis heute nicht gelungen, die Qualität für diesen Bereich abschließend und umfassend zu definieren, valide zu messen und verbraucherfreundlich zu dokumentieren. Die Prüfungen müssen über die bisherigen Bewertungsverfahren hinausgehen und zusätzliche Dimensionen berücksichtigen, die auf die Lebensqualität der Bewohner ausgerichtet sind. Dazu wurden in der Vergangenheit auch neue Verfahren entwickelt, die aber in der sog. Heimnachschau bislang noch nicht zur Anwendung gekommen sind (Pohlmann 2016, S. 143 ff.). Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Versorgung älterer und hoch belasteter Menschen selbst dort zu verbessern ist, wo ausreichende Strukturen zur Verfügung stehen. Da der wettbewerbsorientierte Markt der Gesundheitsleistungen für seine Kunden aufgrund unterschiedlicher Logiken und Versprechen von Leistungsträgern und Leistungsanbietern kaum vergleichbar erscheint, bedarf es einer höheren Transparenz. Zur Überwindung der Unübersichtlichkeit und zur Inanspruchnahme passgenauer Hilfeleistungen benötigen die Betroffenen eine unabhängige, fachlich versierte und zugleich altengerechte Übersetzung im Sinne einer unabhängigen „Leistungsvermittlung“, die derzeit eher die Ausnahme als die Regel darstellt.

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Ausblick

In der öffentlichen Diskussion wird der demografische Wandel zu Recht als zentrale Herausforderung identifiziert. Allerdings sind die gesellschaftspolitischen Implikationen einer relativen und absoluten Zunahme älterer Menschen in der Bevölkerung nur unter Berücksichtigung weiterer Veränderungsprozesse hin zu beurteilen, die den demografischen Wandel flankieren und in Teilen mitbegründen. An

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erster Stelle steht hierbei der epidemiologische Wandel (Satariano und Maus 2018). Der signifikante Rückgang der Infektionserkrankungen hat maßgeblich zur Erhöhung der Lebenserwartung beigetragen. Der gleichfalls zu verzeichnende Anstieg chronischer Krankheiten tangiert ältere Menschen in deutlichem Umfang. Dauerhafte Mehrfacherkrankungen sind Belastungen, die ältere Menschen teilweise bis zu ihrem Tod begleiten, auch wenn sie diesen nicht notwendigerweise auslösen müssen. Mit dem technologischen Wandel ergeben sich neue Optionen in der Versorgung älterer Menschen. Intelligente Systeme, innovative Kommunikationsformen, Umwälzungen durch Modernisierungen im Bereich der Digitalisierung und Robotik sowie komplexe Automatisierungen des Arbeitsalltags beeinflussen das Gesundheitswesen in historisch einzigartiger Größenordnung (Wahl et al. 2018). Tele- und Intensivmedizin, Ambient Assisted Living, Personal Health, Hightech Home Care und Smart Assistance, Pflege 4.0 sind Beispiele für entsprechende Neuerungen (vgl. BAuA 2017). Primäres Ziel muss es an dieser Stelle sein, Überforderungen der Nutzerinnen und Nutzer durch eine frühzeitige Berücksichtigung der Anwendungsperspektive zu vermeiden. Multifunktionale autonome Systeme sind in diesem Sinne mit selbstbestimmten Anwendungsbereichen in Einklang zu bringen, um auf diesem Weg den Alltag gerade älterer Menschen zu erleichtern und lebenswerter zu gestalten. Hinzu kommen Verbesserungserfordernisse in der Anwendung für die professionellen Akteure, die als Fachkräfte für den reibungslosen Einsatz neuer Gesundheitstechnologien Verantwortung tragen. Technologische Lösungen sind dabei aber kein Ersatz für menschliche Nähe und sollten gerade Raum für intensivere soziale Interaktionen bieten. Aufgrund eines sozialen und kulturellen Wandels (vgl. Faas und Zipperle 2014) entstehen künftig neue Anforderungsprofile in der informell getragenen Versorgung. Ursache dafür sind u. a. die Änderungen in den Familienstrukturen durch eine Zunahme von kinderlosen Paaren, Ein-Elternoder Patchwork-Familien, vermehrte Trennungen und räumliche Distanzen zwischen Familienangehörigen. Ein Anstieg von Altersarmut und Veränderungen beruflicher Verpflichtungen erfordern ein Umdenken in der bisherigen Versorgungsökonomie (Haan et al. 2017). Außerdem macht das Altern der Gesellschaft nicht vor nationalen Grenzen halt und wird durch die unterschiedlichen Politikfelder beeinflusst. Wegen dieses globalen Wandels ist längst ein AgeMainstreaming (Pohlmann 2013, S. 40) gefordert, das politische Entscheidungen auf ihre langfristigen Folgen für Jung und Alt prüft und ein gelingendes Altern auch für nachwachsende Generationen als vorrangig zu behandelndes Querschnittsthema begreift. Um dies in die Praxis umzusetzen, ist noch viel Überzeugungsarbeit im öffentlichen und privaten Sektor geboten.

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Diversität und Gestaltbarkeit von Gesundheit und Krankheit im Alter

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Diversität von Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendalter

40

Horst Hackauf und Gudrun Quenzel

Inhalt 1

Einführung: Jugend und Gesundheit – Thematische Schwerpunkte und empirische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467

2

Datenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

3 Gesundheit und Krankheit im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 3.1 Akute und chronische Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 3.2 Gesundheitliches Wohlbefinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 4

Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470

5 Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 5.1 Gesundheitliche Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 5.2 Dichte Staffelung der Entwicklungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 6

Nehmen gesundheitliche Belastungen zu oder verändern sich nur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472

7

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474

1

Einführung: Jugend und Gesundheit – Thematische Schwerpunkte und empirische Studien

Die Lebensphasen Kindheit und Jugend haben eine besondere Bedeutung für die Gesundheits-Krankheits-Dynamik im weiteren Lebenslauf, weil sich in dieser Zeit für die Gesundheit relevante Persönlichkeitsdispositionen herausbilden und viele in diesen Phasen begonnene Verhaltensweisen im Erwachsenenalter fortgeführt werden (Antonovsky 1997; Hurrelmann 2010). Deswegen wird die Kinder- und Jugend-

H. Hackauf (*) Institut für Soziologie, Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] G. Quenzel Institut für Bildungssoziologie, Pädagogische Hochschule Vorarlberg, Feldkirch, Österreich E-Mail: [email protected]

gesundheitsforschung in den letzten Jahren verstärkt und zunehmend auch interdisziplinär betrieben, um neben einer Bestandsaufnahme auch den relevanten Einflussfaktoren auf die Gesundheit nachzugehen. Gegenwärtig stehen vor allem drei thematische Schwerpunkte im Zentrum der Kinder- und Jugendgesundheitsforschung. Ein erster Schwerpunkt liegt auf der empirischen Erfassung der Prävalenz akuter und chronischer Krankheiten sowie von physischen und psychischen gesundheitlichen Beschwerden in diesen Lebensphasen. In diesen Bereich gehören auch Studien, die den Fokus statt pathogenetisch auf Morbidität und Mortalität, salutogenetisch auf die Erfassung eines möglichst umfassenden körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens legen. Sowohl in den Studien zur Erfassung des Ausmaßes des Auftretens von Krankheit und Beschwerden als auch in den Studien zum umfassend konzipierten, gesundheitlichen Wohlbefinden finden sich zahlreiche Belege dafür, dass im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter das Krankheits- und Beschwerdeaufkommen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_43

467

468

H. Hackauf und G. Quenzel

steigt und das gesundheitliche Wohlbefinden abnimmt (Richter und Hurrelmann 2016). Das Jugendalter gilt deswegen zunehmend als Lebensphase erhöhter gesundheitlicher Vulnerabilität, wobei Ansätze zur Prävention und Gesundheitsförderung in dieser Lebensphase richtungsweisende Veränderungen für die weitere Lebensdauer bewirken können (JungbauerGans und Hackauf 2008, S. 9). Ein zweiter Schwerpunkt der aktuellen Kinder- und Jugendgesundheitsforschung liegt auf dem Gesundheitsverhalten. Hier ist gut belegt, dass sich das Gesundheitsverhalten im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter – meist zum Zeitpunkt der Pubertät – gravierend ändert. Typisch sind etwa das Ausprobieren und Einüben des Konsums von Tabak, Alkohol und bei einem Teil der Jugendlichen auch von illegalen Drogen wie Marihuana (Kolip et al. 2013). Gut belegt ist auch, dass im Übergang ins Jugendalter gesundheitsförderliche Verhaltensweisen wie körperliche Aktivitäten, der tägliche Konsum von Obst und Gemüse und regelmäßiges Essen zurückgehen (Richter und Hurrelmann 2016; Lampert and Kuntz 2014; Kolip et al. 2013). Ein dritter Schwerpunkt der gegenwärtigen Kinder- und Jugendgesundheitsforschung versucht, auf der Basis der vorliegenden empirischen Befunde zum Gesundheitsstatus und dem Gesundheitsverhalten, unter Heranziehung von Erkenntnissen der soziologisch, psychologisch und erziehungswissenschaftlich ausgerichteten Kinder- und Jugendforschung, theoretische Modelle zu entwickeln, mit denen die vorliegenden empirischen Ergebnisse erklärt und zusammenhängend analysiert werden können. Über die Darstellung der wichtigsten Befunde hinaus, will dieser Beitrag die zum Teil heterogenen Forschungsbefunde darstellen, neue Entwicklungslinien aufzeigen und mögliche Ursachenkonstellationen für den veränderten Gesundheitsstatus im Jugendalter herausarbeiten.

entscheidende – empirisch abgesicherte – Schritte nach vorne gemacht. Durch die 1983 von der World Health Organisation Europa (WHO Euro) initiierte, international vergleichende Health-Behaviour-in-School-aged-Children-Studie (HBSC) und dem seit 2003 als Panelstudie angelegten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) des Robert Koch-Instituts profitiert die Kinder- und Jugendgesundheitsforschung inzwischen von einer ausgezeichneten Datenbasis. Auch einige vormalig auf Bildung ausgerichtete OECD-Studien erfassen in den letzten Jahren zunehmend Daten zum gesundheitlichen Wohlbefinden, darunter die PISA-Studien (OECD 2015).

2

KiGGS Am Robert Koch-Institut in Berlin wurde 2003 eine bundesweit repräsentative Längs- und Querschnittstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eingerichtet. Als Kinder- und Jugendgesundheitssurvey untersucht die „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) Kinder und Jugendliche im Alter von 0–17 Jahren zum Gesundheitszustand und zum Gesundheitsverhalten. Dazu bildete die KiGGS-Basiserhebung (2003–2006) bundesweit die erste repräsentative Querschnittuntersuchung und lieferte eine Bestandsaufnahme zur Gesundheit von über 17.641 Kindern und Jugendlichen. Die Studie folgt einem komplexen Design, das sowohl Querschnitt-, Trend- als auch Lebenslaufanalysen über spezielle Alterskohorten zulässt (Lange et al. 2018; Hoffmann et al. 2018). Somit können neben repräsentativen Aussagen über den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen auch deren Entwicklung im Trendverlauf abgebildet sowie Entwicklungen im gesundheitlichen Lebenslauf

Datenlage

Da die Datenbasis für alle drei hier skizzierten thematischen Orientierungen häufig aus denselben Studien stammt, werden wir im Folgenden kurz auf die groß angelegten Studien zur Kinder- und Jugendgesundheit eingehen und dann im weiteren Verlauf zentrale Befunde aus den drei Schwerpunkten vorstellen. Die wissenschaftliche Diskussion um den Gesundheitszustand junger Menschen, um die sozialen Gründe von Beeinträchtigungen des Wohlbefindens sowie um gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen wird seit Ende der 1980er-Jahre1 verstärkt geführt. In den letzten 15 Jahren hat der Bereich Kinder- und Jugendgesundheitsforschung aber einige

1 Die erste breit aufgestellte Forschung in Deutschland war der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sonderforschungsbereich 227 „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“ der Universität Bielefeld (1986–1997).

HBSC-Studie Die „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC)-Studie ist eine unter deutscher Beteiligung erstmalig seit 1983 im vierjährigen Turnus durchgeführte Erhebung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Bucksch et al. 2016). Dabei wird an Schulen bei Mädchen und Jungen im Alter von 11–15 Jahren das Gesundheitsverhalten und die subjektiv empfundene Gesundheit abgefragt. So arbeitet das WHO Regionalbüro Europa mit Deutschland im HBSCStudienverbund und weiteren 47 Ländern zusammen, um für Europa und Nordamerika auf nationaler Ebene repräsentative und international vergleichende Daten bereitzustellen. Um über Ländergrenzen hinweg harmonisierte und vergleichbare Daten zu gewinnen, wurde ein sowohl für die einzelnen, teilnehmenden Länder aussagekräftiges als auch für internationale Vergleiche geeignetes Instrumentarium entwickelt. Die HBSC-Studie gilt dabei als Prototyp einer internationalen Gesundheitsberichterstattung. Ein Ziel der HBSC-Studie ist es, Gesundheitsindikatoren, gesundheitsrelevantes Verhalten und spezifische Bedingungsfaktoren bei Kindern und Jugendlichen länderübergreifend zu vergleichen. Im Verbund mit der internationalen Studie bildet der deutsche Studienteil dabei eine mittlerweile eigenständige repräsentative Datenbasis für die ausgewählte Zielgruppe der 11-, 13- und 15-Jährigen.

40

Diversität von Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendalter

analysiert werden. Das aufwendige Design ermöglicht damit neben dem Gesundheitsmonitoring einer wichtigen Altersgruppe auch die Untersuchung von Übergängen und Verläufen sowie von kausalen Zusammenhängen. Daran angeknüpft wurde eine Elternbefragung und eine Befragung der zu diesem Zeitpunkt 11- bis 17-Jährigen durchgeführt, in der das körperliche und psychische Befinden, die individuellen und familiären Lebensbedingungen sowie gesundheitsrelevante Verhaltensweisen erhoben wurden. Der Basiserhebung folgte 2009–2011 eine 1. sowie eine 2. Welle mit einem ähnlichen methodischen Ansatz im Zeitraum von 2014–2017.

blick auf die soziale Herkunft gibt es erhebliche Unterschiede. Bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status ist etwa jedes vierte Kind betroffen, bei den Familien mit hohem Status ist es jedoch nur jedes zwölfte. In der KiGGS-Längsschnittstudie zeigt sich zudem, dass übergewichtige Kinder ein hohes Risiko haben, im weiteren Verlauf übergewichtig zu bleiben. Etwa mehr als die Hälfte derjenigen, die im Kleinkindalter übergewichtig oder adipös sind, werden dies auch im Jugendalter (Schienkiewitz et al. 2018a, S. 78).

3.2

3

Gesundheit und Krankheit im Jugendalter

Auf Basis der oben genannten Datengrundlage lässt sich skizzieren, wie es den Kindern und Jugendlichen gesundheitlich in Deutschland und anderen Ländern geht. Auf einer ersten Ebene werden dabei die akuten und chronischen Krankheiten vom gesundheitlichen Wohlbefinden unterschieden.

3.1

Akute und chronische Krankheiten

Chronische Krankheiten Schwerere akute und chronische Krankheiten im Kindes- und Jugendalter sind durch die verbesserten Lebensbedingungen und den medizinischen Fortschritt in den letzten 100 Jahren erheblich zurückgegangen, wobei ein Teil der Kinder und Jugendlichen dennoch von ihnen betroffen ist. Etwa ein Achtel der Kinder und Jugendlichen berichtet von lang andauernden chronischen Krankheiten oder Gesundheitsproblemen (Neuhauser et al. 2014, S. 780). Zu den verbreitetesten chronischen Krankheiten im Kindesund Jugendalter gehören Diabetes, Herzkrankheiten, Migräne, Fieberkrämpfe und Epilepsie. Auch von atopischen Krankheiten wie Asthma bronchiale, Heuschnupfen und Neurodermitis ist etwa ein Viertel der Kinder- und Jugendlichen betroffen. Diese Erkrankungsformen sind unter Jungen etwas verbreiteter als unter Mädchen (Schmitz et al. 2014, S. 774). Übergewicht und Adipositas Ein verbreitetes gesundheitliches Problem im Kindes- und Jugendalter, dessen Prävalenz sich in den letzten Jahren auf hohem Niveau stabilisiert zu haben scheint, sind Übergewicht und Adipositas (Schienkiewitz et al. 2018a). Übergewicht gilt als Risikofaktor für HerzKreislauf-Erkrankungen, für Störungen des Glukosewechsels, für eine geringere Lebensqualität sowie für Mobbing (Llewellyn et al. 2016; Puhl und King 2013). In Deutschland ist etwa jedes sechste Mädchen und jeder sechste Junge übergewichtig, jede/r zwanzigste gilt als adipös (Schienkiewitz et al. 2018b, S. 18). Dabei steigt der Anteil mit Übergewicht oder Adipositas mit zunehmendem Alter an. Auch im Hin-

469

Gesundheitliches Wohlbefinden

Subjektive Gesundheit Die subjektive Einschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes von Kindern und Jugendlichen selbst bzw. von ihren Eltern gilt als aussagekräftiger und komplexer Gesundheitsindikator, in den sowohl objektive als auch subjektive Gesundheitsaspekte eingehen. Auch gilt sie als guter Prädiktor für die Morbidität in späteren Lebensphasen (Lantham und Peek 2013). Die Ergebnisse der KiGGSWelle 2 zeigen, dass 95,7 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3–17 Jahren nach Elternangaben eine sehr gute oder gute Gesundheit haben (Poethko-Müller et al. 2018, S. 10). Bei genauerer Hinsicht zeigen sich jedoch erhebliche Unterschiede in der Einschätzung der allgemeinen Gesundheit im Hinblick auf das Geschlecht, das Alter und die soziale Herkunft. Bei Mädchen und Jungen sinkt der Anteil derjenigen, für die eine sehr gute Gesundheit angegeben wird, mit zunehmendem Alter erheblich. Wobei bei den Mädchen der Rückgang des Anteils mit sehr guter Gesundheit von 67 % bei den 3- bis 6-Jährigen auf 45,3 % und bei den 14- bis 17-Jährigen mit 21,7 % noch etwas stärker ausfällt als bei den Jungen (61,9 % auf 52,4 %, Abnahme um 9,5 %). Während es Mädchen also in der Kindheit häufiger gesundheitlich etwas besser geht als Jungen, ändert sich der gesundheitliche Status während der Pubertät zugunsten der Gruppe der Jungen. Erhebliche Unterschiede lassen sich auch im Hinblick auf den sozioökonomischen Status erkennen. Die Chancen für ein Aufwachsen in sehr guter oder guter Gesundheit sind ungleich verteilt: umso höher der Sozialstatus, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, gesund aufzuwachsen. Beschwerden Die subjektive Beschwerdelast wird in der HBSC-Studie über somatische (z. B. Kopfschmerzen) und psychische Symptome (z. B. Nervosität) erfasst. Die befragten Teenager (11-, 13- und 15-Jährige) geben an, wie häufig acht verschiedene Beschwerden bei ihnen in den letzten sechs Wochen aufgetreten sind. Die Ergebnisse der HBSC-Studie für Deutschland aus dem Jahr 2013/14 zeigen deutliche Unterschiede in der psychosomatischen Beschwerdelast zwischen den Geschlechtern. Im Schnitt berichtet fast ein Drittel der Mädchen (31,3 %) über mindestens zwei psycho-

470

H. Hackauf und G. Quenzel

somatische Beschwerden pro Woche, wohingegen dies nur 17,3 % der Jungen tun. Werden die Unterschiede zwischen den Mädchen und Jungen nach den jeweiligen Altersstufen betrachtet, wird ein Trend sichtbar. Mit 11 Jahren gibt es kaum Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, etwa ein Fünftel berichtet von multiplen wiederkehrenden psychosomatischen Beschwerden (also mindestens wöchentlich). Bei den 15-jährigen Mädchen verdoppelt sich dieser Anteil, bei den Jungen bleibt dieser jedoch etwa gleich. Wohlstand wirkt sich bei Mädchen positiv aus, sie berichten etwas seltener von Beschwerden. Ein Migrationshintergrund wirkt sich dahingehend aus, dass diese Jugendlichen häufiger von Beschwerden berichten, insbesondere wenn sie weiblich sind. Insgesamt leiden Jugendliche am häufigsten unter Einschlafproblemen (20,0 %), wobei Jungen häufiger davon betroffen sind, gefolgt von Kopf- (14,0 %), Rücken(12,4 %) und Bauchschmerzen (8,3 %). Psychisches Wohlbefinden Psychische Auffälligkeiten und Störungen beeinträchtigen die Lebensqualität erheblich und können sich als psychische Erkrankungen in späteren Lebensphasen fortsetzen. Als psychisch auffällig gelten in den KiGGS-Studien deswegen Kinder und Jugendliche, wenn ihr Verhalten und Empfinden erheblich von dem Verhalten und Empfinden Gleichaltriger abweichen und ihre Lebensqualität beeinträchtigen (Baumgarten et al. 2018, S. 60). In der KiGGS-Erhebung werden psychische Auffälligkeiten mit dem Strengths and Difficulties Questionaire von Goodman (1997) für die Bereiche Emotionale Probleme, Probleme mit Gleichaltrigen, Verhaltensprobleme und Hyperaktivität gemessen. Bei etwa einem Fünftel aller Kinder und Jugendlichen wurden psychische Auffälligkeiten festgestellt. Die KiGGS-Längsschnittstudie kann dabei zeigen, dass bei über der Hälfte der Kinder und Jugendlichen die Auffälligkeiten in den nächsten Jahren wieder verschwinden, bei einem Teil bleiben sie allerdings auch bestehen (Baumgarten et al. 2018, S. 61). Psychische Auffälligkeiten treten bei Mädchen und Jungen etwa gleich häufig auf und auch zwischen den Altersgruppen sind keine größeren Unterschiede zu beobachten. Erhebliche Unterschiede zeigen sich jedoch im Hinblick auf den sozialen Status der Familie (Hölling et al. 2014, S. 812). So gehört im Schnitt jedes dritte Kind (33,5 %) aus Familien mit niedrigerem Sozialstatus zur Risikogruppe, bei Kindern aus Familien mit mittlerem Sozialstatus ist es jedes fünfte (19 %) und aus Familien mit höherem Sozialstatus „nur“ etwa jedes zehnte (9,8 %).

4

Gesundheitsverhalten

Viele Studien belegen, dass sich das Gesundheitsverhalten im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter in schnellem Tempo ändert. Im Jugendalter werden gesundheitliche Ver-

haltensmuster ausgebildet, die sich von denen im Kindheitsalter zum Teil erheblich unterscheiden, und die für das Erwachsenenalter als strukturbildend angesehen werden müssen (Kolip et al. 2013). Typisch für das Jugendalter sind gegenüber dem Kindheitsalter neu hinzukommende gesundheitsrelevante Verhaltensmuster wie Tabak rauchen, Alkohol trinken, Marihuana oder andere illegale Drogen konsumieren und sexuelle Aktivitäten, während Verhaltensweisen wie körperliche Bewegung und regelmäßiges Essen zurückgehen. Verhaltensweisen, die negative gesundheitliche Folgen für das Individuum oder seine soziale Umwelt haben können, werden in den Gesundheitswissenschaften unter dem Begriff des Risikoverhaltens gefasst, wobei zwischen Risikoverhalten mit langfristiger und mit akuter Schädigungsgefahr unterschieden werden kann (Richter 2005). Zu Verhaltensweisen mit langfristiger Schädigungsgefahr gehören der Konsum von Tabak, Alkohol, Marihuana und Medikamenten, einseitige Ernährung und extensiver Medienkonsum. Zu den Verhaltensweisen mit akuter Schädigungsgefahr gehören S-/UBahn-Surfen, riskante Mutproben, zu schnelles Fahren (unter Alkoholeinfluss) oder Fahren ohne Sicherheitsgurt und ungeschützter Geschlechtsverkehr. Bei Verhaltensweisen wie Rauschtrinken oder dem Konsum von harten Drogen überschneiden sich beide Bereiche. Substanzkonsum Obwohl der Zigarettenkonsum bei Jugendlichen in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen ist, bleibt Rauchen aufgrund seiner bedeutsamen gesundheitlichen Folgewirkungen ein Thema in der Präventionsdiskussion. In der KiGGS-Langzeiterhebung konnte gezeigt werden, dass die überwiegende Mehrheit derjenigen, die im Jugendalter rauchen, dies auch als junge Erwachsene tun (Mauz et al. 2018, S. 67). Aktuell rauchen etwa 7 % der 11- bis 17-Jährigen und damit zwei Drittel weniger als vor 15 Jahren (Zeiher et al. 2018, S. 40). Trotzdem zeigt sich der bekannte Trend, dass der Tabakkonsum mit dem Übergang von der Kindheit ins Jugendalter zunimmt. Auch der soziale Hintergrund beeinflusst das Rauchverhalten, und zwar sind es Jugendliche aus den mittleren Schichten, die im Durchschnitt am häufigsten rauchen. Auch regelmäßiger Alkoholkonsum ist bei den 11- und 12-Jährigen noch die Ausnahme und nimmt dann ab dem Alter von 13 Jahren stetig zu. Bei etwa einem Viertel der 14- bis 17-Jährigen (Mädchen 28 %, Jungen 27 %) kann der Alkoholkonsum dabei als gesundheitlich riskant eingestuft werden. Als besonders problematisch gilt regelmäßiges Rauschtrinken, also wenn mindestens einmal im Monat sechs oder mehr alkoholische Getränke bei einer Gelegenheit konsumiert werden. Regelmäßiges Rauschtrinken wird von etwa einem Sechstel der 14- bis 17-jährigen Mädchen und von etwa einem Viertel der Jungen praktiziert (17 % und 23 %) (Lampert and Kuntz 2014, S. 836). Ein steigendes Interesse am Substanzkonsum im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter spiegelt sich auch

40

Diversität von Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendalter

in den Daten zum Cannabis-, Haschisch- und Marihuana Konsum wider. Unter den 15-Jährigen sind es dann etwa 10 % der männlichen und 7 % der weiblichen Jugendlichen, die in den letzten 30 Tagen zumindest einmal Cannabis, Haschisch oder Marihuana konsumiert haben (HBSC 2015b). Wie stark der Substanzkonsum an die Erwartungen der sozialen Umwelt und die Lebensumstände gebunden ist, zeigt auch ein Blick auf die Schulformen. Etwa kann ein hoher Alkohol- und Nikotinkonsum besonders häufig bei den männlichen Hauptschülern beobachtet werden. Sie haben im Vergleich zu Gymnasiasten ein höheres Risiko, regelmäßig zu rauchen und regelmäßig Alkohol zu trinken (Lampert und Thamm 2007, S. 607). Bewegung Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt für Kinder und Jugendliche körperliche Aktivität von mindestens 60 Minuten am Tag, um verschiedene Krankheiten vorzubeugen sowie das psychische und körperliche Wohlbefinden zu erhöhen. Dieses Ziel wird von mehr als drei Viertel der Mädchen und zwei Dritteln der Jungen in Deutschland nicht erreicht, wobei das Ausmaß der körperlichen Aktivität mit zunehmendem Alter kontinuierlich sinkt; bei den Mädchen noch einmal stärker als bei den Jungen (Finger et al. 2018, S. 28). Auch deuten die Daten der KiGGS-Längsschnitterhebung darauf hin, dass ausreichende Bewegung im Kindes- und Jugendalter eher ab- als zunimmt. Risikoverhalten Ein zunehmendes Risikoverhalten im Jugendalter lässt sich an mehreren Faktoren festmachen. So steigt etwa die Unfallhäufigkeit sowie der Konsum von gesundheitsschädlichen Substanzen. Etwa jede sechste stationäre Krankenhausbehandlung erfolgt aufgrund von Unfällen (Saß et al. 2014, S. 789). Nach den Mortalitätsstatistiken der westlichen Länder gehören Verkehrsunfälle zu den häufigsten Todesursachen von Jugendlichen (GBE 2018). Auch werden erste sexuelle Erfahrungen gesammelt, wobei im Schnitt jeder zwölfte Jugendliche beim ersten Geschlechtsverkehr keine oder unzuverlässige Verhütungsmethoden anwendet. Es wird umso seltener verhütet, je jünger die Jugendlichen sind, je niedriger ihr Bildungsstand ist und je weniger gut sie ihren Partner oder ihre Partnerin kennen. Mit zunehmender sexueller Erfahrung steigt der Anteil derjenigen, die verhüten, aber etwa jeder zwanzigste Jugendliche verhütet weiterhin nicht. Auch hat etwa jeder dritte Jugendliche mindestens schon einmal unsichere Verhütungsmethoden wie den Coitus interruptus praktiziert. Zusammengenommen gaben drei Viertel der 14- bis 17-jährigen jungen Frauen und knapp zwei Drittel der jungen Männer an, dass sie „immer sehr genau“ auf die Verhütung achten (Bode und Heßling 2015). Neben der Gefahr, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu infizieren, besteht bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr ein erhebliches Risiko einer ungewollten Schwangerschaft. Vor dem Hintergrund, dass nahezu jede

471

Schwangerschaft bei unter 18-jährigen Jugendlichen ungewollt ist, viele dieser Schwangerschaften mit einem Schwangerschaftsabbruch beendet werden und sowohl ein Schwangerschaftsabbruch als auch die Übernahme von Erziehungsverantwortung in diesem Alter mit großen psychischen Belastungen einhergehen, bergen sexuelle Aktivitäten im Jugendalter ohne die Anwendung sicherer Verhütungsmethoden ein erhebliches Risiko für das körperliche und psychische Wohlbefinden.

5

Erklärungsansätze

Im folgenden Abschnitt sollen die gesundheitsbezogenen Forschungsergebnisse in jugendsoziologische Diskurse eingeordnet werden und Erklärungsansätze für die veränderte soziale und gesundheitliche Lage auf gesellschaftlicher Ebene diskutiert werden. Hinsichtlich des aktuellen Forschungsstandes lässt sich hier ein Fortgang des methodischen Repertoires, ob in quantitativer oder qualitativer Hinsicht, feststellen. Entsprechend ist im Interesse übergreifenden Erkenntnisgewinns auf die unterschiedlichen methodischen Ansätze zurückzugreifen, um das Wissen sowohl hinsichtlich mikro- als auch makrosoziologischer Erkenntniszustände zu ergänzen. Hierzu werden breit gefächert Studienansätze berücksichtigt, die sich auf Fragen zu jugendspezifischer Lebensführung, Familie, Schule und Peers konzentrieren.

5.1

Gesundheitliche Ungleichheit

In der Kinder- und Jugendgesundheitsforschung ist der Zusammenhang zur sozialen Ungleichheit nicht mehr wegzudenken. Hierzu liegt eine große Zahl an Studienergebnissen vor, die aufzeigen, welche Auswirkungen sozialstrukturelle Faktoren auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen haben. Diskutiert werden einflussreiche Erklärungsfaktoren, die darauf abheben, dass nicht nur medizinische und verhaltensbedingte Faktoren für die gesundheitlichen Probleme verantwortlich sind, sondern signifikant die sozialen Einflussfaktoren (Bildung, berufliche Position, Einkommen) als soziale Gradienten das Krankheitsgeschehen beeinflussen (Lampert et al. 2016). Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Armutsentwicklung in vielen Ländern verweisen diese Befunde auf dringenden Handlungsbedarf.

5.2

Dichte Staffelung der Entwicklungsaufgaben

Eine Erweiterung der bisherig diskutierten Zusammenhänge zwischen Jugend und Gesundheit bilden jugendsoziologisch orientierte Ansätze, die das Forschungsgebiet in den Kontext

472

der Entwicklung der Jugendphase stellen sowie spezifische soziale Lebensbedingungen berücksichtigen. Geht man von der Frage aus, welche Einflüsse den Zusammenhang von Jugend und Gesundheit akzentuieren, dann ist es sinnvoll, zum einen die Besonderheiten der Jugendphase, das Risikoverhalten und die jeweilige Jugendkultur in den Fokus zu nehmen und zum anderen die Rahmenbedingungen des Aufwachsens, den Wandel von Familie sowie Schule und Peerbeziehung näher zu betrachten und jugendliches Gesundheitsverhalten und jugendliche Lebensstile stärker aufeinander zu beziehen (Quenzel 2015). Gerade in der Jugendphase werden die sozialen Umweltbedingungen – außerhalb der Familie – immer wichtiger. Insbesondere die Lebenswelt Schule – mit ihrer jeweiligen Schulkultur und aufgrund der Entscheidungen die hinsichtlich der Bildungskarriere in Schulen gefällt werden – nimmt eine Schlüsselposition im Jugendalter ein und hat großen Einfluss auf das Wohlbefinden (Modin et al. 2011; OECD 2015). So bleibt Schul- und Leistungsstress nicht ohne Auswirkungen auf die Gesundheit. Typisch für die Adoleszenz ist darüber hinaus die Einbindung in Peergroups und Jugendszenen, diese stellen einen zentralen, wenn nicht sogar den wichtigsten, Einflussfaktor für jugendliches Risikoverhalten dar. Spezifische Risikokonstellationen für die gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen, wie Migration, Viktimisierungserfahrungen, Risikoverhalten wären zu betrachten. Ein in den Gesundheitswissenschaften mittlerweile fest etablierter Erklärungsansatz geht davon aus, dass der Einsatz von Hilfsmitteln zur Entspannung funktional für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben ist (Franzkowiak 1986; Hendry und Kloep 2002). Der Konsum von Alkohol lässt sich beispielsweise gleich für die Bewältigung mehrerer Entwicklungsaufgaben nutzen: Durch das Rauscherlebnis können Jugendliche mit Körpererfahrungen experimentieren, sie können sich von den Eltern abgrenzen, Autonomie demonstrieren und Hemmschwellen gegenüber den Peers abbauen (Niekrenz 2011). Gesundheitsförderliche und -gefährdende Verhaltensweisen eignen sich zudem zur interaktiven Aushandlung und Aneignung von Geschlechterrollen. Häufigkeit und auch die Art des Risikoverhaltens variieren stark nach Geschlecht, und zwar umso stärker, je mehr das Risikoverhalten geschlechtlich konnotiert ist. Explizit risikokonnotierte Aktivitäten scheinen sich insbesondere zur Herstellung einer „harten“ Form von Männlichkeit zu eignen; Feminität wird umgekehrt auf der Verhaltensebene nicht selten über die Ablehnung von gesundheitsbelastendem und delinquentem Verhalten, aber auch durch eine eher asketische Esskultur hergestellt (MacArthur et al. 2014; Raithel 2005). In diesem Zusammenhang sind die Peereinflüsse im Jugendalter von hoher Bedeutung, bieten sie doch spezifische Formen der Vergemeinschaftung und sind Träger von Jugendkulturen und -„stilen“. Hier werden zentrale Lebensstilelemente verhandelt und vermischt, wie z. B. die

H. Hackauf und G. Quenzel

Körperstilisierungen und -inszenierungen, Geschlechtsrollen, und konkurrieren tradierte familiale Sozialisationseffekte mit den Vorstellungen der Peers, beispielsweise in Fragen der Ernährung, des Experimentierens mit Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum (Risikoverhalten), um dem gewachsenen Handlungsanforderungen Stand zu halten etc. Die in der Jugend neu zu erprobenden Muster der Lebensführung umfassen auch spezifische Zugänge zu Bewegung, Ernährung, Leiblichkeit und Körperstilisierung (Kolip 1997).

6

Nehmen gesundheitliche Belastungen zu oder verändern sich nur?

Dieser Beitrag stellt einen Versuch dar, eine Brücke zwischen den vorliegenden aktuellen Daten über die gesundheitliche Entwicklung und Risiken von Kindern und Jugendlichen und jugendsoziologischen Deutungen zu schlagen, die die spezifischen Konstellationen der Jugendphase einbezieht. Abschließend wollen wir kurz diskutieren, inwiefern jugendliche Lebensführung neuen psychosozialen Belastungssituationen ausgesetzt ist, wie sie sich beispielsweise aus Schulstress, Schulangst oder auch Gewalterfahrungen in Familie, Peergroup und Schule ergeben können und ganz unterschiedliche Belastungsreaktionen hervorrufen können. Das Jugendalter ist heute durch eine Spannung zwischen gestiegenen Freiheitsgraden, neuen Entfaltungs- und Kreativitätschancen, veränderter Identitätsarbeit und zugleich neuen Belastungen (Entscheidungszwang, Leistungsverdichtung) gekennzeichnet, die eine Herausforderung für die Bewältigungskapazität von Jugendlichen darstellen und die damit auch die Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung gefährden können. Einen weiteren Bezugsrahmen bilden deswegen jugendsoziologisch und gesellschaftstheoretisch akzentuierte Ansätze, die auch die Entwicklungen der Jugendphase selbst sowie die diese begleitenden gesellschaftlichen Veränderungen bespiegeln und diese mit den sozialen und gesundheitlichen Risikokonstellationen in Zusammenhang bringen, d. h. von einer Perspektive ausgehen, die die Besonderheiten der Jugendphase, das Jugendverhalten sowie Risikoverhalten in den Fokus nehmen und das Klima der zunehmenden Unsicherheit in der Gesellschaft (steigende schulische Anforderungen, Umstrukturierung des Ausbildungsmarktes, Digitalisierung von Kommunikationsprozessen, Abnahme handlungsleitender Normen und steigende Eigenverantwortlichkeiten u. a.) thematisieren. Damit soll nicht voreilig von einem Problemzugang ausgegangen werden, wie dieser etwa durch die eindimensionale Bezugnahme auf eine zu enge Gesundheits-/Krankheitsperspektive allein gegeben wäre. Erkenntnisleitend ist hier vielmehr eine offene Perspektive, die zunächst eruiert, welche veränderten Anforderungen an die Jugend durch den sozialen Wandel bestehen und welche Auswirkungen die

40

Diversität von Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendalter

gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen zeitigt, die dann, differenziert nach sozialen Gradienten, geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen, Lebensstilen, Körperstilisierungen, Prävention, Resilienz, Lebenswelten (Familie, Schule, Peers) untersucht werden, um individuelle Bewältigungsmuster aufzuzeigen (Hackauf und Ohlbrecht 2010, S. 9). Obwohl Aussagen darüber, ob die psychosozialen und gesundheitlichen Probleme in der Jugendphase in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben, aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Sensibilität im Hinblick auf verschiedene Krankheitssymptome, der sich verändernder Möglichkeiten in den sozialwissenschaftlichen Erhebungsmethoden und nicht zuletzt aufgrund der verbesserten medizinischen Möglichkeiten der Krankheitsfeststellung nur sehr eingeschränkt möglich sind, gibt es doch eine Reihe von Hinweisen, dass die gesundheitsrelevanten Belastungen in der Lebensphase Jugend zunehmen. So haben sich die psychosozialen Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen daher in den letzten Jahrzehnten verändert. Die gestiegenen Leistungserwartungen nicht nur in den Bildungsinstitutionen, sondern besonders auch in den Familien, die angesichts der Veränderungen der Arbeitswelt auf einen hoch qualifizierten Schulabschluss drängen, belasten viele Kinder und Jugendliche (Hurrelmann 2006; Ohlbrecht 2006, S. 239 f.) und sind Ausdruck eines Symptoms, das Bude (2008, S. 29) als „Statuspanik“ der Mittelschichten beschreibt (Hackauf und Ohlbrecht 2013, S. 6).2 Subjektiv manifestieren sich diese Faktoren in Verunsicherungen, Abstiegs- und Zukunftsängsten, in Überforderungsmomenten und Erfahrungen der Vergeblichkeit. Diese Belastungen können dann, wenn keine adäquaten Bewältigungsmechanismen zur Verfügung stehen, in eine Beeinträchtigung der Gesundheit münden. Leistungsdruck und hohe Erwartungen führen nicht automatisch zu gesundheitlichen Krisen. Treten aber zusätzliche und/oder andere Risiken auf, wie kritische Lebensereignisse, Ressourcendeprivation, mangelnde soziale Unterstützung etc., wirkt sich das auf das Wohlbefinden und die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen negativ aus. Eine Risikogruppe für Gesundheitsbelastungen und riskantes Gesundheitsverhalten bilden besonders die Kinder und Jugendlichen, die den Leistungsanforderungen nicht gerecht werden können und/oder von sozialen Exklusionsprozessen bedroht sind (Hackauf und Ohlbrecht 2013, S. 6).

Familien mit schulpflichtigen Kindern sehen sich als „Verlierer des Systems Schule“ (Henry-Huthmacher et al. 2013, S. 75). Kaum ein anderes Thema wie die Schule dominiert so stark den familiären Alltag und führt hier zu Frustrationen. „Wenn Gymnasialkinder nicht mehr krank werden dürfen (besser nur einen Tag, höchstens zwei bis drei Tage, denn eine Woche Unterrichtsausfall ist nicht mehr aufzuholen), dann zeigt dies den massiven Druck, unter dem Familien heute stehen“ (ebd., S. 75).

2

473

Die hohe und vermutlich steigende gesundheitliche Vulnerabilität im Jugendalter kann also darin begründet sein, dass die ohnehin kritische Statuspassage vom Jugendlichen zum Erwachsenen durch die steigenden Anforderungen im Bildungs- und Ausbildungsbereich, an die soziale Kompetenz und performative Selbstdarstellung, der Zunahme von kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen im Berufseinstieg und einer Zunahme sozialer Ungleichheit, Armut und Exklusionsrisiken unter zusätzlichen Druck geraten ist. Die Frage danach, wie gesundheitsrelevante Lebens- und Verhaltensmuster im Jugendalter entstehen und welche Faktoren diese beeinflussen, ist deswegen auch im Hinblick auf eine zielgruppenorientierte Gesundheitsförderung (z. B. Peergruppenansätze) von zentraler Bedeutung. Wie die Bewältigungskapazität von Jugendlichen gestärkt werden kann und wie es Jugendlichen gelingt, sich auch unter widrigen Bedingungen gesund zu entwickeln, ist Anliegen der Resilienzforschung. In diesem Bereich sind in den letzten Jahren neue Ansätze entstanden, die die spezifischen Bedingungen des Jugendalters, wie Autonomiestreben etc., berücksichtigen und neue Präventionsstrategien verfolgen (Peer Group Counselling vgl. Steinebach und Steinebach 2010, S. 312).

7

Fazit

Fragen der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind von besonderer Bedeutung für die Zukunft einer Gesellschaft. Kinder und Jugendliche symbolisieren die Zukunft der Gesellschaft. Entwicklungen, die in der Kindheit begonnen haben, werden in der Jugend häufig fortgesetzt und wirken ins Erwachsenenalter. In der Beschäftigung mit der Thematik Kindheit – Jugend – Gesundheit spiegeln sich allgemeine gesellschaftliche Trends, die sich hier verdichten und dadurch an Aussagekraft gewinnen. In diesem Zusammenhang sind die Ausgangsbedingungen in den Herkunftsfamilien für die Heranwachsenden in Bezug auf das Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das Gesundheitshandeln, auf Leistungsdruck und erfahrende Anerkennung entweder eine Chance für eine gelingende Anpassung oder eine Blockade. Kinder und Jugendliche aus sozial weniger privilegierten Familien zeigen eine deutliche Beeinträchtigung ihrer psychosozialen Gesundheit und weisen häufiger riskantes Gesundheitsverhalten auf, auch weil es hier oft zu einem Ungleichgewicht von Schutz- und Risikofaktoren in der Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben kommt. Aufgrund unterschiedlicher Sozialisationsbedingungen, angesichts schichtspezifischer Ressourcenausstattung in den Familien und ungleicher Lebenschancen müssen die Kinder und Jugendlichen ihr Verhältnis von „Leibsein und Körperhaben“ (vgl. Plessner 1928) unter neuen Bedingungen als

474

Teil ihrer Identitätsarbeit aktiv und anhand neuer Formate gestalten. Das Wegbrechen von tradierten Orientierungsmustern und vorgelebten Routinen, die Vielfalt an Optionen und die neuen Aushandlungsprozesse in Familien im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung erschweren diesen Prozess zusätzlich.

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Diversität von Gesundheit und Krankheit im Kinder- und Jugendalter

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Behinderung und Gesundheit

41

Tanja Sappok

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3

Behinderung – Definition und Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behinderungsbegriff und Behindertenrechtskonventionen der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verständnis von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behinderungsverständnis im Sozialgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

Prävalenz von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

3

Ursachen von Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

4

Behinderung, Morbidität und Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480

5

Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480

6

Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

7

Ganzheitliche Behandlung bei Menschen mit geistiger Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482

8

Therapeutische Relevanz bei Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483

477 477 477 478

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

1

Behinderung – Definition und Begriffsbestimmung

Maßnahmen Menschen mit Behinderungen den Zugang zu gesundheitlichen Versorgungsstrukturen zu gewährleisten.

1.1

Behinderungsbegriff und Behindertenrechtskonventionen der Vereinten Nationen

" Definition Behinderung nach UN Nach Artikel 1 der

Im Dezember 2006 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die UN-Behindertenrechtskonvention (Convention on the Rights of Persons with Disabilities), die im März 2007 von Deutschland unterschrieben und im Februar 2009 ratifiziert worden ist. Artikel 25 der Konvention beschreibt, dass Personen mit Behinderungen das Recht auf den höchstmöglichen Gesundheitszustand haben und nicht aufgrund der Behinderung diskriminiert werden dürfen. Die teilnehmenden Staaten verpflichten sich, durch angemessene

T. Sappok (*) Königin Elisabeth Herzberge, Evangelisches Krankenhaus, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Behindertenrechtskonvention versteht man unter einer Behinderung eine körperliche, seelische, geistige oder sensorische Beeinträchtigung, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Personenkreis an der vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft auf einer gleichberechtigten Basis hindert (UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 1 2006).

1.2

Verständnis von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001b) favorisiert in der „International Classification of Functioning“ (ICF) ein integratives Modell von Behinderung, wobei eine Synthese des medizinischen Modells von Behinderung (störungsbedingtes Problem einer einzelnen Person) und des sozialen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_44

477

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T. Sappok

Modells (Behinderung als gesellschaftlich verursachtes Problem) hergestellt wird. In der gesundheitlichen Versorgung von Personen mit Behinderung geht es daher nicht allein um die Behandlung der Störung, sondern – im Sinne von „Barrierefreiheit“ – auch um die Anpassung der Umwelt. Behinderung ist somit nicht etwas, was allein den Einzelnen betrifft („behindert sein“), sondern daneben in einem privaten und gesellschaftlichen Kontext zu sehen ist („behindert werden“). In der Betaversion der voraussichtlich 2018 erscheinenden „Internationalen Klassifikation von Krankheiten“ (ICD-11) der WHO wird der Begriff der geistigen Behinderung (6A00: disorders of intellectual development; Störungen der intellektuellen Entwicklung) als Subgruppe der neurodevelopmental disorders konzeptualisiert und folgendermaßen definiert1: " Definition geistige Behinderung nach WHO „Störungen

der intellektuellen Entwicklung sind eine Gruppe von ätiologisch unterschiedlichen Gesundheitszuständen, die während der Entwicklungsperiode entstehen und gekennzeichnet sind durch ein signifikant unterdurchschnittliches intellektuelles Funktionsniveau und adaptives Verhalten, das – erfasst mit angemessenen, normierten, individuell angewandten, standardisierten Testverfahren – etwa zwei oder mehr Standardabweichungen unterdurchschnittlich ist. Wo angemessen normierte, individuell angewandte standardisierte Testverfahren nicht verfügbar sind, benötigt die Diagnose einer intellektuellen Entwicklungsstörung eine größere Verlässlichkeit des klinischen Urteils, das auf eine angemessene Erhebung vergleichbarer Verhaltensmarker basiert.“ Ergänzend zum Behindertenbegriff der ICF (s. o.) hat die WHO damit die „geistige Behinderung“ als „intellektuelle Entwicklungsstörung“ im ICD-11 beibehalten, um intellektuell-kognitive Beeinträchtigungen des „Gesundheitszustand“ zu beschreiben. Ziel der WHO war, im Klassifikationssystem von Krankheiten (ICD) eine medizinische Kategorie für „geistige Behinderung“ vorzuhalten, über die sich dann auch Leistungsansprüche z. B. aus Gesundheitskassen abbilden lassen.

" Definition Behinderung nach SGB IX „Menschen mit

Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“ Als schwerbehindert gelten Personen, denen vom Versorgungsamt ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt wird. Nicht alle Menschen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf staatliche Hilfe. Der Leistungsanspruch auf Eingliederungshilfe wird im neuen Bundesteilhabegesetz (§ 99 SGB IX2023) Personen gewährt, „deren Beeinträchtigungen die Folge einer Schädigung der Körperfunktion und -struktur einschließlich der geistigen und seelischen Funktionen sind und die dadurch in Wechselwirkung mit den Barrieren in erheblichem Maße in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind.“ Behinderung ist somit nicht nur auf individueller Ebene als eine dauerhafte Funktionseinschränkung einzelner Personen, sondern immer auch im Kontext des Lebensumfelds zu verstehen. Diese Betrachtungsweise führt zu einem gesamtgesellschaftlichen Auftrag, Rahmenbedingungen zu schaffen, so dass alle Mitglieder der Gesellschaft selbstbestimmt, unabhängig und entsprechend der persönlichen Vorstellungen, Werte und Fähigkeiten und das eigene Leben als Teil der Gemeinschaft gestalten können. Gerade die im Gesundheitswesen Tätigen sollten daher den Zugang zu ihren Versorgungsangeboten und eine qualitativ hochwertige medizinische Behandlung ermöglichen.

2 1.3

Behinderungsverständnis im Sozialgesetzbuch

Im Sozialgesetzbuch (SGB) IX sind die Rechte zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Deutschland geregelt. § 2 des Sozialgesetzbuchs IX (2018) greift den Behindertenbegriff der Vereinten Nationen auf:

Die Begriffe „intellektuelle Entwicklungsstörung“, „Intelligenzminderung“, „geistige Behinderung“ oder „kognitive Beeinträchtigung“ werden synonym verwendet.

1

Prävalenz von Behinderung

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren 2013 in Deutschland 9,4 % der Bevölkerung schwerbehindert. Davon lag in 62 % eine körperliche Schwerbehinderung vor, in 11 % eine geistige oder seelische Schwerbehinderung und in 9 % eine zerebrale Ursache. Bei 24 % der schwerbehinderten Menschen wurde der höchste Grad der Behinderung von 100 % anerkannt. Eine geistige Behinderung liegt nach Angaben der WHO (2001a) in industrialisierten Ländern bei ca. 1 % der Bevölkerung vor, wobei bei ca. 0,3 % eine mittelschwere bis schwerste Form der geistigen Behinderung diagnostiziert wird.

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Die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung nimmt insgesamt zu (Dieckmann und Metzler 2013). Dies führt neben anderen Faktoren zu einer steigenden Prävalenz von Menschen mit Behinderung, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2014) allein zwischen 2009 und 2013 um 7 %. Die veränderte Altersstruktur und die damit verbundenen Krankheitsbilder stellen die medizinischen Versorgungsysteme vor neue Herausforderungen, z. B. in Bezug auf die Diagnostik und Therapie von Demenzen, aber auch hinsichtlich anderer relevanter Alterserkrankungen.

3

Ursachen von Behinderung

Eine Entwicklungsstörung kann durch exogene Faktoren bedingt sein, z. B. durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, intrauterine oder perinatale Infektionen, Geburtskomplikationen, Stoffwechselstörungen wie z. B. eine Hypothyreose, oder durch extreme Mangelernährung. Bei der Lernbehinderung und leichten geistigen Behinderung finden sich häufig soziokulturelle Ursachen im unmittelbaren Lebensumfeld der Heranwachsenden. In Industrieländern ist die Mehrzahl von Entwicklungsstörungen jedoch genetisch bedingt, wobei sowohl (mikro-) chromosomale (ca. 20 %) als auch monogenetische (ca. 30–40 %) Ursachen bekannt sind (Zweier 2018b; Vissers et al. 2016).

Grundbegriffe der Genetik

• Autosomal dominant: ein auf einem Chromosom verändertes Gen führt zur Merkmalsausprägung und setzt sich damit gegenüber dem entsprechenden Gen auf dem homologen Chromosom (Allel) durch • Autosomal rezessiv: Ein Merkmal wird nur dann ausgeprägt, wenn die genetische Veränderung auf beiden (homologen) Chromosomen vorliegt • Chromosomal: die Chromosomen betreffend • De-novo Mutation: Neumutation • Deletion: Verlust (genetischen) Materials • Duplikation: Verdopplung (von Chromosomen) • Exogen: von außen kommend, äußere • Exom: Proteinkodierende Abschnitte der Gene • Intrauterin: im Mutterleib, in der Gebärmutter • Mikrochromosomal: einen Abschnitt auf den Chromosomen betreffend; dieser Abschnitt umfasst mehrere, häufig viele verschiedene Gene • Monogenetisch: nur rein Gen betreffend • Monosomie: nur ein (anstelle von zwei) Chromosom liegt vor (Fortsetzung)

• Next-Generation-Sequenzierung: massive, parallelisierte Sequenzierung, daher können große Sequenzmengen gleichzeitig analysiert werden, dazu werden in der Regel bestimmte genetische Regionen angereichert • Partiell: teilweise • Perinatal: kurz vor, während oder kurz nach der Geburt; um die Geburt herum • Prävalenz: Krankheitshäufigkeit; Anteil der Menschen (einer bestimmten Bevölkerungsgruppe), die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer Krankheit erkrankt sind • Sanger-Sequenzierung: Exomanalyse von ausgewählten Genen. Früher Goldstandard, jetzt nach und nach von Next-Generation-Sequenzierung abgelöst. • Sequenzierung: Bestimmung der Basenabfolge innerhalb von genetischem Material (DNA).

Bei chromosomalen Veränderungen werden sowohl der Verlust (Deletion; (partielle) Monosomie) als auch der Zugewinn (Duplikation; (partielle) Trisomie) chromosomalen Materials beschrieben. Solche Deletionen oder Duplikationen enthalten mehrere, bis hin zu über hundert Genen. Neben chromosomalen Veränderungen können auch Mutationen innerhalb eines einzelnen Gens auftreten. Bei diesen monogenetischen Störungsbildern werden als Ursache für eine geistige Behinderung besonders häufig de novo, d. h. Neumutationen gefunden, deren Prävalenz mit dem Lebensalter des Vaters ansteigen (Vissers et al. 2016). Mittlerweile sind über 1000 Gene und knapp 800 Kandidatengene bekannt, die mit einer geistigen Behinderung vergesellschaftet sind (http://sysid.cmbi.umcn.nl/table/overview. Zugegriffen am 19.02.2018), ca. zwei Drittel davon werden autosomalrezessiv, knapp ein Drittel autosomal-dominant (überwiegend Neumutationen) und ca. 10 % x-chromosomal vererbt. Chromosomale Veränderungen können durch eine Chromosomenanalyse oder einen Array bei mikrochromosomalen Veränderungen abgeklärt werden. Bei einem spezifischen Verdacht können einzelne Gene gezielt sequenziert werden, z. B. mit Hilfe einer Sanger-Sequenzierung, wobei jedoch nur weniger als 5 % der genetischen Ursachen gefunden werden (Zweier 2018a). Die Next-Generation-Sequenzierung des gesamten Exoms, d. h. der eiweißkodierenden Bereiche, hat mit ca. 40 % eine wesentlich höhere Detektionsrate, da sich hier auch Mutationen in einem von vielen möglichen Genen aufdecken lassen (Deciphering Developmental Disorders 2017). Die Ursachenanalyse von Entwicklungsstörungen kann wichtige Hinweise für die Prognose, sinnvolle Präventionsuntersuchungen und teilweise spezifische Therapiemaßnah-

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men geben. Darüber hinaus bedeutet die Abklärung eines genetischen Defekts oft eine Entlastung für die betroffenen Eltern und kann Hinweise in Bezug auf das Wiederholungsrisiko geben.

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Behinderung, Morbidität und Mortalität

Intellektuelle Entwicklung und psychische Gesundheit sind eigenständige Phänomene. Das bedeutet, dass man unabhängig vom Vorliegen einer intellektuellen Entwicklungsstörung psychisch gesund sein oder krank werden kann. Aus der geistigen Behinderung ergibt sich in der Regel ein Unterstützungsbedarf in Bezug auf Bildung, Bewältigung der Alltagsanforderungen und sozialer Teilhabefähigkeit. Diese funktionalen Fähigkeiten können im Entwicklungsverlauf gefördert und ausgebaut werden. Personen mit einer geistigen Behinderung können ein ausgefülltes, glückliches Leben führen, solange keine psychische Erkrankung im engeren Sinne vorliegt und sich die eigenen Fähigkeiten und die Anforderungen des Lebens in einer Balance befinden. Menschen mit geistigen und komplexen Mehrfachbehinderungen sind jedoch eine hochvulnerable Bevölkerungsgruppe, da das Risiko für körperliche und psychische Krankheitsbilder (Mortalität; Krankheitshäufigkeit) deutlich erhöht ist (Cooper et al. 2007; Sappok und Diefenbacher 2017). Die Lebenserwartung ist reduziert und die Mortalität, also die Sterblichkeit, erhöht (Bittles et al. 2002; Patja et al. 2000). Nach Angaben der WHO erkranken Menschen mit geistiger Behinderung 3- bis 4-mal häufiger an psychischen Störungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (Dilling et al. 2011). Aktuelle populationsbasierte Studien in Großbritannien zeigen eine Prävalenz für psychische Störungen im engeren Sinne von gut 20 % (Cooper et al. 2007; Sheehan et al. 2015). Dabei finden sich insbesondere affektive Störungen (7–11 %), psychotische Störungen (ca. 4 %) und Angststörungen (4–6 %), aber auch ADHS (ca. 1,5 %), Demenzen (ca. 1 %), Substanzabhängigkeiten (ca. 1 %), Zwangsstörungen (ca. 0,7 %) oder Persönlichkeitsstörungen (ca. 1 %). Darüber hinaus treten Autismus-Spektrum-Störungen mit 7,5–15 % und – häufig übersehen – Traumafolgestörungen vermehrt auf. Etwa genauso häufig wurden in diesen bevölkerungsbasierten Prävalenzstudien schwerwiegende Verhaltensstörungen festgestellt (23–25 %; Cooper et al. 2007; Sheehan et al. 2015). Darunter versteht man nach Emerson und Bromley (1995) „kulturell ungewöhnliches Verhalten von derartiger Intensität, Häufigkeit und Dauer, dass entweder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder anderer Personen ernsthaft gefährdet ist“ oder „dem Betroffenen die Nutzung öffentlicher Einrichtungen erheblich erschwert oder verweigert wird“ (Emerson und Bromley 1995). Verhaltensstörungen treten somit häufig auf und beeinträchtigen die Lebens-

qualität und Teilhabefähigkeit von Betroffenen erheblich. Trotz der Assoziation von Verhaltensstörungen mit psychischen Erkrankungen sind diese beiden Störungsbilder in Bezug auf die diagnostische Klassifikation und therapeutische Implikation separiert zu betrachten (Dilling et al. 2011). Neben psychischen Erkrankungen treten körperliche Erkrankungen vermehrt auf, z. B. Epilepsien, wobei die Häufigkeit mit dem Schweregrad der IM zunimmt: In der Allgemeinbevölkerung findet man bei ca. 0,5 % eine Epilepsie, bei leichter bis mittelgradiger Intelligenzminderung steigt die Prävalenz auf etwa 15 % und bei schwer bis schwerster Intelligenzminderung sogar auf ca. 30–50 % an (Robertson et al. 2015). Neben Epilepsien finden sich weitere körperliche Krankheiten, z. B. Osteoporose, Bewegungsstörungen (z. B. Zerebralparesen), Übergewicht, gastrointestinale Störungen, insbesondere Darmmotilitätsstörungen und Hyperlipidämie (Tyler et al. 2010; Traci et al. 2002; Franke et al. 2017). Menschen mit Behinderungen haben deutlich häufiger chronische Schmerzzustände, z. B. bei Zerebralparesen oder dem Rett-Syndrom (Walsh et al. 2011; Engel und Kartin 2006; Martin 2017). Diese äußern sich nicht nur in Verhaltensauffälligkeiten, sondern reduzieren auch die Lebensqualität erheblich (Carr und Owen-Deschryver 2007; Walsh et al. 2011). Eine umfassende Schmerzdiagnostik und ggf. probatorische Behandlung mit einem Analgetikum gehört daher zum Standard in der Behandlung von Menschen mit Behinderungen (Walter-Fränkel 2018).

5

Fallbeispiel

Frau Meyer ist 41 Jahre alt, hat eine schwerste geistige Behinderung (F73) und lebt in einer Wohnstätte der Behindertenhilfe. Tagsüber besucht sie eine Fördergruppe. Frau Meyer kann nicht sprechen, jedoch lautiert sie manchmal. Sie scheint verbale Ansprache nicht zu verstehen, reagiert aber auf verschiedene Stimmlagen bzw. Stimmmelodien, indem sie z. B. den Kopf hin- oder wegdreht. Wegen einer Tetraspastik (G80.1) sitzt Frau Meyer tagsüber in einem Rollstuhl, wobei der Kopf von einer Kopfstütze gehalten werden muss. In den letzten 3 Monaten hatte die ohnehin untergewichtige Person weitere 10 kg abgenommen. Sie litt schon seit Jahren unter Verstopfung, hat sich aber in den letzten Monaten verändert, da sie weniger lachte, sich weniger für ihr Spielzeug interessierte und insgesamt trauriger wirkte. Die medizinische Ursachenanalyse beinhaltete eine umfassende internistische Diagnostik (Labor, körperliche Untersuchung, Ultraschall, Gastroskopie, Schmerzanalyse) und psychiatrische Diagnostik. Diese Untersuchungen ergaben eine schmerzhafte Obstipation, eine Depression wurde ausgeschlossen. Therapeutisch wurde neben diätetischen und abführenden Maßnahmen auch physiotherapeutische Angebote gemacht, die

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Behinderung und Gesundheit

Antispastika optimiert und ein pädagogisches Rahmenkonzept erstellt, das auf dem emotionalen Entwicklungsstand der Betroffenen basiert. Daneben waren Massagen, Snoezelen, Musiktherapie und basale Stimulation hilfreich. Nach der Behandlung der Obstipation besserten sich die Schmerzen und das körperliche Wohlbefinden. Frau Meyer war daraufhin wieder entspannt und lächelte hin und wieder. Sukzessive nahm sie wieder zu und das Körpergewicht stabilisierte sich. Die Information und Anleitung der Bezugspersonen hatten einen zentralen Stellenwert im Behandlungsprozess.

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Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung

Der Gesundheitszustand von Menschen mit Behinderungen ist insgesamt schlechter und der Zugang zur medizinischen Grundversorgung erschwert (Havercamp et al. 2004; Cooper et al. 2004). Krankheitsbilder und mit der Behinderung verbundene Einschränkungen können sich überlagern und sind zum Teil nur schwer zu differenzieren. Darüber hinaus weichen die Krankheitsbilder und -verläufe oftmals von denen nicht behinderter Menschen ab. Generell wächst die diagnostische Herausforderung mit dem Schweregrad der geistigen Behinderung. Die Ausdrucksmöglichkeiten, insbesondere die verbalen Fähigkeiten, sind bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung häufig reduziert. Dadurch können sie ihre Beschwerden nicht mitteilen und Erkrankungen werden nicht erkannt („underreporting“) oder fehlinterpretiert: Alle denkbaren körperlichen Erkrankungen können sich im Gewand einer psychischen Störung oder Verhaltensauffälligkeit präsentieren. Auffällige Verhaltensmuster werden häufig als „normal“, „zur geistigen Behinderung gehörend“ erachtet („diagnostic overshadowing“, Reiss und Szyszko 1983). Durch die oft eingeschränkten sozialen Fähigkeiten präsentieren sich psychiatrische Symptome u. U. andersartig oder stark vereinfacht („psychosocial masking“). Vielen Menschen mit geistiger Behinderung fällt es schwer, die einströmenden Reize in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen („cognitive disintegration“; Schmidt 2007). Die Lebensbedingungen, insbesondere Änderungen in der Alltagstruktur oder traumatisierende Erfahrungen im Lebenslauf führen u. U. zum Ausbruch von psychischen Erkrankungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Häufig stehen weniger Bewältigungsstrategien („Coping“) zur Verfügung und die Introspektions- und Reflexionsfähigkeiten sind reduziert. Zusätzliche körperliche Erkrankungen (Spastik, Epilepsie) beeinträchtigen das körperliche und seelische Wohlbefinden und schränken z. B. Sportaktivitäten zur Stressbewältigung ein. Das soziale Netzwerk ist gegenüber nicht behinderten Menschen verändert: Einige leben auch im Erwachsenenalter noch im Elternhaus, viele leben in therapeutischen Wohngemeinschaften oder vollstationären Wohneinrichtungen zusammen mit anderen Menschen, die

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sie sich nicht selbst ausgesucht haben. Verschiedene häufige Krankheitsbilder wie z. B. Autismus oder Syndrom assoziierte psychische Störungen sind nicht regelhafter Bestandteil in der ärztlichen, pflegerischen oder therapeutischen Ausbildung und werden dadurch unter Umständen nicht erkannt. Diese besonderen Bedingungen erhöhen die Vulnerabilität für psychische und körperliche Erkrankungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten, erschweren die Diagnostik und Therapie und erfordern eine komplexe, spezialisierte, fachkompetente Beurteilung und Behandlung. Diagnostische Wege und therapeutisches Handeln in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit komplexen Mehrfachbehinderungen müssen in vielen Punkten auf andere Weise gestaltet werden, als es die jeweils gleiche Erkrankung bei einem Patienten ohne geistige Behinderung erfordern würde. Abgesehen von einem barrierefreien Praxiszugang bedarf die Diagnostik und Therapie von Patienten mit komplexen Behinderungen einer fachlichen Spezialisierung z. B. in Hinblick auf genetische Syndrome oder seltene Krankheitsbilder und eines koordinierten und interdisziplinären Vorgehens. Diesen besonderen Bedarfen und einem ressourcenorientierten Fallmanagement können im gegenwärtigen Regelversorgungssystem aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend Rechnung getragen werden – dies trifft insbesondere auf die Versorgung Erwachsener mit Mehrfachbehinderungen zu (Seidel und Fricke 2013; Steffen und Blum 2015). Der Mangel an gut vorbereiteten Krankenhäusern, Ärzten und Therapeuten in Bezug auf die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung war Thema des deutschen Ärztetages in den Jahren 2009 und 2010. Als zentrale Problemfelder wurden die Symptomerkennung und Diagnosestellung, Umgang und Kommunikation sowie die Barrierefreiheit identifiziert, die auch im Teilhabebericht der Bundesregierung kritisch dargestellt wird. Die Ursachen liegen in den fachlichen, organisatorischen und strukturellen Bedingungen des medizinischen Regelversorgungssystems in Deutschland. Mit § 119c hat der Gesetzgeber die Gründung von Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) ermöglicht. Gegenwärtig befinden sich zahlreiche MZEBs in Gründung, einige sind schon in Betrieb genommen worden, um den oben beschriebenen Versorgungsdefiziten entgegenzuwirken.

Praktische Hinweise für die Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung

• Leichte, klare Sprache verwenden (vgl. „Mensch zuerst“ 2008) • Schachtel- und Nebensätze meiden • Vom Patienten verwendete Worte/Formulierungen verwenden (Fortsetzung)

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• • • • • • • •

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Zeit zum Antworten geben (6-Sekunden-Regel!) Bezugspersonen als „Übersetzer“ einbeziehen Metaphern und Ironie meiden Verneinungen vermeiden (z. B. „leise sprechen“ anstelle von „nicht schreien“) Verständnis überprüfen Nonverbaler Kommunikationsmittel einsetzen, z. B. Piktogramme, Fotos, Objekte Vormachen Spielerisch vorgehen, z. B. selbst abhören lassen; Kuscheltier „verarzten“

Ganzheitliche Behandlung bei Menschen mit geistiger Behinderung

Die medizinische Arbeit basiert auf der sorgfältigen Anamnese und psychischen wie körperlichen Befunderhebung. Im Sinne des ganzheitlichen Behandlungsansatzes ist dazu eine vertrauensvolle, wertschätzende, konstruktive Zusammenarbeit mit den wesentlichen Bezugspersonen und den verschiedenen Lebenswelten (Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Familie) der Patienten zentral. Die fundierte Ursachenabklärung ist insbesondere bei Menschen herausfordernd, die Schwierigkeiten haben, selbst über sich und die Gründe ihrer Vorstellung zu berichten. Grundlage ist dabei das biopsychosoziale Krankheitsmodell, welches entsprechend den Leitlinien nationaler und internationaler Fachgesellschaften um den emotionalen Entwicklungsaspekt, die sog. 4. Dimension, erweitert wurde (Sappok und Diefenbacher 2017; Gardner et al. 2006; NICE Leitlinien 2015, 2016; AWMF-S2 S2-Leitlinien 2014; Canadian Guidelines 2011). Die emotionale Entwicklungsdiagnostik gibt Einblicke in das innere Erleben des Patienten (Sappok und Zepperitz 2016, 2018). Basierend auf dem emotionalen und kognitiven Entwicklungsstand werden gezeigte Verhaltensweisen verständlich und international gebräuchliche Diagnosesysteme anwendbar. Mit Hilfe einer Verhaltensanalyse können gezeigte Verhaltensweisen systematisch erfasst und ausgewertet werden (Sappok und Feuerherd 2018). Standardisierte, spezifisch für Menschen mit geistiger Behinderung entwickelte oder angepasste Untersuchungsinstrumente ermöglichen eine qualitativ hochwertige Abklärung einzelner Krankheitsbilder z. B. für Autismus, Demenz oder Epilepsien. Dabei können spezifische Skalen, z. B. der Diagnostische Beobachtungsbogen für Autismus-Spektrum-Störungen – Revidiert (DIBAS-R; Sappok et al. 2015) oder die Skala der emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEED; Sappok et al. 2018), eingesetzt werden. Komplexe Diagnosen, z. B. bei chronischen Schmerzzuständen, Bewegungsstörungen, Essstörungen oder Epilepsien

kombiniert mit psychischen Erkrankungen, erfordern ein interdisziplinäres Vorgehen und den Einsatz von Fallkonferenzen (Bergmann et al. 2016; Walter-Fränkel 2018). Im Rahmen von Fallkonferenzen können darüber hinaus die medizinische, therapeutische und psychosoziale Unterstützung koordiniert und Potenziale für eine teilhabeorientierte Versorgung erschlossen werden. Das Vorgehen bei der medizinischen Vorstellung von Menschen mit geistiger Behinderung wird in Abb. 1 gezeigt. Die Person stellt sich aufgrund einer bestimmten Problemkonstellation oder eines auffälligen Verhaltens vor (1. Zeile in Abb. 1). Das Verhalten wird auf der Basis des individuellen emotionalen und kognitiven Entwicklungsstands analysiert (2. Zeile in Abb. 1). Der Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung und der emotionale Entwicklungsstand sind ausschlaggebend für die Art und Weise, wie und welche Symptome präsentiert werden. Das, was für die jeweilige Person als „normales“ Verhalten zu erwarten ist, hängt also von der kognitiven Beeinträchtigung und dem emotionalen Entwicklungsstand ab (intraindividuelle Normalität). Standardisierte Untersuchungsinstrumente wie die Disability Assessment Scale der WHO (DAS; Holmes et al. 1982, Meins und Süssmann 1993), standardisierte Leistungstests (Sappok 2018a) und die Skala der Emotionalen Entwicklung: Diagnostik (SEED; Sappok et al. 2016, 2018) ermöglichen eine genauere diagnostische Einordnung. Bestimmte Krankheitsbilder sind bei einem höheren Schweregrad der geistigen Behinderung häufiger bzw. seltener: Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS sind bei einem höheren Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung häufiger (Sappok et al. 2010), während psychotische Störungen, Substanzabhängigkeiten oder Angststörungen seltener werden (Cooper et al. 2007). Die Symptomatik stellt sich in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand andersartig dar, z. B. in Bezug auf die Aggressionsregulation: Während Menschen mit einem emotionalen Entwicklungsstand von ca. 6 Monaten häufig selbstverletzendes Verhalten zeigen, tritt bei einem emotionalen Entwicklungsstand von ca. einem Jahr überwiegend fremd- und sachaggressives Verhalten auf und ab einem emotionalen Entwicklungsstand von ca. 3 Jahren wird zunehmend verbal aggressives Verhalten beobachtet (Sappok et al. 2012). Bei der diagnostischen Abklärung sollte daher das gezeigte Verhalten bzw. die geschilderten Beschwerden auf der Basis des intellektuellen und emotionalen Entwicklungsstands beurteilt werden. Anschließend wird die Symptomatik anhand des biopsychosozialen Krankheitsmodells eingeordnet (vgl. Abb. 1) in • körperliche Krankheiten, • psychische Störungen und • Verhaltensstörungen. Diese drei Hauptkategorien können, müssen aber nicht gleichzeitig vorliegen. Neben auch in der Allgemeinbevöl-

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Abb. 1 Einordnung der Symptomatik in körperliche, psychische bzw. Verhaltensstörungen anhand des biopsychosozialen Krankheitsmodells. Modifiziert nach Sappok 2018b. Mit freundlicher Genehmigung des Kohlhammer-Verlags

Ein auffälliges Verhalten führt zu Vorstellung beim Arzt Wie ist der kognive bzw. emoonale Entwicklungsstand? Körperliche Krankheit?        

    

Schmerzen Magen-Darm Motorik Epilepsie Metabolische Erkrankungen  ....

Psychische Störung (ICD)?

Verhaltensstörung?

Demenzen Abhängigkeit Schizophrenien Affekve Störung Zwangsstörung Angststörung PTBS Persönlichkeitsstörungen

 Umfeld assoziiert  entwicklungsassoziiert *  Genesch i. S. von Verhaltensphänotyp

*Autismus-Spektrum-Störungen, ADHS, emotionale Entwicklungsstörungen, Entwicklungstraumastörungen, Bindungsstörungen

kerung üblichen körperlichen Krankheitsbildern (1. Säule; z. B. Zahnschmerzen) treten andere körperliche Krankheitsbilder häufiger auf (s. o.). Die Diagnostik psychischer Störungen (2. Säule) im engeren Sinne ist herausfordernd. Die in der Allgemeinpsychiatrie üblichen operationalisierten Klassifikationssysteme (DSM-5, ICD-10) können wegen der besonderen Erscheinungsformen psychischer Symptome bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung oft nur eingeschränkt eingesetzt werden. Spezifische Manuale mit adaptierten Diagnosekriterien sind an diesen operationalisierten Klassifikationssystemen orientiert, z. B. das Diagnostic Manual – Intellectual Disability (DM-ID 2; Fletcher et al. 2017) oder die Diagnostic criteria for psychiatric disorders for use with adults with learning disabilities/mental retardation (DC-LD; Royal College of Psychiatrists 2001). Sind körperliche oder psychische Erkrankungen ausgeschlossen bzw. erklärt sich die gezeigte Symptomatik dadurch nicht hinreichend, kann eine Verhaltensstörung (3. Säule) vorliegen. Diese kann vielfältigste Ursachen haben, z. B. Umfeld assoziierte Faktoren (z. B. Betreuerwechsel, belastende Konflikte, Verluste), Entwicklungsaspekte (Entwicklungstraumastörungen, emotionale Entwicklungsstörungen oder Entwicklungsdiskrepanzen) oder ein Verhaltensphänotyp im Rahmen eines bestimmten genetischen Syndroms. Darunter versteht man Verhaltensweisen, die typischerweise mit einem bestimmten genetischen Syndrom vergesellschaftet sind.

8

Therapeutische Relevanz bei Behinderung

Körperliche und psychische Erkrankungen werden nach denselben Grundsätzen behandelt wie bei Menschen ohne Behinderung. Dies beinhaltet neben der ausführlichen Aufklärung des Patienten und seines Lebensumfelds in leichter Sprache („Mensch zuerst“ 2008) ein regelmäßiges drug monitoring inklusive Beachtung potenzieller Nebenwirkungen und Interaktionen. Spezifische Aspekte für die Behandlung psychischer Erkrankungen sind in verschiedenen Leitlinien beschrieben, z. B. in den NICE Guidelines 54 und 11 (NICE Guideline 2015, 2016), den S2-AWMF-Leitlinien (2014), den kanadischen Leitlinien (2011) oder den Praxisleitlinien der Sektion „Psychiatry of Intellectual Disability“ der World Psychiatry Association (WPA; Gardner et al. 2006; deutsche Version vgl. Seidel 2012). Auf der Grundlage der erhobenen Befunde wird gemeinsam mit dem Patienten und dem Helfersystem ein bedarfsgerechter, zielorientierter Gesamtbehandlungsplan erarbeitet, der die unterschiedlichen Störungsebenen (bio-psycho-sozio-emotional) einbezieht. Dabei werden die Patienten als kompetente, in ihre Umgebung eng verflochtene Personen betrachtet. Das medizinische Konzept ist geprägt von einem ganzheitlichen und individuellen Ansatz, der die Menschen in ihren jeweiligen Lebensbezügen sieht. Dazu sind spezielle Settings und Arrangements in der Organisation, Zeitressourcen und Personal- und

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Fachrichtungszusammensetzung nötig, die einen barrierefreien Zugang zur medizinischen Versorgung ermöglichen. Betreuung durch Ärzte und Therapeuten mit speziellem Wissen und Ausbildungshintergrund sowie Kommunikations- und Handlungskompetenzen sind bei dieser besonderen Patientengruppe sinnvoll. Besonderheiten bei therapeutischen Maßnahmen, z. B. in Bezug auf die erhöhte Nebenwirkungsrate von Psychopharmaka, sind zu berücksichtigen. Die besonderen Bedingungen des individuellen Wohn- und Arbeitsumfelds bei der Entscheidung zu Fragen der Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Ausstattung mit orthopädischen und Reha-Hilfsmitteln sind zu berücksichtigen. Psychopharmakologisch ist aufgrund der erhöhten Vulnerabilität des vorgeschädigten Gehirns das Prinzip aim low, go slow sinnvoll, also eine langsamere Aufdosierung bei geringerer Zieldosis. Polypharmazie und Off-Label-Gebrauch sollten vermieden werden. Aber auch nicht-medikamentös gibt es zahlreiche Therapiemöglichkeiten, die allgemeinpsychiatrisch eine geringere Relevanz haben (z. B. der TEACCH-Ansatz bei Autismus-Spektrum-Störungen) bzw. spezifisch für Menschen adaptiert worden sind (z. B. Kunstund Musiktherapie). Diese sollten ausgeschöpft bzw. ergänzend zur psychopharmakologischen Behandlung angewandt werden. Psychotherapeutische Ansätze wie z. B. die Dialektisch behaviorale Therapie (DBT) oder Tokenkonzepte können – an die Lerngeschwindigkeit angepasst – angewandt werden (Barrett 2018; Sappok und Feuerherd 2018). Bei Menschen mit schwerer intellektueller Beeinträchtigung sind eher entwicklungsbasierte Methoden wie z. B. entwicklungspädagogisches Arbeiten, Bindungs- und Mentalisierungsansätze vielversprechend (Sappok und Zepperitz 2018; Sappok 2018).

Literatur AWMF Leitlinie (2014) S2k: Praxisleitlinie Intelligenzminderung. AWMF-Register Nr. 028-042. http://www.awmf.org/uploads/tx_ szleitlinien/028-042l_S2k_Intelligenzminderung_2014-12.pdf. Zugegriffen am 14.10.2017 Barrett B (2018) Dialektisch behaviorale Therapie. In: Sappok T (Hrsg) Co-Production: Ein Lehrbuch zur psychischen Gesundheit bei intellektueller Entwicklungsstörung. Kohlhammer, Stuttgart Bergmann T, Diefenbacher A, Heinrich M, Riedel A, Sappok T (2016) Perspektivenverschränkung: Multiprofessionelle Autismusdiagnostik bei erwachsenen Menschen mit Intelligenzminderung. Z Psychiatr Psychol Psychother 64(4):257–267 Bittles AH, Petterson BA, Sullivan SG, Hussain R, Glasson EJ, Montgomery PD (2002) The influence of intellectual disability on life expectancy. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 57:M470–M472 Canadian Consensus Guidelines (2011) Primary care of adults with developmental disabilities. Can Fam Physician 57:541–553 Carr EG, Owen-Deschryver JS (2007) Physical illness, pain, and problem behavior in minimally verbal people with developmental disabilities. J Autism Dev Disord 37(3):413–424 Cooper SA, Melville C, Morisson J (2004) People with intellectual disabilities. BMJ 329:414–415

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Behinderung und Gesundheit

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Arbeitslosigkeit und Gesundheit

42

Karsten I. Paul und Andrea Zechmann

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

2

Definition von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Konsequenzen von Arbeitslosigkeit für die psychische Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haupteffekte von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderatoren des Effekts von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitslosigkeit als Ursache oder Wirkung psychischen Leidens? Die Kausalitätsfrage . . . . . . . . . . . . . Erklärungen des negativen Einflusses von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit: Wirkmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

488 488 488 490

4 Konsequenzen für die physische Gesundheit und das Gesundheitsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Haupteffekte von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Arbeitslosigkeit als Ursache oder Wirkung eingeschränkter physischer Gesundheit? Die Kausalitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Erklärungen des negativen Einflusses von Arbeitslosigkeit auf die physische Gesundheit: Wirkmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

492 492

5

491

493 493

Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

1

Einleitung

Vollbeschäftigung ist ein historisch seltenes Phänomen. Setzt man die Grenze zur Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenquote von 3 % an, so trat Vollbeschäftigung in Friedenszeiten in den Ländern Nordamerikas und Westeuropas seit Beginn des 20. Jahrhunderts nur vereinzelt und nie über einen längeren Zeitraum auf (Dormois 2004; Niess 1979; OECD 2000; United States Department of Labor 1990). Arbeitslosigkeit ist auch ein weltweites Phänomen. " Bei Arbeitslosigkeit handelt es sich nicht nur um ein chronisches, sondern auch um ein globales Problem, das eine sehr große Zahl von Menschen betrifft: In 2017 waren

weltweit 5,6 % der Erwerbspersonen arbeitslos. Das entspricht 192 Mio. Menschen (International Labour Office 2018).

Neben Ökonomen und Soziologen haben sich auch Psychologen und Mediziner wissenschaftlich mit dem Phänomen Arbeitslosigkeit beschäftigt. Die Hauptforschungsfrage war dabei, wie sich Arbeitslosigkeit auf die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen auswirkt, was die Ursachen für diese Auswirkungen sind, und ob verschiedene Personengruppen besonders stark oder besonders wenig unter Arbeitslosigkeit leiden. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, die wesentlichen Erkenntnisse der Forschung zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit darzustellen.

K. I. Paul (*) · A. Zechmann Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_45

487

488

2

K. I. Paul und A. Zechmann

Definition von Arbeitslosigkeit

Es existieren durchaus unterschiedliche Auffassungen davon, was genau Arbeitslosigkeit ausmacht. Dementsprechend stimmen die aus verschiedenen Ländern stammenden Definitionen in einigen Details nicht überein (Hollederer 2002). Im Kern orientieren sie sich jedoch immer am Arbeitslosigkeitskonzept der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO). Diese Definition kann als internationaler Kompromiss angesehen werden und besteht aus drei Kernelementen. " Definition Arbeitslosigkeit

Um als arbeitslos zu gelten, muss eine Person demnach • „ohne Arbeit“ sein, • „dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen“, und • „aktiv Arbeit suchen“ (International Labour Office 2000, S. 429).

In dieser Definition werden nicht nur situative Aspekte (Nichtbeschäftigung), sondern auch motivationale Aspekte (Stellensuche) sowie medizinische und rechtliche Aspekte (dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen) einbezogen. Während das erste Kriterium notwendig ist, um arbeitslose von erwerbstätigen Personen zu unterscheiden, helfen das zweite und das dritte Kriterium, Arbeitslose von Personen zu unterscheiden, die nicht der Erwerbsbevölkerung angehören. Dazu zählen beispielsweise Hausfrauen/männer, Studierende, Rentner, Häftlinge und längere Zeit erkrankte Menschen.

3

Konsequenzen von Arbeitslosigkeit für die psychische Gesundheit

3.1

Haupteffekte von Arbeitslosigkeit

Ist Erwerbslosigkeit mit Einschränkungen der psychischen Gesundheit assoziiert? Und wenn dies zutrifft, ist der Effekt groß genug, um für das alltägliche Leben der Betroffenen relevant zu sein? Neuere Metaanalysen, die die existierende Literatur zu diesen wichtigen Fragen zusammenfassten (McKee-Ryan et al. 2005; Paul und Moser 2009), fanden einen klaren Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit, der von mittlerer Effektstärke war. Dies bedeutet, dass die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit erhebliche praktische Bedeutung haben. Die durchschnittliche Prävalenzrate für psychische Störungen liegt demnach unter Erwerbstätigen bei 16 %, während sie bei Arbeitslosen 34 % beträgt (Paul und Moser 2009).

" Arbeitslosigkeit geht mit einer Verdoppelung des Risikos für klinisch relevante psychische Gesundheitsprobleme einher.

Dabei sind viele verschiedene Aspekte der psychischen Gesundheit betroffen, wie z. B. Depressionssymptome, Angstsymptome oder Einschränkungen der Lebenszufriedenheit.

3.2

Moderatoren des Effekts von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit

Erkenntnisse über Moderatorvariablen des Zusammenhangs von Arbeitslosigkeit und Gesundheit sind bedeutsam, weil sie helfen, diejenigen Personengruppen zu identifizieren, die bei einem Stellenverlust gesundheitlich besonders gefährdet sind. Für diese Gruppen ist die Entwicklung von gesundheitsstabilisierenden Interventionsmaßnahmen besonders dringlich.

3.2.1 Effektmoderatoren auf individueller Ebene Geschlecht Eine häufig formulierte Annahme zum Einfluss des Geschlechts war, dass Männer stärker unter Arbeitslosigkeit leiden sollten als Frauen, weil sie ihre traditionelle Rolle als Familienernährer nicht mehr ausfüllen können und zudem mutmaßlich eine stärkere innere Bindung an Erwerbsarbeit aufweisen als Frauen (McFayden 1995). Frauen stehen nach dieser Auffassung hingegen die alternativen Rollen der Hausfrau und Mutter zur Verfügung, die zumindest teilweise als Ersatz für eine Erwerbstätigkeit dienen und psychisch stabilisierend wirken können (Shamir 1985). Die empirischen Befunde passen aber nur bedingt zu diesen traditionalistischen Annahmen. Zwar konnte metaanalytisch ein klarer Moderatoreffekt in dem Sinne nachgewiesen werden, dass der Unterschied zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen bei Männern deutlich größer war als bei Frauen. Arbeitslosigkeit hatte bei Männern also wie erwartet einen größeren Einfluss auf die psychische Gesundheit als bei Frauen (Paul und Moser 2009). Zugleich wurde aber festgestellt, dass innerhalb der Gruppe der Erwerbslosen nur schwache Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestanden und sich arbeitslose Männer sogar etwas besser fühlten als arbeitslose Frauen (Paul und Moser 2009). Eine Erklärung für diese Befunde könnte sein, dass berufstätige Männer mehr psychologischen Nutzen aus ihrer Erwerbstätigkeit ziehen als Frauen. Männer haben nach wie vor attraktivere Arbeitsplätze, z. B. in Bezug auf hierarchische Positionen, Entscheidungsspielräume oder soziale Anerkennung (Mohr 1993). Der Verlust dieser Vorteile führt dann

42

Arbeitslosigkeit und Gesundheit

vermutlich zu den großen psychischen Gesundheitsunterschieden zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen, die von Paul und Moser (2009) für das männliche Geschlecht beobachtet wurden. In anderen Worten ist der psychologische Verlust durch Arbeitslosigkeit offenbar für Männer größer, aber der psychologische Endzustand während der Arbeitslosigkeit ist für Männer und Frauen ähnlich. Sozioökonomischer Status Menschen mit einer höheren Bildung verlieren attraktivere Arbeitsplätze, wenn sie arbeitslos werden, als Menschen mit geringerer Bildung. Dies betrifft berufliche Aspekte wie Einkommen, Reputation, physikalische Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen genauso wie Aufgabeninhalte und intrinsisches Motivationspotenzial. Entsprechend wurde argumentiert, dass die psychische Belastung unter Arbeitslosen mit hohem sozioökonomischem Status aufgrund der sozusagen größeren Fallhöhe bei einem Stellenverlust besonders groß sein sollte (Eisenberg und Lazarsfeld 1938; Payne et al. 1984). Empirisch zeigte sich aber das Gegenteil: Die gesundheitlichen Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen waren bei Angehörigen gewerblich-technischer Berufe größer als bei Angehörigen von Büroberufen (Paul und Moser 2009) und innerhalb der Arbeitslosen zeigten diejenigen mit hoher Bildung eine bessere psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit als Personen mit geringer Bildung (McKee-Ryan et al. 2005). Diese Ergebnisse sind vermutlich dadurch erklärbar, dass Arbeitslose mit hohem sozioökonomischem Status in der Regel über mehr finanzielle sowie soziale Ressourcen und vielleicht auch über bessere Bewältigungsstrategien verfügen als Personen mit niedrigem Status (Payne et al. 1984; Schaufeli und VanYperen 1992). Außerdem sind die Arbeitslosenquoten in Gruppen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status in der Regel höher. Die Aussichten auf eine schwierige, aber unvermeidbare Arbeitssuche könnten bei Arbeitslosen mit geringer Bildung möglicherweise deprimierend wirken und die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Arbeitslosigkeitsdauer Seit Beginn der psychologischen Arbeitslosigkeitsforschung wird die Frage diskutiert, ob es ein typisches Verlaufsmuster der psychologischen Reaktionen auf Arbeitslosigkeit gibt. Ein theoretisches Modell zu dieser Thematik, das kumulative Stressmodell, geht von einer linearen Verschlechterung der psychischen Gesundheit mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit aus. Demnach werden Arbeitslose im Laufe der Zeit durch anhaltende Misserfolge bei der Arbeitssuche immer mehr entmutigt. Zudem verschärft sich der finanzielle Druck bei länger andauernder Arbeitslosigkeit nach und nach, die Ersparnisse werden aufgebraucht und persönliche oder Haushaltsgegenstände nutzen sich ab und müssen ersetzt werden,

489

was ebenfalls zu einer fortschreitenden Verschlechterung der psychischen Gesundheit beiträgt (Jackson und Warr 1984; Warr et al. 1982). Es wurden jedoch auch verschiedene nicht-lineare Stufenmodelle formuliert, in denen neben Phasen der Stimmungsverschlechterung auch Phasen der Stabilisierung oder der Verbesserung des Befindens angenommen werden (z. B. Eisenberg und Lazarsfeld 1938; Raber 1996). Demnach entwickeln Arbeitslose mit der Zeit Interessen und Aktivitäten außerhalb des Arbeitsmarktes, die als (partieller) Ersatz für bezahlte Beschäftigung fungieren (konstruktive Adaptation), oder das Befinden stabilisiert sich, weil Arbeitslose ihre Wünsche, Hoffnungen und Aktivitäten reduzieren (resignative Adaptation; s. Warr und Jackson 1987). Empirisch konnte in Metaanalysen ein kurvilinearer Verlauf des Stresserlebens Arbeitsloser nachgewiesen werden (Paul und Moser 2009): Die psychischen Belastungssymptome nehmen demnach typischerweise in den ersten neun Monaten der Arbeitslosigkeit stark zu, worauf eine Stabilisierung auf einem mittleren Niveau des Stresserlebens folgt (Abb. 1). Während dieser Phase geht es den Betroffenen besser als während der Krise gegen Ende des ersten Jahres der Arbeitslosigkeit, aber immer noch schlechter als vergleichbaren Erwerbstätigen. Zudem fanden sich Hinweise darauf, dass Erwerbslose mit sehr hoher Arbeitslosigkeitsdauer (>2,5 Jahre) möglicherweise eine erneute Zunahme der Beanspruchungssymptome erfahren. Dieser Befund ist aufgrund der geringen Anzahl an existierenden Studien mit Langzeitarbeitslosen aber als vorläufig zu betrachten. Alter Es wurde häufig angenommen, dass Personen mittleren Alters am meisten unter Arbeitslosigkeit leiden, während jüngere und ältere Menschen weniger betroffen sein sollten (z. B. Broomhall und Winefield 1990; Eisenberg und Lazarsfeld 1938; Winefield 1995). Gründe, die in diesem Kontext angeführt wurden, sind höhere familiäre Verpflichtungen von Menschen mittleren Alters (Jackson und Warr 1984) und ihr angeblich stärkeres Engagement für die Karriere (Lahelma 1989). Empirisch konnte diese Vermutung aber nicht gestützt werden. Vielmehr gibt es Hinweise darauf, dass insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene unter Arbeitslosigkeit leiden (McKee-Ryan et al. 2005; Paul und Moser 2009). Eine mögliche Erklärung könnte in den körperlichen, sozialen und emotionalen Problemen liegen, die typischerweise Teil des Reifungsprozesses sind. Das mit Jugendarbeitslosigkeit einhergehende Stresserleben könnte diese Probleme noch verschärfen, was die Erfahrung der Arbeitslosigkeit für jüngere, noch in der Entwicklung befindliche Menschen besonders schädlich werden lässt (Gurney 1980). Zudem hat die erste Arbeitsstelle vermutlich eine sehr hohe symbolische Bedeutung im Sinne eines Übergangs vom Jugendlichen zum

490

K. I. Paul und A. Zechmann

Abb. 1 Dauer der Arbeitslosigkeit und eingeschränkte psychische Gesundheit. Anmerkung: Für jedes hier dargestellte Zeitintervall wurde eine separate Metaanalyse mit allen Stichproben gerechnet, deren mittlere Arbeitslosigkeitsdauer in das Zeitintervall fiel. Die Breite der Intervalle schwankte entsprechend der verfügbaren Datenlage von einem Monat bis zu 13 Monaten. Insgesamt wurden 18 separate Metaanalysen

berechnet, mit einer durchschnittlichen Anzahl von k = 8,8 Stichproben, die in die jeweilige Metaanalyse einflossen. Eine positive Effektstärke bedeutet, dass Arbeitslose ein schlechteres Befinden aufweisen als Erwerbstätige. (Aus: Paul und Moser (2009). Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Erwachsenen. Wenn dieser nicht stattfindet, wird u. U. die Persönlichkeitsentwicklung in einem krisenhaften Verlauf blockiert oder zumindest verzögert (Tiggemann und Winefield 1984).

ren (Fryer 1986, 1997; Jahoda 1983, 1997). Es kann daher angenommen werden, dass Erwerbslosigkeit in Ländern mit einem restriktiven Arbeitslosenunterstützungssystem (z. B. hinsichtlich des Umfangs der Lohnersatzleistungen, der Bezugsdauer oder des Anteils Leistungsberechtigter unter den Arbeitslosen) psychisch belastender ist als in Ländern mit einem großzügigen System, wo die Betroffenen mutmaßlich mit weniger intensiven finanziellen Sorgen konfrontiert sind als in Ländern mit restriktivem System. Diese Annahme eines Moderatoreffekts des Unterstützungssystems konnte auch metaanalytisch bestätigt werden (McKee-Ryan et al. 2005; Paul und Moser 2009).

3.2.2

Moderator auf Länderebene: Großzügigkeit des Arbeitslosenunterstützungssystems Schon die berühmte Marienthal-Studie wies in den 1930erJahren nach, dass Arbeitslosigkeit, die mit schwerer materieller Deprivation einhergeht, also z. B. durch Hunger und Mangel an Kleidung, gekennzeichnet ist, zu ausgeprägten psychologischen Beanspruchungsreaktionen führt. Diese Art der absoluten Verarmung ruft bei einem großen Teil der betroffenen Menschen Verzweiflung und Apathie hervor (Jahoda et al. 1933/1975). Aber auch wenn Arbeitslose nicht absoluter Verarmung ausgesetzt sind, spielt ihre finanzielle Situation eine sehr wichtige Rolle für die psychische Gesundheit. Finanzielle Schwierigkeiten werden in den Theorien zu den psychologischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit typischerweise als ein wichtiger Mediator angenommen, der den Effekt der Arbeitslosigkeit auf das Stresserleben vermittelt. Gründe hierfür liegen z. B. in der Einschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe und der Möglichkeit, das eigene Leben planvoll zu gestalten, wozu finanzielle Probleme regelmäßig füh-

3.3

Arbeitslosigkeit als Ursache oder Wirkung psychischen Leidens? Die Kausalitätsfrage

Intuitiv scheint die Annahme naheliegend, dass das hohe Stresserleben arbeitsloser Menschen eine Konsequenz der Arbeitslosigkeit ist. Allerdings existieren auch andere plausible Erklärungen für die immer wieder beobachtete Häufung psychischer Belastungssymptome unter Arbeitslosen. Insbesondere sind hier Selektionsprozesse auf dem Arbeitsmarkt zu nennen, die zu Ungunsten von Personen mit eingeschränkter psychischer Gesundheit wirken. Menschen mit psychi-

42

Arbeitslosigkeit und Gesundheit

schen Problemen haben möglicherweise ein erhöhtes Risiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Psychische Probleme könnten zu geringerer Leistung und häufigeren Fehlzeiten führen, was wiederum die Kündigungswahrscheinlichkeit beeinflusst (Mastekaasa 1996). Zudem ist plausibel anzunehmen, dass Menschen mit psychischen Problemen, wenn sie einmal arbeitslos sind, längere Zeit benötigen, um wieder eine Stelle zu finden, z. B. weil ein schlechtes Befinden sie daran hindert, intensiv nach einer neuen Stelle zu suchen (Kanfer et al. 2001). Allerdings schließen sich Kausalität und Selektion nicht gegenseitig aus, sondern könnten beide gleichzeitig wirksam sein und zu einer Akkumulation psychischer Probleme bei arbeitslosen Menschen beitragen. " In Längsschnittuntersuchungen zeigte sich, dass Menschen, die im Lauf einer solchen Untersuchung ihren Arbeitsplatz verloren, eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit erlebten. Wechselten die Untersuchungsteilnehmenden umgekehrt von der Arbeitslosigkeit in eine neue Beschäftigung, verbesserte sich ihre Gesundheit (McKee-Ryan et al. 2005; Paul und Moser 2009). Beide Befunde sprechen für eine Verursachung psychischen Leidens durch Arbeitslosigkeit.

Darüber hinaus belegen auch die Ergebnisse sog. Fabrikschließungsstudien eine ursächliche Rolle der Arbeitslosigkeit im Hinblick auf die häufige Verschlechterung der psychischen Gesundheit, die bei Arbeitslosen auftritt. Wenn bei Schließung einer Unternehmensniederlassung die gesamte Belegschaft entlassen wird, ist davon auszugehen, dass Selektionseffekte keine bedeutende Rolle spielen, da bei einer solchen Massenentlassung psychisch belastete wie nicht belastete Arbeitsnehmer gleichermaßen ihre Stelle verlieren (Paul und Moser 2009). Wenn die Entlassenen dann Stresssymptome entwickeln, ist die Wahrscheinlichkeit einer Verursachung durch die Arbeitslosigkeit sehr hoch. In der Tat zeigten Metaanalysen solcher Fabrikschließungsstudien, dass die Effektstärken für den Vergleich von Arbeitslosen und Erwerbstätigen kaum schwächer sind als bei anderen Untersuchungen, bei denen der Grund für die Arbeitslosigkeit weniger eindeutig war. " Die Forschung hat aber auch empirische Belege für die Gültigkeit der Selektionshypothese geliefert. Bei Menschen mit psychischen Problemen war eine ungünstige weitere berufliche Entwicklung wahrscheinlicher als bei Menschen ohne psychische Probleme.

Beispielsweise hatten erstere ein höheres Kündigungsrisiko oder geringere Chancen, nach dem Abschluss der Schule oder nach einer Arbeitslosigkeitsphase zügig eine (neue) Stelle zu finden (Paul und Moser 2009). Zwar waren diese Effekte typischerweise eher schwach, aber dennoch eindeutig nachweisbar.

491

3.4

Erklärungen des negativen Einflusses von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit: Wirkmechanismen

Der Befund, dass Arbeitslosigkeit negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat, führt zu der Frage, warum Arbeitslosigkeit gesundheitsschädlich ist. Was sind die Wirkmechanismen, die diesen Effekt vermitteln? Verschiedene Theorien zu dieser Frage sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Nach Jahoda (1983, 1997) Deprivationsmodell hat die Beschäftigung nicht nur eine manifeste Funktion (Sicherung des Lebensunterhalts), sondern auch mehrere sog. latente, also nicht offensichtliche Funktionen, die aber für die psychische Gesundheit wichtig sind. " Jahoda spezifizierte fünf latente Funktionen der Erwerbsarbeit, nämlich (1) Zeitstruktur, (2) Sozialkontakt, (3) Beteiligung an kollektiven Zielen bzw. Sinnvermittlung, (4) Status und Identität sowie (5) Aktivität (Jahoda 1983, 1997).

Sie nahm an, dass diese latenten Funktionen der Erwerbsarbeit tief verwurzelte psychologische Bedürfnisse befriedigen und dadurch der psychischen Gesundheit zuträglich sind. Das Deprivationsmodell besagt weiterhin, dass Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften die einzige soziale Institution darstellt, die die latenten Funktionen in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen kann, im Gegensatz zu z. B. Freizeitaktivitäten oder Freiwilligenarbeit (Jahoda 1988). Es kommt daher bei Arbeitslosigkeit zu einer Deprivation, also einem Mangel der latenten Funktionen und dadurch zu Beanspruchungssymptomen. Fryer (1986, 1997) Handlungsrestriktionstheorie fokussiert im Gegensatz zur Theorie von Jahoda (1983, 1997) weniger Merkmale der Situation als Merkmale der arbeitslosen Personen, um die schädigenden Auswirkungen der Arbeitslosigkeit zu erklären. Er geht davon aus, dass Menschen Agenten ihres eigenen Handelns sind, die aktiv nach Selbstbestimmung streben und versuchen, ihre eigene Zukunft planend zu gestalten (Fryer 1997). Arbeitslosigkeit geht aber in der Regel mit Armut, Unvorhersehbarkeit der Zukunft und geringer sozialer Macht einher. Nach dem Verlust einer Stelle ist die Handlungsfähigkeit der Betroffenen daher stark eingeschränkt und Planungen und zielgerichtetes Handeln können kaum noch realisiert werden. Fryer (1986) geht also davon aus, dass Arbeitslosigkeit den im Menschen verankerten Wunsch nach Selbststeuerung frustriert und dadurch zu Stresserleben führt. Ein weiterer theoretischer Ansatz, das Inkongruenzmodell, befasst sich mit der fehlenden Passung zwischen den arbeitsbezogenen Werten und Lebenszielen arbeitsloser Menschen einerseits und ihrer tatsächlichen Erwerbssituation andererseits (Paul und Moser 2006). Metaanalytischen

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Ergebnissen zufolge ist die innere Bindung an die Erwerbsarbeit bei Erwerbstätigen und Arbeitslosen sehr ähnlich: Beide Gruppen messen Erwerbsarbeit einen hohen Stellenwert in ihrem Leben zu (Paul und Moser 2006). Ähnliche Ergebnisse wurden für Lebensziele gefunden: Beide Gruppen halten ähnliche Ziele für bedeutsam für ihr eigenes Leben (Paul et al. 2016). Arbeitslose berichteten jedoch im Vergleich zu Erwerbstätigen über eine geringere Verwirklichung ihrer Lebensziele und sind pessimistisch in Bezug auf die zukünftige Erreichbarkeit dieser Ziele. Die Arbeitslosigkeit verändert also offensichtlich nicht die Werte- und Zielsysteme von Menschen, aber sie konfrontiert sie mit einer inkongruenten Situation: Die Diskrepanz zwischen dem, was sie im Hinblick auf die Arbeit als wichtig erachten, und ihrer aktuellen Lebenssituation ist für Arbeitslose erheblich größer als für Beschäftigte. Eine solche Inkongruenz zwischen individuellen Zielen und tatsächlicher Zielerreichung kann aber psychologisch pathogen wirken (Grawe 2004), und führt bei Arbeitslosen gemäß diesem theoretischen Ansatz häufig zur Entwicklung von Beanspruchungssymptomen. Neuere Untersuchungen haben Hinweise auf einen möglichen weiteren Wirkfaktor geliefert: Demnach wirkt Arbeitslosigkeit auch daher psychisch schädigend, weil sie zu einem allgemeinen Gefühl von Ungerechtigkeit des eigenen Schicksals führt (Zechmann et al. 2018). Werden Menschen arbeitslos, haben sie also das Gefühl, zu wenig vom Leben zu bekommen und insbesondere nicht das zu bekommen, was sie verdienen, was ein Grund für ihr psychisches Leid sein kann. Empirisch wurden die hier beschriebenen theoretischen Modelle durch unabhängige Studien überprüft und konnten in ihren Annahmen zumindest teilweise bestätigt werden (z. B. Fryer und McKenna 1984). Insbesondere Jahodas (1983, 1997) latentes Deprivationsmodell hat viele Forschungsarbeiten angestoßen, die das Modell in der Regel bestätigt haben (z. B. Paul und Batinic 2010). Vor kurzem konnten auch erstmals die dem Modell inhärenten Mediationsannahmen längsschnittlich geprüft werden (Zechmann und Paul 2018). Die latenten Funktionen operieren demnach tatsächlich im Sinne von Wirkmechanismen, die den negativen Effekt der Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit bedingen, wie im Deprivationsmodell vorhergesagt. Zudem konnte Kompetenz als weitere latente Funktion im Sinne Jahoda (1983, 1997) identifiziert und dem Modell hinzugefügt werden, denn auch das Kompetenzempfinden ist bei Arbeitslosen eingeschränkt, was eine nachteilige Wirkung auf das Wohlbefinden nach sich zieht (Zechmann und Paul 2018). Weiterhin zeigte sich, dass die Wirkung der latenten Funktionen nicht von ihrer subjektiven Wichtigkeit abhängt: Menschen leiden auch dann unter einem Mangel an z. B. Status oder Aktivität, wenn sie diese Aspekte gar nicht als für ihr eigenes Wohlbefinden relevant erachten (Zechmann 2018).

K. I. Paul und A. Zechmann

4

Konsequenzen für die physische Gesundheit und das Gesundheitsverhalten

4.1

Haupteffekte von Arbeitslosigkeit

Während die Forschung zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit zu einer recht eindeutigen Befundlage geführt hat, sind die Ergebnisse zu den Folgen für die physische Gesundheit uneinheitlicher bzw. schwieriger zu interpretieren. Zahlreiche Untersuchungen haben einen negativen Einfluss der Arbeitslosigkeit auf die selbst eingeschätzte Gesundheit festgestellt (z. B. Åhs und Westerling 2006; Norström et al. 2017). Allerdings ist bei dieser Art von Untersuchung, in denen die Teilnehmer aufgefordert werden, ganz allgemein anzugeben, wie es derzeit um ihre Gesundheit steht oder ob sie an langwierigen Krankheiten leiden, nicht ganz klar, was eigentlich gemessen wird. In diese allgemeinen Gesundheitseinschätzungen fließen vermutlich sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit der antwortenden Person mit ein, so dass unklar bleibt, wie genau die Ergebnisse im Hinblick auf die physische Gesundheit zu interpretieren sind. Dasselbe Problem tritt auf, wenn Effekte von Arbeitslosigkeit auf die Mortalität untersucht werden. Laut metaanalytischen Befunden lag das Sterberisiko bei derzeit oder früher arbeitslosen Personen um 63 % höher als bei erwerbstätigen Personen, selbst wenn das Alter und weitere Kontrollvariablen berücksichtigt wurden (Roelfs et al. 2011). Dieser Effekt fiel bei Männern stärker aus als bei Frauen. Darüber hinaus war die Arbeitslosigkeit vor allem bei Menschen, die sich am Beginn oder in der Mitte ihrer Laufbahn befanden, mit einem erhöhten Sterberisiko verbunden, während der Effekt für Menschen in späten Karrierephasen schwächer, aber immer noch signifikant, ausfiel. Diese erschreckenden Ergebnisse zur Mortalität sind hochinteressant, aber bezüglich der Frage, ob Arbeitslosigkeit auch die körperliche Gesundheit schädigt, schwierig interpretierbar. Zumindest ein Teil des Effekts könnte auf andere Gründe als Einschränkungen der physischen Gesundheit zurückzuführen sein. Beispielsweise existieren Hinweise darauf, dass Arbeitslosigkeit mit einer erhöhten Zahl von tödlichen Verkehrsunfällen einhergeht (Olsen und Lajer 1979). Auch Suizide treten bei Arbeitslosen überzufällig häufig auf und tragen vermutlich zur erhöhten Mortalität bei (für Überblicksarbeiten bzw. Metaanalysen zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Suizid, s. Milner et al. 2014 sowie Platt 1985). Allerdings wiesen Untersuchungen, die sich spezifisch mit körperlicher Gesundheit beschäftigten, ebenfalls auf eine schlechte Befindlichkeit Arbeitsloser im Vergleich zu Erwerbstätigen hin. So ergab beispielsweise eine groß angelegte Analyse mit Daten einer deutschen Krankenversicherung (Grobe und Schwartz 2003), dass Arbeitslose im

42

Arbeitslosigkeit und Gesundheit

Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich mehr Tage im Krankenhaus verbrachten (Verhältnis 2,3 zu 1 bei Männern und 1,7 zu 1 bei Frauen). Die mit Abstand größten Unterschiede zeigten sich dabei für stationäre Krankenhausaufenthalte aufgrund von psychischen Störungen. Arbeitslose wiesen aber auch bei anderen Diagnosegruppen eine im Vergleich zu Erwerbstätigen deutlich erhöhte Anzahl von Krankenhaustagen auf, insbesondere bei Infektions- und Stoffwechselerkrankungen, Krankheiten der Verdauungsorgane sowie bei Verletzungen und Vergiftungen (Grobe und Schwartz 2003). Auch metaanalytische Befunde zu Studien, die die physische Gesundheit untersuchten, belegen gesundheitliche Einschränkungen dieser Form bei Arbeitslosen (McKee-Ryan et al. 2005).

4.2

Arbeitslosigkeit als Ursache oder Wirkung eingeschränkter physischer Gesundheit? Die Kausalitätsfrage

Inzwischen existieren auch Längsschnittuntersuchungen, die sich speziell der Problematik von Ursache und Wirkung beim Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und physischer Gesundheit widmen. Zum einen wurde gezeigt, dass Erwerbstätige mit zahlreichen körperlichen Beschwerden eine gegenüber beschwerdefreien Erwerbstätigen erhöhte Wahrscheinlichkeit hatten, in naher Zukunft ihre Stelle zu verlieren. Insbesondere Schmerzsymptome schienen dabei eine bedeutsame Rolle zu spielen (Korpi 2001). Aber auch objektive medizinische Messungen der muskulären Fitness hatten bei Arbeitslosen einen signifikanten Vorhersagewert für die Wiederbeschäftigung: Menschen mit besserer muskulärer Fitness hatten eine größere Chance, innerhalb von drei Jahren wieder eine Stelle zu finden, als Menschen mit schlechterer Fitness (Nwaru et al. 2014). " Es existieren überzeugende Belege für Selektionseffekte auf dem Arbeitsmarkt zum Nachteil von Menschen mit eingeschränkter körperlicher Gesundheit.

Andererseits fanden sich in Längsschnittuntersuchungen auch Belege für einen kausalen Einfluss von Arbeitslosigkeit auf die körperliche Gesundheit. So berichteten ehemals Arbeitslose im Zuge ihrer Wiederbeschäftigung eine Verbesserung ihrer Schmerzen und eine Reduktion ihrer körperlichen Einschränkungen, die bei kontinuierlich Arbeitslosen nicht auftrat (Schuring et al. 2011). Auch eine Analyse schwedischer Daten konnte einen kausalen Effekt der Arbeitslosigkeit zeigen, wobei neben der aktuellen Arbeitslosigkeitsphase insbesondere auch frühere Arbeitslosigkeitserfahrungen einen negativen Einfluss auf die physische Gesundheit hatten (Korpi 2001). " Neben Untersuchungen, in denen die körperlichen Krankheitssymptome von den Teilnehmern selbst berichtet wur-

493

den, wiesen auch Untersuchungen mit objektiven medizinischen Daten auf einen kausalen Effekt von Arbeitslosigkeit auf die physische Gesundheit hin.

Beispielsweise ging in einer schwedischen Studie eine kumulierte Arbeitslosigkeitsdauer von 90 oder mehr Tagen innerhalb eines Dreijahreszeitraums mit einer signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine ärztlich diagnostizierte koronare Herzkrankheit in den nachfolgenden Jahren einher, selbst wenn der Einfluss zahlreicher Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht, Bluthochdruck oder beengter Wohnverhältnisse kontrolliert wurde (Lundin et al. 2014).

4.3

Erklärungen des negativen Einflusses von Arbeitslosigkeit auf die physische Gesundheit: Wirkmechanismen

Wenn Arbeitslosigkeit ursächlich die körperliche Gesundheit beeinträchtigt, stellt sich die Frage, was die mediierenden Faktoren sind, die dabei als Wirkmechanismen agieren. Diskutiert wurden insbesondere drei solcher Wirkpfade, nämlich: (1) physiologische Stresseffekte, (2) Änderungen des Lebensstandards, und (3) Änderungen des Gesundheitsverhaltens.

4.3.1 Stresseffekte Wie oben bereits dargestellt wurde, verursacht Arbeitslosigkeit psychische Beanspruchungssymptome. Für manche psychischen Erkrankungen, z. B. Depression, ist aber ein Einfluss auf physiologische Parameter des Immunsystems bekannt (Irwin und Miller 2007). Entsprechend wurde nachgewiesen, dass die Immunfunktion nach dem Verlust des Arbeitsplatzes zunächst abnahm, sich nach Wiederbeschäftigung aber wieder erholte (Cohen et al. 2007). Arbeitslose wiesen auch mehr Spuren des mit Stress assoziierten Hormons Cortisol in verschiedenen Haarabschnitten auf, was auf chronisch erhöhte physiologische Belastungen hinweist (Dettenborn et al. 2010). Zudem konnte gezeigt werden, dass Arbeitslosigkeit zu einer systemischen Entzündungsreaktion im Körper führt, die mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko einhergeht (Hughes et al. 2017). 4.3.2

Lebensstandard und medizinische Versorgung Ein weiterer möglicher Wirkmechanismus, der die negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die physische Gesundheit erklären kann, besteht in der Senkung des Lebensstandards, der typischerweise mit Arbeitslosigkeit einhergeht und den daraus resultierenden möglichen gesundheitsbezogenen Folgen. Auch in modernen Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland leiden Arbeitslose oft unter finanziellen Sorgen (s. z. B. Paul und Batinic 2010). Es ist denkbar, dass die Sparmaßnahmen,

494

die sie aufgrund ihrer schlechten finanziellen Lage vornehmen müssen, die Verfügbarkeit von Medikamenten und anderen medizinischen Behandlungen senkt, und die Ernährungsqualität verschlechtert. Schwere und möglicherweise gesundheitsschädigende Formen materieller Deprivation dürften insbesondere bei langer und sehr langer Erwerbslosigkeit zu erwarten sein, da die staatlichen Unterstützungsleistungen mit der Zeit abnehmen und letzte finanzielle Reserven aufgebraucht werden (Christoph und Lietzmann 2013). Entsprechend dieser Annahmen berichteten 20 % der befragten Arbeitslosengeld-II-Empfänger, dass sie sich keine rezeptfreien Medikamente leisten konnten, 48 % mussten aufgrund finanzieller Not auf medizinische Zusatzleistungen verzichten. In der Allgemeinbevölkerung waren die entsprechenden Anteile nur 3 % und 9 % (Christoph 2008). Zudem berichteten 17 % der Langzeitarbeitslosen, dass ihnen Geld für ausreichend Winterkleidung fehlt, und 5 % gaben an, sich nicht jeden Tag eine warme Mahlzeit leisten zu können. In der Allgemeinbevölkerung kamen diese Probleme mit Häufigkeiten von ca. 1 % praktisch nicht vor.

4.3.3 Gesundheitsverhalten Die Forschung zum Gesundheitsverhalten hat gezeigt, dass Arbeitslosigkeit generell mit einem eher ungünstigen Muster gesundheitsbezogener Einstellungen und Handlungen assoziiert ist. Arbeitslose Menschen tranken beispielsweise mehr Alkohol als Erwerbstätige (Rásky et al. 1996), und eine längere Dauer der Arbeitslosigkeit war längsschnittlich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit verbunden, schweren Alkoholismus zu entwickeln (Mossakowski 2008). Arbeitslose hatten aufgrund alkoholbedingter Erkrankungen auch ein höheres Risiko für einen Krankenhausaufenthalt (Eliason und Storrie 2009). Außerdem gab es unter ihnen mehr Raucher, und arbeitslose Raucher konsumierten mehr Tabak als erwerbstätige Raucher (Rásky et al. 1996; Fagan et al. 2007). Zudem führt Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen offenbar auch zu einem erhöhten Konsum illegaler Substanzen (Hammarström 1994). Weiterhin zeigten sich Arbeitslose weniger motiviert, Gewicht zu reduzieren und Ernährungsgewohnheiten zu ändern als Erwerbstätige, und trieben seltener Sport (Rásky et al. 1996). Passend dazu fanden sich bei zwei britischen Stichproben durchschnittliche Gewichtszunahmen von 0,70 kg pro Jahr bei arbeitslosen Frauen bzw. 1,56 kg pro Jahr bei arbeitslosen Männern, während die entsprechenden durchschnittlichen Gewichtszunahmen bei Erwerbstätigen nur 0,49 kg bzw. 0,60 kg pro Jahr betrugen (Monsivais et al. 2015). Als Gründe für diese negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf das Gesundheitsverhalten sind neben einer Selbstmedikation zur Senkung des psychischen Leidens mittels Alkohol und Drogen auch Armutseffekte denkbar: Die angespannte finanzielle Situation führt möglicherweise zum vermehrten Konsum preisgünstiger, aber weniger gesunder Nahrung sowie zur Aufgabe sportlicher Tätigkeiten, die Geld erfordern (z. B.

K. I. Paul und A. Zechmann

für Mitgliedsbeiträge oder Ausrüstung). Auch ein allgemeiner Demotivationseffekt als Resultat arbeitslosigkeitsbedingter psychischer Beanspruchung erscheint plausibel.

5

Fazit und Ausblick

Aufgrund der vorliegenden Befunde zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit kann empfohlen werden, Maßnahmen für arbeitslose Menschen so zu gestalten, dass sie möglichst viele der latenten Funktionen der Erwerbsarbeit beinhalten, um so die psychische Gesundheit zu stabilisieren (Jahoda 1983, 1997). Mit anderen Worten sollten die Teilnehmer eine aktive Rolle einnehmen und nicht nur an passivierenden Maßnahmen teilnehmen, indem sie z. B. nur Vorträge rezipieren. Die in einer Maßnahme angebotenen Aktivitäten sollten den Teilnehmenden zudem ein Gefühl von Sinnhaftigkeit vermitteln, z. B. indem sie für andere Menschen nützlich sind, und sie sollten zu Ergebnissen führen, auf die die Teilnehmenden stolz sein können. Zudem ist wichtig, dass die Aktivitäten herausfordernd sind und so Erfolgserlebnisse ermöglichen. Weiterhin sollten Maßnahmen positive Kontakte zu anderen Menschen anregen, und schließlich dazu beitragen, den Tag und die Woche der Teilnehmenden klar zu strukturieren. Die Forschungsergebnisse zur physischen Gesundheit legen nahe, dass Interventionen Elemente zur Förderung des Gesundheitsverhaltens enthalten sollten, zumindest sofern die spezifische Zielgruppe entsprechende Defizite erkennen lässt (für Darstellungen erfolgreicher Maßnahmen mit diesem Ziel, s. Hollederer 2009). Für die Konzeption von Maßnahmen ist auch zu bedenken, dass eine schwere materielle Deprivation unbedingt zu vermeiden ist. Finanzielle Probleme sind zwar nicht der einzige Wirkfaktor, der die Gesundheit Arbeitsloser beeinträchtigt, aber die Forschung hat die hohe Bedeutung von Armut für die schlechte Gesundheit Arbeitsloser immer wieder bestätigt. Weiterhin sollte bei der Planung von Maßnahmen für Arbeitslose nicht vergessen werden, dass eine starke psychologische Bindung an die Erwerbsarbeit dem Wohlbefinden arbeitsloser Menschen abträglich ist. Daher sind Interventionen, die in erster Linie auf eine Erhöhung der Arbeitsmotivation zielen, in der Regel nicht hilfreich, denn die meisten Arbeitslosen besitzen bereits eine hohe Arbeitsmotivation und profitieren nicht von einer weiteren Erhöhung. Für bestimmte Teilgruppen von Arbeitslosen mit besonders schlechten Aussichten auf Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt (z. B. ältere Personen mit beeinträchtigter körperlicher Gesundheit) kann es sogar sinnvoll sein, die Bindung an die Erwerbsarbeit bewusst zu reduzieren, um die psychische Gesundheit zu stabilisieren. Für diese Menschen erscheint es eher angebracht, neue Quellen für Sinn und Lebensfreude außerhalb der Erwerbsarbeit zu erschließen. Hinsichtlich der Moderatoreffekte demografischer Merkmale liegen komplexe Wirkmuster vor. Entsprechend müssen

42

Arbeitslosigkeit und Gesundheit

Empfehlungen für die Allokation gesellschaftlicher Ressourcen mit Vorsicht formuliert werden. Nichtsdestotrotz kann aus den Befunden unseres Erachtens gefolgert werden, dass mutmaßlich besonders vulnerable Personengruppen bei der Verteilung von Ressourcen und der Planung von Interventionen zumindest nicht übersehen werden sollten. Dazu zählen insbesondere arbeitslose Jugendliche, Arbeitslose aus gewerblich-technischen Berufen und Langzeitarbeitslose. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass es sich bei den oben dargestellten negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit um Durchschnittseffekte handelt, von denen im Einzelfall immer Ausnahmen möglich sind. Beispielsweise resümiert eine Studie mit älteren, arbeitslosen Managern (Zikic und Richardson 2007), dass diese die Arbeitslosigkeit eher positiv im Sinne einer willkommenen Auszeit empfanden. Sie nutzten diese für Wohnungsrenovierungen und Sport, aber auch für eine gründliche Selbstreflexion und Neubewertung ihres Lebens. Dies inspirierte sie häufig dazu, ihre familiären Beziehungen und Freundschaften zu erneuern bzw. zu intensivieren und zudem völlig neue Karrieremöglichkeiten für sich zu entdecken. " Mögliche, bisher nur wenig erforschte positive Auswirkungen von Arbeitslosigkeit verdienen eine größere Aufmerksamkeit, da dadurch möglicherweise neue Wege entdeckt werden können, wie sich das Los vieler von Arbeitslosigkeit Betroffener erleichtern lässt.

Zusammenfassend kann auf eine immense Zahl von Untersuchungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit verwiesen werden. Das Hauptergebnis dieser Forschungsbemühungen besteht in dem klaren und eindeutigen Befund, dass Arbeitslosigkeit ein ernsthaftes Risiko für die psychische Gesundheit darstellt. Die negativen Folgen dieses Effekts für Individuum und Gesellschaft werden zudem noch verstärkt durch weitere schädliche Einflüsse von Arbeitslosigkeit auf das Gesundheitsverhalten der Betroffenen, ihre physische Gesundheit und schließlich die Mortalität.

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Bildung und Gesundheit

43

Benjamin Kuntz, Julia Waldhauer, Claudia Schmidtke und Thomas Lampert

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

2 2.1 2.2 2.3

Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studiendesign, Studiendurchführung und Teilnahmebereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statistische Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

498 499 499 500

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13

Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitliche Einschränkungen im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronisches Kranksein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koronare Herzkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bluthochdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsfördernde körperliche Aktivität in der Freizeit („Sport“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obst- und Gemüsekonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkoholkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501 501 504 505 505 506 507 507 508 509 510 511 512 513

4

Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514

1

Einleitung

„Education is the key to good health. The well educated experience better health than others on all indicators.“ (Mirowsky und Ross 2015) Aus Public-Health-Sicht unterliegt die menschliche Gesundheit einer Vielzahl unterschiedlicher Einflussfaktoren.

B. Kuntz (*) · J. Waldhauer · C. Schmidtke · T. Lampert Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert KochInstitut, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected]; [email protected]

Die genetische Disposition und der individuelle Lebensstil spielen bei der Entstehung vieler Krankheiten eine wichtige Rolle. Zweifelsohne tragen auch der medizinisch-technische Fortschritt und die ständige Weiterentwicklung neuer bzw. wirksamerer Diagnose- und Therapieverfahren dazu bei, dass Krankheiten früher erkannt, besser behandelt und mitunter sogar geheilt werden können. Aber obgleich die Bedeutung von Erbanlagen, Lebensstil und medizinischer Versorgung unbestritten ist, wird in den Gesundheitswissenschaften mittlerweile verstärkt davon ausgegangen, dass insbesondere „soziale Determinanten“ über Lebenserwartung, Gesundheitszustand und Wohlbefinden ganzer Bevölkerungen entscheiden (Wilkinson und Marmot 2003; World Health Organization Regional Office for Europe 2014). Hiermit sind die

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_46

497

498

gesellschaftlichen Bedingungen gemeint, unter denen Menschen aufwachsen, leben, lernen, arbeiten und altern. Bildung zählt dabei zu den zentralen sozialen Determinanten von Gesundheit (Cohen und Syme 2013). Bereits in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 1986 als richtungsweisendes Grundsatzdokument der Gesundheitsförderung veröffentlicht wurde, wird Bildung als eine von neun grundlegenden Bedingungen und konstituierenden Momenten von Gesundheit beschrieben (World Health Organization 1986). Tatsächlich liefert eine Vielzahl an wissenschaftlichen Untersuchungen empirische Belege für den Zusammenhang von Bildung und Gesundheit (Mirowsky und Ross 2003; Kuntz 2011; Richter et al. 2012; Hannover und Kleiber 2016). " Demnach gilt bis auf wenige Ausnahmen: Je höher das Bildungsniveau, desto besser ist die Gesundheit und umso geringer ist das Erkrankungs- und Sterberisiko (Cutler und Lleras-Muney 2006; Mackenbach et al. 2008).

Dem regelmäßig herausgegebenen Gesundheitsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) „Health at a Glance“ zufolge beträgt der durchschnittliche Unterschied in der ferneren Lebenserwartung ab 30 Jahren zwischen Personen mit niedriger und hoher Bildung bei Männern rund 7 Jahre und bei Frauen etwas mehr als 4 Jahre (Durchschnitt von 25 OECD-Ländern, ohne Deutschland) (OECD 2017). Auch in Deutschland lassen sich Schätzungen zufolge bis zu zwei Drittel des Anstiegs in der Lebenserwartung mit der durch die Bildungsexpansion gestiegenen Bildungsbeteiligung der Bevölkerung in Verbindung bringen (Klein et al. 2006). Eine höhere Bildung kann sich über verschiedene Wege positiv auf die Gesundheit auswirken (Ross und Wu 1995; Chandola et al. 2006; Mielck et al. 2012). Durch den Zusammenhang zwischen formalen Bildungsabschlüssen und der Stellung in der Arbeitswelt ergeben sich Bezüge zu berufsbezogenen Belastungen und Ressourcen sowie zur individuellen Einkommenssituation (Lampert et al. 2016). Berufe, die lediglich eine geringe schulische bzw. berufliche Qualifikation voraussetzen, sind in der Regel schlechter bezahlt und häufiger mit körperlich-anspruchsvollen Tätigkeiten sowie einer höheren Schadstoffexposition verbunden. Ein höheres Einkommen kann in gesündere Konsumgüter und bessere Lebensbedingungen, z. B. im Hinblick auf die Lage und Ausstattung der Wohnung, überführt werden. Neben den verbesserten Berufs- und Einkommenschancen kommt eine höhere Bildung auch durch mehr Wissen und Handlungskompetenzen zum Ausdruck. Diese können wiederum die Suche nach sowie die Interpretation von Gesundheitsinformationen erleichtern, was gegenwärtig verstärkt unter dem Schlagwort der Gesundheitskompetenz („health literacy“) diskutiert wird (Jordan und Hoebel 2015). Auch

B. Kuntz et al.

in der Deutung und Kommunikation von gesundheitlichen Beschwerden, der Art der Krankheitsbewältigung („coping“) sowie der Interaktion mit den verschiedenen Berufsgruppen im Gesundheitswesen sind Personen mit höherer Bildung gegenüber niedrig Gebildeten im Vorteil (Kuntz und Lampert 2012). Häufig fällt es Menschen mit einer höheren Bildung aufgrund ihrer kognitiven und sprachlichen Kompetenzen leichter, relevante Gesundheitsinformationen zu erfassen, zu verarbeiten und entsprechende Schlüsse für den Umgang mit einer Erkrankung vorsorglich zu treffen. Zudem ist eine Vielzahl psychosozialer Schutzfaktoren und gesundheitsbezogener Ressourcen wie das Ausmaß an Selbstwirksamkeitserwartung und Kontrollüberzeugungen sowie der Zugang und die Verfügbarkeit sozialer Unterstützung positiv mit dem Bildungsgrad assoziiert (Mirowsky und Ross 2003; Borgmann et al. 2017). Die Gesundheitswirksamkeit von Bildung spiegelt sich schließlich auch im Gesundheitsverhalten wider (Nocon et al. 2007). Wie Auswertungen des sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für den nationalen Bildungsbericht 2018 verdeutlichen, rauchen Männer und Frauen mit zunehmendem Bildungsniveau seltener und treiben häufiger Sport, sie ernähren sich gesünder und sind seltener von starkem Übergewicht betroffen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Eine wichtige Rolle spielen dabei Einstellungen, Überzeugungen und Werthaltungen, die sich bereits früh im Leben unter dem Einfluss der elterlichen Erziehung und der Bildungsinstitutionen entwickeln (Lampert et al. 2005). Da sich Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung stark an Rollenvorbildern orientieren, werden gesundheitsbezogene Verhaltensweisen, darunter geschmackliche Präferenzen, Einstellungen gegenüber Sport und Bewegung, aber auch das Risiko- und Konsumverhalten durch die sie umgebenden Sozialisationsinstanzen (Familie, Freunde, Bildungseinrichtungen) geprägt. So lassen sich bereits in jungen Jahren bildungsbezogene gesundheitliche Unterschiede erkennen (Kuntz und Lampert 2011; Lampert und Kuntz 2012; Waldhauer et al. 2018). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die in der Literatur beschriebenen Zusammenhänge zwischen Bildung und gesundheitlicher Lage anhand aktueller Daten für die erwachsene Bevölkerung in Deutschland zu überprüfen.

2

Methodik

Die Datenbasis der folgenden Auswertungen zum Zusammenhang von Bildung und Gesundheit stellt die aktuelle Welle der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA 2014/2015-EHIS) dar. GEDA ist eine bundesweite Befragung der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland, die vom Robert Koch-Institut (RKI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführt wird (Lange et al. 2017a; Saß et al. 2017). Sie ist Teil des

43

Bildung und Gesundheit

bevölkerungsbezogenen Gesundheitsmonitorings am RKI. Das Ziel des Gesundheitsmonitorings ist es, zuverlässige Informationen über den Gesundheitszustand, das Gesundheitsverhalten und die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung in Deutschland bereitzustellen. Zwischen 2009 und 2012 wurden drei Wellen der GEDA-Studie als telefonische Befragungen mit über 60.000 Befragten durchgeführt (Lange et al. 2015). In GEDA 2014/2015 wurde erstmals vollständig der Fragebogen des „European Health Interview Survey“ integriert (EHIS, Wave 2).

2.1

Studiendesign, Studiendurchführung und Teilnahmebereitschaft

Die Studie GEDA 2014/2015-EHIS basiert auf einer zweistufig geschichteten Cluster-Stichprobe (Saß et al. 2017). Entsprechend der Vorgaben für den EHIS ist die Grundgesamtheit die Bevölkerung im Alter ab 15 Jahren mit ständigem Wohnsitz in Deutschland. Für die nationalen GEDAAuswertungen wird die Bevölkerung ab 18 Jahren in die Auswertungen einbezogen. In der ersten Erhebungsphase wurden 301 Gemeinden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Sie repräsentieren die verschiedenen Gemeindegrößen und Regionen in Deutschland. In der zweiten Phase der Stichprobenziehung wurden Personen mit ständigem Wohnsitz in den ausgewählten Orten zufällig aus den lokalen Bevölkerungsregistern gezogen. Der Fragebogen für GEDA 2014/2015-EHIS besteht aus zwei Komponenten: aus dem Fragebogen EHIS Welle 2 (der in allen teilnehmenden Ländern eingesetzt wurde) und aus weiteren, nationalen Fragen (die nur in Deutschland ergänzt wurden). Durch die Ergänzung nationaler Fragen ist es möglich, Zeitreihen von GEDA zu erhalten und Informationen über weitere, national relevante Themen zu erheben. Der komplette Fragebogen ist als Supplement in der Ausgabe 1/2017 des vom RKI herausgegebenen Journal of Health Monitoring veröffentlicht (Robert Koch-Institut 2017). Der Fragebogen umfasst vier Module (Saß et al. 2017): 1. Gesundheitszustand (Selbstwahrnehmung, chronische Krankheiten, Einschränkungen, psychische Gesundheit, Schmerzen, Unfälle usw.) 2. Gesundheitsdeterminanten (Rauchen und Alkoholkonsum, Körpergewicht, körperliche Aktivität, Ernährungsgewohnheiten usw.) 3. Gesundheitsversorgung (Inanspruchnahme verschiedener Arten von Gesundheitsleistungen: Krankenhausaufenthalte, ambulante Arztkontakte, Prävention, Einnahme von Medikamenten, unerfüllter Bedarf an Gesundheitsleistungen)

499

4. Hintergrundvariablen zu demografischen, geografischen und sozioökonomischen Charakteristika der Teilnehmenden (Geschlecht, Alter, Bildung, Haushaltstyp usw.). Die Datenerhebung für GEDA 2014/2015-EHIS fand zwischen November 2014 und Juli 2015 statt. Die Studie wurde von der Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit in Deutschland genehmigt. Die Teilnahme an der Studie war freiwillig. Als Ergebnis verschiedener vorheriger, methodisch orientierter Studien wurde in GEDA 2014/2015EHIS erstmalig ein sequenzielles Mixed-Mode-Design mit Web-Fragebogen und Papierfragebogen eingesetzt. Die Fragebögen mussten von den Befragten selbst ausgefüllt werden. In die Datenanalysen für Deutschland wurde die Stichprobe der Teilnehmenden ab 18 Jahren einbezogen. Von diesen Personen wurden 24.016 Fragebögen vollständig ausgefüllt, 10.723 über Web (44,6 %) und 13.293 auf Papier (55,4 %). Die Responserate betrug 26,9 % (Frauen 27,5 %, Männer 25,3 %). Sie wurde nach den Standards der American Association for Public Opinion Research (AAPOR) berechnet und liegt im derzeit üblichen Bereich für bevölkerungsbezogene Gesundheitsbefragungen.

2.2

Indikatoren

Als abhängige Variablen werden insgesamt 13 Indikatoren zum Gesundheitszustand, zu einzelnen Krankheiten, zu gesundheitlichen Risikofaktoren und zum Gesundheitsverhalten von Erwachsenen in Deutschland betrachtet. Folgende Übersicht gibt einen Überblick über die ausgewählten Indikatoren, die für die nachfolgenden Analysen dichotomisiert, d. h. im Falle mehrerer Antwortkategorien in zwei Gruppen zusammengefasst wurden. Der exakte Wortlaut der den Indikatoren zugrunde liegenden Fragestellungen und Antwortkategorien kann im Ergebnisteil nachvollzogen werden. Abhängige Variablen

1. Subjektive Gesundheit: Prävalenz mittelmäßig bis sehr schlecht eingeschätzter Gesundheit 2. Gesundheitsbedingte Einschränkungen bei alltäglichen Aktivitäten: Prävalenz starker oder mäßig starker Einschränkungen 3. Chronisches Kranksein: Prävalenz mind. einer chronischen Erkrankung bzw. lang andauernder Gesundheitsprobleme 4. Diabetes: 12-Monats-Prävalenz des bekannten Diabetes mellitus 5. Koronare Herzkrankheit: 12-Monats-Prävalenz von Herzinfarkt, chronischen Beschwerden infolge (Fortsetzung)

500

B. Kuntz et al.

6. 7. 8. 9. 10.

11.

12. 13.

eines Herzinfarktes, koronarer Herzerkrankung oder Angina pectoris Depression: 12-Monats-Prävalenz der selbstberichteten ärztlich diagnostizierten Depression Allergien: 12-Monats-Prävalenz Bluthochdruck: 12-Monats-Prävalenz Adipositas: Starkes Übergewicht, BMI  30 (Selbstangaben zu Körpergewicht und Körpergröße) Wenig oder kein Freizeitsport: Anteil der Befragten, die die WHO-Empfehlung nicht erreichen (< 2,5 Stunden gesundheitsfördernde körperliche Aktivität in der Freizeit pro Woche) Täglicher Obst- und/oder Gemüsekonsum: Anteil der Befragten, die nicht täglich Obst und/oder Gemüse verzehren Tabakkonsum: Anteil der Befragten, die aktuell täglich oder gelegentlich rauchen Alkoholkonsum: Riskante Trinkmengen: Anteil der Befragten, die die Grenzwerte für eine riskante Alkoholtrinkmenge überschreiten (mehr als 10 g Reinalkohol/Tag bei Frauen, mehr als 20 g Reinalkohol/Tag bei Männern)

Zu den meisten in diesem Beitrag berücksichtigten Indikatoren sind im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung am RKI im Journal of Health Monitoring sog. Fact Sheets erschienen, die einen Überblick zu dem jeweiligen Thema bieten. Einzige Ausnahme stellt die Selbsteinschätzung chronischen Krankseins dar. Des Weiteren wurden im Folgenden der ursprünglich getrennt voneinander abgefragte Obst- und Gemüsekonsum in einer Variablen zusammengefasst (Mensink et al. 2017a, b). Der Bildungsstand basiert auf der von der UNESCO entwickelten, international vergleichbaren Klassifikation für das Bildungswesen „International Standard Classification of Education“ (ISCED). Der höchste erreichte Bildungsstand wird danach auf Grundlage der im Fragebogen erfassten

Merkmale der Befragten – allgemeiner Schulabschluss und beruflicher Bildungsabschluss – bestimmt. Die Zuordnung der kombinierten Bildungsabschlüsse zu verschiedenen Niveaustufen orientiert sich dabei an der neuen Klassifikationsversion, ISCED 2011, die inzwischen auch in der Bildungsberichterstattung Anwendung findet (UNESCO Institute for Statistics 2012; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). ISCED 2011 unterscheidet insgesamt neun Niveaustufen (Stufe 0–8). Werden bestimmte Niveaustufen zusammengefasst, lassen sich drei Bildungsniveaus voneinander abgrenzen: Personen mit niedriger (Stufe 0–2), mittlerer (Stufe 3–4) und hoher Bildung (Stufe 5–8) (Eurostat 2017). Nach dieser Abgrenzung verfügen Personen mit hoher Bildung über einen akademischen Abschluss oder einen Meister-/Techniker- oder Fachschulabschluss, Personen mit niedriger Bildung haben hingegen höchstens einen Realschulabschluss, jedoch keinen beruflichen Abschluss (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2017). Die Verteilung der in GEDA 2014/2015-EHIS Befragten auf die drei Bildungsgruppen ist in der Stichprobenbeschreibung dargestellt (Tab. 1). Der Vergleich zwischen der ungewichteten und der gewichteten Verteilung macht dabei deutlich, dass die höhere Teilnahmebereitschaft von Erwachsenen mit hoher Bildung bzw. die geringere Teilnahmebereitschaft von Erwachsenen mit niedriger Bildung durch die Gewichtung und die damit verbundene Anpassung an die Bildungsverteilung in der Gesamtbevölkerung nach Mikrozensus 2013 ausgeglichen wird.

2.3

Statistische Analysen

Sämtliche Analysen wurden mit dem Statistikprogramm Stata/SE 15.1 durchgeführt. Berichtet werden im Folgenden vor allem Prävalenzen, d. h. relative Häufigkeiten (in %), die angeben, wie häufig z. B. eine bestimmte Krankheit oder eine gesundheitsrelevante Verhaltensweise in der Gesamtbevölkerung bzw. in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung, GEDA 2014/15-EHIS (n = 24.016) Indikatoren Alter

Geschlecht Bildung (ISCED)*

Kategorien 18–29 Jahre 30–44 Jahre 45–64 Jahre 65+ Jahre Männer Frauen Niedrig Mittel Hoch Fehlende Werte

Fallzahl [n] 3888 5325 8977 5826 10.872 13.144 3723 12.241 7999 53

*Zuordnung nach ISCED 2011: Niedrig (Stufen 0–2), Mittel (Stufen 3–4), Hoch (Stufen 5–8)

Ungewichtet [%] 16,2 22,2 37,4 24,3 45,3 54,7 15,5 51,0 33,3 0,2

Gewichtet [%] 16,9 22,2 36,4 24,5 48,9 51,1 19,5 58,2 22,3 -

43

Bildung und Gesundheit

vorkommt. Um mögliche Geschlechterunterschiede darstellen zu können, werden die Ergebnisse für Männer und Frauen getrennt berichtet. Da viele Aspekte des Gesundheitszustandes und Gesundheitsverhaltens mit dem Alter variieren, werden zudem altersdifferenzierende Betrachtungen angestellt und dazu zwischen dem jungen Erwachsenenalter (18–29 Jahre), mittleren Erwachsenenalter (30–44 und 45–64 Jahre) sowie höheren Lebensalter (65 Jahre und älter) unterschieden. In den Abbildungen werden die Prävalenzen nach Geschlecht, Alter und Bildung stratifiziert dargestellt. Dies erscheint auch deshalb sinnvoll, da sich die Bildungsgruppen in ihrer Alterszusammensetzung deutlich unterscheiden: den gewichteten GEDA-Daten zufolge sind Männer mit niedriger Bildung im Durchschnitt rund 8 Jahre jünger als Männer mit hoher Bildung (44,5 vs. 52,1 Jahre), Frauen mit niedriger Bildung sind im Durchschnitt hingegen rund 10 Jahre älter als Frauen mit hoher Bildung (57,3 vs. 47,2 Jahre). Dies hängt vor allem mit historischen Unterschieden in der Bildungsbeteiligung von Männern und Frauen zusammen. Aussagen für die gesamte Altersspanne beruhen daher auf altersadjustierten Odds Ratios (OR), die durch logistische Regressionen mit der hohen Bildungsgruppe als Referenzgruppe ermittelt werden. Die OR geben an, um welchen Faktor die statistische Chance des Auftretens des jeweils betrachteten Aspektes des Gesundheitszustandes oder Gesundheitsverhaltens bei Erwachsenen mit niedriger bzw. mittlerer Bildung erhöht ist, wenn für alle Bildungsgruppen dieselbe Alterszusammensetzung gegeben wäre. Um nicht von der Chance auf z. B. Diabetes sprechen zu müssen, wird bisweilen auch der Begriff des Risikos verwendet. Um die Abweichungen der Stichprobe von der Bevölkerungsstruktur zu korrigieren, wurden die Analysen mit einem Gewichtungsfaktor durchgeführt. Die Gewichtung der Daten besteht aus einer Design- und Anpassungsgewichtung. Mit der Designgewichtung wird die Auswahlwahrscheinlichkeit der Untersuchungsorte sowie die Auswahlwahrscheinlichkeit der Teilnehmenden innerhalb der Orte berücksichtigt. In der Anpassungsgewichtung werden das Alter und das Geschlecht innerhalb der Bundesländer an die Bevölkerungsdaten vom 31.12.2014 hochgerechnet, der Kreistyp an die regionale Verteilung von Deutschland angeglichen und die Daten an das Bildungsniveau der Bevölkerung nach den Vorgaben des Mikrozensus 2013 angepasst.

3

Ergebnisse

Für die folgende Ergebnisdarstellung wurde ein einheitliches Darstellungsschema gewählt. Im ersten Abschnitt eines jeden Themas wird dessen Public-Health-Relevanz kurz erläutert und die dem Indikator zugrunde liegende Fragestellung samt Antwortkategorien vorgestellt. Der zweite Abschnitt gibt einen Überblick über die Verbreitung des jeweiligen Indikators in der Gesamtbevölkerung und geht dabei auf relevante Unter-

501

schiede nach Alter und Geschlecht ein. Der dritte Abschnitt behandelt schließlich etwaige Bildungsunterschiede in der Verbreitung des Indikators. Dabei werden die Ergebnisse zunächst als Prävalenzen beschrieben und mitunter als Abbildung aufbereitet (Bildungsunterschiede stratifiziert nach Alter und Geschlecht). Schließlich wird in Form einer multivariaten Analyse überprüft, ob sich auch dann signifikante Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen abzeichnen, wenn für etwaige Altersunterschiede in der Zusammensetzung der Bildungsgruppen statistisch kontrolliert wird (Tab. 2).

3.1

Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands

Zur Erfassung der subjektiven Gesundheit wird in Bevölkerungsstudien häufig die Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands verwendet. Das subjektive Gesundheitsurteil spiegelt nicht nur vorhandene Krankheiten und Beschwerden wider, sondern basiert auch auf Wahrnehmungen und Bewertungen der Befragten zu ihrer Gesundheit und gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Zur Erfassung des subjektiven Gesundheitszustands wurde in der GEDA-Studie – wie von der WHO vorgeschlagen – den Befragten folgende Frage gestellt: „Wie ist Ihr Gesundheitszustand im Allgemeinen?“ (Lampert et al. 2018). Die vorgegebenen Antwortkategorien lauteten: „sehr gut“, „gut“, „mittelmäßig“, „schlecht“ und „sehr schlecht“. Nachfolgend wird der Anteil derjenigen mit „sehr guter“ oder „guter“ Gesundheit im Vergleich zu denjenigen mit „mittelmäßiger“, „schlechter“ und „sehr schlechter“ Gesundheit betrachtet. Rund zwei Drittel der Erwachsenen in Deutschland schätzen ihren allgemeinen Gesundheitszustand als „sehr gut“ oder „gut“ ein, 31,8 % bewerten ihren Gesundheitszustand hingegen als „mittelmäßig“, „schlecht“ oder „sehr schlecht“ (Lampert et al. 2018). Frauen gelangen dabei etwas häufiger zu einer eher negativen Einschätzung ihres allgemeinen Gesundheitszustands als Männer (33,4 % vs. 30,1 %). Mit zunehmendem Lebensalter steigt das Risiko für chronische Krankheiten und Beschwerden. Dieser Zusammenhang spiegelt sich auch in der Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustands wider. Während von den 18- bis 29-Jährigen lediglich 15,0 % ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig bis sehr schlecht bewerten, sind es bei den 30- bis 44-Jährigen rund ein Fünftel (19,3 %), bei den 45- bis 64-Jährigen rund ein Drittel (33,4 %) und bei den 65-Jährigen und Älteren sogar mehr als die Hälfte (52,5 %). Im Zusammenhang mit dem Bildungsniveau zeigt sich ein deutlich ausgeprägter Gradient: Je höher die Bildung, desto geringer ist der Anteil der Personen, die ihren allgemeinen Gesundheitszustand als mittelmäßig bis sehr schlecht bewerten. Dies gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Bereits im jungen Erwachsenenalter treten die Unterschiede

8. Bluthochdruck 12-Monats-Prävalenz

1. Subjektive Gesundheit Prävalenz („mittelmäßig bis sehr schlecht“) 2. Gesundheitsbedingte Einschränkungen bei alltäglichen Aktivitäten Prävalenz starker oder mäßig starker Einschränkungen 3. Chronisches Kranksein Prävalenz mind. einer chronischen Erkrankung bzw. lang andauernder Gesundheitsprobleme 4. Diabetes 12-Monats-Prävalenz des bekannten Diabetes mellitus 5. Koronare Herzkrankheit 12-Monats-Prävalenz von Herzinfarkt, chronischen Beschwerden infolge eines Herzinfarktes, koronarer Herzerkrankung oder Angina pectoris 6. Depression 12-Monats-Prävalenz der selbstberichteten ärztlich diagnostizierten Depression 7. Allergien 12-Monats-Prävalenz

Thema (Indikator)

Bildung Mittel [%] (95 %-KI) 32,1 (30,6–33,7)

Bildung Hoch [%] (95 %-KI) 22,9 (21,4–24,4)

Niedrig vs. Hoch [OR] (95 %-KI) 2,74 (2,31–3,24)

Mittel vs. Hoch [OR] (95 %-KI) 1,89 (1,69–2,11)

Frauen Bildung Niedrig [%] (95 %-KI) 47,9 (45,3–50,5) Bildung Mittel [%] (95 %-KI) 31,2 (29,8–32,6)

Bildung Hoch [%] (95 %-KI) 20,8 (19,2–22,5)

Niedrig vs. Hoch [OR] (95 %-KI) 2,63 (2,27–3,04)

Mittel vs. Hoch [OR] (95 %-KI) 1,60 (1,43–1,79)

Gesamt* Bildung Niedrig [%] (95 %-KI) 43,5 (41,6–45,5)

Bildung Mittel [%] (95 %-KI) 31,6 (30,6–32,6)

Bildung Hoch [%] (95 %-KI) 22,1 (20,9–23,3)

Niedrig vs. Hoch [OR] (95 %-KI) 2,63 (2,36–2,94)

Mittel vs. Hoch [OR] (95 %-KI) 1,73 (1,60–1,87)

8,7 (7,8–9,7)

6,2 (5,4–7,1)

6,7 (5,9–7,6)

23,7 (22,2–25,3) 33,8 (32,2–35,4)

10,0 (8,3–11,9)

6,5 (5,3–8,0)

7,5 (6,0–9,3)

23,5 (20,7–26,5) 29,6 (27,2–32,2)

26,9 (25,2–28,7) 32,3 (30,6–34,2)

5,1 (4,3–5,9)

5,2 (4,5–6,1)

7,5 (6,6–8,5)

3,1 (2,5–3,7)

0,71 (0,60–0,85) 1,28 (1,09–1,50)

0,79 (0,70–0,89) 1,31 (1,17–1,46)

27,3 (25,1–29,6) 42,5 (40,2–44,9)

32,2 (30,8–33,5) 29,3 (27,8–30,9)

1,59 1,37 12,2 9,6 (1,18–2,12) (1,10–1,71) (10,6–14,0) (8,8–10,5)

1,56 1,40 7,3 (1,15–2,13) (1,13–1,72) (6,1–8,7)

1,77 1,35 12,3 5,8 (1,35–2,32) (1,14–1,60) (10,8–14,0) (5,1–6,6)

35,6 (33,8–37,6) 20,2 (18,5–22,1)

6,5 (5,6–7,5)

1,2 (0,8–1,8)

3,6 (2,9–4,5)

0,76 (0,66–0,87) 1,54 (1,31–1,81)

0,88 (0,80–0,97) 1,41 (1,25–1,59)

25,9 (24,1–27,7) 37,7 (35,9–39,6)

2,00 1,53 10,5 (1,55–2,57) (1,26–1,85) (9,3–11,7)

2,45 1,94 7,0 (1,52–3,95) (1,24–3,04) (6,1–8,0)

28,1 (27,0–29,2) 31,5 (30,4–32,6)

8,2 (7,6–8,8)

4,6 (4,1–5,1)

1,93 1,35 11,4 7,2 (1,44–2,59) (1,04–1,74) (10,3–12,7) (6,6–7,8)

30,4 (29,0–31,8) 27,6 (26,2–29,0)

5,6 (5,0–6,3)

3,7 (3,2–4,2)

6,0 (5,3–6,6)

0,75 (0,67–0,83) 1,42 (1,26–1,59)

0,84 (0,77–0,91) 1,34 (1,23–1,46)

1,78 1,43 (1,47–2,16) (1,23–1,67)

1,77 1,47 (1,41–2,23) (1,23–1,77)

1,82 1,34 (1,52–2,19) (1,17–1,53)

43,1 45,2 43,5 1,29 1,21 53,7 48,0 42,6 1,19 1,16 49,7 46,6 43,2 1,20 1,18 (40,1–46,2) (43,4–46,9) (41,8–45,3) (1,10–1,50) (1,10–1,33) (51,0–56,3) (46,4–49,5) (40,8–44,4) (1,04–1,37) (1,06–1,28) (47,7–51,8) (45,4–47,8) (41,9–44,5) (1,08–1,32) (1,10–1,26)

26,6 25,8 18,5 2,09 1,74 34,9 23,7 16,7 1,89 1,41 31,8 24,7 17,8 2,01 1,59 (23,9–29,5) (24,2–27,3) (17,1–20,0) (1,75–2,50) (1,55–1,97) (32,6–37,3) (22,5–24,9) (15,2–18,4) (1,61–2,22) (1,24–1,60) (30,0–33,7) (23,7–25,7) (16,7–18,9) (1,80–2,26) (1,46–1,74)

Männer Bildung Niedrig [%] (95 %-KI) 36,2 (33,3–39,2)

Tab. 2 Gesundheitszustand, Krankheiten, Risikofaktoren und Gesundheitsverhalten von Erwachsenen in Deutschland nach Bildung (ISCED 2011). Prävalenzen und altersadjustierte Odds Ratios (OR) mit 95 %-Konfidenzintervallen (95 %-KI)

502 B. Kuntz et al.

13,8 19,9 0,40 0,64 12,6 15,6 19,7 0,62 0,78 (12,8–14,9) (18,3–21,7) (0,33–0,49) (0,57–0,72) (11,2–14,0) (14,8–16,5) (18,7–20,7) (0,54–0,72) (0,72–0,85)

46,6 43,3 38,9 1,24 1,15 26,5 25,9 19,0 1,72 1,54 34,0 34,3 31,0 1,41 1,27 (43,4–49,9) (41,6–45,0) (36,9–40,8) (1,07–1,44) (1,04–1,27) (24,5–28,7) (24,6–27,2) (17,6–20,4) (1,47–2,01) (1,38–1,71) (32,3–35,8) (33,2–35,5) (29,7–32,4) (1,28–1,56) (1,18–1,37)

17,9 17,6 19,6 0,93 0,89 9,4 (15,5–20,7) (16,3–19,0) (18,3–20,9) (0,76–1,13) (0,79–1,01) (8,0–11,0)

34,6 28,6 19,4 1,81 1,54 20,6 22,8 14,2 2,02 1,92 25,8 25,6 17,4 1,84 1,67 (31,2–38,2) (27,2–30,2) (18,0–20,9) (1,51–2,16) (1,36–1,74) (18,8–22,6) (21,5–24,1) (13,0–15,4) (1,72–2,37) (1,69–2,18) (24,0–27,7) (24,6–26,6) (16,3–18,4) (1,63–2,07) (1,52–1,83)

58,4 56,7 49,7 1,16 1,23 37,5 40,2 29,1 1,91 1,78 45,3 48,2 41,6 1,47 1,42 (55,0–61,6) (55,0–58,3) (47,8–51,6) (0,99–1,36) (1,11–1,35) (35,2–40,0) (38,8–41,7) (27,5–30,8) (1,65–2,20) (1,61–1,96) (43,4–47,3) (47,0–49,4) (40,2–43,0) (1,33–1,63) (1,33–1,52)

58,4 53,6 45,3 1,81 1,43 64,3 57,6 48,3 1,86 1,44 62,1 55,6 46,5 1,81 1,43 (55,0–61,8) (51,7–55,4) (43,4–47,3) (1,55–2,12) (1,29–1,58) (61,8–66,7) (55,9–59,3) (46,0–50,6) (1,61–2,14) (1,29–1,60) (60,0–64,0) (54,3–57,0) (45,0–48,0) (1,64–2,00) (1,33–1,53)

18,5 20,0 14,7 1,46 1,51 22,0 18,3 11,5 1,93 1,67 20,7 19,1 13,5 1,66 1,55 (16,1–21,2) (18,5–21,4) (13,5–16,1) (1,20–1,77) (1,32–1,74) (19,8–24,2) (17,2–19,4) (10,3–13,0) (1,60–2,34) (1,44–1,93) (19,0–22,5) (18,2–20,0) (12,5–14,6) (1,45–1,89) (1,39–1,73)

Kursivdruck = statistisch signifikant (p < 0,05); * bei „Gesamt“ sind die Odds Ratios zusätzlich adjustiert nach Geschlecht

9. Adipositas Starkes Übergewicht, BMI >= 30 (Selbstangaben) 10. Wenig oder kein Freizeitsport Anteil der Befragten, die die WHO–Empfehlung nicht erreichen (110 % 106 377 17 16 93 104 17 373 16 376 13 369 369 329 15 332 48

Anzahl Planungsbereiche Versorgungsgrad >140 % 106 286 11 10 57 52 8 172 6 137 6 130 129 126 5 90 21

Anzahl Planungsbereiche 106 385 17 16 93 106 17 391 16 385 17 385 385 385 16 385 96

Anteil >110 % [in %] 100 98 100 100 100 98 100 95 100 98 76 96 96 85 94 86 50

Anteil >140 % [in %] 100 74 65 63 61 49 47 44 38 36 35 34 34 33 31 23 22

15 355 7 322 3669

3 70 3 55 1483

16 385 17 385 4004

94 92 41 84 92

19 18 18 14 37

Neben der „Aufkaufregelung“ schuf der Gesetzgeber mit dem GKV-VStG die Möglichkeit, dass KVen Niederlassungswillige in unterversorgten oder drohend unterversorgten Regionen aus Mitteln eines Strukturfonds fördern können. Schafft eine KV einen solchen Strukturfonds aus Mitteln der Gesamtvergütung, haben die Krankenkassen diese Mittel zu verdoppeln. Hiervon haben einige KVen Gebrauch gemacht, etwa Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen (Deutscher Bundestag 2018). Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) plant der Gesetzgeber, alle KVen zur Einrichtung von Strukturfonds zu verpflichten und den darin zu investierenden Anteil der Gesamtvergütung von 0,1 auf 0,2 % zu erhöhen.

5.2

Herausforderung: Veränderungen in der Versichertenstruktur

Seit der Wiedervereinigung haben sich Trends der Binnenmigration manifestiert, durch die die demografische Alterung regional modifiziert wird. Folgt man den amtlichen Bevölkerungsvorausberechnungen, ist bis in die Mitte dieses Jahrhunderts mit einer zunehmenden Konzentration der deutschen Bevölkerung in wenigen Ballungsräumen zu rechnen. Dem bisherigen und künftigen Bevölkerungswachstum in

diesen Ballungsräumen steht ein Abwanderungsprozess in anderen, vorwiegend ländlichen Regionen insbesondere in den neuen Bundesländern gegenüber. Es sind insbesondere junge Frauen und Familien, die auf der Suche nach Bildung und einem besseren Arbeitsplatzangebot in Ballungsräume gehen. Die Abwanderungsregionen sind strukturschwach; ihre früheren Strukturen werden durch anhaltende Abwanderung zudem immer weiter in Frage gestellt. Demografische Trends sind insofern untrennbar auch mit sozialstrukturellen, wirtschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklungen verbunden. Dies hat aus Sicht der Bedarfsplanung zwei Folgen: Es kommt in Abwanderungsregionen zu einer Verdichtung des Behandlungsbedarfs pro Kopf, da Altersdurchschnitt, Multimorbidität und sozialstrukturbedingte Inanspruchnahmeanlässe besonders stark vertreten sind. Zugleich ist die Bereitschaft von Ärzten, sich hier niederzulassen, eher gering ausgeprägt, weil Rahmenbedingungen wie etwa ein passendes Arbeitsplatzangebot für den Lebenspartner oder erreichbare und gute Schulen für die Kinder fehlen und die ärztliche Tätigkeit selbst betroffen ist: größere Praxen, längere Arbeitszeiten, mehr Bereitschaftsdienste als in Ballungsräumen bei gleichzeitig geringeren Kooperationsmöglichkeiten wegen einer weniger dichten fachärztlichen Struktur oder fehlender Spezialisierung der Krankenhäuser (Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein 2013).

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D. Graf von Stillfried

Während in den Abwanderungsregionen die erwartete Inanspruchnahme vertragsärztlicher Leistungen, insbesondere der von älteren Menschen erwartungsgemäß stark beanspruchten Fachgruppen, zunächst steigt, wird sie innerhalb von ca. 10–15 Jahren bedingt durch die stärker abnehmende Bevölkerung rückläufig werden. In vielen Ballungsräumen ist dagegen noch einige Jahre mit einem stetigen Anstieg der Versorgungsbedarfe für nahezu alle vertragsärztlichen Fachgruppen zu rechnen, da dort die demografische Alterung aufgrund des bisherigen Zuzugs jüngerer Menschen später einsetzt. Insgesamt wird Deutschland im Hinblick auf die Versorgungsbedarfe in den Regionen damit sehr viel heterogener (Schulz et al. 2016).

5.3

Herausforderung: Veränderungen in der Arztstruktur

Nicht nur die Versicherten altern demografisch. Auch das Durchschnittsalter der niedergelassenen Ärzte steigt perspektivisch an (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2017b). Der Nachwuchs verteilt sich aus einer Vielzahl von Gründen, die in der Aus- und Weiterbildungsstrukturen liegen, nicht gleichmäßig über die Fachgruppen. Insbesondere in der Allgemeinmedizin bestehen Nachwuchsprobleme und trotz zwischenzeitlich eingerichteter Förderprogramme Zweifel, ob die für den künftigen Versorgungsbedarf notwendigen Kapazitäten zur Verfügung stehen werden (Korzilius 2016). Durch die zunehmende Subspezialisierung in der fachärztlichen Versorgung und Veränderungen in den Weiterbildungsordnungen der Ärztekammern ergeben sich aber auch vergleichbare Nachwuchsprobleme in den allgemeineren fachärztlichen Fachgebieten, wie etwa in der Chirurgie oder für Internisten ohne Schwerpunkt. Infolge des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes (VÄndG) von 2006 werden nun langfristig wirksame Veränderungen in der Arztstruktur sichtbar, die im Schnitt zu einem reduzierten Arbeitsangebot je Teilnehmer an der vertragsärztlichen Versorgung führen. In dem Maße, wie Vertragsärzte von der Möglichkeit Gebrauch machen, zugleich auch stationär tätig zu sein, Kinder zu erziehen oder sich anderen Aufgaben zu widmen, nimmt der Umfang an Teilzulassungen sowie die Anstellung in der vertragsärztlichen Versorgung stetig zu (Czihal und von Stillfried 2016). Der Preis dieser Flexibilisierung ist ein abnehmendes Arbeitszeitangebot und eine geringere Arbeitsleistung je Stunde in der vertragsärztlichen Versorgung. Nach Auswertungen aus dem Zi-Praxis-Panel (Zi-PP) liegt die mittlere Arbeitszeit selbständiger Praxisinhaber mit Vollzulassung bei rund 51 Wochenstunden. Eine Vollzulassung füllt ein angestellter Arzt bereits mit einem Arbeitsvertrag über 30 Wochenstunden aus, kaum einer arbeitet vertraglich aber mehr als 40 Wochenstunden (Abb. 3). Auch die Wochenstundenzahl der Arbeit mit Patienten ist für angestellte Ärzte gerin-

ger als für selbständige Vertragsärzte (Kassenärztliche Vereinigung Bayerns 2017). Für Ärzte mit vollem Versorgungsumfang liegt die Versorgungsleistung der Angestellten im Schnitt über alle Fachgruppen bei rund 70 % derjenigen der Selbständigen (Czihal 2016; Tab. 4). Berücksichtigt man diese Effekte, ist es daher nicht verwunderlich, dass trotz einer rechnerischen Überversorgung von den Versicherten eine Verknappung des Angebots an vertragsärztlichen Versorgungsleistungen wahrgenommen wird. Während durch die Alterung der Versicherten zwischen 2009 und 2015 rechnerisch rund 3,75 % mehr hausärztliche Kapazität notwendig gewesen wäre, ist das Angebot gewichtet nach dem Teilnahmeumfang im gleichen Zeitraum um 2,2 % gesunken; hierbei ist der ausgeprägte Effekt durch die Zunahme der Anstellungsverhältnisse noch nicht berücksichtigt. Während die Arztzahlen in der vertragsärztlichen Versorgung zwischen 2009 und 2016 nach Köpfen um 14,2 % gestiegen sind, hat angesichts des Rückgangs voll zugelassener Vertragsärzte um 13,5 % (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2018g) ein effektiver Rückgang der verfügbaren vertragsärztlichen Kapazität stattgefunden.

5.4

Herausforderung: Veränderungen in der Medizin

Der medizinische Fortschritt beinhaltet viele Entwicklungen, die zu neuen Möglichkeiten der ambulanten Behandlung beitragen, so etwa die Einführung neuer Wirkstoffe in der Arzneimitteltherapie oder minimalinvasive Operationsverfahren. Über einen Zeitraum mehrerer Jahre werden nachhaltige Veränderungen in der Arbeitsteilung zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung sichtbar. So sind etwa in der Behandlung des Diabetes mellitus oder von HIV/AIDS stationäre Behandlungen nur noch in Ausnahmefällen erforderlich. In der Onkologie sind daher in den vergangenen Jahren die Prävalenzen stationärer Aufnahmen deutlich zurückgegangen (Statistisches Bundesamt 2008, 2016). Dieser Prozess wurde von Busse und Wörz (2008) als Ambulantisierung der Medizin bezeichnet. Ein weiterer Faktor der Ambulantisierung besteht in Deutschland im Niederlassungsprozess. Da die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung eine abgeschlossene Facharztweiterbildung voraussetzt, ist die Niederlassung auch ein Verfahren, die im Krankenhaus erworbenen Kompetenzen und damit auch den Stand des medizinischen Fortschritts in die vertragsärztliche Versorgung einzubringen, vorausgesetzt der vertragsärztliche Leistungskatalog lässt dies zu. Ein Maßstab für die fortschreitende Ambulantisierung sind die Kataloge ambulant-sensitiver Konditionen, also derjenigen Erkrankungen, die bei optimaler ambulanter Versor-

48

Ambulante Versorgungsleistungen

577

25 %

angestellte Ärzte

Inhaber

20 %

Anteil

15 %

10 %

5%

0%

Stunden pro Woche Abb. 3 Verteilung der ärztlichen Tätigkeiten (Wochenarbeitsstunden) von Inhabern und angestellten Ärzten im Jahr 2015 (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung 2018a)

Tab. 4 Anteil Ärzte/Psychotherapeuten nach Teilnahmeumfang. (Darstellung auf Basis der KBV-Gesundheitsdaten)

Anstellung 10 h/Woche Anstellung >10–20 h/Woche Hälftiger Versorgungsauftrag Vertragsarzt Anstellung >20–30 h/Woche Anstellung >30 h/Woche Voller Versorgungsauftrag Vertragsarzt

31.12.2009 [in %] 0,9 1,5 0,9

31.12.2015 [in %] 2,7 4,9 8,4

0,5 3,8 92,3

1,3 6,9 75,8

gung weitestgehend ohne stationäre Behandlung versorgt werden können. Einer der jüngsten Kataloge dieser Art wurde 2015 für Deutschland veröffentlicht (Sundmacher et al. 2015). Er ist der bislang umfangreichste Katalog seiner Art und beschreibt den Anteil der verlagerungsfähigen Behandlungen für 22 Kernindikationen. Allerdings ist das auf dieser Basis errechnete Verlagerungspotenzial von rund 7,2 Mrd. EUR bisher bei weitem nicht realisiert (Zentralinstitut 2015). Das ambulante Potenzial ist dort am höchsten, wo die Bettendichte als Indikator für die stationären Versorgungskapazitäten besonders hoch ist (Albrecht 2015a, b,

Goffrier et al. 2018). Diese Erkenntnis zeigt, dass die Ambulantisierung der Medizin sich regional unterschiedlich vollzieht und durch einen fehlenden Strukturwandel in der Versorgung erheblich eingeschränkt werden kann.

5.5

Weiterentwicklung der Bedarfsplanung: Zielvorgabe ambulant vor stationär

Der SVR-Gesundheit hat bereits 2012 darauf hingewiesen, dass es im Interesse einer besseren Versorgungsqualität und einer höheren Gesamteffizienz der gesetzlichen Krankenversicherung notwendig sei, das in Deutschland besonders ausgeprägte ambulante Potenzial in der stationären Versorgung zu erschließen. Hierfür bedarf es einer sektorenübergreifenden Perspektive in der Bedarfsplanung. Eine solche ist im SGB V bisher nicht angelegt. Zwar gilt generell der Grundsatz „ambulant vor stationär“ (§ 39 Sozialgesetzbuch V), aber die Sektorentrennung hat viele Verankerungen im SGB V. Historisch betrachtet war die Gewährung von Krankenhausbehandlung eine Ausnahmeleistung in der GKV. Sie wurde nur dann gestattet, wenn die Möglichkeiten der ambulanten Behandlung ausgeschöpft waren, und eine Kranken-

578

hausbehandlung bedurfte daher nicht nur zwingend einer ärztlichen Einweisung, sondern auch der vorherigen Genehmigung bzw. Kostenübernahmeerklärung der Krankenkasse. Erst 1972 wurde die Rechtslage dahingehend geändert, dass über die Notwendigkeit der stationären Aufnahme durch den Krankenhausarzt alleine entschieden wird. " Vor diesem Hintergrund waren die vertragsärztliche Versorgung und der Krankenhaussektor jeweils einer höchst unterschiedlichen Entwicklung unterworfen. Sie unterscheiden sich somit im Leistungsrecht, in der Verantwortung für die Sicherstellung, in den Kriterien der Bedarfsplanung, in der Kalkulationssystematik und Struktur der Vergütung und in der Budgetsteuerung. Eine sektorenübergreifende Planung und Budgetsteuerung müsste daher mindestens erlauben, dass die Kapazität und die prospektiven Mengenvereinbarungen der Krankenhäuser jeweils auch davon abhängig gemacht werden, welcher Versorgungsbedarf bereits durch die ambulante Versorgung gedeckt werden soll und an welchen Standorten der stationären Versorgung das jeweilige Leistungsgeschehen konzentriert werden sollte (Bohm und Schräder 2014).

Eine effiziente sektorenübergreifende Planung setzt einen klaren inhaltlich definierten Auftrag des Gesetzgebers voraus. Aus Sicht der vertragsärztlichen Versorgung kann eine solche Vorgabe nur darin bestehen, schrittweise das ambulante Potenzial in der stationären Versorgung zu heben (Nagel et al. 2017; von Stillfried et al. 2017). Fraglich ist, ob die im Koalitionsvertrag vorgesehene Bildung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hierfür bis 2020 entsprechende Vorschläge zur Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung unterbreitet. Unterstellt, es gäbe einen entsprechenden gesetzlichen Auftrag, würde eine Regelung zur Hebung des Substitutionspotenzial zwischen stationären und ambulanten Versorgungsangeboten vermutlich als Aufgabe an den G-BA delegiert. Dabei steht die Politik vor der Entscheidung, was sie beauftragen soll: Entweder sie verlangt vom G-BA, detaillierte Vorgaben für kleinräumige Strukturveränderungen jeweils in der ambulanten und in der stationären Versorgungsstruktur zu formulieren, oder sie beschränkt den Auftrag auf die Abstimmung eines Korridors aus maßgeblichen Kriterien, innerhalb dessen KVen und Länder in Wahrnehmung ihrer bisherigen Planungskompetenzen abgestimmte Entscheidungen treffen können. Letzteres erscheint angesichts der großen regionalen Strukturunterschiede in der vertragsärztlichen und in der stationären Versorgung (Drösler et al. 2016) eher angemessen. Damit stationäre Einrichtungen ganz oder teilweise in ambulante Versorgungsangebote umgewandelt werden können, sind maßgeschneiderte Lösungen vor Ort notwendig. Um dabei der verfassungsrechtlich geforderten Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse Rechnung zu tragen, könnte der G-BA bundeseinheitliche Maßstäbe definieren, innerhalb

D. Graf von Stillfried

welcher Fahrzeit oder Kilometerdistanz Versorgungseinrichtungen je nach Spezialisierungsgrad mindestens erreichbar sein müssen. Lücken in der Versorgung lassen sich in diesem Fall einfach feststellen. Anhand eines weiteren Kriteriums, der mittleren Auslastung der Einrichtungen eines Fachgebiets oder einer Versorgungsebene, wäre zu prüfen, ob – bei gegebener Mindesterreichbarkeit – ggf. zusätzliche Versorgungseinrichtungen notwendig sind oder die Zahl bestehender Einrichtungen reduziert werden kann. Die Auslastung könnte anhand der mittleren Fallzahl pro Jahr gemessen werden. Tab. 5 zeigt regionale Unterschiede in den mittleren Fallzahlen je Arzt für die beplanten Fachgebiete in der vertragsärztlichen Versorgung sowie die Fallzahlen in der vertrags-

Tab. 5 Mittlere Fallzahlen je Arzt für die beplanten Fachgebiete in der vertragsärztlichen Versorgung sowie die Fallzahlen in der vertragsärztlichen Versorgung insgesamt 2017 und in der stationären Versorgung 2015. (Kassenärztliche Bundesvereinigung, Fallpauschalenbezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik), Statistisches Bundesamt 2016)

Anästhesiologie Augenheilkunde Chirurgie Dermatologie Fachinternisten Gynäkologie Hals-Nasen-OhrenHeilkunde Hausärzte Humangenetik Kinder- und Jugendmedizin Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Laboratoriumsmedizin Nervenheilkunde* Neurochirurgie Nuklearmedizin Orthopädie Pathologie Physikalische und Rehabilitative Medizin Psychotherapeuten Radiologie Strahlentherapie Urologie Alle Fachgruppen Krankenhausfälle Fälle je Krankenhausarzt** *Ohne Neurologie **2015

Kleinster Wert Fallzahl je Arzt und KV 676 3663 1816 4835 1957 3000 3928

Höchster Wert Fallzahl je Arzt und KV 1292 5652 2946 6757 3033 4510 5644

2642 274 1920

4220 3296 3885

486

1482

25.725 2232 1262 832 3203 5978 1524

76.874 4387 4944 4947 4889 15.965 3579

144 1303 348 3093 2275 82

251 6305 1774 5262 3746 117

48

Ambulante Versorgungsleistungen

ärztlichen Versorgung insgesamt und in der stationären Versorgung. Schon diese Unterschiede verdeutlichen, dass die Praxen unterschiedlicher Fachrichtungen in den Regionen recht unterschiedliche Versorgungsfunktionen wahrnehmen. In Regionen mit einer weniger starken fachärztlichen Versorgung wird dies durch Hausärzte und teilweise durch Krankenhäuser kompensiert. Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen den fachärztlichen Leistungen. " Um den Grundsatz ambulant vor stationär in der Strukturplanung zu berücksichtigen, sollten auch neue Formen der ambulanten Versorgung, wie etwa bettenführende Praxen oder Praxiskliniken für kurzstationäre Behandlungen, Berücksichtigung finden können.

Damit wurden international Erfolge bei der Verringerung teurer akutstationärer Aufnahmen und eine höhere Versorgungseffizienz und -qualität erreicht (Purdy et al. 2012; Timmins und Ham 2013). In ländlichen Regionen könnte der akutstationäre Bereich somit reduziert werden. Würden in unmittelbarer räumlicher Nähe ambulante Versorgungsangebote (co-location) konzentriert, wäre der stationäre Teil auch gut durch niedergelassene bzw. ambulant tätige Ärzte mit „hospital privileges“, wie das Belegarztprinzip in den USA genannt wird, zu unterstützen. Obwohl das Belegarztwesen in seiner ursprünglichen Form aufgrund der unattraktiven Rahmenbedingungen für Planung und Vergütung (Albrecht 2018) in Deutschland weitgehend verschwunden ist, zeigen aktuelle Studien, dass es eine effiziente Alternative zur Versorgung in Hauptabteilungen sein könnte (Hahn und Mussinghoff 2017). Zudem sollten die Krankenkassen als Kostenträger insgesamt einbezogen sein. Die einfachste Variante einer sektorenübergreifenden Planung wäre daher, die bestehenden Gremien, den Landes- und den Zulassungsausschuss, mit einem erweiterten gesetzlichen Auftrag zu versehen, die Länder an der Planung zu beteiligen, soweit Krankenhausstandorte ganz oder teilweise substituiert werden, um den jeweiligen Krankenhausplan angemessen korrigieren zu können, und ein Schiedsverfahren einzuführen, an dessen Entscheidungen auch die Länder gebunden wären. Die oben beschriebenen Effekte der demografischen Entwicklung und der Strukturänderungen in der Versorgung zeigen, dass die Zahl der Standorte, an denen künftig ambulante ärztliche oder stationäre Versorgung angeboten werden wird, abnehmen und die Versorgungsstrukturen stärker konzentriert werden müssen. Diese Herausforderung ist am besten am Beispiel der Notfallversorgung zu beschreiben.

6

Notfallversorgung

Die Komplexität der Notfallversorgung resultiert daraus, dass sie ein besonders wichtiges Bindeglied zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung ist. Immer mehr Patienten

579

suchen im Falle gesundheitlicher Beschwerden direkt die Notaufnahme eines Krankenhauses auf, wobei der auffälligste Anstieg im Jahr 2013 nach Abschaffung der Praxisgebühr zu beobachten war (Heuer 2016). Im Jahr 2015 wurden in den Notaufnahmen rund 8,5 Mio. Patienten ambulant behandelt und im Rahmen der Bereitschaftsdienstfunktion mit den KVen abgerechnet. Noch einmal rund 8,5 Mio. Fälle wurden im Jahr 2015 als Notfall, d. h. ohne ärztliche Einweisung, aufgenommen (Heuer 2016). Die steigende Direktinanspruchnahme der Krankenhäuser wird in mehrfacher Hinsicht kritisch bewertet. Der Anteil stationärer Aufnahmen mit dem Aufnahmekennzeichen „Notfall“ lag im Jahr 2016 bei rund 50 % aller stationär behandelten Fälle (Abb. 4). Während Fälle mit Einweisung absolut zurückgehen, führt der konstant steigende „Notfall“Anteil zu einer insgesamt steigenden Fallzahl im Krankenhaus (Schreyögg et al. 2014). Dabei wird die zunehmende Direktinanspruchnahme zu einem erheblichen Teil als unsachgemäß eingeschätzt. So ergab ein Gutachten der Notfallmediziner (DGINA), dass die in einer Stichprobe von 250 Krankenhäusern ambulant in den Notaufnahmen behandelten Fälle bis zu 50 % durch Vertragsärzte versorgt werden könnten (Haas et al. 2015), wenn dafür geeignete Kapazitäten im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst geschaffen werden. Obwohl die Notaufnahmen den Bereitschaftsdienst nur außerhalb der Praxisöffnungszeiten ergänzen sollen, werden sie insbesondere in den Ballungsräumen zunehmend auch während der Praxisöffnungszeiten für prinzipiell ambulant behandelbare Krankheiten in Anspruch genommen (IGES 2015). In Regionen wie Berlin kann dies dazu führen, dass die Krankenhäuser tatsächlich die Hauptlast der Bereitschaftsdienstfälle übernehmen (von Stillfried et al. 2017; Kassenärztliche Vereinigung Berlin 2017). Die Motivation der Patienten stellt sich als komplexes Zusammenwirken einer Vielzahl von Gründen dar. Diese reichen von der Unkenntnis ambulanter Versorgungsstrukturen über vermeintliche oder tatsächliche Schwierigkeiten, Termine in Vertragsarztpraxen zu erhalten, bis hin zu qualitativen Einschätzungen und Erwartungshaltungen von Patienten (Somasundaram et al. 2016; Schmiedhofer et al. 2017, Scherer et al. 2017; Tab. 6). In allen Industrieländern wird gesundheitspolitisch diskutiert, wie die zunehmende Inanspruchnahme der Notaufnahmen durch Patienten, die einer Krankenhausbehandlung nicht bedürfen, effektiv in alternative, effizientere Versorgungsangebote gesteuert werden kann (Van den Heede und van den Voorde 2016; Abb. 5). Für Deutschland kristallisierte sich zwischen 2015 und 2017 ein Lösungsvorschlag heraus, der im Wesentlichen folgende Maßnahmen kombiniert (Herrmann et al. 2017; SVR Gesundheit 2018): • Einrichtung sog. Portalpraxen an Krankenhäusern, in denen der ärztliche Bereitschaftsdienst geeignete

580

D. Graf von Stillfried

Abb. 4 Mittelwerte der 01210 und 01212 pro Stunde (bundesweit im 1. Halbjahr 2016)

Mittelwerte der 01210 und 01212 pro Stunde Bundesweit im 1. Halbjahr 2016

2.65

Mittelwert der durchschnittlichen Kontakte pro Stunde

2.5

2.0

1.62 1.5

1.21

0.94

1.0

0.76 0.61 0.48

0.5

0.32 0.14 0.02 0.0 0-10 %

10-20 % 20-30 % 30-40 % 40-50 % 50-60 % 60-70 % 70-80 % 80-90 % 90-100 %

Krankenhäuser in Prozent

Tab. 6 Anteil der Patienten mit mindestens einem Arztbrief im Jahr 2015 für ausgewählte Fachgruppen. Eigene Berechnungen auf Basis der bundesweiten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten (2015)

Fachgruppe Hausärzte Nichtärztliche Psychotherapeuten Gynäkologie Innere Medizin Kinder- und Jugendmedizin Orthopädie Chirurgie Augenheilkunde Ärztliche Psychotherapeuten Hals-NasenOhrenheilkunde Radiologie Hautärzte Anästhesiologie

Anzahl Ärzte 56.564 22.553

Anzahl Patienten 56.893.853 1.533.561

Anteil Patienten mit mindestens einem Arztbrief* [in%] 9,9 32,7

12.483 12.248 7714

18.726.694 13.986.796 8.663.910

11,0 76,3 10,8

7212 6425 6246 5422

14.769.765 9.509.768 17.655.139 479.669

39,4 45,5 16,5 26,3

4411

12.462.550

17,7

4005 3945 3889

12.285.669 12.915.198 2.431.544

84,0 10,9 6,2

*Leistungen aus dem Abschnitt 40.4 des EBM

Patienten behandelt, bevor diese sich in der jeweiligen Notaufnahme präsentieren, • Implementierung eines möglichst einheitlichen Ersteinschätzungsverfahrens, welches die Dringlichkeit der weiteren Abklärung der gesundheitlichen Beschwerden und die dafür adäquate Versorgungsebene bestimmen kann, • Anwendung des Ersteinschätzungsverfahrens an einer zentralen Anlaufstelle für die Notaufnahme und die Portalpraxis (sog. Ein-Tresen-Prinzip) sowie ggf. an den Notaufnahmen ohne Portalpraxis und Implementierung eines niederschwelligen Telefon- und Onlineservices zur Ersteinschätzung, verbunden ggf. mit einer Terminvermittlung in geeignete Praxen oder mit einer telefonischen ärztlichen Patientenberatung. Dieser Vorschlag wurde von der KBV aufgenommen und ergänzt durch weitere Merkmale: • 24/7-Betrieb der Bereitschaftsdienstnummer 116117 und der Portal- bzw. Bereitschaftsdienstpraxen, um dem wachsenden Anteil der Direktinanspruchnahme während der Praxisöffnungszeiten entgegenzuwirken,

48

Ambulante Versorgungsleistungen

581

100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % Anteil der Versicherten 30 %

Anteil am gesamten Leistungsbedarf

20 % 10 %

27

26

24

25

23

21

22

20

19

18

17

16

15

14

13

12

11

10

8

9

7

6

5

4

3

2

1

0% Anzahl der je Versicherten pro Jahr in Anspruch genommenen vertragsärztlichen Praxen Abb. 5 Mehrfachinanspruchnahme ist die Regel in der vertragsärztlichen Versorgung (nur 15 % der Versicherten nehmen einen Arzt pro Jahr in Anspruch, weniger als 3 % des Leistungsbedarfs)

• Konzentration der Notaufnahmen auf Einrichtungen, die im 24/7-Betrieb eine qualifizierte Notfallversorgung aufrechterhalten können, damit Portal- bzw. Bereitschaftsdienstpraxen an diesen Orten etabliert werden. (KBV 2017b) Hauptproblem für eine wirksame Steuerung der Patienten, die einer echten Notfallversorgung bedürfen, ist die große Zahl von Notaufnahmen in Deutschland, die oftmals nur schlecht ausgestattet sind (Busse et al. 2016) und nur eine sehr geringe Anzahl vom Patienten behandeln. Für die Mehrheit der Notaufnahmen liegt diese unter 20.000 Patienten pro Jahr (von Stillfried et al. 2017). Dies hat nicht nur Implikation für die zu erwartende Patientensicherheit. Auch für eine Portalpraxis sind diese Notaufnahmen ungeeignet, da eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Auslastung der Portalpraxis nicht erreicht werden kann. Im EBM werden bislang nur behandelte Fälle, aber keine Vorhaltezeiten vergütet. Nach Auffassung des Bundessozialgerichts dürfen die Gesamtvertragspartner abweichend vom EBM keine Vereinbarungen zur Vergütung des Bereitschaftsdienstes treffen, in denen z. B. auch Vorhaltekosten berücksichtigt würden (Bundessozialge-

richt 2017). Um wirtschaftlich betrieben werden zu können, müsste eine Portalpraxis daher ca. mindestens 5 Fälle pro Stunde erreichen. Dies kann voraussichtlich nur an Notfallstandorten erreicht werden, wo im Schnitt zwischen 10 und 12 Patienten pro Stunde vorstellig werden. Diese Zahlen werden derzeit nur in England oder Dänemark erreicht, wo die Zahl der Notaufnahmen pro 100.000 Einwohner bei weniger als ca. einem Fünftel der deutschen Kapazität liegt (Stillfried et al. 2017). Die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses zur gestuften Notfallversorgung (G-BA 2018) geht in die Richtung, künftig eine begrenzte Zahl von Standorten als zentrale Notfallanlaufstellen auszuweisen. Sollte eine Konzentration der Notfallversorgung insgesamt auf die Standorte konzentriert werden, an denen auch Bereitschaftspraxen einzurichten sind, würde eine Zahl von ca. 750 Standorten ausreichen (RWI 2018). Bereitschaftspraxen, die auch während der normalen Öffnungszeiten an Krankenhäusern oder im unmittelbaren Umfeld tätig sind, könnten eine Lücke füllen, für die der Sachverständigenrat Gesundheit in seinem Reformkonzept das komplexe Konstrukt integrierter Notfallzentren entwickelt hat.

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" Somit dürfte eine erfolgreiche Reformstrategie im Bereich der Notfallversorgung mittelfristig sowohl Umstrukturierungen des stationären als auch des ambulanten Versorgungsbereiches nach sich ziehen und an den Standorten der Notfallversorgung zu neuen Kooperationsformen führen.

Der Qualitätsbericht der KBV gibt einen ausführlichen Überblick über die Vereinbarungen auf Bundesebene und die spezifischen je Maßnahme definierten Vorgaben und deren Prüfung.

8 7

Qualitätssicherung

In der vertragsärztlichen Versorgung basieren die meisten Qualitätssicherungsmaßnahmen auf Vereinbarungen der KBV und des GKV-Spitzenverbands, die als Partner des Bundesmantelvertrags Qualitätssicherungsvereinbarungen gemäß § 135 Abs. 2 SGB V treffen. Außerdem gelten für ausgewählte Leistungsbereiche Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach den §§ 135 Abs. 1 und 135b Abs. 2 SGB V. In der Regel stehen diese besonders qualitätsgesicherten Leistungsbereiche unter einem Genehmigungsvorbehalt, d. h. sie dürfen nicht ohne vorherige Genehmigung durch die zuständige KV erbracht und abgerechnet werden. Dazu prüft die KV die Einhaltung der jeweils geltenden Genehmigungsvoraussetzungen, wie z. B. besondere fachliche Befähigung, gerätetechnische Vorgaben, räumliche Gegebenheiten der Praxis. Die Prüfung erfolgt nicht nur einmal nach Beantragung der Genehmigung durch den Vertragsarzt. Vielmehr müssen laufend die entsprechenden Vorgaben wie spezielle Fortbildungs- und Leistungsnachweise, Mindestfrequenzen, gerätebezogene Anforderungen wie z. B. Wartungsnachweise, messtechnische Kontrollen oder Hygieneprüfungen erfüllt werden. Dies wird im Einzelfall anhand der in der Praxis vom Arzt geführten schriftlichen und bildlichen Dokumentationen über die ärztliche Behandlung von der Qualitätssicherungskommission der KVen stichprobenhaft geprüft. Die Praxis erhält als Teil der Qualitätssicherungsmaßnahme eine Rückmeldung zum Prüfungsergebnis. Die Mitteilung kann Aufforderungen zu Veränderungen enthalten. Letzte Konsequenz bei fortdauernden Qualitätsmängeln trotz wiederholter schwerwiegender Beanstandungen ist der Widerruf der Genehmigung. Im Jahr 2017 waren potenziell 169.866 Ärzte und Psychotherapeuten von Qualitätssicherungsmaßnahmen betroffen (KBV 2018j). Zum Ende des Berichtsjahres 2017 hielten die Ärzte und Psychotherapeuten rund 278.000 Genehmigungen zu verschiedenen Leistungsbereichen sowie rund 37.000 Genehmigungen für Psychotherapie. Spezielle Fortbildungsanforderungen wurden 2017 in rund 16.500 Fällen überprüft; noch häufiger waren gerätebezogene Überprüfungen im Bereich Ultraschall (rund 18.000). Von den Qualitätssicherungskommissionen wurden 2017 rund 12.300 Einzelfallprüfungen durchgeführt, wobei im Schnitt jeweils 1000 Patientendokumentationen überprüft wurden. Die Genehmigung einer Leistung wurde in 470 Fällen widerrufen. Die Einhaltung von Mindestfrequenzen wurde bei rund 4700 Vertragsärzten geprüft.

Fazit und Ausblick

Deutschland hat eine im internationalen Vergleich sehr gute ambulante Versorgungsstruktur, in der nicht nur die hausärztliche, sondern auch die fachärztliche Versorgung stattfindet. Dies ist eine gute Voraussetzung dafür, eine Ambulantisierungsdividende zu realisieren, die laut Sachverständigenrat darin bestehen könnte, dass auch künftig trotz demografischer Alterung eine angemessene und innovative medizinische Versorgung zu maßvollem Kostenanstieg verfügbar sein wird. Wer dies realisieren will, muss in die ambulanten Versorgungsstrukturen investieren und den Strukturwandel von stationär nach ambulant beherzt angehen. Dafür müssen offene Fragen in der Vergütungsstruktur gelöst werden und Lösungen gefunden werden, die dem heute schon erkennbaren Kapazitätsabbau in der verfügbaren „Arztzeit“ entgegenwirken.

Literatur Albrecht M (2018) Perspektiven einer sektorenübergreifenden Vergütung ärztlicher Leistungen. https://www.zi.de/fileadmin/images/content/Ver anstaltungen/2018-06-12/Albrecht_Zi-Forum_sektorenuebergreifen de_Verguetung_2018-06-12.pdf. Zugegriffen am 10.10.2018. Vortrag auf Zi-Forum „Sektorenübergreifende Vergütung – Chimäre oder bald schon Realität?“ am 12.06.2018 Albrecht M, Sander M (2015a) Einsparpotenziale durch ambulantsensitive Krankenhausfälle (ASK). https://www.versorgungsatlas.de/ themen/alle-analysen-nach-datum-sortiert/?tab=4&uid=59. Zugegriffen am 01.10.2018. https://doi.org/10.20364/VA-15.08 Albrecht M, Sander M (2015b) Demenzversorgung aus sektorübergreifender Sicht (2008–2010). https://www.versorgungsatlas.de/filead min/ziva_docs/57/VA-57-2015-Kurzbericht-final.pdf. Zugegriffen am 10.10.2018 Albrecht M, Schliwen A, Loos S (2014) Forschungsvorhaben zur Umsetzung des § 221b Absatz 2 SGB V – Evaluierung der Auswirkungen von Zuschlägen zur Förderung der vertragsärztlichen Versorgung in unterversorgten Gebieten (§ 87a Absatz 2 Satz 3 SGB V). Abschlussbericht, o. O AOK-Bundesverband (2004) Der Risikostrukturausgleich ist ein notwendiges Instrument für fairen Wettbewerb – BKK-Forderung nach RSA-Begrenzung ist so unsinnig wie die Heizung abzuschalten, wenn es kälter wird. Pressemitteilung vom 13.12.2004 Berger I, Leipnitz K, Wilhelm B (2018) Bericht des Instituts des Bewertungsausschusses zur Weiterentwicklung des Klassifikationssystems sowie zur Ermittlung der Veränderungsraten für das Jahr 2018 gemäß § 87a Abs. 5 SGB V, Berlin Bohm S, Schräder W (2014) Quantifizierung von kleinräumigen Verlagerungseffekten mit Blick auf die Budgetverhandlungen mit einzelnen Krankenhäusern. Gutachten im Auftrag des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung und der Barmer GEK Bundesärztekammer (2018) Ärztestatistik zum 31. Dezember 2017, Bundesgebiet gesamt. http://www.bundesaerztekammer.de/filead min/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Statistik2017/Stat17AbbT ab.pdf. Zugegriffen am 10.10.2018

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Ambulante Versorgungsleistungen

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583 Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt. Krefeld, Bayreuth/ Mannheim Drösler S, Neukirch B, Ulrich V, Wille E (2016) Möglichkeiten der Berücksichtigung von Besonderheiten der Versorgungsstrukturen als modifizierender Faktor des risikoadjustierten Behandlungsbedarfs im Rahmen der vertragsärztlichen Vergütung. Gutachten im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns Erhart M, Hering R, Schulz M, von Stillfried D (2013) Morbiditätsatlas Hamburg. Gutachten zum kleinräumigen Versorgungsbedarf in Hamburg – erstellt durch das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland im Auftrag der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz Hamburg. https://www.hamburg.de/contentb lob/4133362/35bef19f920952a5b4bb098389834170/data/morbidi taetsatlas.pdf. Zugegriffen am 24.03.2019 Geling O, Janssen C, Lüschen G (1996) Alter Gesundheitsstatus und die Inanspruchnahme von Allgemein- und Fachärzten. Soz Präventivmed 41:36–46 Gemeinsamer Bundesausschuss, (2018) Regelungen zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern gemäß § 136c Absatz 4 SGB V. https://www.g-ba.de/downloads/39-261-3301/ 2018-04-19_Not-Kra-R_Erstfassung.pdf. Zugegriffen am 10.10.2018 Goffrier B, Czihal T, Holstiege J, Steffen A, Schulz M, Erhart M, von Stillfried D, Bätzing J (2018) Der Sektorenindex (SIX) – eine Kenngröße zur Darstellung der Wechselwirkungen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung auf Kreisebene. https://www.versorgungs atlas.de/fileadmin/ziva_docs/87/VA_18-01_Bericht_V1_20180502_ kom.pdf. Zugegriffen am 10.10.2018 Haas C, Larbig M, Schöpke T, Lübke-Naberhaus K, Schmidt C, Bachmann M, Dodt C (2015) Gutachten zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus – Fallkostenkalkulation und Strukturanalyse. Hamburg Hahn U, Mussinghoff P (2017) Ökonomische Anreize belegärztlicher im Vergleich zu alternativen Versorgungsformen aus den Perspektiven von Krankenhaus und Vertragsarzt/Belegarzt sowie aus gesundheitssystemischer Sicht. Gesundh Ökon Qual manag 22(05):244–254. https://doi.org/10.1055/s-0043-100689 Herrmann T, Köster C, Seyderhelm A, Broge B, Szecsenyi J, Willms G (2017) Instrumente und Methoden zur Ersteinschätzung von Notfallpatienten. Bestandsaufnahme und Konzeptentwicklung für die kassenärztliche Notfallversorgung. aQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen mbH, Göttingen Heuer J (2016) Placebo oder Wunderpille? Wie die Praxisgebühr Patientenverhalten und Verordnungsmuster veränderte. Zi-Paper 8/2016. https:// www.zi.de/fileadmin/images/content/PDFs_alle/ZiPaper_08-2016_Tren ds_Arzneiverordnungen_V3.pdf. Zugegriffen am 10.10.2018 Heuer J (2017) Verlagerungseffekte zwischen stationärem und ambulantem Sektor. Monit Versorgungsforsch 6:67–73. https://doi.org/ 10.24945/MVF.06.17.1866-0533.2054 Höppner K, Greß S, Rothgang H, Wasem J, Braun B, Buitkamp M (2005) Grenzen und Dysfunktionalitäten des Kassenwettbewerbs in der GKV: Theorie und Empirie der Risikoselektion in Deutschland (ZeS-Arbeitspapier 4/2005) Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik Huerkamp C (1985) Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 68. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen IGES Institut (2010) Plausibilität der Kalkulation des EBM – Expertise im Auftrag des. GKV-Spitzenverbands, Berlin IGES Institut (2015) Ambulantes Potenzial in der stationären Notfallversorgung. Berlin Institut des Bewertungsausschusses (2018) Beschluss des Bewertungsausschusses nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB V in seiner 425. Sitzung am 21. August 2018 zur Vorbereitung der Empfehlung des Umfangs des nicht vorhersehbaren Anstiegs des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfs nach § 87a Abs. 5 Satz 1 SGB V für das Jahr 2019 mit Wirkung zum 21. August 2018. https://institut-ba.de/ba/ babeschluesse/2018-08-21_ba425.pdf. Zugegriffen am 10.10.2018

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Ambulante Versorgungsleistungen

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Stationäre Versorgungsleistungen

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Johannes Staender

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Versorgungsressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häuser, Betten und Großgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankenhauspersonal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankenhausfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

587 587 588 588 588

3 Organisation und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 3.1 Regelungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 3.2 Organisationsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 4 4.1 4.2 4.3

Krankenhausleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankenhausleistungen als personenbezogene Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kernleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsformen neben der vollstationären Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

590 590 590 591

5

Leistungsansprüche gesetzlich Versicherter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

6 Inanspruchnahme stationärer Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 6.1 Aufnahme ins Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 6.2 Fall- und Leistungszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 7

Versorgungsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593

8

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594

1

Einleitung

Die stationäre Krankenversorgung ist in modernen Gesundheitssystemen eine Domäne der Krankenhäuser. Wer sich mit stationären Versorgungsleistungen befasst, thematisiert deshalb zunächst Krankenhausleistungen. „Stationäre Versorgung“ und „Krankenhausbehandlung“ sind aber nicht deckungsgleich, denn das Angebotsspektrum der Krankenhäuser schließt ambulante Leistungen ein. Zudem sind Krankenhäuser nicht die einzigen Orte stationärer Versorgung.

J. Staender (*) Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]

Auch in Reha-Kliniken, Pflegeheimen und Hospizen werden Leistungen stationär erbracht. Dieses Kapitel konzentriert sich auf den Krankenhausbereich; stationäre Leistungen des Reha- oder Pflegesektors behandeln die folgenden Kapitel.

2

Versorgungsressourcen

2.1

Häuser, Betten und Großgeräte

In Deutschland wurden im Jahr 2017 insgesamt 1942 Krankenhäuser betrieben, von denen 28,8 % einen öffentlichen, 34,1 % einen freigemeinnützigen und 37,1 % einen privaten Träger hatten. Der Vergleich mit früheren Jahren zeigt, dass die Zahl der Häuser infolge von Schließungen und Zusammenschlüssen

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_53

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J. Staender

erheblich gesunken ist und sich die Gewichte in der Trägerstruktur augenfällig verschoben haben. 1991 gab es noch 2411 Krankenhäuser, von denen sich 46 % in öffentlicher, 39,1 % in freigemeinnütziger und 14,8 % in privater Trägerschaft befanden. Der Anteil öffentlicher Häuser hat also massiv, der freigemeinnütziger Häuser deutlich schwächer abgenommen, während die privaten Träger ihre Position beträchtlich ausbauen konnten. Die Trägerstruktur stellt sich anders dar, wenn Betten die Bezugsgröße bilden. Da private Krankenhäuser mit durchschnittlich 129 Betten wesentlich kleiner sind als öffentliche (426), steigt der öffentliche Trägeranteil auf 48 %, während der private auf 18,7 % sinkt. Gut ein Drittel (33,2 %) der insgesamt 497.182 Betten stand 2017 in freigemeinnützigen Häusern. Auch die Bettenkapazität des Krankenhaussektors ist seit 1991 (665.565) spürbar zurückgegangen, die Bettendichte sank von 8,3 auf 6,0 Betten je 1000 Einwohner (StBA 2018a). Ungeachtet des Bettenabbaus zählt Deutschland im internationalen Vergleich zu den bettenstärksten Ländern. Mit einer Angebotsdichte von 8,1 Betten (inklusive Reha-Betten) je 1000 Einwohner rangierte die Bundesrepublik 2015 unter 35 OECD-Ländern an vierter Stelle (Mittel: 4,7) (OECD 2017, S. 173). Die Ausstattung mit medizinisch-technischen Großgeräten ist ein weiteres zentrales Angebotsmerkmal. 2015 verfügten deutsche Krankenhäuser über insgesamt 12.054 solcher Geräte (Bölt 2018, S. 357). Im OECD-Vergleich nahm Deutschland bei Kernspintomographen mit 33,6 Einheiten je 1000.000 Einwohner unter 33 Ländern den dritten Platz ein (Mittel: 15,9); bei CT-Scannern mit 31,1 Geräten je 1000.000 Einwohner unter 34 Ländern den zehnten Platz (Mittel: 25,7) (OECD 2017, S. 171).

2.2

Krankenhauspersonal

2017 hatten deutsche Krankenhäuser 1237.646 Mitarbeiter, darunter 437.648 im Pflegedienst (35,4 %) und 186.021 im ärztlichen Dienst (15,0 %). Damit lag das Personalvolumen 2017 um 126.021 über dem von 1991. Werden unterschiedliche Beschäftigungsformen berücksichtigt und die Zahlen in Vollzeitäquivalente umgerechnet, verfügten die Krankenhäuser 2017 über 894.400 Vollkräfte (1991: 875.816), von denen 161.208 (18,0 %) zum ärztlichen Personal zählten und 328.327 (36,7 %) dem Pflegedienst angehörten. Im längsschnittlichen Vergleich zwischen ärztlichem Dienst und Pflegedienst zeigen sich markante Unterschiede. Das ärztliche Personal ist zwischen 1991 (95.208 Vollzeitkräfte) und 2017 fast kontinuierlich gewachsen. Der stetigen Aufwärtsentwicklung im ärztlichen Dienst steht im Pflegedienst ein schwankender Verlauf gegenüber, und die Zahl der Vollzeitkräfte war 2017 kaum höher als 1991 (326.100) (StBA 2018a). Auf die Verdichtung der Krankenhausarbeit verweist die gegenläufige Entwicklung von Fallzahlen und

Liegezeiten in diesem Zeitraum (siehe unten). Wird die Personalstärke zur Fallzahl in Beziehung gesetzt, belegt Deutschland im internationalen Vergleich unter 19 OECDLändern bei Ärzten wie Pflegekräften den drittletzten Platz (Zander et al. 2017, S. 65).

2.3

Ausgaben

Im Jahr 2015 betrugen die Krankenhausausgaben insgesamt 89,5 Mrd. EUR. Zwanzig Jahre zuvor beliefen sie sich auf 51,1 Mrd. EUR. Wird der Krankenhausanteil an den gesamten Gesundheitsausgaben berechnet, zeigt sich kein Anstieg mehr: 1995 beanspruchten die Krankenhäuser 27,2 %, 2015 26,0 %. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn nur die Krankenhausausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) betrachtet werden, die zwischen 1995 und 2015 von 41,9 Mrd. EUR auf 74,1 Mrd. EUR gestiegen sind und deren Anteil an den Gesundheitsausgaben der GKV nahezu gleich geblieben ist (1995: 37,3 %, 2015: 37,0 %) (StBA 2017). Im OECD-Vergleich lag Deutschland 2016 bei der Gesundheitsquote (Anteil aller Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt – BIP) unter 35 Ländern mit 11,3 % an dritter Stelle. Nur die USA und die Schweiz gaben einen höheren BIP-Anteil für Gesundheit aus (OECD 2017, S. 135). Während die deutsche Gesundheitsquote das OECD-Mittel von 9 % klar überstieg, entsprach der Ausgabenanteil der stationären Versorgung (einschließlich rehabilitativer Leistungen) in Deutschland mit 28 % dem Durchschnittswert von 33 OECD-Ländern (OECD 2017, S. 141). Hinsichtlich der Verteilung der Gesundheitsausgaben auf Versorgungseinrichtungen stand Deutschland beim Krankenhausanteil mit 29 % unter 32 Ländern an vorletzter Stelle (Mittelwert: 38 %). In anderen Ländern floss ein wesentlich höherer Ausgabenanteil den zum Teil sehr viel stärker in die ambulante Versorgung einbezogenen Krankenhäusern zu (OECD 2017, S. 143). Dementsprechend kehrt sich das Bild wieder um, wenn wir den Anteil stationärer Leistungen an den Krankenhausausgaben betrachten. Deutschland stand hier mit 93 % an der Spitze von 27 OECD-Ländern, die im Schnitt nur 66 % ihrer Krankenhausausgaben für die stationäre Versorgung aufwandten (OECD 2017, S. 143).

2.4

Krankenhausfinanzierung

Seit den frühen 1970er-Jahren hat Deutschland ein „duales“ Finanzierungssystem: Aufbringung der Betriebs- und Instandhaltungskosten durch Nutzer bzw. Krankenkassen auf der einen, öffentliche, mit einer staatlichen Krankenhausplanung auf Länderebene kombinierte Investitionsförderung auf der anderen Seite. Nur Plankrankenhäuser haben Anspruch auf öffentliche Fördermittel, zudem sind die Krankenkassen ihnen gegenüber kontrahierungspflichtig. Andere Häuser müssen mit den Kassen

49

Stationäre Versorgungsleistungen

einen Versorgungsvertrag schließen, wenn sie GKV-Patienten behandeln wollen. Seit 2004 werden Krankenhausleistungen mit Fallpauschalen entgolten (zum Vergütungsverfahren und den deutschen Diagnosis Related Groups – DRGs vgl. Simon 2017, S. 240 ff.). Zuvor bildeten tagesgleiche, am Prinzip der individuellen Selbstkostendeckung auszurichtende Pflegesätze die primäre Entgeltform. Die Vergütungsreform hat ökonomische Rahmenbedingungen und Anreize fundamental verändert. Kostenrisiken wurden auf die Leistungserbringer verlagert, kurze Liegezeiten zum wesentlichen Erlösfaktor. Zugleich haben sich den Krankenhäusern neue ökonomische Chancen eröffnet. Der Anreiz zur Verkürzung der Liegedauern und zur Minimierung des Ressourcenaufwands gilt als Rationalisierungstreiber, der zur weiteren Reduktion des Bettenangebots beiträgt, Spezialisierungs- wie Konzentrationsprozesse befördert und eine Verdichtung der intersektoralen Kooperation stimuliert. Auf der anderen Seite sind immer wieder problematische Effekte und Qualitätsrisiken thematisiert worden: Patientenselektion, verfrühte Entlassung oder Verlegung, Leistungsvorenthalt, Erbringung unnötiger Leistungen, Minderung der Leistungsqualität (z. B. Braun 2014). Mit Blick auf den Versorgungszugang ist problematisch, dass Spezialisierung und Angebotskonzentration regionale Angebotslücken entstehen lassen oder verstärken können (Rosenbrock und Gerlinger 2014, S. 235 ff.). Die „duale“ Aufteilung der Finanzierungslasten hat im Grundsatz bis heute Bestand. Nachhaltig verschoben hat sich allerdings das Gewichtsverhältnis zwischen Nutzerfinanzierung und öffentlicher Förderung: Während der Kassenanteil an den Gesamtausgaben für Krankenhäuser stark gestiegen ist, hat das investive Engagement der Länder – bei beträchtlicher Variationsbreite – ebenso deutlich nachgelassen. 2015 beliefen sich die Fördermittel auf insgesamt rund 2,8 Mrd. EUR. Gemessen am Mittelvolumen des Jahres 1991 bedeutet dies einen realen Rückgang um beinahe die Hälfte. Werden die Kosten geförderter Häuser bei der Berechnung zugrunde gelegt, sank die Investitionsquote im genannten Zeitraum von 11,4 % auf 4,0 % (DKG 2017, S. 73 ff.). Zum Vergleich: Private Klinikketten erreichen eine Quote von 10 % (Rosenbrock und Gerlinger 2014, S. 225). Die unzureichende öffentliche Förderung gilt als eine Hauptursache für die Privatisierung kommunaler Krankenhäuser und den Bedeutungsgewinn privater Träger, die einen größeren Spielraum bei der Kapitalaufnahme haben.

589

kenversicherung (GKV) und die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser zuständig, die Länder haben die Infrastrukturverantwortung. Die Zustimmungsbedürftigkeit bundesgesetzlicher Regelungen in Fragen, die vitale Länderinteressen berühren, macht sie darüber hinaus zu potenten „Vetospielern“ bei der krankenhausbezogenen Gesetzgebung auf Bundesebene. Die Krankenhausgesellschaften sind vom Gesetzgeber mit körperschaftstypischen Funktionen in die gemeinsame Selbstverwaltung der GKV eingebunden worden, wenngleich sie keinen öffentlich-rechtlichen Status haben. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) entsendet als Dachverband der Krankenhausträger Vertreter in das Spitzengremium der gemeinsamen Selbstverwaltung, den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Das Aufgabenfeld der gemeinsamen Selbstverwaltung umfasst die Konkretisierung des Leistungskatalogs, die Regelung von Vergütungsfragen und die Sicherung der Versorgungsqualität. In den Gremien, die über die Entwicklung des FallpauschalenSystems entscheiden, wirkt auch der Verband der Privaten Krankenversicherung mit. Bei der staatlichen Krankenhausplanung haben Krankenhäuser und Krankenkassen zwar Mitsprache-, aber keine Mitentscheidungsrechte. Auf Krankenhausebene verhandeln Träger und Krankenkassen über die Jahresbudgets der Häuser. Wettbewerbliche Steuerungselemente kommen zum Tragen, wenn Krankenhäuser um die Gunst von Patienten und einweisenden Ärzten konkurrieren. Auch stimulieren fallpauschalierte Entgelte den Wettbewerb, indem sie Expansionsanreize bei gewinnträchtigen Leistungen setzen. Der Preis scheidet jedoch derzeit als Wettbewerbsparameter aus. Zudem begrenzt die Krankenhausplanung der Länder den Spielraum einer wettbewerblichen Angebotssteuerung. Konkurrenzverhältnisse zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten können bei ambulanten Leistungen bestehen, die in beiden Sektoren angeboten werden.

3.2

Organisationsmerkmale

Legaldefinitionen des Krankenhausbegriffs finden sich im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) und im Sozialgesetzbuch (SGB V). Das KHG definiert Krankenhäuser als " Definition Krankenhaus „Einrichtungen, in denen durch

3

Organisation und Steuerung

3.1

Regelungsstruktur

Die Regelungsstruktur des Krankenhaussektors wird neben den Kompetenzen des Staates durch ein differenziertes System der gemeinsamen Selbstverwaltung von Leistungserbringern und Ausgabenträgern geprägt. Der Bund ist im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung für die gesetzliche Kran-

ärztliche und pflegerische Hilfeleistungen Krankheiten, Leiden oder Körperschäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden sollen oder Geburtshilfe geleistet wird und in denen die zu versorgenden Personen untergebracht und verpflegt werden können“ (§ 2 Abs. 1 KHG). Die SGB-Definition nennt darüber hinaus die Merkmale ständige ärztliche Leitung, adäquate Behandlungsmöglichkeiten, Einsatz wissenschaftlich anerkannter Methoden, ständige Personalverfügbarkeit (§ 107 Abs. 1 SGB V).

590

J. Staender

Aus sozialwissenschaftlicher und managementorientierter Sicht bedeutsam ist, dass es sich bei Krankenhäusern um komplexe Organisationen handelt, in denen Angehörige professionalisierter Berufsgruppen die Kernleistungen erbringen (Eichhorn und Oswald 2017; Gottschalk 2014; Wolf und Vogd 2018). Der letztgenannte Aspekt ist ein charakteristisches Merkmal der „Expertenorganisation“ Krankenhaus (Schrappe 2014, S. 238 ff.). Im Gefolge der Ökonomisierung des Krankenhauses (siehe unten) zeigen sich auf mehreren Ebenen Tendenzen des Organisationswandels: rechtliche Verselbstständigung öffentlicher Krankenhäuser – 2017 hatten 59,8 % eine privatrechtliche Rechtsform (z. B. GmbH), 2002 erst 28,3 % (StBA 2018a); Installierung von Geschäftsführern an Stelle oder oberhalb des traditionellen Dreiergremiums (Ärztlicher Direktor, Pflegedienstleitung, Verwaltungsleiter); Verschiebungen in der Einfluss- und Machtbalance zwischen professionellen Leistungserbringern und Management (Bode und Vogd 2016; Sonnentag 2017).

4

Krankenhausleistungen

4.1

Krankenhausleistungen als personenbezogene Dienstleistungen

Krankenhausleistungen sind wesentlich Dienstleistungen, d. h. Leistungen, die der Mitwirkung von Kunden oder Klienten bedürfen. Ein gebräuchliches Kriterium zur Differenzierung dieser großen und heterogenen Leistungsgruppe trennt personenbezogene Leistungen (z. B. eine Beratung) von Leistungen, die Sachgüter zum Gegenstand haben (z. B. eine Reparatur). Die Kernleistungen des Krankenhauses gehören offenbar zur erstgenannten Kategorie. Sie zielen auf eine Verbesserung oder Stabilisierung der körperlichen oder psychischen Gesundheit von Personen. Abgesehen von Sonderfällen wie der Behandlung Bewusstloser, ist die unmittelbare Interaktion zwischen Leistungserbringern und Patienten konstitutives Merkmal des Versorgungsgeschehens im Krankenhaus. Erstellung und Inanspruchnahme der Leistung finden synchron – „uno actu“ – statt. Der Patient ist „Koproduzent“ der Leistung, wobei Art und Gewicht seiner Mitwirkung mit der Leistungsart und individuellen Patientenmerkmalen variieren. Wenn Organisationen personenbezogene Dienstleistungen erbringen, sind Menschen ihr „Rohmaterial“, keine Objekte oder Symbole. Ein individueller Personenbezug und eine interaktionsintensive Leistungserbringung setzen der Ablaufstandardisierung Grenzen. Hinzu tritt die spezifisch soziale Qualität, die sich aus der sozialstaatlichen Rahmung der Krankenhausversorgung ergibt. Der in diesem Sinne soziale Charakter des Krankenhauses drückt sich in der Bedarfsorientierung und der solidarischen Finanzierung des Großteils seiner Kernleistungen aus. Mit diesen Merkmalen ordnet sich

das Krankenhaus dem organisationswissenschaftlichen Idealtyp der Sozialen Personenbezogenen Dienstleistungsorganisation zu (Klatetzki 2010). Dass die in Organisationen dieses Typs verrichtete Arbeit „Moralarbeit“ ist, gilt in besonderer Weise für Krankenhäuser, die unter der gesellschaftlich breit institutionalisierten Erwartung stehen, dass ökonomische Interessen nicht zulasten des Patientenwohls verfolgt werden. Krankenhausleistungen werden in aller Regel nicht in Anspruch genommen, weil dies einer besonderen PatientenPräferenz entspricht, sondern weil der Gesundheitszustand des Patienten die Inanspruchnahme aus ärztlicher Sicht gebietet. Stationär versorgt zu werden, bedeutet darüber hinaus eine „Total-Inklusion der Person auf Zeit“ (Bauch 2000, S. 98), mit der eine Depersonalisierung einhergeht, deren Aspekte sich in Abhängigkeit von Art und Schwere der Erkrankung und der Dauer des Krankenhausaufenthalts unterschiedlich ausprägen: Herauslösung aus der gewohnten Lebenswelt; Zwang, sich organisatorischen Regeln und Abläufen zu fügen; Verlust an Privatsphäre; Abhängigkeit von den Fähigkeiten und Handlungsorientierungen anderer und vom Erfolg für Laien kaum einschätzbarer Behandlungsmaßnahmen. Die Wissensasymmetrie zwischen Experten und Laien und fehlende oder sehr eingeschränkte Möglichkeiten des Leistungsvergleichs mit anderen Häusern limitieren die patientenseitige Qualitätsbeurteilung erheblich.

4.2

Kernleistungen

Die Kernleistungen des Krankenhauses stellen diagnostische und therapeutische Maßnahmen dar. Diagnostische Leistungen dienen dazu, Krankheiten zu bestimmen. Sofern weiterführende diagnostische Maßnahmen nicht – z. B. aus Zeitmangel, aufgrund einer Patientenentscheidung oder einer ärztlichen Risikoabwägung – unterbleiben, bildet die ärztliche Verdachts- oder Arbeitsdiagnose das erste Glied einer Diagnostikkette, deren Länge je nach Schwere und Komplexität eines Behandlungsfalles stark variieren kann. Wichtige Teilbereiche der Diagnostik im Krankenhaus sind radiologische Verfahren (z. B. Ultraschall und Computertomografie), Labordiagnostik (z. B. bakteriologische Diagnostik und Virusdiagnostik), Funktionsdiagnostik (z. B. Ergometrie und Echokardiografie) und Endoskopie (z. B. Gastroskopie und Bronchoskopie) (Ernst und Straede 2017). Die Therapie umfasst auf diagnostischer Basis getroffene Maßnahmen zur Heilung von Krankheiten, Beseitigung oder Linderung von Symptomen und Restitution somatischer oder psychischer Funktionen. Die Anwendung therapeutischer wie diagnostischer Maßnahmen erfolgt auf der Grundlage eines ärztlichen Fachurteils, das die Behandlungsentscheidung begründet. Behandlungsindikationen werden nach verschiedenen Kriterien differenziert, so danach, ob die angezeigte Maßnahme einer kausalen oder symptomatischen

49

Stationäre Versorgungsleistungen

Therapie dient (kausale vs. symptombezogene Indikation), oder nach der Dringlichkeit der Maßnahme (vitale, absolute, relative Indikation). Medizinische Maßnahmen dürfen nur durchgeführt werden, wenn die Zustimmung des – einwilligungsfähigen und informierten – Patienten vorliegt. Bei den therapeutischen Interventionen werden chirurgische Eingriffe und konservative Methoden unterschieden. Eine dritte Gruppe bilden minimal-invasive bzw. interventionelle Verfahren wie die Ballondilatation oder das Stenting, die sich in konservativ ausgerichteten Fachgebieten wie der Kardiologie oder der Pneumologie etabliert haben. Ebenfalls klassisch ist die schon angesprochene Unterscheidung zwischen ursachen- und symptombezogenen Therapien. Eng mit dieser Unterscheidung verwandt ist die Unterscheidung zwischen kurativer und palliativer Behandlung. Die diagnostischen und therapeutischen Leistungen der Krankenhäuser werden im Kontext einer Medizin erbracht, die sich in eine Vielzahl spezialisierter Gebiete gliedert. In Deutschland existieren zurzeit 33 medizinische Fachgebiete. Hierzu zählen Innere Medizin und Chirurgie, die ihrerseits nach Spezialitäten differenziert sind. Pflegerische Aufgaben umfassen neben der eigenständigen Patientenbetreuung die Mitwirkung bei medizinischen Maßnahmen (Behandlungspflege). Pflegerische Arbeit richtet sich wesentlich darauf, personelle Hilfe bei eingeschränkter Selbstständigkeit zu leisten (Moers et al. 2017). Dabei handelt es sich insbesondere um Einschränkungen der körperlichen Beweglichkeit, mentaler Funktionen und kommunikativer Potenziale. Pflegeleistungen sind zudem bei Patienten mit psychischen Problemen notwendig. Einschränkungen der selbstständigen Lebensführung bilden neben diagnostischen und therapeutischen Anforderungen den primären Bedarfsgrund für eine stationäre Versorgung. Gemessen an der Ärzteschaft gilt die Pflege nur als „SemiProfession“. Stand und Perspektiven der Professionsentwicklung in Deutschland werden kontrovers diskutiert (Giese und Heubel 2015; Wolf und Vogd 2018). Dies gilt namentlich auch für die Akademisierung der Pflegeausbildung. Nach den Ergebnissen einer in insgesamt 300 Krankenhäusern verschiedener europäischer Länder durchgeführten Studie ist ein höherer Anteil akademisch qualifizierter Pflegekräfte (Bachelor) mit einer niedrigeren 30-Tage-Mortalität assoziiert (Aiken et al. 2014).

4.3

Leistungsformen neben der vollstationären Behandlung

Ambulante Leistungen konnten im Krankenhaussektor bis in die 1990er-Jahre hinein neben Universitätskliniken im Wesentlichen nur Krankenhausärzte erbringen, die zur ambulanten Behandlung in der GKV ermächtigt waren oder Privatpatienten behandelten. Seither hat der Gesetzgeber das krankenhäusliche Angebotsspektrum um verschiedene Leis-

591

tungen erweitert, die semistationär oder ambulant erbracht werden, darunter: 1) Teilstationäre Behandlung (§ 39 SGB V): Kennzeichen dieser Behandlungsform ist, dass die Krankenhausinfrastruktur wiederholt genutzt wird, die Patienten aber nicht ganztägig versorgt werden (z. B. Chemotherapie). 2016 belief sich die Zahl der teilstationären Behandlungen auf rund 0,8 Mio. (SVR 2018, S. 178). 2) Vor- und nachstationäre Behandlung (§ 115a SGB V): Vorstationär können Patienten ambulant behandelt werden, um zu klären, ob eine stationäre Behandlung notwendig ist, oder um eine stationäre Behandlung vorzubereiten. Nachstationäre Behandlungen dienen der Stabilisierung erzielter Behandlungserfolge. Die Zahl der vorund nachstationären Behandlungsfälle ist in den vergangenen Jahren erheblich gewachsen. 2016 betrug sie 5,7 Mio., was gegenüber dem Jahr 2007 eine Steigerung von mehr als 60 % bedeutete (ebd.). 3) Ambulante Operationen und sonstige stationsersetzende Eingriffe (§ 115b SGB V): Krankenhäuser können Operationen und Eingriffe ambulant anbieten, die ein von den Spitzenverbänden der Krankenhäuser, Kassenärzte und Krankenkassen ausgehandelter Katalog auflistet. Für 2016 verzeichnet die Statistik 2 Mio. Fälle (SVR 2018, S. 178; zur „Ambulantisierung“ der Krankenhausversorgung vgl. ebd., S. 157 ff.).

5

Leistungsansprüche gesetzlich Versicherter

Nach § 39 SGB V schließt die Krankenhausbehandlung neben ärztlicher Behandlung und Krankenpflege die Arznei-, Heilund Hilfsmittelversorgung sowie Leistungen zur Frührehabilitation ein. Hinzu kommen die Unterbringung und Verpflegung der Patienten und das Entlassmanagement. Konkretisierende Regelungen zum gesetzlich nur grob bestimmten Leistungsumfang trifft der Gemeinsame Bundesausschuss. Das 2004 gegründete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) unterstützt den G-BA durch die Nutzenbewertung medizinischer Technologien. Während Vertragsärzte nur Methoden anwenden dürfen, die explizit in den Leistungs- bzw. Vergütungskatalog aufgenommen wurden, können die Krankenhäuser grundsätzlich jede Leistung zulasten der Kassen erbringen, die der G-BA nicht ausdrücklich von der GKV-Finanzierung ausgeschlossen hat (§ 92 SGB V) (Busse et al. 2017, S. 95).

6

Inanspruchnahme stationärer Leistungen

6.1

Aufnahme ins Krankenhaus

Krankenhauspatienten in stationärer Behandlung sind entweder geplant (elektiv) oder als Notfälle aufgenommen worden. Aufnahmevoraussetzung ist, dass das Behandlungsziel ohne

592

stationäre Leistungserbringung nicht oder nur mit Nachteilen für den Patienten erreicht werden kann. Die Aufnahmenotwendigkeit muss durch krankenhausärztliche Prüfung bestätigt werden. Potenzieller Bedarf an stationären Krankenhausleistungen wird einmal von niedergelassenen Ärzten festgestellt. Deren Einweisungen hatten 2016 einen Anteil von 47,1 % an den Aufnahmen in die vollstationäre Behandlung (SVR 2018, S. 191). Die Krankenhauseinweisungs-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses listet eine Reihe potenzieller Alternativen auf, die ein Vertragsarzt geprüft haben muss, bevor er einen Patienten einweisen darf (G-BA 2015). Neben niedergelassenen Ärzten weisen auch Krankenhausärzte ein, die entweder selbst dem betreffenden Haus angehören (Aufnahme von Patienten, die die Ambulanz oder eine spezielle Sprechstunde aufgesucht haben) oder in einem anderen Krankenhaus tätig sind. Verlegungen aus anderen Häusern waren 2016 mit 3,6 % an den Aufnahmen beteiligt. In 3,9 % der Fälle bildete eine Geburt den Aufnahmegrund (SVR 2018, S. 191). Ein unbeschränktes Recht auf freie Krankenhauswahl kennt die GKV nicht. Sofern die ärztliche Einweisung kein bestimmtes Krankenhaus nennt, kann der Patient aber zumeist unter den zugelassenen Häusern frei wählen. Trifft er seine Wahl entgegen einer ausdrücklichen ärztlichen Empfehlung, muss er etwaige Mehrkosten ggf. selbst tragen. Befragungen von (potenziellen) Krankenhauspatienten zur Einrichtungswahl verweisen auf die Bedeutung der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Patient und Arzt sowie auf das Gewicht der ärztlichen Empfehlung. Sterblichkeits- und Komplikationsraten treten gegenüber eigenen Erfahrungen und der Wohnortnähe als Entscheidungskriterien in den Hintergrund (Geraedts 2018). Notfallmäßige Aufnahmen hatten 2016 mit 45,4 % einen um beinahe 10 % höheren Fallanteil als 2007, während der Anteil ärztlicher Einweisungen fast ebenso stark zurückgegangen ist (SVR 2018, S. 192). Die Notfallversorgung ist in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus der gesundheitspolitischen Diskussion gerückt. Primäre Themen dieser Diskussion sind die Aufgabenverteilung zwischen niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern, die Leistungsvergütung und das Problem der Inanspruchnahme von Notfallambulanzen durch Personen, die der Behandlungsmöglichkeiten eines Krankenhauses nicht bedürfen. Während den Ergebnissen einer Auswertung von AOK-Daten zufolge im Zeitraum 2009 bis 2016 kein eindeutiger Trend zur Zunahme der Notfallzahlen erkennbar ist, hat sich der Versorgungsanteil der Krankenhäuser gegenüber dem des kassenärztlichen Notdienstes deutlich erhöht. Unklar ist, inwieweit diese Verlagerung auf Defizite im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst zurückgeht und inwieweit sich das Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten geändert hat. Einschlägige Reorganisationskonzepte zielen auf die Integration und regionale Vereinheitlichung des durch Schnittstellenprobleme und Intransparenz für den Patienten belasteten Versorgungsbereichs (Slowik et al. 2018; SVR 2018, S. 547 ff.).

J. Staender

6.2

Fall- und Leistungszahlen

2016 wurden 19,4 Mio. vollstationäre Behandlungsfälle registriert, etwas weniger als im Vorjahr (19,5 Mio.). Verlängert man den Betrachtungszeitraum, zeigt sich eine nachhaltige Expansion (1991: 14,6 Mio.). Der Anstieg der Fallzahlen ging mit einer kontinuierlichen Verkürzung der durchschnittlichen Verweildauer einher, die 2017 bei 7,3 Tagen lag (1991: 14,0 Tage) (StBA 2018a). Da die Zunahme der Fallzahlen nicht stark genug war, um den Belegungseffekt des Verweildauerrückgangs aufzufangen, ist die Gesamtzahl der Berechnungs- und Belegungstage deutlich gesunken. Die Liste der nach der Häufigkeit geordneten Hauptdiagnosen vollstationär behandelter Patienten führte 2017 die Herzinsuffizienz an, gefolgt von psychischen und Verhaltensstörungen durch Alkohol und Vorhofflimmern/ Vorhofflattern (StBA 2018b). Worauf lässt sich der Anstieg der Fallzahlen zurückführen? Nowossadeck und Prütz haben die Entwicklung zwischen 2000 und 2015 unter der Frage analysiert, welchen Anteil demografische und nicht demografisch bedingte Faktoren hatten. Ihre Analyse ergibt, dass die Bevölkerungsalterung die Fallzahlen im betrachteten Zeitraum bei Frauen um 6,5 % und bei Männern um 15,4 % steigen ließ. Der Veränderung des Bevölkerungsumfangs lassen sich hingegen nur geringfügige Effekte zurechnen. Der bei den Männern stärkere Inanspruchnahme-Effekt der Alterung hat im Wesentlichen zwei Ursachen: 1) Die männliche Lebenserwartung ist in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als die weibliche. 2) Die hohen Altersgruppen der Männer sind heute nicht mehr durch Kriegsverluste reduziert (Nowossadeck und Prütz 2018). Während die demografischen Faktoren kontinuierlich fallzahlensteigernd wirkten, waren die nicht demografisch bedingten Faktoren für die variierende Veränderungsdynamik innerhalb des Zeitraums verantwortlich. Die in ihrer Gesamtwirkung analysierte Faktorengruppe umfasst etwa Bedarfseffekte des medizinischen Fortschritts und Änderungen in der Leistungsvergütung. Dass sich die Steigerung der Fallzahlen nicht allein durch die Bevölkerungsalterung und medizinische Fortschritte erklärt, ist verschiedentlich gezeigt worden (Klauber et al. 2013; Schreyögg et al. 2014). Naegler und Wehkamp (2018) haben in einer qualitativen Studie über die Ökonomisierung des Krankenhauses Ärzten und Geschäftsführern die Frage gestellt, ob Patienten ggf. ohne strenge Indikation aufgenommen würden. Die Ärzte antworteten mehrheitlich mit Ja (16 von 20), die Geschäftsführer mehrheitlich mit Nein (17 von 21). Als Motiv wurde die Absicht genannt, Betten-Leerstand zu verhindern bzw. hohe Belegungsraten zu erreichen. Geringer fiel der Unterschied zwischen beiden Gruppen bei der Frage aus, ob ökonomisch motivierte Mehrfachaufnahmen vorkämen. Hier antworteten 12 Ärzte und 11 Geschäftsführer mit Ja. Zwei Gründe wurden angeführt: 1) der Umstand, dass bei Behandlungsprozessen, an denen mehrere

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Stationäre Versorgungsleistungen

593

Fachabteilungen mitwirken, der Erlös nur der letztbehandelnden Abteilung zugeschrieben wird; 2) der Wunsch, intern mit kurzen Liegezeiten zu glänzen. Geschäftsführer hoben hervor, dass es sich um seltene, komplexe und teure Fälle handele, die im DRGSystem nicht adäquat abgebildet werden könnten. Mit Blick auf die Frage, ob „lukrative DRGs“ bevorzugt würden, lassen sich die Antworten so zusammenfassen, dass dieser Gesichtspunkt weniger bei Aufnahmeentscheidungen als bei der Fallzuordnung im DRG-System von Bedeutung ist (Naegler und Wehkamp 2018, S. 79 ff.). In den Interviews wurde auch gefragt, ob Patienten, bei denen eine konservative Behandlung angezeigt wäre, aus wirtschaftlichen Gründen operiert würden. 8 von 20 Ärzten und 4 von 21 Geschäftsführern bejahten diese Frage. Konkret erwähnten ärztliche Interviewpartner Gelenkersatz, Herzkatheter und Kaiserschnittentbindungen (Naegler und Wehkamp 2018, S. 88). Die Zahl der stationären Krankenhausfälle hängt auch von der Fähigkeit des ambulanten Sektors ab, Krankenhausaufnahmen zu vermeiden. Die OECD verwendet als Qualitätsund Effizienzindikatoren u. a. Hospitalisierungsraten bei Erkrankungen, die in der Regel keine stationäre Versorgung erfordern, wenn Patienten frühzeitig und fachgerecht ambulant behandelt werden. Unter diesem Blickwinkel macht Deutschland mit einer im EU-Vergleich besonders hohen Quote potenziell vermeidbarer Krankenhauseinweisungen keine gute Figur (OECD 2018, S. 48). Zur Frage, inwieweit der sozioökonomische Nutzerstatus die Inanspruchnahme stationärer Versorgungsleistungen beeinflusst, ist der Kenntnisstand noch lückenhaft. Einem jüngeren Review ist zu entnehmen, dass der soziale Status des Patienten von geringer Bedeutung zu sein scheint (Klein et al. 2014). Die Annahme liegt nahe, dass die Regelung des Zugangs zur stationären Versorgung und das hohe Niveau des Versicherungsschutzes diesen Befund erklären können. Dass Angehörige niedrigerer Status-, Einkommens- oder Bildungsgruppen stationäre Leistungen stärker in Anspruch nehmen als Angehörige oberer Gruppen, dürfte wesentlich auf Morbiditätsunterschiede zurückzuführen sein (vgl. Kroll und Lampert 2013; Prütz und Rommel 2017;Rattay et al. 2013). Im internationalen Vergleich sticht Deutschland unter 35 OECD-Ländern mit der zweithöchsten Inanspruchnahme hervor (Tab. 1). Die OECD verweist darauf, dass die Fallzahl in der Tendenz mit der Bettendichte wächst. Tatsächlich gehören

Tab. 1 Vollstationäre Fälle je 1000 Einwohner, 2015 (OECD 2017) Österreich Deutschland OECD-35-Durchschnitt Dänemark Niederlande

255,8 255,3 156,0 145,7 116,5

Deutschland und Österreich zu den bettenstärksten Mitgliedsländern. Betrachtet man nur Fälle, bei denen bösartige Wucherungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen Behandlungsgründe waren, findet sich Deutschland ebenfalls auf den vordersten Plätzen, ohne dass die hohen Herz-Kreislauf-Fallzahlen mit einer hohen Herz-Kreislauf-Morbidität assoziiert wären. Bei den Krebsfällen ist es ähnlich (OECD 2017, S. 174).

7

Versorgungsqualität

Die Qualitätssicherung stationärer Leistungen war hinsichtlich der Prozess- und Ergebnisdimensionen lange professioneller Selbstregelung vorbehalten. Erst 1988 (Gesundheits-Reformgesetz) schaltete sich der Gesetzgeber mit der Bestimmung in die Versorgungssteuerung ein, dass Krankenhäuser an Maßnahmen der Qualitätssicherung teilnehmen müssen. Die gesetzlichen Regelungen sind seither beträchtlich erweitert worden. Zur Behandlung von GKV-Versicherten zugelassene Krankenhäuser müssen sich heute an einer umfangreichen externen Qualitätssicherung beteiligen, ein internes Qualitätsmanagement durchführen und einen Qualitätsbericht veröffentlichen. Die externe Qualitätssicherung fällt in die Zuständigkeit des Gemeinsamen Bundesausschusses, der bei der Wahrnehmung seiner Funktionen vom 2015 gegründeten Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) unterstützt wird. Neben dem Krankenhausprogramm gibt es ein jüngeres sektorenübergreifendes Programm, das die Krankenhäuser einbezieht. Die Krankenhaus-Qualitätssicherung umfasste im Berichtsjahr 2017 271 Indikatoren. Die aggregierten Indikatorergebnisse publiziert das IQTIG in einem Qualitätsbericht (IQTIG 2018). Bei individuellen Ergebnissen, die außerhalb der jeweiligen Referenzbereiche liegen, ist ein „Strukturierter Dialog“ zwischen den betreffenden Häusern und den Trägern der Qualitätssicherung vorgesehen, der ggf. zu Verbesserungsmaßnahmen führt. Inwieweit das Programm die Ergebnisqualität bislang verbessern konnte, ist weithin ungeklärt (SVR 2018, S. 202). Immerhin haben sich bei einer Reihe von Indikatoren, die das IQTIG im Zeitverlauf vergleichen konnte, die Bundeswerte verbessert (SVR 2018, S. 203 f.). Eine Achillesferse des Programms ist die Manipulationsanfälligkeit der selbstberichteten Daten. Der „Strukturierte Qualitätsbericht“, den jedes Krankenhaus nach Vorgaben des G-BA jährlich zu erstellen hat, enthält neben Struktur- und Leistungsdaten des jeweiligen Hauses auch Indikatorergebnisse aus der externen Qualitätssicherung. Durch die Qualitätsberichte sollen die Patientenautonomie und der Qualitätswettbewerb gestärkt werden. Welche Qualitätsindikatoren der Bericht ausweisen soll, ist Gegenstand einer Empfehlung, die das IQTIG jährlich abgibt. Erkenntnisse über die geringe Bedeutung der Qualitätsberichte bei der Krankenhauswahl haben den G-BA ver-

594

anlasst, eine Referenzdatenbank einzurichten (https://g-baqualitaetsberichte.de. Zugegriffen am 04.12.2018). Bei ausgewählten, besonders schwierigen und riskanten Operationen legt der G-BA qualitätsbezogene Mindestanforderungen fest. Er hat zudem die Aufgabe, Mindestmengen für planbare Leistungen zu bestimmen, bei denen die Leistungsmenge qualitätsrelevant ist. Derzeit umfasst der einschlägige Katalog acht komplizierte Prozeduren und Leistungen. So wurden etwa für Lebertransplantationen und Kniegelenk-Totalendoprothesen einrichtungsbezogene Mindestmengen vereinbart (20 bzw. 50). Dass Leistungsmenge und -qualität oft zusammenhängen, ist gut belegt, allerdings variiert die Stärke des Zusammenhangs mit dem Leistungszweig, zudem lassen sich konkrete Mindestmengen aus einschlägigen Studien nicht ableiten (SVR 2018, S. 181 f.). Ob ein Zusammenhang zwischen dem (Nicht-)Erreichen der Mindestmenge und der Krankenhaussterblichkeit besteht, haben Nimptsch, Peschke und Mansky anhand von sechs Eingriffen untersucht. Bei vier Eingriffen konnte ihre Studie einen statistisch signifikanten Zusammenhang feststellen (Nimptsch et al. 2017). Die Befürchtung, Krankenhäuser würden Patienten „blutig“ entlassen oder verlegen, um die Betten für neue Fälle nutzen zu können, ist anlässlich der Vergütungsumstellung auf Fallpauschalen oft als Qualitätsrisiko thematisiert worden. Dass im Gefolge der Reform Behandlungsaufwand in den Reha-Sektor verlagert wurde, hat die zwischen 2003 und 2011 durchgeführte REDIA-Studie anhand eines großen Samples belegt (von Eiff et al. 2011): Der Gesundheitszustand der Patienten am Beginn der Anschlussheilbehandlung hat sich verschlechtert, die Rehabilitationsfähigkeit ist häufiger eingeschränkt, der medizinische Behandlungsbedarf hat zugenommen. Im internationalen Qualitätsvergleich zeigt sich ein gemischtes Deutschlandbild (OECD 2017, S. 108 ff.). Gut waren deutsche Indikatorergebnisse 2015 bei der Schlaganfall-Letalität, wo nur wenige Länder besser abschnitten und der deutsche Wert klar über dem Durchschnitt lag. Auf der anderen Seite war die Herzinfarkt-Mortalität in deutschen Krankenhäusern vergleichsweise hoch. Die Rate überstieg den Durchschnittswert zwar nur wenig, war aber vom Bestwert der Ländergruppe weit entfernt. Als mögliche Erklärung dafür ist auf die relativ große Zahl kleinerer, wenig spezialisierter Allgemeinkrankenhäuser in Deutschland verwiesen worden (Björnberg 2018, S. 12). Ein Prozessindikator, der unter Qualitäts- wie Sicherheitsaspekten (Outcome-Chancen, Komplikationsrisiken) als aussagekräftig gilt, bezieht sich auf die präoperative Wartezeit von Patienten mit Hüftfraktur. Die deutschen Krankenhäuser erreichten hier einen klar überdurchschnittlichen Wert (OECD 2017, S. 115). Dass die Patientenzufriedenheit in kleinen Häusern deutlich über der in großen liegt, ist ein wiederkehrendes Ergeb-

J. Staender

nis von Patientenbefragungen. Verbesserungspotenzial zeichnet sich in Patientenantworten bezüglich der Kommunikation und Versorgungsorganisation und namentlich mit Blick auf die Entlassung und ihre Vorbereitung ab (Geraedts 2018).

8

Ausblick

Der Strukturwandel des Krankenhauses hängt zentral mit Entwicklungen zusammen, die unter den Begriff der Ökonomisierung gefasst werden. Dass von einer Ökonomisierung der Krankenhausversorgung gesprochen werden kann, steht außer Frage. Viele Häuser befinden sich zudem in einer wirtschaftlich schwierigen Situation. 2016 haben nach einer Befragung des Deutschen Krankenhausinstituts 29 % der Allgemeinkrankenhäuser Verluste erwirtschaftet (Blum et al. 2017, S. 6). Auf der anderen Seite bestehen wohlfahrtsstaatliche und berufsethische Fundamente der Bedarfsorientierung fort. Auch gesellschaftliche Erwartungen an die Krankenversorgung, die sich in der öffentlichen Meinung niederschlagen, sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Es ist deshalb realistischer, von widersprüchlichen Entwicklungen in der Versorgungssteuerung und der Perpetuierung oder weiteren Verstärkung von Konflikten zwischen bedarfsbezogenen und erwerbswirtschaftlichen Orientierungen auszugehen, als einen einheitlichen, linearen Ökonomisierungstrend anzunehmen. Dies gilt namentlich auch mit Blick auf die Vorstellung einer „De-Professionalisierung“ krankenhausärztlicher Tätigkeit. Charakteristische Bedingungen medizinischer Leistungserbringung wie variierende Fallumstände und der Zwang, in kognitiv und technologisch oft unterbestimmten Situationen risikoreich und eigenverantwortlich zu handeln, werden weiterhin ein hohes Maß an professioneller Kompetenz und Autonomie erfordern (Iseringhausen und Staender 2012; Wolf und Vogd 2018). Die Qualitätssicherung im stationären Sektor ist spürbar ausgebaut worden. Weiter vorangetrieben werden muss die Integrationsqualität über Sektorengrenzen hinweg. Die Schnittstellenproblematik an den Versorgungsübergängen ist unvermindert aktuell. Diverse gesetzliche Regelungen, die in den vergangenen Jahren getroffen wurden, haben die Versorgungsintegration bislang nur bedingt gefördert (Rosenbrock und Gerlinger 2014, S. 393 ff.).

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49

Stationäre Versorgungsleistungen

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Versorgungsleistungen in der Rehabilitation

50

Franziska Becker und Matthias Morfeld

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597

2 2.1 2.2 2.3

Chronische Krankheit im Kontext von Behinderung und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Krankheit als Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ICF als konzeptionelle Grundlage der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Anwendungsfelder der ICF in der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

598 598 600 601

3 3.1 3.2 3.3

Rehabilitatives Versorgungssystem in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

601 603 603 604

4

Berufsgruppen, Diagnostik und Interventionen in der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604

5

Nachsorgende Leistungen in der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605

6

Qualitätssicherung in der Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605

7

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606

1

Einleitung

Die rehabilitative Versorgung hat in Deutschland eine lange Tradition (Koch-Gromus et al. 2017). Seither hat sich ein Rehabilitationssystem entwickelt, das in verschiedene Leistungsgruppen sowie -erbringer gegliedert ist und auf unterschiedlichen Finanzierungsgrundlagen aufbaut (Schliehe und Sulek 2007). Rehabilitative Maßnahmen sind vor allem im Kontext von chronischer Krankheit bedeutsam. In den industrialisierten Ländern entwickelten sich chronische Erkrankungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu den verbreitetesten Krankheitsbildern und lösten somit die Infektionskrankheiten als

F. Becker Hochschule Magdeburg-Stendal, Stendal, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Morfeld (*) Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

häufigste Todesursache ab (Scheidt-Nave 2010). Allein in Deutschland waren im Jahr 2012 nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) 43 % der Frauen und 38 % der Männer von mindestens einer chronischen Erkrankung betroffen, europaweit liegt die Zahl bei etwa 73 Mio. Menschen ab einem Alter von 15 Jahren (RKI 2014; Prütz und Lange 2016). Ursächlich für die Zunahme chronischer Erkrankungen sind nicht allein die erzielten Fortschritte der modernen Medizin, sondern auch soziale Veränderungen wie verbesserte Lebensbedingungen, gestiegene Hygienestandards, ein Zuwachs an Bildung und Sozialleistungen sowie verbesserte Arbeitsbedingungen (Wolf-Kühn und Morfeld 2016; Bengel et al. 2003). " Chronische Erkrankungen zeichnen sich vor allem durch ihre multikausale Ätiologie aus. Oft ist es ein Zusammenspiel mehrerer somatischer, sozialer und psychischer Risikofaktoren gleichzeitig, das zur Entstehung einer chronischen Erkrankung führt (Raspe 2011).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_54

597

598

F. Becker und M. Morfeld

Zu diesen Risikofaktoren zählen gesundheitsrelevante riskante Verhaltensmuster wie eine ungesunde Ernährungsweise, Übergewicht oder Bewegungsmangel, langanhaltende Konflikte und eine dysfunktionale Verarbeitung von Belastungen (Scheidt-Nave 2010; Bengel et al. 2003). Ein weiteres Merkmal chronischer Erkrankungen ist ihr schleichender Beginn. Meist bedürfen sie einer langen Anamnese, ehe sie als solche erkannt werden. Anders als bei akut auftretenden Erkrankungen ist eine vollständige Heilung kaum möglich, vielmehr verlaufen chronische Krankheiten meist progredient und gehen mit vielen Einschränkungen für die Betroffenen einher (Raspe 2011). Zu den häufigsten chronischen Erkrankungen zählen je nach Lebensphase (Wolf-Kühn und Morfeld 2016) die nachfolgend genannten:

Chronische Erkrankungen nach Lebensphase

• Kindes- und Jugendalter: u. a. chronische Bronchitis, Heuschnupfen, Neurodermitis, Asthma sowie Adipositas • Erwachsenenalter: u. a. koronare Herzkrankheiten, Krebs und Diabetes • Höheres Erwachsenenalter: u. a. Schlaganfall, muskuloskelettale Erkrankungen und Demenz Neben diesen körperlichen Krankheitsbildern werden auch psychische Erkrankungen wie z. B. rezidivierende affektive Störungen, psychotische Störungen oder Persönlichkeitsstörungen dem chronischen Krankheitsspektrum zugeordnet (Muschalla et al. 2016). Es ist anzunehmen, dass etwa 60 % aller psychisch erkrankten Menschen einen chronischen Krankheitsverlauf entwickeln (Bengel et al. 2003). Darüber hinaus zeigt sich bei Menschen ab einem Alter von 65 Jahren häufig eine Komorbidität mehrerer chronischer Erkrankungen, auch Multimorbidität genannt. Genaue Prävalenzzahlen liegen für Deutschland bislang jedoch kaum vor (Dodel 2014).

2

Chronische Krankheit im Kontext von Behinderung und Rehabilitation

Die Folgen chronischer Krankheit sind vielfältig und weitreichend. Vor allem der sowohl langandauernde als auch unvorhersehbare Krankheitsverlauf stellt erhebliche Stressoren dar, die Betroffenen fühlen sich nicht selten unsicher und ausgeliefert (Schaeffer 2006; Bachmann 2014). Müssen immer wieder (neue) Ärzte konsultiert oder Behandlungen mit zum Teil unerwünschten Nebenwirkungen durchgeführt werden (Raspe 2011), entsteht allmählich eine Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem (Bury 2009), de-

ren Komplexität mit voranschreitendem Krankheitsverlauf zunimmt (Schaeffer 2006). Hinzu kommen Herausforderungen nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihr familiäres und soziales Umfeld. Denn häufig sind chronische Erkrankungen mit der Veränderung oder gar dem Verlust sozialer Rollen und somit gleichzeitig auch mit einer Umverteilung bzw. Umkehrung dieser Rollen verbunden (Schaeffer 2006; Bury 2009; Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Auch die Komorbidität chronischer körperlicher und psychischer Erkrankungen rückt zunehmend in den Fokus gesundheitswissenschaftlicher Untersuchungen. Hierbei lässt sich ein erhöhtes Risiko für die Betroffenen beobachten, zusätzlich zu einer chronisch verlaufenden somatischen Erkrankung auch an einer psychischen Erkrankung wie beispielsweise Angst oder Depression zu leiden (Beutel und Schulz 2011; Fydrich und Ülsmann 2011). Somit stellen psychische Störungen eine bedeutsame Herausforderung in der rehabilitativen Versorgung dar und bedürfen einer möglichst frühzeitigen Diagnostik innerhalb des chronischen Krankheitsgeschehens (Morfeld und Friedrichs 2011). Darüber hinaus zeigen sich Auswirkungen chronischer Erkrankungen auch im Erwerbsleben. Durch den Rückgang der körperlichen und mitunter auch psychischen Leistungsfähigkeit (Bachmann 2014) nehmen Fehlzeiten am Arbeitsplatz zu, in manchen Fällen kommt es sogar zur Arbeitsunfähigkeit und somit zur Frühberentung (Kaluza 2015). Damit verbunden sind dann möglicherweise finanzielle Sorgen und ein drohender sozialer Abstieg (Bachmann 2014; Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Nicht zu unterschätzen ist auch das Stigmatisierungspotenzial chronischer Erkrankungen. Chronisch Kranke sehen sich zunehmend mit der Pflicht individueller Verantwortungsübernahme für den eigenen körperlichen Zustand konfrontiert und die Erwartungen an diese Personengruppe hinsichtlich eigeninitiativ ergriffener Interventionen steigen (Borgetto 2016).

2.1

Chronische Krankheit als Behinderung

So wird deutlich, dass chronisches Kranksein mit vielen Einschränkungen für die Betroffenen verbunden ist. Chronischen Erkrankungen ist gemein, dass sie das Risiko einer Teilhabeeinschränkung, sowohl als unmittelbare als auch als verzögerte Folge, mit sich bringen können (Raspe 2011; Linden 2015). Beispielhaft zu nennen sind hier insbesondere Einschränkungen in der sozialen Teilhabe und der Teilhabe am Arbeitsleben, da die Betroffenen sich häufig aufgrund gesundheitlicher Probleme aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen oder aber ihre berufliche Tätigkeit nicht mehr ausüben können (Mattukat und Thyrolf 2014; Raspe 2011). Aus epidemiologischen Studien geht hervor, dass bereits gering ausgeprägte psychische Erkrankungen die soziale

50

Versorgungsleistungen in der Rehabilitation

Teilhabe stärker einschränken als ein Großteil der körperlichen Erkrankungen (Linden 2015). " Ausgehend von diesen Teilhabeeinschränkungen werden chronische Erkrankungen mit Behinderungen gleichgestellt (Linden 2015), da diese ebenfalls im engeren Sinne als eine Teilhabeproblematik definiert werden (Wolf-Kühn und Morfeld 2016).

Mithilfe des Behinderungsbegriffs können komplexe medizinische Krankheitssyndrome hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Lebenssituation der Betroffenen sowie ihrer subjektiven Wahrnehmung weiter ausdifferenziert und eindeutiger beschrieben werden. Eine konzeptionelle Trennung zwischen chronischer Krankheit und Behinderung ist daher nicht möglich (Hirschberg 2011). Nach dem Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), das die juristische Grundlage für Menschen mit Behinderungen bildet, sind " Definition Menschen mit Behinderung „Menschen [. . .]

behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (§ 2 Abs. 1, SGB IX). Aufgrund der häufig chronischen Verläufe psychischer Erkrankungen werden diese in Anlehnung an die Ausführungen des SGB IX daher meist als psychische Behinderungen bezeichnet (Linden 2015). " Maßgeblich für das aktuelle Verständnis von Behinderung sind sowohl die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO sowie die von den Vereinten Nationen verabschiedete und seit 2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (Zander 2016).

Ein Vorteil der Behinderungsklassifikation der ICF ergibt sich vor allem aus der Möglichkeit, diese auch auf chronische Erkrankungen anzuwenden (Hirschberg 2011). In ihrer deutschsprachigen Fassung wird Behinderung definiert als " Definition Behinderung „Oberbegriff für Schädigungen,

Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe]“ (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005, S. 3). Somit gilt auch hier eine eingeschränkte Teilhabe als wesentliches Merkmal von Behinderung bzw. chronischer Krankheit. Als Schädigung wird dabei der Verlust oder eine Abweichung von physiologischen Funktionen (Körperfunktionen) und/oder

599

anatomischen Teilen des Körpers (Körperstrukturen) verstanden (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005). In Abschnitt e) der Präambel der UN-BRK heißt es darüber hinaus, „dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2011, S. 206). Behinderung resultiert also aus der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen von der Gesellschaft sowie aus deren Benachteiligung aufgrund ihrer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen (Zander 2016) und kann somit potenziell jeden Menschen betreffen (Prospescu-Willigmann 2014). Eine noch junge Forschungsdisziplin, die sich mit dieser gesellschaftlichen Verursachung von Behinderung auseinandersetzt, sind die Disability Studies. Sie haben ihren Ursprung in der internationalen Behindertenbewegung und sehen Behinderung ausschließlich als ein Resultat aus Einschränkungen, die Menschen mit Beeinträchtigungen von der Gesellschaft auferlegt werden, beispielsweise durch das Fehlen barrierefreier Zugänge zu öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu öffentlichen Gebäuden, durch ausgrenzende Arbeitsverhältnisse oder durch das geteilte Bildungssystem (Zander 2016). Mit der weitestgehenden Etablierung der ICF und Inkrafttreten der UN-BRK ist ein deutlicher Perspektivwechsel hinsichtlich der Wahrnehmung von Krankheit und Behinderung zu verzeichnen (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Sie haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass Begriffe wie Teilhabe und Inklusion heute zentrale Grundsätze in der Behindertenpolitik darstellen (Zander 2016). Inklusion wird hierbei „verstanden als gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung durch eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Institutionen“ (Wolf-Kühn und Morfeld 2016, S. 4); es geht vor allem darum, alle Menschen als gleichwertig zu betrachten (Budde und Hummrich 2013). Ziel ist der Wandel des Grundsatzes der Fürsorge für Menschen mit Behinderung hin zum Grundsatz der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen. Wenngleich der Inklusionsbegriff derzeit meist noch überwiegend im Zusammenhang mit Bildung und Pädagogik in Erscheinung tritt, ist zukünftig auch eine Umsetzung des Inklusionsgedankens im Bereich der Rehabilitation zu erwarten (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). In Deutschland lebten im Jahr 2015 etwa 7,6 Mio. Menschen, also etwa 9,3 % der deutschen Gesamtbevölkerung, mit einer amtlich anerkannten Schwerbehinderung, wobei diese zu 61 % aus einer körperlichen Erkrankung resultierte (Statistisches Bundesamt 2017). Eine umfassende Teilhabeberichterstattung bieten seit 2013 die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) veröffentlichten Teilhabeberichte

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F. Becker und M. Morfeld

zur Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland (Hornberg et al. 2017). Ziel ist es, die Lebenslage von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage verfügbarer Datenquellen möglichst umfassend abzubilden. Erfasst werden hierbei die in der UN-BRK aufgegriffenen Bereiche wie z. B. Barrierefreiheit, Mobilität, Bildung, Beschäftigung sowie Teilhabe am politischen Leben. Die Ergebnisse des aktuellen Teilhabeberichts aus dem Jahr 2016 zeigen, dass die Teilhabe von Menschen mit einer Beeinträchtigung bzw. Behinderung trotz einer Vielzahl von Maßnahmen noch immer eingeschränkt ist, wobei gilt: Je stärker die Beeinträchtigung beziehungsweise Behinderung, desto geringer ist die Chance für die Betroffenen, teilzuhaben (BMAS 2016a).

2.2

ICF als konzeptionelle Grundlage der Rehabilitation

Ausgehend von der UN-BRK soll für alle Menschen mit Behinderungen eine uneingeschränkte Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft ermöglicht werden (Hornberg et al. 2017). Die UN-BRK weist dabei explizit auf das Recht von Menschen mit Behinderungen auf ein gesundheitliches Höchstmaß frei von Diskriminierung hin (BMAS 2011) und fordert dazu auf, die Betroffenen „in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende, körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens zu erreichen und zu bewahren“ (BMAS 2011, S. 214). " Hieraus ergibt sich die Wiederherstellung bzw. Förderung der Teilhabe für Menschen mit chronischer Krankheit und Behinderung als zentrales Ziel rehabilitativer Leistungen (DRV Bund 2009a).

Das ist auch im § 1 zur Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft des SGB IX festgelegt und in § 4 über Leistungen zur Teilhabe spezifiziert (§ 1 u. 4, SGB IX). Durch möglichst früh einsetzende rehabilitative Interventionen sollen die Chronifizierung einer Krankheit verhin-

Abb. 1 Das biopsychosoziale Modell der Komponenten von Gesundheit der WHO (Quelle: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005, mit freundlicher Genehmigung der WHO)

dert, die damit verbundenen Krankheitsfolgen gemildert sowie eine drohende Erwerbsminderung oder -unfähigkeit abgewandt werden (DRV Bund 2010). " Mit ihrem integrierten Modell der Funktionsfähigkeit und Behinderung bildet die ICF die theorie- und handlungsleitende Grundlage aller rehabilitativen Maßnahmen (DRV Bund 2009a; Wolf-Kühn und Morfeld 2016).

Demnach entsteht eine Behinderung aus der negativen Wechselwirkung oder komplexen Beziehung zwischen einem Gesundheitsproblem und den einzelnen, sich auf die Person oder ihr Umfeld beziehenden Kontextfaktoren (Abb. 1; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005). Zu den personbezogenen Faktoren gehören z. B. typische Merkmale wie Schulbildung, Alter, Geschlecht oder der soziale Status einer Person, Umweltfaktoren sind u. a. familiäre Beziehungen, der Arbeitsplatz oder aber auch die wohnräumliche Umgebung (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Somit macht es das mit der ICF etablierte biopsychosoziale Modell der Komponenten von Gesundheit (Wenzel und Morfeld 2017) möglich, Teilhabeeinschränkungen nicht allein durch Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen (Rentsch 2006), sondern auch mit Blick auf Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren zu erklären und diese in die Planung des Rehabilitationsprozesses einzubeziehen. Ziel ist es dabei, teilhabeerschwerende Barrieren und teilhabeunterstützende Förderfaktoren zu identifizieren und abzubauen bzw. zu stärken (DRV Bund 2009a). So können bspw. die Folgen eines Herzinfarkts bei ungünstigem Kontext einer Person (geringe Qualifikation, leichte Ersetzbarkeit am Arbeitsplatz, kein Interesse des Arbeitgebers an Weiterbeschäftigung) zu einer deutlichen Teilhabeproblematik am Erwerbsleben führen, wohingegen eine Person mit günstigem Kontext (hohe Qualifikation, schwere Ersetzbarkeit am Arbeitsplatz, großes Interesse des Arbeitgebers an Weiterbeschäftigung) mit höherer Wahrscheinlichkeit im Erwerbsleben bleibt und hier somit weiter teilhaben kann (Wolf-Kühn und Morfeld 2016).

50

2.3

Versorgungsleistungen in der Rehabilitation

Praktische Anwendungsfelder der ICF in der Rehabilitation

Die ICF schafft nicht nur Rahmenbedingungen zur Herstellung von Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen, sondern findet auch darüber hinaus seit ihrem Erscheinen im Jahr 2001 vielfältige praktische Anwendung (Wenzel und Morfeld 2017). Hervorzuheben ist hier die einheitliche Sprache der ICF, die vor allem für eine bessere Verständigung in den Bereichen Rehabilitation und Pflege bedeutsam ist. Sie ermöglicht es, vorhandene Schädigungen von Körperfunktionen und -strukturen, Barriere- und Förderfaktoren, Teilhabeeinschränkungen sowie die sich daraus ergebende Funktionsfähigkeit bzw. Behinderung einer Person eindeutig abzubilden. Sie erleichtert somit auch die Zusammenarbeit in multiprofessionellen und interdisziplinären Teams (Wenzel und Morfeld 2016). Die WHO stellt in einem Manual zur ICF, basierend auf einer Vielzahl praktischer Erfahrungen aus unterschiedlichen Ländern, verschiedene Nutzungsmöglichkeiten der Klassifikation vor (WHO 2013): in der klinischen Praxis (z. B. zur Zielsetzung innerhalb der Behandlung, zur Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen, zur Abbildung des Gesundheitsstatus einer Person), im Rahmen statistischer Erhebungen (z. B. Gesundheitsberichterstattung), in der Aus- und Weiterbildung (z. B. Nutzungsmöglichkeiten der ICF in den Bereichen Diagnostik oder Outcome-Analyse), in der Politik (z. B. hinsichtlich der Sozialgesetzgebung) sowie zur Implementierung von Strategien zur Herstellung von Chancengleichheit und zur Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen (WHO 2013; Wenzel und Morfeld 2016). In Deutschland erarbeitete die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) in den letzten Jahren Schritt für Schritt umfassende ICF-Praxisleitfäden mit Nutzungsschwerpunkten der ICF in der medizinischen (BAR 2008a) und beruflichen Rehabilitation (BAR 2016a), im Akutkrankenhaus (BAR 2010) sowie für den Zugang zur Rehabilitation im Allgemeinen (BAR 2015). Um die ICF trotz ihrer inhaltlichen Komplexität auch für bestimmte Erkrankungen spezifisch nutzbar zu machen, wurden die sog. ICF Core Sets entwickelt. Sie bestehen aus einzelnen Items der ICF, die von Expertengruppen als relevant für ein bestimmtes Gesundheitsproblem erachtet werden. Mittlerweile existieren etwa 34 dieser Core Sets, überwiegend für den Bereich der medizinischen und beruflichen Rehabilitation (Wenzel und Morfeld 2016, 2017). Damit auch die Teilhabeeinschränkungen psychischer Störungen bzw. psychischer Behinderungen eine adäquate Berücksichtigung erfahren, findet die ICF neben der Rehabilitation auch auf dem Gebiet der Psychotherapie zunehmend Anwendung. So soll es gelingen, psychische Störungen mit Blick auf Fähigkeiten und Teilhabe der betroffenen Person zu behandeln (Muschalla et al. 2016).

601

Auch für psychische Störungen wie Depressionen, bipolare Störungen oder aber auch Schmerz- und Schlafstörungen sind bislang Core Sets entwickelt worden (Linden 2015). Dennoch werden die ICF Core Sets immer wieder auch kritisch diskutiert, da in den an der Entwicklung beteiligten Expertengruppen eine Überrepräsentation von medizinischem Fachpersonal wie Ärzten oder Physiotherapeuten herrscht und die Betroffenen selbst meist keine Berücksichtigung finden (Wenzel und Morfeld 2017). Zusammengefasst wird die ICF bereits in vielen Bereichen bestimmungsgemäß genutzt, insbesondere in der Gesundheitsberichterstattung vieler Länder ist sie von Bedeutung. Dennoch bleibt unklar, in welchem Umfang beispielsweise die ICF Core Sets in der klinischen Praxis tatsächlich Anwendung finden oder wie konkret einzelne Kliniken und Institutionen, sowohl national als auch international, mit dem biopsychosozialen Modell der ICF arbeiten. Somit bedarf es auch fast 20 Jahre nach ihrer Verabschiedung noch immer einer Weiterentwicklung der gezielten Nutzung der ICF (Wenzel und Morfeld 2016).

3

Rehabilitatives Versorgungssystem in Deutschland

Aufgabe rehabilitativer Maßnahmen ist es, Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung sowie zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu geben (Stengler et al. 2014). Das rehabilitative Versorgungssystem in Deutschland befindet sich derzeit in seinem größten Umbruch seit der Einführung des SGB IX im Jahr 2001. Grund hierfür ist das zu Beginn 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, kurz: das Bundesteilhabegesetz (BTHG). Es soll bis zum Jahr 2023 in vier Phasen in der deutschen Gesetzgebung etabliert werden und die Ansprüche der UN-BRK hinsichtlich der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen verstärkt umsetzen. Das BTHG novelliert das bislang geltende SGB IX (jetzt: SGB IX-neu) sowohl hinsichtlich seiner Struktur sowie seiner Inhalte und hat somit auch zentrale Auswirkungen auf das rehabilitative Versorgungssystem. Es gliedert das SGB-IX-neu in drei Teile (BAR 2017a): • Teil 1: Allgemeiner Teil (verbindliche Grundsätze für alle Rehabilitationsträger) • Teil 2: Recht der Eingliederungshilfe (modernisiertes und personzentriertes Teilhaberecht) • Teil 3: Schwerbehindertenrecht (Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen) Zentral ist auch der neue Behinderungsbegriff nach SGB IX-neu (BAR 2017a).

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F. Becker und M. Morfeld

" Definition Behinderung nach SGB IX-neu „Menschen

mit Behinderungen [. . .] sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (BMAS 2016b, § 2 Abs. 1). Hier zeigt sich sowohl eine stärkere Orientierung des Behinderungsbegriffs an der UN-BRK als auch am Modell der Funktionsfähigkeit und Behinderung der ICF (BAR 2017a). Das SGB IX unterschied bislang insgesamt vier Leistungsgruppen zur Teilhabe (§ 5, SGB IX): Leistungsgruppen

• Leistungen zur medizinischen Rehabilitation • Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben • Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen • Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft Im SGB IX-neu werden diese nun durch eine fünfte Leistungsgruppe, die Leistungen zur Teilhabe an Bildung, ergänzt (BMAS 2016b; BAR 2017a). Sie haben das Ziel, Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zum allgemeinen Bildungssystem zu ermöglichen und beinhalten hierzu v. a. technische und kommunikative Hilfsmittel. Darüber hinaus wurden die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu Leistungen zur sozialen Teilhabe umbenannt. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um eine Neuformulierung des Leistungsspektrums, nicht aber um eine Beschränkung oder Erweiterung (BAR 2017a). Angepasst wurden zudem die Regelungen für die einzelnen Rehabilitationsträger als Leistungserbringer rehabilitativer Maßnahmen. Wie auch im SGB IX werden im § 6 SGB IX-neu sieben Leistungsträger unterschieden (BMAS 2016b): Leistungsträger

• • • • • • •

Gesetzliche Krankenkassen Bundesagentur für Arbeit Träger der gesetzlichen Unfallversicherung Träger der gesetzlichen Rentenversicherung Träger der Kriegsopferversorgung Träger der öffentlichen Jugendhilfe Träger der Sozialhilfe

Während das SGB IX allgemeine Regelungen für alle Leistungsträger enthielt (Buschmann-Steinhage und Widera 2016), die jedoch nur dann galten, wenn die für die einzelnen Leistungsträger spezifischen Sozialgesetzbücher keine ande-

ren Regelungen trafen, sind die Regelungen im SGB IX-neu nun verbindlicher und zwingender. Sie haben Vorrang hinsichtlich Bedarfsermittlung, Teilhabeplanung und Zuständigkeitsklärung (BAR 2017a). Für die Kosten einer rehabilitativen Maßnahme kommt der Leistungsträger auf, der gleichzeitig auch das Risiko ihres Scheiterns trägt (Prinzip der einheitlichen Risikozuordnung). Daher sind z. B. insbesondere die Träger der Rentenversicherung für die Rehabilitation Erwerbstätiger zuständig, da ihnen im Falle einer Erwerbsminderung oder Erwerbsunfähigkeit die Zahlung einer entsprechenden Rente zukommt (DRV Bund 2010). Nach § 9 SGB IX-neu gilt weiterhin, dass Teilhabeleistungen immer Vorrang gegenüber Rentenzahlungen haben und auch dann zu erbringen sind, wenn eine Pflegebedürftigkeit verhindert oder vermindert werden könnte (BMAS 2016b). Kurzgefasst bedeutet dies: „Reha vor Rente, Reha vor Pflege“ (Wolf-Kühn und Morfeld 2016, S. 88). In der Regel sind Rehabilitationsmaßnahmen Antragsleistungen, da die chronische Erkrankung bzw. Behinderung nicht auf eine spezifische Ursache zurückgeführt werden kann (Finalitätsprinzip). Ist die Ursache der Beeinträchtigung jedoch bestimmbar, wie z. B. bei einem Arbeits- oder Wegeunfall, dann handelt es sich um eine Leistung von Amts wegen (Kausalitätsprinzip) und der Zugang zur Rehabilitation erfolgt ohne Antragstellung und Bewilligungsverfahren (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Zentral bei der Novellierung des SGB IX ist, dass mit Inkrafttreten des BTHG nur noch ein einziger Antrag notwendig ist, um von allen Leistungsträgern alle notwendigen Leistungen zu erhalten. Es gibt somit nur noch einen leistenden Rehabilitationsträger, der die Leistungen und die Zusammenarbeit aller beteiligten Rehabilitationsträger koordiniert (BAR 2017a). Grundsätzlich bedürfen im Falle einer Antragstellung die Zugangsvoraussetzungen einer sozialmedizinischen Begutachtung (Buschmann-Steinhage und Widera 2016). Geprüft werden hierbei die Rehabilitationsbedürftigkeit (i. S. einer bestehenden oder drohenden Teilhabeeinschränkung als Folge eines Gesundheitsproblems), die Rehabilitationsfähigkeit (i. S. einer aktiven Teilnahme an der rehabilitativen Maßnahme), die Rehabilitationsprognose (i. S. einer positiven Prognose zur Erreichung des Rehabilitationszieles innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens) sowie die Rehabilitationsmotivation (i. S. einer genügenden Motivation zur Teilnahme an der rehabilitativen Maßnahme) (Stengler et al. 2014). Auch der Vorgang dieser Bedarfsermittlung ist durch das BTHG verändert worden: nach § 13 SGB IX-neu stehen nun auch geeignete Instrumente (z. B. Erhebungen, Analysen, Dokumentationen, Seh- oder Hörtests) zur Verfügung, um stärker auf den individuellen Bedarf des Antragstellers fokussieren zu können (BAR 2017a). Um Antragstellern ausreichende Informationen hinsichtlich Ziele, Inhalte und Verfahren zu Leistungen zur Teilhabe zur Verfügung zu stellen, werden sog. Ansprechstellen der

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Versorgungsleistungen in der Rehabilitation

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einzelnen Rehabilitationsträger etabliert. Sie lösen die bislang nach SGB IX existierenden gemeinsamen Servicestellen ab (BAR 2017a) und sollen Menschen mit Behinderungen die „Wahrnehmung ihrer Rechte auf Augenhöhe [. . .] ermöglichen“ (Seel 2017, S. 8).

meist nur schwer möglich. Betroffene haben daher die Möglichkeit, direkt im Anschluss an die Krankenhausbehandlung eine AR zu beantragen und/oder nach einem längeren Zeitraum ein AHV in Anspruch zu nehmen (Wolf-Kühn und Morfeld 2016).

3.1

3.2

Medizinische Rehabilitation

In Deutschland erhalten pro Jahr etwa 2 Mio. Menschen eine medizinische Rehabilitation. Mehr als Zweidrittel davon wurden von der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht, sie sind somit die bedeutsamsten Erbringer medizinisch-rehabilitativer Leistungen (Friedrich-Ebert-Stiftung 2015). Im Jahr 2015 gingen bspw. über 1,6 Mio. Anträge auf medizinische Rehabilitation bei der Deutschen Rentenversicherung ein (DRV Bund 2017a), die aufgewendeten Kosten beliefen sich auf insgesamt 4 Mrd. EUR (BAR 2017b). Vorrangiges Ziel der medizinischen Rehabilitation ist es, eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu verhindern und zu einer Förderung des psychischen, körperlichen und sozialen Wohlbefindens beizutragen (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Die medizinische Rehabilitation ist daher nicht im Sinne einer kurativen Krankenbehandlung zu verstehen (BuschmannSteinhage und Widera 2016). Darüber hinaus steht auch der Erhalt oder die Verbesserung der Erwerbsfähigkeit im Fokus der medizinischen Rehabilitation (Stengler et al. 2014). Medizinisch-rehabilitative Leistungen sind indikationsspezifisch und finden meist stationär in spezialisierten Einrichtungen statt, können jedoch unter Umständen auch ambulant erbracht werden. Ihre Dauer variiert in Abhängigkeit von der Indikation und bewegt sich dabei zwischen drei oder vier Wochen bis hin zu mehreren Monaten (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Zu den häufigsten Indikationen zählten im Jahr 2015 sowohl bei Männern als auch bei Frauen muskuloskelettale Erkrankungen (Männer: 31 %/Frauen: 33 %), psychische Erkrankungen (13 %/21 %) und onkologische Neubildungen (16 %/20 %). Weitere Indikationen waren neurologische (6 %/5 %) und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (11 %/4 %), Erkrankungen des Stoffwechsel- und Verdauungssystems (4 %/3 %) sowie Abhängigkeitserkrankungen (7 %/2 %) (DRV Bund 2017a). Bei chronischen Erkrankungen wird die medizinische Rehabilitation häufig als Allgemeines Heilverfahren (AHV) erbracht, das heißt, die Rehabilitationsmaßnahme steht in keinem zeitlichen Zusammenhang mit einer akutmedizinischen Behandlung. Knüpft die medizinische Rehabilitation jedoch direkt an ein zuvor stattgefundenes und abgeschlossenes akut-medizinisches Ereignis an, wird sie als Anschlussrehabilitation (AR) bezeichnet. Bei Menschen mit onkologischem oder neurologischem Rehabilitationsbedarf ist eine klare Abgrenzung von Akutbehandlung und Rehabilitation

Berufliche Rehabilitation

Die berufliche Rehabilitation umfasst die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Erbringer beruflich-rehabilitativer Leistungen sind die gesetzlichen Rentenversicherungen, die Bundesagentur für Arbeit und die gesetzlichen Unfallversicherungen. Ziel der beruflichen Rehabilitation ist es nicht nur, Frühberentung zu vermeiden, sondern mit Hilfe gezielter Leistungen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes oder zur Förderung der (Re-)Integration, z. B. durch Schaffung eines behindertengerechten Arbeitsplatzes, und somit zu einer Teilhabe am Arbeitsleben beizutragen. Hierzu steht den Kostenträgern ein breites Leistungsspektrum zur Verfügung. Es umfasst (DRV Bund 2009b): • Hilfen zur Erlangung oder Erhaltung eines Arbeitsplatzes (z. B. Bewerbungskosten, Trainingsmaßnahmen, Arbeitsassistenz, Mobilitätshilfen) • Berufsvorbereitung • Qualifizierungsmaßnahmen (z. B. Weiterbildung, Umschulung) • Gründungszuschüsse • Leistungen an den Arbeitgeber (z. B. Ausbildungs- und Eingliederungszuschuss) Auch berufliche Rehabilitationsmaßnahmen finden in speziellen Einrichtungen statt. Hierzu zählen Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM), berufliche Trainingszentren (BTZ), Berufsförderungswerke (BFW) sowie Berufsbildungswerke (BBW). Unterstützung hinsichtlich des Zugangs zu und der Durchführung von rehabilitativen Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten Betroffene u. a. von Integrationsämtern und Integrationsfachdiensten (Stengler et al. 2014). Da chronische Erkrankungen neben den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben meist auch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erforderlich machen (DRV Bund 2009b), hat sich in Deutschland das Konzept der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) etabliert (Buschmann-Steinhage und Widera 2016; Bethge 2017). Diese werden im Rahmen medizinisch-rehabilitativer Maßnahmen als berufsorientierte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben angeboten, sind aber Bestandteil der medizinischen Rehabilitation (Buschmann-Steinhage und Widera 2016). MBOR zielt vor allem auf jene Rehabilitanden ab, die eine lange Erwerbsunfähigkeit oder negative subjektive Erwerbs-

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F. Becker und M. Morfeld

prognose aufweisen oder aber einer Anpassung ihres Arbeitsplatzes bedürfen. Positive Effekte der MBOR hinsichtlich der Reduzierung von Fehlzeiten und der Stabilisierung der Erwerbsfähigkeit sprechen für die langfristige Etablierung dieser Strategie im deutschen Rehabilitationssystem (Bethge 2017).

3.3

Soziale Rehabilitation

Die soziale Rehabilitation schließt alle Leistungen zur sozialen Teilhabe ein und folgt dabei denselben Prinzipien wie die medizinische und berufliche Rehabilitation (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Sie dienen dem Zweck, Menschen mit chronischen Erkrankungen bzw. Behinderungen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und sie von pflegerischen Maßnahmen weitestgehend unabhängig zu machen. Zu diesen Leistungen gehört die Bereitstellung von Hilfsmitteln, heilpädagogischen Leistungen für noch nicht schulpflichtige Kinder, Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fertigkeiten, Hilfen zur Schaffung eines behindertengerechten Wohnraums, Hilfen für ein selbstbestimmtes Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten sowie Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben (§ 55, SGB IX). Sowohl die medizinische als auch die berufliche und die soziale Rehabilitation werden durch die Leistungen zur Unterhaltssicherung der einzelnen Rehabilitationsträger ergänzt (Buschmann-Steinhage und Widera 2016). Sie umfassen überwiegend finanzielle Leistungen wie Kranken-, Verletzten- oder Übergangsgeld, Beiträge und Beitragszuschüsse, Reisekosten, Kinderbetreuungskosten etc. (§ 44, SGB IX).

4

Berufsgruppen, Diagnostik und Interventionen in der Rehabilitation

Einen entscheidenden Faktor in der rehabilitativen Versorgung stellt die interprofessionelle Teamarbeit dar. Hierbei arbeiten verschiedene Berufsgruppen nebeneinander mit der Absicht, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Dazu kommen sie regelmäßig in interdisziplinären Teams zusammen und treffen kooperativ Entscheidungen über den weiteren Rehabilitationsverlauf. Diese Interprofessionalität trägt nicht nur positiv zur Patientenorientierung und -zufriedenheit bei, sondern wirkt sich auch maßgeblich auf den Behandlungserfolg und die Zufriedenheit der Mitarbeiter aus. Zu den verschiedenen Berufsgruppen in der Rehabilitation zählen u. a. Ärzte, Psychologen, Pflegepersonal, Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten und Sozialarbeiter (Körner und Becker 2017) sowie Diätassistenten (DRV Bund 2009a). In Anlehnung an die verschiedenen Berufsgruppen und deren spezifische Therapieaufgaben ist auch das Spektrum

der zur Verfügung stehenden rehabilitativen Interventionen entsprechend umfassend (DRV Bund 2009a). Bevor diese jedoch zur Anwendung kommen, ist zunächst eine systematische Diagnostik, das sog. Assessment, notwendig. Ziel ist es hierbei, die Probleme der Rehabilitanden zu identifizieren. Diese können aufgrund der Komplexität chronischer Erkrankungen und Behinderungen vielfältig sein. Richtungsweisend ist auch hier die ICF, sodass das rehabilitative Assessment deutlich auf Teilhabe und Teilhabeeinschränkungen fokussiert (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Beispielhaft zu nennen sind hier Instrumente wie das MiniICF-APP zur gleichzeitigen Erfassung von Fähigkeiten und Teilhabe sowie IMET zur singulären Erfassung von Teilhabe an verschiedenen Lebensbereichen (Linden 2015). Die psychologische Rehabilitationsdiagnostik erfasst insbesondere die Krankheitsbewältigung, psychische Belastungen und subjektive Krankheitstheorien. Sie arbeitet hierbei ebenfalls mit Fragebögen, aber auch mit Beobachtung und explorativer Gesprächsführung (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Aus den Ergebnissen der Diagnostik werden dann geeignete Interventionen abgeleitet (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Sie umfassen verschiedenste Behandlungselemente wie bspw. medikamentöse Therapie, sport- und bewegungsbezogene Maßnahmen zur Steigerung der Ausdauer, Koordination, Kraft und Beweglichkeit (z. B. Physiotherapie, Krankengymnastik, Massagen) sowie Maßnahmen zur Verbesserung motorischer, sensorischer und kognitiver Funktionen (z. B. Ergotherapie) oder zur Verbesserung der Sprechfähigkeit (z. B. Logopädie). Auch die Ernährungsberatung ist in der Rehabilitation vieler Erkrankungen essenziell (DRV Bund 2009a). Ziel der psychologischen Interventionen ist es, die Betroffenen hinsichtlich ihrer Krankheitsbewältigung zu unterstützen. Ein zentraler Bestandteil ist die Patientenschulung. Hierbei handelt es sich um indikationsspezifische edukative Maßnahmen, bei denen den Betroffenen in erster Linie Wissen bzgl. der Erkrankung und deren Behandlung vermittelt wird. Je nach Ausgestaltung der Patientenschulung kann jedoch mit Hilfe praktischer Übungen auch gezielt der Umgang mit der entsprechenden Erkrankung trainiert werden. Patientenschulungen werden meist von Psychologen angeleitet, können aber auch von Ärzten oder anderen Berufsgruppen durchgeführt werden. Sie finden i. d. R. in Gruppensettings statt und setzen sich aus mehreren Einheiten zusammen (Wolf-Kühn und Morfeld 2016). Moderne Patientenschulungen zeichnen sich durch eine interaktiv gestaltete und teilnehmerorientierte Vorgehensweise aus und entsprechen durch ihre Manualisierung hohen qualitativen Standards (Faller et al. 2011). Weitere psychologische Interventionen sind psychologische Gruppenangebote, Beratung und Psychotherapie sowie ergänzend Entspannungstechniken wie PMR oder autogenes Training (Wolf-Kühn und Morfeld 2016).

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Versorgungsleistungen in der Rehabilitation

Nachsorgende Leistungen in der Rehabilitation

Die positiven Effekte medizinisch-rehabilitativer Leistungen sind unbestritten, meist jedoch nicht von langer Dauer und sie zeigen sich v. a. unmittelbar nach der Rehabilitationsmaßnahme (Deck und Theissing 2016). Ursächlich für ein Nachlassen dieser positiven Effekte ist meist eine nicht gelingende Integration des Gelernten in den Alltag, da die stationär erlernten Verhaltensweisen bspw. nicht mit der eigenen Berufstätigkeit vereinbar sind (Sibold et al. 2011; Deck und Theissing 2016). Allerdings haben sich viele Therapien langfristig als effektiv erwiesen, wenn sie auch noch nach der eigentlichen Rehabilitationsmaßnahme fortgesetzt werden (DRV Bund 2015; BAR 2016b). " Solche Maßnahmen zur Sicherung der positiven Effekte einer Rehabilitation werden unter dem Begriff Rehabilitations-Nachsorge, kurz Nachsorge, zusammengefasst.

Hierbei kommt den Rehabilitationseinrichtungen eine zentrale Rolle bei der Einleitung nachsorgender Maßnahmen zu. Sie sollen in der Lage sein, frühzeitig einen entsprechenden Bedarf zu erkennen, über aktuelle Nachsorgeangebote zu informieren und bei der Planung und Umsetzung entsprechender Maßnahmen zu unterstützen. Ihre konkreten Empfehlungen, die sog. Nachsorgeempfehlungen, sollen im ärztlichen Entlassungsbericht gebündelt werden. Die Nachsorge sollte i. d. R. nicht später als 3 Monate nach der rehabilitativen Maßnahme beginnen und spätestens nach einem Jahr abgeschlossen sein. Dauer und Frequenz der Nachsorge richten sich dabei nach der Indikation, dem Nachsorgeprogramm selbst und der individuellen Problemlage. Bundesweit verbreitet sind die Kernangebote zur Nachsorge der Deutschen Rentenversicherung (DRV Bund 2015) als einer der bedeutsamsten Leistungserbringer von Nachsorge (BAR 2008b). Hierzu zählen die Intensivierte Reha-Nachsorge (IRENA), die Reha-Nachsorge (RENA) mit ihren Nachsorgeprogrammen T-RENA, Psy-RENA und Sucht-Nachsorge sowie, als ergänzende Leistungen, Rehabilitationssport und Funktionstraining (DRV Bund 2015). Auch für die Nachsorge wird eine Orientierung an der ICF zunehmend handlungsleitend (Lindow et al. 2011), da sie zu einer langfristigen sozialen Integration beitragen soll (BAR 2008b). Oftmals fehlt es jedoch im Lebens- und Arbeitsumfeld der Betroffenen an konkreten Hilfsangeboten (Reuther et al. 2012). Eine Strategie, die daher im Zusammenhang mit Nachsorge diskutiert wird, ist das Konzept der Sozialraumorientierung. Zentrales Merkmal ist hier die fallunspezifische Arbeit. Sie fokussiert nicht mehr nur den Betroffenen selbst, sondern auch seine Umwelt. Strukturen, die bereits zur Verfügung stehen, wie z. B. die Ressourcen, die ein Stadtteil, eine Straße, ein Dorf oder andere soziale Strukturen bieten,

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werden für die Lösung individueller Problemlagen unmittelbar nutzbar gemacht. Diese Ressourcen können dann ausgebaut und im Bedarfsfall schnell und unkompliziert aktiviert werden (Früchtel und Budde 2010). Bislang findet dieses Konzept jedoch fast ausschließlich in der Jugendhilfe praktische Anwendung (Litges 2012).

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Qualitätssicherung in der Rehabilitation

Nach § 37 SGB IX-neu sind die einzelnen Rehabilitationsträger zur Qualitätssicherung beziehungsweise zum Qualitätsmanagement verpflichtet (BMAS 2016b). Als Orientierung dienen hierbei von wissenschaftlichen Fachgesellschaften systematisch entwickelte und evidenzbasierte Leitlinien (DRV Bund 2009a). Bedeutende Fachgesellschaften sind u. a. die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) oder auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (Farin et al. 2011). Die Qualitätssicherung ist einrichtungsübergreifend und wird extern durch die zuständigen Rehabilitationsträger gesteuert, das Qualitätsmanagement hingegen liegt in der Zuständigkeit der einzelnen Rehabilitationskliniken selbst (Augurzky et al. 2011). Ziel ist es, ein hohes Maß an Versorgungsqualität aufrechtzuerhalten bzw. diese kontinuierlich zu verbessern (DRV Bund 2009a). Ergänzend zu den Leitlinien stützt sich die Qualitätssicherung der Deutschen Rentenversicherung zusätzlich auf die sog. Reha-Therapiestandards (RTS). Im Gegensatz zu den Leitlinien fokussieren sie nicht eine einzelne Person und ihre individuelle Problemlage, sondern alle Rehabilitanden mit einer bestimmten Indikation. Die RTS geben vor, welche evidenzbasierten rehabilitativen Strategien und Therapien mindestens von den einzelnen Einrichtungen für diese spezifische Rehabilitandengruppe erbracht werden müssen. Aus den tatsächlich erbrachten Leistungen kann dann die Qualität einzelner Behandlungsprozesse abgeleitet werden. Erst kürzlich sind die RTS der Deutschen Rentenversicherung aktualisiert worden und bieten nun z. T. eine noch bessere Evidenzlage (Farin et al. 2018).

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Zusammenfassung und Ausblick

Das rehabilitative Versorgungssystem unterliegt einem stetigen Wandel. Unbestritten ist, dass der Bedarf an rehabilitativen Leistungen in der Zukunft wachsen und die Rehabilitation als solche vor neue Herausforderungen stellen wird (Koch-Gromus et al. 2017). Der sich fortsetzende demografische Wandel führt zu einem Anstieg von Menschen mit einer chronischen Krankheit bzw. Behinderung (BMAS 2016a). Zudem nimmt das durchschnittliche Alter der Reha-

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bilitanden zu. Damit verbunden ist ein wachsender Anteil jener Menschen, die multimorbid erkrankt sind. Für die rehabilitative Diagnostik und Therapie bedeutet das, mehrere Krankheiten und deren Folgen gleichzeitig im Blick zu haben (Buschmann-Steinhage 2017). Neben der veränderten Altersstruktur stellt auch die Zuwanderung eine bedeutende Herausforderung für die Rehabilitation dar. Rehabilitanden mit Migrationshintergrund haben oftmals aufgrund von Traumatisierung oder kultureller Unterschiede zusätzliche Bedarfe, die zukünftig berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus ist eine Verschiebung des Indikationsspektrums zu beobachten. Bislang gehören Erkrankungen des Bewegungsapparates sowohl bei Frauen als auch bei Männern zu den häufigsten Indikationen, ihr Anteil ist jedoch rückläufig. An zweiter Stelle stehen, mit steigendem Anteil, die psychischen Störungen. Es besteht daher die Notwendigkeit, diese frühestmöglich zu erkennen und auch in der somatischen Rehabilitation verstärkt auf psychosoziale Problemlagen einzugehen (BuschmannSteinhage 2017). Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Nutzung neuer Medien, nicht nur in der Rehabilitation, sondern auch in der Nachsorge. Internet- und telefonbasierte telemedizinische Ansätze rücken hinsichtlich der Optimierung rehabilitativer Leistungen zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus, wobei ihre Wirksamkeit in verschiedenen Bereichen bereits nachgewiesen ist (Baumeister et al. 2017). Auch die Deutsche Rentenversicherung hat sich diesem Trend geöffnet. Sie fasst bspw. Nachsorgeprogramme, die sich dieser neuen Medien bedienen, unter der Bezeichnung Tele-Reha-Nachsorge zusammen und hat kürzlich ein Papier zu grundsätzlichen Anforderungen an diese Programme publiziert (DRV Bund 2017b). Im europäischen Vergleich ist der Anteil ambulant erbrachter Rehabilitationsleistungen in Deutschland noch immer gering (Mittag und Welti 2017). Ein weiterer Ausbau ambulanter Angebote ist zwar zu erwarten (Morfeld et al. 2011), bleibt jedoch voraussichtlich auf Ballungsräume und häufige Indikationen begrenzt. Im Rahmen von Flexibilisierung und Individualisierung wird jedoch zunehmend diskutiert, das bislang ganztägig konzipierte ambulante Rehabilitationskonzept hinsichtlich Dauer und Intensität der Maßnahmen individuell entsprechend der aktuellen Bedürfnisse der Rehabilitanden zu variieren (Buschmann-Steinhage 2017). Abschließend ist anzuführen, dass das rehabilitative Versorgungssystem in Deutschland nicht frei von kritischen Stimmen ist. Bereits kurz nach ihrer Verabschiedung gab es immer wieder auch Anlass zur Kritik an der ICF, insbesondere, da sie Ambivalenzen hinsichtlich ihres Verständnisses von Krankheit und Behinderung aufweise (Hirschberg 2003). Obwohl sie den Anspruch habe, sowohl das medizinische als auch das soziale Modell von Behinderung zu vereinen, werde doch die „Beständigkeit der medizinischen Klassifizierungstradition“ (Hirschberg 2003, S. 177) betont. Dieser Kritikpunkt hat aus Sicht der Disability Studies bis heute Bestand,

F. Becker und M. Morfeld

da im biopsychosozialen Modell der ICF noch immer Gesundheitsprobleme als ursächlich für Teilhabebeschränkungen angesehen werden. Hinzu komme eine nur unzulängliche Abgrenzung der Begriffe Beeinträchtigung und Behinderung (Zander 2016). Weiteren Anlass zur Kritik gibt die trotz ihrer großen Bedeutsamkeit noch immer fehlende Klassifikation der personbezogenen Faktoren der ICF. Grund hierfür sei die große Vielfalt weltweiter kultureller Unterschiede. Dennoch gibt es bereits erste Ansätze, die Nutzung dieser vierten Komponente der ICF in der Praxis zu fördern. Beispielhaft zu nennen ist hier ein Klassifikationsentwurf der personbezogenen Faktoren der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention aus dem Jahr 2010 (Grotkamp et al. 2014). Auch das BTHG wurde bereits vor seiner Einführung stark kritisiert (Seel 2017), insbesondere, da es noch immer nicht die Nutzung der ICF verbindlich macht, sondern den einzelnen Rehabilitationsträgern selbst überlässt, inwieweit sie sich an ihr und dem Konzept der funktionalen Gesundheit orientieren (Schubert et al. 2016). Insgesamt sind die sozialpolitischen Auswirkungen, die die Etablierung des BTHG mit sich bringen wird, noch nicht in vollem Umfang abzuschätzen (Seel 2017). Es ist also zu erwarten, dass auch dieses Gesetz weiterhin Gegenstand vieler öffentlicher Debatten sein wird.

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50

Versorgungsleistungen in der Rehabilitation

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Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in Deutschland

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Frank Jacobi, Stefanie L. Kunas, Maria L. D. Annighöfer, Stefan Sammer, Thomas Götz und Gabriel Gerlinger

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie und psychosoziale Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz und Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfebedarf im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gesetzliche und versicherungsrechtliche Rahmenbedingungen zur Sicherung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundstrukturen des deutschen Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Gesetzliche Krankenversicherung im System der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Leistungsträger und Leistungserbringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

611 611 611 612

1 1.1 1.2 1.3 1.4 2

3

Unterscheidung der Leistungserbringer in der Versorgung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613

4 Das psychiatrische Hilfesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 4.1 Umfang stationärer Behandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 4.2 Umfang ambulanter Behandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 5 Die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 5.1 Psychotherapeutische Richtlinienverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 6

Außerklinische psychosoziale Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

7

Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

1

F. Jacobi (*) · S. L. Kunas · M. L. D. Annighöfer · S. Sammer Psychologische Hochschule Berlin (PHB), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected]; [email protected] T. Götz Landesbeauftragter für Psychiatrie, Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Gerlinger Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

Einleitung

Die Leistungsträger- und Erbringerkomplexität der psychiatrischen, psychosomatischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung in Deutschland ist groß (van Treek et al. 2017). Ein Überblick über die Strukturen dieser in unterschiedliche Sektoren gegliederten Angebote ist nicht nur für diejenigen erforderlich, die solche Angebote in Anspruch nehmen wollen, sondern darüber hinaus auch für die unterschiedlichen Berufsgruppen des medizinischen und nicht-medizinischen Gesundheitswesens, um eine gute Vernetzung zu gewährleisten. In diesem Kapitel werden die in Deutschland existierenden Angebote vor dem Hintergrund der zugehörigen gesetzlichen Rahmenbedingungen dargestellt und kommentiert.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_55

609

610

1.1

F. Jacobi et al.

Geschichtlicher Hintergrund

Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen spielte bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Rolle und befand sich seither in einem stetigen Wandel. So nahm die vorwiegend soziale Versorgung nach der bürgerlichen und industriellen Revolution an Bedeutung zu, wodurch verschiedene Einrichtungen entstanden, die jedoch seit Beginn an mit zu großer Nachfrage und zu wenig Behandlungsmöglichkeiten zu kämpfen hatten (Blasius 1980). In die Zeit des Nationalsozialismus fällt das dunkelste Kapitel der deutschen Psychiatrie: Mindestens 250.000 psychisch Kranke und Menschen mit einer Behinderung fielen dem sog. Euthanasieprogramm zum Opfer (Schneider 2012). In der Folge blieben psychiatrische Einrichtungen über Jahrzehnte hinweg aus der Öffentlichkeit verschwunden und lebten ein Schattendasein, was auch Auswirkungen auf die öffentliche Wahrnehmung psychisch kranker Menschen hatte. Erst Mitte der 1970erJahre entstanden in der BRD im Zuge der sog. PsychiatrieEnquete Modellprojekte, die eine Grundlage für unser heutiges Versorgungssystem bildeten (Deutscher Bundestag 1975; Deister et al. 2004; Kallert et al. 2016). Auch in der ehemaligen DDR gab es seit den 1960er-Jahren sozialpsychiatrische Impulse (Rodewischer Thesen 1963; Kumbier et al. 2013). Für die weitere Entwicklung des psychiatrischpsychotherapeutischen Versorgungssystems bedeuteten nach der Wiedervereinigung die „Psychiatrie-Personalverordnung“ (Psych-PV 1990), das 1998 erlassene Psychotherapeutengesetz (PsychThG), die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK 2009), das PsychVVG (2016), die Überarbeitung der Psychotherapie-Richtlinie (2017) sowie zuletzt das Bundesteilhabegesetz (2017) wichtige Rahmensetzungen.

1.2

Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie und psychosoziale Angebote

In psychiatrisch-psychotherapeutischen, psychosomatischpsychotherapeutischen oder psychosozialen Einrichtungen sowie in den Praxen niedergelassener Fachärzte und Psychotherapeuten finden Menschen mit psychischen Problemen Hilfe (s. vertiefend Abschn. 4, 5 und 6). Versorgungssystem

Neben den ambulanten Versorgungsstrukturen, unterteilt sich das Versorgungssystem gegenwärtig in folgende drei stationäre Kernbereiche, die in der Regel durch teilstationäre Angebote (z. B. Tageskliniken) ergänzt werden: • Psychiatrisch-psychotherapeutische Krankenhausversorgung (Akutpsychiatrie) (Fortsetzung)

• Psychosomatisch-psychotherapeutische Krankenhausversorgung (Akutpsychosomatik) • Rehabilitation für Menschen mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen Es gibt drei Richtlinienverfahren der Psychotherapie, die von den gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der ambulanten kassenärztlichen Versorgung finanziert werden: • Analytische Psychotherapie • Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie • (Kognitive) Verhaltenstherapie Weitere außerklinische psychosoziale Angebote lassen sich in folgende Kernbereiche unterteilen: • • • • • •

1.3

Psychosoziale Beratungsstellen Selbsthilfegruppen Krisendienste Psychoedukative Angebote Betreuungs- und Unterstützungsangebote Arbeits- und Beschäftigungsangebote

Prävalenz und Relevanz

In Deutschland erkrankt innerhalb eines Jahres bundesweit jede dritte Frau und jeder vierte Mann an einer psychischen Störung (Jacobi et al. 2014). Ähnlich wie bei körperlichen Erkrankungen auch gibt es hier aber große Unterschiede hinsichtlich Schweregrad und Behandlungsbedarf, so dass nicht jede betroffene Person automatisch einer intensiven ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung bedarf. Die am häufigsten vorkommenden psychischen Erkrankungen sind Angststörungen, Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Drogengebrauch, weiterhin sind seltener, aber besonders beeinträchtigend, psychotische Störungen sowie hirnorganische Erkrankungen einschließlich Demenzen. Psychische Erkrankungen führen sowohl zu großem Leid für Betroffene und Angehörige als auch zu einer Einschränkung der Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben. So zeigen aktuelle Krankenstandsanalysen der Krankenkassen, dass im Versorgungsalltag codierte psychische Erkrankungen im Jahr 2017 mehr Krankheitstage verursacht haben als jemals zuvor und außerdem für jede zweite Frühverrentung verantwortlich waren. Psychische Erkrankungen haben somit einen Spitzenplatz unter den Gesundheitsproblemen in Deutschland inne. Außerdem ist ein substanzieller Teil von Langzeitarbeitslosen psychisch krank, und nur 10 % der Menschen mit einer chronischen schweren psychischen Erkrankung sind in den ersten Arbeitsmarkt integriert. Insgesamt befindet sich lediglich ein Fünftel der Menschen mit einer psychiatri-

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Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . .

schen Diagnose auch in Behandlung, und das regionale Angebot variiert stark zwischen städtischen und ländlichen Regionen (Jacobi et al. 2016).

1.4

Hilfebedarf im Wandel

Obwohl die Prävalenz von psychischen Erkrankungen in Deutschland seit den 1990er-Jahren in epidemiologischen Studien unverändert bleibt, hat in den letzten zwei Jahrzehnten ein deutlicher Anstieg der Inanspruchnahme von Psychotherapie und medizinischen Leistungen aufgrund von psychischen Diagnosen stattgefunden. Hierbei ist auch zukünftig mit einem weiteren Anstieg zu rechnen (Jacobi et al. 2015; Schulz et al. 2011). Die psychische Gesundheit gewinnt im Vergleich zur somatischen Gesundheit zunehmend an Bedeutung, der Beratungs- und Hilfebedarf sowie die damit einhergehenden qualitativen und quantitativen Anforderungen an die Erbringer steigen. Dies hat nicht zuletzt auch mit gewandelten Arbeitsbedingungen zu tun: vermehrte Anforderungen an kommunikative und soziale Fähigkeiten, Qualitätssicherung, Beschleunigung der Arbeitsabläufe, lebenslanges Lernen und „Emotionsarbeit“ im Dienstleistungsbereich bringen es mit sich, dass Betroffene durch ihre psychische Störung eher beeinträchtigt sein können als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dieser Entwicklung müssen auch die Versorgungsstrukturen nachkommen, indem die verschiedenen oftmals innerhalb eines Sektors tätigen Leistungserbringer in ihrer Berufspraxis enge, interdisziplinäre Zusammenarbeit leisten und die Leistungen abgestimmt werden, um Menschen mit psychischen Erkrankungen eine bestmögliche Versorgung bieten zu können.

2

611

interagieren. Der Staat überlässt die unmittelbare Gestaltung selbstverwalteten Körperschaften des öffentlichen Rechts und Verbänden,1 vor allem den gesetzlichen Krankenkassen, den kassenärztlichen Vereinigungen und den Verbänden der Krankenhausträger. Der Gesetzgeber legt dabei die Rahmenbedingungen fest, wie beispielsweise den Umfang der Pflichtaufgaben der Krankenversicherung. Staatliche Behörden üben die Rechtsaufsicht über die Körperschaft aus. Die Berufsausübung der Leistungserbringer (z. B. Ärzteschaft, Psychotherapeutenschaft) wird gesetzlich reglementiert und durch entsprechende Behörden (Kammern) überwacht. Auf Bundesebene gestaltet das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die Gesundheitspolitik (u. a. durch Vorbereitung von Gesetzen, Erarbeitung von Verwaltungsvorschriften). Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bildet hingegen das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenversicherung und legt fest, was Versicherungsleistung ist und was nicht, er wird gebildet aus Vertretern der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung. Neben diesen vier Trägerorganisationen sind dort Patientenvertreter antrags-, jedoch nicht stimmberechtigt an allen Beratungen beteiligt (Simon 2016). Darüber hinaus liegen in dem föderalen Land Deutschland wesentliche Strukturentscheidungen im Gesundheitswesen in der Hoheit der Gesundheitsministerien der Bundesländer, so z. B. die Krankenhausplanung oder den Selbstverwaltungsorganen der Bundesländer (z. B. Vergabe von Arztbzw. Psychotherapeutensitzen durch die Zulassungsausschüsse).

Gesetzliche und versicherungsrechtliche 2.2 Gesetzliche Krankenversicherung im Rahmenbedingungen zur Sicherung der System der sozialen Sicherung psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung Die konkreten Ziele und Aufgaben des Sozialstaates sind in in Deutschland den Sozialgesetzbüchern (SGB) als Bundesgesetze formu-

Bevor im Einzelnen genauer auf die vielfältigen bestehenden Angebote eingegangen wird, sollen zunächst relevante gesetzliche Rahmenbedingungen des deutschen Gesundheitssystems erläutert werden. Dies bietet eine notwendige Hilfe zur Übersicht und zum tieferen Verständnis der komplexen und fragmentierten Hilfesysteme.

liert. Die Leistungen für Patienten werden in Deutschland nach den Regeln des SGB abgerechnet, welches somit ein einheitliches Gesetzgebungswerk für alle wesentlichen Bereiche der sozialen Sicherung darstellen soll. Das SGB gliedert sich in bisher zwölf Bücher (SGB I–XII). Eine entscheidende Rolle in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Diagnostik und Therapie nimmt dabei das fünfte

2.1

1

Grundstrukturen des deutschen Gesundheitssystems

Das deutsche Gesundheitssystem ist dezentral organisiert, selbstverwaltet und wird von vielen verschiedenen Akteuren getragen, welche auf unterschiedlichen Ebenen miteinander

Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist eine mit öffentlichen Aufgaben betraute juristische Person des öffentlichen Rechts, deren Aufgaben ihr gesetzlich oder satzungsmäßig zugewiesen worden sind. Körperschaften des öffentlichen Rechts finden einen Hauptanwendungsbereich in den sog. Selbstverwaltungsangelegenheiten, also in staatlichen Aufgaben, die von den Betroffenen eigenverantwortlich geregelt werden sollen.

612

F. Jacobi et al.

Tab. 1 Überblick über relevante Versicherungszweige der Sozialversicherung Versicherungszweig Grundsicherung für Arbeitssuchende

Gesetzliche Grundlage SGB II

Gesetzliche Arbeitslosenversicherung Gesetzliche Krankenversicherung

SGB III

Gesetzliche Rentenversicherung Gesetzliche Unfallversicherung

SGB VI SGB VII

Kinder- und Jugendhilfe

SGB VIII

Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

SGB IX

Soziale Pflegeversicherung

SGB XI

Sozialhilfe

SGB XII

SGB V

Aufgaben/Leistungen – Stärkung der Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben – Unterstützung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit – Sicherung des Lebensunterhaltes als Grundsicherung (Arbeitslosengeld II) – Sicherstellung des Lebensunterhalts während der Arbeitslosigkeit (Arbeitslosengeld 1) – Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung der Gesundheit der Versicherten – Leistungen für Prävention – Leistungen für medizinisch notwendige Maßnahmen im Falle einer Krankheit, mit Ausnahme von Arbeitsunfällen – Altersrente – Finanzierung von Leistungen zur medizinischen, beruflichen und sonstigen Rehabilitation – Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren – Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten – Angebote und Leistungen der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, z. B. sozialpädagogische Einzelbetreuung – Vorrang von Prävention durch Aufklärung, Beratung und Auskunft – Fachleistungen zur Eingliederungshilfe (ab 2020) – Schwerbehindertenrecht – Neu: Unabhängige Teilhabeberatung – Neu: Teilhabe an Bildung – Geld- oder Sachleistungen zur Finanzierung der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung – Weitere Hilfen zur Gesundheit der Anspruchsberechtigten

Sozialgesetzbuch ein (SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung). Die neben dem SGB V relevanten Regelwerke zur Gesundheitsversorgung und sozialer Absicherung – auch von psychisch erkrankten Menschen – sind in Tab. 1 aufgelistet.

2.3

Leistungsträger und Leistungserbringer

Die Gesetzgeber und die staatliche Gesundheitspolitik setzten den Rahmen, in dem die Partner im Gesundheitswesen ihre Entscheidungen treffen können. Folgende Akteure stehen bei der direkten Versorgung von psychisch erkrankten Menschen in einem wechselseitigen Zusammenhang (Abb. 1): • Kostenträger – Leistungsfinanzierer: gesetzlich Versicherte, Arbeitgeber, freiwillig Versicherte in privaten oder gesetzlichen Krankenversicherungen – Leistungszahler: Kostenträger (Krankenversicherungen, die Unfall-, Pflege- und Rentenversicherung, die Kassenärztlichen Vereinigungen), staatliche Beihilfestellen,2 Direktzahler – Empfänger von Gesundheitsleistungen: gesetzlich und privat versicherte Patienten, Selbstzahler

– Leistungserbringer: alle Personengruppen aus Medizin, Pharmazie, Pflege, Psychotherapie und sonstigen Heilberufen, mit denen die Krankenkassen zur Versorgung der Versicherten zusammenarbeiten • Leistungserbringer: alle Personengruppen aus Medizin, Pharmazie, Pflege, Psychotherapie und sonstigen Heilberufen, mit denen die Krankenkassen zur Versorgung der Versicherten zusammenarbeiten Im deutschen Gesundheitssystem erfolgt die Leistungserbringung durch eine Vielfalt an Trägern, dabei werden folgende unterschieden: öffentliche (Bund, Länder und Kommunen), freigemeinnützige (Kirchen, gemeinnützige Stiftungen, Verbände der Wohlfahrtspflege) und privatwirtschaftliche Träger. Es wird deutlich, dass es alleine innerhalb des Regelkreises der Krankenversicherung eine große Vielfalt gibt, die an manchen Stellen so fragmentiert sein kann, dass die Übersicht und die Vernetzung untereinander erschwert werden. Es besteht also die Gefahr der Intransparenz und damit die Notwendigkeit der nachhaltigen Vernetzung und gemeinsamen Versorgungsverpflichtung.

Die staatliche Beihilfe bezeichnet finanzielle Unterstützung in Krankheits-, Geburts-, Pflege- und Todesfällen für deutsche Beamte, Soldaten und Berufsrichter sowie für deren Kinder und Ehepartner, soweit diese nicht selbst sozialversicherungspflichtig sind.

2

51

Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . .

613

Abb. 1 Übersicht über Leistungserbringung und Vergütung in Deutschland. (Mod. nach Simon 2016)

3

Unterscheidung der Leistungserbringer in der Versorgung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen

Tab. 2 differenziert verschiedene Berufsgruppen, welche von Menschen mit seelischen Erkrankungen, Problemen und Beschwerden aufgesucht werden können. Häufig werden diese aufgrund ihrer ähnlichen Bezeichnung verwechselt, was zu Verwirrungen unter den Hilfesuchenden führt. Zwischen den Berufsgruppen ergeben sich Unterschiede bzgl. der Abrechnung sowie der Versorgung der zu behandelnden Menschen, so dürfen z. B. Psychopharmaka ausschließlich von der Ärzteschaft verordnet werden. Innerhalb der hausärztlichen Versorgung bieten Ärzte niederschwellige Maßnahmen zur Versorgung psychisch kranker Menschen (u. a. im Rahmen der „psychosomatischen Grundversorgung“) an.

rapeuten (ca. 41.700, Abschn. 5) sowie weitere Spezialtherapeuten, Sozialarbeiter und Pflegefachleute arbeiten zusammen, um Menschen mit psychischen Erkrankungen zu behandeln (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2017b). Hierbei werden unterschiedliche Therapieverfahren und Interventionen angeboten, wie z. B. Psychotherapie im Einzel- oder Gruppensetting, Psychopharmakotherapie, psychosoziale Interventionen sowie biologische Verfahren (DGPPN 2013). Die genaue Vorgehensweise ist abhängig von der jeweiligen Diagnose, Indikation und Hilfebedarf des Patienten. Psychotherapeutische Gespräche und psychosoziale Interventionen (z. B. Psychoedukation oder soziales Kompetenztraining)3 sind jedoch bei den meisten Behandlungen grundlegende und unentbehrliche Techniken. In schweren Fällen soll leitliniengemäß eine kombinierte Behandlung mit Psychopharmaka erfolgen. Die am häufigsten verschriebenen Psychopharmaka sind Antidepressiva, Neuroleptika und Tranquillanzien4 (Lohse und Müller-Oerlinghausen 2016). Bei sehr stark aus-

3

4

Das psychiatrische Hilfesystem

Das System der psychiatrischen (also ärztlichen) Versorgungsmodelle in Deutschland ist komplex. Dies ist auch eine Folge der steigenden Inanspruchnahme medizinischer Leistungen aufgrund von psychischen Erkrankungen, woran sich das System der Leistungserbringer kontinuierlich adaptiert. Hausärzte (ca. 62.400), Psychiater bzw. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie oder Nervenheilkunde (in Deutschland gibt es etwa 13.800), Kinder- und Jugendpsychiater (ca. 2300), Psychosomatiker (ca. 4200), Psychothe-

Psychoedukation ist die systematische und strukturierte Vermittlung wissenschaftlich fundierter gesundheits- und/oder störungsrelevanter Informationen und Kompetenzen. Beim sozialen Kompetenztraining erlernen Patienten ein Bündel zwischenmenschlicher Fertigkeiten, etwa um eigene Interessen und Bedürfnisse in sozialen Interaktionen zu äußern, zu verfolgen und durchzusetzen, ohne die Rechte und Bedürfnisse anderer unnötig zu verletzen. 4 Antidepressiva sind pharmakologisch unterschiedliche Gruppen zur Behandlung von Depression und Angststörungen, z. B. trizyklische Antidepressiva, Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI). Neuroleptika sind eine Gruppe der Psychopharmaka, die antipsychotisch (also z. B. bei Wahn und Halluzinationen) wirken. Man unterscheidet hochpotente Neuroleptika mit starker antipsychotischer Wirkung und niederpotente Neuroleptika, die vorwiegend sedierend wirken. Tranquillanzien sind eine Gruppe von Arzneistoffen, welche bei Einnahme eine Beruhigung bewirken.

614

F. Jacobi et al.

Tab. 2 Berufsgruppen in der Versorgung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen Ausbildungs-/Studienrichtung Medizin (Staatsexamen)

Psychologie (Diplomabschluss oder konsekutives Bachelorund Masterstudium)c Lehramt (Staatsexamen), Pädagogik-, Sozial-, Heil- oder Sonderpädagogik (Diplom- oder Master-Abschluss) Gesundheits- und Krankenpflege (Ausbildung, Studium)

Soziale Arbeit (Studium) Kreativtherapie: Kunst-, Musik-, Tanz- und Ergotherapie (eigenständige Bachelor- oder Master- Abschlüsse) Theologie (Studium) Heilpraktiker (keine vorgeschriebene Regelausbildung, aber staatlich geregelte Prüfung) Bewegungs-, Tanz- und Körpertherapie (Ausbildung an privaten Instituten)

Weiterbildungsmöglichkeiten, Berufsbezeichnungen und Beispiele ausgeübter Tätigkeiten – Hausärztea – Fachärzte der Allgemeinmedizin, der Inneren Medizin, der Gynäkologie und der Geburtshilfe mit Weiterbildung „psychosomatische Grundversorgung“b – Fachärzte mit Zusatzbezeichnung „fachgebundene Psychotherapie“ – Weiterbildung zur „Fachärztin/Facharzt für Psychiatrie und „Psychotherapie“, „Fachärztin/Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“, „Fachärztin/Facharzt für Nervenheilkunde“, „Fachärztin/Facharzt für Kinderund Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie“ – Psychotherapeutische Zusatzausbildung zur/zum Ärztlichen Psychotherapeutin/Psychotherapeuten (mind. 3 Jahre) Nach Psychologiestudium mindestens 3-jährige Vollzeitausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin/zum Psychologischen Psychotherapeuten zur Behandlung von Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen (PsychThG 1999) Nach Studium mindestens 3-jährige Vollzeitausbildung zur/zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin/Psychotherapeuten (PsychThG 1999), ambulante Soziotherapied Möglichkeit zur Fachweiterbildung zu Fachkrankenschwester/-pfleger für Psychiatrie Tätigkeit in der stationären und/oder ambulanten Versorgung (z. B. Ambulante Psychiatrische Pflege nach SGB V), ambulante Soziotherapie Arbeitsschwerpunkte beispielsweise in der Suchthilfe, Drogenberatung oder Sozialarbeit in der Psychiatrie, ambulante Soziotherapie Einsatz vor allem im stationären, psychiatrischen Bereich

Kirchliche Beratungsstellen (Seelsorge, Lebensberatung) Ausübung von psychotherapeutischen Methoden mit allgemeiner Heilkundeerlaubnis, ohne Approbation und ohne Erlaubnis des Führens der Bezeichnung Psychotherapeutin/Psychotherapeut Ausbildung an privaten Instituten, Einsatz häufig im stationären, aber auch ambulanten Setting

a

Fachärzte für Allgemeinmedizin, hausärztlich niedergelassene Fachärzte für Innere Medizin, praktische Ärzte oder Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin b Durch eine berufsbegleitende Weiterbildung im Umfang von 80 Stunden können sich Ärzte zur Basisdiagnostik und -therapie psychischer Störungen qualifizieren und Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung mit den Krankenkassen abrechnen c Das sog. „Direktstudium“ oder „Approbationsstudium“ Psychotherapie, bei welchem nach einem dreijährigem Bachelorstudium und einem zweijährigen Masterstudium der Psychologie mit klinischem Schwerpunkt der Abschluss nicht nur einen Master, sondern auch die Approbation (= die staatliche kontrollierte Zulassung zur Berufsausübung) enthält, ist momentan Gegenstand vieler Diskussionen zur Reform der Psychotherapieausbildung d Soziotherapie ist eine (fachärztlich oder psychotherapeutisch verordnete) ambulante Betreuungsmaßnahme fär Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, die deren Inanspruchnahmeverhalten des ambulanten Gesundheitssystems verbessern und damit ständig wiederholte stationäre Aufenthalte („Drehtüreffekt“) vermeiden soll

geprägten psychischen Erkrankungen und dem Scheitern vorangegangener Therapieversuche kann auch das erprobte biologische Verfahren der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) eingesetzt werden, bei welchem dem Gehirn des Patienten Stromimpulse zugeführt werden. Bei Patienten mit akuter Selbst- oder Fremdgefährdung,5 kann es durch eine richterliche Anordnung zur Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung kommen.

5 Selbstgefährdung betrifft Gewalt gegen sich selbst (z. B. Selbstverletzungen, Suizidphantasien, Suizidversuche oder die Vernachlässigung einer alltäglich notwendigen Selbstversorgung). Fremdgefährdung betrifft Gewalt gegen andere, was z. B. Aggression aufgrund gravierenden Verlusts der Impulskontrolle einschließt.

Die psychiatrischen Versorgungsstrukturen sind in Tab. 3 in einer Übersicht dargestellt.

Einbezug Angehöriger im Trialog

Auch Angehörige von Betroffenen können in die Behandlung bzw. das Management der psychischen Erkrankung einbezogen werden bzw. sich selbst einbringen. Unter Trialog versteht man allgemein die gleichberechtigte Zusammenkunft zu verschiedenen Themen und das Zusammenwirken der i. d. R. drei Parteien: der Betroffenen, Angehörigen und Professionellen. (Landesverband Angehörige psychisch Kranker Berlin e.V. 2015).

51

Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . .

615

Tab. 3 Übersicht über die klinisch-psychiatrischen Versorgungsstrukturen Bezeichnung Stationäre Akutpsychiatrie Weitere Bezeichnungen: – Krankenhaus oder Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie – Allgemeinkrankenhäuser mit entsprechender psychiatrischpsychotherapeutischer Fachabteilung

Definition Im Rahmen einer stationären psychiatrischen Behandlung werden Patienten über einen gewissen Zeitraum in eine Universitätsklinik, eine Fachklinik oder ein Allgemeinkrankenhaus aufgenommen, wo sie verpflegt werden und auch übernachten. Dabei sind die Stationen meist auf bestimmte Altersgruppen oder psychische Erkrankung spezialisiert. So gibt es beispielsweise die Kinder- und Jugendpsychiatrie für Menschen vom Säuglingsalter bis zur Adoleszenz, die Gerontopsychiatrie für Menschen im fortgeschrittenen Alter oder spezielle Stationen für Menschen mit einer schwerwiegenden Depression. Die Hauptaufgabe in der Psychiatrie ist die Versorgung akuterkrankter Menschen in Krisensituationen rund um die Uhr

Aufgaben und Angebote Bei einer stationären Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen werden umfassende therapeutische Leistungen angeboten, darunter fallen: – Diagnostik – Einzel- und Gruppenpsychotherapie – Medizinische, somatische Versorgung – Psychopharmakologische Behandlung – Kreativtherapien (z. B. Kunst-, Musik- oder Ergotherapie) – Förderung der Nachsorge An der stationären Behandlung ist eine große Bandbreite an Berufsgruppen beteiligt (Tab. 2)

Stationäre Akutpsychosomatik Weitere Bezeichnungen: – Krankenhaus oder Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – Allgemeinkrankenhaus mit entsprechender psychosomatischpsychotherapeutischer Fachabteilung

Auch in der stationären Akutpsychosomatik werden Patienten über einen gewissen Zeitraum in eine (Universitäts-) Klinik oder ein Allgemeinkrankenhaus aufgenommen, wo sie verpflegt werden und auch übernachten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt in diesem Bereich auf dem Zusammenspiel von psychischen und körperlichen Faktoren. Die Grundannahme ist hierbei, dass psychische Prozesse einen relevanten Einfluss auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von sowohl psychischen als auch körperlichen Erkrankungen haben können

Rehabilitation von Patienten mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen Bezeichnungen: – Klinik für (psychosomatische) Rehabilitation – Fachklinik für Suchterkrankungen

Bei der Rehabilitation von Patienten mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen werden Maßnahmen zur Vorbeugung, Beseitigung oder Verbesserung der Folgen von Unfällen, Erkrankungen, ungünstigen Behandlungsfolgen oder anderen Gesundheitsstörungen

Bei einer psychosomatischen Behandlung werden ebenfalls umfassende therapeutische Leistungen angeboten: – Diagnostik – Einzel- und Gruppenpsychotherapie – Medizinische, somatische Versorgung – Psychopharmakologische Behandlung – Schmerztherapie – Kreativtherapien (z. B. Kunst-, Musik- oder Ergotherapie) – Physiotherapie – Ernährungsberatung – Verbesserung der Lebensqualität – Rückfallprophylaxe Oft steht ein integriertes Therapiekonzept zur Verfügung, bei dem sowohl körperliche als auch psychische und soziale Faktoren berücksichtigt werden Die Rehabilitationsbehandlung kann stationär, teilstationär oder ambulant durchgeführt werden und ist auf folgende Schwerpunkte ausgerichtet: – Einzel- und Gruppenpsychotherapie – Ärztliche Versorgung – Fertigkeitstraining zur selbstständigen Lebensführung

Zielgruppe Eine stationäre Psychotherapie kommt für Menschen in Betracht, die sich aufgrund psychischer Erkrankung in schweren Lebenskrisen befinden und diese nicht in ihrem Alltagsleben mit dem gewohnten Umfeld bewältigen können. Indikatoren für eine stationäre Behandlung können sein: – Ausgeprägte psychische und/oder körperliche Komorbidität (d. h. Vielzahl von Diagnosen gleichzeitig) – Körperliche und/oder psychische Belastbarkeit ist stark herabgesetzt – Krankheitssymptome sind besonders stark ausgeprägt – Suizidalität, Eigen- und Fremdgefährdung – Starke Belastung durch häusliche oder soziale Situation – Ambulante Behandlung reicht nicht aus Die häufigsten Behandlungsdiagnosen sind: – Störungen durch Alkohol – Schizophrenie, schizotype und andere wahnhafte Störungen – Unipolare depressive Störungen Die häufigsten Behandlungsdiagnosen sind (Statistisches Bundesamt 2009): – Unipolare depressive Störungen – Angststörungen – Somatoforme Störungen Weitere Indikationen für eine psychosomatische Behandlung können sein: – Schmerzstörungen, Fibromyalgie a – Diabetes mellitus – Essstörungen

Die häufigsten Behandlungsdiagnosen sind (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 2009): – Depressive Störungen – Psychische Störungen durch psychotrope Substanzen (vor allem alkoholbedingt) – Anpassungsstörungen – Angst- und Zwangsstörungen (Fortsetzung)

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F. Jacobi et al.

Tab. 3 (Fortsetzung) Bezeichnung

Psychiatrische Tageskliniken Weitere Bezeichnung: – Teilstationäre Versorgung

Psychiatrische Institutsambulanz (PIA)

Definition

Aufgaben und Angebote

Zielgruppe

vorgenommen. Unterschieden werden: – Medizinische Rehabilitation zur Behandlung von Krankheitsfolgen (meist in Psychosomatischen Rehabilitationskliniken) – Berufliche Rehabilitation zur beruflichen Reintegration bei einer Erkrankung, die die Berufstätigkeit einschränkt – Soziale Rehabilitation zur Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben (beispielsweise betreutes Wohnen) In manche Bundesländern gibt es besonders zugeschnittene Einrichtungen mit Komplexleistungen aus medizinischer und beruflicher Reha (Rehabilitationseinrichtungen für psychisch kranke Menschen, RPK-Einrichtungen) Eine Tagesklinik ist eine Einrichtung der teilstationären Patientenbetreuung. Patienten werden tagsüber behandelt und übernachten zu Hause. Die meisten Tageskliniken sind vollstationären Kliniken zugeordnet, aber es gibt auch eigenständige Tageskliniken (Seidler et al. 2006). Tageskliniken können vergleichbar mit einem größeren Krankenhaus mehrere medizinische Fachabteilungen enthalten. Zunehmend etablieren sich aber auch Häuser mit fachlicher Spezialisierung

– Ergotherapie – Entwöhnungsbehandlung bei Suchterkrankungen – Berufsvorbereitende Maßnahmen – Belastungserprobung Patienten sollen in ihre natürliche Umgebung integriert werden, ihren Verpflichtungen und Bedürfnissen selbstständig nachkommen können. Die Rehabilitationsmaßnahmen werden vorrangig von der Deutschen Rentenversicherung, aber auch vom Bund, bisweilen auch von den Krankenkassen, den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe oder der Sozialhilfe getragen

– Somatoforme Störungen – Persönlichkeitsstörungen – Essstörungen Auch wenn psychische Krankheiten chronisch verlaufen, können sie einer Rehabilitationsmaßnahme bedürfen

Dadurch, dass Patienten ihrem Umfeld nicht gänzlich entzogen werden, wird der Kontakt zu Bezugspersonen aufrechterhalten und die Eigenverantwortlichkeit wird gefördert. Angeboten wird ein ganzheitliches Therapieprogramm, u. a.: – Diagnostik – Einzel- und Gruppenpsychotherapie – Medikamentöse Therapie – Sozialdienst – Physiotherapie – Kreativtherapie – Entspannungstherapie – Angehörigenberatung Es geht vor allem darum, die Selbstwirksamkeit und Lebensqualität nachhaltig zu verbessern und eine vollstationäre Aufnahme zu verhindern Patienten werden krankenhausnah, spezifisch und multiprofessionell versorgt. Die Ambulanzen bieten: – Diagnostik – Einzel- und Gruppenpsychotherapie – Indikationsstellung zur weiterführenden Behandlung – Sozialtherapeutische Behandlung – Psychopharmakologische Behandlung – Krisenintervention – Beratung Durch die Ambulanzen werden stationäre Aufenthalte vermindert, vermieden oder verkürzt

Dieses Angebot richtet sich an Patienten: – bei denen keine akute Suizidalität vorliegt – die in realistischer Entfernung leben und in gewohntem Umfeld leben können Die häufigsten Behandlungsdiagnosen sind: – Schizophrenie – Affektive Störungen – Angst- und Anpassungsstörungen – Persönlichkeitsstörungen

Eine Psychiatrische Institutsambulanz ist eine Institution, die ein multiprofessionelles ambulantes Behandlungsangebot in psychiatrischen Krankenhäusern oder psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern anbietet. Zielgruppe sind insbesondere schwere und chronische Fälle, für die mit der PIA die vertragsärztliche Versorgung ergänzt werden soll

Patienten, die aufgrund der Art, Schwere oder Dauer ihrer psychischen Erkrankung einer umfangreichen Komplexleistung bedürfen, werden hier versorgt. Behandlungsindikationen sind: – Selbst- oder Fremdgefährdung – Wiederholte stationäre Aufnahmen – Lange Erkrankungsdauer – Multimorbidität – Behandlungsabbrüche – Nichtinanspruchnahme fachärztlicher Hilfe

(Fortsetzung)

51

Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . .

617

Tab. 3 (Fortsetzung) Bezeichnung

Ambulante Versorgung durch niedergelassene Fachärzte

Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie

Forensische Psychiatrie

Definition

Die ambulante Form der Versorgung durch niedergelassene Fachärzte wird durch spezialisierte Ärzte verschiedener Fachrichtungen oder ärztliche Psychotherapeuten angeboten. Sie kann in Ambulanzen, die an Krankenhäuser angebunden sind, sowie in ambulanten Praxen und medizinischen Versorgungszentren (MVZ) durchgeführt werden. Menschen mit psychischen Erkrankungen können sich direkt an einen niedergelassenen Facharzt wenden und bedürfen keiner Überweisung Die Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie ist eine Subdisziplin der Psychiatrie, die besonders auf Menschen ausgerichtet ist, die im Rahmen der Behandlung einer körperlichen Erkrankung auch eine psychische Erkrankung aufweisen. Im Rahmen der Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie findet die diagnostische und psychiatrische Beratung anderer, nichtpsychiatrischer medizinischer Disziplinen hinsichtlich psychiatrischer und psychotherapeutischer Aspekte statt Die forensische Psychiatrie befasst sich mit den medizinischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit straffällig gewordenen Menschen ergeben, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einer Substanzabhängigkeit schuldunfähig bzw. eingeschränkt schuldfähig sind. Forensische Psychiatrie und Psychotherapie wird unter dem Begriff Maßregelvollzugb eingeordnet und unterscheidet sich von Strafvollzug und Sicherungsverwahrung dadurch, dass das Angebot der Behandlung der Anlasserkrankung im Vordergrund steht. Somit stellt der Maßregelvollzug einen hoch spezialisierten Transit aus der und in die allgemeinpsychiatrische Versorgung dar

Aufgaben und Angebote

Zielgruppe

Notfallpatienten werden sofort aufgenommen In diesem Bereich der Versorgung sind Fachärzte für Psychiatrie und Psychiatrie, Nervenheilkunde, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, ärztliche Psychotherapeuten, Hausärzte und weitere Arztgruppen tätig (Tab. 2). Neben Psychotherapie werden auch psychopharmaklogische Behandlungen angeboten. Durch die ambulante Behandlungsform werden stationäre Aufenthalte vermindert, vermieden oder verkürzt

Dieses Angebot richtet sich an Patienten: – bei denen keine akute Suizidalität vorliegt – die in ihrem gewohntem Umfeld leben können – bei denen (anders als bei der Psychologischen Psychotherapie) eine (Mit-)Behandlung durch Psychopharmaka indiziert ist Dieses Angebot richtet sich an Patienten ohne Bedarf an einer stationären Behandlung (s. Indikationen für eine stationäre Behandlung)

Dadurch, dass verschiedene Fächer der Medizin und Psychiatrie eng zusammenarbeiten, kommt psychisch erkrankten Patienten mit einem körperlichen Leiden eine optimierte Behandlungsform in medizinischen Einrichtungen zu. Die Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie ist z. B. eingegliedert in: – Akutkrankenhäuser – Rehabilitationskliniken – Dialyseabteilungen – Schmerzkliniken – Intensiv- oder Transplantationsmedizin – Onkologische Stationen Ein Maßregelvollzug befindet sich in einer Fachklinik mit hohen Sicherheitsvorkehrungen und rechtspsychologischer Expertise. Ziele sind: – Psychiatrische und psychotherapeutische Einzel- und Gruppenbehandlungen – Besserung und Sicherung der Patienten – Resozialisierung der straffällig gewordenen Menschen – Begutachtung durch psychiatrische Gutachter zur Diagnose, Behandelbarkeit, Risikoabschätzung und Prognose – Beantwortung juristischer Fragestellungen zur Schuldfähigkeit, Kriminalprognose, Berentung oder Geschäftsfähigkeit – Ambulante Betreuung in der forensischen und allgemeinpsychiatrischen Nachsorge

Dieses Angebot richtet sich an ärztliche Kollegen, die Patienten versorgen, die neben einer körperlichen Erkrankung (möglicherweise) auch eine psychische Erkrankung aufweisen

Die Zielgruppe sind Menschen, die eine Straftat begangen haben, welche vom Gericht jedoch aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Substanzgebrauch als nicht oder vermindert schuldfähig erklärt werden. Das Strafgesetzbuch (StGB) regelt die Voraussetzungen der Unterbringung unter §§ 63 und 64

(Fortsetzung)

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F. Jacobi et al.

Tab. 3 (Fortsetzung) Bezeichnung Ergänzende klinische Angebote (jenseits Medizin und Psychologie): Häusliche Krankenpflege (HKP) bzw. Ambulante psychiatrische Pflege (APP), Ambulante Soziotherapie (AST)

Definition Ergänzende, gemeindeorientierte Versorgungsangebote, HKP begrenzt auf vier Monate, AST: Case-Management, um psychisch Kranke gezielt an ambulante Hilfen durch Anleitung und Motivationsarbeit heranzuführen

Aufgaben und Angebote – Ambulante psychiatrische Pflege zur Unterstützung bei der Alltagsbewältigung – Durch die Pflege bzw. Unterstützung vor Ort soll das Umfeld beteiligt und die soziale Integration gewährleistet werden – Soll Behandlungsabbrüche reduzieren und leitliniengerechte Behandlung erhöhen – Hilfe zur Selbsthilfe

Zielgruppe Schwer psychisch Kranke (insbesondere Demenzen, Psychosen, schwere Depressionen)

a

Fibromyalgie ist ein Schmerzsyndrom mit schmerzhaften Druckpunkten, aber ohne Anzeichen von degenerativen oder entzündlichen Prozessen im Körper. Gemeinsam mit den Schmerzen treten Schlafstörungen und Erschöpfung auf b Im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus werden psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter untergebracht, die gemäß §§ 63 und 64 StGB straffällig geworden sind, aber zum Zeitpunkt der Tat nicht oder nicht vollständig schuldfähig waren

Das Gespräch zwischen diesen drei Gruppen über Inhalte oder Themen psychischer Erkrankungen dient dem Austausch und der gegenseitigen Fortbildung verschiedener Experten, denen aus jeweils eigener Erfahrung – Betroffene und Angehörige – und denen durch Ausbildung und Beruf. Ziel ist es, eine gemeinsame Sprache zu finden, für eine dialogische Psychiatrie zu üben und nicht nur wechselseitigen, sondern auch den öffentlichen Vorurteilen entgegenzuwirken.

4.1

Umfang stationärer Behandlungen

Das stationäre klinisch-psychiatrische Versorgungsangebot besteht aus einer Vielzahl von Einrichtungen, worunter Universitätskliniken oder Allgemeinkrankenhäuser mit Fachabteilungen sowie Fachkliniken ebenso zu zählen sind wie Fachkliniken bzw. Fachabteilungen für Psychosomatische Medizin. In Deutschland werden (inklusive Kinder-/Jugendpsychiatrie und Psychosomatik) jährlich etwa 970.000 stationäre Behandlungen in diesen spezialisierten Einrichtungen durchgeführt, wobei die häufigsten stationären Behandlungsdiagnosen Störungen durch psychotrope Substanzen (35 %) und affektive Störungen (24 %) sind (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2017a, vgl. auch die Informationsseiten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, http://www.dgppn.de sowie der Bundespsychotherapeutenkammer, http://www.bptk.de. Zugegriffen am 04.07.2018). Durch die starke Leistungsverdichtung in den letzten Jahrzehnten wurden die Verweildauern der Patienten und Klinikbetten reduziert, wohingegen die Behandlungsfälle vollstationärer Patienten angestiegen sind. Die durchschnittliche Verweildauer eines Patienten in einem psychiatrischen Krankenhaus liegt derzeit bei etwa 23 Tagen (Statistisches Bundesamt 2017).

4.2

Umfang ambulanter Behandlungen

Ein Großteil der Behandlungen erfolgt ambulant, wo oftmals der Hausarzt als erster Ansprechpartner gilt, da die Wartezeiten für einen Psychotherapieplatz sich über Wochen oder Monate erstrecken können. Die durchschnittliche Wartezeit auf das Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten liegt oft bei mehreren Monaten, wobei verstärkt versucht wird, etwa durch Änderungen und Ergänzungen der sog. Psychotherapierichtlinie, diese Wartezeiten zu verkürzen (z. B. Einführung einer „Psychotherapeutischen Sprechstunde“, Bundespsychotherapeutenkammer 2011, Bundesministerium für Gesundheit 2017); weitere Informationen zur Psychotherapie finden sich in Abschn. 5. Auch bei niedergelassenen Psychiatern bestehen mittlerweile lange Wartezeiten auf einen Termin. Die Wartezeiten variieren jedoch sowohl zwischen städtischen und ländlichen Regionen als auch zwischen den Bundesländern. Pro Quartal werden rund 1,8 Mio. gesetzlich versicherte Patienten von niedergelassenen Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie oder Nervenheilkunde behandelt, wohingegen ca. 1,2 Mio. gesetzlich versicherte Patienten psychotherapeutische Leistungen bei ambulanten niedergelassenen Psychotherapeuten in Anspruch nehmen (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2017a, b). Im Rahmen der ambulanten Richtlinien-Psychotherapie werden am häufigsten Patienten mit neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (82 %) sowie affektiven Störungen (70 %) behandelt (Multmeier 2014). Darüber hinaus nehmen in der ambulanten Versorgung rund 450 Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA), die wichtige Aufgabe wahr, schwer psychisch Erkrankten multiprofessionelle, ggf. auch dauerhafte Behandlungsangebote zu machen, dort erhalten pro Jahr etwa 2 Mio. (Quartals-)Fälle eine Behandlung (Neubert und Richter 2016) (Tab. 3; vgl. auch van Treek et al. 2017; Möller et al. 2017).

51

5

Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . .

Die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland

Die Integration der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung durch Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in die kassenärztliche Versorgung fand mit dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes (PsychThG) 1999 statt. Dadurch wurde das bisherige sog. Delegationsverfahren durch ein Konsiliarverfahren ersetzt und somit eine gesetzliche Regelung der Zulassung zur psychotherapeutischen Tätigkeit geschaffen, die im Wesentlichen der Niederlassungsregelung für Ärzte entspricht. Unter Psychotherapie im Sinne des Psychotherapeutengesetzes ist „jede mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert zu verstehen, bei denen Psychotherapie indiziert ist“ (Bundesministerium für Gesundheit 1999).

5.1

Psychotherapeutische Richtlinienverfahren

Unter psychotherapeutischen Richtlinienverfahren werden diejenigen Verfahren der Psychotherapie verstanden, deren Wirkung aufgrund empirischer Untersuchungen als ausreichend nachgewiesen gilt und deren Abrechnung von den Gesetzlichen Krankenkassen nach SGB V übernommen wird. Darüber hinaus regelt die Psychotherapie-Richtlinie die Indikationen für Psychotherapie und die Stundenkontin-

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gente für die Richtlinienverfahren. Derzeit gibt es drei anerkannte Richtlinienverfahren (Tab. 4). Bei der Entscheidung über die Anerkennung eines psychotherapeutischen Verfahrens gilt es die berufsrechtliche bzw. wissenschaftliche von der sozialrechtlichen Anerkennung zu unterscheiden. Für die berufsrechtliche Anerkennung erfolgt auf Antrag einer Landesbehörde oder der jeweiligen Fachgesellschaften die Begutachtung der psychotherapeutischen Verfahren und der psychotherapeutischen Methoden (unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Kriterien) durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP). Die eingereichten Nachweise der Wirksamkeit bzw. des patientenrelevanten Nutzens sollten möglichst auf mehreren unabhängig randomisierten klinischen Studien (randomized clinical trials, RCT) basieren. Die sozialrechtliche Anerkennung findet durch den G-BA statt. Wesentliche Grundlage ist eine Nutzenbewertung, die durch eine Arbeitsgruppe des G-BA selbst erfolgt oder durch diesen beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt wird. Geprüft werden dabei der diagnostische und therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit einer neuen Methode. Es folgt eine Gesamtbewertung im Versorgungskontext. Sowohl die Gesprächspsychotherapie als auch die Systemische Therapie wurden vom WBP bei bestimmten Indikationen anerkannt und zur vertieften Ausbildung empfohlen (wobei für die Gesprächspsychotherapie diese Empfehlung im Rahmen einer erneuten Prüfung zu „Humanistischen Verfahren“ 2018 wieder in Frage gestellt wurde). Die

Tab. 4 Anerkannte Richtlinienverfahren der Psychotherapie und ihre Indikation Therapieform Verhaltenstherapie (VT), auch Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP)

Psychoanalytische Psychotherapie (PA)

Indikation Besonders geeignet für Patienten, die an konkreten Problemen arbeiten möchten. Es gibt viele Wirksamkeitsbelege – etwa bei Depressionen, Süchten, Angst-, Ess- und Persönlichkeitsstörungen. Zudem kommt die Verhaltenstherapie begleitend bei körperlichen und schweren psychischen Problemen, wie etwa Schizophrenie, zum Einsatz, oft auch im stationären Setting Mögliche Schwierigkeiten: Manche Klienten möchten die biografischen Hintergründe der Probleme noch genauer ergründen. Andere fühlen sich von den Aufgaben überfordert Besonders geeignet für Patienten, die ihre Probleme konkret angehen, aber auch biografische Hintergründe vertieft erforschen möchten. Belegte Wirkungen z. B. bei Depressionen, Belastungsund Persönlichkeitsstörungen sowie psychosomatischen Beschwerden. Auch stationär kommt die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie zum Einsatz Mögliche Schwierigkeiten: Insgesamt eignet sie sich weniger für Menschen mit psychischen Störungen, bei denen andere als interpersonelle Probleme vorliegen Besonders geeignet für Patienten mit tief greifenden zwischenmenschlichen Problemen, die die biografischen Hintergründe ausführlich, oft über ziemlich lange Zeit erforschen wollen. Erwiesen ist die Wirksamkeit besonders bei Depressionen und schweren Persönlichkeitsstörungen. Für manche Erkrankungen fehlen aber noch verlässliche Studiendaten Mögliche Schwierigkeiten: Die Behandlung kann Patienten schwerfallen, etwa wegen ihrer Langwierigkeit (und Intensität), der starken Ausrichtung auf frühere Konflikte und der Zurückhaltung des Therapeuten

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F. Jacobi et al.

sozialrechtliche Zulassung der Gesprächspsychotherapie wurde vom G-BA allerdings auf Grundlage der Nutzenbewertung abgelehnt, zur systemischen Therapie hat der G-BA bislang noch nicht über die Einleitung eines Bewertungsverfahrens entschieden. Somit stellen diese beiden psychotherapeutischen Verfahren keine Richtlinienpsychotherapie dar, die von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden. Gleichwohl kommen sie häufig in Beratungsstellen oder anderen psychosozialen Einrichtungen (Abschn. 6) zum Einsatz. Der Großteil der ambulanten Versorgung von Erwachsenen mit psychischen Störungen erfolgt durch niedergelassene Psychologische und Ärztliche Psychotherapeuten, die an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmen. Auch in psychotherapeutischen Ambulanzen (einschließlich Hochschulambulanzen sowie Ausbildungsambulanzen der Aus-

bildungsinstitute für Psychologische Psychotherapie) und teilstationären Einrichtungen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) wird ambulante Richtlinienpsychotherapie angeboten. Die ambulante psychotherapeutische Versorgung wurde 2017 neu strukturiert. Damit sollen Patienten zeitnah einen niederschwelligen Zugang erhalten und das Versorgungsangebot insgesamt flexibler werden. Diese Forderungen hatte der Gesetzgeber im Versorgungsstärkungsgesetz bereits 2015 formuliert und den G-BA beauftragt, die PsychotherapieRichtlinie zu überarbeiten. Die verschiedenen Varianten von der psychotherapeutischen Sprechstunde bis hin zur Langzeitpsychotherapie sind in Abb. 2 dargestellt. Seit 2018 gilt die Psychotherapeutische Sprechstunde als Zugangsvoraussetzung zur weiteren ambulanten psychotherapeutischen Versorgung.

Abb. 2 Stundenkontingente und Leistungen psychotherapeutischer Richtlinienverfahren (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2018). Mit freundlicher Genehmigung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. (Anm.: Im Kinder- und Jugendlichenbereich stehen für die Einbezie-

hung von Bezugspersonen zusätzliche Therapieeinheiten zur Verfügung. Das Verhältnis der Therapieeinheiten für Bezugspersonen und für kinder/Jugendliche beträgt in der Regel 1:4)

51

Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . .

621

Beschwerdemöglichkeiten bei Problemen mit der Behandlung

Unabhängige Anlaufstellen, wie die sog. Ombudsstellen der Psychotherapeutenkammern, nehmen Beschwerden von Nutzern und Betroffenen, Angehörigen und Professionellen im Bereich der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung entgegen. In bestimmten Bundesländern existieren darüber hinaus spezielle Beschwerde- und Informationsstellen, die die Möglichkeit zur anonymen Beschwerde anbieten und zu bestehenden Beschwerdemöglichkeiten und alternativen Handlungsweisen informieren. Einige Bundesländer haben weiterhin die Institution eines Patientenbeauftragten (auch: Patientenfürsprecher) geschaffen als Ansprechpartner für die Anliegen, Belange und Beschwerden von kranken und pflegebedürftigen Menschen sowie pflegenden Angehörigen. Die Patientenfürsprecher (siehe z. B. Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, 2018) arbeiten ehrenamtlich, sind unabhängig und an die Schweigepflicht gebunden.

6

Außerklinische psychosoziale Angebote

Die Versorgung mit klinisch-psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung und Rehabilitation ist für entsprechende Betroffene mit komplexem Hilfebedarf sicherlich eine wichtige, aber keineswegs ausschließliche Unterstützungsmöglichkeit. Dies umso mehr, als sich z. B. bei schwer psychisch kranken Menschen die Mehrzahl der Kontakte im außerklinischen (früher als „komplementär“ bezeichneten) Bereich abspielt. Diese weiteren psychosozialen Angebote setzen direkt an der Lebensrealität der Betroffenen an und bilden – speziell für schwer psychisch kranke Menschen bzw. Menschen mit einer psychischen Behinderung – eine Klammer um die Versorgungsangebote der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. der klinischen Rehabilitation (Abb. 3). Wir können an dieser Stelle diese, regional oft recht unterschiedlich ausgestalteten, Angebote nicht erschöpfend aufführen, möchten sie aber beispielhaft skizzieren, um der Versorgungslandschaft in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Typische Anbieter sind hier gemeinnützige freie Träger, kirchliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände. Die in der Regel niederschwelligen und für die Inanspruchnehmer kostenlose Angebote richten sich nicht nur an Betroffene, sondern auch an Angehörige sowie in dem Bereich der Versorgung beruflich Tätige. Haupttätigkeitsfelder sind die professionelle, niedrigschwellige Information, Beratung, Begleitung und Vermittlung (je nach Ausrichtung durch Sozialarbeiter oder Psychologen). Typische Formate sind neben

Abb. 3 Themenbereiche außerklinischer Unterstützungsangebote

der Einzelberatung unterschiedliche Formen von Gesprächsgruppen (nicht zu verwechseln mit psychotherapeutischen Gruppentherapien), aber auch die Mitarbeit in Selbsthilfegruppen und Angebote von Seminaren und Trainings, in denen z. B. Wissen zum besseren Verständnis von Krankheitsbildern und -Verläufen vermittelt wird. Telefonseelsorgen bieten bundesweit zu jeder Zeit die Möglichkeit zu einem entlastenden Gespräch. Für akute (lebensbedrohende) psychische Notsituationen existieren zusätzlich in Großstädten wie Berlin, Frankfurt oder München Krisendienste, die gegebenenfalls auch Unterstützung vor Ort anbieten. Hinzu treten vermehrt auch entsprechende Online-Angebote, so dass manche solcher Strukturen auch genutzt werden können, obwohl kein Angebot vor Ort besteht. Eine besondere Rolle nimmt darüber hinaus der – in den meisten Bundesländern – dem öffentlichen Gesundheitsdienst zugeordnete Sozialpsychiatrische Dienst ein, der seine Grundlage in entsprechenden Landesgesetzen (Psychisch-Kranken-Gesetze und/oder Gesundheitsdienstgesetze) findet und multiprofessionell (Ärzte, Soziarbeiter, u. a.) besetzt ist. Die Aufgaben der sozialpsychiatrischen Dienste umfassen i. d. R. fünf Kernbereiche (https://www.sozialpsychiatrischedienste.de. Zugegriffen am 04.07.2018): • Niedrigschwellige Beratung und Betreuung • Krisenintervention (inklusive Maßnahmen zur Unterbringung von akut eigen- und/oder fremdgefährdenden psychisch kranken Menschen gegen deren Willen zur Gefahrenabwehr (sog. öffentlich-rechtliche Unterbringung) • Planung und Koordination von Einzelfallhilfen • Netzwerkarbeit und Steuerung im regionalen Verbund

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• Beschwerdemanagement und Fachaufsicht über psychiatrische/psychosoziale Einrichtungen Damit tragen die sozialpsychiatrischen Dienste eine wichtige Funktion in der Vermittlung zwischen klinischen- und außerklinischen Angeboten der psychiatrischen Versorgung. " Definition Gemeindepsychiatrische Versorgung Unter

einer gemeindepsychiatrischen Versorgung versteht man die Gesamtzahl der Angebote, die wohnortnah psychisch kranken Menschen eine individuelle Beratung, Begleitung und Unterstützung ermöglichen sollen. Um ein möglichst aufeinander abgestimmtes Handeln gewährleisten zu können, werden diese Angebote durch entsprechende Gremien und/oder Kooperationsvereinbarungen koordiniert und weiterentwickelt. Dadurch entsteht unter aktivem Einbezug der Perspektive von Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen psychisch Kranker eine regionale Verantwortungsgemeinschaft. Typische Akteure der gemeindepsychiatrischen Versorgung sind die sozialpsychiatrischen Dienste, pflichtversorgende psychiatrische Kliniken und Fachabteilungen, psychosoziale Beratungsstellen und Leistungserbringer der Eingliederungshilfe. Eine Übersicht über außerklinische psychosoziale Angebote in Deutschland findet sich in Tab. 5. Ebenso wie medizinische und therapeutische Maßnahmen können auch solche Angebote mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden sein (z. B. mögliche Fehlinformation, „sektenartige“ Gruppenprozesse, Sensibilisierung für Probleme, die bislang gar nicht wahrgenommen wurden und Förderung von Verbitterung). Daher sollte – ebenso wie bei ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung – die Inanspruchnahme mit Aufklärung und kritischer Informationseinholung einhergehen (gerne auch über Wikipedia.de, die als Plattform sehr hilfreich für die Suche oder Bewertung von Hilfesystemen sein kann).

Ehrenamt

Ehrenamtliches Engagement hat nach wie vor für viele Deutsche eine wichtige Bedeutung. Mehr als 40 % der Deutschen über 14 Jahren waren 2014 in ihrer Freizeit ehrenamtlich tätig. Im Vergleich zu 1999 entspricht dies einem Zuwachs von 10 % (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016). Das ehrenamtliche Engagement im Bereich der Psychiatrie stellt laut Josef Mederer, Präsident des Bayrischen Bezirketags „einen Schlüssel für das soziale Miteinander dar“, dessen „Leistung gar nicht genug Anerkennung und Wertschätzung entgegengebracht werden könne.“ (Fortsetzung)

(Raueiser und Schulze 2015, S. 7). Dabei wird es besonders dort als hilfreich angesehen, wo es um die Ziele von Teilhabe und Inklusion geht. Gerade in solchen Situationen wird der qualitative und Beziehungsunterschied deutlich, wenn Betroffene Angebote der Alltagsgestaltung von Professionellen erhalten oder als Bürger von anderen Bürgern mitgenommen werden („Solange ich von Profis umzingelt bin, bin ich nicht integriert.“ Dohat 2015, S. 17). Ebenso stehen heutzutage professionell organisierte Behandlungsangebote unter einem erheblichen wirtschaftlichen Druck. Folge ist, dass wichtige menschliche Fähigkeiten wie das Trösten, Zuhören, Aushalten und Begleiten immer mehr in den Hintergrund geraten (Hollmann 2015, S. 91). Auch hier kann ehrenamtliches Engagement sinnvoll ergänzen. Doch auch Ehrenamtliche profitieren von ihrem Engagement. Sie erhalten Bestätigung für ihr Wirken, oft auch neue hilfreiche Impulse für ihr eigenes Leben und insgesamt das Gefühl, ihre Freizeit sinnvoll zu nutzen. Neben diesen positiven Aspekten wird jedoch auch kritisch angemerkt, dass ehrenamtliches Engagement von Institutionen oft ausgenutzt werde, um dadurch Kosten einzusparen. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass sich aus der Zusammenarbeit zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen unter Umständen besondere Anforderungen ergeben, da nicht eindeutig geklärte Kompetenz- und Aufgabenverteilungen zu Konkurrenzdenken und zu Konflikten führen können.

Ergänzende Teilhabeberatung

Laut der neuen Förderrichtlinie zur Durchführung der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“ (EUTB) für Menschen mit Behinderungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales stellt der Bund beginnend ab 2018 für die Dauer von bis zu fünf Jahren jährlich insgesamt 58 Mio. EUR für die Umsetzung und Förderung der Teilhabeberatung sowie deren Evaluation zur Verfügung. Ein wichtiges Anliegen der Förderung ist es, die Beratung durch Menschen mit Behinderungen (einschließlich seelischer Behinderungen, die in einem engen Zusammenhang mit einer schweren psychischen Erkrankung stehen), das sog. Peer Counseling oder Experienced Involvement („Ex-In“) auszubauen, weil die Betroffenen selbst aus eigenen Erfahrungen heraus gute Kenntnisse über das System haben und diese partnerschaftlich vermitteln können. (Fortsetzung)

Professionell geleitete Gruppen Kreativ-/ Aktivgruppen Psychoedukation zur Aufklärung über psychische Erkrankung und Beeinträchtigung Trainings, Coaching

Selbsthilfegruppen (SHG)

Weitere psychosoziale und sozialrechtliche Information und Beratung

Coaching, Training, Schulung

Gruppenangebote

Leistungen Beratung, Information, Begleitung, Unterstützung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, deren Angehörigen und Bürgerinnen und Bürgern im Allgemeinen durch Sozialpsychiatrische Dienste

Z. B. soziale Kompetenztrainings, Anti-Gewalt-Trainings im Rahmen der ambulanten sozialpädagogischen Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG), Unterstützung bei Integration in Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen (z. B. supported employment) Beratung und Informationen zu Themen wie Suchtprobleme, Konflikte in Partnerschaft und Familie, Sexualberatung, Recht, Vormundschaft und Pflege, aber auch Schuldnerberatung oder Unterstützung von Opfern von Kriminalität und Gewalt, psychoonkologische Hilfen

Bemerkungen Der sozialpsychiatrische Dienst ist das am meisten verbreitete Element des ambulanten psychosozialen Versorgungssystems. Er ist meist einem Gesundheitsamt angegliedert und wird durch Ärzte, Sozialarbeiter, Pflegepersonal oder Psychologen versorgt. Er ist Teil des öffentlichen Gesundheitswesens, was bedeutet, dass er durch Steuern finanziert wird und jedem kostenlos zur Verfügung steht. Sozialpsychiatrische Dienste sollen für eine Sicherstellung der Versorgung und Hilfen für die chronisch psychisch kranken Menschen sorgen. Sie nehmen hierbei sowohl eine beratende als auch betreuende Funktion ein und geben Information über weitere psychosoziale Anlaufstellen, Therapie- und Hilfeangebote Selbstorganisierte Zusammenschlüsse von Menschen mit ähnlichem Erfahrungshintergrund (Betroffene und Angehörige), die ein gleiches Problem oder Anliegen haben und gemeinsam etwas dagegen bzw. dafür unternehmen möchten. Typische Probleme sind etwa der Umgang mit chronischen oder seltenen Krankheiten (z. B. affektive Störungen, Traumatisierung, Borderline, soziale Ängste, Schizophrenie), mit Lebenskrisen und/oder belastenden Situationen. Selbsthilfe im Gesundheitsbereich wird bisweilen durch Leistungsträger wie etwa Krankenkassen gefördert. Zunehmend existieren auch Selbsthilfenetzwerke online Die Gruppe wird von beruflich („professionell“) Tätigen geleitet, wie z. B. Psychologen oder Sozialarbeiter Angebote, die sich in kreativer bzw. aktiver Form dem Bereich der seelischen Gesundheit widmen, wie z. B. Aquarellkurs oder „Laufen für die Seele“ Wissensvermittlung für Betroffene und Angehörige zu den Themen Depression, bipolare Erkrankung, Persönlichkeitsstörungen und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis

Tab. 5 Übersicht über außerklinische psychosoziale Angebote in Deutschland

Kliniken, Krankenhäuser, Kirchliche Organisationen, kommunale Einrichtungen (Nachbarschaftshäuser, Kontakt- und Beratungsstellen u. a.), gemeinnützige Vereine, Bürgerinitiativen, Wohlfahrtsverbände, Integrationsämter bzw. Integrationsfachdienst, Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke

Typische Leistungserbringer Kommunen

Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V. (BApK) – http://www.bapk.de Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie – http://www.dgsp-ev. de Weißer Ring –https://weisserring.de B.A.G. Selbsthilfe – http://www. bag-selbsthilfe.de Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) – http://www.nakos.de Caritas Deutschland – http:// www.caritas.de Diakonie Deutschland Info Portal – http://www.diakonie.de Der Paritätische – http://www. der-paritaetische.de pro familia –http://www. profamilia.de Integrationsämter – http://www. integrationsaemter.de/ Fachlexikon/Integrationsamt/ 77c439i1p/index.html Deutsches Krebsforschungszentrum –http:// www.krebsinformationsdienst.de/ wegweiser/adressen/ krebsberatungsstellen.php (Fortsetzung)

Wo finde ich solche Angebote? (Auswahl a) https://www.sozialpsychiatrischedienste.de

51 Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . . 623

a

Überwiegend In Großstädten. Schnelle und qualifizierte Hilfe in psychosozialen Krisen und akuten seelischen und psychiatrischen Notsituationen. Auf Wunsch anonym. Telefonisch, persönlich und in zugespitzten Situationen vor Ort Vorwiegend ehrenamtlich betriebene Hilfseinrichtungen zur telefonischen Beratung von Menschen mit Sorgen, Nöten und Krisen. Zunehmende Zahl an zielgruppenspezifischen (Sprache, Religion, Alter, Geschlecht) Angeboten

Krisenintervention, Telefonseelsorge

URLs: Zugegriffen am 04.07.2018

Psychiatriekritische und antipsychiatrische Einrichtungen

Schulpsychologischer Dienst

Telefonseelsorge

Bietet Schülern, Eltern, aber auch Schulen und Lehrkräften eine qualifizierte Unterstützung und Beratung bei schulbezogenen psychologischen Fragen und Problemen Einrichtungen, die sich als Alternative zur herkömmlichen psychiatrischen Versorgungslandschaft verstehen (s. a. antipsychiatrische Bewegung). Typisch sind sog. Weglaufhäuser, die in Analogie zu den Frauenhäusern den Betroffenen Obdach und Schutz geben sollen

Betreutes Wohnen bei seelischer Behinderung (SGB IX/SGB XII), individuelle Unterstützung und Begleitung von Menschen, die z. B. aufgrund von Sucht oder einer Behinderung einen besonderen Teilhabebedarf haben oder auch im Rahmen von speziellen Angeboten für schwerst traumatisierte Menschen (Opfer von Folter oder Krieg)

Sonstige Betreuungs- und Behandlungsangebote, Sozialpsychiatrische Zentren und Tagesstätten (SPZ)

Krisendienst

Bemerkungen Einrichtungen, die Informationen zu psychosozialen Hilfsangeboten bündeln. Je nach Einrichtung erhält man hier Informationen über Hilfsangebote in Bereichen wie Familienhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Sucht, Krisensituationen, Altenhilfe, Hilfen für Personen in besonderen sozialen Situationen

Leistungen Einrichtungen mit Vermittlungsfunktionen

Tab. 5 (Fortsetzung)

Gemeinnützige Vereine, Bürgerinitiativen

Kommune, Bundesland

Verbände der freien Wohlfahrtssorge, kirchliche Organisationen

Verbände der freien Wohlfahrtssorge, kirchliche Organisationen

Kommunen, kirchliche Organisationen, gemeinnützige Träger, Wohlfahrtsverbände

Typische Leistungserbringer Staatliche Einrichtungen, kirchliche Organisationen, ärztliche Vereinigungen, gemeinnützige Vereine

Bundesverband PsychiatrieErfahrener e.V. – http://www.bpeonline.de Weglaufhaus – Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V., Antipsychiatrische Beratungsstelle – http://www. weglaufhaus.de

Wo finde ich solche Angebote? (Auswahl a) Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – http://www.bzga.de/service/ beratungsstellen Humanistischer Verband Deutschland – http://www.hvdbb.de Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie – http://www.dgsp-ev. de/startseite.html Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen – http://www.dhs.de Für Menschen mit geistiger Behinderung: Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. – http://www. lebenshilfe.de Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – http://www.baff-zentren.org/ Berliner Krisendienst – http:// www.berliner-krisendienst.de Krisendienst Psychiatrie – http:// www.krisendienst-psychiatrie.de Telefonseelsorge Deutschland – http://www.telefonseelsorge.de, 0800 1110111, 0800 110222 Silbernetz (Seelsorge für ältere Menschen) – http://www. silbernetz.org Muslimisches Seelsorgetelefon – http://www.mutes.de, 030 44350821 http://www.schulpsychologie.de

624 F. Jacobi et al.

51

Versorgungs- und Hilfesysteme für Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialem Hilfebedarf in . . .

625

Literatur Bestehende Beratungsstellen und Interessenten, die ein neues Beratungsangebot einrichten möchten, können auf der Grundlage der Förderrichtlinie Zuwendungen erhalten, z. B. als Zuschüsse zu ihren Personalausgaben für Mitarbeiter und den Ausgaben für Räume, oder bei der Qualifizierung und Weiterbildung unterstützt werden (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017). Weitere Informationen zur EUTB und aktuellen Angebotsstruktur finden sich unter http:// www.teilhabeberatung.de. Zugegriffen am 04.07.2018.

7

Fazit und Ausblick

In Deutschland ist die Versorgung psychischer Störungen im internationalen Vergleich sowohl stationär als auch ambulant quantitativ ausgesprochen gut ausgebaut. So gibt es nirgendwo sonst ein so umfangreiches stationäres Angebot an Akut- und Reha-Plätzen. Auch gibt es überdurchschnittlich viele Psychotherapeuten (und einen Direktzugang mit Kostenübernahme von Psychotherapie), das Netz vielfältiger Beratungsstellen ist beachtlich, und auch die psychiatrischen Angebote wurden in den letzten Jahrzehnten deutlich erweitert. Dennoch herrscht vielerorts ein „gefühlter Bedarf“ nach mehr, und es wird beklagt, dass manche positive Entwicklungen seit den 1970er-Jahren hinsichtlich Gemeindepsychiatrie, also lokaler und wohnortnaher Angebote statt stationären Einrichtungen, wieder abgenommen haben. Entscheidend scheint zu sein, das vielfältige Bestehende besser zu koordinieren bzw. zu vernetzen, wie dies beispielhaft etwa in der Gesundheitsregion Hamburg systematisch versucht wurde.7 Somit sollten die Übergänge zwischen verschiedenen Sektoren (z. B. ambulante Anschlussbehandlung nach stationärem Aufenthalt) als auch die Zusammenarbeit zwischen klinischen und außerklinischen Angeboten verbessert werden. So bestehen hierzu mittlerweile vermehrte Möglichkeiten durch die Einführung von Integrierter Versorgung (seit 2000), Modellprojekte zur Weiterentwicklung der Psychiatrischen Versorgung nach § 64b SGB V (seit 2012), neue Versorgungsformen im Rahmen des Innovationsfonds (seit 2016) und Modellprojekte zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (seit 2018). Im ambulanten Bereich besteht die Forderung nach einer morbiditätsbezogenen Überarbeitung der Bedarfsplanungsrichtlinie, insbesondere um regionale Disparitäten (z. B. Stadt vs. Land) in der Versorgung psychischer Erkrankungen zu reduzieren.

Im Portal http://www.psychenet.de. Zugegriffen am 04.07.2018, finden sich viele Informationen, die auch hilfreich sind, wenn man sich aus anderen Regionen über das Thema psychiatrische, psychologische und psychosoziale Versorgung informieren möchte. 7

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Versorgungsleistungen in der Pflege

52

Elke Peters und Sascha Köpke

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627

2

Pflege im Zahlenüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628

3 Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 3.1 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 4

Pflegebedürftigkeitsbegriff und Pflegegrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630

5 5.1 5.2 5.3

Diversität der Pflegeleistungen nach SGB XI im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungspflege, Grundpflege und Haushaltshilfen nach SGB V und SGB XI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häusliche Pflege und ambulant betreute Wohngruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vollstationäre Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

633 634 635 638

6 Eingeschränkte Alltagskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 6.1 Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 7

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641

1

Einleitung

In Deutschland ist die pflegerische Versorgung der Bevölkerung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe (Sozialgesetzbuch/SGB XI). Die Verantwortung für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig notwendigen, aber auch ausreichenden und wirtschaftlichen Versorgungsstruktur liegt bei den Ländern. Diese übertragen den Planungsauftrag den Kommunen, die für ihre Verwaltungsgebiete Pflegebedarfspläne aufstellen und diese regelmäßig fortschreiben, sodass eine regional gegliederte, wohnortnahe und aufeinander abgestimmte ambulante, teilstationäre und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung sichergestellt wird. Debatten hierzu werden jedoch aktuell durch fehlende Pflege(fach)kräfte, schlechte Arbeitsbedingungen, zuneh-

E. Peters · S. Köpke (*) Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck, Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

mende Bürokratie und unzureichende Qualität bestimmt (Vu-Eickmann et al. 2018). Mit einer „Konzertierten Aktion Pflege“ plant die neue Bundesregierung, in dem aktuellen Koalitionsvertrag eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung in der Altenpflege zu erreichen und Pflegepersonalkosten in Krankenhäusern besser und unabhängig vom DRG-System durch eine Pflegepersonalkostenvergütung zu finanzieren. Ein Maßnahmenmix, u. a. aus verbindlichen Personalbemessungsinstrumenten, besserer Bezahlung der Pflegekräfte, einer Ausbildungsoffensive, Anreizen für Berufsrückkehrer und Arbeitszeitaufstocker, sowie ein Sofortprogramm von 8000 zusätzlichen Pflegekräften für die Behandlungspflege in Altenheimen sollen Abhilfe schaffen. Dies erscheint dringend nötig, denn kaum steigende Ausbildungszahlen, erhebliche Personalmehrbedarfe, eine hohe Fluktuation, der häufige Wechsel Pflegender in Teilzeit, der zunehmende Wettbewerb um Nachwuchs und Pflegende sowie wenig attraktive Vergütungs- und Arbeitsbedingungen führen teils zu dramatischen Personalengpässen. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP) hat nach einer Befragung stationärer Pflegeeinrichtungen errechnet, dass derweil rund

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_56

627

628

E. Peters und S. Köpke

17.000 Vollzeitstellen in deutschen Pflegeheimen unbesetzt sind (Isfort 2018). Schon heute dauert es im Schnitt 167 Tage bis eine Pflegestelle nachbesetzt ist (Isfort 2018). Die durchschnittliche Berufsdauer beträgt in der Pflege nur 7 Jahre (Blum et al. 2004). Wie die „Konzertierte Aktion Pflege“ umgesetzt und finanziert werden soll, ist jedoch noch unklar.

2

Pflege im Zahlenüberblick

Als Planungsgrundlage für Pflegekapazitäten werden deutschlandweit seit 1999 alle zwei Jahre definierte Daten über Pflegebedürftige sowie über Pflegeheime und ambulante Dienste einschließlich Personal zum Stichtag 31.12. erhoben und mit einem zweijährigen Versatz in der Pflegestatistik vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht (Statistisches Bundesamt 2017b). Laut Pflegestatistik 2017 wurden Ende 2015 von den rund 2,9 Mio. Pflegebedürftigen drei Viertel zu Hause versorgt, davon wiederum wurden zwei Drittel allein durch Angehörige bzw. selbst organisierte Hilfen gepflegt (Abb. 1) – das entspricht nahezu der Hälfte aller Pflegebedürftigen insgesamt. Knapp ein Viertel aller Pflegebedürftigen wird allein oder mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes und 27 % werden in stationären Einrichtungen gepflegt. Damit stieg die Zahl der Pflegebedürftigen innerhalb von zwei Jahren um 9 %. Während die Zahl der in Heimen vollstationär versorgten Pflegebedürftigen unterdurchschnittlich um 2,5 % stieg, nahm die Zahl der durch ambulante Dienste

2,9 Mio. Pflegebedürftige insgesamt

2,08 Mio. (73 %) Pflegebedürftige in häuslicher Pflege

1,38 Mio. (67 %) Pflegebedürftige erhalten Pflege durch Angehörige oder selbst organisierte Hilfe

783.000 (27 %) Pflegebedürftige in vollstationärer Pflege

692.000 (33 %) Pflegebedürftige erhalten Pflege durch/mit ambulante Pflegedienste

Abb. 1 Pflegebedürftige nach Versorgungsart am Stichtag 31.12.2015 (Statistisches Bundesamt 2017b), Bei der Abbildung handelt es sich um eine eigene Darstellung basierend auf den Zahlen aus der Pflegestatistik. Dort ist eine etwas andere Darstellung zu finden.

betreuten Pflegebedürftigen um 12,4 % zu. Die Zahl der reinen Pflegegeldempfänger stieg um 11,7 %. In den bundesweit 13.600 Pflegeheimen (inkl. teilstationäre Pflegeeinrichtungen) waren 730.000 Beschäftigte und in den 13.300 ambulanten Pflegediensten 355.600 Beschäftigte tätig. Dies entspricht bei einer Gewichtung nach der jeweiligen Arbeitszeit ungefähr 525.000 Vollzeitäquivalenten in der stationären Pflege bei 63 % Teilzeitbeschäftigten und 239.000 Vollzeitäquivalenten in der ambulanten Pflege bei 69 % Teilzeitbeschäftigten. Eine genauere Aufschlüsselung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden ist jedoch aufgrund fehlender Erhebungen nicht möglich. In den Heimen verfügten von den im Bereich Pflege und Betreuung Tätigen 45 % über einen qualifizierenden Fachabschluss als Altenpflegende (34 %), Gesundheits- und Krankenpflegende (10 %) oder Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende (1 %). In den ambulanten Pflegediensten hatten 55 % der in der Grundpflege Tätigen entweder einen Abschluss als Gesundheits- und Krankenpflegende (26 %), Altenpflegende (27 %) oder Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende (2 %). Darüber hinaus waren ca. 425.000 Vollzeitäquivalente in der Pflege in rund 1900 Krankenhäusern im Rahmen der Krankenhausversorgung nach SGB V beschäftigt (Statistisches Bundesamt 2017a). Die Pflegequote, d. h. der Anteil an Pflegebedürftigen an der Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe, steigt mit dem Alter. Pflegebedürftigkeit tritt vorwiegend im hohen Alter auf: Bei den unter 60-Jährigen sind 0,6 % der deutschen Bevölkerung pflegebedürftig, bei 60- bis unter 75-Jährigen sind es rund 3,4 %, bei 75- bis unter 90-Jährigen 18,7 % und bei den über 90-Jährigen 66,7 % (Statistisches Bundesamt 2017b). Die gesellschaftliche Bedeutung wird daher von der demografischen Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten bestimmt werden, die durch eine steigende Zahl alter und insbesondere hochaltriger (80+) Menschen und einer sinkenden Zahl an Menschen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gekennzeichnet ist (Abb. 2). Entsprechend der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung wird im Jahr 2050 jede dritte Person älter als 64 Jahre alt sein und jede siebente älter als 79 Jahre. Insgesamt werden dann 9,7 Mio. Menschen älter als 79 Jahre alt sein, 2015 waren dies 4,7 Mio. Abb. 3 veranschaulicht, wie sich die Altersgruppenanteile in der Bevölkerung verändern werden. Über 60-jährige Männer verbrachten im Jahr 2013 im Durchschnitt 21,4 Jahre ohne Pflege (Long-Term Care-Free Life-Expectancy, LTCF) und 2,1 Jahre mit Pflege. Bei den Frauen waren es 25,0 Jahre ohne und 3,5 Jahre mit Pflege (Scholz 2017). Insgesamt betrachtet erfolgte die Zunahme der Lebenserwartung der letzten Jahrzehnte vor allem in pflegefreier Zeit. In Zukunft wird Pflege jedoch öfter auftreten, da zum einen die Lebenserwartung steigt und zum anderen mit der Baby-Boomer-Generation mehr Personen in ein Alter

52

Versorgungsleistungen in der Pflege

629

Abb. 2 Prognose der Bevölkerungsentwicklung nach Altersgruppen bis 2060 im Vergleich zu 2014 (eigene Berechnungen basierend auf Angaben des Statistischen Bundesamtes 2015)

Abb. 3 Altersgruppenanteile an der Gesamtbevölkerung 2015, 2020, 2030, 2040, 2050 und 2060 (eigene Berechnungen basierend auf Angaben des Statistischen Bundesamtes 2015)

mit höherer Pflegewahrscheinlichkeit hineinwachsen. Eigene Schätzungen auf der Basis der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung und der Pflegestatistik 2017 unter der Status-quo-Annahme, d. h. der Annahme, dass die heutige Unterscheidung der Versorgungsart bestehen bleibt und sich lediglich die Bevölkerungsstruktur verändert, gehen von einer Zunahme der Pflegebedürftigen bis 2050 auf 4,8 Mio. aus (Abb. 4) Pflegende Angehörige sind oftmals enge Verwandte, vor allem Kinder (50 %). Die größte Gruppe stellen Frauen im Alter von 50–59 Jahren (Bestmann et al. 2014). In Zukunft wird der Anteil alleinlebender und kinderloser älterer Men-

schen zunehmen, während der Anteil potenziell Pflegender schrumpft, sodass das Pflegepotenzial innerhalb der Familie zurückgeht und sich die Versorgungssituation potenziell verschärft.

3

Pflegeversicherung

Zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit wurde 1995 als neuer eigenständiger Zweig der Sozialversicherung die soziale Pflegeversicherung eingeführt und im SGB XI gesetzlich geregelt. Träger der Pflegeversicherung sind

630

E. Peters und S. Köpke

Pflegebedürigkeit nach Art der Versorgung 2015, 2020, 2030, 2040, 2050 und 2060 Pflegebedürftige in Millionen

6.00 5.00 4.00

1.50

1.57

1.23

1.22

1.23 1.06

3.00 0.78 2.00

0.88 1.04

0.89

0.69

0.77 1.50

1.66

1.86

2.06

1.38

1.99

2015

2020

2030

2040

2050

2060

1.00 0.00

Pflegegeld

Pflegesachleistungen

vollstaonäre Pflege

Abb. 4 Pflegebedürftigkeit nach Art der Versorgung 2015, 2020, 2030, 2040, 2050 und 2060 (eigene Berechnungen)

die Pflegekassen, deren Aufgaben von den Krankenkassen wahrgenommen werden und der Sicherstellung der pflegerischen Versorgung dienen. Auf Antrag erbringt die Pflegeversicherung Zuschüsse bis zu einem Höchstbetrag, unabhängig von den tatsächlichen Aufwendungen. Damit ist die Pflegeversicherung keine Vollversicherung. Versorgungsleistungen in der Pflege können aber auch aufgrund einer ärztlichen Verordnung im Rahmen von Krankenpflege nach Sozialgesetzbuch V (SGB V) durch die Krankenversicherung erfolgen (Abgrenzung Abschn. 5.1).

3.1

Finanzierung

Die Ausgaben der Pflegeversicherung werden durch Beiträge aller gesetzlich und privat Krankenversicherten und der Arbeitgeber finanziert. Seit 01.01.2017 beträgt der Beitragssatz 2,55 % der beitragspflichtigen Einnahmen, der, mit Ausnahme von Sachsen, je zur Hälfte vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu tragen ist. Hinzu kommt der Kinderlosenzuschlag in Höhe von 0,25 %, der von kinderlosen Arbeitnehmern ab dem vollendeten 23. Lebensjahr allein zu tragen ist. Rentner müssen den gesamten Beitragssatz wie auch ggf. den Kinderlosenzuschlag allein aufbringen. Für mitversicherte Familienangehörige und eingetragene Lebenspartner werden keine Beiträge erhoben. Seit der Anhebung des Beitragssatzes zur Finanzierung des Ersten Pflegestärkungsgesetzes (PSG I) 2015 fließen

Einnahmen aus 0,1 Prozentpunkten (jährlich rund 1,2 Mrd. EUR) in den neu eingerichteten Pflegevorsorgefonds in Form eines Sondervermögens, das die Bundesbank verwaltet. Der Pflegevorsorgefonds soll eine verlässliche Finanzierung der Pflegeversicherung sicherstellen und zur Beitragssatzstabilität ab 2035 beitragen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge, die „Babyboomer“, in ein Alter mit erhöhter Pflegewahrscheinlichkeit kommen. Darüber hinaus zahlt die Bundesagentur für Arbeit die Beitragszuschläge für einen bestimmten zuschlagspflichtigen Personenkreis, der Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bezieht, einen Pauschalbetrag in Höhe von 20 Mio. EUR pro Jahr an den Ausgleichsfonds der sozialen Pflegeversicherung.

4

Pflegebedürftigkeitsbegriff und Pflegegrade

Seit Inkrafttreten des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) am 01.01.2017 gelten Personen als pflegebedürftig, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Diese Personen können körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, bestehen.

52

Versorgungsleistungen in der Pflege

631

In Abhängigkeit von der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten wird für Pflegebedürftige im sog. Neuen Begutachtungsassessment (NBA) der Grad der Selbstständigkeit in sechs unterschiedlichen Aktivitätsbereichen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) bzw. durch MEDICPROOF (bei privat Versicherten) ermittelt (Tab. 1). Punkte in den Aktivitätsbereichen werden gewichtet und addiert. Aus der Gesamtsumme zwischen 0 und 100 Punkten (0 steht für maximale Selbstständigkeit, 100 für

maximale Beeinträchtigung der Selbstständigkeit) resultiert bei mindestens 12,5 Punkten ein Pflegegrad (Tab. 2). Darüber hinaus prüft der MDK, ob eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz den Hilfebedarf bei bestimmten Verrichtungen des Alltags erhöht. Das Assessment hierzu wird durchgeführt, sofern Auffälligkeiten in dem Screening feststellt werden, die auf eine demenzbedingte Fähigkeitsstörung, geistige Behinderung oder psychische Erkrankungen zurückzuführen sind. Beurteilt werden beispielsweise die Orientierung, der Antrieb, die Stimmung, das Verhalten, das

Tab. 1 Die sechs Module des Neuen Begutachtungsassessments und ihre Gewichtung (nach §§ 14, 15 SGB XI) Module Modul 1: Mobilität Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen Modul 2: kognitive und kommunikative Fähigkeiten Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch Modul 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen Motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen Modul 4: Selbstversorgung Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen Modul 5: Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen a. in Bezug auf Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zugänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel, b. in Bezug auf Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung, c. in Bezug auf zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie d. in Bezug auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften Modul 6: Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds

Gewichtung [%] 10

15

40

20

15

Tab. 2 Gesamtpunkte nach Neuem Begutachtungsassessment und Pflegegrad (nach § 15 SGB XI) Gesamtpunkte nach NBA Ab 12,5 bis unter 27 Ab 27 bis unter 47,5 Ab 47,5 bis unter 70 Ab 70 bis unter 90 Ab 90 bis 100

. . . Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten Geringe . . . Erhebliche . . . Schwere . . . Schwerste . . . Schwerste . . . mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung

Pflegegrad 1 2 3 4 5

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E. Peters und S. Köpke

Gedächtnis, der Tag-Nacht-Rhythmus, die Kommunikation und die Fähigkeit den Alltag zu strukturieren. Bis zum Zweiten Pflegestärkungsgesetz wurde der Pflegebedürftigkeitsbegriff aufgrund der hauptsächlichen Orientierung an somatischen Einschränkungen, der (weitgehend) fehlenden Berücksichtigung des Betreuungsbedarfs kognitiv beeinträchtigter Menschen, des engen und verrichtungsbezogenen Zeitbezugs sowie der Defizit- statt Teilhabeorientierung vielfach kritisiert. Bereits das Erste Pflegestärkungsgesetz sah Leistungsverbesserungen vor und beabsichtigte eine bessere Berücksichtigung der individuellen Situation von Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen sowie den Abbau von Unterschieden im Umgang mit somatischen und psychisch-kognitiven Einschränkungen. Das neue Leistungsrecht zielt nun auf Hilfen zum Erhalt der Selbstständigkeit und der verbliebenen Fähigkeiten. Die fünf Pflegegrade ersetzten das System der drei Pflegestufen und der zusätzlichen Feststellung von erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (insbesondere Demenz). Die bisherigen Leistungen für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz wurden in das reguläre Leistungsrecht integriert. Die Pflegeversicherung leistet Pflegebedürftigen Hilfe, die wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit auf solidarische Unterstützung angewiesen sind. Dabei haben Leistungen Vorrang, die auf häusliche Pflege gerichtet sind und die Pflegebereitschaft von Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit Pflegebedürftige möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. So ist beispielsweise im Einzelfall zu prüfen, ob medizinischen Rehabilitationsleistungen Vorrang vor Pflegeleistungen zu gewähren ist. Auch haben Leistungen der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege Vorrang vor Leistungen der vollstationären Pflege. Die Pflegekassen haben Versicherte und ihre Angehörigen in den mit Pflegebedürftigkeit zusammenhängenden Fragen über Leistungen der Pflegekassen sowie über Leistungen und Hilfen anderer Träger in für sie verständlicher Weise zu informieren, ggf. zu beraten und aufzuklären. Pflegebedürftige und ihre häuslich Pflegenden sind beispielsweise auch auf die Auskunfts-, Beratungs- und Unterstützungsangebote des für sie zuständigen Pflegestützpunktes sowie auf die Pflegeberatung hinzuweisen.

Bei häuslicher und teilstationärer Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre oder sonstige Pflege und Betreuung. Tab. 3 zeigt monatliche Leistungen der Pflegeversicherung in Abhängigkeit vom Pflegegrad im Überblick. Aufwendungen für Unterkunft, Verpflegung und Investitionskosten sowie für Pflegekosten, die über der Höchstgrenze der gesetzlichen Pflegeversicherung liegen, sind von Pflegebedürftigen in der Regel selbst zu tragen. Während dieser Eigenanteil bis 2017 mit der Schwere der Pflegebedürftigkeit stieg, sind seitdem unabhängig vom Pflegegrad gleich hohe Beträge fällig – der sog. einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEE). Ist Pflegbedürftigen und ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern nicht zuzumuten, die benötigten Mittel aus Einkommen und Vermögen aufzubringen, haben sie Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach SGB XII Sozialhilfe. Diese übernimmt dann nach den Vorgaben des SGB XII die mit der Pflege verbundenen Kosten ganz oder teilweise. Der Umfang dieser Leistungen steigt seit dem Jahr 2002. Die MultiCare-Studie, die den Zusammenhang von sozialem Status und Multimorbidität bei über 65-Jährigen untersucht hat, konnte einen konsistenten Zusammenhang von niedrigerem Einkommen und höherer Krankheitslast zeigen (Knesebeck et al. 2015). Unter der Annahme, dass eher Pflegebedürftige mit höherer Krankheitslast in ein Pflegeheim umziehen, dürften sich in Pflegeheimen zunehmend weniger Bewohner finden, die mit eigenen finanziellen Mitteln (oder durch die Familie) für die gesamten Pflege- und Betreuungskosten aufkommen können, so dass steigende Ausgaben für die Hilfe zur Pflege zu erwarten sind. Im Jahr 2012 wurden in Deutschland für die Hilfe zur Pflege bereits mehr als 3,2 Mrd. EUR ausgegeben, dies entspricht einem Anstieg von 4,5 % im Vergleich zum Vorjahr und etwa 14 % der Sozialhilfeausgaben. Zwei Drittel der fast 440.000 Hilfeempfänger waren Frauen. Diese waren mit 79 Jahren im Durchschnitt deutlich älter als die männlichen Leistungsbezieher mit 68 Jahren. 71 % der Leistungsbezieher nahmen 2012 die Hilfe zur Pflege ausschließlich in Einrichtungen in Anspruch, davon waren fast alle (97 %) auf vollstationäre Pflege angewiesen (Statistisches Bundesamt 2014).

Tab. 3 Leistungsansprüche bei häuslicher oder/und stationärer Pflege (unvollständig) Pflegegrad 1

2 3 4 5

Monatliche Leistung in EUR pro Monat in Form von . . . (Stand 01.01.2018) 125 EUR als Kostenerstattung für Betreuungs- und Entlastungsleistungen plus 40 EUR für die Versorgung mit Pflegehilfsmitteln zum Verbrauch, ggf. Zuschüsse für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen (bis zu 4000 EUR), kostenlose Beratungsbesuche Pflegegeld für Pflegesachleistungen durch Teilstationäre Pflege (Nacht- oder Vollstationäre selbstbeschaffte Pflegehilfen ambulanten Pflegedienst Tagespflege inkl. Transport) Pflege 316 689 689 770 545 1298 1298 1262 728 1612 1612 1775 901 1995 1995 2005

52

5

Versorgungsleistungen in der Pflege

Diversität der Pflegeleistungen nach SGB XI im Überblick

In Abhängigkeit von der Schwere der Pflegebedürftigkeit und der Wahl der Versorgung unterscheiden sich Art und Umfang der Leistungen nach SGB XI. In der Praxis zeigt sich, dass neben dem Grad der Pflegebedürftigkeit sowohl die auf dem Markt befindlichen Pflegeangebote und das Wohnumfeld als auch das Vorhandensein von Unterstützung im Haushalt die Art der pflegerischen Versorgung beeinflussen. Lebt eine pflegebedürftige Person allein oder in einer Gegend ohne entsprechend pflegefreundliche Infrastruktur, stößt häusliche Pflege schnell an Grenzen. Ist die Versorgungsdichte mit Pflegeheimen hoch, erscheint

633

die pflegerische Betreuung dort ggf. einfacher zu realisieren als Pflegearrangements mit verschiedenen Leistungsanbietern, wenn Menschen sehr plötzlich oder aus der Ferne mit Pflegebedarfen ihrer Angehörigen konfrontiert werden. Die Art der pflegerischen Versorgung weist in Deutschland starke regionale Unterschiede auf. Der Anteil der Pflegebedürftigen mit vollstationärer Pflege liegt z. B. in Schleswig-Holstein mit fast 40 % zehn Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt von knapp 30 % (Abb. 5). Während in Hessen mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen Pflegegeld erhalten, werden in Schleswig-Holstein weniger als 40 % der Pflegebedürftigen von Angehörigen gepflegt bzw. organisieren ihre Pflege selbst.

Abb. 5 Pflegebedürftigkeit nach Versorgungsart nach Bundesländern und Deutschland am Stichtag 31.12.2015

634

E. Peters und S. Köpke

Zunehmend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion gelangten mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz neben den Pflegeleistungen die Leistungserbringer. Diese sollen gemeinsam mit den Pflegekassen sicherstellen, dass die Leistungen nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse erbracht werden. Diese Leistungen schließen auch Leistungen zur Sterbebegleitung im Rahmen der Pflege nach SGB XI explizit mit ein. Dabei darf in den kommenden Jahrzehnten nicht außer Acht gelassen werden, dass die Zahl der Sterbefälle insgesamt, trotz steigender Lebenserwartung, zunehmen wird, da die bevölkerungsstarken „Baby-Boomer“-Jahrgänge ab 2020 ins Rentenalter hineinwachsen, sodass in den Folgejahren bis 2050 die Zahl der Gestorbenen sukzessive von rund 925.000 im Jahr 2015 auf fast 1,1 Mio. pro Jahr Anfang der 2050erJahre steigen wird.

5.1

Behandlungspflege, Grundpflege und Haushaltshilfen nach SGB V und SGB XI

Als Leistungsträger für Pflegeleistungen kommen Krankenkassen nach SGB V und Pflegekassen nach SGB XI in Frage. Unabhängig von der Wahl der Leistungsart und dem Leistungserbringer wird bei der pflegerischen Versorgung zwischen Behandlungspflege und Grundpflege bzw. körperbezogene Pflegemaßnahmen unterschieden, die im Falle von häuslicher Krankenpflege und/oder Pflegebedürftigkeit durch hauswirtschaftliche Versorgung bzw. Hilfen bei der Haushaltsführung ergänzt werden kann. Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach SGB V § 37 erfolgen aufgrund einer ärztlichen Verordnung. Die Krankenkasse prüft vor der Genehmigung einer zeitlich begrenzten Krankenpflege, ob sie dazu dient, die Krankheit zu heilen, eine Verschlimmerung zu vermeiden oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die erbrachten Leistungen der Behandlungspflege werden vom Leistungserbringer direkt bei der gesetzlichen Krankenkasse abgerechnet. Für Leistungsberechtigte gelten die Zuzahlungsregeln der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach SGB V besteht in der Regel bis zu vier Wochen je Krankheitsfall und nur, soweit keine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang pflegen und versorgen kann. Dient die häusliche Krankenpflege nach SGB V der Vermeidung oder Verkürzung eines Krankenhausaufenthaltes, z. B. nach einer Operation oder einem Unfall, wird von Krankenhausvermeidungspflege gesprochen. Wird durch häusliche Krankenpflege eine Therapie überhaupt erst möglich, z. B. wenn Infusionen angelegt werden, wird diese als Sicherungspflege bezeichnet. Die Behandlungspflege nach SGB V ist von examinierten Pflegenden bei Patienten zu Hause oder in einer stationären Einrichtung zu erbringen. Sie beinhaltet Tätigkeiten wie: die

Gabe von Medikamenten, Blutdruck- und Blutzuckermessung, Verbandswechsel, Dekubitusbehandlung, An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen, Stomaversorgung, die Versorgung von suprapubischen Kathetern und perkutanen endoskopischen Gastrostomien (PEG), Katheterwechsel, Blasenspülung oder Einläufe. Die Grundpflege nach SGB V bzw. körperbezogene Pflegemaßnahmen nach SGB XI beinhaltet die pflegerische Versorgung eines Menschen, der vorübergehend oder dauerhaft nicht alleine seine alltäglichen Grundverrichtungen wie sich waschen, sich anziehen, etwas essen, trinken und zur Toilette gehen bewältigen kann (Übersicht). Diese regelmäßig wiederkehrenden Pflegeleistungen sind nicht mit medizinischen Leistungen der Behandlungspflege zu verwechseln. Leistungen der Grundpflege dürfen auch von Altenoder Krankenpflegehelfern oder anderen Pflegenden durchgeführt werden, soweit sie in der Lage dazu sind. § 37 Abs. 4 SGB V legt fest: „Kann die Krankenkasse keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen oder besteht Grund, davon abzusehen, sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe zu erstatten.“

Leistungen der Grundpflege

• Körperpflege • An- und Auskleiden • Hilfe bei der Ernährung (Verabreichen von Sondennahrung) • Hilfe bei Ausscheidungen • Verwendung von Inkontinenzprodukten • Reinigen von Harnröhrenkathetern • Wechsel des Katheterbeutels • Reinigung und Versorgung von künstlichen Ausgängen (Urostoma, Anus praeter) • Kontinenz- bzw. Toilettentraining • Mobilität • Förderung von Eigenständigkeit und Kommunikation • Lagerung mit Lagerungshilfsmitteln • Intertrigoprophylaxe • Exsikkoseprophylaxe • Kontrakturenprophylaxe • Pneumonieprophylaxe • Soor-/Parotitisprophylaxe • Dekubitusprophylaxe • Thromboseprophylaxe • Obstipationsprophylaxe usw. Die hauswirtschaftliche Versorgung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege nach SGB V bzw. Hilfen bei der Haushaltsführung bei Pflegebedürftigkeit nach SGB XI beinhalten die Zubereitung von Mahlzeiten, den Wechsel von Bettwä-

52

Versorgungsleistungen in der Pflege

sche, einkaufen, Geschirr abwaschen, Müllentsorgung, Medikamente besorgen, Reinigung der Wohnung etc. Diese Leistungen werden zumeist von Hauswirtschaftskräften oder Hilfskräften erbraucht. Als Standard gilt heute die aktivierende Pflege, d. h. Pflegende sollten den kleinstmöglichen Unterstützungsgrad wählen (1. Beaufsichtigen, 2. Unterstützen, 3. Anleiten, 4. teilweise Übernahme, 5. vollständige Übernahme von Grundverrichtungen). § 2 Abs. 1 SGB XI legt fest: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen, auch in Form der aktivierenden Pflege, wiederzugewinnen oder zu erhalten.“ Außerdem sollen Versicherte „. . . durch gesundheitsbewußte Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an Vorsorgemaßnahmen, durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung, ggf. aktivierender Pflege und medizinischen Rehabilitationsleistungen dazu beitragen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhindern (§ 6 SGB XI)“.

5.2

Häusliche Pflege und ambulant betreute Wohngruppen

Aus der Pflegestatistik 2017 (häusliche Pflege) gehen folgende Daten hervor (in Kürze und ergänzend zu Abschn. 2): 61 % der zu Hause Versorgten waren Frauen. Während zwei Drittel (66,7 %) der Pflegegeldempfänger die Pflegestufe 1, gut ein Viertel (26,4 %) die Pflegestufe 2 und 6,9 % die Pflegestufe 3 hatten, waren es bei den Pflegebedürftigen, die durch ambulante Pflegedienste gepflegt wurden, 59,1 %; 31,1 % und 9,8 %. Erst die nächste Pflegestatistik wird Aussagen über Pflegebedürftigkeit nach Pflegegraden ermöglichen. Im Schnitt betreute ein Pflegedienst 52 Pflegebedürftige. Fast alle ambulanten Pflegedienste boten neben den Leistungen nach SGB XI häusliche Krankenpflege oder Hilfe nach dem SGB V an. 65 % der 13.300 zugelassenen ambulanten Pflegedienste befanden sich in privater Trägerschaft. 10 % der Pflegedienste waren organisatorisch an Wohneinrichtungen und 6 % an ein Pflegeheim angeschlossen. Im Jahr 2015 gab es 600 (4,5 %) ambulante Dienste mehr als 2013. Die Personalzahl stieg im gleichen Zeitraum um 11,1 % bzw. 36.000 Beschäftigte. Die Zahl der Auszubildenden sowie (Um-)Schüler stieg um ein Fünftel. 87 % der Beschäftigten in ambulanten Pflegediensten waren Frauen, davon waren nur 15 % jünger als 30 Jahre, 38 % waren 50 Jahre und älter. Zwei Drittel des Personals hatte seinen Arbeitsschwerpunkt in der Grundpflege, ein Achtel erbrachte hauswirtschaftliche Versorgung. Überwiegend häusliche Betreuung erbrachten 4 % des Personals.

635

5.2.1 Pflegegeld und Pflegesachleistungen Pflegebedürftige der Pflegegrade 2–5 können die Art der Leistungen in Abhängigkeit von ihrer persönlichen Situation selbst wählen, d. h. ob sie Pflegegeld, Pflegesachleistungen oder vollstationäre Pflege benötigen oder diese kombinieren (Kombinationsleistungen) möchten. So können sie beispielsweise ausschließlich durch selbstbeschaffte Pflegehilfen bzw. Angehörige oder gemeinsam durch diese und einem ambulanten Pflegedienst betreut werden. Dabei werden Pflegegeld und Pflegesachleistungen anteilig verrechnet. Ist zusätzlich Nacht- oder Tagespflege inklusive Beförderung notwendig, werden diese Leistungen zusätzlich gewährt. Der Anteil der Pflegebedürftigen mit teilstationärer Pflege wird häufiger von Personen mit höheren Pflegestufen in Anspruch genommen. 5.2.2 Pflegefachliche Beratung und Pflegekurse Entscheiden sich Pflegebedürftige für Pflegegeld, haben sie selbst entsprechend die erforderlichen körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung in geeigneter Weise sicherzustellen. In Abhängigkeit des Pflegegrades haben Pflegebedürftige bei selbstbeschafften Pflegehilfen zwei- bis viermal pro Jahr eine pflegefachliche Beratung bei einer anerkannten Beratungsstellen abzurufen, die der Sicherung der Qualität der häuslichen Pflege und der regelmäßigen Hilfestellung und praktischen pflegefachlichen Unterstützung der häuslich Pflegenden dient. Pflegekassen haben für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen unentgeltlich Pflegekurse durchzuführen, um soziales Engagement im Bereich der Pflege zu fördern und zu stärken, Pflege und Betreuung zu erleichtern und zu verbessern sowie pflegebedingte körperliche und seelische Belastungen zu mindern und ihrer Entstehung vorzubeugen. Die Kurse sollen Fertigkeiten für eine eigenständige Durchführung der Pflege vermitteln. Auf Wunsch der Pflegeperson und der pflegebedürftigen Person findet die Schulung auch in der häuslichen Umgebung des Pflegebedürftigen statt. 5.2.3

Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und Ersatzpflege Anteiliges Pflegegeld wird auch während einer Kurzzeitpflege bis zu acht Wochen und während einer Verhinderungspflege bis zu sechs Wochen je Kalenderjahr in Höhe der Hälfte der vor Beginn der Kurzzeit- oder Verhinderungspflege geleisteten Höhe gewährt, z. B. bei Erholungsurlaub oder Krankheit der Pflegeperson. Die Aufwendungen der Pflegekasse können sich im Kalenderjahr auf bis zu 1612 EUR belaufen, wenn die Ersatzpflege durch andere Pflegepersonen sichergestellt wird als solche, die mit dem Pflegebedürftigen bis zum zweiten Grade verwandt oder verschwägert sind oder die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft leben. Kann häusliche Pflege für Pflegebedürftige zeitweise nicht, noch nicht oder nicht im erforderlichen Umfang bzw. für eine Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre

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Behandlung erbracht werden und reicht auch teilstationäre Pflege nicht aus, besteht Anspruch auf Kurzzeitpflege in einer vollstationären Einrichtung.

5.2.4 Unterstützung im Alltag Für qualitätsgesicherte Leistungen zur Entlastung pflegender Angehöriger sowie zur Förderung der Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit von Pflegebedürftigen bei der Gestaltung ihres Alltags in häuslicher Versorgung, können sich Pflegebedürftige monatliche Entlastungsbeiträge von bis zu 125 EUR von der Pflegekasse z. B. für Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Tages- oder Nachtpflege, anerkannte Haushalts- und Serviceangebote, Alltagsbegleiter und Angebote zur Unterstützung im Alltag erstatten lassen, wenn Rechnungen von anerkannten Leistungserbringern vorgelegt werden. Alternativ können diese ihre Leistungen direkt bei der Pflegekasse abrechnen. Als Angebote zur Unterstützung im Alltag in Betracht kommen insbesondere Betreuungsgruppen für Menschen mit Demenz, Helferkreise zur stundenweisen Entlastung pflegender Angehöriger im häuslichen Bereich, die Tagesbetreuung in Kleingruppen oder Einzelbetreuung durch anerkannte Helfer, Agenturen zur Vermittlung von Betreuungs- und Entlastungsleistungen, Familien-entlastende Dienste, Alltagsbegleitung, Pflegebegleitung sowie Serviceangebote für haushaltsnahe Dienstleistungen. Für anerkannte Angebote zur Unterstützung im Alltag können bis zu 40 % in einem Monat des Leistungsbetrags von nicht oder nicht vollständig ausgeschöpften Pflegesachleistungen verwendet werden (Umwandlungsanspruch). 5.2.5

Pflegehilfsmittel, Hilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen Alle Pflegebedürftigen haben Anspruch auf die Versorgung mit technischen und sonstigen Pflegehilfsmitteln (z. B. Pflegebetten, Hausnotrufsysteme, Lagerungsmaterialien), die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden der Pflegebedürftigen beitragen oder eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen, soweit die ärztlich rezeptierten Hilfsmittel (z. B. Rollstühle, transportable Rampen, Einlagen, Gehhilfen, Sehhilfen) nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind. Pflegehilfsmittel sind bei Pflegekassen durch die Pflegebedürftigen zu beantragen und werden unter bestimmten Voraussetzungen bis auf einen Eigenanteil von 10 %, höchstens 25 EUR je Pflegehilfsmittel erstattet. Aufwendungen für Pflegehilfsmittel zum Verbrauch (z. B. Desinfektionsmittel, Schutzbekleidung, Einmalhandschuhe) werden monatlich bis zu 40 EUR vergütet. Technische Pflegehilfsmittel sollen in allen geeigneten Fällen vorrangig leihweise überlassen werden. Subsidiär können Pflegekassen finanzielle Zuschüsse in Höhe von bis zu 4000 EUR je wohnumfeldverbessernde Maßnahme gewähren, beispielsweise für technische Hilfen im Haushalt

E. Peters und S. Köpke

wie Treppenlifte, wenn dadurch im Einzelfall die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbstständige Lebensführung der Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird. Auch alltagstaugliche Assistenzlösungen für ein selbstbestimmtes Leben (active assisted living, AAL) können nutzerorientiert das tägliche Leben älterer und benachteiligter Menschen situationsabhängig unterstützen. Häufig genannte Anwendungsbeispiele sind Hausnotrufsysteme, automatische Abschaltung des Herdes bei Abwesenheit, Schutzmaßnahmen gegen Einbrüche sowie kontextabhängige Beleuchtungs- oder Raumtemperatursteuerung, welche den Gewohnheiten des Nutzers angepasst sind oder mit wohnungsnahen Dienstleistungen kombiniert werden können. Hausnotrufsysteme werden vom GKV-Spitzenverband als Pflegehilfsmittel zur selbstständigeren Lebensführung bzw. Mobilität betrachtet und die Kosten unter bestimmten Umständen beim Vorliegen eines Pflegegrades von der Pflegekasse übernommen. Die zurzeit häufig noch mangelnde Akzeptanz solcher und weiterer Systeme dürfte mit der Einfachheit der Bedienbarkeit sowie einer Sprachsteuerung ebenso wie mit der zunehmenden Gewöhnung an „smarte“ Hilfsmittel steigen.

5.2.6

Soziale Sicherung der Pflegepersonen und Pflegeunterstützungsgeld Zur Verbesserung der sozialen Sicherung der Pflegepersonen müssen Pflegekassen auf Antrag Beiträge an den zuständigen Träger der Kranken-, Renten- und Unfallversicherung und an die Bundesagentur für Arbeit entrichten, wenn die Pflegeperson noch nicht die Regelaltersgrenze erreicht hat oder Vollrente bezieht, regelmäßig nicht mehr als 30 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist, wenigstens zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf regelmäßig mindestens zwei Tage in der Woche, pflegt und die zu pflegende Person mindestens Pflegegrad 2 hat. Pflegepersonen erhalten Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von monatlich 158,34 EUR bzw. 25,88 EUR. Zahlungen an die Rentenversicherung belaufen sich je nach Beitrittsgebiet monatlich auf 152,92 EUR (135,34 EUR) bei Pflegegrad 2, auf 243,54 EUR (215,55 EUR) bei Pflegegrad 3, auf 396,46 EUR (350,89 EUR) bei Pflegegrad 4 und auf 566,37 EUR (501,27 EUR) bei Pflegegrad 5. Für vor der Pflegetätigkeit versicherungspflichtige Pflegepersonen werden Beiträge in Höhe von 45,68 EUR bzw. 40,43 EUR an die Arbeitslosenversicherung gezahlt. Während einer kurzzeitigen Arbeitsverhinderung erhalten Beschäftigte Pflegeunterstützungsgeld bis zu zehn Tage pro Jahr. 5.2.7

Anschubfinanzierung für ambulant betreute Wohngruppen Für die altersgerechte oder barrierearme Umgestaltung einer gemeinsamen Wohnung wird Pflegebedürftigen neben den finanziellen Zuschüssen für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen ein einmaliger Betrag von bis zu 2500 EUR als

52

Versorgungsleistungen in der Pflege

Anschubfinanzierung zur Gründung einer ambulant betreuten Wohngruppe gewährt (maximal 10.000 EUR bei mehr als vier Anspruchsberechtigten). Diese Anschubfinanzierung endet mit Ablauf des Monats, in dem das Bundesversicherungsamt den Pflegekassen und dem Verband der privaten Krankenversicherung e.V. mitteilt, dass mit der Förderung eine Gesamthöhe von 30 Mio. EUR erreicht worden ist. Leben Pflegebedürftige in einer ambulant betreuten Wohngruppe mit drei bis elf Personen, wovon mindestens drei pflegebedürftig sind, in einer gemeinsamen Wohnung zum Zweck der gemeinschaftlich organisierten pflegerischen Versorgung, haben sie Anspruch auf einen pauschalen Zuschlag in Höhe von 214 EUR monatlich je pflegebedürftiger Person, für allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten bzw. die hauswirtschaftliche Unterstützung.

5.2.8

Aspekte einer altersgerecht gestalteten Wohnumgebung Um im Alter und im Fall von Pflegebedürftigkeit möglichst lange selbstständig wohnen zu können, bedarf es allerdings mehr als nur barrierefreier bzw. -armer Wohnungen, Pflegegeld oder Pflegesachleistungen. Viele Altershaushalte befinden sich in einem Wohnumfeld, in dem grundlegende Bedürfnisse zur Deckung des täglichen Bedarfs nicht befriedigt werden können. So liegen ca. zwei Drittel der Haushalte von Menschen über 65 Jahre eher in Randlagen. Diese verfügen häufig über ungünstige Zugänge zu infrastrukturellen

Abb. 6 Aspekte einer altersgerecht gestalteten Wohnumgebung

637

Angeboten. Nach einer Repräsentativbefragung des Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) bei 1000 Seniorenhaushalten konnten im Jahr 2011 ca. ein Fünftel der Senioren Arztpraxen, Apotheken, Lebensmittelgeschäfte und Haltestellen des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) nicht fußläufig erreichen. Wer sich in seiner vertrauten Wohnumgebung verwurzelt und eingebunden fühlt, offen und bereit für Neues ist (Oswald und Konopik 2015), bei Unterstützungsbedarf wohnortnahe Hilfen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann, dem wird es eher gelingen, auch im Falle von Pflegebedürftigkeit zu Hause selbstbestimmt alt zu werden. Dabei spielen neben einer ausgewogenen sozialen Durchmischung des Wohnumfeldes ganzheitliche kommunale Ansätze mit infrastrukturellen Angeboten, Maßnahmen zur Sicherung von Teilhabe und sozialem Austausch und nicht zuletzt ausreichend viele Arbeitskräfte in den Regionen eine Rolle (Abb. 6). Bevor in Kommunen weitere Pflegeheime geplant werden, sollten die Wartelisten für Betreutes Wohnen in Augenschein genommen werden und die Förderung ambulanter Pflegedienste und anderer Dienstleister überlegt werden. Es bedarf der systematischen Sensibilisierung und Information der Beteiligten, da viele Akteure (Architekten, Wohnungsanbieter, Handwerker, soziale Dienstleister, kommunale Vertreter und ältere Menschen selbst) häufig nicht ausreichend Informationen über die Möglichkeiten einer altersgerechten Gestaltung von Wohnungen und Wohnumfeld haben (Kuratorium Deutsche Altershilfe 2014).

638

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont die Notwendigkeit eines Rahmenkonzeptes für eine älter werdende Bevölkerung in Europa als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, um Autonomie, Funktionsfähigkeit und Teilhabe von Menschen bis ins hohe Alter hinein zu erhalten. Dabei geht es nicht nur um Gesundheitsförderung, Prävention und gesundheitliche Versorgung im engeren Sinne, sondern um soziale Sicherheit und die altersgerechte Gestaltung von Lebens-, Wohn- und Arbeitswelten unter politischer Federführung und Koordination (WHO 2015). Ebenso wird ein Bedarf an der Verbesserung von Bildungsangeboten und der sog. „Health Literacy“ als notwendig erachtet (WHO 2015). " Definition Health Literacy: Health Literacy bzw. „Ge-

sundheitskompetenz“ wird definiert „. . . als das Wissen, die Motivation und die Fähigkeit der Menschen auf Gesundheitsinformationen zuzugreifen, diese zu verstehen, zu beurteilen und zu nutzen, um im täglichen Leben Urteile und Entscheidungen zu fällen in Bezug auf Gesundheit, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung mit dem Ziel, im Lebensverlauf die Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern“ (Sørensen et al. 2015).

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Curricula der Pflegeausbildung und Pflegeweiterbildung gefunden (Kennedy und Yaldren 2017), obwohl digitale Technologien zunehmend Bestandteil im Alltag sind. Unklar ist momentan noch, inwieweit die Förderung der Gesundheitskompetenz innerhalb der pflegerischen Versorgung überhaupt aufgegriffen und verankert werden kann und welchen Nutzen sie für Pflegende, Pflegebedürftige und deren Angehörige unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen hat. Zu fordern wären Initiativen zur Erforschung von „Digital Health Literacy in Care of the Elderly“ analog zum BMBFgeförderten Forschungsverbund „Health Literacy in Childhood and Adolecence“ (HCLA); siehe: http://www.hlca-con sortium.de/. Zugegriffen am 04.10.2018. Auf Seiten der Pflegenden könnten bereits auf dem Markt befindliche Pflege-Apps schon heute für mehr Transparenz und Sicherheit in der ambulanten Pflege sorgen, z. B. indem Pflegende ihre Leistungen digital hinterlegen und Angehörige diese abrufen können und somit überprüfen können, ob die Pflegenden im Haushalt des Pflegebedürftigen angekommen sind und z. B. pflegerische Leistungen erbracht oder Medikamente gegeben wurden.

Dass dieses Konzept auch und besonders für Pflegebedürftige gilt, liegt auf der Hand.

5.3

5.2.9 Health Literacy und Pflege Noch immer wird mögliche Pflegebedürftigkeit häufig verdrängt, sodass eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Pflege“ erst spät oder gar nicht erfolgt und große Informationsdefizite resultieren. Doch vor allem ältere Menschen, chronisch Kranke und Pflegebedürftige weisen eine niedrige Health Literacy auf. Ihnen fällt es z. B. schwer, Beipackzettel von Medikamenten zu verstehen oder Vorund Nachteile verschiedener Behandlungs- und Pflegeoptionen einzuschätzen (Berens et al. 2016). Auch die Suche nach gesundheitsrelevanten Informationen und die Beurteilung dieser werden von etwa 70 % der Älteren als sehr schwer eingeschätzt. Haus- und Fachärzte werden bei gesundheitsund krankheitsrelevanten Fragen als erste Anlaufstelle genannt – werden aber nicht immer verstanden (Berens et al. 2016). Der eigene Gesundheitszustand wird von Menschen mit niedriger Health Literacy eher als schlecht oder sehr schlecht beurteilt. Sie gehen häufiger zum Arzt und werden häufiger in ein Krankenhaus eingewiesen, als diejenigen mit ausreichender oder guter Gesundheitskompetenz (Schaeffer et al. 2016). Um die Gesundheitskompetenzen zu fördern, sind Pflegende eine wichtige Kommunikations- und Vermittlungsinstanz für Patienten und Angehörige (Ewers et al. 2017). Allerdings hat das Thema Health Literacy sowie deren Vermittlung und die sog. „Digital Literacy“ kaum Eingang in

Aus der Pflegestatistik 2017 (vollstationäre Pflege) gehen folgende Daten hervor (in Kürze und ergänzend zu Abschn. 2): 72 % der vollstationär im Heim Versorgten waren Frauen. Jeweils rund 40 % der Pflegebedürftigen in Heimen hatten Pflegestufe 1 oder 2, 20 % Pflegestufe 3. Die Hälfte der vollstationär im Heim betreuten Frauen und Männer war 85 Jahre und älter, bei den zu Hause Versorgten waren es knapp ein Drittel (32 %). Im Schnitt betreute ein Pflegeheim 63 Pflegebedürftige. Die meisten (11.200) der rund 13.600 Heime boten vollstationäre Dauerpflege an. Von den rund 929.000 Plätzen entfielen 866.000 (93 %) auf Plätze zur Dauerpflege. Die meisten Plätze bei der Dauerpflege (558.000) befanden sich in 1-Bett-Zimmern und 304.000 Plätze in 2-Bett-Zimmern. Die Dauerpflegeplätze waren zu 88 % mit Pflegebedürftigen mit Pflegestufe nach dem SGB XI ausgelastet. Vollstationäre Dauerpflege erhielten zum 15.12.2015 insgesamt 759.000 Pflegebedürftige. Kurzzeitpflege erhielten 24.200 Pflegebedürftige; Tagespflege 73.800; Nachtpflege 42 Pflegebedürftige. Der Pflegesatz für vollstationäre Dauerpflege mit Pflegestufe 3 betrug im Durchschnitt rund 82 EUR pro Tag; der für Unterkunft und Verpflegung 22 EUR pro Tag. Monatlich waren somit für Pflege und Unterbringung in der höchsten Pflegestufe an ein Heim ca. 3165 EUR als Vergütung zu entrichten. Hinzu konnten weitere Ausgaben für Zusatzleistungen und gesondert berechenbare Investitionsaufwendungen kommen.

Vollstationäre Pflege

52

Versorgungsleistungen in der Pflege

Die Mehrzahl (84 %) der 730.000 beschäftigten Personen war weiblich. Weniger als ein Drittel (29 %) der Beschäftigten arbeitete Vollzeit. Auszubildende sowie (Um-) Schüler im stationären Bereich stellten mit 51.100 rund 7 % der Beschäftigten. Die Anzahl der Helfer im Freiwilligen Sozialen Jahr bzw. im Bundesfreiwilligendienst betrug zusammen rund 5500 (1 %). Zudem gab es 1600 Praktikanten. Knapp zwei Drittel (64 %) der Beschäftigten hatten ihren Arbeitsschwerpunkt in der Pflege und Betreuung. Jede/r Sechste (16 %) arbeitete in der Hauswirtschaft; auf Verwaltung, Haustechnik und sonstige Bereiche entfielen zusammen 9 % der Beschäftigten, im Bereich der sozialen Betreuung waren es 4 %. Weitere 7 % wurden überwiegend für zusätzliche Betreuung und Aktivierung nach § 87b SGB XI eingesetzt. 549.000 Beschäftigte (75 %) arbeiteten ausschließlich für das Pflegeheim im Rahmen des SGB XI. Weniger als ein Fünftel (18 %) der Beschäftigen waren unter 30 Jahre, 41 % waren 30–49 Jahre und 40 % waren 50 Jahre und älter. Von den im Bereich Pflege und Betreuung Tätigen hatten 45 % entweder einen Abschluss als Altenpflegende oder Gesundheits- und Krankenpflegende. Im Jahr 2015 gab es rund 600 (4,3 %) Heime mehr als 2013. Während die Zahl der Plätze für vollstationäre Dauerpflege um 2,2 % (18.600 Plätze) stieg, nahm die Zahl der Plätze für die Tagespflege um 18,0 % (7800 Plätze) zu. Die Personalzahl stieg im gleichen Zeitraum um 6,5 % bzw. 44.700 Personen (davon 37.900 in Teilzeit). Laut Statistischem Bundesamt wohnen mehr als 95 % der über 65-Jährigen in Privatwohnungen, meist in Ein- oder Zweipersonenhaushalten. Erst in sehr hohem Alter nimmt der Anteil von Personen, die in Pflegeheimen leben, deutlich zu: Bei den 80- bis 85-Jährigen sind es rund 8 %, auch jenseits von 90 Jahren leben etwa zwei Drittel der Menschen in Privatwohnungen. Neben der Schaffung barrierefreier bzw. -armer Wohnungen im normalen Wohnungsbestand haben die Bundesländer in den vergangenen Jahren vielfältige Initiativen gestartet, um das Angebot an „besonderen Wohnformen“ für ältere Menschen auszubauen. Dabei ist sowohl der Ausbau der stationären Pflege als „traditionelle besondere Wohnform“ als auch eine Angebotserweiterung bei sog. „alternativen Wohnformen“ für das Alter – wie Altenwohnungen, betreutes Wohnen, gemeinschaftliche Wohnangebote in SeniorenWGs oder Mehrgenerationenwohnprojekten, ambulant betreute Pflegewohngemeinschaften – erfolgt, um unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Eine genaue Quantifizierung altersgerechter Wohnmöglichkeiten ist in den amtlichen Statistiken des Bundes oder der Länder allerdings nicht zu finden. Weder gibt es eine genaue Aufstellung über die Anzahl der barrierefreien bzw. -armen Wohnangebote und deren Bewohner noch eine klare Übersicht, welche Wohnalternativen älteren Menschen in den

639

Bundesländern zur Verfügung stehen. Die unterschiedlichen Definitionen der verschiedenen Wohnformen stellen hier eine zusätzliche Erschwernis dar.

5.3.1 Umzug ins Heim Der Umzug in ein Pflegeheim ist für ältere Menschen zumeist verbunden mit Gedanken an die letzte Station im Leben und den eigenen Tod. Nicht mehr für sich selbst sorgen zu können und zu spüren, dass die eigenen Kräfte begrenzt sind, kann in Resignation, Mutlosigkeit, Rückzug und psychosomatische Beschwerden münden. Nahe Angehörige erleben nicht selten Schuldgefühle. Pflegende in Heimen wiederum sind bemüht möglichst viele Informationen über das Leben und die Pflegebedarfe ihres neuen Bewohners zu sammeln, um individuelle Wünsche zu berücksichtigen, bei Alltagsgewohnheiten zu unterstützen und Therapien fortzuführen. Erfolgt die Heimaufnahme nach einem Krankenhausaufenthalt kann die sog. Pflegeüberleitung im Rahmen eines guten Entlassmanagements zum guten Gelingen der Heimaufnahme beitragen. Mitgelieferte Daten können helfen, Pflegeziele kontinuierlich weiterzuverfolgen. Vielfältige Wechselbeziehungen innerhalb der Familien, unterschiedliche Erwartungen der gegenseitigen Rollen und finanzielle Abhängigkeiten bergen mitunter Konfliktpotenzial und bedürfen von allen Seiten einer erfolgreichen Kommunikation. Alten- und Pflegeheime sind trotz zahlreicher Bemühungen immer noch die bedeutendste Sonderwohnform für Ältere (Kuratorium Deutsche Altershilfe 2014). Laut SGB XI haben Pflegebedürftige der Pflegegrade 2–5 Anspruch auf Pflege in vollstationären Einrichtungen. Dabei übernimmt die Pflegekasse im Rahmen der pauschalen Leistungsbeträge pflegebedingte Aufwendungen einschließlich der Aufwendungen für Betreuung und für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege. Pflegebedürftige mit Pflegegrad 1 erhalten zur vollstationären Pflege monatlich einen Zuschuss in Höhe von 125 EUR. Pflegebedürftige in stationären Pflegeeinrichtungen haben auch Anspruch auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung, die über die nach Art und Schwere der Pflegebedürftigkeit notwendige Versorgung hinausgeht. Gelingt es vollstationären Pflegeeinrichtungen, dass ein Pflegebedürftiger nach der Durchführung aktivierender oder rehabilitativer Maßnahmen mindestens sechs Monate in einen niedrigeren Pflegegrad zurückgestuft wird oder er nicht mehr pflegebedürftig ist, erhält diese von der Pflegekasse zusätzlich den Betrag von 2952 EUR. Vollstationäre können wie teilstationäre Pflegeeinrichtungen zusätzliche Betreuungskräfte einstellen, um zusätzliche Betreuungs- und Aktivierungsangebote für Pflegebedürftige mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz zu ermöglichen, z. B. beim Lesen, Basteln, Spazierengehen oder für kulturelle Veranstaltungen. Dadurch sollen betroffene Bewohner mehr Zuwendung und eine höhere Wertschätzung

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E. Peters und S. Köpke

entgegengebracht, mehr Austausch mit anderen Menschen und mehr Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werden.

6

Eingeschränkte Alltagskompetenz

Wie bereits beschrieben erfolgt die Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (PEA) in zwei Schritten: PEA-Screening und PEA-Assessment. Das Screening wird im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung einer Pflegebedürftigkeit bei allen Antragstellern durchgeführt. Das Assessment erfolgt, wenn im Screening mindestens eine Auffälligkeit festgestellt wurde, die in ihrer Ursache auf eine Demenz, psychische Erkrankung oder geistige Behinderung zurückzuführen ist. Laut Pflegestatistik 2017 wiesen 1,2 Mio. (42 %) der anerkannt Pflegebedürftigen eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz auf. Bei weiteren 180.000 Personen lag eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz aber keine Pflegestufe vor. Letztere werden seit 2017 dem Pflegegrad 1 zugeordnet. Der Anteil der Pflegebedürftigen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz in Pflegeheimen liegt bei über 70 % und damit deutlich höher als bei den zu Hause Versorgten mit 31 % (Pflegestatistik 2017b).

6.1

Demenz

Der häufigste Grund für die Anerkennung einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz ist eine Demenz. Sie gilt als wichtige Ursache von Autonomieverlust und Pflegebedürftigkeit im Alter. Da sich das Anfangsstadium wegen der anfänglich zumeist kaum wahrnehmbaren Symptome oft nicht eindeutig von normalen kognitiven Alterungsprozessen abgrenzen lässt, sind Krankheitsbeginn und Überlebenszeiten schwer zu ermitteln. Es wird von einer Unterschätzung der Erkrankungshäufigkeit von bis zu 58,2 % ausgegangen, da ein nicht unerheblicher Teil der Patienten mit Demenz nicht diagnostiziert wird (Lang et al. 2017).

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft schätzt auf der Basis von EuroCoDe-Daten von Alzheimer Europe, dass in Deutschland gegenwärtig fast 1,6 Mio. Demenzkranke leben. Die altersspezifische Prävalenzrate für Demenz in der Bevölkerung steigt von 1,6 % im Alter 65–69 Jahre auf rund 41 % bei über 90-Jährigen (Tab. 4). Fast 70 % der Betroffenen sind Frauen. Die Inzidenzrate (Neuerkrankungsrate) steigt wie die Prävalenzrate (Erkrankungsrate) exponentiell mit dem Alter an. Pro Jahr erkranken hierzulande rund 300.000 Personen neu an Demenz. Die Zahl der Menschen mit Demenzerkrankung hat durch die höhere Lebenserwartung und dem steigenden Anteil Älterer in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Bei gleichbleibender Erkrankungswahrscheinlichkeit und ohne einen Durchbruch in der Therapie oder Prävention, wird sich die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf rund 3 Mio. erhöhen. Dies entspricht einem mittleren Anstieg der Zahl der Erkrankten um 40.000 pro Jahr (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2016). Erfreulicherweise deuten aktuelle Studien auf minimal rückläufige Erkrankungswahrscheinlichkeiten hin. Als Ursachen dafür werden verbesserte Lebensbedingungen, zunehmende Bildung, gesündere Ernährung, höhere Aktivität und erfolgreichere Behandlung von kardiovaskulären Risikofaktoren diskutiert (Doblhammer et al. 2015; Larson et al. 2013). Die progredient verlaufende Demenzerkrankung geht mit zunehmendem Hilfs- und Pflegebedarf einher. Während bei einer leichten Demenz häufig keine ständige Betreuung erforderlich ist und ein eigenständiges Leben mit Einschränkungen möglich sein kann, wird bei einer mittelschweren Demenz zumindest umfassende Betreuung und Anleitung erforderlich. Bei einer schweren Demenz besteht erheblicher Hilfe- und Pflegebedarf. Für ca. 60–80 % der pflegebedürftigen Menschen mit Demenz ist eine Betreuung in einer Demenz-WG oder einem Pflegeheim unausweichlich, da entweder keine Pflegeperson im häuslichen Umfeld zur Verfügung steht oder weil diese den großen Belastungen nicht gewachsen ist. Die Rate der Institutionalisierung ist dabei abhängig sowohl vom sozialen Umfeld (wie der Verfügbarkeit von Kindern oder die eines

Tab. 4 Demenz-Prävalenz nach Geschlecht und Altersgruppen Altersgruppen 65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90 und älter

Mittlere Prävalenz nach EuroCoDe [%] Männer Frauen Insgesamt 1,79 1,43 1,60 3,23 3,74 3,50 6,89 7,63 7,31 14,35 16,39 15,60 20,85 28,35 26,11 29,18 44,17 40,95

Geschätzte Zahl Demenzerkrankter in Deutschland Ende des Jahres 2014 Männer Frauen Insgesamt 34.500 29.800 64.300 66.500 88.500 155.000 124.800 175.300 300.100 137.000 236.300 373.300 100.000 277.400 377.400 44.200 237.500 281.700

Quelle: Alzheimer Europe. EuroCoDe: Prevalence of dementia in Europe. Statistisches Bundesamt. Genesis-Online Datenbank. Fortschreibung des Bevölkerungsstandes: Tabelle12411-0007

52

Versorgungsleistungen in der Pflege

Lebenspartners) und den subjektiv empfundenen Belastungen der Pflegepersonen als auch von Kennzeichen der Erkrankung, vor allem dem Ausmaß „herausfordernden Verhaltens“ (Yaffe et al. 2002).

7

Ausblick

Die Zukunft wird zeigen, ob es gelingt, die Herausforderungen von Pflegebedürftigkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, auch unter ethischen Gesichtspunkten, zu adressieren. Werden sich ausreichend Menschen für pflegerische Aufgaben finden? Oder werden ausländische Fachkräfte rekrutiert, die dann möglicherweise in ihrer eigenen Heimat fehlen? Wird es mit intelligenten Assistenzsystemen und smarten Technologien gelingen, dass Pflegebedürftige bzw. Menschen mit Demenz länger autonom leben können? Auch wenn zwischenmenschliche Kontakte nicht durch die Digitalisierung oder technische Unterstützungssysteme ersetzt werden können, so könnten lernfähige Systeme Pflegebedürftige und Pflegende unterstützen und damit helfen, die Leistungsfähigkeit und Qualität des Gesundheitswesens langfristig zu sichern.

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Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide

53

Bernhard Borgetto, George S. Tomlin, Susanne Max, Melanie Brinkmann, Lena Spitzer und Andrea Pfingsten

Inhalt 1 Begriffliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 1.1 Externe Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 1.2 Interne Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 2

Grundlagen und Handlungskonzeption evidenzbasierter klinischer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644

3

Externe und interne Evidenz in der klinischen Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645

4

Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646

5

Evidenzhierarchien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647

6 Bewertung von Einzelstudien im Modell der Forschungspyramide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 6.1 Zuordnung zu einem der vier Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 6.2 Bestimmung der methodischen Strenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649

B. Borgetto (*) HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] G. S. Tomlin School of Occupational Therapy, University of Puget Sound, Tacoma, USA E-Mail: [email protected] S. Max AG Forschung Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/ Holzminden/Göttingen, Hildesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Brinkmann Fachbereich Informatik, Fachrichtung Therapiewissenschaften, Hochschule Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Spitzer Klinik für Neurologie, Sektion Klinische Kognitionsforschung, Uniklinik RWTH Aachen, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Pfingsten Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften, Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg, Regensburg, Deutschland E-Mail: andrea.pfi[email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_58

643

644

B. Borgetto et al. 6.3 Bewertung der Durchführungsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 6.4 Bewertung der Ergebnisqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 7

Pyramiden-Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652

8

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654

1

Begriffliche Grundlagen

Formen interner Evidenz

• Als personale interne Evidenz wird die Form interner Evidenz bezeichnet, die den klinischen Praktikern als allgemeines Erfahrungswissen und auf den Fall anwendbare Wissensbestände, Urteilskraft und Kompetenzen zu eigen ist. Die personale interne Evidenz hat dabei häufig die Form von tacit knowledge, also stillem oder implizitem Wissen. • Die situative interne Evidenz ist dem Einzelfall und der klinischen Situation inhärent und muss vom Arzt/Therapeuten bzw. dem Behandlungsteam erschlossen werden. Die situative interne Evidenz des Falles, der Person (und ihres Umfelds) wird durch Anamnese, Befunderhebung, Diagnostik, Zielvereinbarung, Evaluation und im Interventionsprozess hervorgebracht. Um einen wissenschaftlichen Beleg im engeren Sinn handelt es sich aber nur, wenn dabei wissenschaftsbasierte Systematiken und Datenerhebungsmethoden eingesetzt werden. Zudem sind die Möglichkeiten und Begrenzungen des Interventionssettings zu berücksichtigen. • Aus der klinischen Perspektive werden dabei auch Erfahrungen, Werte und Präferenzen der Patienten berücksichtigt und so Bestandteil der situativen internen Evidenz. Um die eigenständige Rolle der Patienten im therapeutischen Prozess analysieren zu können, wird im Kontext der Forschungspyramide der Begriff soziale interne Evidenz verwendet.

Das Wort Evidenz ist der englischen Sprache entlehnt. Im Deutschen wird unter Evidenz eine vollständige oder überwiegende Gewissheit verstanden, eine unmittelbar einleuchtende Erkenntnis. Im Sinne der englischen Sprache ist etwas evident, wenn es schlüssig bewiesen wurde. Aufgrund der zunehmend unterschiedlichen Verwendung des Begriffes Evidenz kann als Konsens nur darauf verwiesen werden, dass mit externer Evidenz der wissenschaftliche Beleg gemeint ist, ansonsten aber auf ein mehr oder weniger großes Spektrum an Bedeutungen auch im Kontext der evidenzbasierten Medizin (EbM) bzw. der evidenzbasierten Praxis (EBP) verwiesen wird. Von der externen Evidenz wird meist die interne Evidenz unterschieden (vgl. Kühnlein und Forster 2007; Mangold 2013; Borgetto et al. 2017a).

1.1

Externe Evidenz

Unter externer Evidenz versteht man die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, z. B. von Studien, die die Wirkungen klinischer Interventionen untersuchen, von prognostischen Studien oder von Validierungsstudien. Extern ist die Evidenz in Bezug zu einer aktuellen klinischen Situation, denn fast immer wurden die entsprechenden Studien andernorts, in jedem Fall aber in der Vergangenheit durchgeführt. Externe Evidenz kann also immer nur davon berichten, was in anderen Fällen und zu anderer Zeit wie geholfen (oder auch nicht geholfen) hat.

2 1.2

Grundlagen und Handlungskonzeption evidenzbasierter klinischer Praxis

Interne Evidenz

Der Begriff interne Evidenz ist dagegen bislang nicht einheitlich bestimmt. Meist werden darunter das Ausbildungs- und Erfahrungswissen der Ärzte bzw. Therapeuten, deren persönliches Können und ihre Urteilskraft und die fallbezogenen Informationen aus der Behandlungssituation subsumiert. Da die unterschiedlichen internen Evidenzen in der EbM/EBP eine unterschiedliche Rolle spielen, ist es sinnvoll, sie begrifflich und inhaltlich abzugrenzen:

Der sozialen internen Evidenz, also der Beteiligung der Patienten und ggf. ihrer Angehörigen sollte die gleiche Bedeutung in der klinischen Entscheidungsfindung beigemessen werden wie der personalen internen Evidenz von Ärzten und Therapeuten und der externen Evidenz aus wissenschaftlicher Forschung. Eine genauere und umfassende Begründung, warum einzelne Evidenzarten keine alleinige Entscheidungsgrundlage sein können, ist auf der Grundlage der differenzierten Begrifflichkeit von externer und interner Evidenz möglich.

53

Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide

Externe Evidenz allein ist nicht ausreichend, um in einer klinischen Situation angemessene Entscheidungen zu treffen, denn der individuelle Fall ist immer ein besonderer. Es muss also immer ein Klärungsprozess erfolgen, ob bestimmte Forschungsergebnisse für die aktuelle klinische Situation überhaupt und wenn ja, in welchem Maße relevant und gültig sind. Ein Rückgriff auf Forschungsergebnisse reduziert dann Unsicherheit, wenn Krankheit, Patient und Interventionssituation den Verhältnissen einschlägiger Studien entsprechen und sich so die Chancen und Risiken einer Intervention besser einschätzen lassen. Gänzlich aufheben lässt sich die Entscheidungsunsicherheit dadurch nicht. Die Beurteilung einer klinischen Situation und der Erfolgsaussichten einer Intervention ausschließlich auf der Grundlage personaler interner Evidenz würde gleichermaßen zu kurz greifen: Auch sie ist entstanden – auf der Grundlage von medizinischer bzw. therapeutischer Aus-, Fort- und Weiterbildung – durch die individuelle Erfahrung der klinischen Praktiker mit vorherigen Fällen. Zudem fehlt meist die methodischsystematische Kontrolle der therapeutischen Erfahrung. Die Anzahl und Dauer von Beobachtungen und Erfahrungen sind begrenzt, sie werden selten dokumentiert, die Zahl „erlebter“ seltener Ereignisse ist gering und es ist unsicher, inwieweit Ärzte und Therapeuten bei nicht oder weniger erfolgreichen Therapien und Arzt-/Therapeuten-Wechseln von ihren Patienten (noch) entsprechende Rückmeldungen erhalten. Allein auf der Basis eigener klinischer Erfahrungen entsteht zu leicht eine falsche Sicherheit in der Entscheidungsfindung. Auch aus der situativen internen Evidenz wie z. B. therapeutischen Befunden ergeben sich ohne Bezugnahme auf personale und soziale interne Evidenz (d. h. die Ausbildung/Erfahrung klinischer Praktiker und die Patientenpräferenzen/-erfahrung) und auf externe Evidenz noch keine optimalen klinischen Entscheidungen. Ebenso wenig können aber auch die in der Regel begrenzten und selektiven Patientenerfahrungen und -präferenzen, die soziale interne Evidenz, alleiniges Entscheidungskriterium für oder gegen Therapie-/ Behandlungsoptionen sein – abgesehen davon, dass ein Patient grundsätzlich das Recht hat, eine Intervention unabhängig von deren Evidenzgrundlage abzulehnen. Als klinisches Handlungskonzept für Ärzte und Therapeuten wird die Umsetzung der EbM/EBP häufig in fünf Schritten beschrieben (vgl. Sackett et al. 2000; DNEbM 2011; Cochrane Deutschland 2018):

645

3. Kritische Bewertung der externen Evidenz 4. Anwendung der gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf das klinische Handlungsproblem 5. Evaluation der Effekte des ggf. geänderten Handlungsvollzuges Die einschlägigen Lehrbücher und Handreichungen, die sich meist formal an diesen fünf Schritten orientieren, konzentrieren sich in der Regel auf die Schritte 1–3, d. h. sie elaborieren die methodische Vorgehensweise bei der Transformation einer klinischen Frage in eine Recherchefrage und Suchstrategie und der kritischen Bewertung der gefundenen Studienergebnisse, Reviews und Leitlinien. Die Funktion einer Orientierung der Patientenversorgung im klinischen Alltag kann dieses Konzept jedoch nicht erfüllen, da es wesentliche Fragen der Umsetzung unbeantwortet lässt: • Welcher Aufwand soll und kann in der klinischen Praxis tatsächlich betrieben werden? • Wie und unter welchen Bedingungen wird eine klinische Entscheidung zu einem Problem, das eine so elaborierte und häufig zeitlich aufwändige Vorgehensweise zur kritischen Aufarbeitung von wissenschaftlichen Studien adäquat und im Arbeitsalltag der Routineversorgung umsetzbar erscheinen lässt? • Wie kann eine Integration der gewonnenen neuen Erkenntnisse gleichwertig mit der klinischen Expertise und den Patientenpräferenzen und -werten in Bezug auf das klinische Ausgangsproblem erfolgen? Momentan wird die häufigste und wahrscheinlichste Verbesserung der klinischen Praxis darin liegen, dass einzelne Ärzte und Therapeuten soweit wie möglich mit den methodologischen Prinzipien der EbM/EBP vertraut gemacht werden, sodass sie das, was sie ohnehin im Bereich der eigenen Fort-, Weiterbildung und Spezialisierung tun, noch besser machen können: sich wissenschaftliche Literatur, aber auch Inhalte von Fortbildungen auf eine möglichst kritische und umfassende Weise aneignen. Solange keine angemessenen personellen, sachlichen und finanziellen Voraussetzungen in der Gesundheitsversorgung für die Praxis der EbM/EBP geschaffen werden, wird immer nur so viel externe Evidenz in die klinische Praxis einfließen, wie es die Arbeitsbedingungen, die Motivation und die Kompetenzen der einzelnen Ärzte und Therapeuten zulassen.

Fünf Schritte der Umsetzung

1. Formulierung einer adäquaten Recherchefrage ausgehend von einem klinischen Problem oder einer klinischen Fragestellung 2. Systematische Suche nach externer Evidenz und deren Beschaffung (Fortsetzung)

3

Externe und interne Evidenz in der klinischen Entscheidungsfindung

Damit stellt sich die Frage, wie der Abgleich der Informationen aus der externen und personalen internen Evidenz (einzelner Personen oder professioneller Teams in der Gesund-

646

B. Borgetto et al.

heitsversorgung) mit der situativen internen Evidenz zu einer möglichst realistischen Erfolgseinschätzung führt und die Entscheidungsgrundlage dafür bietet, ob und unter welchen Modalitäten und mit welchem Ziel eine Intervention stattfinden soll. Im Zuge des therapeutischen Prozesses wird die externe Evidenz mit der bereits früher sich abzeichnenden situativen internen Evidenz abgeglichen und in die personale interne und die soziale interne Evidenz eingegliedert: Die Wissensbestände von Arzt/Therapeut und Patient entwickeln sich im Fallverlauf weiter, die Kenntnis von Interventionserfolgen und -misserfolgen verändern die klinische Erfahrung und das Krankheits- und Therapieerleben, schärfen die Urteilskraft und verbessern das klinische Können und das Gesundheits- und Krankheitsverhalten. Die sich im Verlauf verändernde klinische Situation wiederum wirft ggf. neue Fragen an die externe Evidenz auf, die fallbezogen erweitert, spezifiziert oder anders bewertet werden kann: " Der Beschaffungs- und Interpretationsprozess von externer Evidenz ist nie perfekt und endgültig, sondern nur pragmatisch und fallbezogen abschließbar (vgl. Borgetto 2017).

4

Kausalität

Die Angehörigen von Gesundheitsberufen können sich bei ihrer Entscheidungsfindung aber nur an externer Evidenz orientieren, wenn unterstellt oder zumindest die Chance als realistisch angesehen werden kann, dass eine untersuchte Intervention auch in der Praxis den Studienergebnissen entsprechende oder wenigstens ähnliche Interventionsergebnisse bewirkt. Mit anderen Worten: Es geht um eine begründete Zuschreibung von Kausalität in dem Sinne, dass • eine klinische Intervention als Ursache bestimmter erwünschter Gesundheitszustände oder Teilhabemöglichkeiten angesehen werden kann, die zuvor so nicht gegeben waren und • dass dieser kausale Zusammenhang immer wieder in der medizinischen und therapeutischen Praxis repliziert werden kann. Kausalbeziehungen können jedoch nicht direkt beobachtet werden, ihre Geltung kann nur geschlussfolgert werden. Sollen Schlussfolgerungen wissenschaftlich begründet werden, so sind dafür Studien nötig, die geeignet sind, Kausalität nach allgemeinen wissenschaftlichen Regeln nachzuweisen (Kühnel und Dingelstedt 2014). Allerdings kann die Wahrheit von Kausalaussagen auch mit wissenschaftlichen Methoden nie mit absoluter Sicherheit nachgewiesen werden (Popper 1989). Kausalaussagen können sich aber in empirischer For-

schung und Praxis bewähren, wenn sie in Studien nicht widerlegt werden und in der Praxis zu den vorhergesagten Erfolgen führen. " Empirische Studien können also Belege für oder gegen den Geltungsanspruch von Kausalaussagen liefern. Ihre Beweiskraft kann stärker oder schwächer sein, sie hängt von der methodischen Qualität, der Durchführungsqualität und der Ergebnisqualität der Studien ab sowie von der Konsistenz und Komplementarität der Ergebnisse in der Gesamtsicht aller einschlägigen Studien.

Die Anforderung, dass sich die Geltung von Kausalaussagen in empirischer Forschung und in der Praxis bewähren muss, hat zu einer folgenreichen Unterscheidung des Geltungsbegriffs geführt. In unterschiedlichen begrifflichen und inhaltlichen Fassungen hat sich durchgesetzt, zwischen der Geltung von Studienergebnissen innerhalb des Studienkontextes und der Geltung außerhalb des Studienkontextes zu differenzieren (Campbell 1957; Lincoln und Guba 2007; Teddlie und Tashakkori 2009; Grafton et al. 2011; Steering Group of the Campbell Collaboration 2014). Die Geltung der Studienergebnisse innerhalb des Studienkontextes meint im Hinblick auf klinische Interventionen, dass die erhobenen Daten und die gezogenen Schlussfolgerungen unter genau den räumlich-zeitlichen und institutionell-personellen Bedingungen der Studie und für die an der Studie teilnehmenden Klienten gültig sind, d. h. dass Fehlerquellen bei Forschungsmethodik und schlussfolgernder Logik minimiert werden müssen. In dem etablierten quantitativen Methodenverständnis der EbM/EBP wird dieser Aspekt der Geltung mit dem Begriff der internen Validität bezeichnet und durch verschiedene methodische Verfahren angestrebt. In der qualitativen Forschung gibt es für diesen Aspekt dem gleichen Ziel dienende Konzepte und Verfahren, so etwa das Konzept der Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse und Interpretationen. Die Geltung der Studienergebnisse auch außerhalb des Studienkontextes meint, dass diese auch für andere Patienten, zu anderer Zeit, an anderem Ort und unter anderen Bedingungen gültig sind. Dafür müssen Mängel bei der Deskription und die Differenzen zwischen Studienbedingungen und klinischem Alltag minimiert werden. Die quantitative Methodologie in der EbM/EBP kennt hierfür den Begriff der externen Validität. In der qualitativen Forschung ist der Begriff der Übertragbarkeit weit verbreitet. Um den Geltungsanspruch von Studienergebnissen bzw. den darauf basierenden Schlussfolgerungen innerhalb wie außerhalb des jeweiligen Studienkontextes begrifflich zu fassen, ohne sich einseitig auf die zwar ähnliche, im Detail aber doch in der Bedeutung differierende Begriffsbildung entweder der quantitativen oder der qualitativen Forschungsmethodologie zu stützen, orientieren wir uns im Weiteren an dem

53

Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide

entsprechenden Bezugsrahmen von Mixed-Method-Ansätzen. Hier wurde für die Beurteilung der jeweiligen Geltungsansprüche einerseits das Konzept der Inferenzqualität (Geltung innerhalb der Studienkontextes: interne Validität/ Vertrauenswürdigkeit) und andererseits das Konzept der Inferenzübertragbarkeit (Geltung außerhalb der Studienkontextes: externe Validität/Übertragbarkeit) eingeführt (Teddlie und Tashakkori 2009; Grafton et al. 2011). " Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die beste Anwendbarkeit von Studienergebnissen in der klinischen Praxis auf der Absicherung der höchstmöglichen Inferenzqualität und der höchstmöglichen Inferenzübertragbarkeit durch methodisch strenge Studien auf der Basis jeweils geeigneter Forschungsansätze beruht.

Eine Intervention ist in der Regel aber nur eine Ursache unter mehreren, die an dem Zustandekommen eines zukünftigen Gesundheitszustands bzw. Ausmaßes an Teilhabe beteiligt sind und die zudem noch in Wechselwirkung stehen (können). Um die Wirkung bzw. den Wirkungsanteil einer Intervention beurteilen zu können, müssen also meist mehrere Kausalbeziehungen im Zusammenhang gesehen werden (Craig et al. 2008; Cartwright und Munro 2010; Borgetto et al. 2017a). In der Regel können nicht alle relevanten methodischen Prinzipien in einer Studie vereint werden: zum einen schließen sich manche methodischen Vorgehensweisen zur optimalen Sicherung der Inferenzqualität und der Inferenzübertragbarkeit gegenseitig aus, zum anderen setzen sachliche, personelle und finanzielle Rahmenbedingungen forschungspraktische Grenzen. Die Integration externer Evidenz setzt also voraus, dass Studien kritisch bewertet werden, bevor man sich an deren Ergebnissen und Schlussfolgerungen orientiert.

5

Evidenzhierarchien

Eine wichtige orientierende Rolle für die kritische Bewertung externer Evidenz spielen Evidenzhierarchien, wenngleich bislang noch keine allgemein akzeptierte Fassung vorliegt. Eine Evidenzhierarchie besteht aus einer Rangreihe von analytischen Studientypen/-designs, die nach bestimmten Kriterien gebildet wird. Die meisten Evidenzhierarchien sind eindimensional, d. h. nach nur einem zentralen Kriterium und daraus abgeleiteten Unterkriterien konstruiert, klassischerweise ist das die an der quantitativ-experimentellen Logik orientierte interne Validität. Die externe Validität wird diesem Kriterium untergeordnet. Das führt dazu, dass quantitative Beobachtungsstudien trotz in der Regel höherer externer Validität experimentellen Studien wegen deren in der Regel höheren internen Validität hinsichtlich ihrer Aussagekraft

647

untergeordnet bzw. in manchen systematischen Reviews gar nicht berücksichtigt werden. Obwohl es relevante und aussagekräftige qualitative Studien gibt, werden diese bislang gar nicht in klassische Evidenzhierarchien eingeordnet. Die eindimensionale Konstruktionslogik klassischer Evidenzhierarchien führt zu einem unnötigen Verlust an Information und Übertragbarkeit der Studienergebnisse in die Praxis. Um alle verfügbare externe Evidenz in einem Review zu berücksichtigen, müssen alle relevanten Forschungsansätze und Studientypen berücksichtigt und sowohl nach allgemeinen als auch nach spezifischen Vorgehensweisen zur Sicherung der methodischen Strenge bewertet werden. Diese Überlegungen waren der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Forschungspyramide als mehrdimensionale Evidenzhierarchie (Borgetto et al. 2007a, b). Ihr Konstruktionsprinzip ist heute (Borgetto et al. 2017b, c) die gleichwertige Berücksichtigung von Studientypen, die sich an experimenteller bzw. beobachtender Forschungsmethodik einerseits und quantitativer bzw. qualitativer Forschungsmethodik andererseits orientieren. So ergibt sich die theoretische Unterscheidung von vier Forschungsansätzen: Forschungsansätze

• • • •

Quantitativ-experimenteller Forschungsansatz Quantitativ-beobachtender Forschungsansatz Qualitativ-beobachtender Forschungsansatz Qualitativ-experimenteller Forschungsansatz

Für jeden dieser Forschungsansätze gelten sowohl allgemeine als jeweils spezifische Prinzipien und Vorgehensweisen, um eine möglichst hohe methodische Qualität zu erreichen. Die Einordnung einer Studie weiter oben (oder weiter unten) in der Forschungspyramide führt über die methodische Strenge der einzelnen Studien – die Spitze der Aussagekraft externer Evidenz bildet jedoch ein systematischer Pyramiden-Review (Abb. 1). Die Basis analytischer Schlussfolgerungen ist aber die angemessene Beschreibung des Untersuchungsgegenstands. Die Angemessenheit ergibt sich aus ihrer Funktion: Angesichts der an anderer Stelle skizzierten Komplexität vieler klinischer Interventionen, deren Pfadabhängigkeit und Variabilität (vgl. Borgetto et al. 2017a) muss detailliert beschrieben werden was im Rahmen einer Studie wie und warum als Intervention durchgeführt wurde. Nur so kann in analytischen Studien bestimmt werden, was wie gewirkt hat. Angesichts der an anderer Stelle vorgestellten theoretischen Modelle (Borgetto 2017) muss der Anspruch an eine angemessene Beschreibung des Untersuchungsgegenstands auch den raum-zeitlichen und institutionell-personellen Kontext der Intervention und den Lebenskontext der Patienten umfassen.

648

B. Borgetto et al.

Abb. 1 Die Forschungspyramide (Borgetto et al. 2017c, S. 135. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Schulz-Kirchner Verlags)

Detaillierte Beschreibungen von in Studien angewendeten Interventionen, Interventionskontexten und Interventionsfolgen sind aber nicht nur für die Analyse im Rahmen der jeweiligen Studie grundlegend. Sie sind auch eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis angewendet werden können. Fehlt zu der in einer analytischen Studie untersuchten Intervention eine angemessene Deskription, wird die Intervention zu einer „black box“, sodass ein gelungener Kausalitätsnachweis zwar eine (beschränkte) legitimatorische Funktion haben könnte, aber kaum eine die klinische Praxis unterstützende Funktion haben wird (Whyte und Hart 2003). Deskriptive Studien bilden dementsprechend, zusammen mit Studien aus der Grundlagenforschung, die zusammen mit dem mechanism-based reasoning in der EbM/EBP an Bedeutung gewinnen (Howick et al. 2010), die Basis der Forschungspyramide.

6

Bewertung von Einzelstudien im Modell der Forschungspyramide

Für den vermutlich häufigsten Fall der Nutzung von externer Evidenz innerhalb der derzeitigen Bedingungen in der Gesundheitsversorgung, der Rezeption von Ergebnissen ein-

zelner Studien aus wissenschaftlichen Fachzeitschriften, bietet das Modell der Forschungspyramide insbesondere eine einfach durchzuführende Ausgangsbewertung, die auch für die Aussagekraft einer Studie insgesamt orientierenden Charakter hat. " Die Ausgangsbewertung beruht auf zwei Teilschritten: der Zuordnung von Einzelstudien zu einem der Forschungsansätze und der Bestimmung des Studientyps und damit der entsprechenden vorläufigen Evidenzklasse.

6.1

Zuordnung zu einem der vier Forschungsansätze

Wie bereits erläutert, basieren die vier Forschungsansätze im Modell der Forschungspyramide auf den Strukturmerkmalen Gestaltung bzw. Standardisierung (experimentell bzw. beobachtend) und Art der Datenerhebung und -auswertung (quantitativ bzw. qualitativ). Um eine Einzelstudie nach dem Kriterium qualitativ/ quantitativ einordnen zu können, kann sich die Auseinandersetzung mit folgender Leitfrage als hilfreich erweisen: Welche Datensorten werden für die Erfassung von Ursachen und Wirkungen verwendet und wie werden diese ausgewertet?

53

Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide

Quantitative Studien beruhen auf numerischen Daten und deren statistischer Auswertung. Basis qualitativer Studien stellen hingegen nicht-numerische (z. B. verbale) Daten und deren interpretative Auswertung dar. Die Beurteilung, ob es sich um eine experimentelle oder eine beobachtende Studie handelt, kann durch die Beantwortung der Frage, in welchem Umfang die Intervention und ihr Kontext durch die Studienbedingungen initiiert bzw. manipuliert wurde, unterstützt werden. Experimentelle Studien initiieren oder manipulieren die Studienbedingungen und/ oder den Untersuchungsgegenstand, insbesondere die zu untersuchenden Ursachen. Demgegenüber versuchen beobachtende Studien, den Einfluss der Studienbedingungen auf den Untersuchungsgegenstand möglichst gering zu halten. Sind die Merkmale experimentell bzw. beobachtend und quantitativ bzw. qualitativ bestimmt, so kann die Studie einem der genannten vier Forschungsansätze: qualitativexperimentell, qualitativ-beobachtend, quantitativ-experimentell, quantitativ-beobachtend zugeordnet werden. Obwohl die Kriterien beobachtend/experimentell und qualitativ/ quantitativ prinzipiell ein Kontinuum abbilden, ist dies zumeist möglich. Jeder der vier genannten Forschungsansätze konstituiert eine von vier Seiten der Forschungspyramide. Dabei ist allen Seiten gemeinsam, dass die unterste Stufe der externen Evidenz nicht der jeweils am wenigsten aussagekräftige Studientyp ist, sondern die Meinung von einzelnen Experten reflektiert. Je weiter man sich in der Forschungspyramide auf den jeweiligen Seiten nach oben „bewegt“, umso höher ist die methodische Qualität der Studientypen. Die vier Forschungsansätze haben zwar jeweils unterschiedliche Stärken und Schwächen, die sich aus den weiter oben diskutierten methodischen Vorgehensweisen und Prinzipien ergeben und an anderer Stelle ausführlicher diskutiert wurden (Borgetto et al. 2017c), die Zuordnung impliziert aber noch keine Bewertung der Evidenzstärke.

6.2

Bestimmung der methodischen Strenge

Um die „Bewegung“ nach oben in der Forschungspyramide systematisch zu strukturieren, werden in den jeweiligen Forschungsansätzen zunächst Studientypen nach methodischer Strenge hierarchisiert. Dabei beruhen die Hierarchiedimensionen im Modell der Forschungspyramide auf den folgenden methodologischen Kriterien (Borgetto et al. 2017b): • Systematischer Vergleich • Chronologie • Fallauswahl Bei jedem Forschungsansatz werden drei Evidenzklassen (EK) unterschieden, die Einzelstudien mit vergleichbarer Aussagekraft hinsichtlich der untersuchten Kausalaussagen

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zusammenfassen. Hinzu kommen systematische Reviews, die aussagekräftiger als die besten Einzelstudien sind, und Expertenmeinungen, die als Form externer Evidenz, die nicht durch Studien gewonnen wird, am wenigsten aussagekräftig sind. Daraus ergibt sich die folgende Zuordnung von Evidenzklassen und Aussagekraft: EK I (systematische Reviews) = sehr hohe Aussagekraft, EK II = Einzelstudien mit hoher Aussagekraft, EK III = Einzelstudien mit mittlerer Aussagekraft, EK IV = Einzelstudien mit geringer Aussagekraft und EK V (Expertenmeinungen) = sehr geringe Aussagekraft (Abb. 2). Durch die Ausgangsbewertung wird eine vorläufige EK bestimmt, die sich durch die jeweilige Durchführungsqualität und die Ergebnisqualität noch ändern kann. Die Evidenzklassen konstituierenden methodologischen Kriterien werden im Weiteren kurz erläutert.

6.2.1 Systematischer Vergleich Das Kriterium des systematischen Vergleichs ist das wichtigste Kriterium der methodischen Strenge und konstitutiv für alle vier Forschungsansätze der Forschungspyramide. Bei guter Durchführungsqualität ist die Aussagekraft von vergleichenden Studien immer höher einzuschätzen, als die von nicht-vergleichenden Studien. In nicht-vergleichenden, sog. einarmigen Studien werden Wirkungen bei Patienten untersucht, die eine bestimmte Intervention erhalten haben. Vergleichende Studien sind dadurch charakterisiert, dass zusätzlich zu Patienten, bei denen diese Intervention erfolgt, Patienten untersucht werden, bei denen keine Intervention erfolgt oder eine Intervention durch ein Placebo simuliert wird. Verändert sich – im Idealfall – der Gesundheitszustand bei den Patienten positiv, die die Intervention erhalten haben, und bei den Patienten, die als Vergleichsgruppe keine Intervention erhalten haben, nicht (oder verschlechtert sich bei progredienten Erkrankungen sogar), so ist die kausale Aussagekraft der Verbesserung in der Interventionsgruppe größer als ohne Vergleichsgruppe. Dieser Idealfall (methodisch gesehen) ist jedoch in der Therapieforschung nur in Ausnahmefällen zu erwarten, da auch der spontane Krankheitsverlauf meist Änderungen des Gesundheitszustands in der Interventionsund der Kontrollgruppe bewirkt. Gerade chronische Erkrankungen können Remissionsphasen durchlaufen, rezidivieren, spontan ausheilen oder progredient verlaufen. Daher wird in der Regel der Grad der Veränderung in beiden Gruppen verglichen. Wenn es ethisch nicht vertretbar ist, einer der beiden Gruppen jegliche Therapie vorzuenthalten, wird in der Vergleichsgruppe eine Alternativbehandlung durchgeführt. Um einen Kausalschluss ziehen zu können, müssen die untersuchten Fälle und die Intervention vergleichbar im Sinne von hinreichend ähnlich sein. Häufig ist es aber auch das Untersuchungsziel, die Wirkungen von zwei unterschiedlichen Therapieansätzen zu vergleichen.

650

B. Borgetto et al.

Abb. 2 Evidenzklassen (EK) in der Forschungspyramide

6.2.2 Chronologie Das Kriterium der Chronologie ist in der hier präsentierten, aktuellsten Version leitend für beobachtende Studien, es wird – anders als bei früheren Versionen (Borgetto et al. 2015, 2016, 2017c) – bei experimentellen Forschungsansätzen nicht mehr als Konstruktionsprinzip der beiden zugehörigen Evidenzhierarchien verwendet, da entsprechende Studiendesigns nur in wenigen Fällen sinnvoll sind. Die zeitliche Beziehung zwischen einer potenziellen Ursache und einer zeitlich darauffolgenden potenziellen Wirkung gilt für das Erkennen von Kausalität als konstitutiv. Um den Einfluss einer Intervention auf den Gesundheitszustand beobachten zu können, muss der Gesundheitszustand der Person, bei der diese Intervention durchgeführt wird, vor und nach der Intervention bestimmt werden. Diese Bestimmung kann in einer empirischen Studie prospektiv oder retrospektiv erfolgen. Wenn der Gesundheitszustand in einer Studie zeitlich unabhängig voneinander, also an (mindestens) zwei verschiedenen Datenerhebungszeitpunkten, einmal vor und ein weiteres Mal nach der Intervention bestimmt wird, so spricht

man von einer prospektiven Studie bzw. einer Längsschnittstudie. Wird der Gesundheitszustand vor der Intervention zeitgleich mit dem Gesundheitszustand nach der Intervention an einem einzigen Datenerhebungszeitpunkt rückblickend rekonstruiert, so handelt es sich um eine retrospektive Querschnittstudie. Die Durchführung prospektiver Studien ist aufwändiger als die Durchführung retrospektiver Studien, die Qualität der Daten ist dafür jedoch meist besser. Es ist zwar hinsichtlich mancher Aspekte möglich, frühere Gesundheitszustände zu späteren Zeitpunkten zu rekonstruieren, Erinnerungen sind jedoch nicht immer zuverlässig, wenn sie weiter zurückliegende Erlebnisse, Ereignisse und Zustände betreffen und z. B. in einem Interview thematisiert werden sollen. Zudem können bestimmte Datensorten, z. B. Gedächtnisleistung oder Wortschatz, nur zum jeweils interessierenden Zeitpunkt gemessen und nicht – oder wenn, dann nur sehr vage – aus Alltags(selbst-)beobachtungen rekonstruiert werden. Mit der Qualität der Daten nehmen die methodische Strenge und die Geltung von Kausalaussagen zu.

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Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide

Dies trifft insbesondere im Hinblick auf die Rekonstruktion eindeutiger Sachverhalte zu. Die Beurteilung von Sachverhalten kann sich jedoch im Rückblick von der zum gegebenen Zeitpunkt unterscheiden, ohne dass eine der Beurteilungen deshalb als verfälscht oder unzutreffend anzusehen ist. So wird beispielsweise die aktuelle Schmerzstärke häufig in Relation zum stärksten vorstellbaren Schmerz gemessen. Dieser Bezugspunkt kann sich jedoch (krankheits-) biografisch verschieben, sodass ein früherer sehr starker Schmerz angesichts späterer Schmerzerfahrungen im Rückblick als mittlerer Schmerz beurteilt wird. Keine der beiden Beurteilungen ist falsch oder in Bezug zueinander von besserer oder schlechterer Datenqualität, sondern sie konstituieren zwei zutreffende Beurteilungsrealitäten. In diesem Fall stehen prospektive und retrospektive Datenerhebung in einem Ergänzungsverhältnis zueinander. Daher sind prospektive Studien insbesondere bei der Erfassung von eindeutigen Sachverhalten und Fakten als aussagekräftiger einzustufen als retrospektive Studien. Retrospektive Studien können jedoch bei der Erfassung von Einschätzungen und Bewertungen prospektiven Studien gegenüber als gleichwertig hinsichtlich der Aussagekraft eingestuft werden. Die Differenzierung zwischen prospektiven und retrospektiven Studien kommt vor allem bei beobachtenden Studien zum Tragen. Zum einen können Studien- und Interventionskontext natürlich nicht rückwirkend standardisiert werden. Zum anderen werden in experimentellen Studien Daten in der Regel studienbegleitend erhoben, es sei denn finanzielle und praktische Rahmenbedingungen machen dies nicht möglich. Sinnvoll kann es allerdings auch jenseits forschungspraktischer Restriktionen sein, nach Abschluss einer Intervention rückblickend nach (Gesamt-)Einschätzungen von Wirkungen zu fragen (quantitativ oder qualitativ).

6.2.3 Fallauswahl Bei vergleichenden experimentellen Studien ist die Fallauswahl im Sinne der methodischen Gestaltung der Vergleichsgruppen von besonderer Bedeutung. Die Fallauswahl für die Interventions- und die Vergleichsgruppe durch Randomisierung war in der Forschungspyramide bei experimentellvergleichenden quantitativen Studien schon von Anfang an ein unverzichtbares Kriterium für die methodische Strenge. Weiter gefasst als kriteriengeleitete Fallauswahl wird sie nun auch für experimentell-vergleichende qualitative Studien angewendet. Dies bedeutet nicht, dass die kriteriengeleitete Fallauswahl nicht auch in beobachtenden Studien von Bedeutung wäre, sie ist bei diesen aber nicht so zentral, dass sie eine eigene Evidenzklasse bildet. Bei quantitativ-experimentellen Vergleichsgruppen ist die Vergleichbarkeit der Gruppen dadurch herzustellen, dass die Zuweisung der Studienteilnehmer zu der Interventionsgruppe und der Vergleichsgruppe durch Randomisierung erfolgt.

651

Dieses allgemein anerkannte Verfahren benötigt an dieser Stelle keine weitere Erläuterung. Bei qualitativ-experimentellen Vergleichsgruppen kann ebenfalls eine Randomisierung erfolgen, insbesondere, wenn diese mit quantitativexperimentellen Teilstudien kombiniert werden können. Es existieren aber auch weitere Verfahren der bewussten Fallauswahl in der qualitativen Forschungsmethodologie, die einen hohen Erkenntnisgewinn in Bezug auf einen Vergleich ermöglichen können. Zu den Verfahren der bewussten Fallauswahl zählen unter anderem: theoretische Fallauswahl, kriterienorientierte Fallauswahl, qualitative Stichprobenplanung, Auswahl extremer, typischer, abweichender und/oder kritischer usw. Fälle, heterogene Fallauswahl oder homogene Fallauswahl (Schreier 2010). Die genannten Verfahren können auch miteinander kombiniert werden.

6.3

Bewertung der Durchführungsqualität

" Die Beurteilung der Durchführungsqualität einer Studie bezieht sich auf die Optimierung der methodischen Strenge eines Studiendesigns (Borgetto et al. 2017b, c). Sie dient sowohl der Sicherung der Inferenzqualität als auch der Inferenzübertragbarkeit.

Die Beurteilung der Durchführungsqualität von quantitativen Studien erfolgt im Rahmen eines Pyramiden-Reviews von klinischen Studien in Anlehnung an die Konzeption von Pfingsten (2016). Die methodische Strenge von qualitativen Studien wird in Anlehnung an die vier Kriterien der Glaubwürdigkeit qualitativer Sozialforschung von Lincoln und Guba (2007), Kurzfassung: Döring und Bortz (2016, S. 109) vorgenommen. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl von bereits eingeführten Instrumenten, Kriterienübersichten, Konzepten und Checklisten, die (auch) zur Bewertung der Durchführungsqualität von Studien genutzt werden können. Eine Auswahl wird in Tab. 1 kurz vorgestellt. Ziel der Bewertung der Durchführungsqualität von Einzelstudien ist es, festzustellen, ob so gravierende Mängel vorliegen, dass die Studie um bis zu drei Evidenzklassen abgewertet werden muss. Um hier Entscheidungen treffen zu können, ist wissenschaftlicher und klinischer Sachverstand nötig. Die Abwertungen, die ggf. vorzunehmen sind, müssen argumentativ begründet werden, sie sind (zumindest derzeit noch) nicht aus einem wie auch immer gearteten Punktesystem ableitbar.

6.4

Bewertung der Ergebnisqualität

Die abschließende Bestimmung der Evidenzklasse ist davon abhängig, ob nach der Entscheidung über eine Abwertung der Evidenzklasse aufgrund der Durchführungsqualität, aufgrund besonderer Ergebnisqualität eine Aufwertung erfolgen

652

B. Borgetto et al.

Tab. 1 Bewertungsinstrumente/-konzepte zur Durchführungsqualität Instrumente/Konzepte Übergreifend Critical Appraisal Tools (CAT)

Critical Appraisal Skills Programme (CASP)

QATSDD (Quality Assessment Tool for Studies of Diverse Designs) Quantitative Studien Vergleich von Bewertungsinstrumenten für die Studienqualität (DIMDI) Integriertes Synthese- und Bewertungssystem für quantitative Studien in Pyramiden-Reviews PEDro-Skala

STROBE-Statement

Qualitative Studien 4 Kriterien der Glaubwürdigkeit

Critical Review Form – Qualitative Studies (Version 2.0)

Quality in Qualitative Evaluation: A framework for assessing research evidence

Kurzbeschreibung Portal mit einer laufend aktualisierten und verlinkten Übersicht über Instrumente zur kritischen Bewertung von Studien (http://www.unisa.edu.au/Research/SansomInstitute-for-Health-Research/Research/Allied-Health-Evidence/Resources/CAT/) Portal mit Checklisten zur Beurteilung von externer Evidenz, z. B. zur Bewertung von systematischen Reviews, randomisiert kontrollierten Studien, Kohortenstudien, qualitativen Studien etc. (http://www.casp-uk.net/casp-tools-checklists) Bewertungsinstrument, das auf 16 Kriterien zur Qualitätsbewertung basiert, die dann aber unterschiedlich für quantitative, qualitative und mixed-method-Studien operationalisiert bzw. eingesetzt werden (Sirriyeh et al. 2012) Kommentierter Überblick aus der Perspektive der HTA-Berichterstattung des DIMDI zur Studienqualität (Dreier et al. 2010) Bewertungskriterien zur integrierten Bewertung der internen und externen Validität von quantitativ-experimentellen und quantitativ-beobachtenden Studien (Pfingsten 2016, S. 51 ff.) Instrument zum Screening von Studien im Hinblick auf die interne (und teilweise externe) Validität (insbesondere quantitativ-experimentelle Studien) (https://www. pedro.org.au/german/downloads/pedro-scale/) Bewertungskriterien zur Beurteilung der Qualität insbesondere von quantitativbeobachtenden Studien (https://www.strobe-statement.org/index.php?id=strobepublications) Operationalisierung von 4 Gütekriterien der Glaubwürdigkeit qualitativer Forschung und Analogiebildung zu entsprechenden Kriterien der quantitativen Forschung (Lincoln und Guba 2007, Kurzfassung: Döring und Bortz 2016, S. 109) Überarbeitete Version von 2007 zur kritischen Bewertung qualitativer Studien (auf Deutsch liegt derzeit nur die Version von 1998 vor). (https://srs-mcmaster.ca/research/ evidence-based-practice-research-group/#PtlphdaY) Bewertungsfragen und Qualitätsindikatoren für qualitative Studien (2003, in engl. Sprache). https://www.gov.uk/government/publications/government-social-researchframework-for-assessing-research-evidence)

Zugriff auf URL: 04.08.2018

kann oder muss. Es erfolgt also eine Bewertung der Qualität der nachgewiesenen Wirksamkeit bzw. Effektivität. Ist diese besonders deutlich ausgeprägt, so kann die Studie um eine Evidenzklasse aufgewertet werden. Die GRADE Working Group (Guyatt et al. 2011), an die sich das Vorgehen in einem Pyramiden-Review anlehnt, berücksichtigt drei Gründe für eine Aufwertung: ein großer oder sehr großer Effekt, eine nachgewiesene Dosis-Wirkung-Beziehung und das Vorliegen von Confoundern, die den Effekt verringert haben. Nicht aufgewertet wird, wenn die Evidenzlage primär auf Studien mit erhöhtem Verzerrungsrisiko oder inadäquater Präzision beruht oder der Effekt groß, aber nicht statistisch signifikant ist. Bei qualitativen Studien kann die hierarchisch angelegte Typologie von Ergebnissen qualitativer Wirkungsforschung von Kearney (2001) hilfreich sein. Sie schlägt vor, anhand der beiden Kriterien Grad der Komplexität und Grad der Entdeckung Typen von Ergebnissen qualitativer Wirkungsforschung in eine hierarchische Klassifikation einzuordnen (Tab. 2). Die Kombination von Komplexität und Entdeckungsgrad kann für die Beurteilung der Ergebnisqualität in einem

Pyramiden-Review allerdings nicht leitend sein. Während Komplexität als eine der Stärken qualitativer Forschung gerade für den Anwendungsbezug der Forschungspyramide gilt, ist der Grad der Entdeckung für die Frage der Aussagekraft von Ergebnissen von geringerer Bedeutung. Wichtiger wäre als Möglichkeit der Steigerung der Ergebnisqualität die Replizierbarkeit von Ergebnissen qualitativer Forschung, die gerade in der von Kearney gering bewerteten Vorgehensweise der Bestätigung von früheren qualitativen Studienergebnissen durch einen a priori-Ansatz besteht. Ergebnisse im Sinne von Typ 1 in Kombination mit den Charakteristika von Typ 4 oder Typ 5 der Typologie könnten eine Aufwertung einer qualitativen Studie aufgrund der hohen Ergebnisqualität begründen.

7

Pyramiden-Reviews

Ziel eines Pyramiden-Reviews ist ein qualitätsgesicherter Überblick über die Studienergebnisse aus den vier Forschungsansätzen, deren Zusammenschau und ein Vergleich der Ergebnisse. Die im Folgenden genannten Schritte sind an

53

Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide

653

Tab. 2 Hierarchie von Ergebnistypen qualitativer Wirkungsforschung (Kearney 2001, Erläuterung wörtl. zit. nach Hansen 2014) Typ Typ 1 Typ 2

Bezeichnung „Findings restricted by a priori frameworks“ „Descriptive categories“

Typ 3

„Shared pathway or meaning“

Typ 4

„Depiction of experimental variation“ „Dense explanatory description“

Typ 5

Erläuterung Beinhaltet Ergebnisse qualitativer Studien, die durch vorab entwickelte, konzeptionelle Bezugsrahmen bestimmt werden Bezeichnet einen niedrigen Grad an Komplexität, der durch eine beschreibende Darstellung von Kategorien erreicht wird Es werden die Zusammenhänge der bisher nebeneinander aufgelisteten Kategorien untersucht. Die Analyse der Beziehungen und Verbindungen ermöglicht es, Neues zu entdecken, und erhöht den Grad der Komplexität und Entdeckung Untersucht, wie Erfahrungen oder Verläufe abhängig von einer individuellen Person und ihrem Kontext variieren Stellt die höchste Stufe der Komplexität qualitativer Ergebnisse dar und beschreibt eine dichte erklärende Beschreibung ausgewählter Phänomene. Auf dieser Stufe werden in detaillierter und facettenreicher Weise komplexe Einflüsse erkennbar, die das Fühlen, Denken und Handeln der Teilnehmer einer Studie, z. B. im Hinblick auf die Wirkungen einer Intervention, beeinflussen

der projektartigen Erstellung von Pyramiden-Reviews mit entsprechenden personellen und sachlichen Ressourcen orientiert, gelten im Prinzip aber auch bei der Beurteilung von externer Evidenz im Rahmen der – mehr oder weniger üblichen – alltäglichen (und nicht unbedingt systematisch recherchierten) Rezeption wissenschaftlicher Literatur und anderer wissenschaftlicher Bildungsinhalte. Ausgangspunkt ist zunächst eine für die klinische Praxis als relevant erachtete Fragestellung. Anhand dieser sind Einzelstudien und Reviews systematisch zu recherchieren und zusammenzustellen. Liegt eine abschließende Liste einzuschließender Studienberichte und Reviews vor, erfolgt wie bereits dargestellt eine

bzw. Effektivität einer Intervention sprechen. Schwieriger wird es, wenn die Ergebnisse widersprüchlich sind. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder schwächen sich die Ergebnisse gegenseitig in ihrer Aussagekraft ab. Quantitative Forschungsergebnisse, auch die von RCTs (randomisierten kontrollierten Studien), können durchaus durch die Ergebnisse qualitativer Studien in Frage gestellt werden. Oder die Forschungsergebnisse der unterschiedlichen Forschungsansätze ermöglichen es, Widersprüche in den Ergebnissen zu erklären und differenzierter weiter zu forschen. Die Verbindung der Evidenz erfolgt also wesentlich durch den systematischen Vergleich der Untersuchungsgegenstände, der angewendeten Forschungsmethoden und der Ergebnisse.

• Ausgangsbewertung des Studientyps, • Bewertung der Durchführungsqualität und • Bewertung der Ergebnisqualität.

8

Jede Studie kann für sich genommen eine hohe Aussagekraft erreichen, aber keine umfassende Beurteilung der Wirksamkeit und der Effektivität einer Intervention ermöglichen. Im Anschluss an die Einzelbewertungen der Studien wird für jeden der vier Forschungsansätze ein systematischer Review der Studien durchgeführt, die Kausalzusammenhänge zwischen Intervention und Gesundheit untersuchen. Der höchste Grad an externer Evidenz – und damit der bestmögliche Beleg für Wissenschaft und Praxis – ist dann gegeben, wenn aus allen vier Forschungsansätzen Studien bzw. systematische Reviews mit hoher Aussagekraft vorliegen, die die Wirksamkeit und die Effektivität von adäquat beschriebenen Interventionen bzw. durch entsprechende deskriptive Studien beschreibbare Interventionen bestätigen und die dem jeweils aktuell höchsten Standard der Methodologie der jeweiligen Forschungsansätze entsprechen – sowohl im Hinblick auf die Angemessenheit der Studientypen bzw. -designs als auch im Hinblick auf die Durchführungsqualität (vgl. Munafò und Davey Smith 2018). Am unproblematischsten ist der Fall, wenn alle Studienergebnisse auf ihre jeweils eigene Weise für die Wirksamkeit

Zusammenfassung und Ausblick

Die Erkenntnisse, die durch eine methodisch geschärfte Rezeption von wissenschaftlicher Literatur auf der Grundlage der Forschungspyramide für die klinische Praxis, Lehre und Forschung gewonnen werden können, dürften die derzeit aussagekräftigsten sein, da sie Evidenz aus unterschiedlichen Forschungsansätzen umfassend berücksichtigen und dennoch methodologisch streng beurteilen. Rezeptartige Schlussfolgerungen, die in der klinischen Praxis unmittelbar umgesetzt werden können, sind aber auch auf der Grundlage eines Pyramiden-Reviews nicht möglich und auch gar nicht das Ziel. Auf individuelle Patienten zugeschnittene und mit ihnen gemeinsam zu treffende Entscheidungen lassen sich in der Gesundheitsversorgung wohl nie direkt aus Studienergebnissen ableiten – zumindest wenn die Interaktion zwischen Arzt/Therapeut (ggf. auch Behandlungsteam) und Patient Teil der Intervention ist, die auf einer Reflexion von externer und situativer, personaler und sozialer interner Evidenz beruht (vgl. Borgetto et al. 2017a). Die in einem Pyramiden-Review zusammengefasste externe Evidenz kann hierbei nur eine Unterstützung bieten, indem sie Ärzte und Therapeuten über die wissenschaftlichen Erkenntnisse informiert (Tomlin und Dougherty 2014). Professionelle Gesund-

654

heitsversorgung in einem modernen Gesundheitssystem besteht in ihrer Grundform unabdingbar aus der Überbrückung der bestehenden Kluft zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dem individuellen Behandlungsfall und seinem Kontext (Borgetto 2009, 2017).

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Teil IX Gesundheitsökonomie

Grundlagen der Gesundheitsökonomik

54

Steffen Flessa

Inhalt 1

Rahmenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657

2 2.1 2.2 2.3

Ausgewählte Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effizienz und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

661 661 663 665

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

Ökonomik ist die Lehre von der Überwindung der Knappheit an Gütern, wobei sie sowohl die Beschreibung (deskriptive Theorie), Erklärung (positive Theorie) und Bewertung (normative Theorie) der Knappheit als auch die Empfehlungen für ihre Überwindung (präskriptive Theorie) umfasst. Als Handlungswissenschaft kommt der Präskription, d. h. der Ableitung von Handlungsempfehlungen für die Überwindung der Knappheit, besondere Bedeutung zu. Die primäre Handlungsempfehlung der Ökonomik ist stets die Effizienz, d. h., die bestmögliche Verwendung der knappen Ressourcen. Die Ökonomie beschreibt dabei das Erkenntnisobjekt („economy“), Ökonomik die entsprechende Wissenschaft („economics“). Gesundheitsökonomik ist folglich die Wissenschaft, die der Überwindung der Knappheit an Gesundheit dient, d. h., alle menschlichen Regelungen, Institutionen und Prozesse zur Bereitstellung von Sachgütern und Dienstleistungen, die die Gesundheit erhalten, fördern oder wieder herstellen sollen, sind Erfahrungsobjekt der Gesundheitsökonomik. Das Erkenntnisobjekt ist die Effizienz des Gesundheitssystems sowie aller ihrer Institutionen (Dienstleister, Märkte, Versi-

S. Flessa (*) Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement, Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland E-Mail: steffen.fl[email protected]

cherungen etc.). Die Gesundheitsökonomik teilt folglich das Forschungsobjekt Gesundheit mit der Gesundheitswissenschaft, ergänzt es jedoch als Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaft um ihr Proprium der Effizienz. Kurz gesagt ist die Gesundheitsökonomik die Wissenschaft von der Verbesserung der Gesundheit durch Effizienz. Zum besseren Verständnis erfordert diese sehr vereinfachte Aussage eine umfassendere Darstellung. Hierzu soll im Folgenden ein gesundheitsökonomisches Rahmenmodell entwickelt werden, aus dem sich die wichtigsten Elemente und Fragestellungen ableiten lassen. Anschließend werden ausgewählte Aspekte vertieft, um exemplarisch das Proprium herauszuarbeiten.

1

Rahmenmodell

Abb. 1 gibt einen Überblick über ein gesundheitsökonomisches Rahmenmodell aus Nachfrage, Angebot und Markt (Henderson 1999; Jack 1999; Breyer et al. 2004; Santerre und Neun 2007). Aus der Bereitstellung von Gesundheitsgütern am Markt leitet sich die Versorgung ab, hier dargestellt als universelle Gesundheitsversorgung (Universal Health Coverage, UHC) (Evans et al. 2013; Reich et al. 2016). Grundlegend ist die Annahme, dass wir in einer Welt der Knappheit leben, d. h. die Nachfrage ist im Normalfall größer als das Angebot. Bei Gesundheitsgütern ist dies offensichtlich, da die umfassende

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_59

657

658

S. Flessa

werden, aber die betroffene Person mag sich dieses Zustandes gar nicht bewusst sein. Beispielsweise ist die Hypertonie eine objektiv feststellbare Krankheit (objektiver Mangel an Gesundheit), aber die Betroffenen fühlen sich durchaus nicht krank, d. h., der objektive Mangel wird subjektiv nicht als Mangel empfunden. Ein subjektiv empfundenes Mangelerlebnis wird als Bedürfnis bezeichnet. Bedürfnisse implizieren dabei stets einen Anreiz, diesen Mangel zu beseitigen, d. h., sie haben Antriebscharakter. Die Gesundheitsökonomik beschäftigt sich folglich mit der Analyse von Krankheiten und Fertilität als Grundlage für die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen. Einen

Gesundheit im Sinne der WHO nirgends erreicht ist (WHO 1948). Als Gesundheitsgüter kommen hierfür sowohl Dienstleistungen (z. B. Behandlung im Krankenhaus) als auch Sachgüter (z. B. Medikamente) und Informationen (z. B. Beratung) in Frage. Alle diese Güter müssen erst produziert werden, d. h., es entsteht Knappheit und Kosten. Abb. 1 zeigt auf der linken Seite die Entstehung der Nachfrage auf. Ausgangspunkt ist ein objektiver Mangel, d. h. eine objektiv feststellbare physische oder psychische Erkrankung bzw. ein regelmäßiger, natürlicher Prozess, der medizinische Hilfeleistungen benötigt (z. B. Geburt). Dieser objektive Mangel an Gesundheit kann von Ärzten gemessen

NACHFRAGE

• Kontakte • Einweisungsrisiko • Verweildauer

Krankheiten

KNAPPHEIT

• •

Prävention Gesundheitserziehung und Community Mobilisation

BEDÜRFNIS

Bevölkerungsdichte

PRODUKTIONSFAKTOREN

Notfälle, Unfälle Saisonalität

Management

• Demografie • Epidemiologie • Transition

ANGEBOT

Notvorhaltung

Distanzbarriere

Transportzeit und • distnaz • Infrastruktur • Mentale Mobilität • Anziehungskraft Kulturelle / natürliche • Barrieren • Präventiv vs. Kurativ

• Input-Basiert • Output-Basiert

BEDARF

• Pflegesätze Gebühren• ordnung • Pauschalen

Qualitätsbarriere

• Öffnungszeiten,

Elastzitäten

Übernachfarge

Personalanwesenheit, Wartezeiten

• Verhalten des Personals • Medikamente, Gebäude, Ausstattung, Sauberkeit • Untersuchungsmodalität

Finanzierungs

PRODUKTION

PRODUKT

Personal Ausstattung Gebäude Standort

Resourcen pro Prozessschritt

Quantität Qualität

Prioritäten

• Nutzen der Gesundheit Nutzen alternativer • Güter Kosten alternativer • Güter

Preisbarriere

• Kosten • Indirekte Kosten • Direkte Kosten • Gebühren • Transport • Nahrung • Einkommen, Vermögen • Transferzahlungen • Krankenversicherung

MARKT - Konkurrenz - Funktionsfähigkeit - Regulierung

NACHFRAGE - Krankheiten und Interventionen - Quantität und Qualität - Regionen

Extend to non-covered

Current pooled funds

Population: wer wird abgedeckt?

Abb. 1 Gesundheitsökonomisches Rahmenmodell

Include other services

Kosten: welche Kosten werden abgedeckt?

Reduce cost sharing and fees

ANGEBOT - Leistungsebene - Serviceprofile - Regionen

: Dienstleistungen welche Leistungen werden abgedeckt?

• Quantität • Qualität • Leistungsbreite • Überweisung

54

Grundlagen der Gesundheitsökonomik

besonderen Schwerpunkt der Forschung stellt dabei die Messung der Effizienz von Prävention und Intervention dar, d. h., die meisten Kosten-Nutzen-Analysen, Kosten-EffektivitätsAnalysen und Kosten-Nutzwert-Analysen (Drummond 2005; Schöffski et al. 2013) messen das Verhältnis des Ressourcenverbrauchs einer Intervention und des objektiven Mangels an Gesundheit, jedoch selten die Auswirkung dieser Intervention auf die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen. Ein naturwissenschaftlich feststellbarer Mangel an Gesundheit ruft nicht automatisch ein Bedürfnis nach Gesundheitsleistungen hervor. Der Mangel muss vom Kranken wahrgenommen werden, damit ein Antrieb zur Bedürfnisbefriedigung entsteht. Der entscheidende Faktor, ob ein objektiver Mangel, d. h. die Abweichung von objektivierbaren Normen physiologischer Regulation bzw. organischer Funktionen, subjektiv wahrgenommen wird, ist hierbei die Gesundheitserziehung bzw. Aufklärung. Andererseits können auch Bedürfnisse bestehen, die auf keinen naturwissenschaftlich feststellbaren Mangel an Gesundheit zurückzuführen sind. Die Effizienz der Aufklärung und Gesundheitserziehung ist folglich ein weiteres Forschungsgebiet der Gesundheitsökonomik, das auf die Erkenntnisse des Marketings zugreifen kann (Hoffmann et al. 2012). Aus Bedürfnissen wird ein Bedarf, wenn das Bedürfnis mit konkreten Gütern konfrontiert wird, die zu der Beseitigung des Mangels dienen können. Dies bedeutet, dass Bedürfnisse im Grunde über alle Zeiten und Kulturen hinweg ähnlich sind, jedoch ganz andere Bedarfe hervorrufen. So werden Rückenschmerzen in China und in Europa als subjektiver Mangel empfunden, und es besteht ein Anreiz, diesen Schmerz zu beseitigen (Bedürfnis). Für die meisten Europäer impliziert dies den Griff zum Schmerzmittel oder den Gang zum Orthopäden. Viele Chinesen hingegen assoziieren mit Rückenschmerzen automatisch Akupunktur, weil sie dies so von frühester Kindheit an gelernt haben. Europäer und Chinesen haben dasselbe Bedürfnis, das konkrete Gut jedoch, auf das die Hoffnung der Bedürfnisbefriedigung gesetzt wird, unterscheidet sich. Es ist wiederum Aufgabe der Gesundheitserziehung bzw. Aufklärung, den Patienten darüber zu informieren, welche Gesundheitsdienstleistungen für seine Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stehen, d. h., einen Bedarf zu wecken. Grundsätzlich basiert die Assoziierung eines Bedürfnisses mit einem Bedarf auf Lernerfahrungen, die durch Informationspolitik und insbesondere Werbung eingeleitet und verstärkt werden können. Werden mehrere Regionen des Gehirns gleichzeitig angesprochen (z. B. positive Gefühle und ein konkretes Produkt), so werden diese neuronal vernetzt. Je häufiger und je emotionaler die Verknüpfung ist, desto stärker und unauflöslicher wird die Verbindung, bis sie letztlich als ganz normal empfunden wird. Das menschliche Gehirn hat dann gelernt, dass Rückenschmerzen und Schmerztablette bzw. Akupunktur geradezu identisch sind.

659

Auch hier leistet das Marketing einen Beitrag, um Gesundheitserziehung und Aufklärung zu verbessern, indem Bedürfnisse mit den konkreten, bedürfnisbefriedigenden Gütern verknüpft werden. Der Bedarf an Gesundheitsleistungen wird nur dann zur Nachfrage auf dem Gesundheitsmarkt, wenn genug Kaufkraft vorhanden ist, wenn die Dringlichkeit des Bedarfs im Vergleich zu anderen Bedarfen hoch ist, wenn die Qualität des Angebots adäquat und die Bedarfsdeckung in zumutbarer Entfernung möglich ist. Es wird allgemein anerkannt, dass der Nutzen, den insbesondere die Behandlung lebensbedrohender Krankheiten bringt, sehr hoch ist und dass deshalb die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen hohe Priorität hat. In der konkreten Lebensgefahr zählt nur noch die Behandlung, d. h., alternative Verwendungsmöglichkeiten des Budgets sind irrelevant. Voraussetzung ist hierbei jedoch, dass überhaupt ein ausreichendes Budget des privaten Haushalts für Gesundheitsleistungen besteht bzw. durch Zahlungen der Sozialversicherung unterstützt wird. Deshalb ist die Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen, insbesondere mit Hilfe von Krankenversicherungen, ein Fokus der Gesundheitsökonomik. Zahlreiche neuere gesundheitsökonomische Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Determinanten der Qualität von Gesundheitsdienstleistungen sowie auf die Möglichkeiten, diese zu verbessern (Zieres 2010). Seltener wird jedoch der Zusammenhang zwischen wahrgenommener Ergebnisqualität und Nachfrage diskutiert. Die Qualität bezieht sich dabei nicht nur auf die Qualität des einzelnen Leistungsanbieters, sondern auf die gesamte Prozesskette. Das Ziel einer integrierten Versorgung (nicht gleichzusetzen mit einem Vertrag nach § 140a SGV V) muss – neben der Kostenreduktion – deshalb stets die qualitätssteigernde Optimierung der Prozesskette sein. Hierfür stellt die Ökonomik Erkenntnisse aus der Produktions- und Beschaffungstheorie zur Verfügung. Ein weiterer Filter zwischen Bedarf und Nachfrage ist die Distanz (Reichart 2008). Gesundheitsdienstleistungen erfordern in der Regel die Präsenz des Kunden (und werden deshalb auch als kundenpräsenzbedingende Dienstleistungen bezeichnet), d. h., die Distanz zwischen Nachfrager und Anbieter ist von hoher Relevanz. Je größer die Distanz zwischen dem potenziellen Nachfrager und dem Ort des Angebotes ist, desto weniger wird er bereit sein, aus seinem Bedarf Nachfrage werden zu lassen (Distanzreibungseffekt). Gerade im ländlichen Raum kommt deshalb der Standortplanung, aber auch der Planung der Infrastruktur und mobiler Dienste große Bedeutung zu. Eine flächendeckende Versorgung mit erreichbaren Standorten ist notwendig, weil Gesundheitsdienstleistungen in der Regel persönlich aufgesucht werden müssen. Auf der Angebotsseite (rechts in Abb. 1) erfolgt die Transformation von Produktionsfaktoren in Gesundheitsdienstleis-

660

tungen (Fleßa 2013). Die wichtigsten Produktionsfaktoren sind menschliche Arbeit, Betriebsmittel (z. B. Betten, Gebäude, CTs) und Werkstoffe (z. B. Medikamente, Verbandsmaterial). Sie werden im Gesundheitsbetrieb rekombiniert und verändert, so dass die Dienstleistung entsteht. So verwendet die Pflegekraft ihre Arbeitszeit und Expertise (menschliche Arbeit), eine Liege für den Patienten (Betriebsmittel) sowie Verbandsstoff (Werkstoff), um die Gesundheitsdienstleistung „Verbandwechsel“ zu erzeugen. Sie verbraucht dabei die Produktionsfaktoren (Arbeitszeit, Verbandsstoff) oder nutzt sie (Liege). In jedem Fall stehen die genutzten oder verbrauchten Produktionsfaktoren nicht zeitgleich für andere Verwendungen zur Verfügung, so dass Kosten entstehen. Bei Sachgüterbetrieben werden die Endprodukte gelagert, verkauft und zum Kunden transportiert. Dienstleistungen zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie nicht lageroder transportierbar sind, so dass Produktion und Absatz zusammenfallen (Uno-Actu-Prinzip). Dies impliziert aber auch, dass dem Standort des Gesundheitsdienstleisters eine besondere Rolle zukommt. Der Kunde muss dorthin gelangen, er ist bei der Produktion persönlich anwesend, und die Leistung wird an ihm erbracht. Dienstleistungsprozesse dieser Art sind besonders komplex und erfordern professionelles (Prozess-) Management. Der Gesundheitsbetrieb ist in vielfacher Weise in sein Umsystem eingebunden. So erhält er seine Kunden aus der Bevölkerung, deren Demografie, Epidemiologie, Kaufkraft und Sozialverhalten er als Rahmenfaktum vorfindet. Ausgangspunkt der Nachfrage- und der Angebotsseite ist folglich stets die Bevölkerung. Ökonomik soll der Bevölkerung dienen, ihre Gesundheit ist Grundlage und Ziel allen gesundheitsökonomischen Handelns. Weiterhin benötigt der Gesundheitsbetrieb Finanzen, um die Produktionsfaktoren beschaffen zu können. Betriebsmittel und Werkstoffe müssen gekauft werden, während die Mitarbeiter einen fairen Lohn erwarten. Hierfür benötigt der Gesundheitsbetrieb einen stetigen Fluss finanzieller Mittel, der sowohl von den Patienten als auch den Krankenkassen und dem Staat kommen kann. Hierfür gibt es zahlreiche Varianten, die in der Gesundheitsökonomik ausführlich diskutiert werden. Grundlegend ist die Aussage, dass das Finanzierungssystem eine hohe Bedeutung für die Abläufe auf der Angebotsseite hat. So muss entschieden werden, ob beispielsweise der Staat Teile der Kosten übernimmt (z. B. zahlt in Deutschland das Land die meisten Betriebsmittel der Krankenhäuser), ob alles über die Krankenkassen zu finanzieren ist (wie dies z. B. in Deutschland im vertragsärztlichen Bereich der Fall ist) oder ob ein Teil der Gebühren von den Patienten selbst zu zahlen sind (z. B. sog. „Individuelle Gesundheitsleistungen“, IGeL (Egidi 2008)). Angebot und Nachfrage treffen sich auf dem Gesundheitsmarkt. Die Analyse der Marktprozesse im Gesundheitswesen nimmt breiten Raum in der gesundheitsökonomischen Diskussion ein. Hierbei dominieren zwei Fragestellungen: Ers-

S. Flessa

tens wird erörtert, ob sich auf Gesundheitsmärkten eine effiziente Versorgungssituation (ein sog. Pareto-Optimum) einstellen kann oder ob staatliche Eingriffe aufgrund von Marktversagen nötig sind (Buchholz 2001). Eine weitergehende Diskussion erörtert die Frage, ob eine effiziente Situation überhaupt gesellschaftlich wünschenswert ist oder ob Staatseingriffe nötig werden, um Armutsgruppen den Marktzugang zu ermöglichen. Es stellt sich die Frage, ob der Staat nur die Rahmendaten für das marktliche Geschehen gewährleisten oder ob er direkt in die Marktaktivitäten eingreifen sollte, indem er beispielsweise Preise für Gesundheitsdienstleistungen festsetzt, so dass auch arme Bevölkerungsschichten sich diese leisten können. Unabhängig von der politischen Grundhaltung besteht jedoch (überwiegend) Übereinstimmung, dass Gesundheit kein Gut wie jedes andere ist und Gesundheitsmärkte nicht in jeder Beziehung mit anderen Märkten zu vergleichen sind. Die existenzielle Dimension, der hohe Einfluss von sozialen Krankenversicherungen und der – zumindest in Deutschland als Konsens anzusehende – Anspruch einer Gleichwertigkeit (wenn auch nicht Gleichheit) der Lebensverhältnisse und damit einer Mindestverfügbarkeit existenzieller Leistungen sehen den Staat in der Pflicht, Nachfrage, Angebot und marktliche Koordination stärker zu beeinflussen als dies für viele andere Güter der Fall ist. Inhalt und Intensität der staatlichen Beeinflussung sind jedoch umstritten. Die Weltgesundheitsorganisation definiert als Ziel nationaler und internationaler Gesundheitspolitik zunehmend die Universal Health Coverage (UHC) (WHO 2010; Evans et al. 2013). Nach dieser Zielsetzung soll jeder Mensch den Zugang zu essenziellen Gesundheitsdienstleistungen unabhängig von seinem Einkommen, Vermögen, Standort, Geschlecht, Alter und anderer Parameter erhalten.

Drei Dimensionen der Universal Health Coverage (UHC)

• Bevölkerung: die gesamte Bevölkerung soll Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen erhalten, d. h. auch Menschen im ländlichen Raum und Ältere, die auf öffentlichen Personennahverkehr angewiesen sind. • Dienstleistungen: Die Regierungen müssen eine Basisversorgung definieren, die der Bevölkerung angeboten wird. Das „basic package“ wird sich dabei je nach finanziellen Rahmenbedingungen unterscheiden, sollte jedoch grundlegend Prävention und Kuration der jeweils wichtigsten übertragbaren und chronisch-degenerativen Erkrankungen sowie der mit der Geburt verbundenen Prozesse umfassen. • Zugang: Der Zugang zu den definierten Leistungen soll für die ganze Bevölkerung unabhängig von Standort und Einkommen bzw. Vermögen zugänglich sein. Es wird heute allgemein anerkannt, dass dies für Armutsgruppen nur möglich ist, wenn der (Fortsetzung)

54

Grundlagen der Gesundheitsökonomik

661

Staat hierfür Verantwortung übernimmt, indem er entweder über Steuern Gesundheitsdienstleistungen finanziert (z. B. National Health Service Großbritannien), Sozialversicherungen aufbaut oder direkte Nutzergebühren subventioniert. UHC stellt folglich das Ziel der modernen Gesundheitsökonomik dar, wobei es stets darum geht, effizient zu wirtschaften. Theoretisch kann dies in zweifacher Weise formuliert werden: (1) mit gegebenen Gesundheitsressourcen soll eine möglichst große UHC erreicht werden (Maximumprinzip); (2) eine bestimmte UHC soll mit möglichst wenig Ressourceneinsatz erzielt werden (Minimumprinzip) (Eichhorn und Merk 2015). In der Realität überwiegt im Gesundheitswesen jedoch meist das Maximumprinzip, d. h., Effizienz bedeutet, dass die Gesundheitsressourcen (und -budgets als monetärer Ausdruck der Ressourcen) bestmöglich verwendet werden, so dass möglichst viele Menschen eine im Rahmen bestehender Budgets und medizinischer Technologie bestmögliche Gesundheit erreichen können. In Deutschland dürfte UHC weitestgehend als erreicht gelten, wobei unser Problem darin besteht, dass der UHC-Quader durch die demografische Alterung und den medizinisch-technischen Fortschritt laufend wächst, so dass die Ressourcenbereitstellung, die Finanzierung und die Effizienz ständig an das größere Volumen des Quaders angepasst werden müssen. Im Folgenden werden ausgewählte Fragestellungen des gesundheitsökonomischen Rahmenmodells noch einmal aufgegriffen und vertieft. Es muss jedoch betont werden, dass ökonomische Teilprobleme niemals als unabhängig angeseAbb. 2 Werte- und Zielsystem des Gesundheitswesens (Fleßa und Greiner 2013, Springer, Heidelberg)

hen werden dürfen. Stets geht es um die Steigerung der Effizienz mit dem Ziel einer verbesserten Gesundheit der Bevölkerung. Alle Teilprobleme – und seien sie noch so bedeutend – sind letztlich nur Instrumente zur Zielerreichung des Gesamtsystems.

2

Ausgewählte Fragestellungen

2.1

Effizienz und Ziele

In der Diskussion des Rahmenmodells wurde mehrfach der Begriff Effizienz verwendet, ohne ihn hinreichend zu definieren oder seine Sinnhaftigkeit darzustellen. Abb. 2 gibt einen Überblick über die Werte und Ziele des Gesundheitssystems. Das oberste Prinzip („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) sowie die zugehörigen Werte (Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität) leiten sich unmittelbar aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ab. Sie sind jedoch so abstrakt, dass sie für gesundheitspolitische Prozesse zuerst in Ziele übertragen werden müssen, die spezifisch, messbar und überschaubar sind. Hierfür eigenen sich die Ziele Wirksamkeit, Nachhaltigkeit, Zugänglichkeit und Partizipation (Fleßa und Greiner 2013). Gesundheitsdienstleistungen sollen vor allem einen positiven Beitrag zur Gesundheit der Menschen leisten, d. h., sie sollen wirksam sein. Dies impliziert, dass diese Dienstleistungen in der richtigen Menge, in der angemessenen Qualität, zur rechten Zeit, am geeigneten Ort und in geeigneter Kombination mit anderen Leistungen angeboten werden. Der Qualität der Gesundheitsdienstleistungen kommt hierbei eine

Solidarität

Zugänglichkeit

Nachhaltigkeit

Voraussetzung

EFFIZIENZ

Wirksamkeit

Ziele

Partizipation

Gerechtigkeit

Werte

Freiheit

Prinzip

Würde

662

und Partizipation sind mit einem gasgefüllten Ballon verbunden. Wird Druck auf einen der Parameter ausgeübt, so hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die anderen Parameter. Wird beispielsweise versucht, die Wirksamkeit zu erhöhen, wird dies ceteris paribus (d. h. bei konstanten Budgets) die Zugänglichkeit, die Teilhabe und die Nachhaltigkeit verschlechtern. Finanzielle Zugänglichkeit (Erschwinglichkeit) und Effektivität sind ein gutes Beispiel für den Konflikt gesundheitspolitischer Ziele. Bei gegebenen Zuschüssen können entweder erschwingliche, aber qualitativ minderwertige Gesundheitsdienstleistungen angeboten werden, oder qualitativ hochwertige Leistungen, die jedoch von der Bevölkerungsmehrheit nicht bezahlt werden können. Bei gegebenen, d. h. knappen Ressourcen muss man sich zwischen Extremen entscheiden oder schmerzhafte Kompromisse eingehen. Auch zwischen einer guten Versorgung heute und morgen muss ein Kompromiss gesucht werden. Eine nachhaltige Gesundheitsversorgung erfordert Investitionen und Wartung, d. h., Ausgaben, die die zur Verfügung stehenden Mittel für die heutige Generation von Patienten reduzieren, um späteren Generationen eine gleichwertige Versorgung zu gewähren. Wiederum besteht ein Zielkonflikt. Abb. 3 zeigt auf, dass eine gleichzeitige Verbesserung der Zielerreichung aller Ziele nur möglich ist, wenn auf alle vier Röhren gleichzeitig Druck ausgeübt wird, so dass die Dichte des Gases steigt. Dies ist ein Bild für die Effizienz. Sie beschreibt allgemein das Verhältnis von Ergebnis und Ressourceneinsatz. Wie oben dargestellt, ist ein System effizient, wenn ein gegebenes Ergebnis mit minimalem Ressourceneinsatz (Minimumprinzip) oder ein maximales Ergebnis mit gegebenem Ressourceneinsatz (Maximumprinzip) erreicht wird (Eichhorn und Merk 2015). Vereinfacht gesagt, ist die

Zugänglichkeit

Wirksamkeit

Partizipaton

besondere Bedeutung zu. Billige, aber qualitativ ungenügende und damit wirkungslose Medizin und Pflege kann kein gesundheitspolitisches Ziel sein. Darüber hinaus sollen Gesundheitsdienstleistungen für die Bevölkerung zugänglich sein, d. h., es sollen keine Barrieren bestehen, die verhindern, dass aus einem Bedarf eine Nachfrage wird. Wie in Abb. 1 gezeigt, sind die geringe Qualität, die fehlende Kaufkraft und die räumliche Distanz die wichtigsten Barrieren. In Deutschland kommt der räumlichen Zugänglichkeit eine zunehmende Bedeutung zu, da die Versorgung im ländlichen, peripheren Raum immer schwieriger wird (vgl. Abschn. 2.3). Effektivität und Erschwinglichkeit dürfen sich nicht nur auf die Patienten heute beziehen, sondern müssen auch zukünftige Generationen berücksichtigen. Auch für sie müssen adäquate Gesundheitsdienstleistungen angeboten werden. Deshalb müssen diese Ziele um das Ziel der Nachhaltigkeit ergänzt werden. Ganz allgemein versteht man unter Nachhaltigkeit die Fähigkeit eines offenen Systems, sein Energieniveau auf Dauer mindestens zu erhalten. Vereinfacht gesagt: Auch zukünftige Patientengenerationen sollen mindestens dieselbe Quantität und Qualität an Gesundheitsdienstleistungen erhalten können wie die jetzige Generation. Dies erfordert Wartung, Reinvestitionen sowie Aus- und Weiterbildung. Schließlich sollte ein Gesundheitswesen auch partizipativ sein, um dem Verfassungswert der Freiheit zu entsprechen. Partizipation ist stets ein zweiseitiger Prozess, nämlich einerseits das „Teilhabenlassen anderer an dem, was man ist, hat und tut“, andererseits das „Teilhabenkönnen aller Beteiligten oder Betroffenen an den durch diese Strukturen begründeten Mächten, Rechten, Befugnissen und Gütern“ (Rich 1991). Die Betroffenen sollen folglich Entscheidungsbefugnisse erhalten und über ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Versorgung und ihre Zukunft selbst entscheiden dürfen. Es muss hierbei zwischen aktiver und passiver Partizipation unterschieden werden. Erstere beschreibt das selbstständige Einbringen in Prozesse, während letztere bereits von Partizipation spricht, wenn Entscheidungsträger legitimiert werden. So ist beispielsweise die Ausübung des Wahlrechtes eine Form passiver Partizipation, da die Gewählten für die Wahrnehmung ihrer Aufgabe zum Wohl des Wählenden legitimiert werden. Aktive und passive Partizipation sowie das Recht, sich für eine von beiden zu entscheiden, entsprechen dem Freiheitswert, wie er oben beschrieben wurde. Es ist offensichtlich, dass weder in der Liste der Werte noch der Ziele der Gesundheitspolitik der Begriff Effizienz erscheint. Die Effizienz als Proprium der Gesundheitsökonomik wird nur relevant, da die Ziele Wirksamkeit, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Partizipation unter dem Vorbehalt der Knappheit erstrebt werden und damit um dieselben Ressourcen konkurrieren, d. h., es treten Zielkonflikte auf. Abb. 3 illustriert dies anhand des Beispiels kommunizierender Röhren. Wirksamkeit, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit

S. Flessa

Nachhaltigkeit Abb. 3 Zielkonflikte (Fleßa 2012). Mit freundlicher Genehmigung des Oldenbourg-Verlags

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Grundlagen der Gesundheitsökonomik

663

Effizienz der Quotient aus (gewichteten) Outputs und (gewichteten) Inputs, wie die folgende Formel verdeutlicht. Pm Outputs j¼1 wj  xj ¼ Pn E¼ ! Max! Inputs i¼1 vi  yi mit xj yi wj vi m n

Quantität des Outputs j, j=1..m Quantität des Inputs i, i=1..n Gewicht des Outputs j Gewicht des Inputs i Zahl der Outputfaktoren Zahl der Inputfaktoren

Als Gewicht der Inputfaktoren kann man die jeweiligen Faktorpreise verwenden, so dass der Nenner die Kosten darstellt. Ausgangspunkt jeder Effizienzbetrachtung sind deshalb die Kosten des Systems oder Prozesses. Das grundlegende Problem der Effizienzanalyse ist jedoch regelmäßig die Bestimmung der Gewichte der Outputfaktoren. Die Gewichte der Outputfaktoren sind entweder physisch messbare Einheiten (z. B. Mortalität), dann entspricht der Quotient einer Kosten-Wirksamkeits-Analyse. Oder er wird monetär bewertet (z. B. über Zahlungsbereitschaft), dann entspricht der Quotient einer Kosten-Nutzen-Analyse. In jedem Fall drückt der Quotient die Effizienz aus. Abb. 4 verdeutlicht das Prinzip der Effizienz anhand einer Produktionsmöglichkeitskurve. Sie ist der geometrische Ort aller Kombinationen der Gesundheit von Individuum A und Individuum B, die bei einer gegebenen Produktionstechnologie möglich sind. Die Punkte auf der Kurve (z. B. 1 bis 5) Ha (1) (2)

(3)

(6)

sind effizient (Pareto-optimal), da eine Verbesserung der Gesundheit von A nur durch eine Verschlechterung der Gesundheit von B erreicht werden kann. Alle Punkte oberhalb der Kurve sind technisch nicht möglich, während alle Punkte unterhalb zwar technisch möglich, jedoch nicht effizient sind. Beispielsweise kann im Punkt (6) eine Verbesserung der Situation von A oder von B auftreten, ohne dass dem jeweils anderen etwas genommen wird. Die Situation (6) stellt eine Ressourcenverschwendung dar. Die Erreichung der gesundheitspolitischen Ziele Wirksamkeit, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Partizipation kann folglich durch zwei Maßnahmen gleichzeitig verbessert werden. Erstens kann die Verschwendung von Ressourcen reduziert werden. So führt der Einsatz von modernen Materialwirtschaftssystemen in Krankenhäusern dazu, dass weniger Medikamente verderben und entsorgt werden müssen. Die frei werdenden Ressourcen können zur Verbesserung der Behandlung von Patienten (Wirksamkeit), zur Reduktion von Gebühren (Zugänglichkeit), zur Wartung von Anlagen (Nachhaltigkeit) oder zur Etablierung einer Public-privatePartnership verwendet werden (Partizipation), d. h., Effizienz ermöglicht erst die Erreichung der gesundheitspolitischen Ziele. Alternativ kann auch versucht werden, die Produktionsmöglichkeitskurve zu verschieben, z. B. durch den Einsatz effizienterer Technologie. Beispielsweise führt die Umstellung auf mikroinvasive Chirurgie zu einer schnelleren und schmerzärmeren Heilung (Qualität), zu kürzerer Liegezeit (Kosten), zu weniger Folgeerkrankungen (Nachhaltigkeit) und unter Umständen sogar zu einer höheren Partizipation des Patienten, der keine Vollanästhesie benötigt. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine Maßnahme zur Erhöhung der Effizienz des Gesamtsystems, d. h., Effizienz schafft den Spielraum für die Erreichung der gesundheitspolitischen Ziele. Effizienz ist folglich die Voraussetzung zur Erreichung der Ziele Wirksamkeit, Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Partizipation, die wiederum als Maßnahmen verstanden werden können, um die gesellschaftlichen Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu erstreben. Folglich ist Effizienz auch eine Bedingung für diese Grundwerte. Jede Ressource, die verschwendet wurde, steht nicht mehr zur Verteidigung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zur Verfügung.

(4)

2.2

Kosten

Der Nenner der obigen Effizienzformel

(5)

n X

Hb

i¼1

Abb. 4 Produktionsmöglichkeitskurve (Fleßa und Greiner 2013, Springer, Heidelberg)

kann in

vi  yi

664

S. Flessa n X

f i  yi

i¼1

überführt werden, wenn das jeweilige Gewicht durch den Preis (fi) des Produktionsfaktors i ersetzt wird. Damit entspricht der Nenner den Kosten. Jegliche Effizienzbetrachtung und damit die komplette Ökonomik beginnen folglich stets mit einer Analyse der Kosten. Allerdings ist es in der Realität nicht so einfach zu bestimmen, wie hoch die Kosten tatsächlich sind, weil der Kostenbegriff vielschichtig ist. Abb. 5 zeigt die unterschiedlichen Dimensionen des Kostenbegriffes in der Gesundheitsökonomik (Schöffski et al. 2013). Als intangibel werden Kosten bezeichnet, die nicht natürlich in monetärer Form vorliegen bzw. nicht direkt zu Zahlungsströmen führen. Hierzu gehören Leid, Schmerz, Trauer etc. Sie werden häufig als Verlust an Lebensqualität (z. B. in

Form der Quality Adjusted Life Years, QALY) gemessen (▶ Kap. 17, „Gesundheitsbezogene Lebensqualität: Konzepte, Messung und Analyse“). Tangible Kosten können in den Einrichtungen des Gesundheitswesens und in privaten Haushalten auftreten. Im ersten Fall treten sowohl Kernkosten (Prävention, Kuration) als auch weitere Kosten (z. B. Kosten für Forschung, Aus- und Weiterbildung und Administration einer Krankheit) auf. Im zweiten Fall muss zwischen direkten und indirekten Kosten unterschieden werden. Erstere stellen Auszahlungen (z. B. für den Umbau eines Hauses nach einer Behinderung, für eine spezielle Diät bei einer Erkrankung oder für den Transport zur Gesundheitseinrichtung) dar, während letztere Opportunitätskosten implizieren, d. h. Einnahmenreduktion auf Grund von Krankheit. Der Kranke und seine Angehörigen können nicht arbeiten und verlieren dadurch Einkommen bzw. Gehalt.

Krankheitskosten Intangible Kosten

Tangible Kosten

Kosten der Gesundheitsdienste

Weitere Kosten

Kernkosten

Kosten der privaten Haushalte

Direkt

Indirekt

Administration

Prävention

Transport

Ernteausfall

Aus-/ Weiterbildung

Kuration

Unterbringung

Verlust an Arbeitszeit

Gebäudeanpassung

Gehaltsverzicht

Diät

Verlust an Ausbildung

Forschung

Nutzergebühren

Direkte Kosten Abb. 5 Krankheitskosten (Schöffski et al. 2013, Springer, Heidelberg)

Produktionsfunktion Y=Y(K,L)

54

Grundlagen der Gesundheitsökonomik

665

Die Quantifizierung der Kosten ist relativ aufwendig, da häufig keine nationalen Statistiken vorliegen oder diese nicht verlässlich sind. Meist muss man eine Primärerhebung durchführen. Besonders schwierig ist dies für die indirekten Kosten. In Ländern mit einer vollbeschäftigten Wirtschaft kann als Kosten des Arbeitsausfalles der Lohn verwendet werden; in unterbeschäftigten Volkswirtschaften führt der Ausfall der Arbeitskraft jedoch nicht automatisch zu einem Verlust an Produktion. Eine Bewertung der indirekten Kosten ist möglich, bedarf jedoch einer eingehenden Untersuchung. Gängige Ansätze der Gesundheitsökonomik (z. B. HumankapitalAnsatz, Friktionskosten-Methode, Willingness-to-Pay-Methode) erfordern viel Erfahrung. Für die Praxis dürfte die Kostenerhebung ausgewählter Maßnahmen von besonderer Bedeutung sein. Was kostet eine Dialyse wirklich? Was kostet eine Appendektomie? Wie viel eine professionelle Zahnreinigung? Wichtig ist hierbei, die Kostenperspektive zu unterscheiden. Aus Sicht des Patienten fallen vor allem Haushaltskosten an. Der Patient muss zum Leistungsersteller kommen, wofür in der Regel Transportkosten zu veranschlagen sind. Er verliert Arbeitszeit, benötigt Umbauten etc., wobei auch für versorgende und begleitende Angehörige Opportunitätskosten anzusetzen sind. Werden diese Kosten ersetzt oder durch Dritte getragen (z. B. durch die Krankenkasse), so stellen sie keine Kosten für den Patienten dar. Für den Leistungsersteller sind die Kosten die monetär bewerteten Ressourcenverbräuche in seinem Unternehmen, d. h. Arbeitszeit, Materialien und Abschreibung von Gebäuden, Geräten und Fahrzeugen müssen in die Kosten einbezogen werden. Diese Kosten sind nicht identisch mit den Erlösen, die er von den Krankenkassen, Patienten oder dem Staat erhält. Zwar werden in Deutschland die Erlöse so berechnet, dass z. B. das durchschnittliche Krankenhaus damit auskommt, aber viele Krankenhäuser sind eben nicht Durch-

schnitt. Die Erlöse der Leistungsanbieter stellen hingegen Kosten für die Finanzierer (z. B. Krankenkassen, Sozialhilfe etc.) dar, wobei häufig auch weitere Leistungen (z. B. Ausbildungsstätten) durch sie zu finanzieren sind. Schließlich unterscheidet sich die gesellschaftliche Perspektive von den genannten, da für die Gesellschaft die Lebensqualität und die Produktivität der Betroffenen von großer Bedeutung sind. Die unterschiedlichen Perspektiven verlangen folglich abweichende Kostenermittlungen, und die jeweiligen Ergebnisse können nicht einfach addiert werden, da sie teilweise überlappend sind. Eine saubere Kostenermittlung ist aufwendig und erfordert häufig detaillierte Aufzeichnungen. So wird man z. B. für die Berechnung der Kosten einer Operation nicht umhin kommen, detailliert die Zeiten des Personals, die Verbrauchsmaterialien und die OP-Nutzungszeit zu dokumentieren und zu bewerten. Ein grundlegendes Problem der Gesundheitsökonomik besteht derzeit darin, dass viele Ökonomen stark von der Makroperspektive geprägt sind und die filigrane und detaillierte Kostenanalyse vernachlässigen. Entscheidungen fallen dann häufig ohne kostenrechnerische Evidenz. Man könnte auch überspitzt formulieren: Das Unbehagen, das manche Mediziner und Gesundheitswissenschaftler gegenüber der Gesundheitsökonomik empfinden, leitet sich nicht selten weniger vom Fach und seinen Methoden als vielmehr von der Datenqualität mancher gesundheitsökonomischer Studien ab. Eine Investition in verlässliche Kostenrechnungssysteme sollte der Anfang aller ökonomischer Analyse sein.

2.3

Finanzierung

Abb. 6 zeigt Varianten der Finanzierung eines Gesundheitssystems, wobei explizit nicht auf Deutschland alleine fokussiert wird (Laaser und Radermacher 2007; Kutzin et al.

Abb. 6 Finanzierungsoptionen

Soziale Krankenversicherung

Prämien

Prämien

Private Krankenversicherung

GESUNDHEITSEINRICHTUNGEN

Direkte Nutzergebühren

entgelt

Leistungs-

REGIERUNG

Direkter Input

Gesundheitsdienstleistungen

Bevölkerung

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S. Flessa

2010). Grundlegend ist hierbei die Aussage, dass alle Gesundheitsressourcen zuerst von der Bevölkerung erwirtschaftet werden müssen. Die Einschaltung weiterer Institutionen (z. B. des Staates, der Versicherungen etc.) kostet letztlich Ressourcen und ist nur zu rechtfertigen, wenn dies gegenüber den direkten Nutzergebühren erhebliche Vorteile bringt. Der primäre Vorzug einer Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen mit Hilfe des Staates oder einer Versicherung stellt dabei der Risikoausgleich dar. Eine Krankheit stellt ein seltenes Ereignis mit hoher bis katastrophaler Auszahlung dar. Sowohl ein steuerfinanziertes als auch ein Versicherungssystem implizieren eine Absicherung des Individuums vor derartigen Katastrophen, d. h., das Risiko wird gemeinsam getragen. Der Preis hierfür ist, dass die Bevölkerung über Steuern oder Prämien auch die Verwaltung des Staates oder der Versicherung tragen muss. Die meisten Menschen sehen die Befreiung vom Risiko als adäquaten Gegenwert an. Entscheidet man sich für ein System, das zumindest teilweise nicht auf direkten Nutzergebühren basiert, so haben die entsprechenden Institutionen verschiedene Funktionen zu erfüllen (Gottret und Schieber 2006). Sie müssten Finanzmittel akquirieren (z. B. Steuern oder Versicherungsprämien erheben), einen Risikopool betreiben, Gesundheitsdienstleistungen einkaufen und die Qualität der Leistungen überwachen. Dieselben oder andere Institutionen müssen natürlich wiederum die Gesundheitsdienstleistungen erstellen. Die Bündelung dieser Funktionen auf eine oder mehrere Institutionen ermöglichst das Design sehr unterschiedlicher Gesundheitssysteme. In vielen Ländern spielt bis heute der Staat eine große Rolle in der Finanzierung der Gesundheitseinrichtungen (in Europa z. B. in Großbritannien und den skandinavischen Ländern). Wie Abb. 7 zeigt, gibt es hierfür eine Reihe von Varianten. In vielen Ländern wird bis heute primär eine Abb. 7 Varianten der staatlichen Finanzierung für Gesundheitsdienstleistungen

Input-basierte Finanzierung praktiziert, d. h., der Staat gibt Ressourcen (z. B. Personal, Medikamente, Finanzmittel) an die Gesundheitseinrichtungen unabhängig von deren Leistung. Der Ressourcentransfer kann z. B. darin bestehen, dass Personal beim Gesundheitsministerium angestellt ist und dem Gesundheitsdienstleister (teilweise unabhängig von dessen Trägerschaft) kostenlos überlassen wird. Häufig erhalten die Gesundheitsdienstleister auch pauschale MedikamentenKits zugewiesen, die sie nicht bezahlen müssen. Der Umfang der pauschalen Input-Finanzierung hängt von bestimmten Parametern ab, wie z. B. der Bevölkerungszahl im theoretischen Einzugsbereich, der Bettenzahl oder den besonderen Bedürfnissen (z. B. in Gebieten mit speziellen epidemischen Krankheiten). In Ausnahmefällen kann der Input auch ex-post an die Leistungen angepasst werden. Beispielsweise werden die anti-retroviralen Medikamente danach zugewiesen, wie viele Patienten in ein entsprechendes Programm aufgenommen wurden. Grundsätzlich spielt die Quantität oder gar Qualität der Leistung jedoch keine Rolle für die Mittelzuweisung. Dies kann dazu führen, dass Patienten als Störfaktor betrachtet und dementsprechend behandelt werden, da sie keine zusätzlichen Erlöse, wohl aber Kosten verursachen. Alternativ kann man die staatlichen Transfers vom Output eines Gesundheitsdienstleisters abhängig machen, d. h., der Staat zahlt einen vorher festgelegten Preis für jede Leistungseinheit. Als Maßstab der Output-basierten Finanzierung können die Zahl der Patientenkontakte (z. B. in der Ambulanz), der Aufnahmen, der Pflegetage oder sonstiger Leistungseinheiten gelten. Insbesondere im Krankenhaus mit seinem breiten Leistungsspektrum führt eine Bindung der Finanzierung an Aufnahmen oder Pflegetage zu einer Bevorzugung von Patienten mit einfachen Krankheiten bzw. zu langen Liegezeiten. Deshalb wird immer wieder die Berücksichtigung der

Staatliche Gesundheitsfinanzierung Input-basierte Finanzierung

Output-basierte Finanzierung

Bedürfnisse

Aufnahmen

Bevölkerung

Pflegetage

Betten

Fallpauschale



Kombinierte Finanzierung

Pauschalförderung

Gebäude Anlage Materialien

Pflegesätze/ DRGs

Personal Sonstiges

54

Grundlagen der Gesundheitsökonomik

Diagnose, Fallschwere und Komorbiditäten gefordert, so wie dies z. B. bei Diagnosis Related Groups (DRG) der Fall ist. Der Case Mix wäre folglich für den Staat ein Maßstab zur Zuteilung seines Budgets auf die Krankenhäuser. Auch die Bindung an Qualitätskennziffern (p4p, pay-for-performance) wird diskutiert und in einigen Ländern (z. B. Ruanda) praktiziert (Kalk et al. 2010; Ireland et al. 2011). Weiterhin besteht die Möglichkeit, Input- und Outputbasierte Finanzierung zu kombinieren, z. B. indem Vorhalteleistungen (Gebäude, Anlagen) pauschal gefördert und laufende Ausgaben (z. B. Personal, Medikamente) in Abhängigkeit von der Leistung refinanziert werden. Dies würde noch nicht einer dualen Finanzierung nach deutschem Vorbild entsprechen. Vielmehr wäre der Staat noch immer der einzige bzw. primäre Finanzierer, hätte jedoch seine Transfers in eine pauschale und eine leistungsabhängige Komponente geteilt. In Deutschland spielt die Krankenversicherung eine zentrale Rolle in der Gesundheitsfinanzierung, während der Staat primär ordnungspolitische Aufgaben übernimmt. Seit 1883 wurde der Versicherungsschutz so ausgebaut, dass heute von einer UHC auf Basis der gesetzlichen Krankenversicherung (etwas 85 % der Bevölkerung) und der privaten Krankenversicherung (etwa 15 %) auszugehen ist. Die Finanzierungspfade, wie sie in Abb. 7 dargestellt sind, sind auch für die Krankenversicherung relevant, wobei zwischen Allgemeinkrankenhäusern, Rehabilitationskrankenhäusern und dem niedergelassenen Bereich unterschieden werden muss. Allgemeinkrankenhäuser haben zwei Finanzierungsquellen (duale Finanzierung). Der Staat finanziert pauschal die Vorhaltekosten (Gebäude, Anlagen, Fahrzeuge), während die Krankenkassen die laufenden Ausgaben (z. B. Personalkosten, Materialkosten, Heizung, . . .) tragen. Die Entgelte der Krankenkassen werden hierbei nicht mehr nach tagesgleichen Pflegesätzen berechnet, sondern nach Leistungsentgelten für einzelne Fälle. In einem komplexen Algorithmus wird jeder einzelne Fall einer Diagnosis Related Group (DRG) zugeordnet, wobei neben der Hauptdiagnose vor allem die Nebendiagnosen und die Fallkomplexität in die Berechnung einfließen. Das Entgelt richtet sich dann (mit Ausnahmen) nicht mehr nach der Verweildauer, sondern nach der DRG. Wichtig ist, dass das DRG-Entgelt allein den Teil der Krankenkasse umfasst, während die Vorhaltekosten im Rahmen der dualen Finanzierung vom Staat getragen werden. Im Rehabilitationssektor gibt es eine Finanzierung aus einer Hand (Monistik), d. h., der Staat ist keine direkte Finanzquelle für Rehabilitationskrankenhäuser. Sie müssen mit den Entgelten der Krankenkassen alle Kosten, d. h. auch Gebäude, Anlagen und Fuhrpark, abdecken. Im niedergelassenen Bereich kommt die Sondersituation hinzu, dass der einzelne Arzt keine direkte Beziehung zur Krankenkasse des Patienten hat, sondern zur Kassenärztlichen Vereinigung (KV) seiner Region. Jeder Arzt, der Kassenpatienten behandeln und seine Leistungen abrechnen möchte, muss Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) sein. Er rechnet

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gegenüber der KV ab, die wiederum pauschal von der Krankenkasse ein Budget erhält. Die wenigen Ausführungen zeigen auf, wie komplex das Finanzierungssystem des Gesundheitswesens ist. Der Ökonom ist dabei weniger an juristischen Einzelheiten als an den Anreizen interessiert. Jedes System hat Vor- und Nachteile, d. h. positive und negative Anreize für das Verhalten der Individuen. Eine Regelung, die für die Mehrheit positive Auswirkungen hat, mag für einige Betroffene eine unzumutbare Härte darstellen. Andere Regelungen mögen systemschädliches Verhalten fördern. Dabei ist davon auszugehen, dass die Beteiligten im Normalfall danach streben werden, ihre eigenen Vorteile zu suchen. Dies ist nicht verwerflich. Vielmehr erfordert es das ordnungspolitische Eingreifen des Staats, so dass das individuelle Streben des Einzelnen zu einem gesellschaftlichen Optimum geleitet wird.

3

Fazit

" Die Gesundheitsökonomik ist die Lehre von der Beschreibung, Erklärung, Bewertung und Überwindung der Knappheit an Gesundheit durch Effizienz. Das Gegenteil von Effizienz wäre die Verschwendung von knappen Ressourcen – ein zutiefst unethisches Vergeuden von Gütern, die nicht mehr zur Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Nur eine effiziente Gesundheitsversorgung erreicht eine bestmögliche Lebensqualität und Lebenserwartung.

Es besteht allerdings die Gefahr, dass das ökonomische Denken verabsolutiert wird. Gesundheitsökonomik ist eine zentrale Dimension des menschlichen Lebens – nicht mehr und nicht weniger. Andere Sichtweisen – z. B. die medizinische, pflegerische, seelsorgerliche, ingenieurwissenschaftliche – haben ebenfalls ihre Berechtigung. Nur in der Multidimensionalität kann die Realität erkannt werden, und nur in der Kooperation so unterschiedlicher Disziplinen wie Ökonomie, Medizin, Pflege, Psychologie, Theologie, Naturwissenschaft etc. kann das Forschungsfeld Gesundheit erforscht werden und die notwendigen Bedingungen für eine bestmögliche und verantwortete Versorgung entstehen. Die Gesundheitsökonomik leistet dabei einen wichtigen Beitrag für die Erreichung der Ziele des Gesundheitswesens, um die Versorgung der Bevölkerung bei knappen Ressourcen zu verbessern.

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Gesundheitsökonomische Evaluation

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Thomas Hammerschmidt

Inhalt 1 Einleitung: Warum braucht man gesundheitsökonomische Evaluationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 2 Grundlegende Konzepte gesundheitsökonomischer Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 3 Bestimmung von Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 4 Bestimmung von Effekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 5 Bewertung der inkrementellen Kosten-Effektivitäts-Relation (iKER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 6 Besonderheiten der gesundheitsökonomischen Evaluation: Diskontierung und Modellierung . . . 678 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679

1

len Nebenwirkungen von Impfungen gegen diese präventive Einleitung: Warum braucht man gesundheitsökonomische Evaluationen? Maßnahme, während andere eine Impfung zum Schutz vor

Jeder Mensch wünscht sich eine perfekte Gesundheit und bei Erkrankungen eine sofortige Behandlung und Heilung; auch sollten Präventionsmaßnahmen umfassend eingesetzt werden, um Erkrankungen zu verhindern. Die Ressourcen, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, sind allerdings begrenzt, so dass ein Knappheitsproblem besteht. Jeder Euro, der im Gesundheitswesen eingesetzt wird, kann nicht in anderen Bereichen wie im Bildungssystem oder dem Ausbau der Infrastruktur eines Landes eingesetzt werden. Im Gesundheitswesen selbst können Ressourcen unterschiedlich eingesetzt werden. So kann ein Arzt im Krankenhaus operativ, als niedergelassener Arzt Patienten ambulant oder im Pflegeheim betreuen oder im betrieblichen Gesundheitswesen arbeitsmedizinisch tätig werden. Menschen haben zudem unterschiedliche Bedürfnisse. Manche Personen entscheiden sich aus Sorge vor potenziel-

Infektionen wahrnehmen. Unterschiedliche Bedürfnisse implizieren die Frage nach der Allokation, der Zuordnung von Ressourcen zur bestmöglichen Befriedigung der Bedürfnisse. Die Gesundheitsökonomie kann beitragen, das Knappheits- und das Allokationsproblem zu lösen (von der Schulenburg 2012; Scherenberg 2017). Dazu benötigt es eine Analyse des Ressourceneinsatzes, die dem ökonomischen Prinzip folgen soll. Dieses Prinzip besagt, dass entweder mit einem möglichst geringen Ressourceneinsatz ein vorgegebenes Ziel (z. B. Reduktion der Krebsmortalität um 10 %) erreicht wird (Minimalprinzip) oder aus vorgegebenen Ressourcen (z. B. das Jahresbudget der Gesetzlichen Krankenversicherung beim aktuellen Beitragssatz) ein größtmögliches Ziel (z. B. Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung) erreicht werden soll (Maximalprinzip) (Scherenberg 2017). Zu diesem Zwecke können Analysen der Wirtschaftlichkeit von Gesundheitsleistungen herangezogen werden, sog. gesundheitsökonomische Evaluationen. " Definition gesundheitsökonomische Evaluation Unter

T. Hammerschmidt (*) Fakultät für Angewandte Gesundheits- und Sozialwissenschaften, Technische Hochschule Rosenheim, Rosenheim, Deutschland E-Mail: [email protected]

gesundheitsökonomischer Evaluation versteht man die Analyse von Gesundheitsleistungen hinsichtlich des Ressourceneinsatzes (Kosten) und der Effekte der Gesundheitsleistungen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_60

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T. Hammerschmidt

Gesundheitsleistungen können in diesem Zusammenhang alle Maßnahmen sein, die die Gesundheit der Bevölkerung beeinflussen. Man kann darunter Güter verstehen wie medizinische Hilfsmittel oder Arzneimittel, Dienstleistungen wie physiotherapeutische Behandlungen oder ärztliche Diagnosen, innovative Versorgungsformen wie telemedizinische Versorgung oder ganze Gesundheitssysteme. Im Folgenden soll das Konzept von Wirtschaftlichkeit, das den Ressourceneinsatz in Bezug zu den Auswirkungen des Ressourceneinsatzes setzt, beispielhaft anhand der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit des deutschen Gesundheitssystems im Vergleich zu anderen Ländern verdeutlicht werden. Tab. 1 stellt den Ressourceneinsatz gemessen als Gesundheitsausgaben pro Einwohner und ausgewählte Gesundheitsindikatoren dar. Deutschland wird verglichen mit dem OECD-Durchschnitt und zwei weiteren Ländern: Schweden hat mit Deutschland vergleichbar hohe Gesundheitsausgaben; Frankreich ist mit Blick auf die Wirtschaftskraft gut mit Deutschland vergleichbar. Deutschland weist hinsichtlich der Lebenserwartung und Mortalität nach Myokardinfarkten eine mit dem OECD-Durchschnitt vergleichbare Leistungsfähigkeit auf, es werden aber mehr Ressourcen aufgewendet. Deutschland und Schweden investieren pro Einwohner in etwa gleich viel Geld in das Gesundheitssystem. Schweden weist allerdings eine leicht höhere Lebenserwartung und eine deutlich geringere Mortalität nach Herzinfarkten sowie weniger Krankenhauseinweisungen bei chronischen Atemwegserkrankungen auf. In Frankreich sind alle aufgeführten Gesundheitsindikatoren besser als in Deutschland und zudem ist der Ressourceneinsatz wesentlich geringer. Das deutsche Gesundheitswesen ist im Vergleich zu anderen Ländern weniger wirtschaftlich, d. h. das Verhältnis von Ressourcen zu Effekten ist schlechter. Warum sind gesundheitsökonomische Evaluationen von Gesundheitsleistungen überhaupt notwendig? Erstens machen das Knappheits- und das Allokationsproblem wirtschaftliche Überlegungen auch im Gesundheitswesen notwendig: Im Sozialgesetzbuch V für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist daher auch das Wirtschaftlichkeitsgebot formuliert. Gemäß § 12 SGB V müssen Leistungen der GKV „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ (SGB V 2017). Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der ver-

tragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 SGB V nur dann erbracht werden, wenn unter anderem auch die Wirtschaftlichkeit der Methode durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkannt wurde (SGB V 2017). Dies macht zweitens deutlich, dass Patienten, um dessen Bedürfnisse es in der Gesundheitsversorgung geht, offenbar nicht die Wirtschaftlichkeit von Gesundheitsleistungen adäquat beurteilen können, so dass mit dem G-BA ein Gremium der Selbstverwaltung mit dieser Beurteilung beauftragt ist. Grundsätzlich könnte man vermuten, dass Nachfrager und Anbieter von Gesundheitsleistungen durch ihr Verhalten am Markt für Gesundheitsleistungen eine effiziente Allokation erreichen können, ohne dass die Güter durch Institutionen gesundheitsökonomisch bewertet werden müssten. Tatsächlich wäre dies nach volkswirtschaftlichen Überlegungen theoretisch in einem vollkommenden Markt möglich (Engelkamp und Sell 2017). Die Voraussetzungen für einen vollkommenen Markt sind in der Regel für Gesundheitsleistungen nicht erfüllt. Insbesondere sind Gesundheitsleistungen nicht homogen und nicht beliebig austauschbar. Eine hinreichende Markttransparenz herrscht ebenfalls nicht, da es große Informationsasymmetrien gibt. Ärzte können Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln aufgrund ihrer Ausbildung anders bewerten und sich informieren als Patienten. Der Markt für Gesundheitsleistungen ist kein vollkommender Markt im volkswirtschaftlichen Sinn. Dies begründet, dass gesundheitsökonomische Evaluationen bei der wirtschaftlichen Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung eine Rolle spielen sollten. Im deutschen Gesundheitssystem ist eine Beurteilung der Wirtschaftlichkeit explizit nur in geringem Umfang vorgesehen, z. B. bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung. Die Ständige Impfkommission (STIKO) sieht bei der Beurteilung von Impfempfehlungen eine gesundheitsökonomische Evaluation vor und hat entsprechende Methoden definiert (STIKO 2016). § 130b SGB V ermöglicht eine Kosten-Nutzen-Bewertung für neue Arzneimittel (SGB V 2017). In der Mehrheit der europäischen Länder wird eine gesundheitsökonomische Evaluation neuer Arzneimittel regelhaft vor der Erstattungsentscheidung durch das Gesundheitssystem durchgeführt (Panteli et al. 2016). " Das Verhalten von Nachfragern und Anbietern von Gesundheitsleistungen kann das Knappheitsproblem und

Tab. 1 Ressourceneinsatz und Gesundheitsindikatoren (nach OECD 2017) Indikator Ausgaben für Gesundheit je Einwohner* Lebenserwartung bei Geburt, Männer Lebenserwartung bei Geburt, Frauen Krankenhauseinweisungen wegen Asthma und COPD** Mortalität nach akutem Myokardinfarkt** *in US-$, kaufkraftbereinigt **Altersstandardisiert pro 100.000 Einwohner

OECD Durchschnitt 4003 77,9 83,1 236 7,5

Deutschland 5551 78,3 83,1 284 7,7

Schweden 5488 80,4 84,1 184 4,2

Frankreich 4600 79,2 85,5 150 5,6

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Gesundheitsökonomische Evaluation

das Allokationsproblem nicht lösen. Gesundheitsökonomische Evaluationen können zu einem wirtschaftlicheren Gesundheitssystem beitragen.

Das Ziel dieses Kapitels ist, die Grundlagen gesundheitsökonomischer Evaluationen kompakt darzustellen. Es soll befähigen, ökonomische Evaluationen von Gesundheitsleistungen verstehen und bewerten zu können. Dazu werden im nächsten Abschnitt die grundlegenden Konzepte gesundheitsökonomischer Analysen dargestellt. Die beiden folgenden Abschnitte beschäftigen sich detailliert mit der Bestimmung von Kosten und Effekten von Gesundheitsleistungen. Der fünfte Abschnitt beschreibt die Ansätze zur Bewertung der Wirtschaftlichkeit. Gesundheitsökonomen nutzen häufig Modellierungsstudien, deren grundsätzliche Aspekte im sechsten Abschnitt vorgestellt werden.

2

Grundlegende Konzepte gesundheitsökonomischer Evaluationen

Betrachtet man die Auswirkungen von Gesundheitsleistungen, so geht man immer von Patienten in einem bestimmten Ausgangsgesundheitszustand aus, z. B. Patienten mit allergischem Asthma. Bei diesen führen die Atemwegsprobleme zu einer erhöhten Morbidität und eingeschränkter gesundheitsbezogener Lebensqualität. Durch Inanspruchnahme des Gesundheitswesens werden schon jetzt Ressourcen verbraucht, z. B. durch Arztbesuche und Asthmamedikation. Eine Gesundheitsleistung kann eine Hyposensibilisierung gegen die Asthma-verursachenden Allergene sein. Diese Gesundheitsleistung führt ebenfalls zu Ressourcenverbrauch

iKER ¼

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und soll die Erkrankung positiv beeinflussen. Im Endgesundheitszustand nach Abschluss der Hyposensibilisierung ist der Ressourcenverbrauch durch seltenere Arztbesuche und weniger notwendige Asthmamedikation geringer als im Ausgangszustand. Ebenso ist der Gesundheitszustand verbessert. Gesundheitsökonomische Evaluationen analysieren die (Netto-)Kosten [= Kosten der Gesundheitsleistung + Ressourcenverbrauch im Endzustand – Ressourcenverbrauch im Ausgangszustand] der Gesundheitsleistung und den (Netto-)Effekt auf die Gesundheit (Abb. 1). Ein wesentlicher Aspekt jeglicher ökonomischer Entscheidung ist eine vergleichende Bewertung verschiedener Alternativen. Im einfachsten Fall gibt es zwei Alternativen, z. B. den bisherigen Versorgungsstandard und eine neue Gesundheitsleistung, die diesen Versorgungsstandard ersetzen kann. Es stellt sich die Frage nach der Wirtschaftlichkeit der neuen Alternative gegenüber dem bisherigen Standard. In einer gesundheitsökonomischen Evaluation analysiert man die (Netto-)Kosten und (Netto-)Effekte beider Alternativen zunächst separat und setzt diese inkrementell miteinander in Beziehung. Das entscheidungsrelevante Maß für die Wirtschaftlichkeit der neuen gegenüber der bisherigen Gesundheitsleistung ist die inkrementelle Kosten-Effektivitäts-Relation (iKER, ICER = incremental cost-effectiveness-ratio). " Definition iKER Die inkrementelle Kosten-EffektivitätsRelation (iKER) gibt an, wie viel im Vergleich zur bisherigen Gesundheitsleistung eine neue Gesundheitsleistung mehr kostet, um eine zusätzliche Einheit des gesundheitlichen Effektes zu erzielen.

Kosten neue Gesundheitsleistung  Kosten bisherige Gesundheitsleistung : Effekte neue Gesundheitsleistung  Effekte bisherige Gesundheitsleistung

Die iKER kann grafisch in der Kosten-Effektivitäts-Ebene dargestellt werden (Abb. 2, vgl. Schöffski 2012; Scherenberg 2017). Der Ursprung des Koordinatensystems entspricht den Kosten und Effekten der bisherigen Gesundheitsleistung. Es werden nun die Zusatzkosten der neuen im Vergleich zur bisherigen Gesundheitsleistung auf der horizontalen Achse und die Zusatzeffekte auf der vertikalen Achse abgebildet. Eine neue Gesundheitsleistung fällt in der Regel in den rechten oberen Quadranten. In diesem Fall führt die neue Gesundheitsleistung zu höheren Kosten und auch zu besseren Effekten auf die Gesundheit als die bisherige. Nun müssen Entscheidungsträger wie der G-BA bei der Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden entscheiden, ob das Verhältnis der zusätzlichen Kosten zu den zusätzlichen

Effekten noch wirtschaftlich angemessen erscheint – also ob das Gesundheitswesen bzw. die Gesellschaft bereit ist, die zusätzlichen Kosten einer neuen Gesundheitsleistung im Hinblick auf die erzielbaren Effekte zu tragen. Die Steigung der Verbindung zwischen der bisherigen und der neuen Gesundheitsleistung entspricht dem Kehrwert der iKER. Je kleiner die Steigung, umso weniger wirtschaftlich ist die neue Gesundheitsleistung. Fällt die neue Gesundheitsleistung hingegen in den linken oberen Quadranten, so sind die inkrementellen Kosten negativ, d. h. die neue Gesundheitsleistung führt zu geringeren Kosten; zugleich sind die inkrementellen Effekte positiv, d. h. die Gesundheitsleistung führt zu einer Verbesserung der Gesundheit. In diesem Fall dominiert die neue Gesundheitsleistung die bisherige durch geringere Kosten und bessere gesundheitliche Effekte. Im

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T. Hammerschmidt

Abb. 1 Konsequenzen einer Gesundheitsleistung

Abb. 2 Kosten-Effektivitäts-Ebene

rechten unteren Quadranten ist das Verhältnis umgekehrt; die neue Gesundheitsleistung wird dominiert, d. h. sie ist teurer und bringt geringere gesundheitliche Effekte. In beiden Fällen wäre die iKER negativ. Kosten und Effekte von Gesundheitsleistungen können aus verschiedenen Studienperspektiven analysiert werden. Man kann dabei grundsätzlich die Perspektive von Leistungserbringern oder die von Leistungsträgern (teilweise auch Kostenträger genannt) einnehmen. Zu den Leistungserbringern gehören Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, medizi-

nische Versorgungszentren, Ärztenetze, Pflegedienste, Physiotherapeuten oder auch Arbeitgeber z. B. als Anbieter von betrieblichem Gesundheitsmanagement. Bei einer Studie aus Sicht der Leistungserbringer stellt sich vor allem die Frage der betriebswirtschaftlichen Auswirkungen der Gesundheitsleistung auf den Leistungserbringer – hier geht es um den Gewinn durch Auswirkungen auf Umsatz und Kosten und die angebotene Qualität der medizinischen Versorgung durch Auswirkungen auf beispielsweise Therapiedauer, Therapieergebnis oder Komplikationsrate.

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Gesundheitsökonomische Evaluation

Aus der Perspektive der Leistungsträger steht das oben erwähnte Knappheits- und Allokationsproblem im Vordergrund. Zu den Leistungsträgern gehören alle Personen oder Institutionen, die zur Finanzierung der Gesundheitsleistungen beitragen. Leistungsträger sind gesetzliche und private Krankenversicherung (GKV, PKV), andere Sozialversicherungszweige (Renten-, Unfall-, Pflegeversicherung), Arbeitgeber (z. B. durch Lohnfortzahlungen und Arbeitsausfall), der Staat sowie Patienten und Angehörige. Eine alle Leistungsträger umfassende Perspektive wird volkswirtschaftliche oder gesellschaftliche Perspektive genannt (Krauth 2010; Scherenberg 2017). Die gesellschaftliche Perspektive hat den Vorteil, dass alle Kosten und Effekte von Gesundheitsleistungen erfasst werden. Sie ist prioritär in Deutschland empfohlen. Andere Studienperspektiven können durch die jeweilige Entscheidungssituation begründet sein (von der Schulenburg et al. 2007). Der G-BA gibt für Kosten-Nutzen-Bewertungen nach § 35b SGB V beispielsweise die Perspektive der Versichertengemeinschaft der GKV vor und leitet dies aus dem SGB V ab (G-BA 2017). Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG), das Kosten-Nutzen-Bewertung im Auftrag des G-BA durchführt, definiert diese Perspektive als die der Leistungsträger GKV und Patienten (IQWiG 2017). Eine eingeschränkte Perspektive kann zu Fehleinschätzungen der Wirtschaftlichkeit und zu Fehlallokationen führen. Würde beispielsweise durch eine Gesundheitsleistung, die durch die GKV finanziert wird, professionelle und informelle Pflege reduziert, wären die Kosteneinsparungen bei den Leistungsträgern Pflegeversicherung und Angehörigen nicht erfasst und die Wirtschaftlichkeit könnte schlechter bewertet werden als aus der gesellschaftlichen Perspektive. Im europäischen Kontext werden sowohl die gesellschaftliche als auch die Perspektive des Krankenversicherungssystems empfohlen (Braco und Krol 2013; Angelis et al. 2018; ISPOR 2018). " Gesundheitsökonomische Evaluationen analysieren Kosten und Effekte von Gesundheitsleistungen im Vergleich zu anderen Gesundheitsleistungen inkrementell. Das Ergebnis von gesundheitsökonomischen Evaluationen hängt von der Studienperspektive ab. Die primär in Deutschland empfohlene Studienperspektive ist die gesellschaftliche Perspektive, die Kosten und Effekte mit Relevanz für alle Leistungsträger umfasst.

3

Bestimmung von Kosten

Kosten sind mit Geldeinheiten bewerteter Ge- oder Verbrauch von Ressourcen (Krauth 2010; Greiner und Damm 2012). Zur Bestimmung der Kosten ist es zunächst sinnvoll, den Begriff zu klassifizieren. In der Literatur finden sich zwei

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Klassifikationsarten. Zum einen werden tangible und intangible Kosten unterschieden. Tangible Kosten sind solche Ressourcenverbräuche, die mit Preisen in Geldeinheiten bewertet werden können, während intangible Kosten monetär bewertete physische oder psychische Einschränkungen in Folge einer Erkrankung darstellen (Scherenberg 2017; Greiner und Damm 2012). In der Praxis werden intangible Auswirkungen einer Gesundheitsleistung in der Regel auf der Seite der Effekte gemessen (Abb. 1). In diesem Abschnitt werden entsprechend nur die tangiblen Kosten behandelt. Kosten werden zum anderen dahingehend unterschieden, ob sie unmittelbar oder nur mittelbar mit der Gesundheitsleistung und der Erkrankung verbunden sind. Kosten, die unmittelbar mit der Versorgung der Erkrankung verbunden sind, werden direkte Kosten genannt. Dabei kann es sich um medizinische Kosten handeln, die innerhalb des Gesundheitssystems anfallen, oder um nicht-medizinische Kosten, die außerhalb des Gesundheitssystems anfallen (Scherenberg 2017; Schöffski und von der Schulenburg 2012). Zu den direkten medizinischen Kosten werden Arztkontakte, Labortests, Medikamente, Heil- und Hilfsmittel wie auch Krankenhausaufenthalte, Rehabilitationsleistungen oder Dienstleistungen wie häusliche Unterstützung und professionelle Pflege gezählt. Zu den direkten nicht-medizinischen Kosten gehören informelle Pflege durch Angehörige, Fahrkosten zu medizinischen Interventionen, der Zeitaufwand der Patienten und auch Dienstleistungen wie zusätzliche Kinderbetreuungskosten bei Erkrankung von Eltern (Krauth 2010). Kosten, die mittelbar mit der Versorgung der Erkrankung verbunden sind, werden indirekte Kosten genannt. Diese sind externe Effekte der Erkrankung und beziehen sich auf Produktivitätsausfälle in Folge von eingeschränkter Arbeitsproduktivität, Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder vorzeitigem Tod (Krauth 2010). Die Bestimmung der Kosten einer Gesundheitsleistung bei der Versorgung von einer definierten Erkrankungen umfasst vier Prozessschritte (Krauth 2010; Müller et al. 2017): Prozessschritte

1. 2. 3. 4.

Identifikation relevanter Ressourcenverbräuche Messung des Ressourcenverbrauchs Bewertung der verbrauchten Ressourcen Auswertung und Berechnung der Gesamtkosten

Im ersten Schritt werden die relevanten Ressourcenverbräuche identifiziert. Dies geschieht immer auch vor dem Hintergrund der gewählten Studienperspektive. So sind Ressourcenverbräuche für professionelle und informelle Pflegeleistungen irrelevant, wenn die Perspektive der GKV gewählt wird, da die Kosten für Pflegeleistungen durch die Pflegeversicherung bzw. Angehörige getragen werden. Kurzfristige

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Arbeitsunfähigkeiten bis 6 Wochen sind ebenso nicht von Bedeutung für die GKV, da hier die Arbeitgeber die Lohnfortzahlung übernehmen. Um die Ressourcenverbräuche in einer bestimmten Erkrankung und ihrer Behandlung zu identifizieren, bieten sich Primärdatenquellen wie klinische oder epidemiologische Untersuchungen, Befragung von Experten mittels Delphi-Methoden oder Konsusgruppen sowie Leitlinien an. Zusätzlich können Sekundärdatenquellen wie administrative Daten von Krankenversicherungen und Leistungserbringern sowie Daten aus Registern und Statistiken herangezogen werden. Pirk und Schöffski (2012) sowie Zeidler und Braun (2012) beschreiben diese Datenquellen umfassend. Im zweiten Schritt wird der Ressourcenverbrauch gemessen. Dies kann über einen Top-down-Ansatz mit einem Rückgriff auf hochaggregierte Daten aus Statistiken, die auf einzelne Erkrankungen heruntergebrochen werden, oder bottom-up als Erhebung beim einzelnen Patienten geschehen (Müller et al. 2017). Beim Bottom-up-Ansatz führen Patienten beispielsweise prospektiv Patiententagebücher, retrospektiv können Krankenakten analysiert oder Fragebögen zum Ressourcenverbrauch eingesetzt werden. Top-down können administrative Daten von Krankenkassen oder der kassenärztlichen Vereinigungen sowie amtliche Statistiken wie die Krankenhaus-, Arbeitsunfähigkeits- oder Todesursachenstatistik herangezogen werden. Je nach Fragestellung kann es notwendig sein, Ressourcenverbräuche sehr detailliert zu erfassen. Wird beispielsweise eine neue Operationstechnik aus Sicht eines Krankenhauses gesundheitsökonomisch bewertet, ist eine hohe Genauigkeit bei den einzelnen Ressourcenverbräuchen erforderlich, z. B. bei der Erfassung der Dauer der Operation, des Personaleinsatzes während der Operation und auf Station sowie der verbrauchten Materialien. Evaluiert man hingegen aus gesellschaftlicher Perspektive ein neues Medikament, welches das Risiko der Notwendigkeit dieser Operation verringert, so ist eine hohe Genauigkeit hinsichtlich der Häufigkeit des Leistungskomplexes „Operation“ notwendig, nicht aber der detaillierte Ressourcenverbrauch im Zusammenhang mit der Operation. Bei der Messung von Produktivitätsverlusten als indirekte Kosten werden zwei Ansätze unterschieden. Grundsätzlich entsteht durch Krankheit oder Tod ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktivität. Der Humankapitalansatz (HKA) ist ein am potenziellen Arbeitsausfall ausgerichtetes Konzept. Der HKA unterstellt dabei, dass eine Gesundheitsleistung eine Investition in das Humankapital einer Person ist, welches diese Person produktiv im Arbeitsleben einsetzen kann. Stirbt nun beispielsweise eine 40-jährige Person, so bewertet man den gesamten Ausfall an Produktivität bis zum Rentenalter von 67 Jahren als indirekte Kosten. Bei diesem Konzept wird unter anderem vorausgesetzt, dass Vollbeschäftigung herrscht, was unrealistisch ist. Daher wurde ein am tatsächlichen Produktivitätsausfall ausgerichtetes Konzept entwickelt, der Friktions-

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kostenansatz (FKA). Bei Erwerbsunfähigkeit oder Tod wird nur der Arbeitsausfall gemessen, bis der Arbeitsplatz wieder besetzt ist. Der Zeitraum bis zur Wiederbesetzung umfasst eine Fehlzeit, die Friktionsperiode (Ausschreibung der Stelle und Besetzungsdauer) sowie die Einarbeitungszeit. Bei kurzfristigen Arbeitsausfällen wird im HKA ein vollständiger Produktivitätsausfall unterstellt. Im FKA wird davon ausgegangen, dass die durch Krankheit ausgefallene Arbeit teilweise von Kollegen übernommen oder vom Erkrankten nachgeholt wird (Krauth 2010; Scherenberg 2017). Produktivitätsausfälle werden mit dem durchschnittlichen Arbeitnehmerentgelt bewertet (von der Schulenburg et al. 2007). Im dritten Schritt werden die Ressourcen bewertet. Dabei sollten Opportunitätskosten verwendet werden. Diese sind definiert als der entgangene Nutzen für den nächstbesten alternativen Einsatz der Ressource. Ein niedergelassener Arzt, der administrative Aufgaben durchführt, kann nicht zeitgleich Patienten behandeln; die entgangene Entlohnung für die Behandlung stellt seine Opportunitätskosten in dieser Situation dar. In einem vollkommenden Markt entsprechen die Marktpreise den Opportunitätskosten. Obwohl Vergütungssätze keine Marktpreise darstellen, werden sie in der Regel für die Bewertung von Gesundheitsleistungen herangezogen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Gebührenordnungen vor dem Hintergrund ihrer Bestimmung beurteilt werden müssen. So enthalten DRGs als Vergütungsinstrument im Krankenhaus keine Investitionskosten, da diese von den Bundesländern getragen werden. Im ambulanten Bereich weist der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) für gesetzlich Versicherte andere Bewertungssätze als die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) für privat Versicherte auf. Zudem kann der Bewertungssatz in der GOÄ je nach Aufwand der Leistungserbringung noch anpasst werden. Bock et al. (2015) haben entsprechende Bewertungssätze anhand regelmäßig erscheinender öffentlicher Quellen berechnet. Analog zum Detailgrad der Messung des Ressourcenverbrauches werden die Kosten der einzelnen Ressourcen mittels Micro-Costing-Ansatz mit Einzelleistungsbewertung oder mit einem pauschalisierten Bewertungssatz für Leistungskomplexe (Macro-Costing) bewertet. Im obigen Beispiel der detaillierten Ressourcenverbräuche bei einer Operation aus der Krankenhausperspektive zieht man zur Bewertung der Ressourcen das Kostenrechnungssystem des Klinikums mittels Micro-Costing heran. Interessiert wie im zweiten Beispiel nur die Häufigkeit der Operation, so kann zur Bewertung die DRG-Vergütung im Sinne eines Macro-Costing herangezogen werden (Krauth 2010; Müller et al. 2017). Je nach Studienperspektive und notwendiger Genauigkeit – manchmal auch nach Datenverfügbarkeit – können verschiedene Mess- und Bewertungsansätze innerhalb einer Studie verwendet werden. Die Bewertungssätze sollen aus dem gleichen und möglichst aktuellen Jahr stammen, ansonsten mit Inflationsraten nach dem Verbraucherpreisindex angepasst werden.

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Im vierten Schritt werden die erfassten und bewerteten Ressourcenverbräuche aggregiert. In der Ergebnisdarstellung sollten Ressourcenverbrauch, Bewertungssätze und Gesamtkosten möglichst getrennt angegeben werden (von der Schulenburg et al. 2007). Da alle erhobenen Daten einer Kostenmessung statistischer Ungenauigkeit unterliegen oder Preisspannen vorliegen, werden Sensitivitätsanalysen durchgeführt, mit denen der Einfluss der Unsicherheit auf die Kostenbewertung abgeschätzt werden kann. Zusätzlich können Subgruppenanalysen Sinn ergeben, die beispielsweise Kostenunterschiede bei verschiedenen Schweregraden der Erkrankung herausarbeiten. Gesundheitsleistungen können lebensverlängernd wirken. Daher stellt sich die Frage, inwieweit Kosten in der gewonnenen Lebenszeit in gesundheitsökonomischen Evaluationen berücksichtigt werden sollen. Betrachtet man beispielsweise eine neue blutdrucksenkende Therapie, so kann das Risiko potenziell letaler Komplikationen wie Herzinfarkte reduziert werden und die Patienten leben länger als unter der bisherigen Standardtherapie. Die interventionsassoziierten Kosten der Fortführung der blutdrucksenkenden Therapie in den gewonnenen Lebensjahren müssen berücksichtigt werden. Wie sind aber solche Kosten zu behandeln, die durch andere Erkrankungen in der gewonnenen Lebenszeit entstehen, weil der Patient beispielsweise an einer Depression oder einem Diabetes erkrankt? Zu derartigen nicht-interventionsassoziierten Kosten in gewonnenen Lebensjahren gibt es eine kontroverse Diskussion und noch keine abschließenden Empfehlungen. Letztlich sollten, sofern man nicht-interventionsassoziierte Kosten in gewonnenen Lebensjahren berücksichtigt, diese nur netto einfließen, also abzüglich der Produktivitätsgewinne durch die Lebenszeitverlängerung und der Krankenversicherungsbeiträge in der gewonnenen Lebenszeit (Krauth 2010; Greiner und Damm 2012). Zur Bewertung von Kostenanalysen wurde von Müller et al. (2017) eine ausführliche Checkliste entwickelt. " Kosten sind in Geldeinheiten bewerteter Ressourcenverbrauch. Zur Bewertung des Ressourcenverbrauchs werden in der Regel Vergütungssätze wie DRGs für Krankenhausleistungen oder der EBM für ärztliche Leistungen herangezogen. Eine hohe Genauigkeit der Kostenbestimmung sollte bei den Ressourcen, die sich zwischen den Alternativen unterscheiden, die häufig in Anspruch genommen werden oder die bei jeder Nutzung hohe Kosten aufweisen, erfolgen.

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Bestimmung von Effekten

Effekte von Gesundheitsleistungen sind vielfältig. Gesundheitsleistungen können akute Symptome einer Erkrankung lindern und Komplikationen verhindern. Damit wird der Gesundheitszustand positiv beeinflusst und die gesundheitsbezogene

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Lebensqualität steigt. Zudem können Gesundheitsleistungen auch das Mortalitätsrisiko senken und die Lebenserwartung steigern. Betrachtet man beispielsweise die Hypertonie, so sind typische Symptome Schwindel, Herzrasen, Sehstörungen oder Konzentrationsstörungen. Typische Komplikationen sind Herzinsuffizienz, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Niereninsuffizienz. Verschiedene Behandlungen der Hypertonie können unterschiedlich effektiv die Symptome, Komplikationen und Lebensdauer beeinflussen. In klinischen Studien werden verschiedene dieser Effekte untersucht. Gesundheitsökonomische Evaluationen zielen aber darauf ab, Unterschiede zwischen Gesundheitsleistungen in Bezug auf Kosten und Effekte mittels einer inkrementellen Kosteneffektivitätsrelation zu bewerten. Diese iKER setzt ein eindimensionales Maß der Effektivität voraus. Je nach verwendetem Maß der Bestimmung der Effekte werden drei unterschiedliche Formen vergleichender gesundheitsökonomischer Evaluationen unterschieden: Formen vergleichender gesundheitsökonomischer Evaluationen

1. Kosten-Effektivitäts-Analyse (KEA, cost-effectiveness-analysis, CEA, auch Kosten-Wirksamkeitsanalyse) 2. Kosten-Nutzwert-Analyse (KNwA, cost-utility-analysis, CUA) 3. Kosten-Nutzen-Analyse (KNA, cost-benefit-analysis, CBA) In der KEA werden die Effekte in medizinischen Einheiten gemessen. Dies können intermediäre Effekte sein wie beispielsweise die Senkung des Blutdrucks. Solche Effektparameter werden auch Biomarker oder Surrogatparameter genannt. Ihre Aussagekraft liegt in der prinzipiellen Wirksamkeit der Gesundheitsleistung. Es kann aus einer Wirksamkeit hinsichtlich Surrogatparameter aber nicht direkt auf das Ausmaß des vom Patienten wahrgenommenen klinischen Effektes geschlossen werden. Solche klinischen Effekte können die Reduktion von Symptomen, die Zahl symptomfreier Tage, die Reduktion von Komplikationen oder Krankenhauseinweisungen wie auch die Lebensverlängerung sein. Der große Vorteil der Verwendung eines klinischen Effekts in einer KEA ist, dass diese Parameter leicht verständlich und normalerweise mit geringem Aufwand zu messen sind. Es ist wichtig, einen möglichst aussagekräftigen Parameter zu wählen. Der große Nachteil ist, dass bei der Wahl unterschiedlicher Effektivitätsparameter innerhalb einer Indikation verschiedene gesundheitsökonomische Studien nicht vergleichbar sind. Zudem ist der Vergleich zwischen verschiedenen Erkrankungen kaum möglich, wenn dort andere klinische Parameter relevant sind. Studien, die die Kosteneffektivität bei Bluthochdruck in Bezug auf gewonnene Lebensjahre und bei Epilepsie anhand

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anfallsfreier Tage messen, können nicht miteinander verglichen werden. Zudem können Gesundheitsleistungen unterschiedlich wirksam hinsichtlich verschiedener Effekte sein (Büscher und Gerber 2010). Ein Hypertoniemedikament kann akute Symptome besser beeinflussen, ein anderes dafür Komplikationen. Häufig werden deshalb die gewonnenen Lebensjahre als Effektivitätsmaß herangezogen, da die Mortalität die weitreichendste Konsequenz von Erkrankungen ist. Allerdings ist dieses Effektivitätsmaß bei akuten Erkrankungen ohne Mortalitätsrisiko nicht aussagekräftig. Zudem wird die Frage, wie es dem Patienten in der gewonnenen Lebenszeit gesundheitlich geht, nicht berücksichtigt. Trotz all dieser Einschränkungen gehören KEA zu der am häufigsten durchgeführten Form gesundheitsökonomischer Evaluationen (Büscher und Gerber 2010; Schöffski 2012). In der Kosten-Nutzwert-Analyse (KNwA) benutzt man Effektmaße, die diese Probleme umgehen, indem sie die Auswirkungen auf die Gesundheit und die Lebensdauer in einem Index zusammenfassen. Das bekannteste Maß ist das qualitätsgleiche Lebensjahr (QALY = quality-adjusted life-year). Ein QALY ist ein „Jahr bei vollständiger Gesundheit“ und umfasst die Dimensionen der Lebensdauer (quantitativer Aspekt) und der präferenzbasierten Bewertung der Gesundheit (qualitativer Aspekt). Dabei wird die präferenzbasierte Bewertung der Gesundheit auf 1 bei vollständiger Gesundheit und 0 bei Tod normiert. Präferenzbasierte Bewertungen können sich direkt auf den Gesundheitszustand beziehen oder auf die subjektiv wahrgenommene gesundheitsbezogene Lebensqualität dieses Gesundheitszustandes. QALYs werden berechnet durch Multiplikation des qualitativen Nutzens mit der Zeit, die in dem Gesundheitszustand verbracht wird. Empfindet ein Patient seinen Gesundheitszu-

Abb. 3 Konzept der qualitätsgleichen Lebensjahre

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stand präferenzbasiert bei einem Wert von 0,6 und lebt 3 Jahre, so ergibt sich durch Multiplikation 0,63=1,8 QALY (Abb. 3). " Definition QALY Ein QALY (quality-adjusted life-year,

qualitätsgleiches Lebensjahr) entspricht einem Jahr bei vollständiger Gesundheit. Es ergibt sich aus dem Produkt der präferenzbasierten Bewertung eines Gesundheitszustandes mit einer Normierung auf 1 für beste Gesundheit bzw. 0 für schlechteste Gesundheit und der Zeit, die in dem Gesundheitszustand verbracht wird. In Abb. 4 werden zwei Gesundheitsleistungen hinsichtlich der gewonnenen QALYs miteinander verglichen. Durch die neue Gesundheitsleistung werden im ersten Jahr nach Beginn der Therapie QALYs wegen schlechter bewerteter Gesundheit verloren. Danach erfolgt ein Zuwachs an QALYs durch eine bessere Gesundheit bis zum Jahr 5 und danach durch verlängerte Überlebensdauer bis zum Jahr 7. Die Fläche unter der jeweiligen Kurve entspricht den QALYs der jeweiligen Gesundheitsleistung. Die saldierte Fläche zwischen den Kurven entspricht den inkrementell durch die neue gegenüber der alten Gesundheitsleistung gewonnenen QALYs (Abb. 4). Die Grundannahme in einer KNwA ist, dass ein QALY immer gleich zu bewerten ist. Es ist unerheblich, ob ein QALY durch Verbesserungen der Gesundheit oder Verlängerung der Lebenserwartung hervorgerufen wird. Es ist auch unerheblich, ob sich der Gesundheitszustand einer schwer erkrankten Person oder einer leicht erkrankten Person um den gleichen Wert verbessert hat. Die größten Vorteile von Nutzwerten wie QALYs sind, dass alle Effekte von Gesundheitsleistungen auf den Gesundheitszustand und die Lebens-

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Abb. 4 Vergleich zweier Gesundheitsleistungen hinsichtlich gewonnener QALYs

dauer in einem einheitlichen Maß auf Basis der individuellen Präferenzen erfasst werden und über Therapiegebiete hinweg vergleichbar sind. Als Nachteil wird benannt, dass die Erhebung der präferenzbasierten Bewertungen methodisch problematisch ist, z. B. weil keine der Erhebungsmethoden, die weiter unten beschrieben werden, als Standardmethode etabliert ist (Büscher und Gerber 2010). Andere Probleme ergeben sich durch das hohe Aggregationsniveau: Man weiß nicht, ob Lebensverlängerung oder bessere Gesundheit den QALY-Zuwachs hervorrufen. Ältere und behinderte Personen können weniger QALY-Zuwachs erzielen, da sie keine optimale Gesundheit mehr erreichen können, so dass die Verwendung von QALYs möglicherweise diese Personenkreise diskriminiert. Zudem stellt sich die grundlegende Frage, ob gewonnene Lebenszeit bei guter Gesundheit mehr wert ist als bei schlechterer Gesundheit (Schöffski und Greiner 2012). Die KNwA ist dennoch mittlerweile mindestens gleichbedeutend im Vergleich zu KEA, auch weil sie in maßgeblichen Ländern wie England, Schottland und Schweden im Rahmen von Erstattungsentscheidungen für neue Arzneimittel gefordert wird (Angelis et al. 2018) und letztlich ein intuitives Konzept darstellt, Aspekte von Lebensdauer und Gesundheitszustand zu integrieren. Um eine präferenzbasierte Bewertung von Gesundheitszuständen zu ermitteln, werden im Wesentlichen drei nutzentheoretische Messverfahren angewendet, die visuelle Analogskala (VAS), das Standardlotterieverfahren (SG, standard gamble) und das Zeitausgleichsverfahren (TTO, time tradeoff). Bei der VAS ordnen Probanden einen oder mehrere Gesundheitszustände auf einer horizontalen oder vertikalen Linie mit begrenzten Endpunkten bei 0 für den schlechtesten und 100 für den besten Gesundheitszustand ein. Die relative Einordnung zu den Endpunkten gibt die Bewertung des Gesundheitszustandes an. Die VAS ist methodisch am einfachsten und für Probanden gut verständlich. Mit der

VAS wird, da keine Auswahlentscheidung vorgenommen wird, aber eigentlich keine präferenzbasierte Bewertung, sondern lediglich eine Rangordnung erstellt. Beim SG werden Probanden vor eine Auswahlsituation gestellt. Entweder sie verbleiben im zu bewertenden Gesundheitszustand oder sie lassen einen medizinischen Eingriff durchführen, der mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten zur kompletten Heilung oder zum sofortigen Tod führt. Bei hohen Heilungschancen wird der Proband den Eingriff präferieren, bei geringen Erfolgswahrscheinlichkeiten wird er bevorzugen, im zu bewertenden Gesundheitszustand zu verbleiben, weil das Risiko des Todes zu groß ist. Durch Variation wird dann die Erfolgswahrscheinlichkeit bestimmt, bei der der Proband indifferent zwischen den beiden Alternativen ist. Diese Indifferenzwahrscheinlichkeit entspricht dem Nutzen des zu bewerteten Gesundheitszustandes auf einer Skala von 0 (normierter Wert für Tod) und 1 (normierter Wert für komplette Heilung). Auch im TTO werden zwei Alternativen gegeneinander abgewogen. Die eine Alternative ist, für den Rest des Lebens (t Jahre) im zu bewertenden Gesundheitszustand zu bleiben; die andere Alternative ist, komplett geheilt zu werden, dafür aber kürzer (x Jahre) zu leben. x wird nun so lange variiert, bis der Proband indifferent zwischen den beiden Alternativen ist. Dann ist x/t der präferenzbasierte Nutzen des Gesundheitszustandes. SG und TTO sind methodisch aufwändiger und erfordern Abwägungen durch die Probanden, die nicht trivial und nicht alltäglich sind (Scherenberg 2017). Keines der Verfahren ist optimal, und in der Regel ist der Nutzen eines Gesundheitszustandes bei SG höher als bei TTO und bei TTO höher als bei VAS (siehe z. B. Lenert et al. 1998). Die dritte Form der vergleichenden gesundheitsökonomischen Evaluation ist die Kosten-Nutzen-Analyse (KNA). Der Begriff Kosten-Nutzen-Bewertung wird teilweise auch als Oberbegriff für alle Formen der vergleichenden gesundheits-

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ökonomischen Evaluation verwendet. Hier wird der Begriff enger gefasst: In einer KNA werden die gesundheitlichen Effekte genau wie die Kosten monetär bewertet. Dies geschieht auf Basis der Präferenzen der Patienten in ihrer Abwägung zwischen Gesundheit und Geld. Patienten müssen mit geeigneten Methoden direkt oder indirekt angeben, welche Zahlungsbereitschaft sie für die Gesundheitsleistung haben. Der größte Vorteil der Messung der Zahlungsbereitschaft ist, dass Kosten und Nutzen monetär saldiert werden können. Somit ist es möglich anzugeben, ob eine Gesundheitsleistung einen höheren Nutzen – gemessen als Zahlungsbereitschaft – aufweist als sie kostet. Die KNA ist allerdings nicht weitverbreitet, was an nicht ausreichend validierten Methoden zur Messung der Zahlungsbereitschaft und einer generellen Skepsis gegenüber der Bewertung verbesserter Gesundheit in Geldeinheiten liegt (Klose 2002). " Effekte von Gesundheitsleistungen sind vielfältig. Klinische Parameter wie Symptomreduktion oder gewonnene Lebensjahre werden in Kosten-Effektivitäts-Analysen als Effektmaß verwendet. QALYs sind das wichtigste Effektmaß in Kosten-Nutzwert-Analysen.

unterstellten Zahlungsfähigkeit/-willigkeit des Gesundheitswesens. Eine andere Möglichkeit wäre die Zahlungsbereitschaft für QALYs heranzuziehen. Studien, die sowohl die Zahlungsbereitschaft als auch QALYs ermittelt haben, zeigen eine mediane Zahlungsbereitschaft von gut 20.000 EUR pro QALY. Die Varianz ist sehr hoch, und die Zahlungsbereitschaft für ein QALY ist in Studien mit lebensverlängernden Gesundheitsleistungen höher als bei solchen, die den Gesundheitszustand positiv beeinflussen. Die Zahlungsbereitschaft je QALY fällt umso geringer aus, je mehr QALYs gewonnen werden (Ryen und Svensson 2015). Dies verdeutlicht, dass es keine feste Grenze für die Wirtschaftlichkeit einer Gesundheitsleistung anhand eines festen Grenzwertes gibt, sondern dass die Kosteneffektivität für jede Gesundheitsleistung individuell beurteilt werden sollte. Die inkrementelle Kosteneffektivität ist somit eine zusätzliche Information zu medizinischen, epidemiologischen, rechtlichen, sozialen oder ethischen Gesichtspunkten, die bei der Frage von Entscheidungen über die Erstattung bzw. den Preis neuer Gesundheitsleistung ergänzend herangezogen werden kann.

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Bewertung der inkrementellen KostenEffektivitäts-Relation (iKER)

Das Ergebnis einer gesundheitsökonomischen Evaluation ist zumeist eine positive iKER, d. h. es entstehen zusätzliche Kosten, um einen zusätzlichen gesundheitlichen Effekt zu erzielen (rechter oberer Quadrant in Abb. 2). Dann muss die Wirtschaftlichkeit einer neuen im Vergleich zu einer alten Gesundheitsleistung noch beurteilt werden. Soll ein Gesundheitssystem z. B. ein neues Krebsmedikament finanzieren, wenn je zusätzlich gewonnenem QALY zusätzliche Kosten in Höhe von 100.000 EUR entstehen? In manchen Gesundheitssystemen werden zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit mit Blick auf die Frage, ob neue Gesundheitsleistungen finanziert werden sollen, Schwellenwerte herangezogen. In den USA wurde lange Zeit ein Schwellenwert von $50.000 pro gewonnenes Lebensjahr als Grenze für die Wirtschaftlichkeit einer Gesundheitsleistung benannt. Dieser beruhte auf der Kosteneffektivität von Dialyseverfahren bei chronischen Nierenerkrankungen, die im amerikanischen Gesundheitswesen finanziert wurden. Die WHO hat lange Zeit Schwellenwerte genutzt, die sich an einem Vielfachen des Bruttoinlandsproduktes (BIP) pro Kopf eines Landes orientieren (Marseille et al. 2015). Polen nutzt beispielsweise das Dreifache des BIP pro Kopf als Schwellenwert. Für England wird ein Schwellenwert von bis zu 30.000 GBP pro QALY angegeben (Angelis et al. 2018). All diese Schwellenwerte sind mehr oder weniger arbiträr gewählt und verbinden Wirtschaftlichkeit mit einer

Besonderheiten der gesundheitsökonomischen Evaluation: Diskontierung und Modellierung

Zwei Besonderheiten der gesundheitsökonomischen Evaluation sollen hier noch kurz dargestellt werden. Die erste Besonderheit ist die Diskontierung, die notwendig ist, da Kosten sowie Effekte zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen. Eine präventive Maßnahme wie eine Impfung erfordert heute eine Investition, führt aber durch reduzierte Morbidität zu Kosteneinsparungen in der Zukunft. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass Individuen nicht indifferent gegenüber dem Zeitpunkt sind, an dem Kosten und Effekte auftreten. Es wird von einer positiven Zeitpräferenzrate ausgegangen. So möchte man eine Verbesserung der Gesundheit lieber heute als morgen realisieren. In gesundheitsökonomischen Evaluationen werden alle Kosten und Effekte – heutige und zukünftige – auf den aktuellen Zeitpunkt bezogen. Methodisch geschieht dies durch eine Diskontierung (d. h. rechnerisch einer Abzinsung) zukünftiger Kosten und Effekte mit einem bestimmten Diskontierungssatz. Zukünftige Kosten und Effekte werden dadurch auf den heutigen Zeitpunkt bezogen und in ihrem Wert durch die Abzinsung verringert. Die Diskontierung wirkt umso stärker, je weiter die Kosten bzw. Effekte in der Zukunft liegen. Die deutschen Empfehlungen zur gesundheitsökonomischen Evaluation geben eine Diskontierungsrate von 5 % für Kosten und Effekte vor (von der Schulenburg et al. 2007), wenngleich es hinreichende Diskussionen um die Frage gibt, ob Kosten und Effekte mit der gleichen und einer fixen Rate diskontiert werden sollen (Greiner und Schöffski 2012), was in den Augen des IQWiG eine

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normative Werteentscheidung ist. Das IQWiG empfiehlt eine Rate von 3 % (IQWiG 2017). Der Einfluss der Wahl anderer Diskontierungsraten auf die Kosteneffektivität soll in Sensitivitätsanalysen untersucht werden (von der Schulenburg et al. 2007; IQWiG 2017). Im europäischen Ausland werden Diskontierungsraten von 3–5 % verwendet (Angelis et al. 2018). Gesundheitsökonomische Evaluationen nutzen häufig entscheidungsanalytische Modellierungen im Gegensatz zu klinischen Studien, wie sie in der Medizin verwendet werden, um neue Gesundheitsleistungen zu bewerten. Dies ist dadurch begründet, dass viele gesundheitsökonomische Fragestellungen über den begrenzten Zeitraum klinischer Studien hinausreichen. Häufig werden in klinischen Studien nur Surrogatparameter analysiert, während gesundheitsökomische Evaluationen klinische Effekte oder QALYs untersuchen. In klinischen Studien werden häufig Einschränkungen z. B. durch Ein- und Ausschlusskriterien gemacht, die in der Alltagsanwendung nicht mehr gegeben sind. Außerdem kann eine gesundheitsökonomische Evaluation andere Vergleichsalternativen haben als dies in den klinischen Untersuchungen der Fall war. Zudem stammen viele für die gesundheitsökonomische Evaluation relevante Daten wie die Inanspruchnahme von Ressourcen, die Bewertung von Ressourcen sowie epidemiologische Kennzahlen oder präferenzbasierte Bewertungen von Gesundheitszuständen aus zusätzlichen Quellen. Deshalb nutzen Gesundheitsökonomen mathematische Modellierungen. Es gibt unterschiedliche Modellierungsansätze, die je nach Fragestellung unterschiedlich gut geeignet sind. Die wichtigsten sind Entscheidungsbaummodelle, Markov-Modelle und diskrete Ereignissimulationen. Entscheidungsbaummodelle sind vor allem bei einfachen Problemstellungen, akuten Erkrankungen und kurzen Zeithorizonten sinnvoll. MarkovModelle werden bei längeren Zeithorizonten und zeitabhängigen Parametern wie dem Auftreten von Rezidiven bei chronischen Erkrankungen eingesetzt (Becker et al. 2010; Siebert et al. 2012). Entscheidungsanalytische Modellierungen analysieren ein vereinfachtes Abbild der Realität. In der Modellentwicklung ist deshalb darauf zu achten, dass das Modell die Realität nur soweit vereinfacht, dass in allen relevanten Punkten die Realität ausreichend genau abgebildet wird. Dazu sind Validierungsrahmen entwickelt worden. Unsicherheiten in der Modellstruktur oder über Parameter werden in Sensitivitätsanalysen hinsichtlich ihres Einflusses auf die Kosteneffektivität untersucht. Trotz aller Limitierungen, die Modelle haben, sind sie dennoch ein unverzichtbarer Bestandteil der ökonomischen Evaluation von Gesundheitsleistungen (Becker et al. 2010). " Zukünftig anfallende Kosten und Effekte werden in gesundheitsökonomischen Evaluationen durch Diskontierung auf den aktuellen Zeitpunkt bezogen. Entscheidungsanalytische Modellierungen sind eine notwendige Studienform für gesundheitsökonomische Evaluationen.

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Evidenzbasierung in den Gesundheitsberufen

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Gabriele Meyer und Sascha Köpke

Inhalt 1 Warum Evidenzbasierung in der Ausbildung der Gesundheitsberufe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 2 Was meint Evidenzbasierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 3 Implementierung evidenzbasierter Praxis in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 4 Barrieren und fördernde Faktoren einer evidenzbasierten Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 5 Ressourcen und Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686

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Warum Evidenzbasierung in der Ausbildung der Gesundheitsberufe?

Die Gesundheitsberufe bilden ein breites Spektrum von Berufsgruppen ab (Zöller 2018): Pflegende, Hebammen/Entbindungspfleger, Assistenzberufe wie Rettungsassistenten oder Medizinische Fachangestellte, therapeutische Berufe wie Physio- oder Ergotherapeuten, diagnostisch-therapeutische Berufe wie Orthoptisten, medizinisch-technische Berufe wie medizinische Dokumentare oder medizinisch-technische Berufe im Handwerk wie Augenoptiker. Die Gesundheitsberufe sind neben den ärztlichen und psychotherapeutischen Berufen eigenständige Heilberufe, d. h. die Berufsangehörigen üben ihre Tätigkeiten gemäß Kenntnisstand der jeweiligen Profession selbstständig und in eigener Verantwortung aus. Tätigkeiten mit heilkundlichem Charakter im Rahmen der Berufsausführung der Gesundheitsberufe hingegen – insbesondere Maßnahmen der medizinischen Diagnostik, Therapie oder Rehabi-

G. Meyer (*) Medizinische Fakultät, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] S. Köpke Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Universität zu Lübeck, Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected]

litation – bedürfen einer ärztlichen Anordnung. Die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten unterliegt dem sog. Arztvorbehalt (Bundesärztekammer 2008). Die Gesundheitsberufe werden hierzulande in der Regel an staatlichen und auch nicht-staatlichen Fachschulen im Gesundheitswesen ausgebildet. Die Orientierung an wissenschaftlich gesichertem Wissen aus empirischen Studien – d. h. externer Evidenz – ist in den Curricula durchaus genannt. Auch in der kürzlich verabschiedeten Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe (Deutscher Bundestag 2018) ist die Orientierung an evidenzbasierten Leitlinien bzw. Standards und Evidenz aus Studien mehrfach explizit genannt. Es ist unwahrscheinlich, dass bisher an den Fachschulen des Gesundheitswesens eine einschlägige, wissenschaftlich reflektierte Auseinandersetzung mit evidenzbasierten Wissensbeständen und die Vermittlung der Methoden der evidenzbasierten Praxis stattfinden. Die Lehrenden dieser Fachschulen haben bisher mehrheitlich keine hochschulische Ausbildung absolviert. Das Studium an einer Universität oder Hochschule hingegen ist der Ort, an dem die Methoden der klinischen Epidemiologie und der qualitativen Forschung, die kritische Beurteilung von empirischen Studienergebnissen und die Aufbereitung von Studienergebnissen für die Praxis sowie die Kommunikation mit Patienten erlernt werden können, an dem die Techniken des Wissenserwerbs wie Datenbank-gestützte Literaturrecherche angeeignet wer-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_61

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den können, an dem der Umgang mit englischsprachiger Literatur vertieft werden kann. Die Lehrenden haben ihrerseits in der beruflichen Aufstiegsfortbildung zur Lehrenden bzw. in ihrem Studium des Lehramtes für berufliche Schulen nicht zwangsläufig die Kompetenzen der evidenzbasierten Medizin (EbM) erlangt. Auch der Fortbildungskanon für die Lehrenden sieht keine regelhaften Angebote zu EbM vor. Mit der grundständigen Ausbildung in den Gesundheitsberufen kann somit kein nennenswerter EbM-Kompetenzerwerb vorausgesetzt werden. Neben der fachschulischen Ausbildung gibt es inzwischen auch primärqualifizierende hochschulische Angebote, die einen Berufsabschluss in einem Gesundheitsberuf – Pflege, Hebammenkunde, Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie – anbieten. Die Mehrzahl der Studiengänge ist an Fachhochschulen angesiedelt, nur wenige Angebote sind an Universitäten verortet. In der Pflege gibt es inzwischen auch wenige primärqualifizierende Studienangebote an medizinischen Fakultäten mit dem Ziel der wissenschaftlich fundierten Qualifikation für klinisch tätige Pflegende, wie vom Wissenschaftsrat (2012) empfohlen. Nur an einem Standort in Deutschland, der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, gibt es mit dem Modellstudiengang „Evidenzbasierte Pflege“ (Meyer 2018) die Erprobung eines Modells der Übertragung heilkundlicher Tätigkeiten auf die Pflege nach § 63 Abs. 3c SGB V gemäß Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (2012). Die durch § 63 Abs. 3c SGB V eröffnete Möglichkeit, in Modellprojekten die selbstständige Ausübung von Heilkunde durch Berufsangehörige der Kranken- und Altenpflege zu erproben, ist seit zehn Jahren gesetzlich zugesichert, wurde jedoch abgesehen von diesem einen Modell bisher nicht wahrgenommen. Der Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) hat in seinem kürzlich vorgelegten Gutachten zur „Bedarfsgerechten Steuerung der Gesundheitsversorgung“ die Ausdehnung der Modelle für die Pflege nachdrücklich empfohlen und es als sinnvoll erachtet, die modellhafte Übertragung heilkundlicher Kompetenz auf Physiotherapeuten auszuweiten sowie auch für Notfallsanitäter die geordnete Möglichkeit einzuräumen, heilkundliche Tätigkeiten auszuüben (SVR 2018). Für die Übertragung von Heilkunde, die vormals Ärzten vorbehalten war, sind die Kenntnisse der EbM von besonderer Bedeutung. Medizinisch-therapeutisches Wissen veraltet schnell, Wissensbestände müssen somit von heilkundlich Tätigen permanent aktualisiert werden. Heilkundlich tätige Vertreter von Gesundheitsberufen werden durch ihre erweiterte Entscheidungs- und Verordnungskompetenz auch interessante Ziele der Industrie (Panfil et al. 2014; Nordhausen et al. 2015). Die Kompetenzen der EbM sind unabdinglich, um vor Interessenkonflikten zu schützen und vor sekundären Motiven in der Versorgung von Patienten anstatt dem besten wissenschaftlichen Beweis verpflichtet zu sein.

G. Meyer und S. Köpke

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Was meint Evidenzbasierung?

Vor gut 20 Jahren war es ein kleiner Kreis von Medizinern, die sich für die Methoden der klinischen Epidemiologie begeisterten, angemessene Therapievergleiche forderten und aus verhängnisvollen Trugschlüssen der Medizin und Gesundheitsversorgung Lehren ziehen wollten. Dieser Kreis wollte unabhängig von Interessen-geleiteten Meinungsbildern werden und das Handwerkzeug zur Auswahl der besten Evidenz beherrschen, anstatt Wissen nur aus der Hand von Experten zu empfangen. EbM ist schon lange über diesen kleinen Kreis hinausgewachsen. Die EbM-Methoden wurden von anderen Gesundheitsprofessionen übernommen und haben sich beispielsweise als evidenzbasierte Pflege oder evidenzbasierte Physiotherapie etabliert. Der Gesetzgeber hat im Sozialgesetzbuch V eine Patientenversorgung nach den Grundsätzen der EbM festgelegt. EbM ist über die individuelle Situation der Vereinbarung von Behandlungsoptionen zwischen Arzt bzw. Vertreter der Gesundheitsberufe und Patient hinausgewachsen und auf der Gesundheitssystemebene verortet worden. Der Gemeinsame Bundesausschuss und andere richtungsweisende Gremien für Zuteilung und Entgelt von Gesundheitsleistungen sind per Gesetz gehalten, auf Basis der besten Evidenz zu entscheiden. Diese Evidenz wird z. B. vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Health Technology Assessment (HTA) Reports aufbereitet. EbM ist somit alternativlos geworden und es stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Bürger in diesem Land sich eigentlich von Vertretern der Gesundheitsprofession behandeln bzw. pflegen lassen möchten, die den Anschluss an das wissenschaftlich gesicherte Wissen über die Tätigkeiten im Rahmen ihrer Berufsausübung verpasst haben bzw. nicht in der Lage sind, sich den Zugang zur besten verfügbaren Evidenz zu verschaffen. Natürlich gehört mehr zur Berufsausübung als das Wissen um den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand. Sackett et al. (2000) definieren daher: " Definition EbM „Evidence-based medicine is the integra-

tion of best research evidence with clinical expertise and patient values“. Keinesfalls meint EbM nur statistische Daten und randomisierte kontrollierte Studien, wie so oft behauptet wird, ohne Hinwendung zu den Patienten. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob es ernsthaft eine gleichwertige Alternative zu EbM gibt, d. h., eine Alternative zur Integration von klinischer Expertise, die auf profunder Übung und Erfahrung basiert, und dem derzeitig besten wissenschaftlichen Beweis und den Werten und Präferenzen der Patienten, die als Ratsuchende die Vertreter einer Gesundheitsprofession konsultieren. Es mag Personen geben, die sich als EbM-Vertreter darstellen, obwohl sie ausschließlich

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Evidenzbasierung in den Gesundheitsberufen

von den Ergebnissen klinischer Studien oder Forschungsmethoden fasziniert sind. Mit EbM hat das jedoch nichts zu tun. Genauso wenig wie es etwas mit EbM zu tun hat, wenn die Vertreter der Gesundheitsprofessionen allein erfahrungsbasiert vorgehen, die Beschäftigung mit Ergebnissen von klinischen Studien ablehnen, den wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht kritisch reflektieren und bestenfalls selektiv Evidenz nutzen, um die von ihnen vertretenen Positionen zu untermauern. Die Methoden der EbM sind unabdinglich, um die Vertreter der Gesundheitsprofessionen zu befähigen, sich selbst zu aktuellem Wissen zu verhelfen und in der Informationsflut die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Auf der Systemebene sind bestmögliche rationale Grundlagen zur Entscheidung über die Verteilung von Gesundheitsressourcen ebenfalls unentbehrlich. Alternativen zu EbM können nur Willkür und Intransparenz sein. Das „autistisch-undisziplinierte Denken“, wie es der Züricher Psychiater Eugen Bleuler bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts beklagt hatte (Bleuer 1921), ist jedoch immer noch weit verbreitet. Da wird von Kritikern die Therapiefreiheit als unabdingliches Element der ärztlichen Professionalität herausgestellt oder die vermeintliche Praxisferne von klinischen Studien ins Feld geführt. In der Tat sind klinische Studien oftmals hoch standardisiert, untersuchen Populationen mit engen Einschlusskriterien und führen intensives Monitoring durch. Dies seien Laborbedingungen, so ist oftmals zu lesen und hören, die die Komplexität der Wirklichkeit ausklammern (z. B. Kienle 2008). Die Alltagsnähe könne man nur mit sog. „Real World Evidence“, also anhand von in Beobachtungsstudien gewonnenen Daten, herstellen. Dieses Argument ist jedoch nicht haltbar, denn weniger Standardisierung – und damit mehr Beliebigkeit – geht einher mit einer geringeren internen Validität der Studie. So besitzt beispielsweise eine methodisch einwandfreie randomisierte kontrollierte Studie für die Beantwortung einer therapeutischen Fragestellung die höchste interne Validität, vermeidet methodische Verzerrungen und schützt vor Störgrößen, die zu systematischen Fehlern und damit zur Beeinträchtigung der Studienergebnisse führen. Durch die zufällige Verteilung der Studienteilnehmer auf zwei Gruppen bei Studienbeginn, können unbekannte und bekannte Störgrößen gleichermaßen auf die beiden Studiengruppen verteilt und eine Chancengleichheit hergestellt werden. Ursächliche Zusammenhänge zwischen Behandlung und Ergebnis können so mit dem geringsten Potenzial für Zweifel empirisch untersucht werden. Nur Studien, die eine hohe interne Validität aufweisen und deren Ergebnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen echten kausalen Zusammenhang zwischen Behandlung und Ergebnis schließen lassen, erlauben es jedoch, die Übertragbarkeit der Studienergebnisse in die praktische Versorgungssituation überhaupt zu erwägen. Eine Studie mit mangelnder interner Validität, bei der ein Einfluss nicht kontrollierter

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Störgrößen nicht ausgeschlossen werden kann und bei der die Bedeutung des Ergebnisses für die Praxis von vornherein unsicher ist, ist immer die schlechtere Wahl bei Überlegungen zur Übertragbarkeit von Studien (Windeler et al. 2008). EbM ist jedoch mitnichten gleichzusetzen mit randomisierten kontrollierten Studien und auch nicht mit Leitlinien, wie häufig behauptet (Eichler et al. 2015). Das Methodenrepertoire und die Studiendesigns sollen allein durch die zu beantwortende Frage bestimmt sein, nicht durch die Tradition oder die „Schule“ (Sackett und Wennberg 1997). Will man z. B. wissen, wie häufig ein Merkmal (z. B. eine Krankheit) in einer Population ausgeprägt ist, wäre eine randomisierte kontrollierte Studie ein ungeeignetes Design. Ist die Frage, wie sich die natürliche Prognose einer bestimmten Patientengruppe entwickelt, eignet sich eine randomisierte Studie ebenfalls nicht. Viele andere Fragen lassen sich anführen, für die ein anderes Studiendesign angemessen ist. Dies können natürlich auch qualitative Studiendesigns sein, z. B. wenn es darum geht zu erfassen, wie Krankheiten erlebt werden.

3

Implementierung evidenzbasierter Praxis in den Gesundheitsberufen

Das oben dargestellte Ziel einer evidenzbasierten Praxis (EbP) ist in Deutschland, aber auch international, zweifellos nicht ausreichend umgesetzt. Zahlreiche Arbeiten haben vor allem in den letzten zehn Jahren auf die fehlende Evidenzbasierung der Praxis in der Medizin und den Gesundheitsberufen hingewiesen.

Pflege Für die Pflegepraxis wurden hierzu international wichtige Barrieren identifiziert (Estabrooks et al. 2008; Hickman et al. 2018; Ryan 2016). Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum zeigen ähnliche Befunde (Hoben et al. 2014; Schubert und Wrobel 2009). Eine eigene Befragung mit 1023 Pflegenden im Setting Krankenhaus (Köpke et al. 2013) zeigt, dass Pflegende einerseits eine EbP als sinnvoll und erstrebenswert erachten, andererseits wichtige Voraussetzungen als nicht gegeben ansehen. Abb. 1 zeigt, dass die verbreitete Aussage, Forschung sei nicht wichtig für die Praxis eher abgelehnt wird, während ein klarer Nutzen der Implementierung von Forschungsergebnissen in die Praxis dargestellt wird. Pflegende werden jedoch als nicht über die Ergebnisse von Forschung informiert angesehen und erachten die vorhandene Zeit zur Beschäftigung mit Forschung als nicht ausreichend. Positiv zu verzeichnen ist, dass nach Einschätzung der Befragten Vorgesetzte die Pflegenden bei der Nutzung von Forschungsergebnissen unterstützen.

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Pflegeforschung nur für die Ausbildung relevant, nicht für die Praxis.

2,0

Im beruflichen Pflegealtag ist Forschung nicht relevant.

2,3

Großteil der Pflegenden ist über Forschungsergebnisse informiert.

2,3

Berufliche Aufgaben lassen Pflegenden keine Zeit, Forschungsergebnisse einzubinden.

3,2

In der Praxis werden Forschungsergebnisse vom Pflegenden kaum umgesetzt.

3,2

Berufliche Aufgaben lassen Pflegenden keine Zeit, Fachzeitschriften zu lesen.

3,2

Vorgesetzter unterstützt die Anwendung und Umsetzung von Forschungsergebnissen.

3,4

Pflegende profitieren von Forschungserfahrungen.

3,5

Pflege sollte ein auf Forschung basierender Beruf werden.

3,5

Oft führt Forschung zu praktischen Fortschritten in der Pflege.

3,7 1

2

3

4

5

Abb. 1 Bedeutung und Umsetzung von Forschung (n = 1023) (nach Köpke et al. 2013). Mittelwerte ( SD); 5-Punkt-Likert-Skala von 1 = trifft definitiv nicht zu bis 5 = trifft definitiv zu. Negativ gepolte Items schraffiert

Physiotherapie und Ergotherapie Die systematische Übersichtsarbeit von Scurlock-Evans et al. (2014) kommt für den Bereich der Physiotherapie anhand von 32 englischsprachigen Publikationen zu ähnlichen Befunden. Auch hier wird eine prinzipiell positive Haltung zu einer EbP berichtet, deren Implementierung jedoch als begrenzt realisiert und schwierig umzusetzen wahrgenommen wird. Zeitmangel, aber auch Mangel an Fortbildung und vorhandener hochwertiger, praxisrelevanter Evidenz werden als Barrieren ermittelt. In Bezug auf die Implementierung einer EbP werden individuelle Lösungen, z. B. für unterschiedliche Settings, als erfolgreicher gegenüber „one size fits all“-Lösungen wahrgenommen. In Deutschland formulieren universitäre Studiengänge für Physiotherapeuten, wie der 2016 an der Universität zu Lübeck gestartete, dabei explizit als Ziel, dass „. . . angehende Therapeuten befähigt werden, nach Grundlagen der Evidenzbasierung zu handeln, bestehende Versorgungsmöglichkeiten zu reflektieren und das eigene Handeln anpassen zu können.“ (Bretin et al. 2018, S. 2). Jedoch deuten andere Arbeiten darauf hin, dass eine EbP für Physio- und Ergotherapeuten nicht als von herausragender Bedeutung bezüglich der Weiterentwicklung ihrer Berufe angesehen wird. Auch die Akademisierung der Therapieberufe wird in der Befragung von Ketels et al. (2015) von nur 40,5 % der 3506 befragten Therapeuten als „zwingend erforderlich“ angesehen.

Notfall- und Rettungsmedizin Koch et al. (2018) haben kürzlich in Anlehnung an die Fragen von Köpke et al. (2013) einen Survey mit nicht-ärztlichen Mitarbeitern in der präklinischen Notfall- und Rettungsmedizin durchgeführt. In der Analyse konnten mehr als 1600 beantwortete Fragebögen ausgewertet werden. Die Ergebnisse legen nahe, dass Forschung unter den Befragten als bedeutsam für die Berufsausübung erachtet wird. Gleichzeitig wird jedoch bestätigt, dass die Berufsangehörigen mehrheitlich nicht über aktuelle Forschungsergebnisse informiert sind. Eine positive Einstellung gegenüber EbM wird konstatiert, doch der Zugang ist nicht gebahnt.

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Barrieren und fördernde Faktoren einer evidenzbasierten Praxis

In den letzten Jahren haben zahlreiche Publikationen eine Vielzahl von Barrieren bei der Implementierung einer EbP identifiziert. Diese Barrieren sind häufig struktureller Natur. Dazu zählen die bereits beschriebenen fehlenden EbPKompetenzen der professionell Tätigen, aber auch Arbeitsbedingungen, die für eine EbP nicht förderlich sind. (Brown et al. 2010; Kajermo et al. 2010). Auf individueller Ebene werden vor allem fehlende Motivation zur Implementierung einer EbP, fehlende Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte,

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Evidenzbasierung in den Gesundheitsberufen

fehlende Zeitressourcen, kurz das Fehlen einer „EbP-Kultur“ als wichtige Barrieren beschrieben (Squires et al. 2011; Hutchinson und Johnston 2004). Was also ist zu tun? Die systematische Übersichtsarbeit von Slade et al. (2018) identifiziert für die Gesundheitsberufe verschiedene mögliche Ansatzpunkte einer erfolgreichen Implementierung auf den Ebenen System, Organisation sowie Individuum. Ähnliche Befunde wurden für Pflegeberufe bereits früher in systematischen Übersichtsarbeiten beschrieben (Estabrooks et al. 2008). Die folgende Übersicht zeigt die aus 16 unterschiedlichen publizierten Frameworks identifizierten Aspekte der Implementierung einer EbP in den Gesundheitsberufen (Slade et al. 2018).

Aspekte der Implementierung einer evidenzbasierten Praxis in den Gesundheitsberufen (Slade et al. 2018)

Übergreifender Aspekt: Forschungsorientierte Versorgung im Einklang mit der besten verfügbaren Evidenz erfordert übergeordnete Richtlinien, die Organisation und Einzelpersonen ermöglichen forschungsaktiv zu sein. 1. Regulatorisches Umfeld, Governance und Organisationsstrukturen: Nachhaltiger Wandel erfordert Richtlinien zur Forschung in den Gesundheitsberufen, Vorgaben zu Forschung, regulatorische Maßnahmen, „Governance“ und Organisationsstrukturen, die eine evidenzbasierte Praxis unterstützen und wertschätzen. 2. Unterstützung von Führung und Management: Forschungsfähigkeit, -empfänglichkeit und -literacy von Führungskräften sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Implementierung von Forschungsergebnissen. 3. Systeme, Werkzeuge, Ressourcen und Zeit: Die Bereitstellung von Forschungsinfrastruktur, Forschungssystemen, Werkzeugen, Daten, Ressourcen, Zeit, explizite Positionen für Forschungspersonal, Mentoring, Weiterbildung und Strukturen für Anerkennung und Belohnung sind organisatorische Schlüsselfaktoren, die den Aufbau von Forschungskapazitäten ermöglichen. Kooperationen zwischen Gesundheitsbehörden und Universitäten mit kooperierten Forschungsleitern optimiert die Forschungsqualität und -produktivität. 4. Eigenschaften der klinisch Tätigen: Eigenschaften und Fähigkeiten einzelner Kliniker wie Forschungsqualifikationen, -kompetenzen und -literacy, Kommunikationsfähigkeiten, Partnerschaftlichkeit, Selbstvertrauen und Motivation helfen Forschungsinteraktionen zu stärken und zu entwickeln und das Bewusstsein für Forschung zu erhöhen.

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Die systematische Übersichtsarbeit von Squires et al. (2011) hatte bereits früher verschiedene Ebenen identifiziert, die für die Realisierung einer EbP von Bedeutung sind. Neben persönlichen und beruflichen Charakteristika der Pflegenden und deren Einstellung, scheinen auch der Zugang zu Evidenzquellen sowie die eigene Beteiligung an Forschungsaktivität die Implementierung von EbP zu fördern. Weitere aktuelle Übersichtsarbeiten betonen die Rolle der Praktiker, die grundlegend eine angemessene Aus- bzw. Weiterbildung benötigen. Eine aktuelle Metaanalyse deutet darauf hin, dass bei Pflegenden die Vermittlung von EbP-Skills zu einer erfolgreichen Implementierung von EbP sowie zu verbesserten Behandlungsergebnissen führen (Wu et al. 2018). Spezifisch weitergebildete Pflegende, die als „Change Agents“ fungieren könnten, scheinen ebenfalls ein erfolgreiches Modell zu sein, wie Woo et al. (2017) bezüglich der Bedeutung sog. „Champions“ bei der Implementierung von EbP der stationären Altenpflege zeigten. Durch die Aus- und Weiterbildung einzelner, besonders motivierter Praktiker kann eine EbP-Kultur erfolgreich angestoßen werden. Dies gilt ebenso für die Ausbildung sog. „Leadership“-Kompetenzen (Reichenpfader et al. 2015). Auch für den deutschsprachigen Raum gibt es inzwischen ähnliche Befunde. So zeigt das Scoping Review von Hoben et al. (2014) ebenfalls sowohl auf der professionellen als auch auf der organisationalen Ebene Faktoren, die bei der Dissemination und Implementierung von Bedeutung sind. Auch hier werden die Aus- bzw. Weiterbildung von Pflegenden, die Möglichkeiten zum kontinuierlichen Lernen sowie die Unterstützung durch die Organisation bzw. das Management als von herausragender Bedeutung dargestellt (Hoben et al. 2014).

5

Ressourcen und Potenziale

Werden die oben genannten Befunde zusammengefasst, so ergibt sich ein überraschend kongruentes Bild: Angehörige der Gesundheitsberufe erachten sowohl international als auch in Deutschland eine EbP prinzipiell als Grundlage ihrer professionellen Praxis. Darüber hinaus ist die EbP in Deutschland inzwischen curricularer Bestandteil sowohl der beruflichen Ausbildung an Fachschulen als auch der akademischen Ausbildung an Fachhochschulen und Universitäten. Es gilt daher vor allem strukturelle und organisationale Faktoren zu adressieren, um die derzeit unzureichende Implementierung von Forschungswissen in die Praxis zu fördern. Die Anwendung komplexer Implementierungsmodelle scheint hierzulande derzeit angesichts unzureichender Ressourcen kaum realisierbar (Meyer et al. 2013). Also sind eher auf der Mikroebene Maßnahmen zu ergreifen, z. B. „kulturelle“ Maßnahmen wie die Einführung sog. „Local Champions“ bzw. „Change Agents“ oder „technische“ Maßnahmen wie das Angebot von EbP-Trainings, um die Implementierung von

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EbP voranzutreiben (Meyer et al. 2013). Allerdings werden zwar weiterhin z. B. an der Universität zu Lübeck externe, überregionale Weiterbildungen zu EbP für Pflegende bzw. Angehörige von Gesundheitsberufen angeboten (Meyer et al. 2013). Es darf jedoch bezweifelt werden, dass die Dissemination von EbM in Form von einigen wenigen EbP-Trainings zu nennenswerter Veränderung der Praxis führt. Es bedarf daher weiterer kleinteiliger und Institutionsbezogener Ansätze wie z. B. der Etablierung von lokalen Journal Klubs (Häggman-Laitila et al. 2016). Schließlich gilt es, die direkte Verbindung von Forschung und Praxis durch praxisbasierte Forschungsprojekte zu stärken. Der direkte Kontakt klinisch Tätiger mit relevanten Forschungsprojekten kann dazu beitragen, dass Forschung begreifbar wird (Wenke et al. 2017). Hierzu ist jedoch unbedingt notwendig, dass es sich um klinisch-relevante Forschung handelt, die nach den Prinzipien guter klinischer Praxis durchgeführt wird. Diese praxisnahe, „klinische“ Forschung ist hierzulande und international in den Gesundheitsberufen sicher nicht die Regel, wie die aktuelle Analyse von Richards et al. (2018) für die Pflegeforschung in Europa nachweist. Das bedeutet, dass Praktiker kaum Kontakt zu relevanter Forschung haben bzw. nicht aktiv daran beteiligt sind. Es bleibt zu hoffen, dass in Deutschland die zunehmende Akademisierung der Gesundheitsberufe zukünftig mehr klinische Forschungsprojekte stimuliert. Weiterführende Buchempfehlungen • Behrens J, Langer G (2016) Evidence-based Nursing and Caring, 4., vollst. überarb. u. erg. Aufl. Hogrefe, Bern • Cullum N, Ciliska D, Haynes RB, Marks S (Hrsg) (2008) Evidence-based nursing: an introduction. Blackwell Pub./ BMJ Journals/RCN Pub, Oxford/Malden • DiCenso A, Guyatt G, Ciliska D (2005) Evidence-based nursing: a guide to clinical practice. Elsevier Mosby, St. Louis, MO • Greenhalgh T (2014) How to read a paper: the basics of evidence-based medicine, 5. Aufl. John Wiley & Sons Ltd, Chichester/West Susssex • Melnyk BM, Fineout-Overholt E (2015) Evidence-based practice in nursing and healthcare: a guide to best practice, 3. Aufl. Wolters Kluwer Health, Philadelphia • Straus SE, Glasziou P, Richardson SW, Haynes Brian R (2018) Evidence-based medicine: how to practice and teach EBM, 5. Aufl. Elsevier, Edinburgh/London/New York

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Evidenzbasierung in den Gesundheitsberufen

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Ethik im Gesundheitswesen

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Marcel Mertz

Inhalt 1

Ethische Bewertungen im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689

2

Was ist „Ethik“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690

3

Was ist „Ethik im Gesundheitswesen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

4 Disziplinen (Themen) einer Ethik im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 4.1 Kerndisziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 4.2 Periphere Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 5

Ziele und Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696

6

Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697

7

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699

1

Ethische Bewertungen im Gesundheitswesen

Wer im Gesundheitswesen arbeitet – besonders in einer unmittelbar medizinischen, pflegerischen oder therapeutischen Tätigkeit1 –, ist nicht selten mit schwierigen Entscheidungen und Handlungen konfrontiert. Man kann sich hierfür als ein exemplarisches Beispiel die Behandlung oder Betreuung von Demenzpatienten vor Augen führen: Sollen einem Demenzpatienten, der seine Medikamente nicht nehmen will, diese „verdeckt“ im Essen gegeben werden? Sollen sog. Demenzdörfer zur Pflege von Demenzpatienten errichtet werden, innerhalb deren Einzäunung sie sich zwar frei bewegen können, eine „normale“ Infrastruktur aber letztlich „vorgaukelt“ wird, inkl. einer Scheinbushaltestelle? Und soll an ge-

Der Einfachheit halber werden im weiteren Text mit „medizinisch“ stets „pflegerisch“ und „therapeutisch“ mitgemeint.

1

M. Mertz (*) Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]

genwärtig lebenden Demenzpatienten geforscht werden, um zukünftige Patienten besser behandeln zu können? Jede Entscheidung (und damit Handlung) geht zwangsläufig mit einer Bewertung einher: Ist es gut/richtig (zumindest: besser), so zu handeln, oder vielmehr schlecht/falsch (schlechter)? Eine Bewertung ist dementsprechend auch dann erforderlich, wenn beispielsweise entschieden werden muss, ob für die längere Aufrechterhaltung der Gedächtnisleistung von an Demenz Erkrankten die Therapiemaßnahme A einer Therapiemaßnahme B vorzuziehen ist, und hierfür z. B. die wissenschaftliche Literatur betrachtet wird, welche der Therapieoptionen nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens bessere Chancen mit sich bringt (vgl. evidenzbasierte Medizin bzw. evidenzbasierte Praxis). Kennzeichnend für die drei beispielhaft erwähnten Fragestellungen zur Behandlung oder Betreuung von Demenzpatienten oben ist allerdings, dass sie nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – mittels solcher medizinischen Bewertungen beantwortet werden können (vgl. Albisser et al. 2012). Es geht bei solchen Fragen also nicht nur darum, zu bewerten, ob eine medizinische Maßnahme eine Erkrankung heilen, Leiden lindern oder eine Beeinträchtigung (wie des Bewegungsapparates oder des Sprechens usw.) verringern

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_63

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690

kann, oder darum, welche Nebenwirkungen mit einer Behandlung einhergehen können. Es geht auch darum, was der Patient wünscht und zu akzeptieren bereit ist (Patientenwille), und ob die Maßnahme insgesamt das Wohlbefinden des Patienten fördert, oder aber ihm angesichts der gegenwärtigen Lebensumstände, seiner Biografie und persönlichen Überzeugungen usw. schadet (Patientenwohl). Ferner kann zur Frage stehen, ob die Maßnahme aufgrund der benötigten Ressourcen anderen Patienten gegenüber fair ist (Gerechtigkeit), oder aber auch, ob die Maßnahme zu unvertretbaren Belastungen (wie Überstunden oder Stress) auf Seiten der Behandelnden führt, was den Standard der Betreuung der Patienten negativ beeinflussen könnte (Professionalität). Die hier in Klammern beispielhaft erwähnten Werte wie das Patientenwohl oder die Gerechtigkeit sind ethische bzw. moralische Werte (siehe genauer Abschn. 2). Im Gesundheitswesen kommen neben medizinischen Bewertungen deshalb auch oft ethische Bewertungen vor. Zwar sind hierfür medizinische Bewertungen meistens unverzichtbar, da diese letztlich auf das Patientenwohl ausgerichtet sind; jedoch erschöpfen sich ethische Bewertungen nicht in medizinischen Bewertungen, v. a. dann nicht, wenn zwischen Werten bzw. Normen,2 die in Konflikt zueinander stehen, abzuwägen ist (z. B. wenn ein Patient eine an sich medizinisch sinnvolle Therapie ablehnt, beispielsweise der Demenzpatient die Einnahme der Medikamente verweigert). Ethische Bewertungen haben also letztlich zum Ziel, zu prüfen, ob eine Handlung ethischen Werten oder Normen (wie beispielsweise die Beachtung des Patientenwillens, die Förderung des Wohlbefinden/Fürsorge, das Vermeiden von Leid, das Herstellen von Gerechtigkeit) entspricht – oder eben gerade nicht. Ethische Bewertungen können ausgesprochen komplex, uneindeutig und dadurch schwierig werden. Zum einen müssen in ihnen die medizinischen Bewertungen berücksichtigt werden, die manchmal ebenso nicht unbedingt leicht fallen; zum anderen aber werden die der Bewertung zugrunde gelegten Werte und Normen sowie deren Gewichtung („Was wiegt grundsätzlich oder im konkreten Einzelfall mehr?“) unterschiedlich beurteilt, u. a. aufgrund der Pluralisierung der Gesellschaft, verschiedenen Emanzipationsbewegungen (z. B. Patienten- und Bürgerrechte) und dem nicht immer leichten Verhältnis zwischen medizinischen Experten und Laien (Patienten) mit ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interessen. Eine Folge davon sind ethische Konflikte und Fragestellungen, bei denen nicht ausreichend klar wird, wie die Handlung ethisch bewertet werden muss, ob also – ver-

2 Normen beruhen auf Werten und geben dem Handeln eine klarere Richtung vor, indem sie festhalten, was getan werden darf, getan werden soll oder sogar getan werden muss, damit u. a. die Werte, auf denen sie beruhen, „verwirklicht“ (in der Praxis umgesetzt) werden können.

M. Mertz

einfacht gesagt – eine bestimmte Handlung nun moralisch „gut/richtig“ oder „schlecht/falsch“ ist. Ohne bereits im Detail zu klären, was eine „Ethik im Gesundheitswesen“ ausmacht, kann bereits festgehalten werden, dass eine ihrer Funktionen es ist, u. a. dabei zu helfen, in Fällen konfliktbehafteter oder unklarer ethischer Bewertung Orientierung zu finden und die Konflikte aufzulösen oder abzumildern – oder im Mindesten transparenter zu machen, warum der Konflikt besteht (z. B. welche Werte und Normen involviert sind, welche unterschiedlichen Bewertungen bestehen) und welche Lösungen denkbar wären. " Ethische Bewertungen im Gesundheitswesen erfolgen nicht „zusätzlich“ zu medizinischen Bewertungen (z. B. zur Wirksamkeit einer Maßnahme); vielmehr ist jedes therapeutisch orientierte Handeln stets ethischer Bewertung unterworfen, schon alleine deshalb, weil medizinische Bewertungen wenigstens mit dem Wohl von Patienten zu tun haben und die Förderung des Patientenwohls einen ethischen Wert darstellt.

Das folgende Kapitel kann nun aber nicht das Ziel verfolgen, konkrete ethische Konflikte oder Fragestellungen und damit verbundene Bewertungen im Gesundheitswesen zu behandeln. Ein solches Unterfangen könnte nur oberflächlich und sehr beispielhaft erfolgen. Daher muss sich das Kapitel damit begnügen, einen Überblick über gewissermaßen die „Geografie“ einer Ethik im Gesundheitswesen zu geben. Dabei geht es v. a. darum, aufzuzeigen, welche (Sub-)Disziplinen sich in einer Ethik des Gesundheitswesens verorten lassen. Da Disziplinen sowohl thematische als auch methodische Schwerpunkte in sich vereinen, bedeutet das auch: Welche Themen oder Fragestellungen sind typisch für eine Ethik im Gesundheitswesen (Abschn. 4), welche Ziele können bei einer systematischen Bearbeitung dieser Themen und Fragestellungen verfolgt werden (Abschn. 5), und welche Methoden werden dabei angewendet (Abschn. 6)? Hierfür muss zuerst aber „Ethik“ und „Ethik im Gesundheitswesen“ terminologisch etwas genauer gefasst werden (Abschn. 2 und 3).

2

Was ist „Ethik“?

Im Alltagssprachgebrauch wird zwischen „Moral“ und „Ethik“3 meistens nicht sonderlich unterschieden. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch ist allerdings weitgehend etabliert, mit „Ethik“ die wissenschaftliche, im engeren Sinne die philosophische oder theologische Untersuchung der Moral

3 An dieser Stelle ist es nicht möglich oder auch zweckhaft, eine Einführung in die (philosophische) Ethik wiederzugeben; siehe dazu aber z. B. Birnbacher 2007; Baggini und Fosl 2007; Pieper 2017.

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Ethik im Gesundheitswesen

zu verstehen (Pieper 2017, S. 15; Düwell et al. 2011a, S. 1). „Moral“ bildet demnach den Gegenstand einer wissenschaftlichen resp. philosophischen Tätigkeit mit der Bezeichnung „Ethik“. Unter „Moral“ wird dabei ein (faktisches) System von Werten, Normen oder Tugenden eines Individuums, einer sozialen Gruppe oder einer Gesellschaft verstanden, welches Maßstäbe für das Verhalten im Zusammenleben mit anderen setzt und das Verhalten reguliert – u. a. durch (soziale) Sanktionen (wie Ächtung, öffentliche Kritik, Ausschluss aus der Gruppe usw.) bei Nichteinhaltung von Normen oder durch Aneignung und Verinnerlichung (Internalisierung) der jeweiligen Werte, Normen und Tugenden durch z. B. Erziehung und (Aus-)Bildung (Sozialisation) (vgl. auch Kettner 2011). Bei der Untersuchung von Moralen werden zwei Typen von Ethik unterschieden – normative („bewertende“) und deskriptive („beschreibende“) Ethik.4 Die normative Ethik versucht zu bestimmen, was moralisch wünschenswertes oder gefordertes Verhalten sein sollte. Normativer Ethik geht es daher im Gegensatz zur deskriptiven Ethik also nicht nur um die Beschreibung oder Erklärung bestehender Moral oder moralischen Verhaltens (wie z. B. in der Moralpsychologie) (Düwell et al. 2011a). Vielmehr will sie auf systematische und methodische Weise begründete Antworten auf die Fragen finden, was gut, richtig oder gerecht (bzw. was schlecht, falsch und ungerecht) ist. Sie will dadurch klären, wie von einer moralischen Perspektive aus betrachtet im Regel- wie auch im Einzelfall gehandelt werden soll. Hierfür ist es erforderlich, Maßstäbe für eine ethische Bewertung zu entwickeln. Dies kann z. B. in Form von Werten (wie „Patientenwohl“) oder allgemeinen Normen („Es soll Schaden vom Patienten abgewendet werden!“) erfolgen, die aus der (Berufs-)Tradition, dem Recht (z. B. Grundgesetz), der Kultur oder expliziter ethischer Literatur (z. B. philosophischer Moraltheorie) stammen können. Mit diesen können dann sowohl konkrete Normen oder Kriterien begründet werden („Medizinische Entscheidungen und Handlungen müssen angemessen dokumentiert werden; diese Informationen sind nur vom Patienten und vom direkt involvierten medizinischen Personal einsehbar und müssen gegen die Einsicht von unbefugte Dritten geschützt werden“), aber auch einzelne oder sich wiederholende Handlungen („Wir werden die elektronische Dokumentation mittels Passwort schützen, und die Patientenbriefe werden wir in einem geschlossenen Umschlag versenden“). (Normative) Ethik – und damit auch eine Ethik im Gesundheitswesen – ist daher keine bloße Sammlung von Geboten und Verboten oder gewissermaßen eine „Anlei-

Meistens ist mit „Ethik“ mehr oder weniger direkt „normative Ethik“ gemeint; daher wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags „Ethik“ auch weitgehend als Kurzform für „normative Ethik“ verwendet. Nicht weiter vertieft wird die sog. Meta-Ethik, welche die theoretischen und methodischen Grundlagen der (normativen) Ethik selber untersucht (s. auch Düwell et al. 2011a). 4

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tung“, wie moralisch gehandelt werden soll. Sie weist immer eine Begründungs- und Reflexionsleistung auf, die sich in einem Fachdiskurs wie auch in einem öffentlichen Diskurs (Massenmedien, Kunst, Politik . . .) niederschlagen kann. " Wenn von (normativer) Ethik gesprochen wird, geht es i. d. R. um eine wissenschaftliche Tätigkeit, die durch argumentativ begründete und transparent gemachte ethische Bewertungen und/oder durch die explizite (analytische) Verwendung von moralischen Werten, Normen oder Regeln u. Ä. gekennzeichnet ist. Ethik wird betrieben, um Handlungen und Situationen ethisch bewerten und/oder bestimmen zu können, was vor dem Hintergrund explizit gemachter Werte, Normen oder Regeln etc. moralisch vertretbar, gesollt oder nicht gesollt ist.

Innerhalb der normativen Ethik wird ferner zwischen einer allgemeinen normativen Ethik und einer sog. angewandten Ethik unterschieden. Die allgemeine normative Ethik interessiert sich v. a. für die allgemein(st)en Werte und Normen, die als Grundlage einer Moral dienen können (z. B. Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Freiheit, Glück usw.). Für die Angewandte Ethik dagegen sind i. d. R. konkretere Normen und Kriterien die Zielgröße, da sie sich mit den spezifischen Bewertungen bei ethischen Fragestellungen oder Konflikten in bestimmten Handlungsbereichen beschäftigt – so z. B. beim Umgang mit der Umwelt („Umweltethik“), beim Umgang mit nicht-menschlichen Tieren („Tierethik“) oder beim Umgang mit medizinischen Handlungen („Medizinethik“). Deshalb wird auch oft von „Bereichsethik“ gesprochen (Pieper 2017, S. 78 f.; Düwell 2011).

3

Was ist „Ethik im Gesundheitswesen“?

Eine „Ethik im Gesundheitswesen“ könnte dementsprechend als eine Bereichsethik verstanden werden, d. h. als eine Ethik, die sich mit den ethischen Bewertungen innerhalb eines bestimmen Handlungsbereichs auseinandersetzt – eben mit jenem des Gesundheitswesens. „Gesundheitswesen“ (oder „Gesundheitssystem“) kann dabei verstanden werden als die Gesamtheit aller Akteure, Institutionen/Organisationen und (Selbst-)Regulierungsinstrumente (z. B. Normen, Regeln, Leitbilder, politische Maßnahmen, aber auch Gesetze), deren primärer Zweck es ist, direkt oder in maßgeblicher Weise indirekt die Gesundheit der Bevölkerung (eines Landes) oder einzelner Individuen zu erhalten, zu fördern oder wiederherzustellen sowie (weitere) Erkrankungen zu vermeiden oder wenigstens zu lindern (angelehnt an WHO 2000). Allerdings ist dann fraglich, ob eine „Ethik im Gesundheitswesen“ von der bereits gut etablierten Bereichsethik „Medizinethik“ sinnvoll abgegrenzt werden kann. Eine über-

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M. Mertz

zeugende Abgrenzung gelingt nur, wenn „Medizinethik“ auf die ärztliche Tätigkeit („ärztliche Ethik“) verengt wird. Jedoch wird „Medizinethik“ – wie übrigens auch „Medizin“ – heutzutage meistens in einem weiten Sinne verwendet und nicht nur auf die ärztliche Tätigkeit beschränkt (Wiesing und Marckmann 2011; Albisser et al. 2012; s. ferner Bruchhausen und Schott 2008). Das heißt, auch die nichtärztlichen Tätigkeiten wie die Pflege und die Gesundheitsfachberufe bzw. die Gesundheitswissenschaften werden von „Medizinethik“ in diesem Sinne abgedeckt. Dieser Auffassung wird hier weitgehend gefolgt und „Ethik im Gesundheitswesen“ entsprechend auch als eine „Medizinethik im weitesten Sinne“ verstanden. Die Medizinethik ist seit ihrer zunehmenden Professionalisierung in den1960er-Jahren allerdings stark interdisziplinär und interprofessionell geprägt: Es sind nicht nur Philosophen oder Theologen, die Akteure einer Ethik im Gesundheitswesen darstellen, sondern genauso Mediziner, Pflegende und Therapeuten, Bio- und Sozialwissenschaftler, Juristen u. v. m. Innerhalb eines funktionierenden Gesundheitswesens müssen verschiedene und auch sehr unterschiedliche Tätigkeiten zum Tragen kommen, weshalb diese Interdisziplinarität auch die große Zahl der unterschiedlichen Akteure und von Handlungen Betroffenen (bzw. „Stakeholder“) im Gesundheitswesen widerspiegelt. Damit verbunden ist zwangsläufig auch eine große Bandbreite an Zielen und Tätigkeiten in einer Ethik im Gesundheitswesen, die sich nicht auf eine philosophische Reflexionstätigkeit oder auf Grundlagenforschung verengen lassen, und die auch praktische Tätigkeiten wie wissenschaftliche Beratung oder Mitarbeit an Instrumenten der (Selbst-)Regulierung miteinschließen (Abschn. 5). Nicht zuletzt gehen die Methoden, mittels denen in einer Ethik im Gesundheitswesen gearbeitet wird, über das philosophisch etablierte Methodenarsenal hinaus, da z. B. auch empirische Forschungsmethoden zum Einsatz kommen können (Abschn. 7). Deshalb wird „Ethik im Gesundheitswesen“ hier nicht ausschließlich als eine Subdisziplin einer philosophischen Disziplin namens „Ethik“ verstanden, sondern ausdrücklich als ein interdisziplinäres und interprofessionelles Feld, welches wissenschaftliche Tätigkeiten als auch (wissenschaftlich informierte) praktische Tätigkeiten umfasst und sich durch verschiedene ihr zuordnungsbare Bereiche (in Form von Bereichsethiken) charakterisieren lässt (vgl. auch ReiterTheil und Mertz 2012).

4

Disziplinen (Themen) einer Ethik im Gesundheitswesen

Die Bereiche bzw. Bereichsethiken einer Ethik im Gesundheitswesen können auch als deren (Sub-)Disziplinen begriffen werden. Dabei geht es im Folgenden v. a. um die Dar-

stellung der Inhalte in Form von Themenschwerpunkten und somit auch (exemplarischen) Fragestellungen, die durch diese (Sub-)Disziplinen repräsentiert werden, inkl. der jeweils wichtigen Prinzipien, Normen oder Werte. Angesichts dieser Schwerpunkte und ihrer Bedeutung für eine Ethik im Gesundheitswesen lassen sich drei Kerndisziplinen bestimmen, ohne die eine Ethik im Gesundheitswesen kaum denkbar wäre und die auch z. T. ohne ein Gesundheitswesen gar nicht erst existieren würden: Klinische Ethik, Public Health Ethik und Forschungsethik (vgl. auch Neitzke 2013, S. 11). Hinzu kommen mehrere periphere Disziplinen, deren Themen weitgehend auch für sich stehen können, ohne zwangsläufig auf ethische Bewertungen im Gesundheitswesen verengt werden zu müssen. Sie können aber für eine Ethik im Gesundheitswesen bzw. für ihre Kerndisziplinen bedeutsam sein, d. h. deren Inhalte, Ansätze und Methoden können – oder müssen teilweise sogar – für die Bearbeitung von Fragestellungen in einer Ethik im Gesundheitswesen einbezogen werden5 (Abb. 1).

4.1

Kerndisziplinen

4.1.1 Klinische Ethik Bei der Klinischen Ethik (z. B. Hick 2007; Vollmann et al. 2009; Albisser et al. 2012; Frewer et al. 2013) als einer „Ethik der Patientenversorgung“ (Neitzke 2013, S. 11) geht es insbesondere um (individuelle) Therapieentscheidungen und deren ethische Bewertung: Welche Therapieoption ist angesichts des Patientenwillens, der Indikation, des Therapieziels, des zu erwartenden medizinischen Nutzens und der möglichen Nebenwirkungen, Belastungen und Folgen für Angehörige oder andere Patienten usw. die „beste“ Option? Auch wenn der Name dieser Disziplin das Wort „klinisch“ enthält, soll sie als die genannte „Ethik der Patientenversorgung“ alle Heilberufe abdecken, so auch die Gesundheitsfachberufe. Ohnehin ist für Klinische Ethik kennzeichnend, dass es bei ihren Themen oft um Entscheidungen geht, die nicht nur von ärztlicher Seite aus zu treffen – oder zumindest mitzutragen – sind, sondern von einem interprofessionellen Behandlungsteam (Albisser et al. 2012). Um das in der Einleitung erwähnte Beispiel der Behandlung und Betreuung von Demenzpatienten aufzugreifen (Abschn. 1): Die Frage, ob man einem Patienten Medikamente „verdeckt“ geben darf, ist eine typische Fragestellung der Klinischen Ethik. Auch die Frage, wie patientenzentrier-

5 Die folgende Darstellung erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, v. a. was exemplarisch genannte Beispiele sowie die möglichen peripheren (Sub-)Disziplinen betrifft. Sie erhebt aber den Anspruch, die zentralen (Sub-)Disziplinen und damit Themenschwerpunkte nennen zu können.

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Ethik im Gesundheitswesen

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Abb. 1 Übersicht über Kern- und periphere Disziplinen einer Ethik im Gesundheitswesen

tes bzw. klientenzentriertes Arbeiten angesichts knapper (zeitlicher) Ressourcen möglich ist, gehört zu dieser Disziplin. „Klassische“ Themen, die aber v. a. im Bereich ärztlicher Tätigkeit stehen, stellen die Unterlassung oder der Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen am Lebensende oder am Lebensanfang dar, oder die Frage, inwieweit mit der Gabe von Schmerzmitteln am Lebensende ein frühzeitiges Versterben in Kauf genommen werden darf (Therapiebegrenzung und Sterbehilfe). Andere Themen sind beispielsweise Schwangerschaftsabbruch, künstliche Befruchtung, Zwangsbehandlungen, Fragen im Umfeld der Transplantationsmedizin (Organspende, Organzuteilung) oder der Einsatz neuer, noch nicht umfassend getesteter Heilmittel oder von Heilmitteln, bei denen unklare Evidenz vorliegt, ob sie einen Nutzen haben werden oder nicht. Gerade für die Klinische Ethik, aber auch für die Medizinethik im Allgemeinen, haben sich vier ethische „Prinzipien mittlerer Reichweite“ durchgesetzt, die auch in der Praxis auf großen Konsens stoßen (Beauchamp und Childress 2009; Wiesing und Marckmann 2011). Es handelt sich hierbei um Respekt vor der Patientenautonomie (u. a. Informieren über Therapieoptionen und Vor- und Nachteilen/Risiken, Unterstützung einer selbstbestimmten Entscheidung für eine Therapieoption, Akzeptieren der getroffenen Entscheidung), Nichtschaden (keine diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen durchführen, die mit erheblichen Belastungen, Schäden oder zumindest entsprechenden Risiken verbunden sind), Wohltun/Fürsorge (das Wohlergehen fördern, Schaden abwenden, Abwägung von Nutzen und Schaden sowie Kosten und Nutzen etc.) und Gerechtigkeit v. a. im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit von Ressourcen (Heilmittel, Zeit, Personal . . .). Diese stehen hierbei in Bezug auf die gegenwärtigen Patienten beispielsweise einer Praxis. Zwei weitere

wichtige Werte für die Klinische Ethik sind die Menschenwürde (Schutz vor Instrumentalisierung, ungerechtfertigter Ungleichbehandlung aufgrund von z. B. Geschlecht oder Alter, Vermeidung unwürdiger Pflegebedingungen u. Ä.) sowie die Professionalität. Letztere findet sich insbesondere in einem Teilbereich der Klinischen Ethik wieder, die als professionelle Ethik der Heilberufe aufgefasst werden kann. Diese umfasst die traditionelle ärztliche Ethik (vgl. Wiesing und Marckmann 2011), die Pflegeethik (z. B. Körtner 2012; Monteverde 2012) und eine hier so zu bezeichnende „therapeutische Ethik“ der Gesundheitsfachberufe6 (wie Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie). Eine professionelle Ethik rekonstruiert, aber kritisiert auch das jeweils etablierte und oft in Kodizes verschriftlichte Ethos dieser Berufe bzw. Professionen.7 Selbst wenn gewisse unvermeidbare thematische Überlappungen zur sonstigen Klinischen Ethik bestehen können, dreht sich professionelle Ethik v. a. um die Frage, welche moralischen Pflichten Ärzte bzw. Therapeuten gegenüber ihren individuellen Patienten haben (Arzt/Therapeuten-Patienten-Verhältnis). So sind sowohl die Aufklärungs- als auch die Schweigepflicht (oder Vertraulichkeit mit Patientendaten usw.)

6

Das Gesundheitshandwerk bzw. medizinisch-technische Berufe (z. B. Augenoptik, Orthopädietechnik) werden hier nur aus Platzgründen nicht separat berücksichtigt. 7 Mit „Ethos“ wird u. a. eine spezifische Moral von bestimmten Berufsgruppen bzw. Professionen bezeichnet. Die Tätigkeiten dieser Berufe gehen i. d. R. mit einer hohen Verantwortung gegenüber anderen Personen einher (klassisches Beispiel: ärztliches Ethos). Das Ethos prägt auch das Selbstverständnis oder das Selbstbild der jeweiligen Gruppe und beeinflusst dadurch auch das Verhalten innerhalb des Berufs bzw. der Profession.

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typische Themen einer professionellen Ethik. Aber auch die Frage, wie z. B. bei einer manuellen Therapie die Patientin oder der Patient berührt werden kann und darf, und wie damit umgegangen werden soll, wenn – vielleicht unvermeidbar – Schamgrenzen der Behandelten bei Therapie oder Pflege verletzt werden, gehört dazu, wie auch die Suche nach einem „gesunden“ Verhältnis von Empathie und professionellem Mitgefühl gegenüber Patienten, das einem ebenso professionell erforderlichen Distanzhalten entgegenstehen kann (z. B. bei der Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose oder bei der Durchführung einer unvermeidbar schmerzhaften Behandlung). Neben dem Umgang mit Patienten spielt bei der professionellen Ethik ferner der Umgang mit eigenen sowie fremden Fachvertretern eine Rolle: Wie sollen sich Therapeuten beispielsweise gegenüber Ärzten verhalten, die eine fragwürdige Maßnahme verordnet haben? Ferner ist auch die moralisch richtige Reaktion auf eine Fehlbehandlung, die man bei Kollegen wahrgenommen hat, Teil einer professionellen Ethik. Mehr noch als in der sonstigen Klinischen Ethik ist deshalb Ehrlichkeit ein wichtiger Wert, wie auch Kompetenz im Sinne der Pflicht, sich weiterzubilden und auf dem Laufenden zu halten, was therapeutische Maßnahmen betrifft.8

4.1.2 Public Health Ethik Maßnahmen im Bereich der Public Health (Bevölkerungsgesundheit) beschäftigen sich damit, wie nicht (nur) die Gesundheit eines individuellen Patienten, sondern jene von größeren Gruppen, wie beispielsweise gesundheitlich besonders gefährdete Personen oder der Bevölkerung insgesamt, geschützt und gefördert werden kann, u. a. auch durch politische Entscheidungen. Die in der Einleitung exemplarisch gestellte Frage, ob man zur Pflege von Demenzpatienten Demenzdörfer unterhalten soll, gehört zur zweiten Kerndisziplin einer Ethik im Gesundheitswesen, der sog. Public Health Ethik (z. B. Holland 2007; Strech et al. 2013; Friele 2018). Aber auch eine Regulierungsmaßnahme wie das Pflegestärkungsgesetz von 2017, bei welchem u. a. Demenzpatienten neu denselben Pflegeanspruch haben wie Personen mit körperlich bedingten Beeinträchtigungen, kann im Rahmen einer Public Health Ethik thematisiert werden, insofern durch das Gesetz mitbe-

8 Da allerdings ein professionelles Ethos neben der Formulierung von eigenen Standards (z. B. „Was ist ein guter Physiotherapeut?“) auch dem Schutz professionsspezifischer Interessen dienen kann, kann es zu sich widersprechenden moralischen Forderungen zwischen einer allgemeineren Moral einer Gesellschaft und einem Ethos kommen (z. B. das Ansehen der Profession schützen und keine problematischen Ereignisse – „Skandale“ – nach außen kommunizieren). Im Rahmen einer professionellen Ethik muss bestimmt werden, wie in solchen Fällen vorzugehen ist.

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stimmt wird, wem Ressourcen im Gesundheitswesen wie zur Verfügung stehen sollen. Solche Verteilungsfragen und Fragen des gerechten Zugangs zu Gesundheitsleistungen auf der Systemebene des Gesundheitswesens sind typische Themen einer Public Health Ethik. Weitere Beispiele sind Impfungen (Wer erhält einen knappen Impfstoff? Dürfen Impfungen erzwungen werden?) und das Vorgehen bei Epidemien (Quarantäne, Gebrauch von noch nicht ausreichend getesteten Medikamenten) oder bei Großschadensereignissen (z. B. Erdbeben mit Tausenden von Betroffenen, denen nicht allen gleichermaßen geholfen werden kann). Auch das Verhältnis von staatlich durchgeführter Gesundheitsförderung (Präventionsprogramme, Informationskampagnen, Verbote oder Einschränkungen von z. B. bestimmten Genuss- oder Nahrungsmitteln) und der Selbstbestimmung der Bürger ist Gegenstand einer Public Health Ethik. Nicht zuletzt gehört auch die Priorisierung von Krankheiten (Entwicklung von Präventions- und Therapiemaßnahmen, Einrichtung oder Ausbau von gesundheitsbezogenen Institutionen) und deren Erforschung sowie die Frage, welche Leistungen überhaupt (und warum) von gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden sollen, zur Public Health Ethik (s. detaillierter “ von Apfelbacher et al. in diesem Band). Neben den oben bereits erwähnten Prinzipien und Werten spielen in der Public Health Ethik v. a. noch Kosten (für das Gesundheitssystem, für die Leistungserbringer oder die Patienten) und Legitimität eine Rolle (ist eine Entscheidung durch eine demokratisch/rechtsstaatlich legitimierte Instanz erfolgt, ist sie vereinbar mit bestehenden Gesetzen, Verordnungen, Leitlinien usw.?) (Strech und Marckmann 2010); „Wohltun/Fürsorge“ wird als Prinzip des Nutzens darüber hinaus nicht nur auf den möglichen medizinischen Nutzen eines einzelnen Individuums bezogen, sondern auch – oder vornehmlich – auf Gruppen von Patienten oder auf die Bevölkerung insgesamt (dasselbe gilt für „Nichtschaden“ bzw. für die Verortung von Schadenspotenzialen).

4.1.3 Forschungsethik Die ebenfalls in der Einleitung gestellte Frage, ob man an Demenzpatienten forschen darf, um möglicherweise zukünftigen Patienten besser helfen zu können, gehört schließlich zur Forschungsethik. Forschungsethik (z. B. Fuchs et al. 2010) beschäftigt sich entsprechend mit der Bewertung von Handlungen, die im Rahmen krankheits- oder gesundheitsbezogener Forschung erfolgen. Aus dieser Formulierung wird bereits deutlich, dass es dabei keineswegs nur um medizinische Forschung im engeren Sinne geht, wenngleich traditionell v. a. die biowissenschaftliche Grundlagenforschung mittels Labor- und Tierversuche („Präklinik“) und die klinische Arzneimittelforschung („Klinik“) von verschiedenen Teilbereichen der Forschungsethik abgedeckt werden.

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So wird in der Tierversuchsethik (z. B. Borchers und Luy 2009) beispielsweise angesichts des moralischen Grundkonflikts – „Dürfen nicht-menschliche Tiere für Ziele und Zwecke (Nutzen) von Menschen instrumentalisiert, d. h. hier zu Forschungszwecken verwendet werden?“ (vgl. unten Tierethik) – diskutiert, wie viel Belastungen und Leid Tiere zugunsten welcher Art von Erkenntnis ausgesetzt sein dürfen, wie sie besser gehalten werden können und wie die Zahl an Tierversuchen insgesamt oder jener der Tierversuchstiere in einzelnen Versuchen reduziert werden kann. Dabei wird i. d. R. vom „3R-Prinzip“ gesprochen, welches Replacement (kompletter Ersatz von Tierversuchen durch alternative Methoden), Reduction (Verringerung der erforderlichen Zahl an Tierversuchen) und Refinement (Verbesserung der Forschungs- und Haltungsmethoden, um Leid zu verringern) beinhaltet (vgl. z. B. BfR 2018). Dagegen beschäftigt sich die Klinische Forschungsethik mit der Forschung an Menschen, z. B. bei neuen Arzneimitteln oder Medizinprodukten (z. B. Emanuel et al. 2008a). Sie kann aber, wie die Klinische Ethik, breiter aufgefasst werden und jedwede Forschung mitmeinen, die auf diagnostische oder therapeutische Maßnahmen (z. B. auch aus der Physiotherapie) ausgerichtet ist, v. a. hinsichtlich deren Wirksamkeit.9 Wie bei der Tierversuchsethik ist eine zentrale Frage auch hier, wie der mögliche Nutzen einer Studie mit den mit ihr verbundenen Belastungen und Schadensrisiken für die Studienteilnehmenden abgewogen werden kann – gerade aufgrund der Tatsache, dass die Studienteilnehmenden selten einen direkten gesundheitlichen Nutzen aus ihrer Teilnahme an einer Studie ziehen können, erst recht wenn sie in die Kontrollgruppe einer randomisierten kontrollierten Studie fallen (Mertz 2018). Ein Nutzen aus der Forschung ergibt sich meistens erst für zukünftige Patienten. Dieser Umstand erschwert auch die informierte Einwilligung, die als grundlegende Voraussetzung für Forschung an Menschen gilt, insofern manche Studienteilnehmende nicht verstehen, dass ihre Teilnahme nicht ihrer Behandlung dient (sog. „therapeutisches Missverständnis“). Besondere ethische Herausforderungen stellen in diesem Zusammenhang nicht oder nur minder einwilligungsfähige Studienteilnehmende dar, so beispielsweise neben den bereits erwähnten Demenzpatienten insbesondere Kinder (z. B. Ringmann und Siegmüller 2013). Decken Tierversuchsethik und Klinische Forschungsethik die externe Verantwortung von Forschenden ab – die Verantwortung gegenüber Versuchstieren, Probanden oder der

9 Insofern es aber auch nicht-interventionsbezogene, sozialwissenschaftliche Forschung im Gesundheitswesen gibt, z. B. Interviewstudien oder Fragebogenstudien, können auch Fragen einer Forschungsethik der Sozialwissenschaften bedeutsam werden (z. B. Umgang mit Interviewdaten, die Rückschlüsse auf die Person zulassen, aber auch die Gefahr, emotionalen Schaden bei Befragungen zu sensiblen Themen wie stigmatisierten Krankheiten oder sexuellem Missbrauch auszulösen).

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Gesellschaft insgesamt –, behandelt das wissenschaftliche Ethos (oder wissenschaftliche Integrität, gute wissenschaftliche Praxis u. Ä.) v. a. Fragen interner Verantwortung, d. h. der Verantwortung von Forschenden gegenüber der Wissenschaft bzw. gegenüber anderen Forschenden. Typische Themen hierbei sind wissenschaftliches Fehlverhalten (wie Betrug, Fälschung, Sabotage oder Plagiat), aber auch publikationsethische Fragen wie jene, wann bei einer wissenschaftlichen Publikation berechtigter Anspruch auf Autorenschaft besteht und wer warum Anrecht auf Erst- oder Letztautorenschaft erheben darf. Auch hier ist eine gewisse Professionalität (vgl. oben professionelle Ethik) ein zentrales Thema, und damit ist auch wiederum der Wert der Ehrlichkeit besonders bedeutsam (z. B. keine Forschungsdaten fälschen, den tatsächlichen Ablauf und Ergebnisse einer Studie berichten, aber auch Mitforschende nicht hintergehen usw.). Besonders in der Klinischen Forschungsethik sind neben den bereits angesprochenen Prinzipien (Emanuel et al. 2008a), die die Abwägung von Nutzen- und Schadenspotenzialen (Risiken) und die informierte Einwilligung abdecken, auch das Prinzip der wissenschaftlichen Validität zu nennen, welches verlangt, dass die Forschung methodisch in einer Qualität durchgeführt werden muss, die es erlaubt, die Ergebnisse tatsächlich danach verwerten zu können – ansonsten werden Studienteilnehmende oder auch Versuchstiere unnötig Risiken und Belastungen ausgesetzt sowie Ressourcen verschwendet. Auch die faire Auswahl von Studienteilnehmenden ist ein wichtiges Prinzip. Dieses verlangt, weder besonders vulnerable Gruppen (z. B. sozioökonomisch benachteiligte oder diskriminierte Gruppen) dadurch auszunutzen, dass insbesondere sie als Studienteilnehmende rekrutiert werden (und sie somit sämtliche Risiken tragen), noch sie von Forschung grundsätzlich auszuschließen, die ihnen möglicherweise einen Nutzen bringen könnte. Schließlich ist das Prinzip des sozialen Wertes zu nennen, welches verlangt, dass die wissenschaftliche Forschung der Gesellschaft (zukünftig) einen Nutzen bringen muss, sei dies ein kultureller (Beitrag zum Wissen der Gesellschaft), ein wissenschaftlicher (Erkenntnisse, auf denen in der Forschung weiter aufgebaut werden kann) oder ein direkt gesundheitsbezogener Nutzen.

4.2

Periphere Disziplinen

Die peripheren Disziplinen für eine Ethik im Gesundheitswesen werden nur knapp erläutert. Es handelt sich dabei z. B. um die Bioethik („Ethik des Lebendigen“) (z. B. BillerAdorno et al. 2008; Düwell und Steigleder 2003), worunter oft ein Sammelbegriff verstanden wird, der u. a. folgende Disziplinen umfassen kann: Tierethik (wie sollen wir Menschen generell mit Tieren umgehen; welchen moralischen Status haben Tiere?) (z. B. Wolf 2008); Neuroethik (Umgang mit den Instrumenten und Erkenntnissen der Hirnforschung,

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z. B. für ein besseres Krankheitsverständnis bei Demenz) (z. B. Erbguth und Jox 2017); und Genethik (dürfen Ergebnisse aus einer genetischen Diagnose beispielsweise als Begründung für einen Schwangerschaftsabbruch verwendet werden; welche Gentechnologien dürfen wie eingesetzt werden?) (z. B. Graumann 2011).10 Diese Disziplinen können insoweit für eine Ethik im Gesundheitswesen relevant werden, als deren Inhalte Teil medizinischer oder forschender Handlungen werden können (z. B. Tierethik bei Tierversuchen, Neuroethik bei gesundheitsbezogener Hirnforschung oder neurochirurgischen Maßnahmen wie der sog. tiefen Hirnstimulation, Genethik bei der Präimplantationsdiagnostik in der Reproduktionsmedizin oder bei gentechnischen Eingriffen ins menschliche Genom, um bestimmte Erkrankungen zu heilen oder eine solche Erkrankung sogar von vorneherein zu verhindern). Eine andere periphere Disziplin ist die Technikethik (z. B. Grunwald 2013), die beispielsweise als Informationsethik (Heesen 2016; Kuhlen 2004) bedeutsam ist – so etwa hinsichtlich der Überwachung von Demenzpatienten mittels GPS, oder angesichts von „Big Data“, also großen Datenmengen aus dem Gesundheitsbereich und der Umgang mit ihnen, sodass bei verknüpften personenbezogenen Daten Rückschlüsse auf einzelne Personen mit ihrem „Krankheitsprofil“ gerade für Institutionen wie Krankenkassen unmöglich bleiben. Technikethik kann aber auch als Roboterethik (Bendel 2018; Wallach und Asaro 2017) in einer Ethik im Gesundheitswesen zum Tragen kommen, so z. B. bei der Entwicklung und beim Einsatz von Pflegerobotern, Chirurgie-Robotern oder „Robotertieren“ als therapeutisches Mittel bei beispielsweise wiederum Demenzpatienten, aber auch bei der Entwicklung und beim Einsatz Künstlicher Intelligenz für die Diagnosestellung. Insbesondere für die Forschungsethik kann eine allgemeine Wissenschaftsethik (z. B. Reydon 2013; Resnik 2005) eine wichtige Grundlage bieten. Da sie u. a. das grundsätzliche Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft reflektiert, kann sie z. B. der Frage nachgehen, inwieweit Wissenschaft als – dem Ideal nach – interessenungebundener, von menschlicher Neugierde getriebener „Wahrheitssuche“ mit einem Gesundheitswesen vereinbart werden kann, das stets an letztlich praktisch (und oft auch kommerziell) verwertbaren Ergebnissen interessiert ist, und wie letzteres möglicherweise auch negativ auf Wissenschaft und wissenschaftliche Forschung zurückschlagen kann (z. B. durch die Abhängigkeit von Pharmafirmen oder anderen gewinnorientierten Akteuren im Gesundheitswesen).

10 Oft wird auch die Medizinethik als Teil der Bioethik aufgefasst (z. B. Neitzke 2013; Düwell und Steigleder 2003). In diesem Kapitel wird die Medizinethik aber aus systematischen Gründen bewusst als eigenständige Disziplin betrachtet und „Bioethik“ als Sammelbegriff für die oben erwähnten Disziplinen verwendet.

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Letztlich können periphere Disziplinen wie die Wirtschaftsethik (z. B. Gethmann-Siefert und Thiele 2008) und die Organisationsethik (Johnson 2018) v. a. für die Public Health Ethik eine Rolle spielen. Wirtschaftsethik kann dabei nämlich insofern bedeutsam sein, als es bei Public Health-Maßnahmen nicht selten um die Frage der gerechten Verteilung von Ressourcen geht, und damit oft auch um Rationalisierung (Steigerung der Effizienz) und Rationierung (Zuteilung beschränkt vorhandener Mittel). Zudem sind viele Dienstleister im Gesundheitswesen nicht öffentliche, sondern privatrechtliche Einrichtungen, weshalb sich mittelbar auch die Frage aufdrängen kann, wie man gerade in diesem Bereich, in welchem kranke Menschen eine für sie je nachdem existenziell wichtige Dienstleistung benötigen, in verantwortbarer Weise wirtschaften kann (z. B. wenn man eine Praxis führt). Letzteres hat Überschneidungen zu Fragen, wie Organisationen – auch öffentliche, wie z. B. Krankenhäuser – geführt werden sollten, damit sie ihre Ziele zwar effizient erreichen können, dabei aber nicht zugleich ihre eigenen Bediensteten oder die Patienten schädigen.

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Ziele und Tätigkeiten

Es dürfte nicht überraschend sein, dass vor dem Hintergrund der oben nur beispielhaft genannten mannigfachen Themen und Fragestellungen eines interdisziplinären und interprofessionelles Feldes wie der Ethik im Gesundheitswesen bzw. einer Medizinethik im weitesten Sinne die dortigen Ziele und die damit verbundenen Tätigkeiten ebenso vielfältig ausfallen (vgl. Callahan 1999). Die Ziele sind darüber hinaus u. a. aufgrund der Beteiligung verschiedenster Stakeholder aus dem Gesundheitswesen (Ärzte, Therapeuten, Patientenvertreter usw.) nicht selten praxisorientiert ausgerichtet. Dennoch beschäftigt sich auch eine Ethik im Gesundheitswesen als wissenschaftliche Unternehmung zwangsläufig mit Theorieentwicklung und Grundlagenreflexion. Hierbei werden moralisch relevante Begriffe entwickelt und kritisiert (z. B. Sterbehilfe, Hirntod, Krankheit und Gesundheit), Theorien oder normative Rahmengerüste (wie Prinzipien „mittlerer Reichweite“ und Kriterien) entwickelt. Es werden aber auch ethische Argumente für spezifische ethische Fragestellungen (z. B. für die Frage, ob man Demenzpatienten „verdeckt“ Medikamente geben soll) zusammengetragen oder neu formuliert und kritisch geprüft. Zudem wird grundsätzlich auf das Gesundheitswesen hin reflektiert (was ist das Gesundheitswesen, welche Ziele verfolgt es, wie sind seine Institutionen gerechtfertigt usw.?), wie auch auf die Ethik im Gesundheitswesen selber (worauf gründet eine „Ethik im Gesundheitswesen“, wie arbeitet sie, was für Qualitätsstandards sollten für sie gelten usw.?). Mit diesen Zielen ist keine unmittelbare Praxisrelevanz verbunden, d. h. die Ergebnisse müssen nicht in der Praxis anwendbar oder umsetzbar sein, auch da die damit verbundene Forschung primär die wissenschaftliche Gemein-

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schaft im Feld adressiert – entsprechend auch in Fachzeitschriften etc. publiziert wird – und nicht (direkt) die Praktiker. Jedoch kann dann die Translation („Übersetzung“, Implementierung) dieser wissenschaftlichen Ergebnisse in die Praxis auch ein Ziel einer Ethik im Gesundheitswesen sein. Dafür werden konzeptuelle Hilfsmittel („Tools“) entwickelt, so beispielsweise Entscheidungsfindungsmodelle für klinische Entscheidungen (z. B. Albisser et al. 2012, Steinkamp 2012) oder praxisnahe Empfehlungen und Hilfestellungen für die Begutachtung von klinischen Studien (z. B. Raspe et al. 2012). Für die Erreichung dieses Ziels kann allerdings eigenständige Forschung erforderlich sein, um einerseits herauszufinden, wie solche Hilfsmittel aufgebaut sein sollten (welche Hilfe benötigen die Praktiker, wie können die Inhalte verständlich dargestellt werden?), andererseits um sie zu evaluieren (werden sie genutzt, wie werden sie genutzt, wo treten Schwierigkeiten bei der Umsetzung auf?), um sie dann optimieren zu können. Auch die Untersuchung, ob sich die Praxis an gegebene normative Vorgaben hält, oder warum sie sich nicht daran hält (Fehlanreize, mangelnde Ausbildung, Überforderung?) und was getan werden könnte, um Hindernisse abzubauen, kann dem Ziel der Translation zugeordnet werden. Von dem Ziel der Translation besteht ein fließender Übergang zu dem Ziel, an der (Selbst-)Regulierung der Praxis im Gesundheitswesen mitzuwirken, beispielsweise mittels Tätigkeiten wie jenen der Aus- und Fortbildung, der wissenschaftlichen Beratung sowie der Mitarbeit an Policy-Instrumenten. Hierbei zu nennen sind insbesondere Klinische Ethikberatung oder Ethikkonsultation zur v. a. Einzelfallberatung (z. B. Dörries et al. 2008), Ethikkommissionen und andere vergleichbare Formate (Vollmann 2008) sowie die Politikberatung durch (nationale) Ethikräte (wie z. B. der Deutsche Ethikrat). Darüber hinaus können als Instrumente der Policy-Entwicklung in einer Ethik im Gesundheitswesen lokale, nationale oder transnationale Ethik-Leitlinien (z. B. Neitzke et al. 2015; WHO 2017) genannt werden oder, als eine Informationsgrundlage für Leitlinien und andere Regulierungen, die ethische Bewertung von therapeutischen Interventionen im Rahmen der Gesundheitstechnologiebewertung (Health Technology Assessment, HTA) (z. B. Lysdahl et al. 2016). Auch hier kann eigenständige Forschung erforderlich sein, um zu erarbeiten wie z. B. Ethik-Leitlinien entwickelt werden können, wie Beratungskonzepte aussehen sollten oder ob eine Ethikkommission ihre Aufgaben erfüllen kann oder nicht.

Ziele und Tätigkeiten in einer Ethik im Gesundheitswesen

• Theorieentwicklung und Grundlagenreflexion • Translation (wissenschaftlicher Ergebnisse) in die Praxis (u. a. Entwicklung von „Tools“) (Fortsetzung)

• Aus-/Fortbildung, (wissenschaftliche) Beratung im Einzelfall (z. B. Klinische Ethikkonsultation) • Politikberatung • Mitwirkung bei Policy-Instrumenten (z. B. EthikLeitlinien, ethische Aspekte in Gesundheitstechnologie-(HTA)-Berichten)

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Methoden

Aufgrund der unterschiedlichen Ziele und Tätigkeiten und der erheblichen Interdisziplinarität des Feldes kommt auch eine Vielzahl an Methoden in einer Ethik im Gesundheitswesen zum Einsatz. Bei den Bewertungsmethoden – d. h. den Methoden, die eingesetzt werden, um ethische Bewertungen vorzunehmen – dominieren gerade in den drei Kerndisziplinen sog. prinzipienorientierte Ansätze (vgl. Wiesing und Marckmann 2011), die mittels Prinzipien „mittlerer Reichweite“, konkreter Normen, einzelner Werte oder auch mittels Kriterien eine Handlung bewerten (z. B. Beauchamp und Childress 2009; Emanuel et al. 2008b; Strech und Marckmann 2010, s. auch die beispielhaft genannten Werte und Prinzipien in diesem Beitrag). Verwendet werden aber ebenso kasuistische Methoden (Jonsen und Toulmin 1988), die detailreiche Einzelfallvergleiche vornehmen und durch Analogieschlüsse die Bewertung neuer Fälle ermöglichen. Auch werden Theorien unterschiedlicher Abstraktheitsgrade verwendet – von eher praxisnahen sog. „Common Morality“-Ansätzen (Gert 2004) bis hin zu philosophischen Moraltheorien (wie z. B. Utilitarismus, kantianische Deontologie, Vertragstheorie oder Diskursethik u. v. m., siehe z. B. Düwell et al. 2011b oder Pieper 2017). Bei den Forschungsmethoden (z. B. Sugarman und Sulmasy 2010) werden z. T. die Bewertungsmethoden selber verwendet, insofern Forschung in einer Ethik im Gesundheitswesen gerade bedeuten kann, systematisch Handlungen und Handlungsregeln zu bewerten und u. a. die damit verbundenen Argumente zu prüfen. Dabei kommen darüber hinaus, besonders bei dem Ziel der Theorieentwicklung und Grundlagenreflexion, (weitere) philosophische Methoden zum Einsatz wie die Begriffs-/Bedeutungsanalyse (u. a. Differenzieren verschiedener meist abstrakter Begriffe, Bestimmung relevanter logischer oder inhaltlicher Beziehungen von Begriffen zueinander usw.), Gedankenexperimente oder explizite logische Argumentation (z. B. Pfister 2013). Es können aber auch historische, literaturwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche oder andere geisteswissenschaftliche Methoden verwendet werden (s. Sugarman und Sulmasy 2010). In den letzten rund zwei Dekaden hat auch die Verwendung empirischer Forschungsmethoden v. a. der Sozialwis-

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senschaften zunehmend an Verbreitung gewonnen (z. B. Wangmo und Provoost 2017). Sie werden insbesondere wiederum in den drei Kerndisziplinen eingesetzt, v. a. angesichts praxisorientierter Ziele wie der Translation von Forschungsergebnissen. Neben der Durchführung „rein“ empirischer (qualitativer wie auch quantitativer) Interview-, Fragebogenoder Beobachtungsstudien sowie Dokumentenanalysen propagiert der u. a. als „empirische (Medizin-)Ethik“ (empirical bioethics) (z. B. Ives et al. 2017) bezeichnete Ansatz eine systematische Kombination von empirischen Erhebungs- und Auswertungsmethoden mit normativ-ethischen (Bewertungs-) Methoden (z. B. Mertz et al. 2014). Durch den verstärkten Einsatz empirischer Methoden haben zudem partizipative Methoden, die Praktiker einbeziehen, beispielsweise in Workshops, Fokusgruppen, Konsensuskonferenzen etc. (z. B. Reiter-Theil et al. 2011; Schicktanz 2009) sowie Methoden systematischer Übersichtsarbeiten (systematic review) (z. B. Mertz et al. 2016) Einzug in die Forschung einer Ethik im Gesundheitswesen genommen, insbesondere bei der Entwicklung von Leitlinien und anderen Policy-Instrumenten.

Methodik

• Bewertungsmethoden in einer Ethik im Gesundheitswesen: – Prinzipienorientierte Ansätze – Kasuistische Ansätze – Theorie-basierte Ansätze oder Verwendung einer philosophischen Moraltheorie • Forschungsmethoden in einer Ethik im Gesundheitswesen: – Verwendung verschiedener Bewertungsmethoden (s. oben) • Philosophische Methoden und andere geisteswissenschaftliche Methoden (historische, literaturwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche . . .) • Empirische Methoden der Sozialforschung (Interviews, Fragebogen, Beobachtung, Dokumentenanalyse), partizipative Methoden (Workshops, Fokusgruppen . . .) und systematische Übersichtsarbeiten

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Fazit

Eine Ethik im Gesundheitswesen bzw. eine Medizinethik im weitesten Sinne zeichnet sich durch eine Vielfalt an Themen, Zielen und Tätigkeiten sowie an Bewertungs- und Forschungsmethoden aus. Der verbindende Kern dabei ist jedoch die Auseinandersetzung mit ethischen Bewertungen (mittels Werten, Normen, Prinzipien, Kriterien . . .), die eine normative Grundlage für Entscheidungen und Handlungen im Gesundheitswesen darstellen oder diese Entscheidungen

zumindest mitbeeinflussen. Diese Vielfalt erklärt z. T. auch die Unterschiede bei der Art und Weise, „Ethik zu betreiben“: von traditionell philosophischen Analysen bis hin zu stark sozialwissenschaftlich orientierten empirischen Untersuchungen, oder von der Arbeit an Theorien bis hin zu der Ausarbeitung von Leitlinien für die Praxis usw. Eine Verengung auf das klassische Verständnis von Ethik als philosophische Disziplin greift deshalb bei einer Ethik im Gesundheitswesen zu kurz, auch wenn sich die „traditionellen“ philosophischen Anteile stets – zu Recht – in den verschiedenen Fragestellungen, Zielen und Methoden niederschlagen. " Eine Ethik im Gesundheitswesen (Medizinethik im weitesten Sinne) ist keine rein philosophische oder theologische Disziplin; sie ist ein interdisziplinär und interprofessionell geprägtes Feld unterschiedlichster Tätigkeiten sowohl wissenschaftlicher/theoretischer (Forschung, Reflexion, kritische Prüfung . . .) als auch praktischer Art (z. B. wissenschaftliche Beratung, Ausbildung, Mitarbeit an (Selbst-) Regulierungsinstrumenten . . .).

Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Themen und Fragestellungen wird aber auch deutlich, dass ethische Bewertungen keineswegs etwas sind, das zwingend „von außen“ den Praktikern im Gesundheitswesen „auferlegt“ wird. Vielmehr drängen sich moralische Fragen unmittelbar in der Praxis auf und die damit einhergehenden ethischen Bewertungen machen einen alltäglichen und in gewisser Weise auch unvermeidbaren Teil vieler Tätigkeiten im Gesundheitswesen aus. Allerdings bedeutet dies keineswegs, dass diese Bewertungen und das, was aus ihnen in Form von Normen oder Handlungspflichten gefolgert wird, (a) argumentativ überzeugend abgesichert und/oder (b) die darauf beruhenden Lösungsvorschläge moralisch gut/richtig oder zumindest vertretbar sind; es beinhaltet nicht einmal, dass die Bewertungen (c) auch von der normativen, nicht nur empirischen Seite her gut informiert erfolgen, noch schließlich dass die Bewertungen den Akteuren (d) explizit bewusst sind. Nicht zuletzt (e) ergeben sich zwischen Akteuren im Gesundheitswesen nicht nur in der Theorie, sondern gerade auch in der Praxis oft Uneinigkeiten oder Dissense über ethische Bewertungen, deren Grundlagen oder deren Implikationen: So werden z. B. nicht nur die bestehenden Handlungsmöglichkeiten an sich unterschiedlich moralisch bewertet, sondern bereits die Fakten unterschiedlich interpretiert, die für die ethische Bewertung wichtig sind (z. B. Folgen von Handlungen). Es kann auch Dissense geben bezüglich dessen, welche Einzelhandlungen unter eine bestimmte, in diesem Moment nicht problematisierte Norm fallen (ist etwa ärztlich assistierter Suizid durch eine Norm, die ein „Sterben in Würde“ fordert, mitgemeint?). Schließlich kann es auch zu Uneinigkeit darüber kommen, wie bestimmte Werte, Normen oder Prinzipien,

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die als Basis von Bewertungen dienen, zu gewichten wären, wenn sie in Konflikt zueinander stünden (nach Reiter-Theil und Mertz 2012, S. 302–303). Die (übergeordneten) Aufgaben einer Ethik im Gesundheitswesen bzw. Medizinethik im weitesten Sinne haben deshalb wenigstens damit zu tun, Lösungsvorschläge zu entwickeln und zu bewerten, damit auch ethische Argumente zu formulieren und kritisch zu prüfen. Sie haben aber auch damit zu tun, für die Praxis verwertbare Informationsgrundlagen bereitzustellen (z. B. hinsichtlich bestehender ethischer Rahmengerüste und Kriterien, Regulierungen, Leitlinien oder Positionen und Argumente) und insgesamt die Sensibilisierung gegenüber ethischen Bewertungen zu fördern. Auch soll sie Werturteile bzw. Bewertungen expliziter und dadurch transparenter und intersubjektiv nachvollziehbarer machen. Damit leistet sie einen Beitrag dazu, nicht nur über die medizinischen oder „technischen“ Fragen, sondern auch über die moralischen Fragen im Gesundheitswesen einen vernünftigen Diskurs zu ermöglichen. Jedoch ist auch eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen einer Ethik im Gesundheitswesen erforderlich: Sie alleine kann weder schwierige moralische Entscheidungssituationen in der Praxis auflösen noch moralische Missstände beheben. Allenfalls kann sie auf diese hinweisen und Hilfestellungen anbieten; die eigentliche Entscheidung oder Handlung verbleibt jedoch zwingend stets bei den Akteuren im Gesundheitswesen, sei das im unmittelbaren therapeutischen Kontext, auf Management-/Verwaltungsebene oder auf der Ebene politischer Entscheidungen. Sie kann deshalb auch Akteure im Gesundheitswesen, die kein Interesse an moralischem Handeln haben, nicht dazu bringen, moralisch oder zumindest moralkonform zu handeln – denn diese werden sich auch durch einen Ethik-Vortrag oder ein ethisches Entscheidungsfindungsmodell kaum dazu bewegen lassen (vgl. Pieper 2017).11 Ethik kann aber diejenigen, die informierter, reflektierter und dadurch auch begründeter moralisch handeln möchten, in diesem Vorhaben unterstützen, und dadurch das moralische Handeln im Gesundheitswesen fördern.

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Das gelingt nur durch die Mitwirkung an Regulierungsinstrumenten u. Ä., die über die bloßen moralischen Erwägungen hinaus normative Kraft auf Akteure ausüben können (z. B. über Sanktionen, sozialen Druck, egoistische Anreize usw.).

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Public Health Ethik Julia Inthorn, Lukas Kaelin und Christian Apfelbacher

Inhalt 1 Anwendungsbereich der Public Health Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 2 Autonomie und Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 3 Gesundheit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 4 Tabakrauchen als Prüfstein der Public Health Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 5 Genetisches Screening und Prädiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 6 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707

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Anwendungsbereich der Public Health Ethik

Nach einer weitverbreiteten und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übernommenen Definition wird unter Public Health die Wissenschaft und Praxis der Verhinderung von Krankheiten, Verlängerung des Lebens und Förderung der Gesundheit durch organisierte Anstrengungen der Gesellschaft verstanden (Acheson 1988). Public Health meint also die „öffentliche Sorge um die Gesundheit aller“ (Brand 2002). Gerlinger et al. (2012) fügen hinzu, dass dies unter Berücksichtigung einer gerechten Verteilung und effizienten Nutzung von Ressourcen erfolgen soll. Jedenfalls sind der

J. Inthorn Zentrum für Gesundheitsethik, Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Kaelin Institut für Praktische Philosophie/Ethik, Katholische Privat-Universität Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] C. Apfelbacher (*) Medizinische Soziologie, Institut für Epidemiologie und Präventivmedizin, Fakultät Medizin, Universität Regensburg, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Bezug auf die Gesundheit der Bevölkerung (und nicht des Einzelnen) und die doppelte Charakterisierung als Wissenschaft und Praxis Merkmale des Public Health Begriffs. Im deutschsprachigen Raum werden die wissenschaftlichen Public Health Aktivitäten auch als Gesundheitswissenschaften bezeichnet. Es ergeben sich vier ethische Herausforderungen (Faden und Shebaya 2016): (i) Da sich Public Health auf ein öffentliches, gemeinschaftliches Gut und nicht auf die Gesundheit des Einzelnen bezieht, stellen sich Fragen danach, was dem Einzelnen um der öffentlichen Gesundheit willen zugemutet werden kann, aber auch, von welcher Öffentlichkeit die Rede ist. Ist öffentliche Gesundheit mit Bevölkerungsgesundheit (als Gesundheit der gesamten Bevölkerung) gleichzusetzen oder müssen Subgruppen (z. B. Menschen mit Migrationshintergrund) als eigene Öffentlichkeiten betrachtet werden? Damit verbunden ist auch der Hinweis auf die Beobachtung, dass in einer Gesellschaft eine gute Bevölkerungsgesundheit durchaus mit einer starken sozialen Ungleichverteilung der Krankheitslast einhergehen kann. (ii) Auch wenn die medizinische Versorgung für Förderung und Schutz der öffentlichen Gesundheit essenziell ist, ist die Prävention (Vermeidung) von Erkrankungen das eigentliche Gebiet von Public Health. Spezifisch für

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_64

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Prävention ist, dass der Nutzen in der Zukunft liegt, während die Kosten in der Gegenwart auftreten. Dies mag der Grund sein, warum viel mehr öffentliche Ressourcen in die medizinische Versorgung (und Forschung) fließen als in Public Health (einschließlich der Public Health Forschung). Aus ethischer Perspektive ist diese Gewichtung eine Frage der Gerechtigkeit, eine Frage nach dem Stellenwert von Gesundheit als Gut, die gesellschaftlich ausgehandelt werden muss. (iii) Um gesellschaftlich Ergebnisse im Sinne von Public Health zu erzielen, ist häufig staatliches Handeln auf der Grundlage von Gesetzen erforderlich. Daraus ergibt sich, dass sich Public Health Diskurse in einem Spannungsfeld von Gerechtigkeit, Sicherheit und dem Geltungsbereich rechtlicher Regelungen bewegen. Typischerweise muss für jede Maßnahme abgewogen werden, inwieweit die Verbesserung der Gesundheit aller eine Beschränkung der Autonomie des Einzelnen rechtfertigt. Dabei ist zwischen paternalistischen Maßnahmen, die der Gesundheit der unmittelbar Betroffenen dienen (z. B. Gurtpflicht), und solchen, die die Gesundheit von Dritten schützen (z. B. Nichtraucherschutz), zu unterscheiden. (iv) Insoweit Public Health bestrebt ist, negative Outcomes (Morbidität, Mortalität) zu vermeiden und positive Outcomes zu fördern, liegt eine konsequentialistische Orientierung zu Grunde. In der Regel kann dabei nur bedingt und über Wahrscheinlichkeiten (probabilistisch) vorhergesagt werden, wer von Präventionsbemühungen (z. B. einer Strategie für gesunde Ernährung und mehr Bewegung) profitiert. Diese Orientierung rein an den Folgen kann aus einer stärker an den individuellen Rechten orientierten Perspektive oder einer Perspektive der sozialen Gerechtigkeit kritisiert werden. Diese kritischen Positionen stellen die Frage nach der Bewertung von Maßnahmen selbst und deren Verhältnismäßigkeit stärker in den Fokus der ethischen Bewertung. Aus den genannten Spezifika von Public Health ergibt sich, dass eine Public Health Ethik nicht einfach als Sonderfall einer Ethik der Biomedizin konzipiert werden kann. So plädiert etwa Peter Dabrock dafür, Public Health Ethik und die Ethik des Gesundheitswesens nicht einfach als Unterfall einer biomedizinischen Ethik zu begreifen (Dabrock 2002). Biomedizinische Ethik geht im Kern von der Situation der Versorgung von Patienten durch Gesundheitspersonal aus, sie reflektiert auf der mikrosozialen Ebene über Kommunikationen, die dem Code „krank/nicht krank“ folgen. Daraus folgt u. a., dass im Bereich der Medizinethik der Gestaltung des Arzt-PatientenVerhältnisses eine zentrale Bedeutung zukommt. Demgegenüber orientiert sich Public Health Ethik am Code „gesund/nicht gesund“, im Zentrum stehen strukturelle Maßnahmen, deren Reflexion in den Bereich der Sozialethik

J. Inthorn et al.

fällt. Insofern es also der Medizinethik um das individuelle Wohl des Patienten geht, liegt das primäre moralische Spannungsverhältnis im Konflikt zwischen dem Respekt vor der Autonomie von Patienten einerseits und Non-Maleficence bzw. Beneficence (hippokratischer Eid) andererseits (Schröder 2007). Aufgabe der klinisch ausgerichteten Medizinethik wäre die Erarbeitung von Entscheidungskriterien für die Entscheidungen am Krankenbett (samt Interessensvertretung). Public Health Ethik widmet sich dem Wohl von Bevölkerungen oder Gruppen, das zentrale moralische Spannungsverhältnis liegt hier im Konflikt zwischen der Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens und dem Respekt vor der Autonomie des Individuums. Aufgabe einer Public Health Ethik ist die Erarbeitung von Entscheidungskriterien für Public Health Akteure (z. B. im öffentlichen Gesundheitsdienst) sowie Gesundheitspolitikberatung. Vor dem Hintergrund eines am Gesundheitsnutzen ausgerichteten Verständnisses von Public Health weist Schröder auf die Bedeutung vulnerabler Gruppen sowie den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit hin (Schröder 2007). Die Zielrichtung von Public Health Maßnahmen ist immer, eine größtmögliche Zahl von Menschen zu erreichen – gleichwohl muss ebenso bedacht werden, welche Gruppen nicht erreicht werden und ob etwa eine Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens mit einer Verstärkung gesundheitlicher Ungleichheit einhergeht, weil z. B. besonders Menschen mit einem bestimmten Bildungshintergrund profitieren. Schröder beschreibt die Prinzipien von Public Health Ethik im Unterschied zur Medizinethik wie folgt: Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens und Bevölkerungsschutz, Achtung vor der Menschenwürde, Gerechtigkeit, Effizienz und – als Querschnittsprinzip – Verhältnismäßigkeit. Dabei sorgt das Gerechtigkeitsprinzip für einen Ausgleich zwischen der Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens und der Menschenwürde (Schröder 2007). Für viele Public Health Maßnahmen sind wie skizziert Abwägungen zwischen individuellen Freiheitsrechten einerseits und dem Wohl aller andererseits notwendig. Klare allgemeine Verpflichtungen ebenso wie Verbote markieren zwei Endpunkte möglicher Formen von Maßnahmen. In der Regel sind Maßnahmen aber so strukturiert, dass sie einen Rahmen für individuelle Entscheidungen bilden, durch die die jeweilige Maßnahme erst wirksam wird (Bsp. Strategien für gesunde Ernährung und mehr Bewegung). Diese Abwägungen finden im Spannungsfeld von unterschiedlichen Gewichtungen von Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich, von Autonomie und Schadensvermeidung statt. Sie sind dabei auf solide wissenschaftliche Daten angewiesen, welche jedoch stets im Kontext eines (impliziten oder expliziten) normativen Verständnisses der Gesellschaft, der Bedeutung von Gesundheit, Freiheitsrechten und Solidarität interpretiert werden müssen, um entsprechende Public Health Maßnahmen zu entwickeln.

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Public Health Ethik

Da sich Public Health Ethik auf den ganzen Bereich der öffentlichen Gesundheit bezieht, sind der ethischen Problematisierung von Public Health Maßnahmen grundsätzlich keine Grenzen gesetzt. Klassische Diskussionsfelder der Public Health Ethik, die auch in einer größeren Öffentlichkeit diskutiert werden, sind gesetzliche Maßnahmen zum Nichtraucherschutz und Fragen zielführender Impfstrategien. Zunehmend ins öffentliche Bewusstsein gerät, analog zur Nichtraucherschutzthematik, die Abwägung zwischen den individuellen Freiheiten des motorisierten Verkehrs und der öffentlichen Gesundheit (z. B. Dieselfahrverbote). Weniger öffentlich diskutiert sind Public Health Themen wie die Sinnhaftigkeit von Adipositas-Plakatkampagnen (Kaminisky 2009) oder der HIV-Prävention bei Hochrisiko-Patienten (Philpott 2013).

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Autonomie und Paternalismus

Maßnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit können mit Eingriffen in die individuellen Freiheitsrechte (z. B. durch Verbote) einhergehen. Ein solcher Eingriff ist immer begründungsbedürftig. Vor dem Hintergrund der Verbrechen in der NS-Zeit, die mit Verweis auf die Volksgesundheit begangen wurden und zur massiven Verletzung der Integrität von Personen führten, gibt es eine besondere Sensibilität in der ethischen Debatte in Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung hat in Medizin und Gesundheitsversorgung einen zentralen Stellenwert (Zimmerman 2017; Beauchamp und Childress 2013). Autonome Entscheidungen sind zu respektieren und die Zustimmung einer Person gilt zunächst als zentrale Voraussetzung jeder gesundheitsbezogenen Handlung. Dahinter steht die Annahme, dass Menschen für sich selbst am besten wissen, was – innerhalb ihres ganz persönlichen Lebenskonzepts – gut für sie ist, und daher nur sie Entscheidungen, die ihren Körper und ihre Gesundheit unmittelbar betreffen, treffen können. Allgemeine Maßnahmen können dieser Pluralität der Lebensentwürfe nicht völlig Rechnung tragen. Viele dieser Entscheidungen haben Menschen selbstverständlich in ihren Alltag integriert, wenn es um Fragen wie Ernährung, Bewegung aber auch Aspekte wie Empfängnisverhütung oder das Wahrnehmen von Vorsorgeuntersuchungen geht. Sie gehören zum Selbstverständnis einer Person und sind eng mit ihren Wertvorstellungen verknüpft. Sie können durch entsprechende Rahmenbedingungen gestützt, erleichtert oder auch beschränkt werden. Diese im Alltag zur Regel gewordenen Entscheidungen können auch immer wieder korrigiert werden, hier setzen Public Health Maßnahmen an. Selbstbestimmung ist dabei nicht immer einfach gegeben, insbesondere bei Entscheidungen mit weitreichenden Folgen, sondern es ist auch eine Aufgabe innerhalb des Gesundheitssystems, Bürgerinnen und Bürgern eine selbstbestimmte Ent-

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scheidung in Bezug auf ihre Gesundheit, unter anderem durch das Bereitstellen sachgerechter Information mit der Möglichkeit zur Rückfrage, zu ermöglichen. Die Bedeutung der Selbstbestimmung wird allgemein als umso höher angesehen, je weniger dringlich eine Maßnahme oder ein Eingriff ist und je weniger eindeutig der unmittelbare Nutzen einer Maßnahme für die betroffene Person ist. Der Begriff der Selbstbestimmung ist selbst Gegenstand umfangreicher ethischer Debatten. Positionen, die die individuelle autonome (rationale) Entscheidung zum Kern machen, werden von Positionen eines relationalen Autonomieverständnisses, die die Bedeutung von (Sorge-)Beziehungen und gemeinsamer Verantwortung für Entscheidungsprozesse stark machen, kritisiert. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass selbstbestimmte Entscheidungen auf entsprechende Rahmenbedingungen angewiesen sind. Hierzu gehören: Die Wahl zwischen verschiedenen (attraktiven) Alternativen, die Bereitstellung bzw. der Zugang zu sachlicher, ausgewogener und richtiger Information zu diesen Alternativen, die unterstützte oder individuelle Abwägung von Alternativen im Rahmen der eigenen Lebensvorstellungen, von potenziellem Nutzen und Risiken, die zu einer begründeten Entscheidung führen, und die Möglichkeit, die jeweilige Entscheidung umzusetzen. Der Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen geht dabei sehr weit und umfasst auch Entscheidungen, die andere als nicht vernünftig oder sogar als selbstschädigend einstufen, d. h. die Abwägungsprozesse können zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. So ist es möglich, dass jemand eine lebensrettende Operation ablehnt, Drogen konsumiert oder keine Aufklärung über seine individuellen gesundheitlichen Risiken oder Präventionsmöglichkeiten wünscht. Die Grenzen der Selbstbestimmung werden gesellschaftlich da diskutiert, wo der potenzielle gesundheitliche Schaden auch Dritte betrifft, wie man an der Diskussion um die Weigerung von Eltern, die eigenen Kinder impfen zu lassen, exemplarisch sehen kann. Entscheidungen zum Gesundheitsverhalten, insbesondere in Bereichen wie Ernährung, Bewegung oder auch Vorsorge und Risikoverhalten, werden auf der Basis individueller Überlegungen getroffen, bei denen subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Wohlbefinden eine wesentliche Rolle spielen. (Öffentliche) Gesundheit als Zielmarke von Public Health Maßnahmen setzt diesen eine objektive Vorstellung von Gesundheit entgegen, die nicht unbedingt von allen Bürgerinnen und Bürgern geteilt werden muss. Die Bedeutung von Gesundheit im Verhältnis zu anderen erstrebenswerten Gütern kann individuell sehr unterschiedlich sein, ebenso die Gewichtung von physischen, psychischen und sozialen Aspekten von Gesundheit. Soziale Teilhabe, Gestaltungsmöglichkeiten im eigenen Leben und Selbstwirksamkeit werden zum Bestandteil des Wohls einer Person. Selbstbestimmung in Fragen der Gesundheit hat damit einen

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J. Inthorn et al.

normativen Doppelcharakter. Der Respekt vor der Selbstbestimmung ist selbst Teil der Erfahrungswelt von Patientinnen und Patienten bzw. Bürgerinnen und Bürgern, die sich im Idealfall als selbstbestimmte Akteure erfahren und Prozesse partizipativ mitgestalten, was wiederum zu ihrer Gesundheit beiträgt (Zimmerman 2017). Vor diesem Hintergrund muss für Public Health Maßnahmen abgewogen werden, welche Bedeutung die Aneignung einer Entscheidung durch den selbstbestimmten Akteur hat. Maßnahmen, die mit verschiedenen Formen von Zwang verbunden sind, können negative Folgen wie Vertrauensverlust haben, die den eigentlich intendierten Nutzen einer Maßnahme negativ beeinflussen. Entsprechend ist auch die Rolle von Expertinnen und Experten situativ angemessen zu bestimmen. Ausgangspunkt ist dabei idealerweise die Perspektive der betroffenen Person, um im Gespräch mit ihr Handlungsalternativen vor dem Hintergrund ihrer individuellen Vorstellungen zu entwickeln und ihr zu ermöglichen, individuell und bewusst Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen.

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Gesundheit und Gerechtigkeit

Im ethischen Nachdenken über Gesundheit ist Gerechtigkeit als bedeutendes Prinzip anerkannt. Gerechtigkeit ist eines der vier medizinethischen Prinzipien des viel diskutierten und viel kritisierten medizinethischen Standardwerkes von Beauchamp und Childress (2013). Das dabei zum Zuge kommende Verständnis von Gerechtigkeit schließt an die Überlegungen klassischer Gerechtigkeitstheorien von John Rawls und Norman Daniels an. In der Sache geht es dabei um Fragen, wie teure medizinische Behandlungen unter Bedingungen der Knappheit am besten vergeben werden können. Bei diesen Fragen der Allokation unterscheidet man zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene; die Bandbreite der Allokationsfragen reicht also von der fairen Vergabe von Organen bzw. Betten auf einer Intensivstation bis hin zu Fragen, wie das Gesundheitssystem als Ganzes am besten seine Mittel einsetzt, hierunter fällt auch das Verhältnis von präventiven und kurativen Maßnahmen. Eine gerechte Verteilung muss eine Reihe von Kriterien erfüllen, die sowohl das Verfahren (transparent, begründet, konsistent, inklusiv, anpassungsfähig etc.) als auch das zugrunde liegende Prinzip der Gerechtigkeit betrifft. Neben der Allokation werden im Kontext der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen auch Fragen der Priorisierung und Rationierung diskutiert. Bei der Priorisierung geht es einerseits um die Rangreihung innerhalb eines festgelegten medizinischen Versorgungsbereichs, z. B. innerhalb von Lungenerkrankungen (vertikale Priorisierung), und andererseits um die Dringlichkeitsabwägungen zwischen unterschiedlichen Bereichen, z. B. Lungenerkrankungen vor präventiven Maß-

nahmen (horizontale Priorisierung). Die inhaltlichen Kriterien für die Priorisierung können rechtlicher, ethischer und wirtschaftlicher Natur sein. Die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer nimmt zum zentralen Maßstab die medizinische Bedürftigkeit, den medizinischen Nutzen und die Kosteneffizienz (ZEKO 2007). Nachgelagert zur Debatte über die Priorisierung ist jene der Rationierung, d. h. dem (offenen oder verdeckten) Vorenthalten medizinischer Leistungen, die in der Regel mit der Begrenztheit der ökonomischen Mittel begründet wird. Entscheidende Bedeutung in der Diskussion über Gerechtigkeit im Gesundheitswesen erlangt der Unterschied zwischen equity und equality. Denn eine gerechte Verteilung der Leistungen im Gesundheitswesen (equity) lässt sich nicht auf eine gleiche Verteilung reduzieren (equality), da der unterschiedliche Bedarf auch in Form von verschiedenen Ausgangsbedingungen zu berücksichtigen ist. Im Kontext der medizinischen Versorgung bedeutet das eine besondere Anstrengung gegenüber jenen (Gruppen von) Bürgerinnen und Bürgern, die aufgrund sozialer, ökonomischer oder anderer Bedingungen einen schlechteren Gesundheitsstatus oder deutlich höhere Zugangshürden zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung haben. Umgekehrt spielen Fragen der Gesundheit in Theorien der Gerechtigkeit weitgehend eine marginale Rolle. So leitet John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ seine beiden Grundprinzipien – (I) das Prinzip grundlegender Freiheiten und (II) die Gewährleistung einer fairen Chancengleichheit – aus einer Grundannahme ab, in der von idealen Vertragsbedingungen ausgegangen und somit – nicht unumstritten – von Krankheit und Gebrechen abstrahiert wird (Rawls 1999). Die idealisierten Vertragsbedingungen nehmen Fragen der Gesundheit nicht in den Blick, was jedoch nicht heißt, dass die liberale politische Theorie der Gerechtigkeit für Fragen der Gesundheit nicht fruchtbar gemacht werden könnte. Norman Daniels hat in „Just Health“ (Daniels 2008) eine solche Anwendung von liberalen Gerechtigkeitsüberlegungen auf Fragen der Gesundheitsversorgung vorgenommen. In einem liberalen Kontext ist Gesundheit deswegen gerechtigkeitsrelevant, weil sie maßgeblich unsere Lebenschancen und -möglichkeiten bestimmt. Die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Gesundheit ist deswegen ein hohes Gut, weil erst dadurch Menschen die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe gegeben ist. Zudem hat die Ungleichheit in Beruf, Bildung und Einkommen unmittelbar Einfluss auf die individuellen Gesundheitschancen. Ziel einer gerechten Gesundheitsversorgung muss es aus dieser theoretischen Perspektive sein, die gesellschaftliche Chancengleichheit zu gewährleisten. Wie dies zu gewährleisten ist und was dies konkret umfasst, darüber herrscht begründete Uneinigkeit. Daher entwirft Daniels (2008) ein prozedurales Verfahren, das Fairness garantieren soll – Accountability for Reasonableness (Verant-

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Public Health Ethik

wortung für Vernünftigkeit). Durch die Öffentlichkeit (transparente Allokationsentscheidungen), Relevanz (vernünftige Begründung), Einspruchsmöglichkeit (und damit Revidierbarkeit) und Regulierung (und Aufsicht) von Verfahren zur Allokation von begrenzten medizinischen Ressourcen soll gewährleistet werden, dass die Verteilung gerecht erfolgt. Jedoch bildet jenseits der Verfahrensfragen das Prinzip der fairen Chancenverteilung das normative Fundament. Im Konkreten bleibt jedoch diese Verfahrensregel als auch das zugrunde liegende Prinzip auffallend diffus (Rauprich 2010; Rid 2010). In Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ (Walzer 1983), dem kommunitaristischen Gegenentwurf zur liberalen Theorie Rawls, ist Gesundheit eines von vielen Gütern, bei dem sich die Frage nach der (gerechten) Verteilung stellt. Im historischen Kontext weist Walzer darauf hin, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung lange Zeit hauptsächlich eine Frage des Vermögens war. Unter den Gütern, die in der Gesellschaft verteilt werden und auf die ein Anspruch bestehe, sei die Frage nach einer gerechten Verteilung von medizinischen Leistungen neueren Datums. Wie Gesundheit als Gut eingeschätzt wird, ob darauf ein Anspruch geltend gemacht werden kann, ist nicht aus einem abstrakten Prinzip der Gerechtigkeit ableitbar. Dass der Zugang zur medizinischen Versorgung allgemein als Recht konstruiert wird, ist dann nicht aus einem (transzendenten) allgemeinen Prinzip begründbar, sondern kann nur aus dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die Güter ihre jeweilige Bedeutung beimisst, begründet werden (Walzer 1983). Für eine Public Health Ethik verweisen diese gegenläufigen theoretischen Ansätze darauf, dass die Frage, welche Aspekte von Gesundheit, Prävention und medizinischer Versorgung als gesellschaftliche, solidarisch getragene Aufgabe verstanden werden sollen, selbst ethisch zu reflektieren ist und das Verhältnis von Gesundheit und gesellschaftlicher Teilhabe hierbei besonders berücksichtigt werden muss (Inthorn et al. 2010).

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Tabakrauchen als Prüfstein der Public Health Ethik

In der Genese der Public Health Ethik spielte der Umgang mit Rauchen eine wichtige Rolle (Bayer und Fairchild 2004). Anhand des Rauchens lässt sich eine zunehmende Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die gesundheitsschädlichen Folgen beobachten, die sich auch in einer Vielzahl von Maßnahmen niederschlägt, die das Rauchen selber, aber auch die Gefährdung anderer reduzieren soll. Dazu gehören immer deutlichere Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen, Werbeverbote, Tabaksteuern und immer umfangreichere Verbote bezüglich des Rauchens an öffentlichen Orten. Zusammen genommen bilden diese Maßnah-

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men eine radikale Transformation – von einem der populärsten Produkte des 20. Jahrhunderts zum gefährlichsten (Brandt 1998): „Smoking, which was an integral dimension of the social world, was increasingly relegated to the private domain.“ (Bayer und Fairchild 2004). Aus der Perspektive der Public Health Ethik ist vor allem die Einschränkung des Rauchens in der Öffentlichkeit von Interesse, zeigt sich darin doch ihr primäres Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Autonomie. Unter den Public Health Debatten, die regelmäßig eine größere Öffentlichkeit erreichen, nimmt die Frage nach der Regulierung von Rauchen im „öffentlichen“ Raum eine prominente Stellung ein, was sich in einer Reihe von umstrittenen Gesetzesänderungen und Volksentscheidungen widerspiegelt: In Bayern wurde mit einem Volksentscheid 2010 ein striktes Rauchverbot in der Gastronomie ohne Ausnahme (wieder-)eingeführt. In der Schweiz regelt das „Bundesgesetz zum Schutz vor Passivrauchen“ aus dem gleichen Jahr, dass öffentlich zugängliche oder von mehreren Personen als Arbeitsplatz genutzte Räume rauchfrei sein müssen, wenn es auch Ausnahmen für größere Lokale mit abgetrennten Raucherbereichen unter anderem gibt. Eine Volksinitiative hingegen, die die kantonal unterschiedlichen Regelungen auf das Niveau der striktesten Kantone heben wollte, scheiterte in einer landesweiten Volksabstimmung. Schließlich führte die Entscheidung der österreichischen Regierung 2018, den von der Vorgängerregierung im Vorjahr beschlossenen Nichtraucherschutz rückgängig zu machen, zu großen öffentlichen Debatten und zu einem von über 860.000 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichneten Volksbegehren (formal eine Petition) für einen stärkeren Nichtraucherschutz. Die Debatten im Kontext der Public Health Ethik hingegen sind schon deutlich älter und spiegeln die Komplexitätim Spannungsfeld zwischen der Autonomie des Einzelnen und einem konsequenten Nichtraucherschutz einerseits und der allgemeinen Frage nach der Möglichkeit des Staates gesundheitsschädliches Verhalten der Bürgerinnen und Bürgern zu begrenzen andererseits wider. In einem liberalen Rechtsstaat ist die Einschränkung der Selbstbestimmung in der Regel nur dann zulässig, wenn durch ihr Verhalten Dritte gefährdet werden. Beim Rauchen werden unbeteiligte Dritte durch das Passivrauchen potenziell geschädigt, umstritten ist in welcher Form und in welchem Ausmaß die Schädigung bei welcher Form der Exposition genau auftritt. Diese wissenschaftliche Frage nach dem tatsächlich verursachten Schaden für Dritte stellt sich vor allem beim Rauchen im Freien (Chapman 2000; Repace 2000). Grundsätzlich stellt sich die Frage nach der Wahrscheinlichkeit und dem Schweregrad des Schadens für nicht beteiligte Dritte (Bayer und Fairchild 2004). Daraus folgen ethisch relevante Unterscheidungen zwischen dichten Menschenansammlungen mit wenig zirkulierender Luft (z. B. Stadien) und losen Gruppierungen in der „freien Natur“ (z. B. Strand).

706

J. Inthorn et al.

Aus der Perspektive einer Public Health Ethik geht es dabei um eine faire Verteilung der Belastungen unter den unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen – in diesem Falle von Raucher und Nichtraucher (Childress et al. 2002). Umstritten ist, wie eine faire Verteilung der Lasten in der konkreten Situation auszusehen hat. Dies erfordert stets eine Abwägung, die nicht bloß in einer Umsetzung wissenschaftlicher Befunde bestehen kann, sondern stets vor dem Hintergrund unterschiedlicher Vorstellungen einer gerechten Verteilung von Nutzen und Lasten in einer Gesellschaft geschieht. Daher bedürfen die Überlegungen zur Verteilungsgerechtigkeit einer Ergänzung in Richtung Verfahrensgerechtigkeit. Das Verfahren zur Regelung der fairen und angemessenen Maßnahme zum Nichtraucherschutz muss transparent vonstattengehen, alle Betroffenen müssen sich am Regulierungsverfahren beteiligen können und es muss die Möglichkeit der Revision einer einmal getroffenen Entscheidung geben.

5

Genetisches Screening und Prädiktion

Prävention und Maßnahmen zur Gesundheit spielen auch zunehmend im Bereich der personalisierten Medizin eine Rolle. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass durch die Kenntnis individueller Risikofaktoren entsprechend passgenaue Maßnahmen ergriffen werden können, um das Risiko bestimmter Erkrankungen zu reduzieren. In Screening-Verfahren kann gezielt in entsprechenden Populationen nach Markern für eine bereits bestehende Krankheit oder relevante Risiken gesucht werden. Beispiele wären das Neugeborenen-Screening auf therapierbare genetisch bedingte Krankheiten, die Vorsorgeuntersuchung auf Brustkrebs oder auch die Untersuchung auf genetische Prädisposition für die Alzheimer-Erkrankung. Die verschiedenen Beispiele verdeutlichen, dass das Wissen um ein Risiko bzw. eine Krankheit nicht immer mit der Option, dem Risiko konkret zu begegnen, verbunden ist. Das verfügbare Wissen ist entsprechend unmittelbar oder nur mittelbar geeignet, einen (potenziellen) Nutzen für die Gesundheit zu ermöglichen. Im Fall eines erhöhten Risikos an Alzheimer zu erkranken sind die vorgeschlagenen Maßnahmen wenig zielgerichtet. Auch bei Fällen wie BRACA I/II als Risikofaktor für Brustkrebs liegt die Information nur als probabilistisches Wissen vor, und präventive Maßnahmen insbesondere die präventive Entfernung der Brust sind umstritten. Umgekehrt kann das Wissen um ein persönliches Risiko verbunden sein mit negativen Effekten wie psychologischem Stress (van El und Cornel 2011). Aus ethischer Perspektive werden daher verschiedene Kriterien diskutiert, unter welchen Bedingungen ein Test zu prädiktiver Information als Screening angeboten werden soll. Wilson und Jungner (1968) haben bereits früh entsprechende Kriterien für ein Screening benannt. Zentral ist dabei der

Nutzen für das betroffene Individuum, der aus dem Wissen resultiert. Im Neugeborenen-Screening sind entsprechend nur solche Krankheiten eingeschlossen, die therapierbar und therapiebedürftig sind (Nennstiel-Ratzel 2016). Krankheiten wie genetisch bedingte Taubheit oder spätmanifestierende Krankheiten sind nicht Teil des Screenings. Diese Abwägung liegt auch der rechtlichen Regelung im Gendiagnostikgesetz zu Grunde. Das Neugeborenen-Screening erfolgt zudem nur nach Aufklärung und der informierten Zustimmung der Eltern. Das Recht auf Selbstbestimmung, ausgeübt durch die Eltern und im Sinne des Wohls des Kindes, wird in diesem Fall höher gewertet als der Nutzen, den das Kind aus dem Screening hat oder der Nutzen, der für die öffentliche Gesundheit entsteht. Das Screening ist für die Eltern nicht verpflichtend, wird aber, um den Gesamtnutzen hoch zu halten, allgemein angeboten. Eine weitere Abwägung wird zwischen dem Nutzen und dem potenziellen Schaden durch das Wissen durchgeführt. Prädiktives Wissen, aus dem keine konkreten präventiven Maßnahmen folgen, wird daher nicht im Rahmen von Screenings angeboten (Nennstiel-Ratzel 2016), sondern es müssen weitere Gründe angeführt werden, damit ein Test als sinnvoll angenommen wird. Die negativen Effekte eines Tests – wie beispielsweise jene durch falsch positive Ergebnisse im Rahmen des Brustkrebsscreening – müssen evaluiert und in die Abwägung einbezogen werden. Eine weitere Abwägung erfolgt zwischen dem Nutzen und dem Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung. Das Recht auf Wissen und das Recht auf Nichtwissen zählen gleichermaßen als Teil des Selbstbestimmungsrechts. Der Status von Wissen ist dabei in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und auch im Verlauf der Zeit unterschiedlich (Raz et al. 2014), so dass in Abwägungsprozessen unterschiedlich gewichtet wird. Das Recht auf Nichtwissen und damit verbunden auf eine offene Zukunft wird vor allem für Kinder stark gemacht. Besonders sichtbar werden die Überlegungen und Abwägungen im Rahmen der Reproduktionsmedizin, wenn zukünftige Eltern in verantwortlicher Weise für ihre eigenen Kinder entscheiden wollen. Van der Hout et al. (2019) plädieren daher für das Carrier Screening, also die Möglichkeit für Paare, noch vor einer Schwangerschaft zu testen, ob sie ein erhöhtes Risiko haben, dass ihr Kind an einer genetisch bedingten Krankheit leidet, zu diskutieren welche Ziele ein solches Screening haben kann. In der Entwicklung dieser Formen des Screenings wurde einerseits der Vergleich mit Screenings in speziellen Populationen (Beta-Thalassämie Screening auf Zypern) gezogen, in denen die Krankheitslast durch dieses Screening klar verringert werden konnte (Bell et al. 2011). In der Diskussion über die Einführung und die Form des Angebots hingegen wird es als ein Mittel zur Stärkung der reproduktiven Autonomie stark gemacht. Die Erweiterung der Selbstbestimmung durch mehr Handlungsoptionen und Entscheidungsfreiheit wird hier

58

Public Health Ethik

betont. Dabei bleibt für beide Seiten kritisch zu diskutieren, inwieweit bestimmte Formen des Umgangs mit prädiktivem Wissen bei Kindern und der gesellschaftliche Trend zur Vermeidung von Kindern mit Beeinträchtigungen überhaupt gesellschaftlich wünschenswert sind oder vielmehr diskriminierende Merkmale haben, die sich in einem negativen Image von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen zeigen. Ethisch diskutiert wird zudem, ob aus dem grundsätzlich möglichen Zugang zu prädiktivem Wissen für den einzelnen eine Verpflichtung erfolgt. Gibt es eine individuelle Verpflichtung, seine eigenen gesundheitlichen Risiken zu kennen? Und gibt es eine individuelle Verpflichtung sich basierend auf diesem Wissen entsprechend gesundheitsangemessen zu verhalten? Es besteht Einigkeit, dass die Freiheit des Einzelnen nicht soweit beschränkt werden darf, dass eine Pflicht staatlich durchgesetzt werden dürfte, hier wird der Selbstbestimmung ein hoher Stellenwert gegeben. Dies gilt auch für die Position in Ethikansätzen, die einem liberalen Paradigma folgen. Dennoch werden in einzelnen Ethikansätzen, die stärker auf Solidarität fokussieren, schwache Pflichten formuliert, sich als Teil der öffentlichen Gesundheit um die eigene Gesundheit zu sorgen. Eine derartige, starke Fokussierung auf Gesundheit als Ziel und die daraus resultierende Perspektive der individuellen Verantwortung für Gesundheit sind selbst zum Thema kritischer ethischer Reflexion geworden. Diese Verschiebung in der Diskussion hin zu einer Responsibilisierung kann den Blick auf soziale Aspekte von Gesundheit und Krankheit verstellen und Gerechtigkeitsfragen verdecken. Kritisiert wird zudem ein spezifisches (neoliberal geprägtes) Bild von Gesundheit, das eng mit Vorstellungen von Leistung, Arbeit, Fitness und Perfektion zusammenhängt, dem große Gruppen in der Bevölkerung nicht gerecht werden können, was umgekehrt zur Stigmatisierung dieser Personengruppen führen kann, die dieses Ideal nicht erfüllen (Beispiel Adipositas).

6

Schlussbemerkung

Anhand der beiden Beispiele „Rauchen“ und „genetisches Screening“ wurden relevante Abwägungen einer Public Health Ethik illustriert. Unbestritten in einer sich liberal verstehenden Gesellschaft ist der hohe Wert der Selbstbestimmung, deren Einschränkung in der Regel nur dann zulässig ist, wenn andernfalls Schaden für unbeteiligte Dritte entsteht. Jedoch ist umstritten, wann etwas als Schaden zu betrachten ist, und wie eine gerechte Verteilung von Nutzen und Nachteilen in den unterschiedlichen Anwendungsfeldern von Public Health konkret zu realisieren ist. Anhaltspunkte können gerechtigkeitstheoretische Überlegungen geben, die einerseits die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als

707

entscheidendes Kriterium bestimmen und andererseits die Bedingungen eines fairen Verfahrens benennen. Für eine ethisch verantwortliche Umsetzung von Public Health Maßnahmen bedarf es daher neben solider wissenschaftlicher Basis transparente Verfahren und einen fairen Ausgleich von Belastungen. Diese Abwägung von Public Health Maßnahmen nimmt dabei stets eine Gewichtung der Güter der Selbstbestimmung und der öffentlichen Gesundheit vor dem Hintergrund unterschiedlicher Vorstellungen guten Lebens und einer gerechten Gesellschaft vor.

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Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

59

Rainer Petzina und Kai Wehkamp

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualität, Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebenen von Qualität und Herausforderung der Qualitätsmessung in der Gesundheitsversorgung . . . Warum Qualität sichern und managen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

709 709 710 710

2 Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 2.1 Ziele des Qualitätsmanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 2.2 Qualitätsmanagementsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 3 3.1 3.2 3.3

Risikomanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Proaktive/präventive Methoden und Instrumente des Risikomanagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Proaktive Methoden und Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktive Methoden und Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

714 715 715 716

4 Patientensicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 4.1 Never Events . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 5 5.1 5.2 5.3 5.4

Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturierte Dialoge und Verbesserungspotenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsabhängige Zu- und Abschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Externe Qualitätssicherung – Benchmark-Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

719 719 720 720 721

6

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723

1

Einleitung

1.1

Qualität, Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement

Qualität ist ein uneinheitlicher Begriff mit verschiedenen Definitionen. Im allgemeinen Verständnis bezieht sich der Begriff Qualität meist auf die Güte oder die Eigenschaften von Objekten oder Handlungen, Produkten oder Dienstleistungen. Qualität entspricht dabei häufig einem Gefühl oder

R. Petzina (*) · K. Wehkamp MSH Medicalschool Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]

einer subjektiven Beurteilung. Um Qualität zu objektivieren, wurde das Konstrukt des sog. Qualitätsmerkmals erschaffen. Ein Qualitätsmerkmal ist eine möglichst genau spezifizierte Eigenschaft, die sich beispielsweise auf die Eigenschaften eines Produktes bezieht. In diesem Sinne lassen sich Vorgaben, Richtwerte oder auch Kundenanforderungen als Qualitätsmerkmale definieren. Gleichzeitig lässt sich im Idealfall prüfen, ob die Vorgaben an das Qualitätsmerkmal erfüllt werden. " Definition Qualitätssicherung Unter Qualitätssicherung (QS) lassen sich organisierte Maßnahmen verstehen, die prüfen, inwieweit die Eigenschaften eines Produktes die vorgegebenen Qualitätsmerkmale erfüllt. " Definition Qualitätsmanagement Qualitätsmanagement

(QM) bezeichnet sämtliche Maßnahmen, die der Verbesse-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_65

709

710

R. Petzina und K. Wehkamp

rung und Sicherstellung der Qualität von Strukturen, Prozessen, Produkten bzw. Dienstleistungen dienen. Qualitätsmanagement umfasst in diesem Sinne sowohl die Planung, die Ausführung, die Kontrolle bzw. Qualitätssicherung und die weitere Verbesserung. Somit ist die Qualitätssicherung ein wichtiger Bestandteil des Qualitätsmanagements. Gleichzeitig lässt sich ein Großteil typischer Managementtätigkeit als Qualitätsmanagement verstehen, da Management sich meist auf die Verbesserung und Optimierung von Strukturen und Prozessen bezieht, um dadurch beispielsweise die Qualität eines Produktes aber auch von organisatorischen Aspekten zu verbessern.

1.2

Ebenen von Qualität und Herausforderung der Qualitätsmessung in der Gesundheitsversorgung

Zur Einteilung von Qualitätsebenen in der Patientenversorgung hat es sich bewährt zwischen der Strukturqualität, der Prozessqualität und der Ergebnisqualität zu unterscheiden (Donabedian 1988). " Definition Qualitätsebenen Die Strukturqualität bezeichnet die Qualität der Infrastruktur, bauliche Gegebenheiten, Ausstattung mit Medizintechnik aber auch die Qualifikation des Personals. Die Prozessqualität bezeichnet die Qualität der Abläufe, Organisation und Handlungen wie beispielsweise die Organisation von Behandlungsabläufen oder die Durchführung einer medizinischen Operation. Die Ergebnisqualität beschreibt das Ergebnis der Behandlung mit Blick auf den Patienten, hierzu gehört beispielsweise das Überleben nach einem Eingriff, die Entwicklung von Schmerzen, Komplikationen oder das Erreichen einer vollständigen Genesung.

Es liegt auf der Hand, dass gute Strukturen wichtig für gute Prozesse sind und sich daraus gute Ergebnisse entwickeln lassen. Dieser Zusammenhang ist aber nicht zwingend, d. h. aus einer hochwertigen Strukturqualität lässt sich nicht mit Sicherheit schließen, dass die Patientenbehandlung auch erfolgreich war. Im Umkehrschluss lässt sich aus einem schlechten Ergebnis – wie beispielsweise dem Versterben des Patienten nach einer riskanten Operation – nicht sicher schlussfolgern, dass mangelhafte Strukturen oder Prozesse hierfür verantwortlich waren. Hinzu kommt, dass sich Ergebnisse häufig erst langfristig, d. h. nach einigen Jahren beurteilen lassen. Da die Einwirkungen auf die Gesundheit von Patienten aber von verschiedensten Faktoren wie dem Patientenverhalten, Ärzten, Pflege, Umweltfaktoren usw. abhängig sind, ist es häufig schwierig, einen direkten Zusammenhang zwischen der Qualität einer Maßnahme der Patientenversorgung und der Ergebnisqualität herzustellen.

1.3

Warum Qualität sichern und managen?

Die Qualität der Gesundheitsversorgung ist schon immer ein wichtiger Baustein der Gesundheit der Bevölkerung. Auch Qualitätssicherungsmaßnahmen existieren daher schon sehr lange. Beispiele hierfür sind die Supervision und Visite weniger erfahrener Ärzte durch erfahrene Kollegen, die Autopsie und Fallbesprechungen. Diese Maßnahmen können sehr wirkungsvoll sein, da sie geeignet sind individuell auf einzelne Patienten einzugehen. Zunehmend besteht aber das Bedürfnis, Qualität transparent zu machen. Aus gesellschaftlicher Sicht soll Qualität nicht mehr dem Vertrauen gegenüber den Leistungserbringern überlassen werden, sondern messbar und objektivierbar sein. Hierfür werden zunehmend standardisierte Qualitätssicherungsmaßnahmen entwickelt, auch wenn es schwierig ist, hiermit die tatsächliche und individuelle Versorgungsqualität für die Breite der Medizin und Patientenversorgung abzubilden (Abschn. 5). Gleichzeitig wird von den Gesundheitsversorgern gefordert, die Effizienz und Effektivität der Strukturen und Prozesse zu prüfen und immer weiter zu optimieren, um die Ergebnisse, d. h. die Effekte der Patientenversorgung, zu verbessern. Qualitätsmanagement ist in diesem Sinne sowohl aus Sicht der Patienten, der Leistungserbringer als auch der Kostenträger geboten. Im deutschen Gesundheitswesen ist deswegen Qualitätsmanagement für viele Organisationen wie Krankenhäuser und Arztpraxen gesetzlich vorgeschrieben (QM-RL 2016).

2

Qualitätsmanagement

2.1

Ziele des Qualitätsmanagements

Qualitätsmanagement dient der Verbesserung von Organisationen, wie beispielsweise einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis. Das Ziel besteht darin, zielgerichtet und organisiert möglichst sämtliche Strukturen, Prozesse und die Ergebnisse der Prozesse bzw. Produkte kontinuierlich zu prüfen und zu verbessern. Dieses Konzept wird durch den Kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) bzw. den PDCAZyklus ( plan, do, check, act) dargestellt, der sich als Grundelement des Qualitätsmanagements verstehen lässt (Abb. 1). Abb. 1 PDCA-Zyklus – PlanDo-Check-Act

59

Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

In diesem Sinne ist Qualitätsmanagement nicht nur Technik und Instrument der Unternehmensführung, sondern lässt sich als Managementphilosophie des kontinuierlichen Strebens nach Verbesserung verstehen.

2.2

Qualitätsmanagementsystem

2.2.1

Aufbau eines Qualitätsmanagementsystems Von einem Qualitätsmanagementsystem wird gesprochen, wenn ein umfassendes System von Elementen des Qualitätsmanagements besteht. Der Begriff wird branchenübergreifend genutzt und es gibt keine einheitlichen Vorgaben, welche Bestandteile essenziell zu einem solchen System gehören. Wesentliche Inhalte sind die Beschreibung und Entwicklung der Unternehmensphilosophie, der Strukturen, der Prozesse, die Darstellung und Organisation der verwendeten Dokumente sowie konkreter Maßnahmen zur Qualitätssicherung und kontinuierlichen Verbesserung. 2.2.2 Entwicklungsprinzip An erster Stelle der Entwicklung eines Qualitätsmanagementsystems (z. B. für ein Krankenhaus) stehen Entscheidungen der Führungsebene. Es muss entschieden werden, in welchem Umfang Qualitätsmanagement betrieben werden soll (z. B. nur einzelne Bereiche oder bestimmte Schwerpunkte) und die benötigten Ressourcen müssen abgeschätzt und bereitgestellt werden (z. B. QualitätsmanagementBeauftragte). Außerdem gibt es verschiedene Qualitätsmanagementmodelle am Markt. Wenn die Unternehmensleitung sich für eines dieser Modelle entscheidet, so kann im Verlauf eine Zertifizierung angestrebt werden. Prinzipiell erfolgt nun eine schrittweise Analyse der bestehenden Elemente der Organisation (IST-Analyse), die Prüfung und ggf. Verbesserung dieser Elemente und die darauf aufbauende neue, verbesserte Definition des Elementes (SOLL-Zustand). Der SOLL-Zustand wird schriftlich in Form einzelner Dokumente in einem QualitätsmanagementHandbuch fixiert und innerhalb der Organisation veröffentlicht. Für die Gestaltung der einzelnen Beschreibungen wird in der Regel eine einheitliche Dokumentenvorlage genutzt. Inhaltlich bestehen die verschiedensten Gestaltungsmöglichkeiten von gegliederten Texten über Tabellen und grafische Darstellung bis hin zur Einbindung von Fotos und Filmen. Entscheidend ist nur, dass die transportierten Inhalte eindeutig und praktisch erfassbar dargestellt werden. Die Inhalte des Qualitätsmanagement-Handbuches werden von einer Führungskraft freigegeben und gelten dann verbindlich für alle Mitarbeiter. Fertig ausgearbeitet entspricht das Qualitätsmanagement-Handbuch einer Art Betriebsanleitung und Regelwerk für die Organisation. Heutzutage führen viele Organisationen ihre Qualitätsmanagement-Handbücher elektronisch

711

und stellen diese im Intranet oder über spezielle Dokumentenlenkungssoftware bereit.

2.2.3 Wichtige Kernelemente Auch wenn es keine einheitlichen Vorschriften für die Inhalte von Qualitätsmanagementsystemen gibt, so gelten bestimmte Elemente doch als essenziell und werden von den meisten Qualitätsmanagementmodellen gefordert (s. Abschn. „Zertifizierung“). Unternehmensphilosophie Die Unternehmensphilosophie wird in der Regel im ersten Abschnitt des Qualitätsmanagement-Handbuches dargestellt. Inhaltlich lassen sich hier die Ziele des Unternehmens, ein Unternehmensmotto/-mantra, das Verständnis für Qualität, langfristige Visionen, Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Umwelt, aber auch andere Aspekte der Unternehmenskultur wie ein Ethik- oder Verhaltenskodex darstellen. Häufig ist es sinnvoll, die Entwicklung dieser Elemente in einem übergreifenden Unternehmensprozess zu entwickeln, da eine hohe Identifikation der Mitarbeiter mit den Zielen und Werten der Organisation wichtig für nachhaltige Motivation ist. In der Praxis ist es häufig nicht leicht, substanzielle Formulierungen zu entwickeln, die weder phrasenhaft sind noch sich in Allgemeinplätzen verlieren. Strukturen Die Grundstruktur der Organisation wird häufig mittels eines Organigramms dargestellt, d. h. eine grafische Darstellung der wichtigsten Bereiche und Verantwortlichen sowie der hierarchischen Beziehungen. Je nach Organisationsform sind hier auch freie Texte oder Tabellen sinnvoll. Wichtige Positionen oder Stellenbeschreibungen mit Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten können hier ebenfalls definiert werden. Meistens wird auch die Infrastruktur beschrieben – die Detailtiefe orientiert sich hierbei an der Relevanz für die Organisation bzw. die Kunden und Mitarbeiter. Modernes Qualitätsmanagement legt den Schwerpunkt auf die Prozesse (s. nächsten Abschn. „Prozesse“). Entsprechend werden Strukturen häufig auch im Rahmen von Prozessbeschreibungen dargestellt, für die sie als Grundlage dienen. Prozesse Allgemein gesehen ist ein Prozess ein Vorgang, bei dem etwas verändert wird. Die Prozesse einer Organisation sind also wesentlicher Kern sämtlicher Organisationen, unabhängig davon, ob eine Dienstleistung oder ein materielles Produkt angeboten wird. Entsprechend vielfältig und komplex ist eine vollständige Aufbereitung aller Prozesse. In der Praxis komplexer Organisationen ist es häufig nicht praktikabel, sämtliche vorhandene Prozesse im Detail zu analysieren, zu verbessern und schriftlich darzustellen, da dies einen enormen Aufwand bedeuten würde. Es ist aber wichtig, einen

712

Überblick über die verschiedenen Prozesse zu erarbeiten und diese nach ihrer Bedeutung für die Organisation zu untergliedern. So können die besonders wichtigen und qualitätsrelevanten Prozesse identifiziert und in den Mittelpunkt der Verbesserungsbestrebungen gerückt werden. Eine Übersicht der wesentlichen Prozesse und ihre Zusammenhänge lassen sich als sog. Prozesslandschaft darstellen.

" Eine häufige Gliederung teilt die Prozesse einer von drei verschiedenen Kategorien zu: Kernprozesse sind diejenigen Prozesse, die für die Erstellung und Verkauf des eigentlichen Produktes wesentlich sind (der sog. Wertschöpfungsprozess, beispielsweise die Patientenbehandlung und Abrechnung). Unterstützungsprozesse dienen nicht direkt dem Kunden bzw. Patienten, aber unterstützen diesen (z. B. Personalbuchhaltung). Unter den Managementprozessen versteht man die organisatorischen und gestalterischen Tätigkeiten auf der Managementebene.

Die relevanten Prozesse werden in Form von Prozess- und Ablaufbeschreibungen aufbereitet. Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten werden klar definiert. Außerdem werden Schnittstellen zwischen verschiedenen Organisationsbereichen und Prozessen besonders berücksichtigt, da sich hier häufig Probleme manifestieren (Becker et al. 2008). Mitarbeiter Die wichtigste Ressource der Organisationen sind die Mitarbeiter. Auch wenn sich die Mitarbeiter formal den prozessausführenden Organisationsstrukturen zuordnen lassen, so wird dies ihrer Bedeutung gerade in Dienstleistungsunternehmen nicht gerecht. Die Unternehmenskultur mit Qualitätsphilosophie und Motivation manifestiert sich wesentlich im Bewusstsein und in den Handlungen der Mitarbeiter. In diesem Sinne kommt der Auswahl, der Führung und Pflege sowie der Ausbildung und dem Training der Mitarbeiter eine besondere Bedeutung zu, die in vielen Qualitätsmanagementsystemen besonders herausgestellt wird. Kunden In klassischen Organisationen sind routinemäßige Erhebungen der Kundenzufriedenheit, Kundenerwartungen oder auch ein Beschwerdemanagement typische Methoden, um Qualitätsanforderungen an die Produkte zu definieren und die kundenbezogenen Prozesse zu verbessern. Darüber hinaus sind auch die Bedürfnisse anderer Anspruchsgruppen zu bestimmen. Im Gesundheitswesen stellen sich hier besondere Herausforderungen dar. Auch wenn aus Marketingsicht ein zufriedener Kunde das entscheidende Ziel ist, so geht der Auftrag der Gesundheitsversorgung noch deutlich über die Zufriedenheit hinaus. In diesem Sinne umfasst der Begriff „Patient“ weitere elementare Aspekte der Medizin, die dem Kundenbegriff fehlen.

R. Petzina und K. Wehkamp

Hierzu zählt insbesondere die verantwortungsvolle Fürsorge für die häufig in starker Informationsasymmetrie abhängigen Patienten. Praktisch bedeutet dies, dass den Erwartungen und Ansprüchen der Kunden bzw. Patienten zwar eine hohe Bedeutung bezüglich der Gestaltung der Dienstleistungsbzw. Versorgungsprozesse zugemessen wird. Die Qualitätsanforderungen müssen sich aber zusätzlich an dem aktuellen Stand der Wissenschaft bzw. einem Expertenwissen orientieren, und können von den meisten Patienten nicht in ausreichender Form beurteilt werden. Messen, analysieren und verbessern Die praktische Anwendung des Kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) im Sinne einer regelmäßigen Überprüfung, Analyse, Messung und Verbesserung der bestehenden Strukturen, Prozesse und Ergebnisse gehört zur Grundphilosophie des Qualitätsmanagements. Es gilt, dieses Konzept fest in die Organisation zu integrieren. Sowohl im Denken bzw. der Qualitätsphilosophie der Mitarbeiter als auch in den schriftlich fixierten Arbeitsanweisungen innerhalb des Qualitätsmanagementsystems muss die Idee der kontinuierlichen Verbesserung verankert werden. Praktisch bedeutet dies unter anderem, dass Intervalle und Verantwortlichkeiten festgelegt werden, um die einzelnen Dokumente des Qualitätsmanagementsystems zu überprüfen und regelmäßige Selbstbewertungen durchzuführen. Zusätzlich sollte es weitere organisierte qualitätssichernde Maßnahmen in Bezug auf die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität geben. Hierzu gehören Mitarbeiter- und Kundenbefragungen und die Erarbeitung von zu messenden Qualitätszielen. Bezüglich der Prägung einer Philosophie der kontinuierlichen Verbesserung kommt den Führungskräften aller Ebenen eine große Verantwortung zu. Diese sollte ebenfalls nicht dem Zufall überlassen werden, sondern durch gezielte Auswahlprozesse und Schulungsmaßnahmen unterstützt werden.

2.2.4

Methoden und Instrumente des Qualitätsmanagements Die Gesundheitsversorgung weist Besonderheiten auf, die sich von anderen Dienstleistungen unterscheiden. An erster Stelle steht die besondere Abhängigkeit der Patienten, da die Maßnahmen häufig unmittelbare Auswirkung auf Lebenszeit und Lebensqualität haben. Die meisten medizinischen Dienstleistungen sind zudem Expertenangebote, die vom Kunden bzw. Patienten in ihrer Qualität nicht sicher beurteilt werden können. Hinzu kommt, dass sich Gesundheit und Krankheit nur selten auf die Qualität einer einzelnen Maßnahme zurückführen lassen, da multiple Faktoren wie das Patientenverhalten, Umweltaspekte oder verschiedene Ärzte Einfluss nehmen können und das Outcome des Patienten häufig erst nach Jahren oder Jahrzehnten retrospektiv beurteilt werden kann. Auch das medizinische Wissen unterliegt einer ständigen Veränderung, so dass Gesundheits-

59

Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

713

dienstleister ihre Angebote ständig anpassen und aktualisieren müssen. Um diesen Besonderheiten gerecht zu werden, wurden von der Gemeinsamen Selbstverwaltung spezielle Methoden und Instrumente festgelegt, die innerhalb der Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherten berücksichtigt werden müssen. Die folgenden Aspekte haben dabei eine besondere Bedeutung für das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen (QM-RL 2016).

Patienten, sondern auch für die Auswahl einer zum Patienten passenden Behandlung wichtig. Zudem kann nur ein informierter und aufgeklärter Patient wirksam an der eigenen Behandlung mitwirken und so auch zur Erhöhung der Sicherheit beitragen. Gesundheitseinrichtungen sind deswegen angehalten, Patienten umfassend und verständlich zu informieren und bei Bedarf auch passende Selbsthilfeorganisationen und Beratungsstellen zu vermitteln.

Checklisten Die aus der Luftfahrt schon lange bekannten Checklisten sind insbesondere für sicherheitsrelevante Prozesse von Bedeutung, da sie die Berücksichtigung entscheidender Einzelaspekte sichern können. Beispiele hierfür sind Checklisten, um Verwechslungen bei Operationen zu vermeiden oder die Vollständigkeit diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen zu überprüfen (s. WHO-Checkliste unten).

Risikomanagement, Fehlermanagement und Fehlermeldesysteme Die Erkennung potenzieller Risiken, vermeidbarer und unvermeidbarer Fehler, kritischer Zwischenfälle sowie ein organisierter Prozess, um aus Fehlern zu lernen und so Risiken und Fehler prospektiv zu minimieren, ist aufgrund der besonderen Verantwortung der Gesundheitseinrichtungen für Leben und Lebensqualität der anvertrauten Patienten von besonderer Bedeutung (Abschn. 3).

Teambesprechungen Vor allem im Krankenhaus sind komplexe interprofessionelle Teams für die Behandlung von Patienten verantwortlich. Die Abstimmung innerhalb des Behandlungsteams ist eine besondere Kommunikationsherausforderung, die durch geeignete Maßnahmen wie strukturierte Teambesprechungen und geregelte Übergaben unterstützt werden können. Fortbildungs- und Schulungsmaßnahmen Im Gesundheitswesen ergeben sich ständig neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die Versorgungsstrukturen sind äußerst komplex. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, erlangen regelmäßige Fortbildungs- und Schulungsmaßnahmen der Mitarbeiter sowie ein organisiertes Wissensmanagement eine besondere Bedeutung. Beschwerdemanagement, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen In den Organisationen des Gesundheitswesens gehörte lange Zeit weder die Berücksichtigung der Meinung der Patienten noch der Mitarbeiter zur Regel. Auch wenn Patienten häufig die Qualität der Behandlung nur eingeschränkt bzw. nur in Teilaspekten beurteilen können, so ist ihr Qualitätserleben trotzdem relevant. Sowohl routinemäßige Patientenbefragungen als auch ein strukturiertes Beschwerdemanagement sind wichtige Qualitätsbausteine, um Risiken und Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen. Gleiches gilt für die Mitarbeiter, die mit ihrem Insider- und Expertenwissen einen wichtigen Beitrag zur Unternehmensentwicklung leisten können und entsprechend ebenfalls organisiert in den Rückkopplungsprozess mit einbezogen werden sollten. Patienteninformation und -aufklärung Informations- und Aufklärungsmaßnahmen sind nicht nur aus Gründen der informationellen Selbstbestimmung der

Spezielle sicherheitsrelevante Qualitätsmanagementelemente In der stationären und ambulanten Patientenversorgung gibt es weitere typische Prozesse und Situationen, die von erheblicher Relevanz für die Sicherheit und Qualität der Patientenbehandlung sind. Hierzu zählt das Management von Notfällen, Hygienemanagement, Maßnahmen zur Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit, Schmerzmanagement sowie Maßnahmen zur Vermeidung von Stürzen und etwaiger Folgen. Die Einrichtungen des Gesundheitswesens sind dazu angehalten, diesen Anforderungen durch organisatorische Maßnahmen gerecht zu werden und diese entsprechend in ihrem Qualitätsmanagementsystem zu verankern.

2.2.5 Zertifizierung Qualitätsmanagementmodelle Es existieren verschiedene Qualitätsmanagementmodelle, die von Normierungsgesellschaften oder anderen Organisationen entwickelt wurden. Ein Unternehmen, das ein Qualitätsmanagementsystem aufbauen will, kann sein System an diesen Vorgaben ausrichten und sich die Übereinstimmung mit den Vorgaben nach einem Prüfprozess, der sog. Auditierung, bescheinigen lassen. Branchenneutrale Qualitätsmanagementmodelle wie die ISO EN DIN 9001-Norm lassen sich auf jede Art von Organisation anwenden, von der Automobilfabrik bis zur Psychotherapie-Praxis. Sie haben aber den Nachteil, dass sie relativ unspezifisch in Bezug auf die besonderen Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen im Gesundheitswesen sind. Inzwischen gibt es auch eine Vielzahl von Qualitätsmanagementmodellen, die speziell für Krankenhäuser oder Praxen entwickelt wurden, wie beispielsweise die Qualitätsmanagementmodelle KTQ (Kooperation für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen) oder QEP (QM-System der Kassenärztlichen Vereinigung).

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R. Petzina und K. Wehkamp

" Es besteht aber aktuell keine Verpflichtung für Krankenhäuser oder Praxen, eines dieser Qualitätsmanagementmodelle auszuwählen oder eine Zertifizierung anzustreben.

Trotz des relativ großen zeitlichen und finanziellen Aufwandes einer Zertifizierung wird diese doch häufig angestrebt, da sie Sicherheit für die Entwicklung eines angemessenen und umfangreichen Qualitätsmanagementsystems bietet, Qualität transparent machen und in diesem Sinne auch als Marketinginstrument von Vorteil sein kann. Zertifizierungsablauf An erster Stelle steht die Auswahl eines geeigneten Qualitätsmanagementmodells. Da eine Vielzahl an unterschiedlichen Modellen mit sehr unterschiedlichen Anforderungen und unterschiedlichem Aufwand zur Auswahl steht, ist diese Entscheidung häufig aufwändig zu erarbeiten. Als nächstes müssen die benötigten personellen und strukturellen Ressourcen bereitgestellt werden, um das Qualitätsmanagementmodell auf das eigene Unternehmen anzuwenden. Weitere erste Schritte sind der Aufbau eines Qualitätsmanagementverantwortlichen und eines Projektplans, nach dem das Qualitätsmanagement in den betroffenen Abteilungen entwickelt werden soll. Die teils sehr detaillierten Anforderungen des gewählten Qualitätsmanagementmodells müssen nun mit den IST-Zuständen der eigenen Organisation abgeglichen werden, um darauf aufbauend passende SOLL-Zustände zu entwickeln. Hierzu gehören in der Regel bestimmte Strukturund Prozessbeschreibungen der Patientenbehandlung, Kennzahlen, Checklisten sowie Patienten- und Mitarbeiterbefragungen, die nicht nur im Qualitätsmanagement-Handbuch, sondern auch in der Praxis umgesetzt werden müssen. Die Umsetzung des Qualitätsmanagementmodells ist ein langwieriger Prozess, der viele Monate bis zu wenigen Jahren in Anspruch nehmen kann und teilweise durch professionelle, kommerzielle Beratungsgesellschaften unterstützt wird. Um zu prüfen, ob alle Aspekte umgesetzt sind, erfolgt in der Regel eine interne Prüfung der Konformität zwischen Modell und Umsetzung, das sog. interne Audit. Zuletzt erfolgt die externe Auditierung durch eine zugelassene Prüfgesellschaft, die bei Erfüllung aller Anforderungen des Qualitätsmanagementmodells ein entsprechendes Zertifikat verleiht. Die Gültigkeit der Zertifikate liegt in der Regel zwischen einem und drei Jahren, um sicherzustellen, dass das Qualitätsmanagementsystem nachhaltig weiterentwickelt und gelebt wird.

3

wird als ein unverzichtbares Element des integrierten Managementsystems verstanden (Abb. 2). Der prozessorientierte Ansatz und die konsequente Anwendung des PDCAZyklus im Qualitäts- und Risikomanagement (QRM) führen zu Synergieeffekten in allen Leistungsbereichen (Abb. 1). Dabei werden entsprechende aufbau- und ablauforganisatorische Rahmenbedingungen zur Vermeidung von Doppelstrukturen im Qualitätsmanagement und Risikomanagement geschaffen. Durch die Nutzung der gleichen Prozessstrukturen werden vorausschauend Risiken bei der Patientenversorgung und -sicherheit systematisch identifiziert, analysiert, bewertet, bewältigt, überwacht und kommuniziert. Die Erarbeitung und Umsetzung von präventiven Maßnahmen sichert damit die kontinuierliche Weiterentwicklung und den Erfolg für die Gesundheitseinrichtung. Als Risiko wird die Kombination aus Wahrscheinlichkeit und Auswirkung von Unsicherheiten verstanden, die sich auf die Ziele des Unternehmens, auf die Sicherheit und Gesundheit der Menschen und letztendlich auf die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Gesundheitseinrichtung beziehen. Das Qualitäts- und klinische Risikomanagement erfüllt die Anforderungen des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten („Patientenrechtegesetz“) und nach §§ 135–137 des Sozialgesetzbuchs V (SGB V). Hierbei werden u. a. grundsätzliche Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitäts- und ein patientenorientiertes Beschwerdemanagement gestellt, aber auch wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit und Mindeststandards für ein klinisches Risikomanagementsystem und Fehlermeldesystem festgelegt. Auf den Aufbau eines

Risikomanagement

Das klinische Risikomanagement (RM) stellt zusätzlich zum Qualitätsmanagement einen festen Bestandteil der Unternehmenspolitik dar, ist als Unternehmensziel klar verankert und

Abb. 2 Anforderungen an klinische Risikomanagementsysteme im Krankenhaus – Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. (APS) 2015

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Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

Risikomanagementsystems wird auch explizit in der Qualitätsmanagementrichtlinie des G-BA aus dem Jahr 2016 hingewiesen (QM-RL 2016). " Das integrierte Qualitäts- und klinische Risikomanagement kann nur erfolgreich umgesetzt und weiterentwickelt werden, wenn es als Auftrag der obersten Führungskraft der jeweiligen Einrichtung wahrgenommen wird und erforderliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Das gemeinsame Ziel besteht in der Förderung einer offenen Fehler-, Risiko- und Sicherheitskultur. Es trägt maßgeblich zur Erreichung der strategischen, operationellen und finanziellen Ziele bei sowie zur Erhöhung der Sicherheit von Patienten und Mitarbeitern.

Fehlertheorie Vor dem Hintergrund der systemorientierten Sichtweise entwickelte der englische Psychologe James Reason das Swiss Cheese Model of System Accidents. Das „Schweizer-KäseModell" beschreibt, wie aus einer Gefahr ein Unfall oder ein unerwünschtes Ereignis entstehen kann. Hierbei versagen die Sicherheitsbarrieren (Menschen oder technische Vorkehrungen) und „Löcher“ entstehen (Reason 2000). Diese durch aktives und latentes Versagen entstehenden Löcher liegen dann exakt in einer Achse, so dass ein Fehler durch alle Barrieren hindurch zu einem Unfall oder einem unerwünschten Ereignis führt und fahrlässig als „Verkettung unglücklicher Umstände“ beschrieben werden kann. Die Fehlertheorie beschreibt zusammenfassend, dass das Entstehen eines unerwünschten Ereignisses oder Unfalls multifaktorielle Ursachen auf verschiedenen Ebenen der Organisation aufweist, die zusätzlich durch Faktoren außerhalb der Organisation beeinflusst werden. In sämtlichen Bereichen des Gesundheitswesens ist es deshalb zwingend notwendig, alle zum Auftreten eines Fehlers begünstigenden Umstände zu analysieren und zu kommunizieren, um die Patientensicherheit nachhaltig zu erhöhen.

3.1

Proaktive/präventive Methoden und Instrumente des Risikomanagements

Im integrierten Qualitäts- und klinischen Risikomanagement werden auf der Basis eines effektiven Maßnahmenmanagements und Maßnahmencontrollings systematisch proaktive/ präventive sowie reaktive Methoden und Instrumente angewandt (Abb. 3).

3.2

Proaktive Methoden und Instrumente

Proaktive/präventive Methoden und Instrumente werden auf Grundlage der Ergebnisse der verschiedenen Analysetools

715

proaktiv / präventiv

reaktiv

Szenario-Analyse

Fehlermeldesysteme

Audit, Begehung, Peer Review

London-Protokoll

Prozessanalyse

Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen

Patienten- und Mitarbeiterbefragungen

Qualitätszirkel

Qualitätssicherungsdaten

Patientenorientiertes Beschwerdemanagement

Abb. 3 Beispiele für proaktive/präventive und reaktive Methoden und Instrumente des Risikomanagements

Abb. 4 Schematische dreidimensionale Darstellung von vier Szenarien (S1–S4) von der Gegenwart (IST-Zustand) bis in die Zukunft mit Kontrollmöglichkeit

eingesetzt, um möglichen zukünftigen Ereignissen und Risiken effektiv und effizient vorbeugen zu können (Abb. 3). Szenario-Analyse Die Szenario-Analyse ist eine konkrete und bildhafte Darstellung von potenziellen Risiken (Abb. 4). Ein Szenario wird hinsichtlich Ursachen, Eintrittswahrscheinlichkeiten und Auswirkungen beurteilt. Im Risikomanagement wird das Szenario dabei als schlimmstmöglicher, aber dennoch glaubhafter Fall angenommen (credible worst case). Die SzenarioAnalyse wird z. B. in Form von regelmäßig stattfindenden „Risiko-Gesprächen“ durchgeführt, um bestehende und mögliche neue Risiken anhand des Risikomanagementprozesses zu bearbeiten und präventive Maßnahmen abzuleiten. Als Methode zur systematischen Vorausschau aufbauend auf einer umfangreichen Analyse der IST-Situation, versucht die Szenario-Analyse, unter Einbezug von Experten und

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Stakeholdern alternative Zukunftsentwicklungen zu antizipieren und maßgeschneiderte Strategien zu entwickeln. Die schematische dreidimensionale Darstellung von Szenarien (S1–S4, Abb. 4) zeigt die möglichen unterschiedlichen Entwicklungen von der Gegenwart bis in die Zukunft. Je weiter sich die Szenarien auf dem Zeitstrahl von der Gegenwart (IST-Zustand) entfernen, desto größer wird die Streuungsbreite. Daraus resultiert eine zunehmende Unsicherheit der Auswirkungen von Risiken. Eine Kontrollmöglichkeit, die Entwicklung der Szenarien zu überwachen, ist die Implementierung von z. B. halbjährlich stattfindenden „Risiko-Gesprächen“ mit Neubewertung des Risikos sowie ggf. Anpassung der präventiven Maßnahmen. Selbstverständlich kann das Szenario-Analysetool auch zur Beurteilung von Chancen herangezogen werden, wodurch sich das klassische Risikomanagement zu einem Chancen- und Risikomanagement weiterentwickelt.

allgemeine Patientenbefragung kann exemplarisch die Schwerpunkte ärztliche Versorgung, pflegerische Versorgung, organisatorischer Ablauf sowie Patientensicherheit beinhalten. Mitarbeiterbefragungen können sehr gut das Betriebsklima widerspiegeln, sind aber auch geeignet, beispielhaft das Thema Erhöhung der Patientensicherheit aus der Mitarbeiterperspektive aktiv zu beleuchten. Sowohl allgemeine als auch spezielle Patienten- und Mitarbeiterbefragungen werden systematisch ausgewertet und kommuniziert (s. Abschn. 3.3).

Audit, Begehung, Peer Review Ein Audit dient der systematischen (Selbst-)Beurteilung anhand von definierten Kriterien (s. Abschn. „Zertifizierung“). Dabei werden interne (durch interne Mitarbeiter oder externe Berater) und externe (durch eine unabhängige Zertifizierungsgesellschaft) Audits unterschieden, die anhand eines zentral geplanten Auditprogramms (Audithäufigkeit, Auditmethoden, Auditkriterien und Auditumfang) durchgeführt werden. Strukturierte Begehungen bestimmter klinischer Bereiche – z. B. mit den Schwerpunkten Hygiene, Arzneimitteltherapiesicherheit, Arbeitsschutz, Datenschutz – erfolgen regelmäßig sowohl anlassbezogen als auch spontan, um einen Eindruck der tatsächlichen IST-Situation in den jeweiligen Bereichen der Gesundheitseinrichtung zu erhalten. Das Peer Review ist ein systematisches und kritisches Verfahren, bei dem Experten auf Augenhöhe Erfahrungen bei der Patientenversorgung offen austauschen mit dem Ziel des gegenseitigen effektiven Wissenstransfers (Voneinander-Lernens) und der kontinuierlichen Verbesserung.

3.3

Qualitätssicherungsdaten Die Qualitätssicherung (QS) ist integraler Bestandteil des QRM. Die Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR) sollte regelhaft unterjährig ausgewertet und intern transparent kommuniziert werden, um unmittelbar auf abweichende medizinische Entwicklungen reagieren zu können (Abschn. 5).

Reaktive Methoden und Instrumente

Reaktive Methoden und Instrumente beruhen auf schon stattgehabten Ereignissen oder Beinahe-Schäden in der Organisation. Hierbei werden konkrete Ereignisse/Risiken identifiziert, analysiert, bewertet und Maßnahmen abgeleitet (s. Übersicht unten). Fehlermeldesysteme Als ein Fehlermeldesystem zur Risikoerkennung wird das Critical Incident Reporting System (CIRS) genutzt, bei dem alle Mitarbeiter jederzeit freiwillig, anonym und sanktionsfrei niederschwellig Beinahe-Schäden und Ereignisse melden können. Diese Daten werden streng vertraulich und zeitnah vom zentralen QRM bearbeitet. Präventionsmaßnahmen zur Erhöhung der Patienten- und Mitarbeitersicherheit werden abgeleitet und kommuniziert (CIRSmedical; KrankenhausCIRS-Netz 2.0 2018).

Prozessanalyse Prozessanalyse-Methoden werten systemisch Zwischenfälle aus (z. B. im Versorgungsprozess) auf Basis der Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA – Failure Mode and Effects Analysis) oder der Fehler-Ursachen-Analyse (RCA – Root Cause Analysis). Prozessanalyse-Methoden werden auch präventiv durchgeführt, z. B. in Hochrisikobereichen und in Prozessen mit hohen Schadenspotenzialen, z. B. an Schnittstellen (ambulant – stationär).

London-Protokoll Die Bearbeitung von schon eingetretenen Schadensfällen erfolgt anhand des London-Protokolls. Das London-Protokoll bietet eine systematische Struktur zur Analyse und Bewältigung medizinischer Schadensfälle. Alle verfügbaren Informationen zum Schadensfall werden sorgfältig und detailliert analysiert, um systemische Einflussfaktoren identifizieren zu können. Das London-Protokoll ist eine sehr effiziente strukturierte Selbstreflexionsmethode, die eine offene Fehler- und Sicherheitskultur voraussetzt (TaylorAdams und Vincent 2004).

Patienten- und Mitarbeiterbefragungen Patientenbefragungen werden gezielt eingesetzt, um Verbesserungspotenziale aus der Patientenperspektive heraus abzuleiten und um die Ergebnisqualität bestimmen zu können, z. B. bei speziellen Befragungen in onkologischen Zentren. Eine

Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen und Qualitätszirkel Der systematische Einsatz von interdisziplinären und interprofessionellen Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen (M&M-Konferenzen) – mit den Schwerpunkten Todesfälle,

59

Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

schwerwiegende Zwischenfälle/Komplikationen, langwierige Patientenverläufe – und Qualitätszirkeln wird zur kontinuierlichen Verbesserung der medizinischen Behandlungsqualität eingesetzt (Bundesärztekammer Methodischer Leitfaden Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen 2016). Patientenorientiertes Beschwerdemanagement Die Zufriedenheit der Patienten stellt ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der internen Abläufe der Gesundheitseinrichtung dar (s. Abschn. 3.2A). Alle Patienten haben sowohl die Möglichkeit, Beschwerden oder Anregungen zum erlebten Krankenhaus- oder Praxisaufenthalt persönlich den Beschwerdemanagern mitzuteilen als auch anonym, z. B. auf einem Meinungsbogen, zu äußern. Ziel des patientenorientierten Beschwerdemanagements ist es, die Patientenzufriedenheit wiederherzustellen, Korrekturmaßnahmen einzuleiten und gemeinsam mit den Ansprechpartnern/Verantwortlichen vor Ort Präventivmaßnahmen zu entwickeln, um unerwünschte Ereignisse, Verhaltensweisen oder Abläufe künftig zu vermeiden und die Patientensicherheit zu erhöhen. Alle Beschwerden werden systematisch erfasst und ausgewertet, um durch gezielte Maßnahmen Nachhaltigkeit zu bewirken. Jährlich werden die Daten den Mitarbeitern kommuniziert.

4

Patientensicherheit

Patientensicherheit ist ein fundamentales Prinzip im Gesundheitswesen. Das ethische Gebot, den Patienten zuallererst keinen Schaden zuzuführen – primum nil nocere – ist ein seit vielen Jahrhunderten bestehendes Prinzip der ärztlichen Kunst. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. (APS) hat 2018 ethische Leitsätze zur Stärkung der Patientensicherheit entwickelt (APS 2018). " Gesundheitseinrichtungen gehören zu den bedeutenden Hochrisikobereichen, neben der Luftfahrt, Raumfahrt und der Atomenergie. Trotz aller bestehenden Patientensicherheitsvorkehrungen kommt es täglich zu unerwünschten Ereignissen, von kleineren Schäden, über schwerwiegende Fehler mit z. B. verlängerter Hospitalisation oder bleibenden Schäden bis zum Tod der Patienten (s. Übersicht).

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In Krankenhäusern und auch in ambulanten Versorgungseinrichtungen herrschen komplexe Arbeits- und Ablauforganisationen, in denen verschiedene Berufsgruppen und hoch spezialisierte Fachkräfte in der direkten und indirekten Patientenversorgung oft parallel tätig sind. Diese komplexen Arbeitsabläufe sind häufig in vielen Bereichen nur im Schichtdienst möglich, um eine optimale Patientenversorgung rund um die Uhr vorhalten zu können. Zwingend erforderlich hierfür sind hoch effiziente Planungs- und Kommunikationsprozesse, vor allem an den zahlreichen Schnittstellen (sektorenübergreifend ambulant – stationär; krankenhausintern zwischen Abteilungen, z. B. OP – Intensivstation usw.). An jeder Schnittstelle können Informationen verloren gehen. Insbesondere bei sog. Risikopatienten, wie Frühgeborenen, Säuglingen, sehr alten oder kritisch kranken, multimorbiden Patienten, sind Diagnostik und Therapie teilweise mit einem hohen Risiko für Komplikationen und schwerwiegenden Folgen verbunden. Das Wissen der notwendigen kontinuierlichen Erhöhung der Patientensicherheit findet seit 2006 vermehrt Berücksichtigung auf der europäischen politischen Ebene. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO – World Health Organization) hat mit der Gründung der World Alliance for Patient Safety im Jahr 2004 einen bedeutenden Meilenstein gesetzt für die Verankerung des Themas Patientensicherheit im internationalen Gesundheitswesen. Regelmäßig werden auf der WHO-Homepage wichtige Dokumente zur Erhöhung der Patientensicherheit und Fakten zur Patientensicherheit veröffentlicht (s. Übersicht WHO).

Einige Fakten zur Patientensicherheit (WHO)

• Weltweit hat ein Patient von 300 das Risiko eines Behandlungsschadens im Gesundheitssystem, aber nur ein Mensch von 1.000.000 während eines Fluges. • Ein Patient von 10 hat in entwickelten Ländern das Risiko eines Schadens durch eine Behandlung im Krankenhaus. • 7 % aller Krankenhauspatienten in entwickelten Ländern erwerben eine krankenhausassoziierte Infektion. • Weltweit geschehen etwa 43 Mio. Patientensicherheits-Vorfälle pro Jahr.

4.1

Never Events

Patientensicherheit und unerwünschte Ereignisse

• Patientensicherheit – Abwesenheit unerwünschter Ereignisse • Unerwünschte Ereignisse – Alle im Rahmen der Patientenversorgung auftretenden Schädigungen, die nicht auf die zugrunde liegende Erkrankung zurückgeführt werden können

Never Events beschreiben Ereignisse im Gesundheitswesen, die niemals passieren sollten. In Großbritannien und auch den USA stellen die Krankenversicherungen keine Kostenübernahmen für Never Events bereit, so dass aus schwerwiegenden medizinischen Ereignissen zusätzlich erhebliche ökonomische Risiken für Praxen und Krankenhäuser entstehen. Die Never Events können nur durch ein strukturiertes und nach-

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R. Petzina und K. Wehkamp

haltiges klinisches Risikomanagement mit dem Fokus auf Erhöhung der Patientensicherheit vermieden werden und stellen ein fundamentales Gerüst im Gesundheitswesen dar. Das National Health Service (NHS), das staatliche Gesundheitssystem in Großbritannien, veröffentlicht regelmäßig sog. „Never-Event-Listen“ und stellt Instrumente und Methoden zur Prävention vor, die zuletzt im Jahr 2018 aktualisiert worden sind (Never Event List 2018). Auszüge aus der Never-Event-Liste (NHS – National Health Service): • Operation an der falschen Seite • Falsches Implantat/falsche Prothese • Zurückgelassene Fremdkörper nach einem chirurgischen Eingriff • Falscher Verabreichungsweg von Medikamenten • Stürze aus ungesicherten Fenstern • Einklemmen der Brust oder des Nackens in Bettgittern • Transfusion oder Transplantation von AB0-inkompatiblen Blutbestandteilen oder Organen • Falsch gesetzte transnasale Magensonde oder MundMagen-Sonde • Verbrühung von Patienten

Die WHO-OP-Checkliste – surgical safety checklist – zielt auf die Erhöhung der Patientensicherheit ab durch strukturiertes und standardisiertes Abfragen von Patientenidentifikation, Markierung der zu operierenden Seite, anästhesiologische und chirurgische Einschätzungen bezüglich des zu erwartenden Blutverlusts, Hygiene usw. jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten – vor anästhesiologischer Einleitung, vor chirurgischem Hautschnitt und bevor der Patient den Operationssaal verlässt. Diese WHO-OP-Checkliste soll als Grundlage dienen und kann krankenhausindividuell angepasst werden (Abb. 5). Patienten aktiv an den medizinischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, ist ein schon seit einigen Jahren mehr oder weniger erfolgreich verfolgtes Ziel im Gesundheitswesen und wurde im Jahr 2013 im Patientenrechtegesetz fest verankert. Das Projekt „Making SDM reality – Vollimplementierung von shared decision making im Krankenhaus“ (SDM – shared decision making), auch als Partizipation/ Selbstbestimmung der Patienten beschrieben, hat zum Ziel, in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess sowohl evidenzbasierte medizinische Informationen als auch die persönlichen Präferenzen des Patienten zu berücksichtigen (G-BA – SDM).

Surgical Safety Checklist Before induction of anaesthesia

Before skin incision

Before patient leaves operating room

(with at least nurse and anaesthetist)

(with nurse, anaesthetist and surgeon)

(with nurse, anaesthetist and surgeon)

Has the patient confirmed his/her identity, site, procedure, and consent? Yes Is the site marked? Yes Not applicable Is the anaesthesia machine and medication check complete? Yes Is the pulse oximeter on the patient and functioning? Yes Does the patient have a: Known allergy? No Yes Difficult airway or aspiration risk? No Yes, and equipment/assistance available Risk of >500ml blood loss (7ml/kg in children)? No Yes, and two IVs/central access and fluids planned

Confirm all team members have introduced themselves by name and role. Confirm the patient’s name, procedure, and where the incision will be made. Has antibiotic prophylaxis been given within the last 60 minutes? Yes Not applicable Anticipated Critical Events To Surgeon: What are the critical or non-routine steps? How long will the case take? What is the anticipated blood loss?

Nurse Verbally Confirms: The name of the procedure Completion of instrument, sponge and needle counts Specimen labelling (read specimen labels aloud, including patient name) Whether there are any equipment problems to be addressed To Surgeon, Anaesthetist and Nurse: What are the key concerns for recovery and management of this patient?

To Anaesthetist: Are there any patient-specific concerns? To Nursing Team: Has sterility (including indicator results) been confirmed? Are there equipment issues or any concerns? Is essential imaging displayed? Yes Not applicable

This checklist is not intended to be comprehensive. Additions and modifications to fit local practice are encouraged.

Abb. 5 WHO-OP-Checkliste (Surgical Safety Checklist)

Revised 1 / 2009

© WHO, 2009

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Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

" Das gemeinsame Ziel zur Erhöhung der Patientensicherheit sowohl im ambulanten als auch stationärem Bereich kann mittel- und langfristig nur erreicht werden durch die Etablierung einer offenen Sicherheitskultur, in der Fehler als Chance verstanden und nicht die Schuldigen gesucht werden (die Frage sollte lauten: „Was ist passiert?“ und nicht „Wer war es?“ im Sinne einer „blame culture“) und wir den Weg des Voneinander-Lernens einschlagen. Eine richtig große Herausforderung, die wir alle, Patienten und Mitarbeiter im Gesundheitswesen, aktiv und gemeinsam tagtäglich annehmen und meistern müssen.

5

Qualitätssicherung

Qualitätssicherung (QS) ist eine ureigene Aufgabe jedes Arztes und wird schon in der Präambel der (Muster-) Berufsordnung der Bundesärztekammer für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte von 2015 beschrieben mit dem Ziel, „die Qualität der ärztlichen Tätigkeit im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen“ (Bundesärztekammer 2015). Die medizinische Qualitätssicherung wird durch das Sozialgesetzbuch V (SGB V) bestimmt. Insgesamt besteht in Deutschland seit 1996 die gesetzliche Verpflichtung zur Sicherung der Qualität in Qualitätssicherungsverfahren. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) wurde die Ausgestaltung dieser gesetzlichen Vorgaben übertragen und der G-BA hat für den vertragsärztlichen, vertragszahnärztlichen und den stationären Bereich die Anforderungen an die Qualitätssicherung festzulegen. Ziel der Qualitätssicherung ist, die ärztliche Qualität in den unterschiedlichen Sektoren – ambulant, stationär, zahnärztlich – zum einen sicherzustellen und zum anderen transparent zu machen. Der G-BA hat das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) beauftragt, Maßnahmen zur Qualitätssicherung und die Versorgungsqualität im Gesundheitswesen darzustellen. Seit 2016 hat das IQTIG die Durchführung der sektorenübergreifenden Qualitätssicherung vom AQUA-Institut (Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen) übernommen. Grundlage für die Qualitätssicherungsverfahren (QS-Verfahren) in Deutschland sind die Richtlinie über „Maßnahmen der Qualitätssicherung in Krankenhäusern“ (QSKH-RL) und die „Richtlinie zur einrichtungs- und sektorenübergreifenden Qualitätssicherung“ (Qesü-RL). Anhand festgelegter Qualitätsindikatoren werden die Daten der Krankenhäuser analysiert. Qualitätsindikatoren sind fest definierte Kriterien. Dadurch kann die Qualität in einem Krankenhaus oder in einer Praxis gemessen und verglichen werden. Die jährlich aktualisierten Qualitätsindikatoren können in der vom IQTIG erstellten Qualitätsindikatorendatenbank (QIDB) eingesehen werden. Die Aufgabe wird

719

für die Leistungsbereiche (QS-Module, Abb. 6) mit geringen Fallzahlen (direkte Verfahren) vom IQTIG direkt zentral für Deutschland übernommen. Alle anderen Leistungsbereiche (indirekte Verfahren) werden auf den Landesebenen verarbeitet, ausgewertet sowie durch die Fachausschüsse bei den Landesärztekammern begutachtet und für die deutschen Gesamtauswertungen zentral an das IQTIG weitergeleitet. Seit 2017 gilt das Verfahren Planungsrelevante Qualitätsindikatoren (Plan-QI) vom IQTIG und soll den Planungsbehörden der Länder erstmals ermöglichen, die Qualität der medizinischen Versorgung einer Klinik bei der Krankenhausplanung zu berücksichtigen. Hierfür werden seit Jahresbeginn 2017 quartalsweise Daten für 11 Qualitätsindikatoren der Bereiche Geburtshilfe, gynäkologische Operationen und Mammachirurgie geliefert. Als erstes sektorenübergreifendes Qualitätssicherungsverfahren wurde 2016 mit dem Verfahren Perkutane Koronarintervention (PCI) und Koronarangiografie gestartet. Es betrifft Untersuchungen und Eingriffe an den Herzkranzgefäßen von Patienten, bei denen ein Herzinfarkt droht oder akut abgewendet werden soll. Seit 2017 ist das zweite sektorenübergreifende Qualitätssicherungsverfahren Vermeidung nosokomialer Infektionen – postoperative Wundinfektionen gestartet. Qualitätsgesichert werden chirurgische Eingriffe, die an Krankenhäusern (ambulant und stationär) oder durch niedergelassene Ärzte ausgeführt werden. Darüber hinaus werden bei allen teilnehmenden Krankenhäusern und Arztpraxen Daten für Indikatoren zum Hygiene- und Infektionsmanagement erhoben (QS-Verfahren – IQTIG 2018). In den Qualitätssicherungsverfahren Herzschrittmacherversorgung, Hüft- und Knieendoprothesenversorgung werden ab 2016 Follow-up-Indikatoren angewendet. Mit diesen Indikatoren wird eine Verknüpfung stationär erhobener QS-Daten aus verschiedenen Behandlungsepisoden der Patienten für Langzeitbeobachtungen in der Qualitätssicherung durchgeführt. Das Verfahrensjahr für die Qualitätssicherung erstreckt sich vom 01.01. bis zum 31.12. eines Jahres. Alle Patienten, die in diesem Zeitraum vollstationär aufgenommen und bis zum 31.01. des Folgejahres entlassen werden, sind dokumentationspflichtig.

5.1

Strukturierte Dialoge und Verbesserungspotenziale

Kernbestandteil der externen Qualitätssicherung sind die strukturierten Dialoge. Der jeweilige Fachausschuss erhält die gesamten Ergebnisse des zugehörigen Moduls und legt die Notwendigkeit des strukturierten Dialogs fest, wenn das Ergebnis eines Krankenhauses bei einem Qualitätsindikator außerhalb eines definierten Referenzbereiches liegt. Durch die Stellungnahme der betroffenen medizinischen Bereiche zu ihren einzelnen Fällen wird geklärt, ob die rechnerischen Auffälligkeiten auf qualitative Probleme zurückzuführen

720

R. Petzina und K. Wehkamp

Abb. 6 Leistungsbereiche der Qualitätssicherungsverfahren; QSKH-RL – Richtlinie der Qualitätssicherung in Krankenhäusern; Qesü-RL – Richtlinie zur einrichtungs- und sektorenübergreifenden Qualitätssicherung; Plan-QI – Planungsrelevante Qualitätsindikatoren

sind. Ist dies der Fall, findet mit dem Expertengremium eine Analyse der Ursachen in Form des strukturierten Dialogs statt. Das Verfahren bietet dadurch die Möglichkeit, gezielt Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung anzustoßen und deren Wirksamkeit im Folgejahr anhand der Qualitätssicherungsdaten nachzuverfolgen. Zusätzlich zu den strukturierten Dialogen sind auch Begehungen in den betroffenen Bereichen möglich. In den kollegialen Gesprächen der strukturierten Dialoge wird den Leistungserbringern ermöglicht, die im Vorjahr entstandenen rechnerischen Auffälligkeiten zu erklären und zu entkräften sowie darzulegen, welche einrichtungsinternen Verbesserungsmaßnahmen implementiert werden. Um Verbesserungen zu erreichen, werden mit den betroffenen Einrichtungen konkrete Zielvereinbarungen geschlossen und längerfristig beobachtet (Qualitätsreport – IQTIG 2016). Externe Qualitätssicherung in der Arztpraxis Im vertragsärztlichen Bereich gibt es einrichtungsübergreifende externe Qualitätssicherung bislang nur für die Dialyse. Die entsprechende Qualitätssicherungs-Richtlinie Dialyse des G-BA ist seit 2006 in Kraft (QS-RL Dialyse 2017). Im zahnärztlichen Bereich gibt es derzeit noch keine externe Qualitätssicherung. Ein entsprechendes Verfahren befindet sich in der Entwicklung. Mit Einführung der ersten beiden sektorenübergreifenden Qualitätssicherungsverfahren – Perkutane Koronarintervention (PCI) und Koronarangiografie und Vermeidung

nosokomialer Infektionen – postoperative Wundinfektionen – werden Arztpraxen nun zunehmend mit in die externe Qualitätssicherung einbezogen.

5.2

Qualitätsabhängige Zu- und Abschläge

Als ein weiteres Qualitätssicherungsinstrument wurde im Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) verankert, dass der G-BA für zugelassene Krankenhäuser einen Leistungskatalog erstellt, der sich für eine qualitätsabhängige Vergütung mit Zu- und Abschlägen eignet. Das IQTIG wurde aufgefordert, Empfehlungen für entsprechende Leistungsbereiche aus der QSKH-Richtlinie auszusprechen. Dabei sollen in der Folge Verträge zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern zu Qualitätszuschlägen für „außerordentlich gute“ und Qualitätsabschlägen für „unzureichende“ Qualität vereinbart werden. Bis Ende 2018 erfolgt nun vom IQTIG die Erstellung eines Konzepts zur Bewertung von Exzellenzqualität (Zu- und Abschläge – IQTIG 2018).

5.3

Qualitätsberichte

Die Ergebnisse der verpflichtenden externen Qualitätssicherung werden regelmäßig vom IQTIG veröffentlicht (QS-Berichte – IQTIG 2018). Zentrale Qualitätsberichte stellen hierbei die

59

Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

Bundesauswertung und der Qualitätsreport dar, wobei die Bundesauswertung die Ergebnisse der gesetzlichen Qualitätssicherung im Krankenhaus zusammenfasst und der im Herbst veröffentlichte Qualitätsreport (erstmalig im Jahr 2015) detaillierte Informationen zu bestimmten medizinischen Versorgungsbereichen in Krankenhäusern wie z. B. Gefäßchirurgie, Kardiologie, Gynäkologie oder Transplantationen enthält und zusätzlich die aktuellen Ergebnisse der externen Qualitätssicherung mit denen des Vorjahres vergleicht. Im Erfassungsjahr 2016 bezieht sich der Qualitätsreport nun auch auf sektorenübergreifende Qualitätssicherungsverfahren und nicht nur auf Daten der stationären Bereiche (Qualitätsreport – IQTIG 2016). Zur Darstellung des Stands der externen stationären Qualitätssicherung sind Krankenhäuser verpflichtet, jährlich einen strukturierten Qualitätsbericht zu veröffentlichen, wobei die Anfang 2018 erschienenen Berichte auf Daten des Erfassungsjahres 2016 beruhen. Diese Qualitätsberichte beinhalten u. a. Informationen über die Struktur eines Krankenhauses, seine Leistungsangebote und über Behandlungsergebnisse in einzelnen Versorgungsbereichen. Die Angaben in den Qualitätsberichten lassen sich nutzen, um Krankenhäuser zu vergleichen. Mithilfe von Krankenhaus-Suchmaschinen – z. B. auf den Internetseiten der gesetzlichen Krankenkassen – kann man Kliniken gezielt nach bestimmten Informationen auswählen. Das Ziel der strukturierten Qualitätsberichte liegt in der Transparenz der einzelnen Krankenhäuser und der damit verbundenen Vergleichbarkeit (QS-Berichte – IQTIG 2018). Die Krankenhäuser informieren mit diesen Berichten Patienten, Versicherte, einweisende Ärzte und Krankenkassen über Ausstattung, Qualitätssicherungsmaßnahmen, Fallzahlen, Komplikationsraten, besondere Kompetenzen, Erfüllung von Fortbildungspflichten und andere Kenngrößen ihrer Häuser. " Die strukturierten Qualitätsberichte sollen Patienten eine Entscheidungshilfe geben bei der Auswahl des Krankenhauses (G-BA 2015). Das Ziel, vor allem Patienten die Möglichkeit zu geben, sich anhand der Qualitätsberichte zu orientieren, ist in der derzeitigen Form unseres Erachtens nicht erreicht. Die Qualitätsberichte sind leider alles andere als anwenderfreundlich und bedürfen dringend einer Überarbeitung.

5.4

Externe Qualitätssicherung – BenchmarkMöglichkeiten

Die üblicherweise für die externe Qualitätssicherung verwendeten Daten sind die Datensätze nach § 301 Sozialgesetzbuch V (SGB V) und § 21 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG), wobei die § 301 SGB V unmittelbar an die Krankenkassen und die § 21 KHEntgG Datensätze des vorangegangenen Jahres an das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) übermittelt werden.

721

" Die genannten Datensätze sind folglich Abrechnungsdaten von Krankenhäusern. Diese Daten werden aber als Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR) auch zur klinischen Einschätzung z. B. für die Ermittlung der Ergebnisqualität der Krankenhäuser verwendet.

Hier ist exemplarisch der AOK-Krankenhausnavigator zu nennen, der anhand dieser QSR-Datensätze im AOKKliniksuchportal die Behandlungsqualität in acht Leistungsbereichen (Hüft- und Kniegelenks-Endoprothetik, Hüftfraktur, Gallenblasen- und Blinddarmentfernungen, therapeutische Herzkatheter bei Patienten ohne Herzinfarkt sowie Eingriffe bei benignem Prostatasyndrom und Prostatakarzinom) angibt (QSR-Ergebnisse 2017). Hiermit soll für mehr Transparenz bei Patienten, Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen gesorgt werden, aber auch für eine deutlich über den Krankenhausaufenthalt hinausführende Analyse der anonymisierten Patientendaten, da der Krankenkasse alle nachfolgenden ambulanten oder stationären Daten zur Verfügung stehen. Die Daten werden vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) erhoben (WIdO 2018). Die Initiative Qualitätsmedizin (IQM) ist Kooperationspartner des WIdO für das Verfahren der sektorenübergreifenden Qualitätsmessung. Seit der Gründung von IQM im Jahr 2008 haben sich bereits über 400 kommunale, freigemeinnützige, öffentlich-rechtliche, internationale und private Krankenhäuser sowie zahlreiche Universitätsklinika aus Deutschland und der Schweiz für mehr medizinische Qualität bei der Behandlung ihrer Patienten zusammengeschlossen. IQM-Mitglieder behandeln jährlich ca. 6,7 Mio. Patienten stationär. Damit liegt der Anteil an der stationären Versorgung in Deutschland bei ca. 33 %. Von IQM werden die drei Grundsätze, Qualitätsmessung auf Basis von Routinedaten, Transparenz der Ergebnisse durch deren Veröffentlichung und Verbesserung durch Peer Reviews verfolgt. IQMMitgliedskliniken nutzen die German Inpatient Quality Indicators (G-IQI) und die Swiss Inpatient Quality Indicators (CH-IQI). Ergänzend zu den G-IQI werden auch die Patient Safety Indicators (PSI) der Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) angegeben, ein Indikatorenset zur Kennzeichnung von Komplikationen im Krankenhaus nach chirurgischen Eingriffen, Prozeduren oder Geburten (PSI 2018; IQM 2018). Im QR-Check wiederum werden von der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, des Krankenhauszweckverbandes Rheinland e.V. und der westfälischen Zweckverbände Qualitätsindikatoren aus Routinedaten ebenfalls basierend auf den G-IQI analysiert (QR-Check 2018). Qualitätsindikatoren für kirchliche Krankenhäuser (QKK e.V.) werden auch aus Routinedaten u. a. aufgrund der G-IQI ermittelt, aber auch Kennzahlen der medizinischen Versorgung vulnerabler Patientengruppen abgebildet (christliche Orientierung) (QKK 2018).

722

R. Petzina und K. Wehkamp

Das Deutsche Qualitätsbündnis Sepsis (icosmos) hat das Ziel, die Behandlung von Patienten mit Sepsis in den teilnehmenden Krankenhäusern deutschlandweit zu verbessern und dadurch die Zahl sepsisbedingter Todesfälle entscheidend zu senken. Am Deutschen Qualitätsbündnis Sepsis beteiligen sich derzeit 75 Kliniken aus ganz Deutschland, darunter 15 Universitätskliniken. Das Deutsche Qualitätsbündnis Sepsis greift ebenfalls auf die Routinedaten auf Basis § 21 KHEntgG zurück (icosmos 2018). Die erzielten Ergebnisse aus den Routinedaten können als Standardized Mortality Ratio (SMR) dargestellt werden, also als Maß für die Abweichung des beobachteten vom erwarteten Ergebnisses (SMR = beobachtetes Ereignis/erwartetes Ereignis). Liegt der errechnete SMR-Wert zwischen 0 und 1 sind in dem Krankenhaus für diesen Qualitätsindikator weniger Ereignisse/Todesfälle als erwartet aufgetreten (positives Ergebnis), liegt der Wert über 1 hat es mehr Ereignisse/ Todesfälle als erwartet gegeben (negatives Ergebnis). " Das gemeinsame Ziel der Qualitätssicherung aus Routinedaten besteht in der Transparenz und Veröffentlichung der untersuchten Datensätze sowie des Benchmarks mit anderen Krankenhäusern, um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu erreichen.

Der derzeitige Ansatz des IQTIG, die externe Qualitätssicherung weiter zu verschlanken und mehr sektorenübergreifende Verfahren zu etablieren, ist grundsätzlich zu begrüßen. Doch zeigt sich z. B. bei dem neuen Verfahren Vermeidung nosokomialer Infektionen – postoperative Wundinfektionen, dass hierbei noch erheblicher Anpassungsund Optimierungsbedarf besteht. Eine stärkere und aktivere Beteiligung von betroffenen Mitarbeitern aus den verschiedenen Gesundheitsbereichen und vorab erste Testungen in ausgesuchten Kliniken/Arztpraxen sind mehr als wünschenswert, bevor weitere ausufernde und sehr zeitintensive Qualitätssicherungsdokumentationen vollständig etabliert werden.

6

Fazit

Qualitätsmanagement dient der Verbesserung von Organisationen, wie beispielsweise einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis. Das Ziel besteht darin, zielgerichtet und organisiert möglichst sämtliche Strukturen, Prozesse und die Ergebnisse der Prozesse bzw. Produkte kontinuierlich zu prüfen und zu verbessern. Dieses Konzept wird durch den Kontinuierlichen Verbesserungsprozess bzw. den PDCA-Zyklus dargestellt, der sich als Grundelement des Qualitätsmanagements verstehen lässt (Abb. 1). Zur Einteilung von Qualitätsebenen in der Patientenversorgung hat es sich bewährt, zwischen der Strukturqualität, der Prozessqualität und der

Ergebnisqualität zu unterscheiden. Von einem Qualitätsmanagementsystem wird gesprochen, wenn nicht nur einzelne Maßnahmen, sondern ein umfassendes System von Elementen des Qualitätsmanagements bestehen. Das klinische Risikomanagement stellt zusätzlich zum Qualitätsmanagement einen festen Bestandteil der Unternehmenspolitik dar. Als Risiko wird die Kombination aus Wahrscheinlichkeit und Auswirkung von Unsicherheiten verstanden, die sich auf die Ziele des Unternehmens, auf die Sicherheit und Gesundheit der Menschen und letztendlich auf die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Gesundheitseinrichtung beziehen. Auf den Aufbau eines Risikomanagementsystems wird auch explizit in der Qualitätsmanagementrichtlinie des G-BA aus dem Jahr 2016 hingewiesen. Im Risikomanagement werden proaktive/präventive (z. B. Szenario-Analyse, Audit, Begehungen, Peer Review, Prozessanalysen, Befragungen, QS-Daten) sowie reaktive (z. B. CIRS, London-Protokoll, M&M-Konferenzen, Qualitätszirkel, Beschwerdemanagement) Instrumente und Methoden unterschieden. Patientensicherheit ist ein fundamentales Prinzip im Gesundheitswesen. Gesundheitseinrichtungen gehören zu den bedeutenden Hochrisikobereichen, neben der Luftfahrt, Raumfahrt und der Atomenergie. Trotz aller bestehenden Patientensicherheitsvorkehrungen kommt es täglich zu mehrfachen unerwünschten Ereignissen, von kleineren Schäden, über schwerwiegende Fehler mit z. B. verlängerter Hospitalisation oder bleibenden Schäden bis zum Tod der Patienten. Hierbei werden Never Events in besonderer Weise hervorgehoben, denn Never Events beschreiben Ereignisse im Gesundheitswesen, die niemals passieren sollten und einen hohen medizinischen, wirtschaftlichen und auch öffentlichkeitswirksamen Schaden hervorrufen können. Effiziente Maßnahmen zur Erhöhung der Patientensicherheit in Gesundheitseinrichtungen stellen exemplarisch eine eindeutige Patientenidentifikation und die konsequente Einhaltung der WHO-OP-Checkliste dar. Zukünftig müssen Patienten deutlich aktiver an der medizinischen Behandlung beteiligt werden im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung. Qualitätssicherungsverfahren bestehen in Deutschland seit 1996 als gesetzliche Verpflichtung. Der G-BA hat das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) beauftragt, Maßnahmen zur Qualitätssicherung und die Versorgungsqualität im Gesundheitswesen darzustellen. Grundlage für die Qualitätssicherungsverfahren in Deutschland sind die Richtlinie über „Maßnahmen der Qualitätssicherung in Krankenhäusern“ (QSKH-RL) und die „Richtlinie zur einrichtungs- und sektorenübergreifenden Qualitätssicherung“ (Qesü-RL). Als erste sektorenübergreifende Qualitätssicherungsverfahren wurden 2016 das Verfahren „Perkutane Koronarintervention“ (PCI) und Koronarangiografie und 2017 das Verfahren „Vermeidung nosokomialer

59

Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

Infektionen – postoperative Wundinfektionen“ gestartet. Seit 2017 wurde das Verfahren Planungsrelevante Qualitätsindikatoren (Plan-QI) vom IQTIG eingeführt und soll den Planungsbehörden der Länder erstmals ermöglichen, die Qualität der medizinischen Versorgung einer Klinik bei der Krankenhausplanung zu berücksichtigen. Kernbestandteil der externen Qualitätssicherung sind die strukturierten Dialoge, die notwendig werden, wenn das Ergebnis eines Krankenhauses bei einem Qualitätsindikator außerhalb eines definierten Referenzbereiches (rechnerische Auffälligkeit) liegt. Die Bewertung der strukturierten Dialoge erfolgt über ein bundeseinheitliches Bewertungsschema und bietet dadurch die Möglichkeit, gezielt Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung anzustoßen und deren Wirksamkeit im Folgejahr anhand der Qualitätssicherungsdaten nachzuverfolgen. Als ein weiteres Qualitätssicherungsinstrument wurde im Krankenhausstrukturgesetz verankert, dass der G-BA für zugelassene Krankenhäuser einen Leistungskatalog erstellt, der sich für eine qualitätsabhängige Vergütung mit Zu- und Abschlägen eignet. Das IQTIG wurde aufgefordert, Empfehlungen für entsprechende Leistungsbereiche aus der QSKH-Richtlinie bis Ende 2018 auszusprechen. Zur Darstellung des Stands der externen stationären Qualitätssicherung sind Krankenhäuser verpflichtet, jährlich einen strukturierten Qualitätsbericht zu veröffentlichen, wobei die Anfang 2018 erschienenen Berichte auf Daten des Erfassungsjahres 2016 beruhen. Diese Qualitätsberichte beinhalten u. a. Informationen über die Struktur eines Krankenhauses, seine Leistungsangebote und über Behandlungsergebnisse in einzelnen Versorgungsbereichen. Die Angaben in den Qualitätsberichten lassen sich nutzen, um Krankenhäuser zu vergleichen. Die üblicherweise für die externe Qualitätssicherung verwendeten Daten sind die Datensätze nach § 301 Sozialgesetzbuch V (SGB V) und § 21 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG). Diese Datensätze sind folglich Abrechnungsdaten von Krankenhäusern, werden aber auch als sog. Qualitätssicherung mit Routinedaten (QSR) zur klinischen Einschätzung z. B. für die Ermittlung der Ergebnisqualität der Krankenhäuser verwendet. Hier sind exemplarisch der AOK-Krankenhausnavigator, die Initiative Qualitätsmedizin (IQM), der QR-Check, die Qualitätsindikatoren für kirchliche Krankenhäuser (QKK) sowie das Qualitätsbündnis Sepsis (icosmos) zu nennen. Das gemeinsame Ziel aller Managementmethoden im Gesundheitswesen ist die kontinuierliche Erhöhung der Patientensicherheit, denn selbstverständlich stehen unsere Patienten im Zentrum des Geschehens.

723

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Betriebliches Gesundheitsmanagement

60

Adelheid S. Esslinger

Inhalt 1

Definition, Ziele und Nutzenaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725

2 Notwendigkeit und Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 2.1 Gesellschaftliche und individuelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 2.2 Rechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Bausteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suchtprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesunde Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

729 730 731 731 732 732

4

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733

1

Definition, Ziele und Nutzenaspekte

Wenngleich der Begriff des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) hinlänglich bekannt ist, muss doch geklärt werden, worum es sich eigentlich handelt. Die Vielzahl von Publikationen, vor allem aus den Arbeitswissenschaften, dem Personalwesen, der Psychologie und dem Gesundheitswesen hat zur Folge, dass BGM regelmäßig mit neuen Inhalten „beladen“ wird. Hierbei wurde BGM in der Vergangenheit als ein Oberbegriff betrachtet, der die Themen Arbeits- und Gesundheitsschutz, Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) miteinander verbindet und weiterentwickelt, sich aber auch mit den Themen Personalbetreuung und -entwicklung sowie Organisationsentwicklung befasst oder gar als Teil des Total Quality Management verstanden wird (Brandenburg et al. 2000, S. 17). Thul und Zink beispiels-

A. S. Esslinger (*) Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland E-Mail: [email protected]

weise sehen ein sog. Integratives BGM eingebettet in das EFQM-System (Thul und Zink 1999). Ulich und Wülser benennen das BGM in Zusammenhang mit einer erweiterten Wirtschaftlichkeitsanalyse (EWA) und der Balanced Scorecard (Ulich und Wülser 2009, S. 197–218; ebenso Janssen et al. 2004, S. 41–56). Zudem werden diverse Themenfelder, wie Freizeitmanagement, Bewegungsmanagement, Mind-Management, Emotionsmanagement, Ernährungsmanagement, Selbstmanagement (Kesting und Meifert 2004) sowie Gesundheitscoaching (Lauterbach 2005), Life Domain Balance (Ulich und Wülser 2009, Kap. 7) und Urlaubsmanagement (Fritz und Sonnentag 2004, S. 121–133), unter dem Dach des BGM genannt. Es ist zwischenzeitlich auch von einem „Psychosozialen Gesundheitsmanagement“ (Schneider et al. 2013, S. 53–58) oder einem „Personalen Gesundheitsmanagement“ (Härtl-Kasulke 2014) die Rede. Arbeits- und Organisationsgestaltung sind Themen eines BGM, wobei zusätzlich die Organisationskultur und Führung benannt werden (Ulich und Wülser 2009, Kap. 4; Osterspey 2012). Neuner schreibt gar, „ . . . handelt es sich auch beim

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_67

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726

BGM nicht um ein völlig neues Verfahren, sondern um eine Erweiterung der Organisationsentwicklung, die mit konventionellen und bewährten Methoden bearbeitet werden kann.“ (Neuner 2012, S. 108). Dieser Prozess soll integrativ erfolgen und wird von Neuner in einem Haus abgebildet. Das Haus beinhaltet die folgenden neun Bausteine: 1) Führung & Management, 2) Arbeitsorganisation, 3) Kommunikationskultur, 4) Konfliktmanagement, 5) Qualifizierung, 6) Coaching, 7) Sozialberatung, 8) Vereinbarkeit Leben, Familie & Beruf sowie 9) Gesundheit & Fitness. Umrahmt wird es von Mitarbeitern und Führungskräften, der Vision und dem Leitbild der Organisation sowie der Analyse & Evaluation (Neuner 2012, S. 109). Folgt man dieser Betrachtung, ist das komplette „menschbezogene“ Managementhandeln als BGM zu verstehen. Alle diese Inhalte veranschaulichen die Vielfalt der Gesundheit im Betrieb, sind teilweise leichter oder schwerer durch das betriebliche Management beeinflussbar und sind hier keinesfalls als abschließend zu betrachten. Aber schließlich, kurz zusammengefasst, ergibt es Sinn, sich zunächst einer Definition anzunehmen: " Definition BGM „Unter Betrieblichem Gesundheitsma-

nagement verstehen wir die Entwicklung betrieblicher Strukturen und Prozesse, die die gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeit und Organisation und die Befähigung zum gesundheitsfördernden Verhalten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Ziel haben.“ (Badura et al. 2010, S. 33). Es wird deutlich, dass BGM entsprechend umfassend ist und tatsächlich aus einer Vielzahl von Handlungsfeldern besteht. Auf diese wird im späteren Verlauf ausführlicher eingegangen. Zunächst wird geklärt, welche Ziele mit dem BGM verfolgt werden. Dies hängt auch mit seiner Notwendigkeit und den Rahmenbedingungen für ein BGM zusammen, was anschließend erläutert wird. Die Ziele eines BGM lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Gesundheitsbezogene Ziele Zunächst müssen gesundheitsbezogene Ziele erreicht werden, wie die Gesundheit und das Wohlbefinden der Belegschaft zu erhalten und zu steigern, gesundheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen sollen beeinflusst werden, arbeitsbedingte Erkrankungen und Arbeitsunfälle sind zu vermeiden und eine gesundheitsgerechte und sichere Arbeitsumgebung zu schaffen. Organisationale Ziele Sodann müssen organisationale Ziele berücksichtigt werden, wie die Erprobung neuer Ansätze des BGM, die Integration in bestehende Unternehmensstrukturen und -prozesse sowie die Nutzung möglicher Kooperationen und die Beachtung der Wirtschaftlichkeit.

A. S. Esslinger

Ökonomische Ziele Entsprechend sind ökonomische Ziele abschließend bedeutsam, wie die Reduktion von (psychosozialen) Belastungen, Fehlzeiten/Krankenstand und der Fluktuationsrate, die Steigerung der Arbeitsqualität, Motivation, Kreativität, Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, Arbeitszufriedenheit, Identifikation und daraus resultierende Produktivität, Kundenzufriedenheit und Image (in Anlehnung an Susen 2000, S. 194; u. Janssen et al. 2004, S. 43). Als Nutznießer von Gesundheitsmanagement nennen Brandenburg et al. die folgenden Gruppen: Krankenversicherung, Unfallversicherung, Pflegeversicherung, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Familie des Arbeitnehmers, andere Unternehmen, Volkswirtschaft (Brandenburg et al. 2000, S. 10). Diese können ebenso auch als Einflussgrößen interpretiert werden. Aktivitäten für die Gesundheit erhöhen die Lebensqualität und den möglichst langen Fortbestand der eigenen Arbeitskraft sowie (im Idealfall) eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Osterspey 2012, S. 37). Um Nutzen entfalten zu können, müssen entsprechende Maßnahmen von der Belegschaft auch akzeptiert und angenommen werden. Es liegt also schließlich in der Verantwortung des einzelnen Mitarbeitenden, inwieweit sich der Nutzen für ihn einstellt oder ausbleibt. Aus Sicht der Arbeitnehmervertretung muss sich das BGM vor allem in seiner systematischen und zielorientierten Umsetzung bewähren (Girelli und Zinke 2000, S. 76–77). Es muss humanitär, sozial und ökonomisch begründbar sein. Es gilt, Gesichtspunkte der Effektivität und Effizienz gleichermaßen einzuhalten. Der ökonomische Nutzen für die Organisation muss möglichst belegbar sein (Brandenburg 2000, S. 14). Dies ist nicht immer einfach, weil die heute getätigten Ausgaben für präventive Maßnahmen erst später wirksam werden oder der Erfolg (z. B. der Erhalt der Leistungsfähigkeit der Belegschaft) nicht eindeutig der Maßnahme zuzuordnen ist. Deshalb ist es umso wichtiger, dass betriebliche Entscheidungsträger von der Wichtigkeit des BGM überzeugt sind (Osterspey 2012, S. 39). Betrachtet man die volkswirtschaftlich-gesellschaftliche Dimension werden durch gelungene BGM-Maßnahmen die Gesundheitskosten gesenkt. Zudem kommt es zu einer Stärkung des Gesundheitsbewusstseins und -verständnisses (health literacy) der Einzelnen und somit der Gesamtgesellschaft.

2

Notwendigkeit und Rahmenbedingungen

2.1

Gesellschaftliche und individuelle Aspekte

Die demografische Entwicklung in Deutschland beeinflusst auch den Arbeitsmarkt und damit die Wettbewerbsfähigkeit von Betrieben. Betrachtet man entsprechend die Treiber von

60

Betriebliches Gesundheitsmanagement

Gesundheit und Organisationserfolg, können laut Badura et al. (2008) fünf identifiziert werden: 1) Netzwerkkapital, 2) Führungskapital, 3) Überzeugungs- und Wertekapital, 4) Fachkompetenz und 5) Arbeitsbedingungen. Sie beeinflussen das organisationale Ergebnis in gesundheitlicher Sicht durch die Frühindikatoren psychisches und physisches Befinden, Commitment, Organisationspathologie und Work-Life Balance sowie die betriebswirtschaftlichen Spätindikatoren Fehlzeiten, Qualität der Arbeitsleistung, Produktivität, Arbeitsunfälle und Fluktuation (Badura et al. 2008). Diese Treiber befördern auch die drei herausfordernden Themen, mit denen sich aktuell das Personalmanagement in besonderem Maße beschäftigt: • Umgang mit alternden Belegschaften • Auswege aus dem Fachkräftemangel • Steigerung der Arbeitgeberattraktivität Unternehmen benötigen heute Lösungen für diese Herausforderungen. So soll die Arbeitskraft der älter werdenden Mitarbeitenden möglichst lange erhalten bleiben, was nur dann gelingt, wenn sie gesund sind. Tatsächlich aber ist eine Zunahme von Krankheiten und damit einhergehend Krankheitstagen in Betrieben zu verzeichnen, wobei die Diagnosen vielfältiger als in der Vergangenheit sind. Die Stichworte Arbeitsunfälle, Arbeitsunfähigkeit, Frühindividualität, Stress, Burnout, weitere psychische Belastungen und physische Belastungen wie Rückenschmerzen sind in aller Munde. Jeder kennt heute im sozialen Umfeld Freunde und Bekannte, die eigentlich aktiv im Berufsleben stehen, aber aktuell erkrankt sind. Arbeitsunfähigkeit ist eine gesellschaftliche Realität geworden. Um aber erfolgreich im Wettbewerb zu sein, werden leistungsfähige und leistungsbereite Mitarbeitende benötigt, die ihre Potenziale entfalten können. Im Hinblick auf die heterogener werdenden Organisationsmitglieder wird zunehmend wichtig, die individuellen Anforderungen von Arbeitskräften zu berücksichtigen. Diversity Management und beispielsweise ein Age Management sind entsprechende Handlungsfelder einer sorgsamen Personalpolitik. Die Gesunderhaltung und die damit verbundene Arbeitsfähigkeit der Mitarbeitenden ist ein wesentliches Ziel, der Herausforderung (alternder) Belegschaften zu begegnen (Abb. 1). Die Arbeitsfähigkeit wurde bereits im Jahr 1998 von Imarinen et al. als Haus mit vier Stockwerken beschrieben und über die Zeit weiter ausdifferenziert. Die erste Ebene ist die Basis. Hier wird die physische und psychische Gesundheit verortet. Wenn sich hier die Leistungsfähigkeit im Zeitverlauf verändert, wirkt sich dies auf alle anderen Facetten der Leistungserbringung aus. Auf der zweiten Ebene sind Kompetenzen (Wissen und Können) eines Individuums verankert. Fertigkeiten und Fähigkeiten sind erlernbar und können durch lebenslanges Lernen verbessert und verändert werden. Auf der dritten Ebene sind Werte, Einstellungen und

727

Motivation beheimatet. Alle normativen Aspekte, die auf die Arbeitsfähigkeit wirken, haben hier ihren Raum (im Sinne des „Wollens“). Die Werte einer Person sollten in Übereinstimmung mit ihrer Arbeit stehen, um eine bestmögliche Arbeitskraft zu entfalten. Es entstehen dann auch Commitment, Loyalität und Bindung an die Organisation. Diese Werte sind für eine Leistungserbringung im Sinne der Zielsetzung der Organisation bedeutsam. Die vierte Ebene beinhaltet die Arbeit an sich, die Arbeitsumgebung und somit auch die Führung. Diese Ebene wiegt am schwersten, denn alles, was hier passiert, hat Auswirkungen auf die anderen Ebenen. Es ist eine komplexe Ebene mit eng miteinander verwobenen Aspekten, die die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen bedingen (was dürfen Organisationsteilnehmer, was wird ihnen ermöglicht?). Vor allem das Handeln der Vorgesetzten, ihr Führungsstil und die Art der Zusammenarbeit sind hier wesentliche Einflussgrößen auf die Arbeitsfähigkeit. Arbeit und Leben sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich zu großen Teilen. Deshalb ist das Haus auch offen für Einflüsse aus dem Leben der Familie, dem persönlichen Umfeld und der regionalen Umgebung; also der Gesellschaft. Der Mitarbeitende wird lebenslang in verschiedenen Lebensphasen auf der Suche nach einem möglichst guten Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Ressourcen stehen. Im Zeitablauf verändern sich dabei die an ihn gestellten Anforderungen und seine Ressourcen (Ilmarinen 2011, S. 21–24). Ein weiterer aktuell immer wesentlicher werdender Aspekt ist der Fachkräftemangel, der in fast allen Branchen zu verzeichnen ist. Er erfordert es von Unternehmensseite, den (potenziellen) Mitarbeitenden als attraktiver Arbeitgeber zu begegnen. Heutige und zukünftige Arbeitskräfte haben veränderte Ansprüche an die Arbeit. Ihr Risiko- und Gesundheitsbewusstsein hat sich gewandelt und es herrscht ein erweitertes Gesundheitsverständnis vor. Menschen setzen sich nicht mehr so starken Belastungen aus wie in der Vergangenheit, gehen sorgsamer mit sich um und streben vermehrt eine Vereinbarkeit der verschiedenen Lebensdomänen wie Beruf und Freizeit an. Auch deshalb sind Themen wie Arbeitszeitflexibilisierung und Arbeitsformen wie Telearbeit neue Realitäten in der Arbeitswelt. Hinzu kommen z. B. organisationale Aspekte, wie die Einführung und Umsetzung alternativer Produktionskonzepte (Dezentralisierung, Segmentierung, Standardisierung). Um die Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern und auch Verantwortung für die Mitarbeitenden im Sinne eines Stakeholder-orientierten fürsorglichen Managements zu übernehmen, ist es sinnvoll, die Gesunderhaltung der Organisationsteilnehmer in den Fokus zu rücken und das BGM strategisch zu verankern, zu planen, umzusetzen, zu evaluieren und ggf. immer wieder an die Anforderungen der Belegschaften und der Organisation anzupassen. BGM ist ein bedeutsames Managementthema, das unabhängig von Unter-

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A. S. Esslinger

Abb. 1 Ebenen der Arbeitsfähigkeit. In Anlehnung an Tempel et al. 2010; Ilmarinen 2011, S. 21

Arbeitsfähigkeit Arbeit Arbeitsumgebung Führung

Regionale Umgebung

Werte – Einstellungen – Motivation

Kompetenzen

Gesundheit

nehmensgröße (kleinen, mittleren oder großen Betrieben), Trägerschaft (privatwirtschaftlich, öffentlich oder gemeinnützig), Organisationsform (z. B. hierarchisch geprägte Organisationen oder Netzwerke) oder Branche sowie der Arbeitsplatzgestaltung (Call Center, Großbüros, Telearbeitsplatz etc.) überall in den Einrichtungen zu finden ist.

2.2

Rechtliche Aspekte

Betrachtet man die historische Entwicklung des heutigen BGM vor dem Hintergrund rechtlicher Aspekte, wird deutlich, dass das BGM „zahlreiche Wurzeln“ hat (Badura et al. 1999, S. 15). Die WHO wollte die medizinische Prävention und Gesundheitserziehung vorantreiben, was in der Deklaration der Ottawa-Charta im Jahre 1986 mündete. In der Vergangenheit herrschte ein biomedizinisches Begriffsverständnis der Gesundheitserziehung vor. Es wurde nun abgelöst von einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis, in dem psychische, physische und soziale Bedingungen sowie Umweltfaktoren gleichzeitig auf die Gesundheit einwirken (Singer 2010, S. 25). Grundidee war, einen selbstbestimmten Umgang des Einzelnen mit der Gesundheit zu befördern. Das pathologische Verständnis wurde somit von einem salutogenetischen (u. a. Antonovsky) abgelöst und es entstand ein Verständnis von Menschen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalten in Organisationen als kooperatives System (Badura et al. 2010, S. 33–34). Eine weitere Wurzel liegt im Arbeitsschutz. Auf nationaler Ebene ist das Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des

Persönliches Umfeld

Familie

Leistungsfähigkeit

Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitsschutzgesetz – ArbSchG) zentral. Seit 2013 sind gemäß §5 ArbSchG insbesondere auch psychische Belastungen mit zu berücksichtigen. Im Rahmen des Arbeitssicherheitsgesetzes (ASIG) werden Experten in Betrieben erforderlich (Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit). Auch das Unfallversicherungsrecht (SGB VII, BGVen) spielt eine Rolle. In § 14 SGB VII sind die Grundsätze für Versicherungsträger benannt. Sie bestehen in der Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren. Eine wirksame Erste Hilfe soll am Arbeitsplatz leistbar sein. Es müssen zudem die Ursachen von arbeitsbedingten Gefahren für Leben und Gesundheit geklärt sein. Bei der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren arbeiten die Unfallversicherungsträger mit den Krankenkassen zusammen. Ebenso ist heute im SGB IX das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) vorausgesetzt. Seit 2004 sind Arbeitgeber verpflichtet, länger erkrankten Beschäftigten ein BEM anzubieten. Es dient dem Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und ist ein Instrument, um auch den Folgen des demografischen Wandels wirksam zu begegnen. Gleichzeitig sichert das BEM durch frühzeitige Intervention die individuellen Chancen den Arbeitsplatz zu behalten. Schließlich ist das Krankenversicherungsrecht (SGB V) relevant (Blume 2010, S. 111). Ergänzend sind spezielle Verordnungen einzuhalten. Beispielsweise stellt die Arbeitsstättenverordnung (ArbstättV) (2016) eine Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit an Bildschirmgeräten dar (ArbSchG 2018) und die BiostoffV (2013) regelt „den

60

Betriebliches Gesundheitsmanagement

Schutz der Beschäftigten bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen, kurz „Biostoffe“ genannt. Schutzziel der Biostoffverordnung ist die Vermeidung von Infektionen der Beschäftigten bei ihrer Arbeit, aber auch der Schutz vor sensibilisierenden, toxischen oder anderen, die Gesundheit schädigenden Wirkungen bei Tätigkeiten mit Biostoffen (BMAS 2013, S. 1).

3

Bausteine

Die Beachtung der Mitarbeitenden mit ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden ist stark von den Einstellungen der Manager über die Organisationsmitglieder und deren Menschenbild geprägt (Blume 2010, S. 109). Somit wird die Ausgestaltung eines BGM unterschiedlich sein. Es kann von der ausschließlichen Einhaltung rechtlicher Vorgaben bis hin zur Entwicklung und Umsetzung innovativer Konzepte gesunder Organisationen reichen. Insgesamt soll das BGM salutogen, kompetenzfördernd, organisationsbezogen, systematisch und nachhaltig sein (Münch et al. 2003, S. 22). Das BGM ist auf der obersten Ebene zu verankern und muss von allen im Unternehmen getragen und gestützt werden (Brandenburg 2000, S. 14; ähnlich Kesting und Meifert 2004, S. 29). Somit ist es spezieller Teil der Betrieblichen Gesundheitspolitik, die wiederum Teil der Unternehmenspolitik und -strategie ist. Sie dient den Unternehmenszielen, dem Wohlbefinden und der Leistungsfähigkeit der Organisationsteilnehmer, indem sie auf den Schutz, die Sicherheit und die Förderung der Mitarbeitergesundheit fokussiert (Badura et al. 2010, S. 1). Das BGM dient der praktischen Umsetzung der Betrieblichen Gesundheitspolitik. Die Implementierung des BGM basiert nach Münch et al. (2003, S. 187–216) auf vier Schritten, die als Voraussetzung für ein erfolgreiches BGM erfüllt sein müssen: Implementierung des BGM

1. Klarheit über Gesamtziele und -ergebnisse 2. Betriebliche Voraussetzungen: Wahrnehmung als Führungsaufgabe, Festlegung verbindlicher Rahmenbedingungen, Einrichtung eines Steuerungsgremiums, Bereitstellung von Ressourcen 3. Strukturelle und planerische Rahmenbedingungen: Zieldefinition und -strukturierung, Festlegen von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten, Einbeziehung externer Akteure, Auswahl von Organisationseinheiten, Planung und Steuerung, Information und begleitende Dokumentation 4. Durchführung der Kernprozesse: Diagnose, Interventionsplanung, Evaluation

729

Ein systematisches BGM setzt zunächst daran an, bestehende Ungleichgewichte bei dem Wissen um Gesundheits- und Krankheitsgeschehen bei den Organisationsmitgliedern auszugleichen. Hierbei wird bei den Führungskräften begonnen und dann mit der Informationsweitergabe bei den Mitarbeitern angeschlossen (Jancik 2002, S. 118). Beispielhaft kann ein Gesundheitsbericht hier dienlich sein, der ohnehin als regelmäßige Dokumentation aller ermittelten gesundheitsbezogenen Daten und Kennzahlen zu einem professionellen BGM gehört. Das BGM kann vorrangig am gesundheitsgerechten Gestalten der Arbeit an sich ansetzen, um die Gesundheit der Belegschaft zu schützen und zu fördern (Brandenburg 2000, S. 131). Hierbei beinhaltet die Arbeitsgestaltung vielfältige Aspekte, wie (soziale) Sicherheit, Arbeitszeit, organisationale Aspekte etc. (s. hierzu z. B. Brandenburg 2000, S. 135). Für das BGM müssen personelle Verantwortlichkeiten benannt (institutionelle Verankerung) und ihre Aufgaben und Kompetenzen klar definiert werden (funktionale Verankerung) (Walter 2010, S. 152; zur institutionellen und funktionalen Verankerung Osterspey 2012, S. 50–52). Es werden Gesundheitszirkel eingerichtet, Strukturen geschaffen, Prozesse angestoßen und Zielvereinbarungen auf allen Ebenen der Beteiligten getroffen (Jancik 2002, S. 120–127). Schließlich kann BGM „... nur mit den Mitarbeitern gemeinsam (nicht nur für sie) entwickelt und umgesetzt werden.“ (Badura et al. 1999, S. 9). BGM folgt als „Management-Disziplin“ einem Regelkreis, der auf den Prozessschritten Planung, Durchführung und Kontrolle mit ggf. entsprechenden Anpassungen basiert. Ähnlich nennen auch Brandenburg et al. einen Regelkreis, den sie im „health action circle“ verorten (plan, do, check, act) Brandenburg et al. 2000, Teil III). Nach Kesting und Meifert (2004, S. 36) müssen die folgenden Schritte durchlaufen werden 1) Zieldefinition/Auftragsklärung, 2) Grobplanungsphase, 3) Analysephase, 4) Interventionsplanung und Durchführungsphase, 5) Evaluation/Qualitätssicherung. Bezüglich der Analysephase müssen passende Erhebungsinstrumente zur Arbeitssituation, dem Arbeitsplatz an sich mit seinen Bedingungen und auch beispielsweise Stressoren zum Einsatz kommen (hierzu z. B. Ulich und Wülser 2009; Neuner 2012). Seit einigen Jahren wird das BGM als Klammer für den Arbeitsschutz, das BGF, die Wiedereingliederung und den Umgang mit Suchterkrankungen betrachtet. Diese Themen können als die vier Säulen des BGM bezeichnet werden (Abb. 2). Es kommen im BGM „zwei historisch getrennte Entwicklungslinien“ (Osterspey 2012, S. 41) zusammen: Zum einen rechtliche Bestimmungen im Bereich Arbeitsund Gesundheitsschutz (AGS) sowie dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) und zum anderen die BGF und Suchtprävention (auch Blume 2010, S. 114). Um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, zum Wohle der Mitarbeitenden, ist es als Entscheidungsträger in Organisationen zukunftswei-

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A. S. Esslinger

Abb. 2 Die vier Säulen des BGM. In Anlehnung an Rehwald et al. 2012, S. 146

Gesetzlich geregelt und verpflichtend für den Arbeitgeber

Betriebliche Suchtprävention

Betriebliche Gesundheitsförderung § 20 SGB V

Betriebliches (Wieder)EingliederungsManagement (BEM) § 84 Abs. 2 SGB IX

Arbeitsund Gesundheitsschutz ArbSchG SGB VII

Betriebliches Gesundheitsmanagement

Freiwillig für Arbeitgeber, gesetzlich geregelt und verpflichtend für Krankenkassen

Leitbild/Ziel „Gesunde Organisation“ Förderung persönlicher Gesundheitsressourcen und -kompetenzen Gesundheitsförderliche Arbeitsplatzgestaltung Gesundheitsgerechte Mitarbeiterführung und Organisation

send, neben der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben das Unternehmen zu einer „gesunden Organisation“ so weiter zu entwickeln, dass man dauerhaft auf Basis einer gesunden Belegschaft Wettbewerbsvorteile aufrecht erhält. Bevor die vier Säulen im Einzelnen Beachtung finden, muss zunächst aufgrund der Einbettung in die Unternehmensstrategie ein Leitbild mit der Zielsetzung einer „gesunden Organisation“ verfasst werden. Hierbei muss es um die Förderung der persönlichen Gesundheitsressourcen und -kompetenzen der einzelnen Organisationsteilnehmer gehen. Eine gesundheitsförderliche Arbeitsplatzgestaltung ist Voraussetzung für gesundes Arbeiten und wird umgesetzt durch eine gesundheitsgerechte Mitarbeiterführung und Organisation. Was dabei „Gesunde Führung“ bedeutet, wird aufgrund des zunehmenden Stellenwerts in Organisationen abschließend etwas ausführlicher beleuchtet.

3.1

Arbeitsschutz

Arbeitsschutz ist die älteste und erste Säule des BGM. Sie basiert auf den rechtlichen Erfordernissen und deren Einhaltung durch den Betrieb. Ulich (2005) versteht beim Arbeitsschutz den Menschen als schutzbedürftiges Wesen, der vor gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen und Belastungen geschützt werden muss. Ziele sind deshalb das Erkennen von gefährlichen Situationen und die Durchführung von entsprechenden schützenden Handlungen (Ulich 2005). Es ist nicht überraschend, dass somit die Arbeitsmediziner und Arbeitswissenschaftler Pioniere der Entwicklung des Arbeitsschutzes waren (Badura et al. 2010, S. 59). Zu den gängigen Betriebsvereinbarungen im Bereich des Arbeitsschutzes gehören die Gefährdungsanalyse, Maßnahmen in den Bereichen Technik, Organisation, soziale Beziehungen,

Verbesserung der Maßnahmen §§ 3, 4

Beurteilung der Arbeitsbedingungen §5

Dokumentation Überprüfung §6

Überprüfung der Maßnahmen §3

Entwicklung der Maßnahmen §§ 4,5

Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen §§ 3,4

Dokumentation der Maßnahmen §6

Abb. 3 Kontinuierlicher Verbesserungszyklus zur Gefährdungsbeurteilung

Fachberatungen durch Betriebsarzt und Sicherheitsfachkraft sowie das Arbeitsschutzmanagement Speziell das Thema „Gefährdungsbeurteilung“ nach § 5 ArbschG ist heute zentral und muss in Betrieben umgesetzt werden (Abb. 3). Hierbei gilt es in einem ganzheitlichen Begriffsverständnis, die physischen und psychischen Belastungen sowie die Ressourcensituation im Arbeitssystem zu berücksichtigen (Blume 2010, S. 118). Die Gefährdungsbeurteilung ist als kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP) zu verstehen, der letztlich auch rechtlich so zu vollziehen ist. Nach der Beurteilung der Arbeitsbedingungen (1) müssen Maßnahmen entwickelt werden (2). Diese gilt es zu dokumentieren (3) und umzusetzen (4). Die Maßnahmen an sich müssen überprüft (5) und die Überprüfung dokumentiert

60

Betriebliches Gesundheitsmanagement

werden (6). Schließlich werden sie ggf. verbessert (7). Um eine kontinuierliche Verbesserung zu vollziehen, müssen die Organisationen entsprechend mit Positionen ausgestaltet sein. Diese sind rechtlich nicht abschließend geregelt, aber es ist häufig sinnvoll, beispielsweise eine interne Fachkraft für Arbeitssicherheit oder einen Betriebsarzt mit der Gefährdungsermittlung zu beauftragen (Blume 2010, S. 123). Die Planung, Koordination, Kommunikation und Controlling der Prozesse kann beispielsweise im (Personal)Management geschehen. Es können Ausschüsse, Qualitätszirkel oder Gruppen gebildet werden, um die erforderlichen Themen zu bearbeiten. Vor allem aber müssen auch die Führungsstrukturen und die Beschäftigten bzw. die Arbeitnehmervertretungen mit eingebunden sein.

3.2

Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM)

Das BEM ist die zweite Säule des BGM und basiert ebenso wie der Arbeitsschutz auf rechtlichen Vorgaben. Es behandelt thematisch den Spezialfall eines längeren Arbeitsausfalls von Organisationsteilnehmern. Die rechtliche Vorschrift im § 84 Abs. 2 SGB XI lautet: „Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 93, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement).“ Das BEM kann vom Beschäftigten abgelehnt werden. Betriebsvereinbarungen, die mit einem BEM einhergehen, sind typischerweise Abstimmungen des BEM-Verfahrens, Erhebung von Arbeitsunfähigkeitsdaten (>6 Wochen/Jahr), Eingliederungsteam sowie angepasste Maßnahmen (zum BEM z. B. Britschgi 2014; Jastrow et al. 2010).

3.3

Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF)

Die BGF ist die dritte Säule des BGM und umfasst alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Dies kann in Anlehnung an die Luxemburger Deklaration in der EU 2007 durch folgende Ansätze erreicht werden: • Verbesserung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen • Förderung einer aktiven Mitarbeiterbeteiligung • Stärkung persönlicher Kompetenzen

731

Hier wird deutlich, dass das BGF inhaltlich breit aufgestellt ist und viele Themen beinhaltet. Es ist primär am Individuum und dessen Gesundheitszustand bzw. Gesundheitserhalt interessiert und nicht so sehr auf dem „Management der Gesundheit in Betrieben“. Verkürzt könnte man die Unterscheidung der beiden großen Themenblöcke des BGF und des BGM festmachen an den Worten „Was ist zu tun?“ (BGF u. BGM) und „Wie ist es zu tun“ (BGM). So ist ein funktionierendes BGF ein notwendiger, aber nicht hinreichender Bestandteil für ein umfassenderes, ganzheitliches und strategiegeleitetes BGM. Nach Ulich (2005) wird aus der Perspektive der BGF der Mensch als autonom handelndes Subjekt betrachtet. Es soll selbstbestimmt auf seine Gesundheit achten und in der Lage sein, seine Stärkung zu erreichen. Aufgaben der BGF sind entsprechend die Schaffung und Erhaltung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen und Kompetenzen. Ziele sind das Erkennen und das Nutzen von Handlungs- und Gestaltungsspielräumen (Ulich 2005). Dabei wird vom Betrieb als Lebensraum ausgegangen und somit der Setting-Ansatz verfolgt. Die BGF setzt mit ihren Interventionsmaßnahmen sowohl am Verhalten des Individuums als auch an den es umgebenden Verhältnissen an. Die BGF ist im Gegensatz zum Arbeitsschutz und BEM eine freiwillige Leistung des Arbeitgebers. Beispielhafte Betriebsvereinbarungen werden geschlossen über Gesundheitsberatung, Gesundheitszirkel, Gesundheitsförderliche Arbeit, Gesundheitsseminare, Gesundheitstage und Gesundheitssport. Ein informatives Netzwerk für BGF ist die Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ (INQA), die seit 2002 besteht und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales ins Leben gerufen wurde. In ihr engagieren sich Bund, Länder, Arbeitgeberverbände und Kammern, Gewerkschaften, die Bundesagentur für Arbeit, Unternehmen, Sozialversicherungsträger und Stiftungen gemeinsam für eine moderne Arbeitskultur und Personalpolitik. Für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) existiert eine verpflichtende Regelung und die BGF gehört bereits seit mehr als 25 Jahren zu ihren Aufgaben. Nach § 20a SGB V sind Krankenkassen verpflichtet, Leistungen der Betrieblichen Gesundheitsförderung zu erbringen, „um unter Beteiligung der Versicherten und der Verantwortlichen für den Betrieb die gesundheitliche Situation einschließlich ihrer Risiken und Potenziale zu erheben und Vorschläge zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation sowie zur Stärkung der gesundheitlichen Ressourcen und Fähigkeiten zu entwickeln und deren Umsetzung zu unterstützen.“ Mit dem Präventionsgesetz 2015 wurde BGF als Aufgabe der GKV gestärkt. Die Neuerungen im Präventionsgesetz zielen darauf ab, 1) verstärkt den Aufbau gesundheitsfördernder Strukturen in den Betrieben zu unterstützen, 2) besonders kleinen und mittleren Unternehmen den Zugang zu BGF zu erleichtern und 3) die Zusammenarbeit verschiedener

732

A. S. Esslinger

Akteure, wie beispielsweise Sozialversicherungsträger, Betriebsärzte und Unternehmens-/Arbeitgeberverbände, zu verstärken. Maßnahmen zur Betrieblichen Gesundheitsförderung müssen immer bedarfsgerecht und maßgeschneidert auf die Bedürfnisse im Unternehmen sein. Durch steuerliche Begünstigungen wird ein Anreiz gesetzt, dass sich Arbeitgeber für die Betriebliche Gesundheitsförderung stark machen (AOK 2018). Gemäß § 65a Absatz 2 SGB V kann die Krankenkasse in ihrer Satzung vorsehen, dass bei „Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung durch Arbeitgeber sowohl der Arbeitgeber als auch die teilnehmenden Versicherten einen Bonus erhalten“. Darüber hinaus kann ein Unternehmen seit dem 01.01.2009 pro Mitarbeitenden und Jahr 500 EUR lohnsteuerfrei für Maßnahmen der Gesundheitsförderung ausgeben. Darauf verweist § 3 Nr. 34 des Einkommensteuergesetzes (EStG): „Steuerfrei sind zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn erbrachte Leistungen des Arbeitgebers zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands und der betrieblichen Gesundheitsförderung, die hinsichtlich Qualität, Zweckbindung und Zielgerichtetheit den Anforderungen der §§ 20 und 20a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genügen, soweit sie 500 Euro im Kalenderjahr nicht übersteigen.“ (o.V. 2018).

3.4

Suchtprävention

Die Suchtprävention ist die vierte Säule eines BGM. Sie wird zunehmend bedeutsam in einer modernen Arbeitswelt (Stichworte Workaholics, Tabletten und genereller Drogenmissbrauch, Spielsucht etc.) und durch ihre Integration in das BGM entsprechend anerkannt. Der Schwerpunkt der Suchthilfe in Betrieben lag in der Vergangenheit auf verschiedenen Einzelmaßnahmen. Heute finden frühzeitige Interventionen bei riskantem Suchtmittelkonsum und Auffälligkeiten am Arbeitsplatz in Zusammenhang mit Suchtgefährdung statt (Rehwald et al. 2012, S. 5). Diese Aktivitäten werden mit der BGF verknüpft. Der Umgang mit dem Auftreten von Suchterkrankungen im Betrieb kann in Betriebsvereinbarungen geregelt werden. So können etwa vorbeugende Aktivitäten (z. B. Informationen, Arbeitsbedingungen, Anstoßen von Verhaltensänderungen (z. B. gestufte Gesprächsfolge, Fürsorge- oder Klärungsgespräch mit Maßnahmen), Angebote zur Suchtreduktion oder weitere Maßnahmen (z. B. interne Beratung, Angebot weiterer interner Hilfe), Seminare für Personalverantwortliche, Interventionsleitfaden und der Abbau der suchtfördernden Arbeitsbedingungen forciert werden. Dies setzt voraus, dass eine intensive Auseinandersetzung mit Suchtfragen durch die Manager, den Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung und Vertrauensleute erfolgen muss. In der Regel wird ein Steuerkreis eingesetzt (Rehwald et al. 2012).

Betrachtet man die betrieblichen Ursachen für eine Suchtgefährdung, liegen diese in den ungünstigen Rahmenbedingungen (schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzunsicherheit, ungünstige Arbeitszeiten, Zeitdruck, unklare Anforderungen), in einem negativen Sozialverhalten (fehlende Wertschätzung, Führungskultur, Konflikte/Ärger) oder in subjektiv erfahrbaren Dimensionen (Stress, hohe Konzentration, Konkurrenz, Überforderung, Monotonie, Burnout) begründet (Rehwald et al. 2012, S. 96). Es handelt sich vor allem um psychische Belastungen, die von außen auf ein Individuum wirken. Alle Ursachen lassen sich mit Hilfe eines ganzheitlichen BGM beeinflussen.

3.5

Gesunde Führung

Für ein glaubhaftes BGM ist eine gesunde Führung der Schlüssel zum Erfolg und ein Teil des Fundaments. Über gesundes Führen kann man zwischenzeitlich viel lesen, wie beispielsweise im Herausgeberband von Lohmer et al. (2012). Der Zusammenhang zwischen guter Führung und Mitarbeitergesundheit, wurde beispielsweise in einer Längsschnittstudie von Ilmarinen aufgezeigt (Ilmarinen 2001). Auch Münch et al. (2003) verweisen darauf, dass die Qualität der Führung wahrscheinlich die einflussreichste Größe für Wohlbefinden und Gesundheit ist (Münch et al. 2003, S. 20). Es erhält die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter (Gratz et al. 2014). Das BGM kann als Instrument der mitarbeiterorientierten Führung verstanden werden und in dem sog. „Gesunden Führen“ Wirklichkeit entfalten. " Definition Gesundes Führen Gesundes Führen entsteht

durch • • • • • •

Vertrauen bilden, soziale Vernetzung fördern, Identifikationsmöglichkeiten schaffen, mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur pflegen, Work-Life Balance erhalten, Mitarbeiter befragen, Führungskräfte schulen und Teams entwickeln, • den persönlichen Dialog mit den Mitarbeitern suchen und • Qualifizieren (Badura et al. 2010, S. 53–56).

Der Vorgesetzte wird zum Gesundheitsmanager, indem er im stetigen Austausch mit seinen Mitarbeitern steht und hierbei Einfluss nimmt, als Vorbild agiert, inspiriert und motiviert. Münch et al. schreiben: „Mit dem Begriff „Gesundheitsmanagement“ verbindet sich die Botschaft, das Thema Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter als Führungsaufgabe wahrzunehmen.“ (Münch et al. 2003,

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Betriebliches Gesundheitsmanagement

S. 13). Somit gelingt ein Ausbalancieren aller Interessen, die an eine Organisation gestellt werden. BGM dient dazu, dass die steigenden Anforderungen an Leistung und Qualität nicht zu Lasten der Belegschaft gehen (Münch et al. 2003, S. 13). Jancik schreibt abschließend „Gesundheitsmanagement ist gelebte Führungsverantwortung“ (Jancik 2002, S. 16).

4

Fazit

Die Notwendigkeit, BGM begrifflich und inhaltlich klar zu definieren, ist ebenso deutlich geworden wie die stetig wachsende Bedeutung im betrieblichen Setting. Vor dem Hintergrund der alternden Belegschaften, des Fachkräftemangels und des Erhalts der Arbeitgeberattraktivität durchdringt BGM alle Bereiche der Personalpolitik. Nicht zuletzt rechtliche Rahmenbedingungen erfordern zudem seit einiger Zeit ein verantwortungsbewusstes Handeln der Manager in Organisationen. Die Inhalte eines modernen BGM sind vielfältig und können heute in vier Säulen beschrieben werden. Hierbei gehören die Bausteine Arbeitsschutz und BEM zur „Pflicht“ und BGF und Suchtprävention zur „Kür“ für Personalverantwortliche. Gleichwohl kann es sich heute kaum ein Unternehmen leisten, sich lediglich auf die Pflicht zurückzuziehen. BGM ist mehr als nur ein Abarbeiten von Vorschriften oder ein individualzentrischer Handlungsansatz zur Gesundheitsförderung. BGM ist ein Gesamtsystem von Handlungsfeldern zu Gunsten der Erreichung der Zielsetzung einer Organisation. Somit ist es schlussendlich auch dem Einzelnen dienlich. Nichtsdestotrotz sei kritisch reflektiert: Was bringt das beste BGM, wenn der Einzelne nicht befähigt ist zu verstehen wie sich seine individuelle Gesundheit im sozialen Kontext mit allen Einflussgrößen auf ihn und seine Ressourcen und Potenzialentfaltung auswirkt? Was bringt es, wenn er nicht informiert ist, nicht interessiert ist und sich diesbezüglich passiv verhält? Die wahrscheinlich größte Herausforderung an unsere Gesellschaft und somit auch an unsere Betriebe ist es daher, einen Beitrag zu leisten, die Individuen zu „mündigen Gesundheitsbürgern“ zu machen und ihre health literacy zu stärken. Auf diesem Wege kann ein konzeptionell gelungenes BGM das individuelle Wohlbefinden, die organisationale Zielerreichung sowie die kollektive Wohlfahrt steigern.

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Teil X Gesundheitspolitik

Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland

61

Dirk Sauerland

Inhalt 1

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Gesundheitspolitik zur Gestaltung des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele der Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundstruktur eines Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitspolitik zur Sicherstellung des Zugangs zur Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitspolitik zur Sicherstellung der Effizienz der Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

738 738 738 738 739

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Gestaltende Gesundheitspolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relevante Akteure und ihre Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der institutionelle Rahmen des deutschen Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitspolitische Maßnahmen zur Sicherstellung des Zugangs zur Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitspolitische Maßnahmen zur Sicherstellung der Effizienz der Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . .

740 740 740 741 744

4

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747

1

Vorbemerkungen

Die Aufgabe der Gesundheitspolitik besteht grundsätzlich darin, das Gesundheitssystem eines Landes zu gestalten. Für die deutsche Gesundheitspolitik, die in die Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft eingebettet ist, bedeutet dies, den ordnungspolitischen Regelrahmen für die Akteure im Gesundheitssystem so zu setzen, dass für die Bürgerinnen und Bürger eine qualitativ hochwertige medizinische und pflegerische Versorgung bereitgestellt wird. Gleichzeitig muss sie die Finanzierung der Ausgaben im Gesundheitssystem nachhaltig sicherstellen. Damit ist die Gesundheitspolitik für die Gestaltung eines gesellschaftlichen Teilsystems zuständig, das für die gesamte Bevölkerung von hoher Relevanz ist. Zum einen ist die individuelle Gesundheit eine wesentliche Voraussetzung für eine hohe Lebenszufriedenheit. Zum anderen hat das

D. Sauerland (*) Lehrstuhl für Institutionenökonomik und Gesundheitspolitik, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland E-Mail: [email protected]

Gesundheitssystem eine große gesamtwirtschaftliche Bedeutung: Bei der medizinischen und pflegerischen Versorgung der Bevölkerung entstehen nicht nur sehr viele Arbeitsplätze, die Ausgaben für die Versorgung müssen auch finanziert werden. Je nach Art der Finanzierung kann diese zu Nebenwirkungen, z. B. auf dem Arbeitsmarkt, führen. Auch diese müssen von der Gesundheitspolitik berücksichtigt werden. Aufgrund dieser hohen gesellschaftlichen Relevanz wird das Thema Gesundheitspolitik (nicht nur in Deutschland) explizit von zwei sozialwissenschaftlichen Disziplinen untersucht: Die Politikwissenschaft beschäftigt sich mit der Gesundheitspolitik im Rahmen der sog. Politikfeldanalyse. Im Bereich der Volkswirtschaftslehre bzw. Ökonomik ist die Gesundheitspolitik ein Teilbereich der Sozialpolitik (Althammer und Lampert 2014, S. 258–274). Während sich (die deutsche) Politikwissenschaft insbesondere mit der Untersuchung von Entscheidungsprozessen innerhalb des politischen Systems (also etwa der Frage, warum Gesundheitsreformen scheitern) beschäftigt (Gerlinger und Sauerland 2018, S. 530 ff.), ist die Perspektive von ökonomischen Analysen der Gesundheitspolitik eine andere.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_68

737

738

D. Sauerland

Hier geht es zum einen um die Analyse der Anreize, die aus den gesundheitspolitisch gesetzten Rahmen- bzw. Spielregeln des Gesundheitssystems für die beteiligten Akteure (insbesondere Patienten, Versicherte, Arbeitgeber, Krankenkassen sowie last, but not least die ambulanten und stationären Leistungserbringer) resultieren. Zum anderen geht es darum, (Reform-)Vorschläge für die Veränderung dieser Spielregeln zu entwickeln, wenn sich (a) zeigt, dass die bisherigen Spielregeln zu Fehlanreizen für die genannten Akteure führen oder (b) gesellschaftliche Entwicklungen, wie etwa der demografische Wandel, Anpassungen im Gesundheitssystem notwendig machen (Gerlinger und Sauerland 2018, S. 538 ff.). Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Ziele der Gesundheitspolitik im Allgemeinen gegeben sowie über die Akteure, die bei der gesundheitspolitischen Gestaltung eines Gesundheitssystems relevant sind. Die so entwickelte Struktur wird anschießend genutzt, um die wesentlichen Elemente der Gesundheitspolitik in Deutschland darzustellen.

2

Gesundheitspolitik zur Gestaltung des Gesundheitssystems

2.1

Ziele der Gesundheitspolitik

Wenn als Oberziel die medizinische und pflegerische Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden soll, ist es für die Gestaltung der Gesundheitspolitik sinnvoll, dieses Oberziel anhand zweier Teilziele zu konkretisieren. Das erste Teilziel besteht darin, über den Einsatz entsprechender Instrumente allen Bürgern den Zugang zur medizinischen und pflegerischen Versorgung zu ermöglichen. Das zweite Teilziel betrifft die eigentliche Versorgung im Gesundheitssystem. Hier sollten die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger durch das Setzen adäquater Rahmenregeln sicherstellen, dass diese Versorgung möglichst effizient bereitgestellt wird. Diese Effizienz ist notwendig, um Mittelverschwendungen im Gesundheitssystem zu vermeiden und so zu gewährleisten, dass auch andere, gesellschaftlich relevante Teilsysteme, wie etwa das Bildungssystem, adäquat finanziert werden können.

2.2

Gruppe der Zahler (bzw. Ausgabenträger), die im Gesundheitssystem für die Finanzierung der in Anspruch genommenen Leistungen zuständig sind. Diese Struktur (Abb. 1) unterscheidet das Gesundheitssystem von normalen Marktsystemen, da hier – anders als etwa in Märkten für Lebensmittel – explizit eine dritte Partei in die Beziehung zwischen Anbieter und Nachfrager geschaltet ist. Die Gruppe der unmittelbaren Nutzer der Gesundheitsleistungen ist damit nicht mehr identisch mit der Gruppe der unmittelbaren Zahler für diese Leistungen. Diese Trennung basiert auf einer gesundheitspolitischen Grundsatzentscheidung: Niemand soll, wenn er oder sie akut medizinische und/oder pflegerische Leistungen in Anspruch nehmen muss, durch (Preis-)Verhandlungen mit einem potenziellen Leistungserbringer belastet werden. Die Gesundheitspolitik weist diese Verhandlungen explizit den Zahlern bzw. Ausgabenträgern zu; die Beziehung zwischen Leistungserbringer und Patient beschränkt sich auf die medizinische und pflegerische Versorgung. Der (finanzielle) Zugang zur Versorgung wird damit durch die Zahler sichergestellt. Diesem Vorteil aus der Einführung einer Zahlerfunktion steht aber auch ein potenzieller Nachteil gegenüber, der als Moral-Hazard-Verhalten (Pauly 1968) bezeichnet wird. Wenn etwa Patienten das Gefühl haben, dass nicht sie selbst, sondern beispielsweise eine Versicherung ihre Gesundheitsausgaben bezahlt, können sie dazu neigen, mehr oder häufiger Leistungen in Anspruch zu nehmen als wenn sie diese selbst bezahlen müssten (SVR-Gesundheit 2001, S. 125). Als Reaktion auf ein solches Moral-Hazard-Verhalten hat die Gesundheitspolitik in vielen Gesundheitssystemen z. B. Zuzahlungen für Arzneimittel eingeführt, deren Kosten grundsätzlich vom jeweiligen Zahler übernommen würden (Gerlinger und Sauerland 2018, S. 540 f.).

2.3

Gesundheitspolitik zur Sicherstellung des Zugangs zur Versorgung

Es gibt für die Gesundheitspolitik verschiedene Möglichkeiten, um den Zugang zur medizinischen und pflegerischen Versorgung in der skizzierten Struktur eines Gesundheitssystems Zahler

Grundstruktur eines Gesundheitssystems

Ein Kennzeichen nahezu aller Gesundheitssysteme ist die Beziehung zwischen drei wesentlichen Akteursgruppen. Die erste Gruppe sind die Patienten, die (als Nachfrager) medizinische und pflegerische Leistungen in Anspruch nehmen und deren Versorgung die Hauptaufgabe des Gesundheitssystems ist. Die zweite Gruppe besteht aus den ambulanten und stationären Leistungserbringern, die (als Anbieter) eben diese Leistungen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus gibt es die

Patient

Leistungserbringer medizinische / pflegerische Leistung finanzielle Leistung / Bezahlung

Abb. 1 Beziehungsstruktur im Gesundheitssystem

61

Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland

sicherzustellen. Eine besteht darin, eine allgemeine Versicherungspflicht für alle Bürger einzuführen und damit privaten und/oder öffentlichen Versicherungen die Zahlerfunktion zuzuweisen. Zwar wäre es grundsätzlich auch möglich, den Zugang über den freiwilligen Abschluss einer Krankenversicherung sicherzustellen, denn auf Versicherungsmärkten werden entsprechende Leistungen angeboten. Da Menschen aber dazu neigen, künftige Bedürfnisse systematisch niedriger einzuschätzen als aktuelle, ist es sehr wahrscheinlich, dass viele Menschen einen solchen freiwilligen Versicherungsschutz nicht abschließen würden. Aus diesem Grund greift die Gesundheitspolitik meritorisch (bzw. paternalistisch) ein und reduziert die Entscheidungsfreiheit der Bürger (Althammer und Lampert 2014, S. 140 ff.). Die Versicherungspflicht bezieht sich üblicherweise auf ein vorgegebenes, abzusicherndes Leistungspaket, um so den Zugang zur notwendigen medizinischen und pflegerischen Versorgung sicherzustellen. Die Bereitstellung der Leistungen an sich kann privaten Leistungserbringern überlassen bleiben. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Zugang über die staatliche Finanzierung und Bereitstellung der medizinischen und pflegerischen Leistungen sicherzustellen. In diesem Fall ist der Staat nicht nur Eigentümer von Krankenhäusern und Arbeitgeber von niedergelassenen Ärzten, er übernimmt auch die Funktion des Zahlers und damit die unmittelbar auch die Sicherstellung der Finanzierung des Systems. Die staatliche Bereitstellung von Gesundheitsleistungen, die über Steuern finanziert wird, kennzeichnet die sog. Beveridge-Gesundheitssysteme, von denen das britische nationale Gesundheitssystem (NHS) ein bekanntes Beispiel darstellt. Demgegenüber stehen die sog. Bismarck-Systeme, in denen – wie in Deutschland – die Sicherstellung des Zugangs über beitragsfinanzierte (soziale) Krankenversicherungen erfolgt (Gerlinger und Sauerland 2018, S. 526).

2.4

Gesundheitspolitik zur Sicherstellung der Effizienz der Versorgung

Wie bereits erwähnt, ist die Effizienz der Bereitstellung von Gesundheitsleistungen auch mit Blick auf den Finanzbedarf anderer Teilsysteme sowie die die Finanzierung des Gesundheitssystems selbst notwendig. Ebenso notwendig ist es aber auch, den Effizienzbegriff für das Gesundheitssystem klar zu definieren, um ihn von der Idee einer reinen Kostensenkung bei der medizinischen und pflegerischen Versorgung abzugrenzen. Ökonomisch ist der Effizienzbegriff so definiert, dass entweder ein vorab definiertes Ergebnis mit einem möglichst geringen Mitteleinsatz realisiert werden soll oder dass mit einem gegebenen Mitteleinsatz ein möglichst gutes Ergebnis erreicht werden soll. Mit Blick auf das Gesundheitssystem lässt sich Effizienz also nur dann erreichen, wenn eine anzu-

739

strebende „Ergebnisgröße“ definiert wird. Üblicherweise ist dies die Qualität der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Definiert man also die Qualität als Ergebnisgröße, so ist eine effiziente Versorgung dann gegeben, wenn eine als Ziel vorgegebene (gute oder sehr gute) Qualität der medizinischen Versorgung mit möglichst geringen Ausgaben im Gesundheitssystem erreicht wird oder bei einem gegebenen Ausgabenvolumen im System die bestmögliche Qualität der Versorgung bereitgestellt wird. Übersetzt bedeutet dies, dass mit den finanziellen Mitteln und den Ressourcen im Gesundheitssystem sorgfältig umgegangen wird, um eine Verschwendung von Ressourcen (also mit Blick auf die Qualität der Versorgung unnötige Ausgaben) zu vermeiden (SVR-Gesundheit 2001, S. 19).

2.4.1 Qualität der Versorgung Um eine effiziente Bereitstellung der Versorgung überhaupt als Zielgröße anstreben zu können, muss die Qualität der medizinischen Versorgung nicht nur definiert, sondern auch gemessen werden können. Beides erfolgt üblicherweise in drei Dimensionen (Donabedian 1966, 1980). Die Strukturqualität bezieht sich dabei zum einen auf die Qualifikation der Leistungserbringer, zum anderen auf die Qualität und Quantität der im Gesundheitssystem vorhandenen Infrastruktur (u. a. Geräte und Gebäude). So kann die Strukturqualität etwa dadurch gesichert werden, dass nur Leistungserbringer mit einem (gesetzlich) definierten Qualifikationsnachweis an der Gesundheitsversorgung mitwirken dürfen. Die zweite Dimension ist die Prozessqualität. Sie beschreibt die Art und Weise, wie die medizinische und pflegerische Versorgung durchgeführt wird. Ein wesentliches Element dabei ist die Verwendung von evidenzbasierten Leitlinien zur Diagnose und Behandlung definierter Krankheitsbilder. Letztlich sollen eine hohe Struktur- sowie Prozessqualität dazu beitragen, dass am Ende des Behandlungsprozesses eine hohe Ergebnisqualität realisiert werden kann (SVR-Gesundheit 2012, S. 179). Diese wird unter anderem anhand von Mortalitätund Komplikationskennziffern gemessen. Bei der Beurteilung der Ergebnisqualität muss aber immer berücksichtigt werden, dass sie auch stark von der Compliance der Patienten abhängig ist. Die Aufgabe der Gesundheitspolitik besteht im Bereich der Qualität darin, die Rahmenregeln für die medizinische und pflegerische Versorgung so zu gestalten, dass für die ambulanten und stationären Leistungserbringer Anreize bestehen, die gewünschte hohe Qualität der Versorgung in den genannten Dimensionen zu gewährleisten. Gleichzeitig muss die Gesundheitspolitik aber auch die Kosten der Versorgung beachten, wenn sie die Effizienz der Versorgung sicherstellen will.

740

2.4.2 Kosten der Versorgung Die Kosten der Versorgung werden sehr stark davon beeinflusst, welchen Umfang das Leistungspaket hat, das von den jeweiligen Zahlern bereitgestellt wird, und wie die Leistungserbringer bezahlt werden. Hier lassen sich grundsätzlich Einzelleistungsvergütungen und pauschale Entlohnungsformen unterscheiden. Bei einer Einzelleistungsvergütung (fee for service) wird der Leistungserbringer für jede einzelne Leistung, die er im Diagnose- und Behandlungsprozess erbringt, bezahlt. Damit steigen das Einkommen bzw. der Umsatz der Leistungserbringer mit steigender Leistungsmenge. Ökonomisch führt das zu Anreizen, die Leistungsmenge über das medizinisch notwendige Niveau hinaus zu erhöhen. Die daraus resultierende Versorgungssituation wird als Überversorgung bezeichnet (SVR-Gesundheit 2001, S. 19). Sie reduziert zum einen die Qualität der medizinischen Versorgung, zum anderen erhöht sie die Kosten. Eine solche Versorgung ist ineffizient. Da sich die Ausgaben für Gesundheit aufgrund dieser Vergütungslogik erst am Ende des Behandlungsprozesses feststellen lassen, sind sie von der Gesundheitspolitik bzw. den Zahlern schlecht zu steuern. Dies ist bei pauschalen Entlohnungsformen (z. B. Pauschale pro Patient, pro Krankheitsbild) anders. Hier lassen sich die Ausgaben besser prognostizieren und steuern. Diesem Steuerung- bzw. Prognosevorteil auf der Ebene der Zahler und der Gesundheitspolitik steht allerdings ein Anreizproblem auf der Ebene der Leistungserbringer entgegen: Wird eine Pauschale pro Patient bezahlt, so gibt es Patienten, bei denen die Kosten der Behandlung unter der Pauschale liegen, es gibt aber auch Patienten wie etwa chronisch Kranke, bei denen die Kosten der Behandlung die Pauschale überschreiten. Damit sind die Einnahmen eines Leistungserbringers letztlich auch von der Zusammensetzung seines Patientenkollektivs abhängig. Dies stellt private Leistungserbringer vor ein ethisches Dilemma: Da in einem System pauschaler Entlohnungsformen ein Teil des „Versicherungsrisikos“ vom Zahler auf den Leistungserbringer übertragen wird, bestehen auf der Ebene der Leistungserbringer zum einen Anreize zu einer gewissen Risikoselektion (weniger betreuungs- und kostenintensive Patienten werden aus ökonomischen Gründen bevorzugt), zum anderen besteht auch tendenziell ein Anreiz zu einer Unterversorgung (SVR-Gesundheit 2001, S. 40). Dabei werden (aus ökonomischen Gründen) weniger Leistungen bereitgestellt, als medizinisch notwendig wären (SVR-Gesundheit 2001, S. 19). Auch diese Unterversorgungssituation ist ineffizient, da die gewünschte Qualität der medizinischen und pflegerischen Versorgung nicht erreicht wird. Daher steht die Gesundheitspolitik immer vor der Herausforderung, die Spielregeln für die Entlohnung der ambulanten und stationären Leistungserbringer so zu gestalten, dass die skizzierten, unerwünschten Anreizeffekte zur Über- bzw. Unterversorgung minimiert werden.

D. Sauerland

3

Gestaltende Gesundheitspolitik in Deutschland

Betrachtet man ein Gesundheitssystem, so lassen sich grundsätzlich zwei Arten von relevanten Akteuren unterscheiden: diejenigen, die als gesundheitspolitische Regelsetzer für die Gestaltung der Spielregeln zuständig sind, und diejenigen, die als Akteure im System im Rahmen der gesetzten Regeln arbeiten.

3.1

Relevante Akteure und ihre Aufgaben

Regelsetzer sind im bundesdeutschen, föderalen System der Bund, der die Sozialgesetze erlässt, sowie die Bundesländer, die insbesondere im Rahmen der Krankenhausplanung wesentliche gestaltende Funktion haben. Bei den Akteuren im System lassen sich, wie bereits erwähnt, die Zahler und die Leistungserbringer unterscheiden. In Deutschland gibt es mit der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung (GKV) sowie der privaten Kranken- und Pflegeversicherung (PKV) zwei wesentliche Zahler. Die Leistungserbringer im medizinischen Bereich bestehen aus niedergelassenen Kassenärzten (ambulant) sowie den Plankrankenhäusern (stationär). Im Bereich der Pflege gibt es ebenfalls sowohl ambulante als auch stationäre Anbieter. Eine Besonderheit des deutschen Systems ist die sog. gemeinsame Selbstverwaltung. Hier ist insbesondere der sog. Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Bereich der GKV-Versorgung zu nennen, in dem die Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen gemeinsam vom Gesetzgeber beauftragt sind, die gesundheitspolitisch vorgegebenen Rahmenregeln zu operationalisieren. Der potenzielle Vorteil der Selbstverwaltung besteht darin, im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die Informationsvorteile der unmittelbar beteiligten Akteure zur Problemlösung zu nutzen (SVR-Gesundheit 2005, S. 33). Der potenzielle Nachteil dieses korporativen Ansatzes besteht in einer möglichen Blockadehaltung der beteiligten Akteure in Bezug auf Veränderungen, die ihren eigenen Interessen entgegenlaufen könnten (SVR-Gesundheit 2005, S. 32).

3.2

Der institutionelle Rahmen des deutschen Gesundheitssystems

Im Rahmen ihrer ordnungspolitischen Gestaltungsaufgabe legt die Gesundheitspolitik auf Bundes- und Länderebene den institutionellen Rahmen für die beteiligten Akteure fest. Die wesentlichen Rahmenregeln, die der Bund für das Gesundheitssystem festlegt, finden sich in den Sozialgesetzbüchern. Das Sozialgesetzbuch fünftes Buch (kurz SGB V) setzt

61

Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland

den Rahmen für den Bereich der GKV-Versorgung. Die Rahmenregeln für die gesetzliche Pflegeversicherung finden sich im SGB XI. Darüber hinaus hat der Bund im Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG o. J.) den Ländern Regelsetzungskompetenzen zugewiesen. Mit dem KHG soll das Ziel erreicht werden, eine qualitativ hochwertige, patienten- und bedarfsgerechte stationäre Versorgung zu gewährleisten. Diese Aufgabe nehmen die Länder im Rahmen ihrer Landeskrankenhausgesetze und der damit verbundenen Krankenhausplanung wahr. Das SGB V (o. J.) schreibt nicht nur den Kreis der Versicherten und den Leistungskatalog vor, der von den gesetzlichen Krankenkassen bereitgestellt wird, es regelt auch die Organisationen der Krankenkassen selbst sowie die Beziehungen zwischen diesen Krankenkassen und den Leistungserbringern im ambulanten und stationären Bereich. Darüber hinaus enthält es die Regeln für die Finanzierung der GKV, die über Beiträge und Zuschüsse des Bundes erfolgt. Das SGB XI (o. J.) ist ähnlich aufgebaut. Jedoch werden die Leistungen, die von der gesetzlichen Pflegeversicherung bereitgestellt werden, detaillierter beschrieben. Dies gilt auch für den Kreis der Anspruchsberechtigten.

3.3

Gesundheitspolitische Maßnahmen zur Sicherstellung des Zugangs zur Versorgung

Bei der Betrachtung des gesundheitspolitischen Teilziels „Sicherstellung des Zugangs“ lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: zum einen die Sicherstellung des finanziellen Zugangs über die allgemeine Krankenversicherungspflicht, zum anderen die Sicherstellung des physischen Zugangs über die Gewährleistung eines flächendeckenden Versorgungsangebots im ambulanten stationären Bereich.

3.3.1

Der finanzielle Zugang über die allgemeine Versicherungspflicht Seit dem Jahr 2009 besteht in Deutschland eine allgemeine Krankenversicherungspflicht für alle Bürgerinnen und Bürger. Diese ist in § 5 SGB V verankert. Für die Personengruppen, die in § 6 (Althammer und Lampert 2014) SGB V genannt sind, besteht eine Versicherungsfreiheit in Bezug auf die GKV. Sie haben die Möglichkeit, sich in der PKV zu versichern. Die Wahl des konkreten Versicherungsanbieters ist offen. Bei den Krankheitsvollversicherungen bestehen Wahlmöglichkeiten zwischen sowie innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der privaten Krankenversicherung (PKV). Die PKV bietet neben der Vollversicherung auch Zusatzversicherungen an, die es den gesetzlich Versicherten ermöglichen, den Leistungskatalog der GKV wahlweise zu ergänzen. Der wichtigste Zahler im deutschen Gesundheitssystem sind die GKV, die gesetzliche Pflegeversicherung sowie die

741

PKV. So waren im Jahr 2017 insgesamt 72,2 Mio. Menschen (BMG 2018) in 113 gesetzlichen Krankenkassen versichert (BMG 2017), 8,8 Mio. Versicherte hatten eine private Krankenvollversicherung und 9,3 Mio. eine private Pflegeversicherung bei einer der 50 privaten Versicherungsunternehmen (PKV 2018). Gleichzeitig hatte die GKV einen Anteil von 58,1 % und die gesetzliche Pflegeversicherung einen Anteil von 8,3 % an den gesamten Gesundheitsausgaben in Höhe von 356,5 Mrd. EUR. Die PKV hatte (inklusive der privaten Pflegeversicherung) einen Anteil von 8,7 % (Destatis 2018a). Die Trennung in zwei unterschiedliche Versicherungszweige ist eine Besonderheit des deutschen Gesundheitssystems. Sie ist historisch gewachsen und lässt sich mit einem einkommensabhängigen Leistungsfähigkeitsprinzip begründen (Gerlinger und Sauerland 2018, S. 525 ff.).

Kennzeichen der gesetzlichen Krankenversicherung Die Versicherungsbeiträge der GKV-Mitglieder werden nicht anhand ihrer Risiken kalkuliert, sondern als prozentualer Beitragssatz, der auf das beitragspflichtige Einkommen des Mitglieds berechnet wird (§ 3 SGB V). Dies entspricht der Idee des Solidarprinzips, das als konstitutives Merkmal der GKV in § 1 SGB V verankert ist. Die Höhe des (allgemeinen) Beitragssatzes wird im SGB V (§ 240) für alle Kassen einheitlich festgelegt. Ebenso werden die Bestandteile des beitragspflichtigen Einkommens im SGB V (§§ 226 ff.) geregelt. Die Finanzierung der Beiträge erfolgt solidarisch (§ 3 SGB V), d. h. durch die Mitglieder der GKV und ihre Arbeitgeber. Der gesamte Beitrag zur GKV wird an der Quelle abgeführt, d. h. sowohl der Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmeranteil werden vom Arbeitgeber an die jeweilige Krankenkasse überwiesen. Ökonomisch betrachtet ist die paritätische Finanzierung eher eine „gefühlte“ Umverteilung von den Arbeitgebern zu den Arbeitnehmern, denn sowohl das eigentliche Gehalt als auch die sog. Lohnnebenkosten müssen von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden. Die Beiträge, die von den Arbeitgebern zunächst an die jeweiligen gesetzlichen Kassen überwiesen werden, werden seit 2009 im sog. Gesundheitsfonds gesammelt (Abb. 2), der vom Bundesversicherungsamt verwaltet wird (§ 271 SGB V). Innerhalb der GKV existieren verschiedene, sozialpolitisch gewollte Umverteilungselemente (Sauerland 2004, S. 222): Wie in jeder Versicherung wird von den gesunden Versicherten (also denen, die keine Leistungen in Anspruch nehmen) zu den Kranken umverteilt. Darüber hinaus führt die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen (insbesondere Kindern) gemäß § 10 SGB V zu einer Familienförderung, d. h. zu einer Umverteilung von Ledigen und Ehepaaren ohne Kinder zu Familien mit Kindern. Geht man davon aus, dass die Ausgaben der GKV für einen Versicherten altersabhängig sind, erfolgt auch eine Umverteilung von den jüngeren zu

742

D. Sauerland

Bund

Private Versicherung

Gesundheitsfonds Zuweisung inkl. RSA

gesetzliche Kasse

Kassenärztliche Vereinigung

Ambulante und stationäre Leistungserbringer

GKV-Patient

Vertragsarzt

GKV-Patient

medizinische / pflegerische Leistung finanzielle Leistung / Bezahlung

medizinische / pflegerische Leistung finanzielle Leistung / Bezahlung

Abb. 2 Struktur der ambulanten GKV-Versorgung

den älteren Mitgliedern. Schließlich zahlen Mitglieder mit hohem Einkommen für die mit niedrigem Einkommen mit. Der Leistungskatalog der GKV ist in §§ 11ff. SGB V definiert und umfasst insbesondere Leistungen im Bereich der Prävention, der Behandlung von Krankheiten sowie der Rehabilitation. Darüber hinaus sind auch Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft vorgesehen. Ein weiteres Kennzeichen der GKV besteht darin, dass die Versicherten diese Leistungen gemäß § 2 SGB V in Form von Dienst- oder Sachleistungen erhalten. Geldleistungen sind nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Das bedeutet, dass Versicherte medizinische und pflegerische Dienstleistungen im ambulanten und stationären Bereich sowie Arznei-, Heil- und Hilfsmittel in Anspruch nehmen können, ohne diese unmittelbar zu bezahlen. Die Abrechnung der Dienst- bzw. Sachleistungen erfolgt grundsätzlich zwischen den Leistungserbringern und den Ausgabenträgern. Im Bereich der ambulanten Versorgung sind jedoch noch die Kassenärztlichen Vereinigungen zwischengeschaltet (vgl. Abb. 2). Kennzeichen der privaten Krankenversicherung Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung ist in Deutschland an das Erreichen eines bestimmten Mindesteinkommens (Jahresarbeitsentgeltgrenze) oder der Zugehörigkeit einer bestimmten Berufsgruppe (Beamte) (§ 6 SGB V) gekoppelt. Wer etwa als Nicht-Beamter dieses Mindesteinkommen überschreitet, kann die Pflicht-GKV verlassen und in die PKV wechseln. Die PKV erhebt im Gegensatz zur GKV Versicherungsprämien, die das individuelle Risiko der Versicherten mit einbeziehen. Daher steigen die Prämien mit steigendem (Eintritts)Alter der Versicherten. Darüber hinaus gibt es keine beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen; vielmehr muss für jeden Versicherten (also auch Kinder) eine individuelle Prämie bezahlt werden. Die PKV beinhaltet also deutlich weniger Umverteilungselemente als die GKV. Ähnlich wie bei der GKV zahlen die Arbeitgeber einen Anteil an den Versicherungsprämien. Dieser Arbeitgeberzu-

Abb. 3 Struktur der PKV-Versorgung

schuss ist maximal so hoch, wie er in der gesetzlichen Krankenversicherung sein könnte. Anders als der Arbeitgeberanteil in der GKV wird der Arbeitgeberzuschuss mit dem Gehalt an die Arbeitnehmer überwiesen. Die privat versicherten Arbeitnehmer müssen dann die Versicherungsprämie in voller Höhe an die private Krankenversicherung überweisen. Der Leistungskatalog im Bereich der Vollversicherung der PKV ist nicht gesetzlich festgelegt. Vielmehr ergibt er sich aus den Tarifen, die von den Versicherungsgesellschaften angeboten werden. Der Leistungsumfang ist oft größer als in der GKV. Die privaten Krankenversicherungen bieten nicht nur Vollversicherungen an, sondern auch Zusatzversicherungen für die GKV-Versicherten. Diese haben so die Möglichkeit, ihr individuelles Leistungsniveau insbesondere im stationären Bereich zu erhöhen. Im Jahr 2016 bestanden 25,5 Mio. solcher Zusatzversicherungen (PKV 2018). Anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten die privat Versicherten Geldleistungen von ihrer Versicherungsgesellschaft, wenn sie medizinische oder pflegerische Dienstleistungen sowie Arznei-, Heil- und Hilfsmittel in Anspruch nehmen. Technisch erfolgt dies im Rahmen eines Erstattungssystems: Die privat Versicherten reichen die Rechnungen, die ihnen von den Leistungserbringern gestellt werden, an ihre Versicherungsgesellschaft weiter. Diese erstattet, wie in Abb. 3 dargestellt, den Versicherten die Beträge im Rahmen der vertraglich vorgesehenen Regelungen. Die Finanzierungslogik: Umlageverfahren mit und ohne Altersrückstellungen Die Finanzierung der GKV und die PKV basiert auf der Logik des sog. Umlageverfahrens. Beim Umlageverfahren werden die Versicherungseinnahmen in der laufenden Periode (üblicherweise ein Kalenderjahr) genutzt, um die Ausgaben in der entsprechenden Zeit zu decken. Unterschiede zwischen PKV und GKV bestehen jedoch in der konkreten Ausgestaltung des Umlageverfahrens. In der GKV ist die grundsätzliche Beitragsfinanzierung aufgeweicht, da auch steuerfinanzierte Zuschüsse des Bundes in den Gesundheitsfonds fließen (vgl. Abb. 2). Seit 2017 sind das, gemäß § 221 SGB V, 14,5 Mrd. € pro Jahr. Im Fonds wird gemäß § 271SGB V auch eine sog. Liquiditätsreserve

61

Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland

(mindestens 25 % der durchschnittlichen monatlichen Ausgaben des Fonds) vorgehalten. Diese Reserve dient u. a. dazu, kurzfristige konjunkturelle Schwankungen bei den Einnahmen abfedern zu können. Sie betrug im Jahr 2016 etwa 9,1 Mrd. € (BVA 2017). Die Logik des Umlageverfahrens lässt sich für die GKV (ohne Berücksichtigung der Liquiditätsreserve) anhand folgender Budgetgleichung beschreiben: BS  BPE  M þ BZ ¼ Aamb þ Astat þ AHH þ LEL Auf der linken Seite stehen die Einnahmen der GKV, die sich vereinfacht aus dem Produkt des Beitragssatzes (BS) und dem durchschnittlichen beitragspflichtigen Einkommen (BPE) pro Mitglied ergeben. Multipliziert mit der Zahl der Mitglieder (M) ergeben sich daraus die Beitragseinnahmen der GKV. Diese werden ergänzt durch die Zuschüsse des Bundes (BZ). Die gesamten Einnahmen stehen den Ausgaben auf der rechten Seite der Gleichung gegenüber. Diese setzen sich zusammen aus den Ausgaben für die ambulante Versorgung (Aamb), für die stationäre Versorgung (Astat), für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel (AHH) sowie für Lohnersatzleistungen (LEL), d. h. die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch die GKV. Aus der Budgetgleichung wird unmittelbar deutlich, wie „demografieanfällig“ das Umlageverfahren der GKV ist: Steigen etwa die Ausgaben im Bereich der ambulanten und stationären Versorgung durch eine alternde Bevölkerung, und geht gleichzeitig die Zahl der versicherten Mitglieder durch die demografische Entwicklung zurück, verbleiben wenig Stellschrauben, um die Einnahmen den Ausgaben wieder anzupassen. Die „Demografieanfälligkeit“ des PKV-Systems ist hingegen geringer, da die Kalkulation der individuellen Versicherungsprämien hier die Ausgabenentwicklung über die Lebenszeit des Versicherten durch die Bildung von Altersrückstellungen berücksichtigt. Das bedeutet, dass junge Versicherte im Sinne einer intertemporalen Umverteilung zunächst höhere (als für ihr Alter notwendige) Prämien bezahlen, aus denen dann Rücklagen für das Alter gebildet werden. Diese werden mit steigendem Alter sukzessive aufgelöst und dämpfen so den alterungsbedingten Anstieg der Prämie. Im Jahr 2017 hatten die PKV-Unternehmen 210,5 Mrd. € Altersrückstellungen im Bereich der Krankenversicherungen gebildet sowie 34,5 Mrd. € im Bereich der privaten Pflegeversicherung (PKV 2018). Die Rückstellungslogik funktioniert jedoch umso besser, je höher die Renditen sind, welche die Versicherungsgesellschaften mit der Anlage der Altersrückstellungen erwirtschaften. Im aktuellen Niedrigzinsumfeld sind aber die zu erwirtschafteten Renditen deutlich niedriger als das in der Vergangenheit der Fall war. Damit ist die PKV, anders als die ohne Altersrückstellungen arbeitende GKV, „kapitalmarktanfällig“.

743

3.3.2

Der physische Zugang über den gesetzlichen Sicherstellungsauftrag Neben dem finanziellen Aspekt der Sicherstellung des Zugangs gibt es den physischen Aspekt des Zugangs, der künftig wohl auch um den Online-Zugang im Rahmen der Telemedizin ergänzt werden wird. Die Absicherung des finanziellen Zugangs über eine allgemeine Krankenversicherungspflicht läuft nämlich ins Leere, wenn nicht auch sichergestellt ist, dass ambulante und stationäre Leistungserbringer für die Patienten verfügbar sind. Sicherstellung der ambulanten Versorgung Der sog. Sicherstellungsauftrag liegt im Bereich der ambulanten Versorgung grundsätzlich bei den gesetzlichen Krankenkassen. Gemäß § 72 SGB V ist die faktische Zuständigkeit jedoch bei den kassenärztlichen Vereinigungen angesiedelt. Dort ist geregelt, dass die gesetzlichen Krankenkassen mit den kassenärztlichen Vereinigungen einen Vertrag schließen, damit die Versorgung sichergestellt ist. Die kassenärztlichen Vereinigungen schließen ihrerseits Verträge gemäß § 95 SGB V mit den niedergelassenen Ärzten, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. Nur in Ausnahmefällen, die in § 72a festgelegt sind, übernehmen die Kassen direkt den Sicherstellungsauftrag. Dies geschieht z. B. dann, wenn nicht genügend Ärzte innerhalb eines Zulassungsbezirks an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. In diesem Fall werden die Kassen direkter Vertragspartner der Leistungserbringer. Im Gegensatz dazu ist im Bereich der gesetzlichen Pflegeversicherung der Sicherstellungsauftrag gemäß § 69 SGB XI unmittelbar bei den Kassen angesiedelt. Im ambulanten Bereich der niedergelassenen Ärzte werden sowohl die eigentliche Versorgung als auch die Versorgungsinfrastruktur, also insbesondere die notwendigen Räumlichkeiten sowie die Geräte, aus den Einnahmen finanziert, die bei der Behandlung der gesetzlich und privat versicherten Patienten generiert werden (vgl. dazu Abschn. 3.3). Diese, auch monistisch genannte, Finanzierung ist im Bereich der stationären Versorgung nicht gegeben. Sicherstellung der stationären Versorgung Im Bereich der stationären Versorgung ergibt sich der Sicherstellungsauftrag aus einer Kombination von Bundesund Landesrecht. So ist in § 108 SGB V festgelegt, dass die stationäre Versorgung für den Bereich der GKV nur in solchen Krankenhäusern durchgeführt werden darf, die in den Krankenhausplan eines Bundeslandes aufgenommen sind. Ergänzend schreibt das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) in § 6 den Ländern vor, Krankenhauspläne aufzustellen, um so das in § 1 KHG definierte Ziel zu erreichen, „eine qualitativ hochwertige, patienten- und

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D. Sauerland

bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen, qualitativ hochwertig und eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern zu gewährleisten“. Durch die beschriebene Logik ergibt sich im Krankenhausbereich eine duale Finanzierung: Die Finanzierung der Kosten für die eigentliche Behandlung der Patienten (also insbesondere Personalkosten und Materialkosten) erfolgt in den Krankenhäusern über die Behandlungsmaßnahmen aus den Pflegesätzen gemäß § 2 Nr. 4 KHG, die von der GKV (und auch der PKV) erstattet werden. Für die Finanzierung der Investitionen gemäß § 2 Nr. 2 KHG (also insbesondere der Gebäude und Großgeräte) sind hingegen die Bundesländer verantwortlich, die im Rahmen ihrer Krankenhausplanung gemäß § 6 KHG Investitionsprogramme für die angemessene Infrastruktur zur Verfügung stellen sollten, um gemäß § 4 Nr. 1 KHG die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser zu gewährleisten (Abb. 4). Betrachtet man die Mittel, die in den letzten Jahren von den Ländern bereitgestellt wurden, so reichen diese jedoch nicht aus, um die Infrastruktur der Krankenhäuser auf dem notwendigen Stand zu erhalten. Zwar haben die Bundesländer im Jahr 2015 etwa 2,7 Mrd. EUR für Investitionen zur Verfügung gestellt (DKG 2017). Schätzungen kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass im Bereich der stationären Versorgung aktuell ein Investitionsstau von etwa 12 Mrd. EUR besteht (Augurzky et al. 2017), der zu einer sinkenden Strukturqualität führt. Um das Problem der mangelnden Finanzzuweisung durch die Länder zu verringern, hat der Bund im Krankenhausstrukturgesetz 2016 für den Zeitraum 2016 bis 2018 einen zusätzlichen Strukturfonds in Höhe von 500 Mio. EUR für Infrastrukturinvestitionen im Krankenhausbereich aus den Mitteln des Gesundheitsfonds eingerichtet. Diese Mittel können gemäß § 12 KHG jedoch nur eingesetzt werden, um Versorgungskapazitäten abzubauen (vgl. dazu auch Abschn. 3.4), zu konzentrieren oder so umzubauen, dass sie dem absehbar veränderten Versorgungsbedarf besser entsprechen.

Bund

Gesundheitsfonds Zuweisung inkl. RSA

gesetzliche Kasse

GKV-Patient

Bundesland

Plankrankenhaus medizinische / pflegerische Leistung finanzielle Leistung / Bezahlung

Abb. 4 Struktur der stationären GKV-Versorgung

3.4

Gesundheitspolitische Maßnahmen zur Sicherstellung der Effizienz der Versorgung

Im SGB V finden sich explizit die in Abschn. 2 erläuterten Teilziele Qualität und Effizienz bzw. Wirtschaftlichkeit wieder. In § 12 SGB V ist explizit das Wirtschaftlichkeitsgebot für die bereitzustellenden Leistungen verankert. In § 70 SGB V wird dieses allgemeine Gebot dahingehend präzisiert, dass die Versorgung der Versicherten „in der fachlich gebotenen Qualität sowie wirtschaftlich erbracht werden“ muss.

3.4.1

Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität Das SGB V beinhaltet einen eigenen Abschnitt, der sich mit der Sicherstellung der Qualität der Leistungserbringung beschäftigt. Dabei wird unterschieden zwischen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie Arznei-, Heilund Hilfsmittel, die bereits jetzt im Leistungskatalog der GKV enthalten sind, sowie neuen Methoden und Mitteln. Die Kosten für diese neuen Methoden und Mittel dürfen gemäß § 135 bzw. § 138 SGB V nur dann von den Krankenkassen übernommen werden, wenn die Effizienz (Nutzen im Verhältnis zu den Kosten) der neuen Methoden belegt wurde, die notwendige Strukturqualität für ihre Durchführung besteht und wenn diese adäquat dokumentiert wird. Zuständig für die Zulassung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ist der G-BA als Gremium der Selbstverwaltung nach § 91 SGB V. Der GB-A beauftragt das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) gemäß § 139a bzw. das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG) gemäß 137a SGB V mit Arbeiten an „Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für die Qualität und Wirtschaftlichkeit der im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erbrachten Leistungen“ bzw. „Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zur Darstellung der Versorgungsqualität“. Während der G-BA so die Qualität der neuen Verfahren und Mittel sicherstellt, liegt die Verantwortung für die Sicherung und Qualität der zugelassenen Leistungen gemäß § 135a SGB V bei den Leistungserbringern. Im ambulanten Bereich sind die kassenärztlichen Vereinigungen dafür zuständig, die Qualität der vertragsärztlichen Versorgung zu fördern (§ 135b). Analog dazu soll die deutsche Krankenhausgesellschaft (gemäß § 135b) die Qualität der Versorgung im Krankenhaus fördern. Der G-BA wiederum legt allgemeine Richtlinien für die Qualitätssicherung (§ 136) in der ambulanten und in der stationären Versorgung fest. Diese umfassen auch Mindestanforderungen an die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Ebenso ist er gemäß § 136d für die Evaluation der Qualität, ihre Weiterentwicklung sowie (gemäß § 137) für die Kontrolle und Durchsetzung der Qualitätsanforderungen zuständig.

61

Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland

Mit diesen Regelungen versucht der Gesetzgeber letztlich über Anforderungen an die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sicherzustellen, dass die im Bereich der GKV erbrachten Leistungen „in der fachlich gebotenen Qualität“ bereitgestellt werden. Folgt man der in Abschn. 2.4 beschriebenen Logik, so sollte die definierte Qualität möglichst effizient bereitgestellt werden. Bei den Maßnahmen zur Sicherung der Effizienz können zwei Ansatzpunkte unterschieden werden: die Finanzierung und die eigentliche Leistungserbringung.

Technisch erfolgt der Risikostrukturausgleich innerhalb des Gesundheitsfonds (Abb. 2 und 4). Nach Durchführung des Risikostrukturausgleichs erhalten dann die Kassen für ihre Versicherten Grundpauschalen inklusive der RSA-Zuund -Abschläge aus dem Gesundheitsfonds (§ 266 SGB V). Reichen die zugewiesenen Mittel bei den Krankenkassen nicht aus, um ihre Ausgaben zu decken, so können sie gemäß § 242 SGB V einen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben. Dieser wird ebenfalls als Prozentsatz auf das beitragspflichtige Einkommen berechnet.

3.4.3 3.4.2

Maßnahmen zur Sicherstellung der Effizienz der Finanzierung Der Logik der Versicherungspflicht folgend besteht sowohl für die Versicherten innerhalb der GKV als auch innerhalb der PKV ein Wahlrecht in Bezug auf die konkrete gesetzliche Kasse bzw. private Versicherungsgesellschaft. Mit diesem Wahlrecht soll ein Wettbewerb der Versicherungsanbieter initiiert werden. Die Idee des Versicherungswettbewerbs besteht zum einen darin, die Anbieter zu einer präferenzgemäßen Versorgung der Versicherten zu motivieren. Zum anderen soll die Effizienz des Leistungsangebots der Versicherungen sichergestellt werden. Da die Beiträge in der GKV unabhängig vom individuellen Risiko der Versicherten erhoben werden, ergibt sich für den Wettbewerb innerhalb der GKVein potenzielles Problem: Wenn es nämlich einer Krankenkasse gelingt, überdurchschnittlich viele Versicherte mit geringem Erkrankungsrisiko als Mitglieder zu gewinnen, so wirkt sich diese positive Risikoselektion (SVR-Gesundheit 2001, S. 40) vorteilhaft auf die durchschnittlichen Ausgaben pro Versicherten aus – und damit auch auf den zu erhebenden Beitragssatz. Solche Kassen hätten damit einen Vorteil im GKV-Wettbewerb, der allerdings nicht auf ihre Leistungsfähigkeit im Bereich der Gesundheitsversorgung zurückzuführen ist. Aus diesem Grund ist ein Mechanismus notwendig, der die unterschiedliche Risikostruktur der Versicherten zwischen den Krankenkassen ausgleicht. Der seit 1994 bestehende Risikostrukturausgleich gemäß §§ 266 SGB V innerhalb der GKV ist als morbiditätsorientiertes Verfahren (Morbi-RSA) ausgestaltet. Der Morbi-RSA (umfassend dargestellt bei Drösler et al. 2017) berücksichtigt zunächst das Alter und das Geschlecht der Versicherten. Auch der Bezug einer Erwerbsminderungsrente wird berücksichtigt. Darüber hinaus wird auch ein krankheitsabhängiger zusätzlicher Versorgungsbedarf bei 80 festgelegten Krankheiten mit in den Ausgleich einbezogen. So soll sichergestellt werden, dass die Kassen genügend Mittel für die Versorgung von besonders ausgabeintensiven Versicherten erhalten und somit kein Anreiz zur Risikoselektion besteht. Da die PKV, wie bereits erwähnt, individuelle, risikoadjustierte Prämien erhebt, ist ein Risikostrukturausgleich hier nicht notwendig.

745

Maßnahmen zur Sicherstellung der Effizienz der Leistungserbringung

Entlohnung der stationären Leistungserbringer Bis zur Einführung des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) im Jahr 1993 galt in Deutschland das Selbstkostendeckungsprinzip bei der Vergütung von Krankenhausleistungen. Auf Basis von tagesgleichen Pflegesätzen (pro belegtem Bett) wurden die jeweiligen Kosten eines Krankenhauses von den Krankenkassen erstattet (GKV 2018). Ökonomisch hat diese Form der Kostenerstattung zwei Effekte: Erstens besteht für die Krankenhäuser kein Anreiz, effizient zu wirtschaften, da ihnen alle Kosten (also auch die aus Ineffizienzen resultierenden) erstattet werden. Zweitens besteht aufgrund der Entlohnung anhand von tagesgleichen Pflegesätzen ein Anreiz, Patienten möglichst lang im Krankenhaus zu halten. Entsprechend waren sowohl die Gesundheitsausgaben für die stationäre Versorgung sowie die durchschnittlichen Krankenhausliegezeiten im internationalen Vergleich sehr hoch (OECD 2018). Die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger beschlossen daher, der in Abschn. 2.4.2 skizzierten Logik folgend, die Umstellung des Entlohnungssystems auf sog. DRG-Pauschalen. Das pauschalenbasierte deutsche Vergütungssystem G-DRG wurde im Jahr 2004 eingeführt (DIMDI 2018). Die gesetzliche Grundlage des Systems findet sich in § 17b KHG. Die ökonomische Logik solcher DRG-Systeme basiert auf der Idee der sog. yardstick competition (Shleifer 1985). Zunächst werden Behandlungsfälle, die sich medizinisch und mit Blick auf den Ressourcenverbrauch ähneln, in Diagnosegruppen zusammengefasst. Diesen Diagnosegruppen werden (evidenzbasiert) typische Leistungspakete für den Diagnoseund Behandlungsprozess zugeordnet. Für diese Leistungspakete werden wiederum durchschnittliche Kosten ermittelt. Die Erstattung für die einzelnen Krankenhäuser basiert somit letztlich auf den ermittelten Durchschnittskosten für die jeweilige Fallklassifikation (Fetter 1992). Diese Durchschnittskosten bilden die Messlatte für alle Krankenhäuser. Diejenigen Krankenhäuser, die in der Lage sind, eine Fallklassifikation mit geringeren als den Durchschnittskosten zu versorgen, profitieren von ihrer Effizienz und sind in der Lage Gewinne zu generieren. Krankenhäuser mit über-

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durchschnittlich hohen Kosten bekommen diese nicht erstattet. Sie sind gezwungen ihre Kosten zu senken und damit effizienter zu werden. Eine gesundheitspolitisch gewünschte Folge der Einführung der G-DRGs war die Verringerung der durchschnittlichen Liegezeiten. Legt man diesen Parameter zu Grunde, war die Einführung erfolgreich: Während die durchschnittliche Liegezeit im Jahr 2003 noch 8,9 Tage betrug, lag sie im Jahr 2016 bei 7,3 Tagen (Destatis 2018b). Die Einführung der DRG-Entlohnung sollte aber auch zur Reduzierung der Bettenzahl in Deutschland führen, die im internationalen Vergleich ebenfalls sehr hoch war. Dieser Effekt ist bisher nicht eingetreten: Während es 2016 in Deutschland noch 8,1 Krankenhausbetten pro 100.000 Einwohner gab, lag der OECDDurchschnitt bei 4,7 (OECD 2018). Entlohnung der ambulanten Leistungserbringer Die Entlohnung der ambulanten Leistungserbringer unterscheidet sich in Deutschland nach dem jeweiligen Zahler; sie wird oft als Ursache für eine sog. Zwei-Klassen-Medizin gesehen. Im Bereich der GKV-Finanzierung dient den Leistungserbringern der einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) gemäß § 87 SGB V als Grundlage der Abrechnungen von Leistungen gegenüber der jeweils zuständigen kassenärztlichen Vereinigung. Im Bereich der PKV-Versorgung sind die Gebührenordnungen für Ärzte (GOÄ) bzw. für Zahnärzte (GOZ) die Basis für die Rechnungsstellung der Leistungserbringer an die privat versicherten Patienten. Der EBM deckt arztgruppenübergreifende sowie arztgruppenspezifische Positionen in Form von Pauschalen ab (DIMDI 2018). Letztere werden unterschieden in den Bereich der hausärztlichen Versorgung und den der fachärztlichen Versorgung. Die im EBM aufgeführten Leistungen sind jeweils mit Punktwerten hinterlegt. Diese Punktwerte werden mit einem sog. Orientierungswert (Jahr 2018: 10,6543 Cent/Punkt) bewertet, der vom erweiterten Bewertungsausschuss festgelegt wird. Der Bewertungsausschuss ist ein Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen. Der Orientierungswert kann auf Ebene der einzelnen kassenärztlichen Vereinigungen noch regional angepasst werden. Für die Abgeltung der abzurechnenden, bewerteten Punktwerte stellen die kassenärztlichen Vereinigungen zum einen regionale morbiditätsbedingte Gesamtvergütungsbudgets zum anderen extrabudgetäre Gesamtvergütungen zur Verfügung. Während die extrabudgetäre Vergütung nicht begrenzt ist, beinhaltet die morbiditätsbedingte Vergütung einen Deckel für die regionalen Gesamtausgaben, der auf die Praxisebene herunter gebrochen wird. Für die niedergelassenen Ärzte bedeutet dies, dass erbrachte Leistungen dann nicht mehr vergütet werden, wenn das Budget ausgeschöpft ist. Aus Sicht der GKV bedeutet dies, dass zusätzliche Leistungen nicht unmittelbar zu zusätzlichen Ausgaben führen.

D. Sauerland

Eine solche Budgetierung von Ausgaben besteht im Bereich der PKV-Versorgung nicht. Die GOÄ bzw. GOZ stammen aus dem Jahr 1982 und umfassen ebenfalls einen Katalog (zahn)ärztlicher Leistungen, die mit einem Punktwert sowie einem Euro-Betrag bewertet sind (PKV 2008). Der Wert eines Punktes ist gesetzlich festgelegt und entspricht gemäß § 5 GOÄ zurzeit 5,82873 Cent. Anders als beim EBM handelt es sich bei den Leistungen nach GOÄ nicht um Pauschalen, sondern um Einzelleistungen, die vergütet werden. Bei der Abrechnung der Leistungen wird auch die Schwierigkeit der Leistungserbringung durch einen Zuschlagsfaktor auf den festgelegten Gebührensatz berücksichtigt. Dieser Faktor soll gemäß § 5 GOÄ den Wert 2,3 in der Regel nicht überschreiten. Die Logik der in der PKV herrschenden Einzelleistungsvergütung bedeutet, dass zusätzliche Leistungen auch unmittelbar zu zusätzlichen Ausgaben führen. Da die Versicherungsgesellschaften der PKV, wie bereits erläutert, in keinem Vertragsverhältnis zu den niedergelassenen Ärzten stehen, haben sie auch keine Instrumente, um das Behandlungsverhalten der Leistungserbringer zu beeinflussen.

4

Fazit

Die Gestaltung des deutschen Gesundheitssystems ist und bleibt eine komplexe Aufgabe für die Gesundheitspolitik. Bis zum Ende des letzten Jahrtausends ging es in vielen Reformgesetzen darum, die steigenden Ausgaben für Gesundheit (insbesondere im Bereich der GKV) durch die Umstellung der Entlohnungsverfahren im ambulanten und stationären Bereich sowie die Einführung von Wettbewerb innerhalb der GKV zu steuern (Gerlinger und Sauerland 2018, S. 539 ff.). In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends gab es eine gesundheitspolitische Diskussion um die grundsätzliche Finanzierung der Gesundheitsausgaben, die mit den Schlagworten Kopfpauschalen und Bürgerversicherung verbunden ist. Letztere ist im Bundestagswahlkampf 2017 erneut diskutiert worden. Die Zukunftsfragen, mit denen sich die Gesundheitspolitik angesichts der bestehenden demografischen Entwicklung beschäftigen muss, ist zum einen die Nachhaltigkeit der Finanzierung der Gesundheitsausgaben. Wie in Abschn. 3.3.1 erläutert, ist die GKV zurzeit sehr demografieanfällig. Dieses Problem könnte durch die Einführung von Altersrückstellungen gemildert werden. Zum anderen verändert sich die Zugangsfrage: Während der finanzielle Zugang institutionell gesichert ist, wird die Sicherstellung des physischen (oder virtuellen) Zugangs, der insbesondere in ländlichen Gebieten im Bereich der ambulanten Versorgung schon heute als Problem diskutiert wird, an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig müssen Lösungen für die Anpassung der hohen Bettendichte gefunden werden. Angesichts der demografischen Entwick-

61

Ziele, Akteure und Strukturen der Gesundheitspolitik in Deutschland

lung muss die Gesundheitspolitik auch die Sicherstellung des Zugangs zur pflegerischen Versorgung stärker berücksichtigen als in der Vergangenheit (Sauerland 2016). Die jüngst von der Gesundheitspolitik in § 137i SGB V eingeführten Pflegepersonaluntergrenzen in pflegesensitiven Bereichen in Krankenhäusern können dazu nur ein erster Schritt sein.

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Finanzierung der Gesundheitsversorgung

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Stefan Greß

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749

2

Finanzierungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750

3 Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 3.1 Kalkulation der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 3.2 Schwächen der GKV-Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 4 Finanzierung der privaten Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 4.1 Kalkulation der Prämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 4.2 Schwächen der PKV-Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 5 Effekte des dualen Krankenversicherungssystems von GKV und PKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 5.1 Doppelte Risikoselektion zu Lasten der GKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 5.2 Fehlanreize in der gesundheitlichen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756 6 6.1 6.2 6.3

Reformoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbau der Steuerfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pauschalfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

756 757 757 758

7

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760

1

Einleitung

Die Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland ist von zwei parallelen Krankenversicherungssystemen geprägt. Die gesamte Bevölkerung ist zum Abschluss einer Krankenversicherung entweder in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder in der privaten Krankenversicherung (PKV) verpflichtet.1 Rund 90 % der Bevölkerung sind gesetzlich versichert, die private Krankenversicherung hat mit rund 10 % einen deutlich niedrigeren Marktanteil. Diese

1 Rund 79.000 Menschen hatten nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Jahr 2015 keinen Krankenversicherungsschutz (Statistisches Bundesamt 2016).

S. Greß (*) Hochschule Fulda, Fulda, Deutschland E-Mail: [email protected]

Dualität von Versicherungssystemen ist inzwischen europaweit einmalig – zuletzt haben die Niederlande im Jahr 2006 die private Krankenvollversicherung abgeschafft (Greß et al. 2013). Die Auswirkungen des Nebeneinanders von GKV und PKV sind regelmäßig Gegenstand gesundheitspolitischer Debatten. Zuletzt hatte die SPD im Rahmen der Verhandlungen zur Regierungsbildung mit CDU/CSU Ende des Jahres 2017 öffentlichkeitswirksam die Einführung der Bürgerversicherung gefordert – ist damit aber zum wiederholten Male am Widerstand der Union gescheitert. Im Rahmen dieses Beitrags sollen die wesentlichen Charakteristika des deutschen Krankenversicherungssystems analysiert werden. Diese Eigenschaften weisen trotz einer hohen Reformfrequenz eine erstaunlich hohe Konstanz auf. Es soll deutlich werden, dass der Gesetzgeber seit Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) im Jahr 2007 allenfalls moderate Modifikationen an der

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_74

749

750

S. Greß

Finanzarchitektur des deutschen Krankenversicherungssystems vorgenommen hat. Teilweise hat der Gesetzgeber diese Veränderungen auch wieder zurückgenommen und ist auf den langfristigen Entwicklungspfad zurückgekehrt. So basiert die Finanzierung der GKV nach einem kurzzeitigen Experiment mit einkommensunabhängigen Zusatzbeiträgen inzwischen wieder ausschließlich auf einkommensabhängigen Beiträgen. Zudem wird die große Koalition mit Beginn des Jahres 2019 erstmals seit 2003 wieder die vollständige Parität von Beiträgen zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten wiederherstellen. Allerdings bestehen auch die Schwächen des deutschen Krankenversicherungssystems unverändert fort. Das gilt etwa für die strukturelle Einnahmeschwäche der GKV, die Defizite im Geschäftsmodell der PKV und die Auswirkungen des dualen Krankenversicherungssystems. Dieser Beitrag beginnt mit einer grundsätzlichen Darstellung unterschiedlicher Finanzierungsoptionen in Krankenversicherungssystemen (Abschn. 2). In den beiden folgenden Abschnitten werden die wesentlichen Systemcharakteristika sowohl von GKV (Abschn. 3) als auch von PKV (Abschn. 4) analysiert. Abschn. 5 beschreibt die Effekte des Nebeneinanders von GKV und PKV. In Abschn. 6 werden die Reformoptionen für die Weiterentwicklung des deutschen Krankenversicherungssystems diskutiert. Ein kurzes Fazit schließt diesen Beitrag ab.

2

Finanzierungsoptionen

In diesem Abschnitt wird einleitend die zentrale Funktion von Krankenversicherung erläutert.2 Im Anschluss wird das Phänomen der adversen Selektion diskutiert, das auf unregulierten Krankenversicherungsmärkten regelmäßig zu Marktversagen führt. Abschließend werden unterschiedliche Möglichkeiten zur Kalkulation von Beiträgen bzw. Prämien analysiert. Die Funktion von Krankenversicherung liegt primär in der finanziellen Absicherung gegen das Auftreten hoher Kosten aufgrund von Krankheit. Diese finanzielle Schutzfunktion ist aus drei Gründen von besonderer Bedeutung. Erstens ist der Eintritt von Krankheit unsicher und im Regelfall unvorhersehbar. Zweitens können, ..., insbesondere beim Auftreten lebensbedrohlicher akuter Erkrankungen – die Kosten katastrophal hoch sein, so dass Individuen finanziell überfordert wären. Das Bewusstsein für diese Tatsache ist in den meisten entwickelten Industrieländern nicht sehr ausgeprägt, weil diese in der Regel über einen umfassenden Schutz vor finanzieller Überforderung verfügen. Im Krankenversicherungs-

2

Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Finanzierung von gesundheitlicher Versorgung durch unterschiedliche Krankenversicherungssysteme. Im internationalen Vergleich ist die Steuerfinanzierung gesundheitlicher Versorgung mindestens ebenso bedeutsam. Diese Finanzierungsoption kann nur im Abschn. 6.1 kurz angesprochen werden.

system der USA mit einem hohen Ausmaß von Nicht- und Unterversicherung und außerordentlich hohen Gesundheitsausgaben gilt jedoch die Belastung durch Ausgaben für die gesundheitliche Versorgung als wichtigste Ursache für das Auftreten privater Insolvenzverfahren. Zudem sind die finanziellen Zugangsbarrieren zu gesundheitlicher Versorgung im internationalen Vergleich dort außerordentlich hoch (Schoen et al. 2013). Drittens ist als Konsequenz aus den beiden oben genannten Gründen die Verteilung von Gesundheitsausgaben in der Bevölkerung extrem schief verteilt. Ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung verursacht zu jedem gegebenen Zeitpunkt einen Großteil der entstehenden Ausgaben. Als Faustregel gilt, dass 20 % der Bevölkerung etwa 90 % der Ausgaben verursachen (Greß und Wasem 2017). Umgekehrt bedeutet dies, dass die verbleibenden 80 % der Bevölkerung nur etwa 10 % der Ausgaben verursachen. Jedes funktionierende Krankenversicherungssystem ist darauf angewiesen, dass zur Gewährleistung der finanziellen Schutzfunktion nicht nur die mehr oder weniger schwer erkrankten 20 % der Bevölkerung über einen Versicherungsschutz verfügen. Eine nachhaltige Finanzierung ist nur dann möglich, wenn auch die mehr oder weniger gesunden 80 % der Bevölkerung versichert sind. Andernfalls käme es zu einer Marktsegmentierung in eher kranke Versicherte und in eher gesunde Versicherte. Die finanzielle Schutzfunktion von Krankenversicherung wäre in einer solchen Situation nicht gewährleistet, weil die Prämien bzw. Beiträge in den unterschiedlichen Segmenten unterschiedlich hoch sein müssten. In unregulierten Krankenversicherungsmärkten ist eine solche Marktsegmentierung der Regelfall. Der Grund hierfür liegt in dem Phänomen der adversen Selektion (Greß und Wasem 2017). Die Versicherten haben erstens grundsätzlich bessere Informationen über ihren Gesundheitszustand als die Versicherer. Zweitens bevorzugen kranke Versicherte einen Versicherungsschutz mit umfassenden Leistungspaketen und niedrigen Selbstbeteiligungen. Bei gesunden Versicherten ist es genau umgekehrt. Versicherer mit großzügigen Leistungsangeboten ziehen daher überwiegend kranke Versicherte an. Diese Tarife sind für gesunde Versicherte nicht interessant, so dass nach und nach die angesprochene Marktsegmentierung entsteht. In der Konsequenz entsteht eine Prämienspirale, die einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz für Kranke verhindert. Zur Verhinderung eines solches Marktversagens ist es daher von zentraler Bedeutung, den Leistungskatalog weitgehend zu vereinheitlichen und Vorgaben zur Kalkulation von Beiträgen und Prämien zu machen (s. unten). Zur Verhinderung einer Marktsegmentierung ist zudem eine umfassende und durchsetzbare Versicherungspflicht notwendig. Ein anschauliches Beispiel für das Phänomen der adversen Selektion lässt sich aktuell im Krankenversicherungssystem der USA finden. Wesentliche Elemente der Krankenversicherungsreform im Rahmen des Affordable Care Acts (ACA) der Obama-Regierung waren die Einführung einer

62

Finanzierung der Gesundheitsversorgung

751

Tab. 1 Kalkulation von Beiträgen bzw. Prämien im internationalen Vergleich

GKV D PKV D Schweiz Niederlande

Kalkulation von Beiträgen bzw. Prämien Einkommensabhängige Beiträge Risikoäquivalente Prämien Pauschalen Je zur Hälfte Pauschalen und einkommensabhängige Beiträge

Ex-post Risikosolidarität Ja Ja Ja Ja

Ex-ante Risikosolidarität Ja Nein Ja Ja

Einkommenssolidarität Ja Nein Nein* Nein*/Ja

*Steuerfinanzierte Zuschüsse für einkommensschwache Versicherte

Versicherungspflicht und von sog. Versicherungsbörsen. An den Versicherungsbörsen sollen Individuen bezahlbaren Versicherungsschutz erwerben können. Für die angebotenen Krankenversicherungen gelten umfangreiche Vorgaben zur Standardisierung des Leistungspakets und der Prämien. Im Grundsatz sind damit drei zentrale Voraussetzungen zu Verhinderung einer Marktsegmentierung erfüllt. Allerdings können sich gesunde Individuen mit einer Strafzahlung von der Versicherungspflicht freikaufen. Diese Strafzahlung lag schon bei der Einführung des ACA deutlich unter den niedrigsten Prämien an den Versicherungsbörsen. Als Konsequenz haben sich weniger gesunde Individuen versichert, als dies von Versicherern kalkuliert war (Hajen 2017). Dies hat die oben angesprochene Prämienspirale in Kraft gesetzt, weil sich bei steigenden Prämien noch weniger gesunde Individuen versichern. Diese Prämienspirale wird ab dem Jahr 2019 noch weiter verschärft werden, da die TrumpRegierung im Rahmen der vom Kongress verabschiedeten Steuerreform der Aufhebung der Versicherungspflicht zugestimmt hat. Ein zentrales Gestaltungselement von Krankenversicherungssystemen sind Vorgaben zur Kalkulation von Beiträgen bzw. Prämien.3 Das Ziel bei der Kalkulation von Beiträgen bzw. Prämien liegt nicht nur in der Vermeidung adverser Selektion zur Sicherstellung der finanziellen Schutzfunktion von Krankenversicherung. Ein weiteres Ziel kann auch darin liegen, ein faires bzw. solidarisches Finanzierungssystem zu gewährleisten. Allen Krankenversicherungssystemen ist gemeinsam, dass zumindest ein Mindestgrad an Risikosolidarität erreicht werden soll. Unter Risikosolidarität ist die Umverteilung zu Lasten von gesunden Versicherten und zu Gunsten von kranken Versicherten zu verstehen. Zentral ist die Unterscheidung in ex-post Risikosolidarität und ex-ante Risikosolidarität. Ex-post Risikosolidarität bezeichnet die Umverteilung von unerwartet Gesunden zu unerwartet Kranken in einer Krankenversicherung und beinhaltet damit lediglich das Mindest-

3 Die Begriffe Beiträge und Prämien werden häufig synonym verwendet – auch in den Rechtsvorschriften für die PKV findet sich teilweise der Begriff Beitrag. Zur besseren Unterscheidbarkeit wird in diesem Text – wie in anderen Standardwerken auch (Simon 2017) – der Begriff Beitrag nur für die GKV verwendet. Der Begriff Prämie bleibt der PKV vorbehalten.

maß an Umverteilung im Rahmen der Versicherungsfunktion. Die Kalkulation risikoäquivalenter Prämien im Rahmen der privaten Krankenvollversicherung in Deutschland (Abschn. 4.1) erfüllt dieses Mindestmaß an Umverteilung, weil die Prämien nach Abschluss des Versicherungsvertrags bei Neuerkrankungen nicht individuell ansteigen dürfen. Steigende Prämien sind zwar unter bestimmten Voraussetzungen möglich – dieser Anstieg gilt dann aber für alle Versicherten in dem betroffenen Risikopool bzw. Tarif. Ex-ante Risikosolidarität liegt dann vor, wenn zusätzlich zur ex-post Risikosolidarität auch noch eine Umverteilung von erwartbar Gesunden zu erwartbar Kranken vorliegt. Diese zusätzliche Umverteilungsdimension ist immer dann gewährleistet, wenn kranke Individuen bei Vertragsabschluss keine Risikoaufschläge bezahlen müssen. Soziale Krankenversicherungssysteme können nur als solche bezeichnet werden, wenn beide Dimensionen von Risikosolidarität vorliegen. Neben der Risikosolidarität kann in Krankenversicherungssystemen als weitere Umverteilungsdimension die Einkommenssolidarität erreicht werden. Einkommenssolidarität bezeichnet die Umverteilung zu Gunsten der Einkommensschwachen zu Lasten der Einkommensstarken und wird – wie in der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland – durch die Erhebung einkommensabhängiger Beiträge gewährleistet. Das Vorliegen von Einkommenssolidarität ist jedoch kein zwingendes Merkmal einer Krankenversicherung – zumal die Umverteilung von Einkommen auch durch das Steuersystem organisiert werden kann. Tab. 1 zeigt exemplarisch die unterschiedlichen Optionen bei der Kalkulation von Beiträgen bzw. Prämien in vier ausgewählten Krankenversicherungssystemen. Die GKV in Deutschland vereint durch die Erhebung einkommensabhängiger Beiträge beide Dimensionen von Risikosolidarität und Einkommenssolidarität. Durch die risikoäquivalenten Prämien in der PKV in Deutschland wird lediglich ex-post Risikosolidarität gewährleistet. Im Krankenversicherungssystem der Schweiz werden Pauschalen erhoben, die unabhängig vom individuellen gesundheitlichen Risiko berechnet werden. Einkommenssolidarität wird außerhalb des Krankenversicherungssystems durch steuerfinanzierte Zuschüsse für einkommensschwache Versicherte sichergestellt. Das Krankenversicherungssystem der Niederlande wird durch einen Mix aus einkommensabhängigen Beiträgen und Pauschalen finanziert.

752

3

S. Greß

Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung

Nach der Darstellung grundsätzlicher Optionen in Krankenversicherungssystemen im vorherigen Abschnitt erfolgt in diesem Abschnitt die detaillierte Analyse der GKV-Finanzierung. Dazu wird zunächst auf die Grundsätze bei der Erhebung der Beiträge eingegangen. Im zweiten Teil dieses Abschnitts werden die Schwächen der GKV-Finanzierung analysiert.

3.1

Tab. 2 Finanzierung GKV 2018 (Gesundheitsfonds) (BVA 2017) Einnahmen und Ausgaben Beitragseinnahmen allgemeiner Beitragssatz Beiträge geringfügig Beschäftigte Bundeszuschuss Summe Einnahmen Summe Ausgaben Differenz Beitragspflichtige Einnahmen Rechnerischer durchschnittlicher Zusatzbeitragssatz

Betrag in Mrd. € 204,7 3,1 14,4 222,2 236,1 13,9 1,402 1,0 %

Kalkulation der Beiträge

Die Kalkulation der Beiträge in der GKV erfolgt grundsätzlich einkommensbezogen auf der Grundlage der sog. beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten. Diese beitragspflichtigen Einnahmen bestehen vor allem aus Arbeitsentgelten aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, Versorgungsbezügen (insbesondere Renten) und dem Einkommen freiwillig versicherter Selbstständiger. Im Unterschied zu abhängig Beschäftigten wird bei Selbstständigen die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Beitragsbasis zugrunde gelegt. Ansonsten bleiben bestimmte Einkommensarten – insbesondere Einkommen aus Vermögen – beitragsfrei. Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze in Höhe von aktuell 4425 EUR im Monat sind beitragsfrei. Auf die Gesamtheit der beitragspflichtigen Einnahmen werden zwei Beitragssätze zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in Anwendung gebracht. Der kasseneinheitliche allgemeine Beitragssatz wird gesetzlich festgelegt und paritätisch durch die Beschäftigten und die Arbeitgeber bzw. Rentenversicherungsträger finanziert. Aktuell, im Jahr 2018, beträgt dieser Beitragssatz 14,6 %. Die aufgebrachten Beiträge werden in den Gesundheitsfonds eingezahlt. Das den Gesundheitsfonds verwaltende Bundesversicherungsamt berechnet die Zuweisungen an die einzelnen Krankenkassen auf der Basis des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs. Dieser soll unterschiedliche Ausgabenrisiken als Konsequenz divergierender Morbiditätsstrukturen bei den einzelnen Krankenkassen kompensieren. Schätzungen für das Jahr 2018 gehen davon aus, dass durch den allgemeinen Beitragssatz rund 204,7 Mrd. EUR aufgebracht werden können. Hinzu kommen etwa 3,1 Mrd. EUR Einnahmen durch Beiträge auf die Einkommen von geringfügig Beschäftigten und ein steuerfinanzierter Bundeszuschuss in Höhe von 14,4 Mrd. EUR (Tab. 2). Die Krankenkassen können ihre Ausgabenverpflichtungen allerdings nicht alleine aus den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds decken. Für das Jahr 2018 verbleibt eine Finanzierungslücke in Höhe von geschätzt knapp 14 Mrd. EUR. Diese Finanzierungslücke müssen die einzelnen Krankenkassen

durch einen kassenindividuellen Zusatzbeitragssatz schließen. Dieser wird von den einzelnen Krankenkassen festgelegt und stellt damit den zentralen preislichen Wettbewerbsparameter dar. Rechnerisch beträgt aktuell im Jahr 2018 der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz 1,0 %. Bislang ist der Zusatzbeitragssatz ausschließlich von den Versicherten zu finanzieren. Nach den Verabredungen im Koalitionsvertrag von Union und SPD ist auch der Zusatzbeitragssatz ab dem Jahr 2019 wieder paritätisch zu finanzieren (Greß 2018b). Im Gegensatz zur privaten Krankenversicherung ist die GKV umlagefinanziert. Das bedeutet, dass die Ausgaben des aktuellen Jahres auch durch die Einnahmen des aktuellen Jahres finanziert werden müssen. Es ist nicht vorgesehen, dass der Gesundheitsfonds oder die einzelnen Krankenkassen in nennenswertem Umfang finanzielle Reserven bilden. Lediglich kurzfristige Ausgabenspitzen sollen durch die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds und Rücklagen der einzelnen Krankenkassen ausgeglichen werden. Zum Ende des Jahres 2017 hatte der Gesundheitsfonds eine Liquiditätsreserve von rund 9 Mrd. EUR gebildet. Die einzelnen Krankenkassen verfügten über Rücklagen in Höhe von etwa 19 Mrd. EUR.4 Diese relativ hohen Reserven sind auf eine schon seit Jahren außerordentlich positive konjunkturelle Entwicklung zurückzuführen, die zu steigenden Löhnen und Gehältern sowie zu einer Rekordzahl an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen geführt hat.

3.2

Schwächen der GKV-Finanzierung

Grundsätzlich ist die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung von Risiko- sowie Einkommenssolidarität geprägt und kann vor allem die finanzielle Schutzfunktion für die in der GKV versicherte Bevölkerung erfüllen. Dies wird auch dadurch deutlich, dass das Ausmaß an Selbstbeteiligungen mit rund 4 Mrd. EUR auch im internationalen Vergleich

Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.02.2018, S. 21: „Das Gesundheitssystem schwimmt in Geld.“

4

62

Finanzierung der Gesundheitsversorgung

753

Abb. 1 Beitragspflichtige Einnahmen und Ausgaben der GKV. (Eigene Berechnungen auf der Basis von Daten des Bundesministeriums für Gesundheit und des Statistischen Bundesamts)

relativ niedrig ist. Nichtsdestoweniger weist die einkommensabhängige Finanzierung in der GKV einige substanzielle Schwächen auf, die zu Nachhaltigkeits- und Gerechtigkeitsdefiziten führen.5 Erstens ist die Wirkung der Beitragsbemessungsgrenze problematisch. Sämtliche Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze bleiben beitragsfrei. Ökonomisch und vor allem juristisch wird die Existenz der Beitragsbemessungsgrenze damit begründet, dass sich der Zusammenhang zwischen Beitragszahlung und Leistung nicht völlig auflösen solle (Greß und Bieback 2014b). Jenseits der Beitragsbemessungsgrenze wirken Beiträge jedoch regressiv – die absolute Belastung durch Beiträge bleibt konstant und sinkt relativ mit steigendem Einkommen. Damit wird der Grundsatz der vertikalen Gerechtigkeit verletzt. Dieser besagt, dass höhere Einkommen auch höher belastet werden sollten. Die zweite Schwäche der Beitragsfinanzierung in der GKV besteht darin, dass die beitragspflichtigen Einnahmen bestimmte Einkommensarten überhaupt nicht berücksichtigen – insbesondere Einkommen aus Vermögen. Diese enge Bemessungsgrundlage führt vor allem dazu, dass der Grundsatz der horizontalen Gerechtigkeit verletzt wird. bedeutet, dass gleich hohe Einkommen gleich hoch belastet werden sollten.

5 In diesem Abschnitt werden nur die Schwächen innerhalb der GKV-Finanzierung diskutiert. Für die aus dem Nebeneinander von GKV und PKV resultierenden Probleme vgl. Abschn. 5.1.

Dies lässt sich daran ill., dass bei gleich hohem Einkommen die Einkommensanteile aus Kapitalvermögen oder Immobilien unterschiedlich hoch sind. Die Einnahmen aus Vermögen und Vermietung bleiben beitragsfrei, während Einnahmen aus unselbstständiger Tätigkeit zumindest bis zur Beitragsbemessungsgrenze vollständig verbeitragt werden. Neben den genannten Gerechtigkeitsdefiziten führt die enge Beitragsbasis auch zu Nachhaltigkeitsdefiziten und einer strukturellen Einnahmeschwäche der GKV. Eine Erweiterung der Beitragsbasis – etwa durch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und die Verbeitragung weiterer Einkommensarten – könnte die Finanzierung der GKV auf eine deutlich breitere Basis stellen (Abschn. 6.3). Die Notwendigkeit hierzu wird durch Abb. 1 illustriert. In der Abbildung wird deutlich, dass die Ausgaben in der GKV im langfristigen Trend deutlich stärker steigen als die beitragspflichtigen Einnahmen. Neben der strukturellen Einnahmeschwäche haben sich in den letzten Jahren steigende Beitragsschulden als weiteres Problem der GKV-Finanzierung herauskristallisiert. Seit Einführung der Versicherungspflicht im Rahmen des GKV-WSG im Jahr 2007 können Krankenkassen säumige Versicherte nicht mehr kündigen. Von Zahlungsproblemen sind vor allem freiwillig versicherte Selbstständige betroffen. Für Selbstständige gilt eine Mindestbemessungsgrundlage für die beitragspflichtigen Einnahmen. Im Regelfall müssen die Krankenkassen aufgrund der gesetzlichen Vorgaben von einem fiktiven Mindesteinkommen ausgehen, das sich aktuell im

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S. Greß

Jahr 2018 auf 2283,75 EUR monatlich beläuft. Selbstständige müssen Beiträge auf dieses fiktive Mindesteinkommen entrichten, selbst wenn das real erzielte Einkommen deutlich darunterliegen sollte. Säumige Versicherte verlieren ihren vollen Leistungsanspruch und erhalten nur Leistungen bei akuten Erkrankungen, Schmerz und im Zusammenhang mit Geburten. Den vollen Leistungsanspruch erhalten die betroffenen Versicherten erst wieder bei Begleichung der Beitragsschulden. Im Jahr 2017 hatten die gesetzlichen Krankenkassen Beitragsschulden in Höhe von rund 6 Mrd. EUR angehäuft. Mindestens ebenso schwerwiegend ist die Tatsache, dass für die betroffenen Versicherten wegen des geringeren Leistungsanspruchs die finanzielle Schutzfunktion von Krankenversicherung zumindest teilweise ausgehöhlt wird. Diese Problematik soll nach den Verabredungen des Koalitionsvertrags zumindest teilweise durch eine Senkung des fiktiviven Mindesteinkommen für Selbständige auf 1038 EUR pro Monat abgesenkt wird (Greß 2018b).

4

Finanzierung der privaten Krankenversicherung

Nach der Analyse der GKV-Finanzierung im vorherigen Abschnitt folgt in diesem Abschnitt die Beschreibung der Finanzierung in der privaten Krankenversicherung. Dazu wird zunächst auf die Grundsätze bei der Kalkulation der Prämien eingegangen. Im zweiten Teil dieses Abschnitts werden die Schwächen der PKV-Finanzierung analysiert. Dabei wird nur die private Krankenvollversicherung betrachtet. Private Zusatzversicherungen bleiben in der Darstellung außen vor.

4.1

Kalkulation der Prämien

Die meisten Versicherten sind in der PKV in den sog. Wahltarifen versichert. Die vertraglich vereinbarten Leistungen in diesen Tarifen müssen nach § 146 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) einen gesetzlichen Versicherungsschutz ersetzen können und dürfen nur nach oben von dieser Mindestanforderung abweichen. Die Prämien in den Wahltarifen werden grundsätzlich nach dem Äquivalenzprinzip kalkuliert. Das bedeutet, dass die Prämien bei Vertragsabschluss in Abhängigkeit vom gesundheitlichen Risiko kalkuliert werden. Risikozuschläge sind jedoch nur bei Vertragsabschluss zulässig – ein erneuter Risikozuschlag nach einer nicht absehbaren Verschlechterung des Gesundheitszustands während der Laufzeit des Versicherungsschutzes ist nicht möglich. Eine Besonderheit der Prämienkalkulation in der deutschen privaten Krankenvollversicherung besteht darin, dass sie „nach Art der Lebensversicherung“ (§ 146 VAG) betrieben werden muss. Das bedeutet, dass die Prämien der priva-

Tab. 3 Versicherte in der PKV außerhalb von Wahltarifen 2016 (Verband der privaten Krankenversicherung 2017) Standardtarif Basistarif Notlagentarif

Anzahl Versicherte 47.300 30.300 103.200

In % der Versicherten 0,5 0,3 1,2

ten Krankenvollversicherung nach dem Kapitaldeckungsverfahren kalkuliert werden müssen. Ein Teil der kalkulierten Prämien wird im jungen Lebensalter der Versicherten nicht für die Deckung der zu erwarteten Behandlungskosten verwendet, sondern am Kapitalmarkt angelegt. Diese sog. Alterungsrückstellungen werden im höheren Lebensalter sukzessive aufgelöst, so dass Prämienanstiege aufgrund der mit dem Lebensalter steigenden Behandlungskosten geglättet werden. Im Idealfall bleiben durch diesen Mechanismus die kalkulierten Prämien für die Versicherten lebenslang konstant. In den vertraglich vereinbarten Wahltarifen ist die weit überwiegende Mehrheit der privat krankenversicherten Personen in Deutschland versichert. Ein kleiner Teil der Versicherten verfügt über einen Versicherungsschutz im Standardtarif, im Basistarif und im Notlagentarif (Tab. 3). Eine Einschreibung in den Standardtarif ist für bis zum Jahr 2008 in die PKV gewechselte Versicherte möglich und soll einen bezahlbaren Versicherungsschutz für privat Krankenversicherte mit einem Lebensalter von über 55 Jahren gewährleisten. Der Standardtarif wurde im Jahr 2009 vom Basistarif ergänzt. In diesem Tarif dürfen keine Risikozuschläge kalkuliert werden. Die Prämien dürfen außerdem den Höchstbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung nicht überschreiten. Für die Versicherer gilt außerdem ein Kontrahierungszwang. Mit dem Basistarif soll gewährleistet werden, dass in der PKV versicherungspflichtige Personen mit gesundheitlichen Vorerkrankungen einen bezahlbaren Versicherungsschutz finden können. Dem Notlagentarif nach § 153 VAG werden säumige Versicherte zwangsweise zugewiesen. Im Notlagentarif werden nur Aufwendungen zur Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft erstattet. Diese Aufwendungen werden teilweise durch die Auflösung von Alterungsrückstellungen finanziert. Eine Rückkehr in den regulären Tarif ist – analog zu den Regelungen in der GKV – erst nach Rückzahlung der Prämienrückstände möglich.

4.2

Schwächen der PKV-Finanzierung

Das oben beschriebene Kalkulationsmodell der privaten Krankenversicherung hat einige zentrale Schwächen. Wie erwähnt führt die Anlage der Alterungsrückstellungen auf dem Kapitalmarkt im Idealfall zu lebenslang konstanten Prämien, weil hierdurch die mit steigendem Lebensalter steigen-

62

Finanzierung der Gesundheitsversorgung

den Gesundheitsausgaben finanziert und das Prämienwachstum mit steigendem Lebensalter geglättet wird. Dieser Idealfall ist allerdings nicht voraussetzungslos. Zu den zentralen Voraussetzungen für diese Prämienglättung zählen konstante Ausgaben für die gesundheitliche Versorgung und die Erwirtschaftung des kalkulierten Rechnungszinses. Diese Voraussetzungen werden jedoch nur sehr eingeschränkt erfüllt. Das Ausgabenwachstum in der privaten Krankenversicherung wird vor allem durch Vergütungsanreize für die Leistungserbringer angetrieben. In der ambulanten ärztlichen Versorgung erhalten Ärzte für die gleiche Leistung wie in der gesetzlichen Krankenversicherung eine im Durchschnitt doppelt so hohe Vergütung. Zudem gibt es im Gegensatz zur GKV keine Mengenbeschränkung für die erbrachten Leistungen. Konsequenzen sind ein hohes Ausgabenwachstum für ambulante Ausgaben in der PKV und entsprechende Prämiensteigerungen. Die Ausgabenentwicklung in PKV und GKV hat sich jedoch in den letzten Jahren angeglichen. Dies ist nicht nur ein Indikator dafür, dass das Potenzial für angebotsinduzierte Nachfrage durch Mengensteigerungen in der PKV ausgereizt scheint. Zudem hat die GKV die Vergütung in der ambulanten ärztlichen Versorgung deutlich verbessert. Eine weitere Schwäche im Kalkulationsmodell der PKV besteht in der Abhängigkeit vom Kapitalmarkt. Zur Stabilisierung der Prämien sind die privaten Krankenversicherer auf auskömmliche Erträge bei der Anlage der Alterungsrückstellungen angewiesen. Diese Verzinsung ist allerdings – verursacht durch die Niedrig- bzw. Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank – in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2017 konnte nach Angaben der Bundesregierung erstmals keiner der privaten Krankenversicherer den kalkulierten Rechnungszins von 3,5 % p. a. erreichen (Deutscher Bundestag 2018). Erwirtschaften die privaten Krankenversicherer einen Prozentpunkt weniger Zinsen für die am Kapitalmarkt angelegten Alterungsrückstellungen, so müssen sie ihre Prämien um rund 10 % erhöhen. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren deutlich verschärfen, wenn die privaten Versicherer vermehrt niedrigverzinste Papiere in ihr Portfolio aufnehmen müssen. Die Kalkulation von Alterungsrückstellungen führt in Kombination mit weiteren Besonderheiten des Kalkulationsmodells zu einer außerordentlich geringen Wechselmöglichkeit für Versicherte innerhalb des PKV-Systems. Die vor dem Jahr 2009 abgeschlossenen Tarife sind so kalkuliert, dass die Alterungsrückstellungen bei einem Wechsel des Versicherten zu einem anderen privaten Krankenversicherer im alten Tarif verbleiben müssen. Das macht einen Wechsel unattraktiv, da beim aufnehmenden Versicherer die Alterungsrückstellungen neu aufgebaut werden müssen. Erst seit dem Jahr 2009 ist es möglich, einen Großteil der Alterungsrückstellungen bei einem Wechsel innerhalb der PKV zu transferieren. Diese Regelung hat allerdings die Wechselintensität in der PKV nicht verstärkt, weil bei einem Wechsel zu einem anderen

755 Tab. 4 Versicherte in der privaten Krankenvollversicherung 2010–2016 (Deutscher Bundestag 2018) Unternehmen Debeka DKV Axa Allianz Central Branche

2010 2149,0 911,3 737,6 694,0 509,0 8916,3

2016 2335,7 795,6 792,7 618,3 330,6 8629,7

Ausweis der Versicherten bei den fünf PKV-Unternehmen mit den im Jahr 2010 größten Marktanteil (in Tsd.)

Versicherer eine erneute Gesundheitsprüfung erfolgt (Monopolkommission 2017). Als Konsequenz der Schwächen im Kalkulationsmodell der privaten Krankenversicherung sinkt der Marktanteil der PKV. Die Zahl der privat versicherten Personen ist von 8,9 Mio. Personen im Jahr 2010 auf 8,6 Mio. Personen im Jahr 2016 gesunken. Alleine im Jahr 2016 hat die PKV per saldo 166.000 Versicherte verloren. Zugewinne können die privaten Krankenversicherer nur noch bei den Beamten verbuchen – das wird durch den steigenden Marktanteil der in diesem Versichertensegment traditionell starken Debeka deutlich (Tab. 4).

5

Effekte des dualen Krankenversicherungssystems von GKV und PKV

In diesem Abschnitt werden die Auswirkungen der Parallelität zweier Krankenversicherungssysteme in Deutschland analysiert. Diese bestehen erstens in der Schwächung des Risikopools in der GKV und zweitens in massiven Fehlanreizen bei der gesundheitlichen Versorgung der beiden Versichertengruppen.

5.1

Doppelte Risikoselektion zu Lasten der GKV

Die Wechselmöglichkeiten zwischen den beiden Versicherungssystemen sind sehr stark eingeschränkt. Nur ein begrenzter Personenkreis kann überhaupt in die private Krankenvollversicherung wechseln. Der Versichertenbestand in der privaten Krankenvollversicherung besteht daher im Wesentlichen aus drei Personengruppen. Erstens besteht dieser Personenkreis aus Erwerbstätigen mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, die im Jahr 2018 bei 4950 EUR pro Monat liegt. Zweitens können sich Selbstständige und Freiberufler in der PKV versichern. Der größte Personenkreis besteht drittens aus beihilfeberechtigten Beamten, die in der privaten Krankenversicherung die nicht

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durch die steuerfinanzierte Beihilfe abgedeckten Behandlungskosten versichern. Im Jahr 2016 waren 49,4 % der Versicherten in der PKV beihilfeberechtigt (Verband der privaten Krankenversicherung 2017). Genauso ist es umgekehrt nur bei Vorliegen sehr restriktiver Bedingungen möglich, aus der PKV zurück in die gesetzliche Krankenversicherung zu wechseln. Dies ist im Grundsatz nur möglich, wenn erneut die Bedingungen für eine Versicherungspflicht erfüllt sind. Das ist etwa der Fall, wenn Erwerbstätige wieder ein Einkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze erzielen oder Selbstständige eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen. Ab einem Lebensalter von 55 Jahren ist ein Wechsel von der PKV in die GKV grundsätzlich ausgeschlossen. Damit will der Gesetzgeber individuelle Optimierungsstrategien von privat Krankenversicherten verhindern, für die ein Wechsel in die GKV im Alter bei steigenden Prämien attraktiv sein könnte. Generell sind die Wechselanreize zwischen den beiden Versicherungssystemen sehr stark durch die oben beschriebenen Rahmenbedingungen bei der Kalkulation von Beiträgen und Prämien bestimmt. Ein Wechsel in die PKV ist vor allem für gesunde Personen interessant, die dort bei Vertragsabschluss keine Risikozuschläge zahlen müssen. Ähnliches gilt für einkommensstarke Personen, weil diese in der PKV im Gegensatz zur GKV keine einkommensbezogenen Beiträge zahlen. Insofern ist es nicht überraschend, dass das durchschnittliche Einkommen von Versicherten in der PKV mehr als doppelt so hoch ist als das Einkommen von Versicherten in der GKV (Haun 2013). Dies ist für die Versichertengemeinschaft in der GKV insofern problematisch, weil dieser zumindest im Durchschnitt sehr einkommensstarke Personenkreis für die Finanzierung der GKV-Ausgaben nicht zur Verfügung steht. Verstärkt wird dieser Selektionseffekt dadurch, dass die PKV-Versicherten im Durchschnitt gesünder sind als die Versicherten in der GKV (Bünnings und Tauchmann 2015; Stauder und Kossow 2017). Auch dieser Befund ist nicht überraschend, weil ein Wechsel in die PKV für Personen mit Vorerkrankungen im Regelfall finanziell unattraktiv ist. Schließlich müssten diese in der PKV Risikozuschläge bezahlen. Demzufolge findet an der Grenze zwischen GKV und PKV eine doppelte Risikoselektion zu Lasten der Versichertengemeinschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung statt. Der Risikopool in der PKV ist nicht nur einkommensstärker, sondern auch gesünder als der Risikopool in der GKV. Diese doppelte Risikoselektion führt daher vor allem zu einer Schwächung der Finanzierungsbasis in der GKV.

5.2

Fehlanreize in der gesundheitlichen Versorgung

Das Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Versicherungssystemen führt nicht nur zu Verwerfungen auf der Finan-

zierungsseite. Es kommt zudem durch die unterschiedlichen Vergütungsmechanismen – vor allem bei ambulant tätigen Haus- und Fachärzten – zu Fehlanreizen bei der gesundheitlichen Versorgung. In der ambulanten ärztlichen Versorgung erhalten Ärzte für die gleiche Leistung wie in der gesetzlichen Krankenversicherung für Privatversicherte eine im Durchschnitt mehr als doppelt so hohe Vergütung (Walendzik et al. 2008). Zudem gibt es in der PKV im Gegensatz zur GKV keine Mengenbeschränkung für die erbrachten Leistungen. Als Konsequenz dieser unterschiedlichen Vergütungsstrukturen sind unterschiedliche Wartezeiten für die beiden Versichertengruppen vor allem in der fachärztlichen Versorgung gut dokumentiert. Gesetzlich Versicherte müssen mitunter deutlich länger auf einen Arzttermin warten als Privatversicherte (Roll et al. 2012). Zudem zeigen empirische Analysen, dass die Mengenbeschränkungen in der ambulanten ärztlichen Vergütung dazu führen, dass Ärzte am Ende des Quartals ihr Angebot für gesetzlich Versicherte verknappen (Himmel und Schneider 2017). Unklar sind jedoch die Auswirkungen der unterschiedlichen Vergütungssysteme auf die Versorgungsqualität in der ambulanten ärztlichen Versorgung. Die Anreize für gesetzlich Versicherte begünstigen eher eine Unterversorgung. Gleichzeitig führen die Anreize für privat Versicherte eher zu einer Überversorgung. Es gibt keine empirischen Erkenntnisse dazu, welcher Effekt per saldo überwiegt. Die Parallelität der Vergütungssysteme bietet jedenfalls keine gute Voraussetzung für eine bedarfsgerechte Versorgung der beiden Versichertengruppen. Empirisch gut belegt sind zudem die durch die unterschiedlichen Vergütungssysteme entstehenden allokativen Fehlanreize bei der Niederlassungsentscheidung. Die Wahrscheinlichkeit zur Niederlassung steigt mit dem Anteil der Privatpatienten in der jeweiligen Region (Sundmacher und Ozegowski 2016). Dieser Effekt bei einer Angleichung der Vergütungssysteme nicht völlig verschwindet, da die Regionen mit einem hohen Anteil von Privatpatienten auch im Hinblick auf andere für die Niederlassungsentscheidung wichtige Faktoren attraktiv sind. Nichtsdestoweniger sind die unterschiedlichen Vergütungssysteme auch in diesem Zusammenhang ein zentrales Hindernis für eine bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung.

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Reformoptionen

Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass beide Versicherungssysteme systemimmanente Schwächen aufweisen. In der GKV ist dies vor allem die strukturelle Einnahmeschwäche, die derzeit alleine aufgrund der außerordentlich guten Konjunkturentwicklung nicht im Vordergrund der gesundheitspolitischen Debatte steht. Außerdem führen die teilweise sehr widersprüchlichen Regelungen bei der Beitragserhebung zu Gerechtigkeitsdefiziten. In der PKV lassen vor allem die Ausgabenentwicklung und die Abhän-

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Finanzierung der Gesundheitsversorgung

gigkeit vom Kapitalmarkt zunehmend Zweifel an der langfristigen Nachhaltigkeit der Prämienfinanzierung aufkommen. Zudem führt die Dualität der beiden Versicherungssysteme zu einer weiteren Schwächung der GKV-Finanzierungsbasis und Fehlanreizen bei der gesundheitlichen Versorgung. In diesem Abschnitt werden drei Reformansätze diskutiert, die die oben angesprochenen Defizite ganz oder teilweise beheben sollen. Der Ausbau der Steuerfinanzierung soll vor allem die Nachhaltigkeit und die Gerechtigkeit der GKV-Finanzierung verbessern. Dieses Ziel hat auch das Modell einer einkommensunabhängigen Finanzierung in der GKV. Die Einführung von pauschal finanzierten Beiträgen allerdings auch das Geschäftsmodell der PKV noch weiter gefährdet. Die Integration der beiden Versicherungssysteme und die Behebung der Finanzierungsdefizite in der GKV sind die zentralen Ziele der Einführung einer Bürgerversicherung.

6.1

Ausbau der Steuerfinanzierung

Die Ausgaben der GKV werden zu einem nennenswerten Anteil aus Steuermitteln finanziert. Im Jahr 2018 beträgt der aus dem Bundeshaushalt finanzierte Bundeszuschuss 14,5 Mrd. EUR. Der Bundeszuschuss zur GKV ist eine vergleichsweise neue Entwicklung, denn bis zum Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) im Jahr 2004 wurde die GKV ausschließlich aus Beiträgen finanziert. Ein steuerfinanzierter Bundeszuschuss – wie etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung oder der Arbeitslosenversicherung – war bis dahin ein Fremdkörper im System der GKV-Finanzierung. Der Bund beteiligt sich seit 2004 gemäß § 221 SGB V zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen an der GKV-Finanzierung. Seit Einführung des Bundeszuschusses im Jahr 2004 haben unterschiedliche Bundesregierungen die Höhe des Bundeszuschusses mehrfach verändert. Am höchsten war der Finanzierungsanteil mit immerhin knapp 10 % der Gesamtausgaben im Jahr 2010. Es gibt durchaus gute Argumente für eine Teilfinanzierung der Ausgaben in der GKV durch Steuermittel. Zumindest bei der Erhebung der Lohn- und Einkommensteuer ist das Prinzip der Leistungsfähigkeit deutlich stringenter umgesetzt als in der Beitragsfinanzierung der GKV. Die Einkommensteuer verläuft bei höheren Einkommen mindestens proportional zum Einkommen, während die Beitragsbemessungsgrenze für einen regressiven Effekt sorgt. Selbst die Mehrwertsteuer wirkt wegen der vielfältigen Ausnahmen vom vollen Mehrwertsteuersatz nur mäßig regressiv. Dieser Umverteilungseffekt der Steuer wird noch dadurch verstärkt, dass auch privat versicherte Individuen sich der Steuerzahlung nicht entziehen können. In der Summe ist die durch Steuerfinanzierung induzierte vertikale Gerechtigkeit damit höher als im derzeitigen Beitragssystem (Härpfer et al. 2009).

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Aspekte der vertikalen Verteilungsgerechtigkeit können deshalb den Ausbau der Steuerfinanzierung durchaus begründen. Weniger positiv fällt dagegen die Bewertung der Steuerfinanzierung im Hinblick auf Stetigkeit und Verlässlichkeit aus. Kritiker haben schon bei Einführung des Bundeszuschusses mit Verweis auf die Investitionsfinanzierung von Krankenhäusern darauf hingewiesen, dass die Erfahrungen mit der Finanzierung aus Steuermitteln im Bereich der Gesundheitsversorgung nicht uneingeschränkt positiv sind. Gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt sind die Aufwendungen der Bundesländer für die Investitionsfinanzierung von 0,24 % im Jahr 1991 auf aktuell unter 0,10 % gesunken (DKG 2017). Diese Befürchtungen wurden durch die starken Schwankungen bei der Höhe des Bundeszuschusses seit der Einführung im Jahr 2004 zumindest teilweise bestätigt (Greß und Bieback 2014a). Die Ursachen für diese Schwankungen liegen zum einen darin, dass Steuern im Gegensatz zu Beiträgen dem NonAffektationsprinzip unterliegen. Nach § 7 des Haushaltsgrundsätzegesetzes dienen alle Einnahmen als Deckungsmittel für alle Ausgaben. Mit anderen Worten unterliegen Steuern grundsätzlich keiner Zweckbindung. Mit diesem Grundsatz soll einerseits die Handlungsfähigkeit politischer Akteure sichergestellt werden. Andererseits bedeutet die Einhaltung des Grundsatzes aber auch, dass unterschiedliche Ausgabenzwecke regelmäßig untereinander konkurrieren. Eine weitere Ursache für die angesprochenen Schwankungen ist die Tatsache, dass die Höhe des Bundeszuschusses keiner klaren Regelbindung unterliegt. Von den versicherungsfremden Leistungen betragen allein die familienpolitischen Ausgaben für die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und nicht-erwerbstätigen Ehegatten etwa 30 Mrd. EUR. Der tatsächlich gezahlte Bundeszuschuss finanziert weniger als die Hälfte dieser Summe. Eine präzisere Regelbindung könnte die Schwankungsbreite des Bundeszuschusses reduzieren. Dazu müssten jedoch die Kernaufgaben der Sozialversicherung eindeutig definiert und die Zuweisungen an die Krankenkassen zudem dynamisiert werden. Dies ist etwa in den Niederlanden geschehen, wo der Steuerzuschuss direkt an die Aufwendungen der Krankenversicherer für Kinder und Jugendliche gebunden ist. Von einer präziseren Formulierung hat der Gesetzgeber in Deutschland jedoch Abstand genommen.

6.2

Pauschalfinanzierung

Neben der im Folgeabschnitt diskutierten Bürgerversicherung stellt das Modell der Kopfpauschale einen grundsätzlichen Lösungsansatz für die Defizite der Beitragsfinanzierung in der GKV und indirekt auch für die unerwünschten Effekte des Nebeneinanders zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung dar. Das Finanzierungsmodell der

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Kopfpauschale besteht vor allem aus zwei Komponenten. Erstens werden die Beiträge in der GKV nach diesem Finanzierungsmodell nicht mehr einkommensabhängig kalkuliert Die Beiträge würden pauschal erhoben werden und wären für alle Versicherten einer Krankenkasse gleich hoch – unabhängig vom jeweiligen Einkommen. Unterschiede in den Kopfpauschalen zwischen den Krankenkassen würden verbleiben und wären zudem auch erwünscht, um den Preiswettbewerb zwischen den Krankenkassen zu beleben. Zweitens würde der Einkommensausgleich aus dem System der gesetzlichen Krankenversicherung in das Steuersystem verlagert werden. Einkommensschwache Versicherte hätten demnach Anspruch auf steuerfinanzierte Transferzahlungen. In der Konsequenz bliebe die Risikosolidarität in der GKV unverändert erhalten, weil die Beitragskalkulation weiterhin unabhängig vom gesundheitlichen Risiko bliebe. Die Einkommenssolidarität würde dagegen zukünftig ausschließlich über steuerfinanzierte Transfers organisiert werden. Vorbild für dieses Modell ist vor allem die Finanzierung der Krankenversicherung in der Schweiz – in den Niederlanden werden die Hälfte der Beiträge pauschal erhoben (Tab. 1). Das Finanzierungsmodell der Kopfpauschale hat vor allem zwei zentrale Vorteile. Erstens ist in diesem Beitrag mehrfach deutlich geworden, dass das derzeitige System der Beitragsfinanzierung in der GKV an mehreren Stellen ausgesprochen widersprüchlich ausgestaltet ist und dadurch eine Reihe von Gerechtigkeitsdefiziten aufweist. Eine Einkommensumverteilung aus Steuermitteln kann bei einer entsprechenden Ausgestaltung die Umverteilung zu Gunsten einkommensschwacher Versicherter deutlich zielgenauer organisieren als das derzeitige System der Beitragsfinanzierung. Zweitens würde die Einführung einer Kopfpauschale die Attraktivität der privaten Krankenvollversicherung insbesondere für einkommensstarke Personen deutlich reduzieren. Freiwillig Versicherte mit einem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze müssen derzeit in der GKV einen Beitrag in Höhe von rund 350 EUR finanzieren. Für freiwillig versicherte Selbstständige und Freiberufler läge der Beitrag bei hohen Einkommen sogar bei knapp 700 EUR, weil diese Personengruppe auch den Arbeitgeberbeitrag aufbringen muss. Eine Kopfpauschale läge – ja nach Ausgestaltung – bei maximal 300 EUR oder noch deutlich darunter. Damit wäre die private Krankenvollversicherung in den meisten Fällen nicht mehr wettbewerbsfähig – das Neugeschäft würde massiv einbrechen (Breyer 2012, 2018). Der zentrale Nachteil des Finanzierungsmodells Kopfpauschale besteht darin, dass eine Umsetzung im Kontext des deutschen Krankenversicherungssystems die Bereitstellung erheblicher zusätzlicher Steuermittel aus dem Bundeshaushalt erfordern würde. Diese Mittel sind notwendig, um die Transferzahlungen an die anspruchsberechtigen einkommensschwachen Versicherten zu finanzieren. Hierfür beträgt der Finanzierungsbedarf – je nach Anspruchsberechtigung

S. Greß

und Finanzierungsmodell – zwischen 30 und 40 Mrd. EUR pro Jahr (Lauterbach et al. 2009). Gemeinsam mit dem ebenfalls steuerfinanzierten Bundeszuschuss müssten damit rund 50 Mrd. EUR jährlich aus dem Bundeshaushalt zu Gunsten der GKV bzw. ihrer Beitragszahler finanziert werden. Ein solcher Finanzierungsbedarf ist ohne Steuererhöhungen nicht darstellbar. An dieser Hürde ist dann letztendlich auch die Umsetzung dieses Finanzierungsmodells gescheitet – trotz grundsätzlicher Sympathien für dieses Modell vor allem in der CDU und FDP. Auch der Versuch der Einführung einer sog. kleinen Kopfpauschale durch die Koalition von CDU/CSU und FDP im Rahmen des GKV-Finanzierungsgesetzes im Jahr 2010 ist letztlich gescheitert. In diesem Finanzierungsmodell sollte lediglich das zukünftige Ausgabenwachstum durch einkommensunabhängige Kopfpauschalen finanziert werden. Schon nach einer Legislaturperiode hat die große Koalition aus CDU/CSU und SPD die Einkommensabhängigkeit des Zusatzbeitrags zum Beginn des Jahres 2015 wiederhergestellt. Grund war nicht zuletzt die Erkenntnis, dass der durch die pauschalen Zusatzbeiträge deutlich verschärfte Preiswettbewerb den Qualitätswettbewerb dominiert hat (Schmitz und Ziebarth 2013).

6.3

Bürgerversicherung

Die Integration der beiden Versicherungssysteme ist das Kernelement einer Bürgerversicherung. Zur Umsetzung bedarf es jedoch einer vergleichsweise breiten politischen Mehrheit. Zum einen müsste der Bundesgesetzgeber zu einem noch festzulegenden Stichtag den privaten Krankenversicherern das Neugeschäft für Angestellte und Selbstständige verschließen. Zum anderen müssen der Bundes- und sämtliche Landesgesetzgeber parallel den Zugang von Beamten zur privaten Krankenversicherung versperren. Parallel könnte den vor dem Stichtag bereits Privatversicherten ein zeitlich befristetes Wahlrecht zum Wechsel in die Bürgerversicherung eingeräumt werden – unter Mitnahme zumindest eines Teils der Alterungsrückstellungen (Greß 2018a). Als Konsequenz der Einführung einer Bürgerversicherung würde der dysfunktionale Systemwettbewerb und die doppelte Risikoselektion zu Lasten der Versichertengemeinschaft in der GKV beendet. Zudem würden die Steuerzahler in Bund und Ländern perspektivisch entlastet (Albrecht et al. 2016b). Als Konsequenz einer Angleichung der Vergütungssysteme insbesondere in der ambulanten ärztlichen Versorgung würden zudem die finanziellen Anreize für die bevorzugte Behandlung von Privatversicherten sowie zur Niederlassung in Regionen mit einem hohen Anteil von Privatversicherten entfallen. Bisher hat der massive Widerstand der vereinten Lobby aus Bundesärztekammer und privater Krankenversicherung

62

Finanzierung der Gesundheitsversorgung

die Einführung einer Bürgerversicherung immer wieder erfolgreich verhindert. Die dabei verwendeten Argumente werden allerdings durch ständige Wiederholung nicht glaubwürdiger. Letztlich werden durch die Existenz der privaten Krankenvollversicherung die Einkommensinteressen der niedergelassenen Ärzteschaft geschützt und ein weitgehend wettbewerbsfreier und damit vergleichsweise unproduktiver Wirtschaftszweig durch die Versicherten und Steuerzahler in ihrer Existenz gesichert.6 Insofern ist es auch nicht überraschend, dass die Einführung einer Bürgerversicherung in der Bevölkerung durchaus populär ist. Nach einer repräsentativen Befragung vom Januar 2018 befürworten 61 % aller Befragten dieses Reformmodell. Auch bei Anhängern von CDU und CSU liegt die Zustimmungsrate bei über 50 % – bei den Privatversicherten immerhin bei 40 %.7 Die strukturelle Einnahmeschwäche der GKV würde sich durch die schrittweise Integration von GKV und PKV erst langfristig verbessern. Von nach und nach wirksam werdenden Entlastungseffekten von bis zu 0,9 Beitragssatzpunkten (Rothgang und Domhoff 2017) müssen zudem noch etwaige Kompensationszahlungen für die niedergelassene Ärzteschaft abgezogen werden (Greß und Bieback 2014b). Zweites Kernelement einer Bürgerversicherung ist daher die schrittweise Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau in der gesetzlichen Rentenversicherung. Mit dieser Maßnahme würde die Finanzierung der GKV deutlich stärker als bisher an dem Prinzip der ökonomischen Leistungsfähigkeit orientiert werden. Gleichzeitig könnte der Beitragssatz um 0,8 Beitragssatzpunkte gesenkt werden – wovon insbesondere kleine und mittlere Einkommen profitieren werden (Rothgang und Domhoff 2017). Sozialpolitisch dringend geboten wäre auch das dritte Element einer Bürgerversicherung – die konsequente Verbeitragung von weiteren Einkommensarten. Bisher wird nur für freiwillig versicherte Selbstständige die gesamte ökonomische Leistungsfähigkeit bei der Beitragsberechnung zugrunde gelegt. In der Konsequenz kommt es zu Ungleichbehandlungen, wenn Einkünfte aus unterschiedlichen Quellen stammen. Die Heranziehung auch weiterer Einkommensarten zur Beitragsberechnung ist daher ein wichtiger Schritt, um die finanzielle Nachhaltigkeit der GKV-Finanzierung langfristig zu sichern und die strukturelle Einnahmeschwäche zu überwinden. Der Beitragssatz in der GKV könnte in der Konsequenz um bis zu 1,5 Prozentpunkte gesenkt werden

6 In der privaten Krankenversicherung sind bei knapp 9 Mio. Versicherten etwa 68.000 Personen beschäftigt (Albrecht et al. 2016a). Die Techniker-Krankenkasse als größte gesetzliche Krankenkasse beschäftigt bei etwa 10 Mio. Versicherten weniger als 14.000 Personen. 7 Vgl. Der Tagesspiegel vom 26.01.2018, S. 4: „Fast die Hälfte der Privatversicherten will die Bürgerversicherung.“

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(Rothgang und Domhoff 2017). Die Umsetzung kann zudem mit einem überschaubaren bürokratischen Aufwand durch die Finanzbehörden erfolgen.

7

Fazit

Das deutsche Krankenversicherungssystem ist durch die Parallelität der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung geprägt. Die GKV finanziert sich primär aus einkommensabhängigen Beiträgen und kann damit nicht nur Risiko-, sondern auch Einkommenssolidarität gewährleisten. Außerdem ist die GKV umlagefinanziert, so dass finanzielle Reserven im Grundsatz nur zum Ausgleich von kurzfristigen Ausgabenspitzen gebildet werden sollen. Sie erfüllt für etwa 90 % der Bevölkerung die finanzielle Schutzfunktion von Krankenversicherung, da sie den Zugang zu einem umfangreichen Leistungskatalog mit einem vergleichsweise geringen Anteil von privat zu finanzierenden Selbstbeteiligungen gewährt. Die Schwächen der GKV-Finanzierung liegen vor allem in Gerechtigkeits- und Nachhaltigkeitsdefiziten. Diese resultieren vor allem aus der relativ niedrigen Beitragsbemessungsgrenze und der Zentrierung der Beitragserhebung auf Einkommen aus unselbstständiger Arbeit. Diese strukturelle Einnahmeschwäche wird spätestens bei der nächsten konjunkturellen Eintrübung relevant werden. Im Gegensatz zur GKV kann die private Krankenvollversicherung durch die Orientierung am Äquivalenzprinzip nur ein Mindestmaß an Risikosolidarität gewährleisten. Europaweit einzigartig ist zudem, dass die Prämien in der PKV im Kapitaldeckungsverfahren kalkuliert werden müssen. Die Bildung von Alterungsrückstellungen soll in erster Linie den Prämienanstieg im Alter glätten. Dieses Kalkulationsprinzip impliziert allerdings auch eine Abhängigkeit vom Kapitalmarkt. Werden die kalkulierten Renditen nicht erwirtschaftet, müssen die privaten Krankenversicherer die Prämien erhöhten. Zudem erschwert die Existenz der Alterungsrückstellungen den Wechsel zu einem anderen privaten Krankenversicherer. Als Konsequenz sind privat versicherte Personen faktisch lebenslang an ihren Versicherer gebunden – zumal auch die Wechselmöglichkeiten zurück in die GKV sehr stark eingeschränkt sind. Das Nebeneinander von GKV und PKV führt zu einer Reihe von Problemen. Zum einen wird durch den Wechsel von überdurchschnittlich gesunden und einkommensstarken Versicherten in die PKV der Versicherungspool und damit auch die Finanzierungsbasis in der GKV geschwächt. Unterschiedliche Vergütungssysteme in den beiden Versicherungssystemen vor allem in der ambulanten ärztlichen Versorgung führen außerdem zu einer bevorzugten Behandlung von privat versicherten Patienten. In der Folge entstehen außerdem allokative Fehlanreize, weil sich Ärzte vor allem in Regionen mit einem hohen Anteil von privat versicherten Patienten niederlassen wollen.

760

Es werden vor allem drei Reformoptionen zur Behebung der oben angesprochenen Defizite im deutschen Krankenversicherungssystem diskutiert. Ein höherer Anteil von Steuerfinanzierung kann die Finanzierungsbasis in der GKV verbreitern und Gerechtigkeitsdefizite in der Finanzierung vermindern. Dies setzt jedoch eine stärkere Regelbindung für die Berechnung für die Höhe des Bundeszuschusses voraus Eine Umstellung auf pauschale Beiträge verlagert die Einkommensumverteilung in das Steuersystem verlagern und ist damit voraussichtlich zielgenauer. Zudem wäre die GKV auch für einkommensstarke Versicherte in vielen Fällen finanziell attraktiver als die PKV. Eine Umsetzung dieses Modells ist bisher an dem hohen Finanzierungsbedarf für die Transfers an einkommensschwache Versicherte gescheitert. Letztlich könnte im Rahmen einer Bürgerversicherung schrittweise die Integration der beiden Versicherungssysteme erreicht werden. Hinzu kommen eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und die Verbeitragung weiterer Einkommensarten. Dieses Finanzierungsmodell ist bisher an politischen Widerständen – unter anderem der organisierten Ärzteschaft und der privaten Krankenversicherung – gescheitert.

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Gesundheitsrecht Peter Kostorz

Inhalt 1

Begriff und Gegenstand des Gesundheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761

2 Ansprüche auf Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 2.1 Gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 2.2 Soziale Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 3 Erbringung von Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 3.1 Gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 3.2 Soziale Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 4 Bewirken von Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 4.1 Verträge zur Leistungsbewirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 4.2 Patientenautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 5

Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777

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Begriff und Gegenstand des Gesundheitsrechts

Das Gesundheitsrecht ist eine verhältnismäßig junge juristische Teildisziplin, die unterschiedliche Rechtsgebiete und -materien aus dem Bereich des Gesundheitswesens vereint. Im Vergleich etwa zum Sozialrecht, das im Wesentlichen alle Regelungen des Sozialgesetzbuches (SGB) umfasst, oder zum Medizin- und Arztrecht, für das es einen relativ gefestigten Kanon an Rechtsfragen gibt, die diesen Rechtsgebieten zugeordnet werden können, ist das Gesundheitsrecht nach wie vor wenig konturiert und dessen Regelungsgehalt immer noch nicht vollständig definiert: Es existiert weder eine in sich geschlossene Kodifikation zum Gesundheitsrecht noch eine sonst wie geartete saubere formelle oder materielle thematische Ein- bzw. Abgrenzung; beim Gesundheitsrecht handelt es sich vielmehr um ein Rechtsgebiet, das querschnitts-

P. Kostorz (*) Fachbereich Gesundheit, FH Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected]

artig zu verschiedenen anderen Rechtsbereichen verläuft und sich durch die Verknüpfung unterschiedlicher rechtlicher Disziplinen und das interdependente Zusammenwirken verschiedener Rechtsquellen auszeichnet. Es verwundert daher auch nicht, dass die Regelungsmaterie des Gesundheitsrechts in der Literatur zum Teil sehr unterschiedlich abgesteckt wird. So kann Gesundheitsrecht verstanden werden als die Summe aller Rechtsvorschriften, die das Ziel verfolgen, die Gesundheit der Bevölkerung und jedes Einzelnen zu fördern, zu erhalten oder wiederherzustellen, und so unmittelbar oder auch nur mittelbar dem Schutz menschlicher Gesundheit dienen (so etwa Klinger 2016, S. 1053). Derart verstanden ist der Begriff des Gesundheitsrechts sehr umfassend und nahezu konturlos, integriert er danach auch Vorschriften zur Lebensmittelsicherheit nach dem Lebensmittelrecht, zum allgemeinen Schutz vor Gefahrstoffen nach den Immissionsschutzgesetzen des Bundes und der Länder oder zur Gesundheitserziehung nach den Landesschulgesetzen (so auch Igl, in: Igl und Welti 2018, § 1 Rdnr. 2; ebenso kritisch Kingreen 2009, S. 293). Sehr eng eingegrenzt kann das Gesundheitsrecht auch verstanden werden als das Recht, das sich (ausschließlich) mit der gesetzlichen Kran-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_69

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kenversicherung (GKV) und der sozialen Pflegeversicherung (SPV) als den maßgeblichen Sozialleistungszweigen im Gesundheitswesen befasst (so etwa Berchtold et al. 2018). Auch wenn in diesen Sozialrechtsbereichen die Wurzeln des Gesundheitsrechts liegen, beschränkt es sich jedoch keinesfalls auf die im SGB V (Recht der GKV) bzw. SGB XI (Recht der SPV) normativ behandelten Rechtsfragen (so auch Kingreen 2009, S. 286 ff.). Nach dem auch diesem Beitrag zugrunde liegenden Verständnis von Gesundheitsrecht umfasst es vielmehr die Gesamtheit des für die im Gesundheitswesen tätigen Akteure und Institutionen maßgeblichen Rechts, also neben dem tradierten Medizin- und dem gesundheitsbezogenen Sozialleistungsrecht auch das Recht der Leistungserbringung bzw. der Leistungserbringer im Gesundheitswesen einschließlich etwa des Arzt- oder des Krankenhaus- bzw. Heimrechts, das Recht der Gesundheitsberufe nebst den rechtlichen Fragen der Arbeitsteilung sowie der Kooperation zwischen den Angehörigen ärztlicher und nichtärztlicher Gesundheitsberufe, das Recht der zivil- und strafrechtlichen Haftung bzw. Verantwortung für Behandlungs- oder Pflegefehler, das Recht der Patientenautonomie und das der Bewirkung von Gesundheitsleistungen zugrunde liegende Vertragsrecht nebst den Regelungen zum Patientenschutz sowie das Recht der staatlichen Aufsicht über das Gesundheitswesen und dessen Akteure etc.

" Definition Gesundheitsrecht Das Gesundheitsrecht um-

fasst die Gesamtheit aller Rechtsvorschriften, die die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Akteure bzw. Institutionen im Gesundheitswesen regeln und so das Gesundheitssystem konstituieren, steuern und ordnen. Es zielt darauf ab, die

Abb. 1 Gesundheitsrechtliches Dreieck

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gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung bedarfsgerecht, qualitätsorientiert und wirtschaftlich sicherzustellen. Dabei sind aus der Gesamtheit aller Akteure im Gesundheitswesen drei zentrale Protagonisten hervorzuheben, die in einer Dreiecksbeziehung zueinander stehen: die Kosten- und Leistungsträger von Gesundheitsleistungen (vor allem die Kranken- und Pflegekassen), die Leistungsbezieher (in ihrer Doppelrolle als Versicherte bzw. Anspruchsberechtigte der Leistungsträger einerseits und als Patienten der Leistungserbringer andererseits) sowie die Leistungserbringer selbst (Abb. 1). Die Rechtsbeziehungen innerhalb dieses Dreiecksgeflechts gestalten sich dabei wie folgt (vgl. Axer et al., in: Ebsen 2015, S. 46 ff. oder Griep und Renn 2017, Rdnr. 286 ff.): Das Leistungs- bzw. Versicherungsverhältnis zwischen dem Leistungsträger und dem Leistungsempfänger ist geprägt von der Frage, welche (sozialversicherungs)rechtlichen Ansprüche auf Gesundheitsleistungen (aufgrund eines Versicherungsverhältnisses) beansprucht werden können. Anspruchserfüllend bewirkt werden die Leistungen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – allerdings nicht von den Leistungsträgern selbst, sondern von den Leistungserbringern, die hierzu befugt bzw. zugelassen sind und Vereinbarungen mit den Kostenträgern über die Honorierung der erbrachten Leistungen getroffen haben (Leistungserbringungsverhältnis). Die Beziehung zwischen Leistungserbringer und Patient wird vom Leistungserfüllungs- bzw. Behandlungsverhältnis geprägt; hier geht es in rechtlicher Hinsicht in erster Linie um die vertraglichsynallagmatischen Beziehung beider Akteure, darüber hinaus aber auch um Fragen der Autonomie und des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, das sowohl auf das Ob als auch auf das Wie der Behandlung einwirkt.

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Gesundheitsrecht

Eine Art Bindeglied zwischen diesen drei Rechtsverhältnissen bildet das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V bzw. des § 29 Abs. 1 SGB XI, nach dem die Leistungen der GKV und der SPV ausreichend, wirtschaftlich sowie zweckmäßig sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht übersteigen dürfen: Leistungen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, können die Versicherten/Patienten nicht beanspruchen, dürfen die Leistungs-/Kostenträger nicht bewilligen und dürfen die Leistungserbringer nicht zu deren Lasten bewirken. Im Folgenden wird auf dieses gesundheitsrechtliche Dreiecksverhältnis Bezug genommen, wenn die Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse zwischen den drei bedeutendsten Akteuren des Gesundheitswesens näher beschrieben wird. Bewusst ausgeklammert werden damit eher randständigere oder sehr spezifische Bereiche des Gesundheitsrechts, wie sie bspw. das Haftungs-, das Arzneimittel- oder das ärztliche und nichtärztliche Berufsrecht darstellen; hierzu sei auf umfassendere bzw. spezifischere Darstellungen verwiesen (etwa Igl und Welti 2018 oder Deutsch und Spickhoff 2014).

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Ansprüche auf Gesundheitsleistungen

Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik wird von der Sozialversicherung dominiert: Über 90 % der Bevölkerung genießt den Schutz der GKV und der SPV, weshalb den Gesundheitsleistungen dieser beiden Sozialversicherungszweige eine besondere Bedeutung zukommt – sie gelten nicht zu Unrecht als „Schwergewicht und Angelpunkt des Gesundheitsrechts“ (Ebsen, in: Ebsen 2015, S. 17). Weitere wichtige Gesundheitsleistungen werden darüber hinaus bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten von der gesetzlichen Unfallversicherung und im Falle einer (drohenden) Minderung der Erwerbsfähigkeit von der gesetzlichen Rentenversicherung erbracht; zu berücksichtigen ist ferner das Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, das Sozialhilferecht sowie das Recht der sozialen Entschädigung und der Beamtenversorgung. Im Folgenden fokussieren sich die Ausführungen auf die beiden bedeutendsten Kosten- und Leistungsträger, nämlich die der GKV sowie die der SPV.

2.1 2.1.1

Gesetzliche Krankenversicherung

Anspruchsberechtigter Personenkreis der GKV Einen grundsätzlichen Anspruch auf Gesundheitsleistungen der GKV haben alle Versicherten dieses Sozialversicherungszweiges (hierzu Zimmermann, in: Sodan 2018, §§ 4–6), unabhängig von der bereits bestehenden Versicherungsdauer und einer tatsächlichen Beitragszahlung. Zu den versicherungspflichtigen, weil besonders schutzbedürftigen Personen

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gehören in erster Linie Arbeiter, Angestellte und Auszubildende, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, Bezieher von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosengeld II, Studenten bis zum Abschluss des 14. Fachsemesters bzw. bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres und Rentenbezieher, wenn sie in der zweiten Hälfte des Zeitraums von der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens 90 % dieser Zeit gesetzlich versichert gewesen sind (§ 5 SGB V). Ausnahmen von der Versicherungspflicht bestehen bspw. für Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze (60.750,- € im Jahr 2019), für geringfügig Beschäftigte mit einem Monatseinkommen von nicht mehr als 450,- €, für Beamte und für sog. Werkstudenten (Versicherungsfreiheit nach §§ 6 f. SGB V); sie haben – sofern sie nicht anderweitig pflicht- oder familienversichert sind – die Möglichkeit, sich entweder privat zu versichern oder beim Vorliegen einer bestimmten Vorversicherungszeit freiwillig der GKV beizutreten (§ 9 SGB V). Eine Familienversicherung ist unter gewissen Bedingungen für Ehegatten, Lebenspartner und Kinder von Mitgliedern möglich. Voraussetzung ist unter anderem, dass sie nicht versicherungspflichtig oder (mit Ausnahme der Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung) versicherungsfrei sind und kein regelmäßiges Einkommen haben, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße übersteigt (445,- € im Jahr 2019; bei geringfügig Beschäftigten gilt eine Entgeltgrenze von 450,- € pro Monat); bei Kindern sind zudem bestimmte Altersgrenzen zu berücksichtigen (z. B. das 23. Lebensjahr, wenn sie nicht erwerbstätig sind, oder das 25. Lebensjahr, wenn sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden) (§ 10 SGB V). Anspruchsbegründendes Moment auf Leistungen der GKV ist stets das Vorliegen bzw. Drohen einer Krankheit. Dieser Begriff ist als maßgeblicher Versicherungsfall der GKV allerdings nicht gesetzlich definiert, sondern durch die Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit geprägt (vgl. Huster 2017, S. 42 f.). " Definition Krankheit Krankheit ist jeder regelwidrige

Körper- oder Geisteszustand, der entweder Arbeitsunfähigkeit und/oder Behandlungsbedürftigkeit zur Folge hat; Behandlungsbedürftigkeit liegt dabei vor, wenn der regelwidrige Zustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, mindestens aber gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann (BSG vom 13. Februar 1962 [Az. 3 RK 63/61]).

2.1.2 Leistungen der GKV Die Leistungen der GKV (hierzu Just und Schneider 2016) umfassen vor allem Maßnahmen der Prävention, der Kuration, der Rehabilitation, der Palliation sowie der pflegerischen Versorgung bei fehlender Pflegebedürftigkeit und

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Abb. 2 Leistungen der GKV

folgen somit einer sozialmedizinisch ausgerichteten Versorgungskette (Abb. 2). Hinzu kommen die Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft (§§ 24c ff. SGB V), die Zahlung von Krankengeld im Falle der Arbeitsunfähigkeit (§§ 44 ff. SGB V) und die sog. akzessorischen Nebenleistungen, wie etwa die Gewährung einer Haushaltshilfe (§ 38 SGB V) oder die Übernahme notwendiger Fahrkosten (§ 60 SGB V). Die Leistungen der Prävention sind mit dem Präventionsgesetz aus dem Jahr 2015 erheblich ausgeweitet worden. Sie umfassen sowohl Maßnahmen der Primärprävention ([betriebliche] Gesundheitsförderung, Selbsthilfeförderung, Schutzimpfungen, Verhütung von Zahnerkrankungen und medizinische Vorsorgeleistungen) als auch Leistungen der Sekundärprävention in Form von Gesundheitsuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten. Als Kern des Leistungsspektrums der GKV umfassen die Leistungen der Kuration vor allem die (zahn)ärztliche Behandlung, die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heilund Hilfsmitteln sowie die Krankenhausbehandlung; hinzu kommen die häusliche Krankenpflege als Behandlungssicherungs- und als Krankenhausersatzpflege, die Soziotherapie sowie (am Lebensende) Hospizleistungen, wenn eine Krankenhausbehandlung nicht (mehr) indiziert ist. Zu den Leistungen der Rehabilitation, die im Krankenversicherungsrecht systematisch den Leistungen der Kuration zugeordnet sind, gehören nach näherer Ausgestaltung des SGB IX (Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) in erster Linie die Leistungen der ambulanten, teil- und vollstationären medizinischen Rehabilitation, die dazu dienen, eine Behinderung oder eine Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Der Begriff der Behinderung, der mit dem der Krankheit affin, allerdings nicht deckungsgleich ist, ist dabei in § 2 Abs. 1 SGB IX legaldefiniert (zum Begriff der Pflegebedürftigkeit Abschn. 2.2.1). " Definition Behinderung Behinderungen sind körperli-

che, seelische, geistige oder sinnliche Beeinträchtigungen,

die Menschen in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können und die von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Die Leistungen der Palliation finden sich vor allem in den Maßnahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, darüber hinaus aber auch in den Maßgaben der Palliativberatung. Ziel ist hauptsächlich die Schmerztherapie und die Symptomkontrolle bei Patienten bzw. Versicherten mit einer nicht mehr heilbaren und weit fortgeschrittenen Erkrankung, die zugleich eine nur noch begrenzte Lebenserwartung haben. Bei den Maßnahmen zur Pflege bei fehlender Pflegebedürftigkeit handelt es sich um Leistungen, die erst 2016 mit dem Krankenhausstrukturgesetz in den Leistungskatalog der GKV eingeführt worden sind und die ein Bindeglied zu den Leistungen der SPV darstellen sollen, um bis dato bestehende Versorgungslücken zwischen der Zuständigkeit der GKV und der SPV zu schließen. Bei ihnen handelt es sich zum einen um häusliche Krankenpflege bei schwerer Krankheit oder wegen akuter Verschlimmerung einer Krankheit und zum anderen um vollstationäre Kurzzeitpflege, wenn jeweils (noch) kein Anspruch auf Pflegeleistungen nach dem SGB XI besteht (Abschn. 2.2.2). Alle Leistungen müssen dabei dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Um dies zu gewährleisten und eine qualitativ und quantitativ einheitliche Versorgung aller Versicherten über sämtliche Leistungserbringer hinweg zu gewährleisten, existiert ein ausdifferenziertes und korporatistisch geschaffenes Regelwerk an untergesetzlichen Rechtsquellen, die Maßgaben dazu enthalten, welche Leistungen im Einzelfall beantragt, gewährt und erbracht werden können; hierzu zählen unter anderem die sog. Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen (G-BA) (§ 92 SGB V), der sog. Einheitliche Bewertungsmaßstab als Katalog abrechenbarer Leistungen im Bereich der vertragsärzt-

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Gesundheitsrecht

lichen Versorgung (§ 87 SGB V) oder der Heilmittelkatalog nach § 92 Abs. 6 SGB V bzw. das Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V. Für viele Leistungen sieht das Gesetz zudem Zuzahlungen der Versicherten vor (§§ 61 f. SGB V).

2.1.3 Zuständigkeit und Finanzierung der GKV Zuständig für die Leistungsgewährung sind die Krankenkassen (vor allem Allgemeine Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie Ersatzkassen), die sich als Körperschaften des öffentlichen Rechts weitgehend selbst verwalten (hierzu BMAS 2017, S. 323 ff., 927 ff.). Die Finanzierung der Leistungen erfolgt in erster Linie durch die Erhebung einkommensabhängiger Beiträge (§§ 220 ff. SGB V) (hierzu BMAS 2017, S. 190 ff.); die Familienversicherung ist kostenlos. Der allgemeine Beitragssatz beträgt 14,6 % (im Jahr 2019), der bei Beschäftigten zu gleichen Teilen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen wird; dabei gilt eine Beitragsbemessungsgrenze, die jährlich angepasst wird (4537,50 € im Jahr 2019). Über einen Gesundheitsfonds wird dabei ein sog. morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich durchgeführt, der Unterschiede bei den Versichertenstrukturen der einzelnen Krankenkassen ausgleichen soll; berücksichtigt werden dabei das Alter, das Geschlecht und die Morbidität der Versicherten (vgl. Kluckert, in: Sodan 2018, § 39). Sollte der Finanzierungsbedarf einer Krankenkasse durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht gedeckt werden, kann diese Krankenkasse einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag erheben, der ab 2019 ebenfalls zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen wird. (§ 242 SGB V).

2.2 2.2.1

Soziale Pflegeversicherung

Anspruchsberechtigter Personenkreis der SPV Wie auch in der GKV setzt die Leistungsgewährung in der SPV ein bestehendes Versicherungsverhältnis voraus. Diesbezüglich knüpft § 20 Abs. 1 und 3 SGB XI an die Mitgliedschaft in der GKV an: Deren Mitglieder sind zugleich Mitglieder der SPV; hinzu kommt auch in diesem Sozialversicherungszweig eine beitragsfreie Familienversicherung (§ 25 SGB XI). Zusätzliche Leistungsvoraussetzung neben dem Versichertenstatus ist das Erfüllen einer Vorversicherungszeit. Danach besteht ein Anspruch auf Leistungen nur dann, wenn der Versicherte in den letzten zehn Jahren vor der Antragstellung mindestens zwei Jahre versichert gewesen ist (§ 33 Abs. 2 SGB XI). Der letztendlich leistungsauslösende Versicherungsfall der Pflegebedürftigkeit ist in § 14 Abs. 1 SGB XI legaldefiniert (hierzu Richter 2017, Rdnr. 40 ff.). Der Begriff wurde im Zuge der Pflegestärkungsgesetze 2017 neu gefasst und aktu-

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ellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst (vgl. Kostorz 2016). " Definition Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftig sind Per-

sonen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen, wobei sie außerstande sein müssen, die körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen selbstständig zu kompensieren oder zu bewältigen. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate bestehen. Dabei erfolgt die Feststellung der Pflegebedürftigkeit ebenso wie die Einstufung in einen die Schwere der Beeinträchtigungen widerspiegelnden Pflegegrad nach den sog. Begutachtungs-Richtlinien durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) (§§ 15 und 18 SGB XI). Das Procedere der Pflegebegutachtung umfasst nach dem sog. Neuen Begutachtungsassessment (NBA) drei Schritte (vgl. Kostorz 2016 oder Richter 2017, Rdnr. 105 ff.) (Abb. 3). Grundlage des Begutachtungsinstruments ist zunächst die Erfassung der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten des Versicherten in sechs Lebensbereichen (sog. Module), denen unterschiedliche Kriterien zugeordnet sind (im Bereich Mobilität bspw. die Fähigkeit, einen Positionswechsel im Bett vornehmen oder Treppen steigen zu können) (§ 14 Abs. 2 SGB XI). Diese Kriterien werden in Abhängigkeit von den verbliebenen Ressourcen mit Werten von 0 (selbstständig) bis (je nach Modul) maximal 5 (unselbstständig) bepunktet. Die Summe der Einzelpunkte spiegelt dann den Grad der Selbstständigkeit und der Alltagsfähigkeit des Pflegebedürftigen im jeweiligen Bereich bzw. Modul wider; er nimmt dabei mit steigender Gesamtpunktzahl immer mehr ab. Ist für jedes Modul ein Summenwert aus den gutachterlichen Einschätzungen der einzelnen Kriterien ermittelt worden, sind diese summierten Punkte zu gewichten. Hierzu werden die in einem Modul erreichten Punkte einem von insgesamt fünf ordinalskalierten Punktbereichen von 0 (keine Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten) bis 4 (schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten) zugeordnet, woraus sich dann die jeweils gewichteten Punktzahlen für die einzelnen Module ergeben. Zu unterscheiden sind folglich die Punkte, die sich aus der Addition der Punkte für die einzelnen Modulkriterien ergeben, und die Punkte, die letztlich für die Bestimmung des Pflegegrades berücksichtigt werden (gewichteter Punktwert). Im letzten Schritt werden die gewichteten Punkte aller sechs Module addiert, wobei die Gesamtpunktzahl maximal 100 betragen kann. Auf der Basis der (gewichteten) Gesamtpunkte ist die pflegebedürftige Person dann in einen von fünf Pflegegraden einzustufen (bis zu einer Gesamtpunktzahl von 12 besteht keine sozialrechtlich relevante Pflegegebedürftigkeit).

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Abb. 3 NBA und Pflegeeinstufung

2.2.2 Leistungen der SPV Die Leistungen der SPV sind vor allem Dienst-, Sach- und Geldleistungen für den Bedarf an körperbezogenen Pflegemaßnahmen, pflegerischen Betreuungsmaßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung; Art und Umfang der Leistungen richten sich nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit und

danach, ob häusliche, teilstationäre oder vollstationäre Pflege in Anspruch genommen wird (§ 4 Abs. 1 SGB XI). Dabei soll die Leistungsgewährung vorrangig die häusliche Pflege unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können – es gilt also der Grundsatz ambulant vor stationär (§ 3 SGB XI).

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Gesundheitsrecht

Das Leistungsspektrum der SPV ist – gerade im Vergleich zum Leistungskatalog der GKV – eng begrenzt und gesetzlich sehr detailliert ausgestaltet. Insgesamt kann der Leistungskatalog in Basisleistungen, Leistungen der häuslichen Pflege (einschließlich der Leistungen für ehrenamtlich tätige Pflegepersonen), der teilstationären und der vollstationären Pflege unterteilt werden (hierzu Griep und Renn 2017, Rdnr. 129 ff.) (Abb. 4); zudem besteht ein Anspruch auf unterschiedliche Arten und Aspekte der Pflegeberatung (§§ 7 ff. SGB XI). Pflegebedürftige mit dem Pflegegrad 1 können dabei nur die Basisleistungen beanspruchen; ab dem Pflegegrad 2 greifen die regulären Leistungen der häuslichen und der teil- bzw. vollstationären Pflege. Bei Konkurrenzen mit den Leistungen der GKV (etwa zwischen der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V und den Leistungen der häuslichen Pflege nach dem SGB XI oder bei der Versorgung der Versicherten mit Hilfsmitteln) gehen die Leistungen der GKV grundsätzlich denen der SPV vor (§ 13 Abs. 2 SGB XI) (vgl. Waßer 2015). Kern der in § 28a SGB XI zusammengefassten Basisleistungen ist der sog. Entlastungsbetrag in Höhe von monatlich 125,- €. Er kann zweckgebunden eingesetzt werden für Leistungen der Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege, für Leistungen, die von ambulanten Pflegediensten erbracht werden

Abb. 4 Leistungen der SPV

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(ausgenommen sind lediglich Leistungen im Bereich der Selbstversorgung), und für Leistungen der nach landesrechtlichen Bestimmungen anerkannten Angebote zur Unterstützung im Alltag. Bei den Leistungen der häuslichen Pflege handelt es sich vor allem um Pflegesachleistungen durch einen ambulanten Pflegedienst in Form von körperbezogenen Pflegemaßnahmen, pflegerischen Betreuungsmaßnahmen und Hilfen bei der Haushaltsführung sowie um Pflegegeld für die selbstständige Deckung des Hilfebedarfs durch eine selbstbeschaffte Pflegeperson (i.S.d. § 19 SGB XI). Des Weiteren haben Versicherte die Möglichkeit, diese beiden Leistungen miteinander zu kombinieren, indem sie die Pflegesachleistungen und das Pflegegeld jeweils anteilig beantragen. Hinzu kommen die sog. häusliche Pflege bei Verhinderung der selbstbeschafften Pflegeperson für bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr (etwa durch einen ambulanten Pflegedienst) sowie die (häufig baulichen) Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung und die Versorgung mit technischen und zum Verbrauch bestimmten Pflegehilfsmitteln, soweit sie der Erleichterung der Pflege, der Linderung von Beschwerden des Pflegebedürftigen, der Ermöglichung einer selbstständigeren Lebensführung oder der Körperpflege bzw. Hygiene der pflegebedürftigen Person dienen. Die Leistungen für

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Pflegepersonen umfassen bspw. Leistungen zu deren sozialer Sicherung oder die Durchführung von Pflegekursen. Zu den Leistungen bei teilstationärer Pflege gehört zum einen die ergänzende Versorgung in einer Einrichtung der Tages- bzw. Nachtpflege, wenn häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann oder sie zur Ergänzung oder Stärkung der häuslichen Pflege erforderlich ist, sowie zum anderen die vollstationäre Kurzzeitpflege für längstens acht Wochen im Kalenderjahr, wenn häusliche Pflege zeitweise nicht, noch nicht oder nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden kann und eine vorübergehende vollstationäre Versorgung erforderlich ist, um entweder für eine Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung des Pflegebedürftigen oder in einer sonstigen Krisensituation dessen Pflege sicherzustellen. Im Rahmen der Leistungen der vollstationären Pflege übernehmen die Pflegekassen neben den pflegebedingten Aufwendungen auch Aufwendungen für die soziale Betreuung, für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege und gegebenenfalls für die Unterkunft und Verpflegung der Pflegebedürftigen in einer stationären Pflegeeinrichtung. Hinzu kommen unter Umständen Maßnahmen der zusätzlichen Betreuung und Aktivierung, die über die nach Art und Schwere der Pflegebedürftigkeit notwendige Versorgung hinausgehen. Dabei sind die von der SPV zur Verfügung gestellten Leistungen zwar – ebenso wie diejenigen der GKV – bedürftigkeitsunabhängig, aber in aller Regel nicht bedarfsdeckend: Gewährt werden nach oben gedeckelte Leistungsbeträge (Tab. 1), die – ähnlich einer Teilkaskoversicherung – für gewöhnlich nicht den gesamten individuellen Bedarf an Pflegeleistungen decken, so dass Pflegebedürftige üblicherweise einen Teil der Pflegeaufwendungen selber übernehmen müssen (vgl. Kostorz und Kernebeck 2015, S. 36). Im Falle der Bedürftigkeit kommen subsidiäre Leistungen des örtlichen Sozialhilfeträgers in Betracht (§§ 61 ff. SGB XII).

2.2.3 Zuständigkeit und Finanzierung der SPV Zuständig für die Leistungen der SPV sind die bei den Krankenkassen errichteten Pflegekassen. Organisatorisch werden die Aufgaben der Pflegeversicherung also von den Trägern der GKV mit wahrgenommen, auch wenn die Pflegekassen rechtlich und wirtschaftlich dem Grunde nach eigenständig

sind (§ 2 Abs. 3 und § 46 SGB Xl) (vgl. BMAS 2017, S. 739 f.). Finanziert werden die Leistungen hauptsächlich durch Beiträge (hierzu BMAS 2017, S. 740 ff.), die bei abhängig beschäftigten Versicherten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch aufgebracht werden; es gilt die in der GKV bestehende Beitragsbemessungsgrenze. Der Beitragssatz beträgt einheitlich 2,55 % (im Jahr 2019); für kinderlose Mitglieder, die das 23. Lebensjahr vollendet haben, erhöht sich der Beitragssatz um einen nur von ihnen zu tragenden Beitragszuschlag von 0,25 Prozentpunkten (§ 55 SGB XI). Dabei werden sämtliche Leistungsaufwendungen und Verwaltungskosten von allen Pflegekassen nach dem Verhältnis ihrer Beitragseinnahmen gemeinsam getragen; zu diesem Zweck findet zwischen den Pflegekassen ein Finanzausgleich statt, der vom Bundesversicherungsamt durchgeführt wird (§§ 65 ff. SGB XI).

3

Erbringung von Gesundheitsleistungen

Zwar richtet sich der Anspruch der Patienten bzw. Versicherten auf Gesundheitsleistungen gegen den jeweils zuständigen Sozialleistungsträger, doch erfüllt dieser die Leistungsansprüche in den seltensten Fällen selbst bzw. durch eigene Einrichtungen (wie es zumeist in einem staatlichen Gesundheitssystem der Fall ist) oder im Wege der Kostenerstattung, welche ein prägendes Merkmal der privaten Kranken- bzw. Pflegeversicherung ist. Vorherrschend ist vielmehr die Leistungserbringung nach dem sog. Sachleistungsprinzip durch rechtlich und wirtschaftlich selbstständige Leistungserbringer, die durch unterschiedlichste Vereinbarungen mit den Kostenträgern zur Versorgung der gesetzlich versicherten Patienten berechtigt und verpflichtet sind und dafür von ihnen entsprechend honoriert werden (vgl. Kingreen 2009, S. 290). Dies gilt sowohl für die Leistungserbringung der GKV als auch der SPV.

3.1

Gesetzliche Krankenversicherung

3.1.1 Ärztliche Behandlung Im Bereich der ambulanten ärztlichen Behandlung (hierzu Schnapp und Wigge 2017) haben die grundsätzlich auf Lan-

Tab. 1 Leistungssätze der SPV nach Pflegegraden Leistung [in € *pro Monat] Entlastungsbetrag* Pflegesachleistungen* Pflegegeld* Verhinderungspflege (bis 6 Wochen im Kalenderjahr) Kurzzeitpflege (bis 8 Wochen im Kalenderjahr) Teilstationäre Tages- und Nachtpflege* Vollstationäre Pflege* Zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel*

PG 1 125 Anspruch nur über den Entlastungsbeitrag – – Anspruch nur über den Entlastungsbeitrag Anspruch nur über den Entlastungsbeitrag 125 40

PG 2 125 689 316 1612 1612 689 770 40

PG 3 125 1298 545 1612 1612 1298 1262 40

PG 4 125 1612 728 1612 1612 1612 1775 40

PG 5 125 1995 901 1612 1612 1995 2005 40

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Gesundheitsrecht

desebene organisierten, insgesamt 17 Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) die Versorgung der Versicherten sicherzustellen und die Gewähr dafür zu übernehmen, dass die ärztliche Versorgung den gesetzlichen Erfordernissen entspricht (sog. Sicherstellungsauftrag nach § 75 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Erfüllt wird dieser Auftrag durch die einzelnen Vertragsärzte, die Mitglieder der jeweiligen KV sind und von den sog. Zulassungsausschüssen, denen Vertreter der Ärzte und der Krankenkasse angehören, nach Maßgabe der sog. Ärzte-Zulassungsverordnung zur vertragsärztlichen Versorgung der Kassenmitglieder zugelassen werden und dadurch hierzu nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind (§§ 95 ff. SGB V). Voraussetzung hierfür sind vor allem die Approbation als Arzt, das Führen einer Facharztbezeichnung und die Eintragung in das Arztregister, wobei die Zulassung stets unter dem Vorbehalt einer räumlichen und arztgruppenspezifischen Bedarfsplanung steht, um einerseits eine aus gesundheitsökonomischer Sicht unerwünschte Mengenausweitung der vertragsärztlichen Leistungserbringung zu verhindern und andererseits dem Ärztemangel in strukturschwa-

Abb. 5 System bzw. Regelkreis der vertragsärztlichen Versorgung

Abb. 6 Grundelemente des vertragsärztlichen Vergütungssystems

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chen Regionen entgegenzuwirken (vgl. Rosenbrock und Gerlinger 2014, S. 185 ff.). Durch die Einbindung der KVen in das Beziehungsgeflecht der Erbringung ärztlicher Leistungen entsteht somit ein System der vertragsärztlichen Versorgung mit insgesamt vier Akteuren (Abb. 5). Als synallagmatische Gegenleistung für die Übernahme des Sicherstellungsauftrags entrichten die Krankenkassen mit einer sie von der Pflicht zur Versorgung ihrer Versicherten befreienden Wirkung eine sog. Gesamtvergütung an die jeweilige KV, die die gesamte vertragsärztliche Versorgung ihrer Versicherten deckt (§ 85 SGB V). Den KVen kommt dann die Aufgabe zu, diese Gesamtvergütung nach Maßgabe eines autonom gesetzten Honorarverteilungsmaßstabes unter den ihnen mitgliedschaftlich verbundenen Vertragsärzten zu verteilen (§ 87b SGB V). Maßgebliche Grundlage der Honorarabrechnung ist dabei der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM), der den Inhalt der abrechenbaren Leistungen und ihr wertmäßiges, in Punkten ausgedrücktes Verhältnis zueinander bestimmt (§ 87 Abs. 2 Satz 1 SGB V) (Abb. 6).

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3.1.2 Krankenhausbehandlung Die stationäre gesundheitliche Versorgung der Versicherten wird in erster Linie durch Krankenhäuser gewährleistet, bei denen es sich nach § 107 Abs. 1 SGB V um Einrichtungen handelt, die • der Krankenhausbehandlung im Sinne des § 39 SGB V dienen, • fachlich-medizinisch unter ständiger ärztlicher Leitung stehen, über ausreichende und adäquate diagnostische und therapeutische Möglichkeiten verfügen und diesbezüglich nach wissenschaftlich anerkannten Methoden arbeiten, • mit Hilfe von jederzeit verfügbarem ärztlichem, Pflege-, Funktions- und medizinisch-technischem Personal darauf eingerichtet sind, vorwiegend durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten der Patienten zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern, und in denen • Patienten untergebracht und verpflegt werden können. Dabei liegt die Verantwortlichkeit für das Vorhalten einer bedarfsgerechten Infrastruktur zur stationären Versorgung der Patienten bei den Bundesländern (§ 6 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 KHG), die ihre Verantwortung durch eine an eine Bedarfsplanung anknüpfende Investitionsförderung eigener sowie anderer freigemeinnütziger, kirchlicher oder privater Einrichtungen wahrnehmen (sog. Infrastrukturverantwortung nach dem Prinzip der Trägervielfalt). Dementsprechend ist die Krankenhausfinanzierung eine sog. duale (hierzu Prütting, in: Huster und Kaltenborn 2017, § 5): Während die Investitionskosten (etwa für den Bau des Gebäudes) durch Fördermittel der Bundesländer aufgebracht werden, werden die laufenden Betriebskosten (Personal- und Sachkosten, Kosten für die Instandhaltung etc.) durch Benutzerentgelte der Kostenträger, also vor allem der Krankenkassen finanziert (§ 4 KHG). Zur Versorgung gesetzlich Krankenversicherter sind dabei alle Krankenhäuser zugelassen, die entweder in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen worden sind (Plankrankenhäuser), nach landesrechtlichen Vorschriften als Hochschulklinik anerkannt sind oder einen Versorgungsvertrag mit den Krankenkassen abgeschlossen haben (§ 108 SGB V). Die Vergütung der erbrachten Leistungen erfolgt im Wesentlichen in Form einer pauschalen Honorierung einzelner Behandlungsfälle nach einem diagnosebezogenen Klassifizierungssystem, den sog. Diagnostic Related Groups (DRGs) (§ 17b KHG). Dabei ist jeder für die Abrechnung maßgeblichen Hauptdiagnose eine punktmäßige Bewertungsrelation zugeordnet, deren Multiplikation mit einem in Euro ausgewiesenen landeseinheitlichen Basisfallwert den fallbezogenen Entgeltanspruch des Krankenhauses ergibt. Die Vergütung erfolgt entsprechend grundsätzlich unabhän-

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gig von der jeweiligen Krankenhausverweildauer. Um einer zu frühen, medizinisch nicht vertretbaren Entlassung allein aus Kostengründen entgegenzuwirken, müssen die Krankenhausträger jedoch Abschläge hinnehmen, wenn bei einem Patienten die sog. untere Grenzverweildauer der DRG seiner Erkrankung unterschritten wird; andersherum erhält das Krankenhaus Zuschläge, wenn im Einzelfall die sog. obere Grenzverweildauer überschritten werden muss.

3.1.3 Sonstige Leistungsbereiche Bei den sonstigen Leistungsbereichen handelt es sich in erster Linie um nichtärztliche Dienst- und Sachleistungen, die aufgrund des sog. Arztvorbehalts – ähnlich wie die Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V – indes von einem Arzt verordnet werden müssen, um von den Krankenkassen übernommen werden zu können (vgl. § 73 Abs. 2 oder § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V). Ihnen zuzurechnen ist ein breites Spektrum an Leistungen der GKV (Abschn. 2.2.2), allen voran jedoch die Versorgung der Versicherten mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln. " Definition Arzneimittel Arzneimittel sind im Wesent-

lichen Stoffe bzw. Zubereitungen aus Stoffen, die der Heilung, Linderung oder der Verhütung von Krankheiten bzw. krankhafter Beschwerden dienen und zur Anwendung im oder am Körper bestimmt sind (§ 2 Abs. 1 AMG). Ungeachtet des komplizierten Verfahrens ihrer Marktzulassung (hierzu Deutsch und Spickhoff 2014, S. 1003 ff.) dürfen Arzneimittel grundsätzlich nur in Apotheken abgegeben werden; dementsprechend fallen nur diejenigen Arzneimittel in die Leistungspflicht der GKV, die tatsächlich apotheken- und auch verschreibungspflichtig sind (§§ 31 und 34 SGB V). Diese Präparate unterliegen zum einen einer arzneimittelrechtlichen Preisregulierung, zum anderen aber auch einer sozialrechtlichen nach den entsprechenden Bestimmungen des SGB V (hierzu Axer, in: Ebsen 2015, S. 268 ff.). So können etwa durch den G-BA Festbeträge für Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen, mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen und mit therapeutisch vergleichbarer Wirkung festgelegt werden (§ 35 Abs. 1 Satz 2 SGB V); die Krankenkassen übernehmen die Kosten für entsprechende Arzneimittel dann nur bis zu diesem Festbetrag. Für Arzneimittel, die keiner Festbetragsgruppe zugeordnet wurden, werden die Erstattungsbeträge zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und den pharmazeutischen Unternehmen vereinbart (§ 130b SGB V); darüber hinaus erhalten die Krankenkassen bestimmte Pflichtrabatte von Apotheken und pharmazeutischen Unternehmen (§§ 130 f. SGB V). " Definition Heilmittel Bei den Heilmitteln nach § 32 SGB

V handelt es sich um ausschließlich nichtärztliche therapeutische Dienstleistungen, wie sie etwa die Logopädie, die

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Gesundheitsrecht

Physiotherapie oder die Ergotherapie darstellen (BSG vom 28. Juni 2001 [Az. B 3 KR 3/00 R]). Angehörige eines Therapieberufes sind indes nicht per se zur Leistungserbringung zu Lasten der GKV berechtigt, vielmehr müssen sie hierzu zugelassen werden. Die sich aus § 124 Abs. 2 SGB V ergebenden Zulassungsvoraussetzungen betreffen dabei die für die Berufsausübung erforderliche Ausbildung, die Praxisausstattung und die Anerkennung der für die Versorgung der Versicherten geltenden Vereinbarungen mit den Leistungs- bzw. Kostenträgern. Zu diesen Vereinbarungen zählen unter anderem die Vergütungsvereinbarungen nach § 125 Abs. 2 SGB V zwischen den Krankenkassen und den Verbänden der Heilmittelerbringer, in denen die Honorare für die erbrachten Leistungen festgelegt werden (hierzu Igl, in: Igl und Welti 2018, § 17). " Definition Hilfsmittel Hilfsmittel nach § 33 SGB V sind

sächliche Mittel, wie etwa Hör- und Sehhilfen, Körperersatzstücke oder orthopädische Mittel, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Die Zulassung zur Abgabe von Hilfsmitteln zu Lasten der GKV erfolgt nach § 127 SGB V auf dem Vertragswege zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern (hierzu Janda 2016, S. 300 ff.); dabei existieren drei Möglichkeiten: der Vertragsabschluss im Wege der Ausschreibung, der Vertragsabschluss ohne Ausschreibung, aber mit öffentlicher Bekanntgabe der Absicht, einen Vertrag über die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln abzuschließen, und der Vertragsabschluss im Einzelfall, sofern für ein bestimmtes Hilfsmittel keine anderweitige Vereinbarung besteht. Die Preisgestaltung hängt davon ab, ob für das Hilfsmittel ein Festbetrag festgesetzt wurde oder nicht (vgl. Janda 2016, S. 304). Existiert eine solche preisliche Obergrenze nach § 36 SGB V, übernehmen die Krankenkassen nur die Kosten bis zur Höhe des Festbetrages; wenn kein Festbetrag für ein Hilfsmittel bestimmt worden ist, wird dessen Preis in den Verträgen nach § 127 SGB V vereinbart. Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen.

3.2

Soziale Pflegeversicherung

3.2.1 Sicherstellung der Versorgung Anders als etwa im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung liegt der Sicherstellungsauftrag, also die Pflicht zur Gewährleistung einer bedarfsgerechten, gleichmäßigen und anerkannten Standards entsprechenden gesundheitlichen Ver-

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sorgung der Versicherten in der SPV bei den Kosten- und Leistungsträgern, also bei den Pflegekassen selbst (§ 69 SGB XI). Hierzu schließen die Pflegekassen Versorgungsverträge mit den Trägern ambulanter und stationärer, selbstständig wirtschaftender Pflegeeinrichtungen ab (hierzu Wiese 2014, Rdnr. 830 ff.), von denen die Leistungsbezieher dann versorgt werden können. Dabei ist zwischen Pflegediensten und Pflegeheimen zu unterscheiden, die beide unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft (sog. Pflegedienstleitung) stehen müssen: Pflegedienste sind dabei ambulante Pflegeeinrichtungen, die Pflegebedürftige in ihrer Wohnung mit Leistungen der häuslichen Pflegehilfe versorgen, Pflegeheime stationäre Pflegeeinrichtungen, in denen Pflegebedürftige ganztägig (vollstationär) oder nur tagsüber oder nachts (teilstationär) untergebracht, verpflegt und gepflegt werden (§ 71 SGB XI). Der Abschluss eines Versorgungsvertrages setzt neben der Erfüllung der eben genannten Merkmale voraus, dass die Pflegeeinrichtung eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung der Versicherten gewährleisten kann, an die Beschäftigten eine ortsübliche Arbeitsvergütung zahlt und sich zur Einführung und Weiterentwicklung eines Qualitätsmanagementsystems sowie zur Umsetzung von Expertenstandards verpflichtet (§ 72 Abs. 3 SGB XI). Beim Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen hat der Träger der Pflegeeinrichtung einen Anspruch auf den Abschluss eines Versorgungsvertrages; anders als im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung und der Sicherstellung der Krankenhausversorgung findet also keine Bedarfsplanung statt. Mit dem Abschluss des Versorgungsvertrages werden Vereinbarungen über Art, Inhalt sowie Umfang der zu erbringenden Pflegeleistungen getroffen sowie (bei ambulanten Pflegediensten) die Einzugsbereiche bestimmt, in denen die Pflegeleistungen zu erbringen sind.

3.2.2

Honorierung der von der SPV erbrachten Leistungen Die Honorierung der von den Pflegeheimen erbrachten Leistungen (hierzu Griep und Renn 2017, Rdnr. 330 ff.) erfolgt getrennt nach Pflegesätzen, den Entgelten für Unterkunft und Verpflegung, den eventuell anzusetzenden Investitionskosten sowie den Kosten für Zusatzleistungen. Den Hauptvergütungsbestandteil bilden dabei die zwischen dem Träger der Pflegeeinrichtung und den Pflegekassen sowie dem örtlich zuständigen Träger der Sozialhilfe vereinbarten Pflegesätze, also die Entgelte der Heimbewohner bzw. der Pflegekassen für die (voll- und teilstationären) Pflegeleistungen, die soziale Betreuung und die medizinische Behandlungspflege (§§ 84 f. SGB XI). Sie werden für jedes Pflegeheim individuell vereinbart, sind nach den fünf Pflegegraden zu staffeln und müssen für alle Heimbewohner mit demselben Pflegegrad gleich sein; dabei sind sie zudem so zu bemessen, dass mit ihnen alle für die Versorgung der Pflegebedürftigen erfor-

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derlichen Pflegeleistungen der Einrichtungen abgegolten werden. Unter Berücksichtigung der Leistungsbeträge der Pflegekasse sind in diesem Zusammenhang auch sog. einrichtungseinheitliche Eigenanteile der versicherten Bewohner zu ermitteln, die von diesen unabhängig vom zugewiesenen Pflegegrad selbst aufgebracht werden müssen. Ergänzt werden die Pflegesätze gegebenenfalls durch Vergütungszuschläge für die zusätzliche Betreuung und Aktivierung der Heimbewohner, die über die nach Art und Schwere der Pflegebedürftigkeit notwendige Versorgung hinausgeht; sie sind ausschließlich von der Pflegekasse zu tragen, so dass Pflegebedürftige mit ihnen weder ganz noch teilweise belastet werden dürfen. Obwohl die Kosten für Unterkunft und Verpflegung – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht von den Pflegekassen, sondern den pflegebedürftigen Heimbewohnern aufzubringen sind, werden auch sie zwischen dem Heimträger und den Pflegekassen (unter Beteiligung des zuständigen Sozialhilfeträgers) vereinbart (§ 87 SGB XI). Die Pflegekassen fungieren damit als eine Art Sachwalter für die Interessen ihrer Versicherten, damit sichergestellt ist, dass die zu zahlenden Kosten in einem angemessenen Verhältnis zu den erbrachten Leistungen stehen (vgl. Rosenbrock und Gerlinger 2014, S. 374). Schließlich dürfen den Heimbewohnern Investitionskosten, die nicht durch öffentliche Fördermaßnahmen gedeckt sind (§ 82 Abs. 2 bis 4 SGB XI), sowie Entgelte für besondere Komfortleistungen bei Unterkunft und Verpflegung oder zusätzliche pflegerisch-betreuerische Leistungen (§ 88 SGB XI) in Rechnung gestellt werden. Auch die Vergütung der Leistungen der ambulanten Pflegedienste (hierzu Griep und Renn 2017, Rdnr. 327 ff.) wird zwischen deren Trägern und den Pflegekassen nach für alle Pflegebedürftigen einheitlichen Grundsätzen vereinbart (§ 89 Abs. 1 SGB XI). Möglich ist insofern eine Honorierung der Leistungen nach dem für sie erforderlichen Zeitaufwand oder unabhängig vom Zeitaufwand nach dem Leistungsinhalt des jeweiligen Pflegeeinsatzes, nach Komplexleistungen oder in Ausnahmefällen auch nach Einzelleistungen; sonstige Leistungen, wie hauswirtschaftliche Versorgung, Behördengänge oder Fahrkosten, können auch mit Pauschalen vergütet werden (§ 89 Abs. 3 SGB XI). In der Versorgungslandschaft durchgesetzt hat sich dabei eine Vergütung nach Leistungskomplexen, in denen einzelne pflegerische bzw. hauswirtschaftliche Tätigkeiten zusammengefasst werden und die von den Pflegebedürftigen je nach Versorgungsbedarf individuell zusammengestellt werden können. Diese Leistungskomplexe werden – ähnlich den Punktwerten im EBM oder der Bewertungsrelation im DRG-Vergütungssystem – in aller Regel mit Punktzahlen bewertet, die die Relation des Aufwandes bei der Erbringung der jeweiligen Leistungskomplexe untereinander widerspiegeln. Grundlage für die Leistungsabrechnung ist dann die addierte Gesamtpunktzahl für alle erbrachten Leistungskomplexe, die multipliziert mit einem in

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Euro bemessenen, in den Vergütungsverhandlungen zwischen Pflegedienst und Pflegekassen vereinbarten Punktwert den Vergütungsanspruch des Pflegedienstes ergibt.

4

Bewirken von Gesundheitsleistungen

Das Rechtsverhältnis zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger ist geprägt von der dem Leistungsträger gegenüber bestehenden Pflicht des Leistungserbringers zur gesundheitlichen Versorgung des Leistungsempfängers in der Rolle des Patienten, um dessen Leistungsanspruch zu erfüllen, den dieser wiederum als Versicherter gegenüber dem Leistungsträger geltend machen kann (Abb. 1). Diese Leistungsbewirkung wird dabei zum einen geprägt durch die vertraglichen Beziehungen, die zwischen dem Leistungserbringer und dem Leistungsempfänger bestehen, und zum anderen durch die Autonomie und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten.

4.1

Verträge zur Leistungsbewirkung

Dem Leistungserfüllungs- bzw. Behandlungsverhältnis zwischen Leistungserbringer und Patient liegt regelmäßig ein zivilrechtliches gegenseitiges Schuldverhältnis zugrunde (§§ 241 und 311 BGB). Typische bzw. relevante Vertragsarten sind in diesem Zusammenhang vor allem der Behandlungsvertrag nach dem BGB, der in erster Linie mit Ärzten und Heilmittelerbringern abgeschlossen wird, der gesetzlich nicht explizit geregelte Krankenhausvertrag, der im SGB XI zumindest Erwähnung findende Pflegevertrag mit ambulanten Pflegediensten sowie der Heimvertrag mit stationären Pflegeeinrichtungen nach den Maßgaben des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG).

4.1.1 Behandlungsvertrag Mit dem Patientenrechtegesetz von 2013 hat der Behandlungsvertrag als besondere Ausprägung des Dienstvertrages (§ 611 BGB) Einzug in das Vertragsrecht des BGB gefunden (hierzu Erb 2018). § 630a BGB legt dabei die Hauptpflichten der Parteien fest: Danach schuldet der behandelnde Arzt, Heilmittelerbringer, Psychotherapeut etc. die vereinbarte Behandlung nach den bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards (nicht jedoch den Erfolg der Behandlung), der Patient die Zahlung der vereinbarten Vergütung, soweit nicht ein Dritter – wie etwa die Krankenkasse – zur Zahlung verpflichtet ist. Als vertragliche Nebenpflicht ergeben sich für den Behandelnden zudem bestimmte Informationspflichten, die ihn bereits im Vorfeld der Behandlung treffen: Danach ist er zum einen verpflichtet, dem Patienten in verständlicher Weise sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnose, die

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Gesundheitsrecht

voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die im Zusammenhang mit der Therapie zu ergreifenden medizinischen Maßnahmen (§ 630c Abs. 2 Satz 1 BGB); zum anderen muss er den Patienten in Textform über die voraussichtlichen Kosten der Behandlung informieren, falls eine vollständige Kostenübernahme durch die Krankenkasse oder einen sonstigen Dritten nicht gesichert ist (§ 630c Abs. 3 Satz 1 BGB). In diesem Zusammenhang sind auch die Maßgaben der §§ 630d und 630e BGB zu sehen, nach denen der Patient in die Durchführung einer medizinischen Maßnahme einwilligen muss. Die Einwilligung muss entweder durch den Patienten selbst oder – im Falle dessen Einwilligungsunfähigkeit – von einem hierzu Berechtigten (Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigter) erklärt werden (hierzu unter Abschn. 4.2.2 und 4.2.3); sie kann mündlich, schriftlich oder konkludent erfolgen und jederzeit formlos widerrufen werden (vgl. Deutsch und Spickhoff 2014, S. 261 ff.). Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung ist, dass der Patient über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufgeklärt worden ist. Dazu gehören vor allem Art, Umfang, Durchführung und zu erwartende Folgen bzw. Risiken der Maßnahme, deren Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose und/oder die Therapie sowie mögliche Alternativen zu der geplanten Maßnahme (hierzu Deutsch und Spickhoff 2014, S. 279 ff. sowie Laufs, in: Laufs und Kern 2010, §§ 57 ff.). Die Aufklärung kann mündlich erfolgen (ergänzend kann auch auf Unterlagen Bezug genommen werden, die der Patient in Textform erhält), muss für den Patienten verständlich sein und so rechtzeitig erfolgen, dass dieser seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann (vgl. Janda 2016, S. 139 f.).

4.1.2 Krankenhausvertrag Ein Krankenhaus(aufnahme)vertrag, der dem Patienten einen Anspruch auf sämtliche erforderlichen ärztliche und pflegerische Maßnahmen sowie auf medizinisch-technische Leistungen nebst Unterkunft und Verpflegung gewährt, stellt eine Art des Behandlungsvertrages dar und kann in einer von insgesamt drei Ausprägungen abgeschlossen werden (hierzu Rehborn, in: Huster und Kaltenborn 2017, § 14 sowie Genzel und Degener-Hencke, in: Laufs und Kern 2010, § 89): • Der Regelvertragstypus ist der sog. einheitliche oder totale Krankenhausvertrag. Hier schließt der Patient einen Vertrag über alle für die stationäre Behandlung erforderlichen Leistungen, dessen Erfüllung allein das Krankenhaus bzw. dessen Träger schuldet; Vertragsinhalt sind alle Regel- bzw. allgemeinen Krankenhausleistungen. Wünscht der Patient darüber hinausgehende medizinische oder nichtmedizinische Zusatzleistungen (bspw. eine besondere Diagnostik

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oder die Unterbringung in einem Einzelzimmer), können auch sie vertraglich vereinbart werden; sie sind dann vom Patienten gesondert zu vergüten. • Beim Krankenhausvertrag mit Arztzusatzvertrag werden zwei Verträge geschlossen: ein einheitlicher Krankenhausvertrag über die allgemeinen Krankenhausleistungen und ein Zusatzvertrag über ärztliche Wahlleistungen. Dabei bleibt das Krankenhaus zur Erbringung der Regelleistungen verpflichtet; der ärztliche Vertragspartner des Zusatzvertrages schuldet die Erbringung der Wahlleistungen. • Beim gespaltenen Krankenhausvertrag werden vom Patienten ebenfalls zwei Verträge geschlossen: einer mit dem Krankenhaus(träger), der nur die Unterbringung und die allgemeine Versorgung beinhaltet, und einer mit einem im Krankenhaus tätigen Arzt, der häufig Belegarzt i.S.d. § 18 KHEntgG ist und aufgrund dieses Vertrages (ausschließlich) die ärztliche Behandlung schuldet. Der Unterschied zwischen dem einheitlichen Krankenhausvertrag und dem Krankenhausvertrag mit Arztzusatzvertrag ergibt sich dabei aus der Bestimmung der sog. allgemeinen Krankenhausleistungen nach § 2 Abs. 2 Satz 1 KHEntgG; hierbei handelt es sich um Leistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung des Patienten notwendig sind. Über gewünschte, darüber hinausgehende medizinische Leistungen ist ein gesonderter Vertrag mit einem bestimmten Arzt des Krankenhauses (meist ein Chefarzt) abzuschließen, der die von ihm erbrachten Leistungen gesondert liquidiert (§ 17 KHEntgG) (vgl. Ries et al. 2017, S. 198 ff.). Ein solcher Zusatzvertrag setzt zu seiner Wirksamkeit vor allem voraus, dass der Patient vor Abschluss der Vereinbarung schriftlich über den Inhalt der Wahlleistungen und die dafür zu zahlenden Entgelte informiert worden ist (§ 17 Abs. 2 KHEntgG).

4.1.3 Pflegevertrag Als besondere Art des Dienstvertrages verpflichtet ein Pflegevertrag den ambulanten Pflegedienst zur sorgfältigen und qualitativ dem Stand pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechenden Pflege und Versorgung des pflegebedürftigen Vertragspartners; eine Verbesserung des Pflegezustandes oder eine Minderung der Pflegebedürftigkeit wird nicht geschuldet (hierzu Wiese 2014, Rdnr. 218 ff.). Gegenstand des Pflegevertrages sind für gewöhnlich die Leistungen der häuslichen Pflege nach § 36 SGB XI und/oder die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V; diesen sozialversicherungsrechtlich definierten Leistungen entspricht regelmäßig auch die Leistungsvereinbarung im Pflegevertrag. Nicht von den Kostenträgern übernommene Leistungen können darüber hinaus auf der Grundlage der

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Vertragsautonomie frei vereinbart werden; sie sind indes allein von der pflegebedürftigen Person als Vertragspartnerin des ambulanten Pflegedienstes zu vergüten. § 120 SGB XI enthält eine Pflicht zur schriftlichen Niederlegung des Pflegevertrages und legt zum Schutz des Pflegebedürftigen auch die Mindestinhalte des Vertrages fest. Danach sind Art, Inhalt und Umfang der Leistungen sowie die Vergütung zu beschreiben, die mit dem Leistungsträger für die Pflegeleistungen und die hauswirtschaftliche Versorgung vereinbart worden sind. Der Vergütungsanspruch des Pflegedienstes richtet sich dementsprechend zunächst gegen die zuständige Pflegekasse; vertraglich vereinbarte Leistungen, die hinsichtlich ihrer Art oder ihres Umfangs nicht der Leistungspflicht der Pflegekasse unterliegen, sind dem Pflegebedürftigen direkt und gesondert in Rechnung zu stellen.

4.1.4 Heimvertrag Die rechtlichen Grundlagen des Heimvertrages finden sich im WBVG, das diesbezüglich im Jahr 2009 das nicht mehr geltende Heimgesetz (HeimG) abgelöst hat (hierzu Weiß 2016, S. 139 ff.). Es gilt unter anderem für Verträge zwischen stationären Pflegeeinrichtungen und deren Bewohnern (im Gesetz Unternehmer und Verbraucher genannt), in denen sich das Heim zur Überlassung von Wohnraum und zur Erbringung von Pflege- und Betreuungsleistungen verpflichtet (§ 1 Abs. 1 WBVG). Bereits vor Abschluss eines Heimvertrages treffen den Heimbetreiber bestimmte Informationspflichten (§ 3 WBVG). Diese betreffen zum einen das allgemeine Leistungsangebot der Einrichtung, wie etwa die Ausstattung und die Lage des Gebäudes, das Spektrum an angebotenen Leistungen oder die Ergebnisse von Qualitätsprüfungen, sowie zum anderen die konkreten Leistungen, die für den potenziellen Bewohner in Betracht kommen, einschließlich der Angaben der dafür zu zahlenden Entgelte. Kommt es zum Abschluss des Vertrages, werden diese vorvertraglichen Informationen zu zwingenden Vertragsbestandteilen; weitere Mindestinhalte des Vertrages sind eine Beschreibung der letztendlich tatsächlich vereinbarten Leistungen nach Art, Inhalt und Umfang sowie die für diese Leistungen zu zahlenden Entgelte (unterteilt nach den Entgelten für die Unterkunft, die Verpflegung, die Pflege- und Betreuungsleistungen sowie einzelne weitere Leistungsentgelte und gesondert berechenbare Investitionskosten) (§ 6 Abs. 3 WBVG). Der Vertrag ist dabei grundsätzlich schriftlich und unbefristet abzuschließen (§ 6 Abs. 1 bzw. § 4 Abs. 1 WBVG); bei Verträgen mit Bewohnern, die Leistungen der SPV beziehen, ist der Heimbetreiber zudem verpflichtet, die Vertragsinhalte mit dem Sozialleistungsrecht des SGB XI abzustimmen (§ 15 WBVG) (vgl. Müller-Zetsche und Frings, in: Ehmann et al. 2018, §§ 1 f. WBVG Rdnr. 8 f.). Zur Erfüllung des Vertrages ist der Heimbetreiber verpflichtet, dem Bewohner den Wohnraum in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen

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sowie die vertraglich vereinbarten Pflege- und Betreuungsleistungen nach dem allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen (§ 7 Abs. 1 WBVG). Den Bewohner wiederum trifft vor allem die Pflicht, das vereinbarte Entgelt zu zahlen, soweit es „angemessen“ ist (§ 7 Abs. 2 WBVG); dies ist dann der Fall, wenn es sich im Rahmen der nach §§ 84 ff. SGB XI vereinbarten Sätze bewegt (vgl. hierzu Abschn. 3.2.2 sowie Müller-Zetsche und Frings, in: Ehmann et al. 2018, § 7 WBVG Rdnr. 4 f.). Zum Verbraucherschutz sieht das Gesetz darüber hinaus umfangreichere Regelungen zu den Rechten der Bewohner bei Nicht- oder Schlechtleistung, bei erforderlichen Vertragsanpassungen und Entgelterhöhungen oder bei der Beendigung des Heimvertrages vor (§§ 8 ff. WBVG).

4.2

Patientenautonomie

Nach der verfassungsrechtlich geschützten Patientenautonomie steht es jedem frei zu entscheiden, ob, auf welche Art und Weise sowie über welchen Zeitraum er medizinisch bzw. pflegerisch versorgt werden möchte. Diese Entscheidung spiegelt sich in der Erteilung oder der Verweigerung einer Einwilligung in entsprechende Maßnahmen wider. Ist ein Patient hierzu aufgrund seiner gesundheitlichen Disposition nicht (mehr) in der Lage, ist ihm ein rechtlicher Betreuer zur Seite zu stellen; Vorsorge für den Fall der Einwilligungs- bzw. Entscheidungsunfähigkeit kann er durch eine Vorsorgevollmacht und/oder eine Patientenverfügung treffen. Besonderheiten bestehen im Falle einer eingeschränkten Einwilligungsfähigkeit bei einer eilbedürftigen Behandlung und bei einem medizinisch begründeten Erfordernis einer Zwangsbehandlung.

4.2.1

Grundsätze der Patientenautonomie

" Definition Patientenautonomie Die Patientenautonomie

beinhaltet das Recht, frei zu entscheiden, ob, wie und wie lange eine Behandlungsmaßnahme oder eine pflegerische Intervention durchgeführt werden soll. Eine entsprechende Einwilligung setzt eine vorherige Aufklärung voraus. Art. 2 Abs. 1 GG schützt als Grundrecht die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Bezogen auf das Gesundheitswesen schlägt sich diese allgemeine Handlungsfreiheit in der sog. Patientenautonomie nieder (vgl. Hoyer, in: Igl und Welti 2018, § 54 Rdnr. 6): Keine Sozialleistung und keine medizinische, therapeutische oder pflegerische Maßnahme darf gegen den freien Willen des Betroffenen erbracht werden; dieses Selbstbestimmungsrecht des Patienten schützt selbst Entscheidungen, die aus medizinischen Gründen unvertretbar sind (BGH vom 7. Februar 1984 [Az. VI ZR 174/82]). Grundsätzlich entscheiden Patienten also selbst und frei da-

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Gesundheitsrecht

rüber, ob sie – kurz gefasst – überhaupt einen Antrag auf Sozialleistungen stellen (vgl. auch § 16 SGB I), sie einen Vertrag zur Bewirkung der Leistung mit einem Leistungserbringer abschließen sowie ob, auf welche Art und Weise und gegebenenfalls für welche Dauer eine medizinische bzw. pflegerische Maßnahme tatsächlich erbracht bzw. durchgeführt werden soll.

4.2.2 Rechtliche Betreuung Ist ein Patient aufgrund seiner gesundheitlichen Disposition (bspw. aufgrund von demenziellen Veränderungen) nicht mehr in der Lage, selbstständig und frei über bestimmte Angelegenheiten, wie etwa seine Gesundheitsversorgung, zu entscheiden und sie zu erledigen, ist ihm vom Betreuungsgericht ein Betreuer zur Seite zu stellen (hierzu Meier und Deinert 2016). Dieser agiert dann als Stellvertreter der betreuten Person und kann für diese rechtlich wirksam handeln, also etwa auch einen Vertrag mit einem Leistungserbringer abschließen oder eine Einwilligung in eine medizinische Maßnahme oder pflegerische Intervention erteilen (§ 1902 i.V.m. § 164 BGB). Initiiert werden kann ein solches Betreuungsverhältnis nur auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen durch das Betreuungsgericht. Das Verfahren der Betreuerbestellung ist im Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) geregelt; deren Voraussetzungen ergeben sich aus § 1896 BGB (vgl. Kostorz 2011b, S. 449 f.): 1. Objektiver Betreuungsbedarf Der Betroffene muss an einer klar diagnostizierbaren psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung leiden (medizinischer Befund). 2. Subjektive Betreuungsbedürftigkeit Die diagnostizierte Krankheit bzw. Behinderung muss kausal dafür sein, dass der Betroffene seine Angelegenheiten, wie bspw. die der Gesundheitssorge, ganz oder teilweise nicht mehr besorgen kann (Besorgungsdefizit). 3. Erforderlichkeit der Betreuung Die erforderliche Unterstützung darf nicht anderweitig sichergestellt sein, etwa durch Familien- oder andere Haushaltsangehörige oder durch nachbarschaftliches Engagement (Nachrang der Betreuung). Entscheidend ist, dass der Betreuer nur für den Aufgabenkreis bestellt wird, in dem es tatsächlich ein Besorgungsdefizit gibt; dies kann die Gesundheitssorge, aber bspw. auch die Vermögenssorge oder die Aufenthaltsbestimmung sein. Zudem ist der Betreuer verpflichtet, die Angelegenheiten stellvertretend für den Betreuten zu seinem Wohl und nach dessen Wünschen zu besorgen (§ 1901 BGB). Dabei bleibt die betreute Person trotz des Betreuungsverhältnisses im Rechtssinne grundsätzlich weiterhin voll geschäfts- und handlungsfähig (vgl. Kostorz 2011b, S. 450). Eine

775

Ausnahme besteht zum einen dann, wenn eine gesundheitlich bedingte kognitive Einschränkung die freie Willensbestimmung des Betreuten nicht nur vorübergehend ausschließt; in diesem Fall ist tatsächlich von dessen Geschäftsunfähigkeit auszugehen (§ 104 Nr. 2 BGB). Zum anderen kann das Betreuungsgericht anordnen, dass der Betreute zur wirksamen Abgabe einer Willenserklärung der Einwilligung des Betreuers bedarf, wenn dies zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person des Betreuten oder dessen Vermögen erforderlich ist (sog. Einwilligungsvorbehalt); in diesem Fall gelten die Regelungen für beschränkt geschäftsfähige Personen entsprechend (§ 1903 BGB).

4.2.3 Vorsorgevollmacht Bei einer Vorsorgevollmacht handelt es sich um eine Möglichkeit der Patientenvorsorge; ihr liegen die Grundsätze der rechtsgeschäftlichen Stellvertretung zugrunde (§§ 164 ff. BGB). " Definition Vorsorgevollmacht Mit einer Vorsorgevoll-

macht bevollmächtigt eine Person eine andere (Vertrauens) Person damit, im Falle ihrer eigenen Einwilligungsunfähigkeit ihre Angelegenheiten, wie etwa ihre Gesundheitsangelegenheiten, für sie zu erledigen. Dieser Vorsorgebevollmächtigte ist daraufhin befugt, stellvertretend für den Patienten über die Durchführung einer medizinischen Maßnahme bzw. einer pflegerischen Intervention zu entscheiden (vgl. Deutsch und Spickhoff 2014, S. 669). Da ihm damit grundsätzlich die gleichen rechtlichen Möglichkeiten eingeräumt werden wie einem gerichtlich bestellten Betreuer und auf diese Weise sichergestellt ist, dass etwa die Gesundheitsangelegenheiten des Patienten durch eine dritte Person (stellvertretend) besorgt werden können, kann die Erteilung einer Vorsorgevollmacht eine Betreuerbestellung verhindern (Prinzip des Nachrangs der Betreuung [§ 1896 Abs. 2 BGB]) (vgl. Deutsch und Spickhoff 2014, S. 761).

4.2.4 Patientenverfügung Um für den Fall vorzubeugen, später einmal nicht mehr entscheidungs- und einwilligungsfähig zu sein, können Patienten neben einer Vorsorgevollmacht auch das rechtliche Instrument der Patientenverfügung nutzen (hierzu Kostorz 2011a). " Definition Patientenverfügung Mit einer Patientenverfü-

gung legt eine (noch) einwilligungsfähige Person für den Fall einer eventuell eintretenden Einwilligungsunfähigkeit schriftlich fest, ob sie in bestimmte, zum Zeitpunkt der Äußerung des Willens noch nicht unmittelbar bevorstehende medizinische oder pflegerische Maßnahme einwilligt oder diese untersagt.

776

Die konkreten Voraussetzungen für die Gültigkeit einer Patientenverfügung ergeben sich dabei aus § 1901a Abs. 1 BGB (vgl. Kostorz 2011a, S. 16 f.): 1. Einwilligungsfähigkeit (und Volljährigkeit) des Patienten zum Zeitpunkt der Abgabe der Verfügung 2. Schriftform der Verfügung (eigenhändige Unterschrift) 3. Verfügung über nicht unmittelbar bevorstehende medizinische oder pflegerische Maßnahmen 4. Verfügung für bestimmte Situationen und medizinische bzw. pflegerische Maßnahmen (nicht ausreichend sind daher allgemeine Wünsche oder Richtlinien für eine künftige medizinisch-pflegerische Versorgung) Tritt später eine Lebens- bzw. Behandlungssituation ein, für die der Patient eine solche Verfügung erlassen hat, ist dessen antizipierter Wille – auch von einem Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigten – entsprechend umzusetzen.

4.2.5 Eilbedürftige Behandlung Der Einwilligungsfähigkeit eines Patienten mangelt es häufig auch bei einem Notfall im Sinne einer eilbedürftigen Behandlung. Sie liegt in diesem Sinne immer dann vor, wenn sofortiges medizinisches Handeln geboten ist, weil sich der Gesundheitszustand des Patienten derart unvorhergesehen, rapide und rasch verschlechtert, dass dieser nicht oder nicht mehr rechtzeitig angehört bzw. aufgeklärt werden kann und dementsprechend eine rechtswirksame Einwilligung nicht (mehr) zu erlangen ist (vgl. Kostorz 2011a, S. 15). In einem solchen Fall, wie er bspw. bei einer (plötzlich eintretenden) Bewusstlosigkeit gegeben ist, muss sich das Ob und das Wie einer Behandlung an den Kriterien der sog. Geschäftsführung ohne Auftrag orientieren (§ 677 BGB). Danach ist vorrangig der tatsächliche Wille des Patienten zu berücksichtigen, der in einer Notfallsituation allerdings in den seltensten Fällen bekannt sein dürfte. Alternativ ist der mutmaßliche Wille des Patienten umzusetzen; mögliche Kriterien sind hierbei frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Patienten, seine ethischen und religiösen Überzeugungen oder dessen sonstigen persönlichen Wertvorstellungen. In der Kürze der Zeit und vor dem Hintergrund der gebotenen Eile werden jedoch auch diese Informationen nur schwer zu erlangen sein. Häufig besteht in einer solchen Situation daher nur die Möglichkeit, sich an die einschlägigen medizinischen Standards zu halten und den Patienten dementsprechend zu versorgen – auch wenn sich dies ex post als mit dem freien Willen des Patienten nicht vereinbar herausstellen sollte (vgl. Kostorz 2011a, S. 15). 4.2.6 Zwangsbehandlung Auch ein Patient mit einer kognitiv einschränkenden psychischen Erkrankung bzw. einer geistigen oder seelischen Behinderung ist aufgrund seiner gesundheitlichen Disposition unter

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Umständen nicht in der Lage, die Notwendigkeit einer medizinischen Behandlungsmaßnahme einzusehen und rechtswirksam in sie einzuwilligen. Sofern sich hieraus eine Gefahr für den Betroffenen ergeben könnte, muss die Person notfalls zu einer Therapie gezwungen werden, auch wenn dies ihrem natürlich geäußerten Willen widersprechen sollte (hierzu Deutsch und Spickhoff 2014, S. 797 ff.). Eine solche Zwangsbehandlung widerspricht zwar einerseits dem Grundsatz der Patientenautonomie, die neben dem freien Willen des Patienten auch dessen natürlichen Willen schützt, doch gewährt die Verfassung jedem Menschen andererseits ein Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), weshalb es auch staatliche Pflicht ist, Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass sich ein Patient selbst gefährdet oder gar schädigt, wenn er sich der Tragweite seiner Handlungen nicht bewusst ist. Dem ist der Gesetzgeber insofern nachgekommen, als er gerichtlich bestellten Betreuern die Möglichkeit eingeräumt hat, unter bestimmten Voraussetzungen stellvertretend für die betroffene Person in eine ärztliche Maßnahme einzuwilligen, die sich aus deren Sicht als Zwangsmaßnahme darstellt. Ein Vorsorgebevollmächtigter kann in eine ärztliche Zwangsmaßnahme dann einwilligen, wenn die ihn legitimierende Vollmacht schriftlich erteilt worden ist und sie diese Maßnahme ausdrücklich umfasst. Als Ultima Ratio bedarf die Einwilligung des Betreuers bzw. des Vorsorgebevollmächtigten zudem der Genehmigung des Betreuungsgerichts (§ 1906a Abs. 2 BGB). Die weiteren Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung ergeben sich im Wesentlichen aus § 1906a Abs. 1 BGB (hierzu Reske 2017); danach ist sie möglich, wenn 1. sie zum Wohl des Patienten notwendig ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, 2. der Patient auf Grund einer psychischen Krankheit bzw. einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann, 3. die ärztliche Zwangsmaßnahme nicht dem in einer Patientenverfügung geäußerten (freien) Willen des Betroffenen widerspricht, 4. zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht wurde, den Patienten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, 5. der drohende erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere den Betroffenen weniger belastende Maßnahme abgewendet werden kann, 6. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt und 7. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt

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Gesundheitsrecht

wird, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betroffenen einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist. Von dieser betreuungsrechtlichen Zwangsbehandlung zu unterscheiden sind ordnungsrechtliche Zwangsmaßnahmen, die sich aus den sog. Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKG) der Länder ergeben. Sie sind nach dem jeweiligen Landesgesetz in aller Regel möglich, wenn aufgrund einer psychischen Erkrankung eine erhebliche und/oder gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut des Betroffenen selbst oder (anders als im Betreuungsrecht) für eines einer anderen Person besteht. Eine solche öffentlich-rechtliche Zwangsbehandlung ist zudem nur statthaft, wenn sie im Zusammenhang mit einer zwangsweisen Unterbringung wegen Eigen- oder Fremdgefährdung erfolgt (vgl. hierzu Großkopf und Klein 2011, S. 436 ff.).

5

Resümee und Ausblick

Das Gesundheitsrecht reglementiert in erster Linie die Rechtsverhältnisse zwischen den Leistungs- und Kostenträgern im Gesundheitswesen, den diversen Leistungserbringern und den Versicherten bzw. Patienten; zu unterscheiden sind insofern das Leistungs- bzw. Versicherungsverhältnis zwischen den Leistungsträgern und den Versicherten (sog. Leistungsrecht), das Leistungserbringungsverhältnis zwischen den Kostenträgern und den Leistungserbringern (sog. Leistungserbringungsrecht) sowie das Behandlungsverhältnis zwischen den Patienten und den Leistungserbringern (sog. Patientenrecht) (Abb. 1). Es integriert so eine ganze Reihe unterschiedlicher Rechtsbereiche, zeichnet sich durch das interdependente Zusammenwirken verschiedener Rechtsquellen aus und ist damit vor allem eins: kompliziert. Dabei gehört das Gesundheitsrecht nicht nur zu den komplexesten, sondern auch zu den dynamischsten Rechtsgebieten überhaupt. Neben den fast schon zahllosen Gesundheitsreformen der letzten Jahre und Jahrzehnte (hierzu Knieps und Reiners 2015 oder Illing 2017) belegt dies vor allem die Tatsache, dass allein das die GKV und damit den Kernbereich des Gesundheitssystems reglementierende SGB V seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1989 insgesamt durch weit mehr als 200 Gesetze geändert worden ist. Nicht zu Unrecht wird das Gesundheitsrecht daher häufig auch mit dem Begriff der Dauerbaustelle tituliert (vgl. etwa Ebsen, in: Ebsen 2015, S. 24, 349). Dies ist insofern nicht verwunderlich, als das zentrale gesundheitspolitische Instrument zur Veränderung bzw. Steuerung des Gesundheitssystems stets die Verabschiedung eines Gesetzes ist: Antworten auf die drängendsten Fragen einer zukunftsfesten gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung werden von der Gesundheitspolitik gesucht – gegeben werden sie dann in Form von Nachjustierungen

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und Reformen des Gesundheitsrechts durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Dabei steht die Gesundheitspolitik vor großen Herausforderungen: sei es der demografische Wandel, der stete medizinische Fortschritt, die aus beiden Faktoren resultierenden Finanzierungsschwierigkeiten der Gesundheitsversorgung oder die von den Gesundheitswissenschaften seit langem beklagten defizitären Versorgungsstrukturen. Anpassungen und Änderungen der rechtlichen Grundlagen aller drei Bereiche des sog. gesundheitsrechtlichen Dreiecks sind daher nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich: Auf dem Gebiet des Leistungsrechts stellt sich so vor allem die Frage nach einer weiteren Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip, etwa durch neuerliche Leistungseinschränkungen oder gar durch eine Priorisierung bzw. Rationierung von Gesundheitsleistungen – eine Frage, die nicht nur die Gesundheitspolitik und die Gesundheitsökonomie, sondern auch die Medizinethik beschäftigen wird. Im Leistungserbringungsrecht wird es neben der möglichst leistungsgerechten Ausgestaltung der Vergütungssysteme auch um die Sicherstellung einer flächendeckenden, evidenzbasierten und an klar definierten Qualitätsstandards orientierten Versorgung mit Gesundheitsleistungen und eine Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen gehen, um etwa die tradierte sektorale Trennung im Gesundheitswesen durch neue effektivere und effizientere Versorgungsformen zu überwinden. Das Patientenrecht wird – um seiner Schutzfunktion gerecht zu werden – aller Voraussicht nach von einer weiteren Stärkung der Verbraucherrechte gegenüber den Leistungserbringern geprägt sein; hierzu gehört vor allem das vorliegend nicht näher thematisierte Haftungsrecht, aber auch die stärkere gesetzliche Reglementierung der zivilrechtlichen Verträge zur Leistungsbewirkung und die damit verbundene weitere Verrechtlichung des Behandlungsverhältnisses. Insgesamt kann eine Darstellung des geltenden Gesundheitsrechts daher immer nur eine Momentaufnahme sein. Die Dynamik der Rechtsänderungen ist insofern ebenso ein Wesensmerkmal des Gesundheitsrechts wie dessen Komplexität und Vielschichtigkeit. Keinesfalls zu erwarten ist eine große gesundheitsrechtliche Kodifikation, die alle Bestimmungen zum Gesundheitsrecht vereint – dazu ist der Begriff des Gesundheitsrechts selbst in der Rechtswissenschaft noch zu unkonturiert.

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Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung

64

Michael Lauerer, Daniel Negele und Eckhard Nagel

Inhalt 1

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779

2

Relevanz und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779

3

Theoretische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780

4 Daten und Indikatoren für Gesundheitssystemvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 4.1 Vergleichsdimensionen und Indikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 4.2 Datenverfügbarkeit und -verwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 5

Vorliegende Gesundheitssystemvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785

6

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789

1

Einführung

Der vorliegende Beitrag führt überblicksartig in die Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung ein. Überblick bedeutet in diesem Fall, dass wesentliche Aspekte in Grundzügen dargelegt, Übersichten zu relevanten Datenbanken sowie verfügbaren Gesundheitssystemvergleichen präsentiert und Hinweise auf weiterführende Literatur gegeben werden. Dabei fokussiert der Beitrag auf quantitative bzw. variablen-orientierte Untersuchungen unter Berücksichtigung des deutschen Gesundheitswesens. Der erste Abschnitt geht auf den Zweck von komparativen Analysen und deren Entwicklung ein. Im anschließenden

M. Lauerer (*) · E. Nagel Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] D. Negele Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften, Universität Bayreuth, Bayreuth, Deutschland Geltendorf, Deutschland E-Mail: [email protected]

Abschnitt werden zentrale theoretische Zugänge skizziert. Im nächsten Schritt folgen Ausführungen zu Daten und Datenverfügbarkeiten sowie zu Indikatoren. Der Beitrag schließt mit einer Übersicht zu publizierten Gesundheitssystemvergleichen. An verschiedenen Stellen rekurriert der Beitrag auf einen von Papanicolas et al. (2018) veröffentlichten Vergleich von Gesundheitssystemen, der als Anwendungsbeispiel der Veranschaulichung dient.

2

Relevanz und Entwicklung

Spezifische historische, kulturelle, sozioökonomische und politische Faktoren nehmen Einfluss auf die Entwicklung internationaler Gesundheitssysteme. Im Ergebnis bestehen Unterschiede in der Organisation und Finanzierung der Gesundheitsversorgung, im Umgang mit Ressourcen und auch innerhalb der allgemeinen Definition(en) von Gesundheit. Die Leistungsfähigkeit internationaler Gesundheitssysteme unterscheidet sich entsprechend. Dabei gibt es kein System, das in allen Aspekten vorzugswürdig ist. Vielmehr werden in der Diversität spezifische Vor- und Nachteile

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_70

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780

M. Lauerer et al.

erkennbar. Vor diesem Hintergrund eröffnen Gesundheitssystemvergleiche die Möglichkeit eines lernenden Blicks, der auf eine Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung abzielen kann (Europäisches Parlament 1998; Lauerer et al. 2011; Warschke et al. 2015). Anlass für einen Blick über den eigenen Tellerrand ist für die europäische Gesundheitspolitik neben der Sicherung des Zugangs und der Qualität der Versorgung auch die Sicherung der Finanzierung bzw. ein sich im Spannungsfeld des medizinisch Machbaren einerseits und der solidarischen Bereitstellung andererseits manifestierender Kostendruck. Komparative Analysen sollen ökonomisch begründete Steuerungsoptionen für politische Institutionen bzw. Entscheidungsträger identifizieren (Jaeckel 2009; Schneider et al. 2007). Im Hinblick auf die Entwicklung von Gesundheitssystemvergleichen ist der Kostendruck eine treibende Kraft: Studien beschäftigen sich zunehmend ab Mitte der 1970er-Jahre mit Gesundheitssystemen. In Zeiten der Ölkrise verlagerte sich der gesundheitspolitische Fokus von der Ausweitung des Leistungsangebots auf die Effektivität und Effizienz der Versorgung (Wendt 2005). Mit der Erweiterung der Datengrundlage – z. B. erstellt die OECD seit 1985 einen zunehmend umfangreichen Datensatz – haben sich die Voraussetzungen für Analysen, die über ökonomische Ansätze hinausgehen, deutlich verbessert (Jaeckel 2009; Papanicolas und Smith 2013). Ab dem Ende der 1980er-Jahre befasst sich die Wissenschaft verstärkt, wenn auch nicht kontinuierlich, mit der Steuerung von Gesundheitssystemen, Machtverhältnissen, Interessenverteilung und Unterschieden in der Gesundheitsversorgung (Wendt 2005). Heute gelten Fragen der Finanzierung und der Ausgaben im Vergleich zu anderen Fragestellungen als umfassend beantwortet (Wendt 2006). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die komparative Analyse konkreter, ökonomisch geprägter Fragestellungen obsolet wäre. So untersucht etwa die für diesen Beitrag als Anwendungsbeispiel gewählte Studie von Papanicolas et al. (2018) – vor dem Hintergrund hoher Gesundheitsausgaben in den USA – die Treiber der Ausgaben in 11 Gesundheitssystemen.

3

Theoretische Zugänge

Die vergleichende Analyse von Gesundheitssystemen ist Teil unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und verbunden mit vielfältigen theoretischen Ausgangspositionen. Aus der politikwissenschaftlichen Perspektive legt Beil-Hildebrand (2011) den dabei herrschenden Mangel an einer theoriegeleiteten Herangehensweise und die Defizite pragmatischer Ansätze dar. Vor diesem Hintergrund ist nachstehend eine Auswahl an bedeutsamen theoretischen Zugängen skizziert. Wendt (2005) folgend, werden die Theorie der staatlichen Regulierung, Institutionentheorie sowie die Gesundheitsökonomie als Zugang zu Systemvergleichen be-

schrieben.1 In einer differenzierten Diskussion legt Wendt dar, dass für Analysen regelmäßig die Integration verschiedener Zugänge zielführend ist. Exemplarisch führt er die Analyse der Faktoren, die Einfluss auf die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen geben, an. Aus gesundheitsökonomischer Perspektive können etwa Zuzahlungen und auf Basis der Institutionentheorie der Einfluss eines Hausarztmodells fokussiert werden. Im Anwendungsbeispiel – Papanicolas et al. (2018) – werden analog die Treiber der Gesundheitsausgaben analysiert. Die Institutionentheorie wurde maßgeblich von Max Weber geprägt und etwa durch M. Rainer Lepsius spezifisch entwickelt. Sie schreibt Institutionen eine Interessen formende und Verhalten prägende Funktion zu. Institutionen bieten Verfahrensweisen für die Durchsetzung der Interessen und können Ideen in konkreten Kontexten Geltung verleihen. Entsprechend werden unterschiedlich institutionalisierte Gesundheitssysteme ungleich wahrgenommen und bewertet. Sie bedingen Unterschiede im gesundheitsbezogenen Verhalten und der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen. Die prägende Wirkung von Institutionen geht dabei nicht nur auf die ihnen zugeschriebenen Wirkungen, sondern auch auf ihren Wertebezug zurück. Zwischen Werten und Institutionen wird ein reziprokes Verhältnis konstatiert: Institutionen werden durch ihren Wertebezug legitimiert. Werte werden durch ihre Institutionalisierung verwirklicht. Vor diesem Hintergrund liefert die Institutionentheorie insbesondere mit der Analyse von Zusammenhängen zwischen institutionellen Charakteristika und Handlungsorientierungen, Einstellungen und Handlungsmustern einen Beitrag zum Vergleich von Gesundheitssystemen (Wendt 2005; Lepsius 2009). Die Theorie der staatlichen Regulierung stellt auf das Verhältnis von staatlicher Steuerung und Selbstorganisation sowie Interaktionen zwischen den jeweils eigenverantwortlich Handelnden ab. Der sog. Akteur-zentrierte Institutionalismus kann einen Analyserahmen für diesen Zusammenhang zwischen Steuerung und Selbstorganisation darstellen. Dabei werden Institutionen sowohl als abhängige als auch als unabhängige Variablen verstanden, die nicht determinierend wirken, sondern für Akteure einen ermöglichenden oder einschränkenden Handlungskontext entfalten. Verschiedene Formen der Handlungskoordination oder -regulierung werden konzeptionell unter dem Begriff Governance analysiert und mit einer entsprechenden Typologie in ihrer Variationsbreite abgebildet. So können Gesundheitssysteme etwa in einer Matrix, die sich entlang der Regulierungsträger (i) Staat, (ii) Selbstverwaltung und (iii) Markt sowie der

1 Wendt (2005) geht zudem auf die Systemtheorie ein. Darauf wird hier verzichtet, da – unter der systemtheoretischen Annahme, dass sich Gesundheitssysteme externen Steuerungen entziehen – das Erkenntnispotenzial solcher Vergleiche sehr eingeschränkt ist.

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Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung

Regulierungsinstrumente (i) Hierarchie, (ii) Verhandlung und (iii) Wettbewerb konstituiert, typisiert werden. Auch wenn reale Gesundheitssysteme nicht in den entsprechenden Idealtypen vorliegen, lassen sie sich in der Typologie gut voneinander abgrenzen. Systemvergleiche können aufgreifen, unter welchen Bedingungen gesundheitspolitische Maßnahmen greifen oder an Vetopositionen scheitern, wie GovernanceFormen zusammenwirken und veränderbar sind (Wendt 2005; Mayntz und Scharpf 1995a, b). Als ausdifferenzierte Disziplin bezieht die Gesundheitsökonomie das Instrumentarium der ökonomischen Theorie auf Analysen wirtschaftlicher Aspekte des Gesundheitssystems. Die mikroökonomisch basierte Entscheidungstheorie beschäftigt sich etwa mit dem Verhalten von Krankenversicherten, Leistungserbringern und Krankenkassen und die auf der neoklassischen Wohlfahrtstheorie fußende ökonomische Evaluationsforschung mit der Bewertung von Arzneimitteln. Ausgangspunkt ist stets die Annahme, dass Ressourcen ubiquitär knapp sind und die Kosten einer Handlungsoption dem Nutzen einer Alternative, die nicht gewählt wird, entsprechen. Zudem sind Akteure eigennützig, risikoavers und streben einen effizienten Ressourceneinsatz an. Abweichungen von diesen Annahmen berücksichtigt die Gesundheitsökonomie im Rahmen interdisziplinärer Ansätze (von der Schulenburg 2012; Friedrich et al. 2014). Für Gesundheitssystemvergleiche können zahlreiche der Gesundheitsökonomie zuzuordnende Thesen und Modelle mit soziologischen und politikwissenschaftlichen Untersuchungen kombiniert werden (Wendt 2005). Exemplarisch sei auf Moral-Hazard-Effekte, die These der angebotsinduzierten Nachfrage und das Prinzipal-Agent-Problem verwiesen (Breyer et al. 2013).

4

Daten und Indikatoren für Gesundheitssystemvergleiche

Um komparative Fragestellungen zielführend bearbeiten zu können, bietet sich neben einer qualitativen, auf Fallstudien bezogenen Vorgehensweise ein stärker quantitatives Vorgehen an (Cacace et al. 2013). Daten und Indikatoren helfen dabei, definierte Fragestellungen zu operationalisieren. Dieser, oftmals unter Gesundheitsökonomen verbreitete Ansatz, bietet u. a. die Möglichkeit, auf Zusammenhänge zwischen Input- (z. B. Krankenhausbetten je 1000 Einwohner) und Output-Indikatoren (z. B. krankenhausbezogene Sterblichkeit) analytisch einzugehen. Für solche Rückschlüsse ist es aber zum einen erforderlich, dass die dafür nötigen Daten vorliegen. Zum anderen müssen die Datengrundlagen über eine ausreichende Qualität und Vergleichbarkeit verfügen. Überdies ist es erforderlich, stets die Komplexität der zugrunde liegenden Fragestellung in die Auswahl der Indikatoren und Daten einzubeziehen sowie die sich aus der

781

Auswahl an Variablen und Indikatoren ergebenden Limitationen transparent zu adressieren (Cacace et al. 2013; Nolte et al. 2005). Im Folgenden wird zunächst auf die Bildung von übergeordneten Vergleichsdimensionen sowie die Verwendung von zugehörigen Indikatoren eingegangen (Abschn. 4.1). Dabei werden mögliche Vorgehensweisen beschrieben und relevante Aspekte bei der Auswahl passender Indikatoren diskutiert. Danach folgt eine Darstellung wichtiger Datenbanken sowie deren Inhalte, Verwendungszwecke und Limitationen (Abschn. 4.2).

4.1

Vergleichsdimensionen und Indikatoren

Die Bildung von Vergleichsdimensionen dient dazu, die Komplexität einer Fragestellung zu reduzieren sowie die Analyse zu strukturieren. Vergleichsdimensionen bestehen aus verschiedenen Indikatoren. Diese sind als numerische Maßzahlen zu verstehen, die zahlenbasierte Aussagen über Gesundheitssysteme und damit quantifizierte Vergleiche zwischen verschiedenen Systemen erlauben (Statistisches Bundesamt 2000; Warschke et al. 2015). Einfache Indikatoren geben einen Sachverhalt in Form einer binären Form oder durch eine Absolutgröße (z. B. Anzahl Krankenhausbetten) wieder, relationale Indikatoren verwenden häufig Quotienten (z. B. Krankenhausbettendichte) oder Anteilswerte, komplexe Indikatoren stellen meist berechnete Indizes dar. Diese Indizes bilden vielschichtige Sachverhalte durch Aggregation mehrerer Indikatoren in einer Maßzahl ab (Meyer 2004). Allerdings ist mit der Verwendung berechneter Indizes auch die Gefahr verbunden, die Komplexität der Thematik verkürzt darzustellen (Almeida et al. 2001; Cylus et al. 2016). Aggregation geht stets mit Informationsverlust einher. Eine anschauliche Darstellung des Zusammenspiels von Fragestellung einer Studie, Auswahl und Verwendung von passenden Vergleichsdimensionen sowie messbaren Indikatoren skizziert Abb. 1. Hier wird wiederum auf die bereits zitierte Studie von Papanicolas et al. (2018) referenziert: Beispielhaft werden die Vergleichsdimensionen „Gesundheitsausgaben“ und „Bettenzahl“ dargestellt. Die Studie betrachtet darüber hinaus noch weitere Vergleichsdimensionen. Aufgrund der Heterogenität der Fragestellungen innerhalb der komparativen Gesundheitssystemforschung, die sich aus dem hohen Diversifikationsgrad der nationalen Gesundheitssysteme ergibt, existiert kein Standardansatz für Dimensionen und die zugehörigen Indikatoren (Ochs et al. 2015). Deswegen sind für jede Fragestellung passende Parameter zu wählen, mit deren Hilfe die Forschungsfragen adäquat bearbeitet werden können. Bei der Konstruktion von Vergleichsdimensionen sind unterschiedliche Vorgehensweisen denkbar: Während ein

782

M. Lauerer et al.

Abb. 1 Operationalisierung von Fragestellungen mit Vergleichsdimensionen und Indikatoren

Tab. 1 Vergleichsdimensionen „Finanzierung“ und „Ressourcen“ mit dazugehörigen Indikatoren

Vergleichsdimension Finanzierung

Ressourcen

Zugehörige Indikatoren Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP)

Gesamt Öffentlich Privat Gesundheitsausgaben gesamt pro Kopf (kaufkraftparitätisch bereinigt) Praktizierende Ärzte (je 1000 Einwohner) Krankenhausbetten (je 1000 Einwohner)

Vergleichsländer Deutschland [2015] 11,2 % 9,4 % 1,7 % 5353$

Großbritannien [2015] 9,9 % 7,9 % 2,0 % 4125$

USA [2015] 16,9 % 8,3 % 8,6 % 9507$

4,14

2,79

8,13

2,61

2,57 [2014] 2,83 [2014]

„Health Statistics 2017“ auf der Grundlage von Daten aus 2014/2015

deduktiver Ansatz von normativ hergeleiteten Dimensionen von einem Systemvergleich ausgeht (Wendt 2005), werden bei einem induktiven Ansatz die Vergleichsdimensionen durch die Festlegung der für die Beantwortung der Fragestellung benötigten bzw. verfügbaren Indikatoren entwickelt (Lauerer et al. 2013). Allerdings besteht bei der Verwendung von Vergleichsdimensionen und Indikatoren stets eine Abhängigkeit von der Verfügbarkeit entsprechender Daten. Auch wenn Studien existieren, die teils Primärdaten länderübergreifend erheben (Koch et al. 2010, 2011), werden meist bereits vorhandene Datensätze verwendet. Am folgenden Beispiel für Deutschland, Großbritannien und die USA soll der Zusammenhang zwischen den in Gesundheitssystemvergleichen vielfach verwendeten Vergleichsdimensionen „Finanzierung“ sowie „Ressourcen“ und

möglichen Indikatoren verdeutlicht werden. Die Auswahl an Indikatoren erfolgte im Rahmen der OECD-Datenbank „Health Statistics 2017“ (OECD 2018) (Tab. 1). Anhand der Darstellung lassen sich einige für die Entwicklung und Verwendung von Vergleichsdimensionen und Indikatoren maßgebliche Prinzipien illustrieren. Diese sind auch auf andere Indikatoren übertragbar. Eine alleinstehende Betrachtung des Indikators „Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP“ zwischen den Vergleichsländern kann zu verzerrten Aussagen führen. Die Unterteilung in Finanzierungsquellen (öffentlich/privat) liefert eine Erklärung der quantifizierten Unterschiede zwischen den Ländern: Während die öffentlichen Ausgabenanteile am BIP zwischen Deutschland, Großbritannien und den USA weniger voneinander entfernt liegen, fällt der in der Relation

64

Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung

hohe Wert des privaten Anteils an Gesundheitsausgaben in den USA auf. Dies zeigt, dass bei der Verwendung von Indikatoren darauf zu achten ist, dass nationale Spezifika der Systeme abgebildet werden. Nur dann kann das Portfolio an Indikatoren als aussagekräftig bezeichnet werden. Auch bei der Betrachtung der Ärztedichte (im Beispiel Indikator „Praktizierende Ärzte (je 1000 Einwohner)“) oder der Krankenhausbettendichte ist auf die Bevölkerungsstruktur der einbezogenen Länder zu achten, denn die Maßzahl stellt lediglich auf den Durchschnitt ab und kann daher, ohne Berücksichtigung der Siedlungsstrukturen der Vergleichsländer (Flächenstaat vs. dichte Bevölkerungsstruktur), keine aussagekräftigen Ergebnisse über die adäquate Ressourcenverteilung der Ärzte liefern (Schölkopf und Pressel 2017). Ergebnisse aus Gesundheitssystemvergleichen dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden. Denn ohne die notwendigen Kontextfaktoren besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse fehlinterpretiert werden. Beim relationalen Indikator „Gesundheitsausgaben gesamt pro Kopf“ ist es v. a. beim Vergleich von Ländern mit unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Leistungsfähigkeit von Bedeutung, die Ausgaben nach Kaufkraftparitäten zu standardisieren (Kravis 1984). Durch diesen Schritt können valide Messindikatoren und eine Vergleichbarkeit der Daten geschaffen werden. Die Gesundheitsausgaben können dann in einem nächsten Schritt durch den Einbezug von vorhandenen Versorgungsstrukturen oder der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in ein Verhältnis gesetzt werden. Dadurch wird es möglich, Unterschiede in der Höhe der Ausgaben zu erklären. Indikatoren sollten zwischen den Vergleichsländern möglichst den gleichen Zeitbezug aufweisen. Dies kann bisweilen bei einem Ländervergleich zu Problemen führen, wenn die Indikatoren nicht für alle Länder zu gleichen Zeitpunkten berichtet werden. In obigem Beispiel ist dies bei den Variablen „Praktizierende Ärzte“ und „Krankenhausbetten“ der Fall. Während für Großbritannien und Deutschland bereits Daten für 2015 vorliegen, ist bei den USA auf die Daten des Jahres 2014 zurückzugreifen. Weil Gesundheitssysteme sehr reformgeprägte Gebilde darstellen (Ochs et al. 2015) und daher Indikatoren zeitabhängig sein können, kommt der beschriebenen Forderung eines gleichen Zeitbezugs von Daten eine besondere Relevanz zu. Denn die Organisationsoder Finanzierungsstruktur eines Gesundheitssystems, auf deren Datenbasis die Ergebnisse einer Analyse gründen, und der Status quo der Struktur des Gesundheitssystems können durchaus verschieden sein. Dies kann dazu führen, dass die Ergebnisse der vergangenheitsbezogenen Analyse nicht mehr zu den aktuellen Rahmenbedingungen passen. Auch die Länderauswahl kann mit Blick auf die Verwendung von Vergleichsdimensionen und Indikatoren von Bedeutung

783

sein. Denn nicht für alle Länder liegen zwangsläufig Datensätze zu den für die Forschungsfrage relevanten Indikatoren vor. Daher schränkt die Auswahl an Vergleichsindikatoren die Länderwahl ein bzw. kann diese sogar determinieren (vice versa). Zudem sollten die Primärdaten in den Vergleichsländern nach ähnlichen methodischen Kriterien und zugrunde liegenden Definitionen erhoben worden sein (z. B. Erfassung der Säuglingssterblichkeit) (Papanicolas und Jha 2017). Auch wenn die Daten internationaler Organisationen (z. B. OECD oder WHO) zunehmend harmonisiert wurden und dies auch in Zukunft noch weiter geschehen wird, existieren weiterhin partielle Unschärfen, die es zu berücksichtigen gilt. Überdies existieren auch Unschärfen und unterschiedliche Wahrnehmungen, die z. B. auf kulturelle Unterschiede in den Vergleichsländern zurückgehen (z. B. bei der Messung der Patientenzufriedenheit). Solche Abweichungen entziehen sich der Bemühungen um Harmonisierung.

4.2

Datenverfügbarkeit und -verwendung

Die Datenverfügbarkeit für Fragestellungen der komparativen Gesundheitssystemforschung verbesserte sich seit den 1970erJahren. Ab dieser Zeit standen in den Gesundheitssystemen der Industrieländer Kostendämpfungsmaßnahmen im Fokus (Wendt 2005). In den 1980/1990er-Jahren kam es dann zu einer deutlichen Zunahme an verfügbaren Daten. 1985 veröffentlichte die OECD erstmals einen Datensatz zu internationalen Gesundheitssystemen. Dieser brachte weitergehende Analysemöglichkeiten und umfasste vor allen Dingen Daten zur Finanzierung und Gesundheitsausgaben. Diese Parameter zählen auch heute zu den Kerninhalten der OECD-Daten. Daneben stellen die Qualität der Leistungserbringung und deren Bezug zur Ausgestaltungart von Gesundheitssystemen weitere Kernparameter dar (Papanicolas und Smith 2013). Mittlerweile existiert eine Vielzahl an Studien und Publikationen, die sich alle mit heterogenen Fragestellungen beschäftigen sowie unterschiedliche Datengrundlagen sowie ausdifferenzierte Indikatorensets verwenden (Lauerer et al. 2013). Nachfolgend werden zentrale Datenbanken näher dargestellt, die in Studien zur komparativen Gesundheitsforschung häufig verwendet werden. World Health Organization (WHO) Die WHO veröffentlicht bereits seit Mitte der 1980er-Jahre eine die Mitgliedsstaaten der Europäischen Region umfassende Datenbank (Health for All database). In dieser werden grundlegende Gesundheitsdaten erfasst. Die Datenbank stellt insgesamt ca. 600 Gesundheitsindikatoren dar und fokussiert auf die durch die WHO durchgeführten Studien (z. B. World Health Reports) bzw. die

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gesetzten Rahmenprogramme (Health 2020). Der Datensatz lässt sich in folgende Teilbereiche untergliedern: Demografie und sozioökonomische Grundindikatoren, Sterblichkeit/Mortalität, Morbidität/Behinderungen, Lebensstil, Umwelt, Ressourcen und Ausgaben der Gesundheitsversorgung, Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, Mutterschaft und Gesundheit von Kindern. Der Zugriff auf die Datenbank erfolgt online und ermöglicht zahlreiche Analyse- und Gestaltungsmöglichkeiten (http://data.euro.who.int/hfadb/. Zugegriffen am 04.08.2018). Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) Daten zum Gesundheitswesen werden durch die OECD für deren Mitgliedsländer seit 1985 publiziert (OECD Health Data). Einzelne Indikatoren sind aber bereits ab 1960 verfügbar. Dabei kann die OECD als wesentlicher Treiber bei der Entwicklung von Gesundheitsdatenbanken angesehen werden, v. a. für die Themen der Finanzierung/Ausgaben sowie Qualität (Papanicolas und Smith 2013). Die Daten werden jährlich aktualisiert und können in folgende Bereiche klassifiziert werden: Gesundheitszustand, Determinanten von Gesundheit, Ressourcen für die Gesundheitsversorgung, Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, Gesundheitsausgaben, Finanzierung, Qualitätsindikatoren, Sozialer Schutz, Pharmabranche, demografische und ökonomische Rahmendaten. Diese umfangreiche Datensammlung wird häufig in wissenschaftlichen Studien verwendet. Die Datenbank bietet eine online-basierte Zugriffsmöglichkeit (http://www.oecd.org/els/ health-systems/health-data.htm. Zugegriffen am 04.08.2018). Zudem veröffentlicht die OECD alle zwei Jahre die wichtigsten Gesundheitsindikatoren in Buchform (Health at a glance). Europäische Kommission Die derzeit 88 Indikatoren, die unter dem Begriff European Core Health Indicators (ECHI) firmieren, wurden im Rahmen mehrerer Aktionsprogramme der Europäischen Gemeinschaft erarbeitet. Diese sind online leicht zugänglich und wurden mit anderen internationalen Organisationen (WHO, OECD) abgestimmt (https://ec. europa.eu/health/indicators/indicators_en. Zugegriffen am 04.08.2018). Die Daten lassen sich in folgende Kategorien gliedern: Demografische und sozioökonomische Faktoren, Gesundheitsstatus, Gesundheitsfaktoren, Medizinische Maßnahmen: Gesundheitsdienste und Medizinische Maßnahmen: Gesundheitsförderung. The Commonwealth Fund Der Commonwealth Fund – eine private Stiftung in New York – fokussiert stark auf Gesundheitsdaten aus den USA. Die herangezogenen Indikatoren in den Kategorien Zugang, Prävention und Behandlung, vermeidbare Krankenhausaufenthalte und -kosten, Gerechtigkeit und gesundes Leben werden jeweils zu Indizes gebündelt und auch über alle Indikatoren hinweg zu einem Gesamtindex zusammengefasst. Dies wird vor allem für die Erstellung

M. Lauerer et al.

von Rankings zwischen Bundesstaaten innerhalb der USA genutzt (Papanicolas und Smith 2013). Die Daten und Analysen sind online abrufbar und manuell gestaltbar (http://data center.commonwealthfund.org/. Zugegriffen am 04.08.2018). Ebenso führt der Commonwealth Fund aber auch Studien zur Stellung des Gesundheitssystems der USA im internationalen Vergleich durch (Schoen et al. 2013). Health Consumer Powerhouse Das Health Consumer Powerhouse berichtet seit 2005 zu Daten aus dem Gesundheitswesen. Die privat organisierte Einrichtung mit Niederlassung in Schweden richtet ihre Analysen und Datenbank nach der Patientensicht und -orientierung aus. Aktuell besitzt der Index 46 Indikatoren (Stand: Jahr 2017), die folgende Dimensionen umfassen: Patientenrechte und -information, Zugang (Wartezeiten), Outcomes, Leistungsangebot, Prävention und Arzneimittel (Health Consumer Powerhouse 2018). Aus diesen Kategorien wird letztlich ein Gesamtindex gebildet, der die internationalen Gesundheitssysteme in ein Ranking bringt. Die Daten bezieht das Health Consumer Powerhouse dabei sowohl aus eigenen Befragungen als auch aus bestehenden Datenbanken, z. B. der WHO oder OECD (Papanicolas und Smith 2013). Die Daten zu den einzelnen Indikatoren sind online abrufbar (http://indicators.healthpower house.com/ehci2017-indicators/. Zugegriffen am 04.08.2018). Bezüglich der Indexbildung und deren Aussagekraft sind aber bei der Verwendung der Daten methodische Kritikpunkte zu berücksichtigen (Cylus et al. 2016). Auch wenn, wie der Beschreibung der jeweiligen Datenbanken zu entnehmen ist, die verfügbaren Daten der Organisationen zu unterschiedlichen Zwecken und aus unterschiedlichen Perspektiven entwickelt und erhoben werden, lassen sich durchaus Gemeinsamkeiten finden. In der beschriebenen Auswahl an Datenbanken fällt auf, dass ein Schwerpunkt auf Indikatoren, die sich auf die Finanzierung des Gesundheitssystems sowie Ausgaben beziehen, liegt. Ebenso ist eine gute Datenlage bezüglich der Ressourcen der Gesundheitssysteme zu konstatieren. Daher lässt sich festhalten, dass die Datenverfügbarkeit vor allem in Bereichen, welche im Sinne Donabedians die Strukturqualität eines Gesundheitssystems betreffen (Donabedian 1980), ausgeprägt ist. Im Bereich der Prozessqualität hingegen besteht Optimierungsbedarf, um auch hier mithilfe von Daten evidenzbasierte gesundheitspolitische Entscheidungen treffen zu können. Die Datenlage für die Ergebnisqualität erfährt vor allem in den letzten Jahren ein starkes Wachstum und wird vermutlich auch in den kommenden Jahren aufgrund der zunehmenden Qualitätsorientierung der internationalen Gesundheitssysteme und den sich damit ergebenden Fragestellungen weiter an Bedeutung gewinnen. Zudem zeigt sich, dass in Bereichen wie der Prävention und der Gesundheitsförderung, aber auch der Patientensicherheit derzeit noch eine ausbaufähige Datenverfügbarkeit besteht (Lauerer et al. 2013). Deshalb wäre ein zielführender Schritt,

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Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung

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dass Wissenschaftler in Publikationen Datenlücken systematisch adressieren, damit diese priorisiert geschlossen werden können.

Übersicht und differenziertere Analyse verfügbarer Studien ist die Durchführung eines aktuellen systematischen Literaturreviews angezeigt.

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Vorliegende Gesundheitssystemvergleiche

Bereits vor mehr als einem Jahrzehnt stellte Wendt (2006) fest, dass sich die Gesundheitssystemforschung rasant entwickle. Seine Auswertung der Studienlage fokussierte auf die Finanzierung und Gesundheitsausgaben, Gesundheitsleistungen sowie Regulierungsmodelle im Gesundheitssystem. Ein systematischer Literaturreview von Lauerer et al. (2013) identifizierte 13 zwischen Januar 2000 und Oktober 2011 publizierte Variablen-orientierte Studien, die das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich analysieren: Die vergleichenden Untersuchungen stützen sich auf insgesamt 337 Indikatoren. Nach einer Bereinigung bezüglich des Sinngehalts wurden 244 inhaltlich unterschiedliche Indikatoren gezählt, die wiederum 14 Kategorien zugeordnet werden konnten: Ausgaben und Finanzierung, Versorgungs- und Personalstruktur, Restriktionen, Selbstzuzahlungen, Leistungsinanspruchnahme und Versorgungsangebot, Outcomegrößen, Zufriedenheit, Wartezeiten, Verbreitung elektronischer Assistenzsysteme, Patientenorientierung und Informationsübermittlung, Gerechtigkeit, Sicherheit, Effizienz und Sonstige. Für ein Update der Studienlage wurde im ersten Quartal 2018 eine Recherche in Verbundkatalogen durchgeführt. Diese Suche in Titeln orientierte sich an der formalen Suchstrategie aus der letztgenannten Übersichtsarbeit. Die Einschlusskriterien wurden etwas weiter, die Ausschlusskriterien enger festgelegt. Insgesamt wurden 23 bis Anfang 2018 veröffentlichte Studien identifiziert, die das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich analysieren. Für Studien aus dem Jahr 2011 wurden nur jene aufgenommen, die noch nicht Teil der genannten Übersichtsarbeit waren. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann bei diesem pragmatischen Ansatz nicht erhoben werden. Allerdings deutet das Rechercheergebnis auf eine Intensivierung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gesundheitssystemvergleichen hin. Tab. 2 gibt einen Überblick über die Studien und ihre inhaltlichen Kernbereiche. Die angeführten Publikationen decken eine breite Palette an Fragestellungen, die komparativ beantwortet werden, ab. Am – in quantitativer Hinsicht – hohen Stellenwert der Ausgaben und Finanzierung von Gesundheitssystemen hat sich nichts geändert. Auch Leistungsausschlüsse und Zuzahlungen sind häufig Teil der Untersuchungen. Allerdings wird deutlich, dass zudem Aspekte, die nicht primär der Gesundheitsökonomie zuzuordnen sind, regelmäßig abgebildet werden. Neben dem Rückgriff auf große Datenbanken dienen auch Befragungen als Datengrundlage. Für eine vollständige

Ausblick

Die zunehmende Digitalisierung fördert die Verfügbarkeit, Dichte und bestenfalls auch Qualität gesundheitsbezogener Daten. Um diese für vertiefte Analysen – etwa der Prozessqualität – fruchtbar zu machen, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu gehört, dass die vorwiegend nicht für den Zweck der komparativen Gesundheitssystemforschung erhobenen Daten dennoch den Anforderungen eines internationalen Vergleichs genügen (z. B. gleiche Definitionen, Zeiträume). Zudem müssen sie den etablierten Institutionen (z. B. Statistisches Bundesamt, OECD) zugeleitet oder aber Forschenden direkt zugänglich gemacht werden. Schlussfolgerung

• Vergleichende Gesundheitssystemforschung dient der Identifizierung ökonomisch begründeter Steuerungsoptionen für politische Institutionen bzw. Entscheidungsträger • Verschiedene theoretische Modelle liefern einen Zugang zur vergleichenden Gesundheitssystemforschung • Stark verbreitet sind quantitative bzw. variablenorientierte Fragestellungen, gesundheitsökonomisch geprägte Analysen • Vorliegende Studien fokussieren (weiterhin) auf die Dimensionen Ausgaben und Finanzierung • Wahl der Vergleichsdimensionen, Indikatoren und Datengrundlagen hängt stark voneinander ab und ist für die Beantwortung der zugrunde liegenden Fragestellung entscheidend • Steigende Datenverfügbarkeit in den letzten Jahren eröffnet größere Analysemöglichkeiten • Vergleichende Gesundheitssystemforschung bietet ein potentes Instrumentarium für die gesundheitspolitische Entscheidungsunterstützung • Die Reflexion und Offenlegung methodischer Limitationen ist die notwendige Voraussetzung einer tragfähigen Entscheidungsfindung • Zunehmende Digitalisierung kann die Potenziale der vergleichenden Gesundheitssystemforschung erweitern Danksagung Für die Unterstützung beim Update der Literatur danken wir Frau Laura Broening, Frau Monika Jakab, Frau Maren Steinmann und Frau Vanessa Kappes.

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M. Lauerer et al.

Tab. 2 Update des Literaturreviews von Lauerer et al. (2013): Auf das deutsche Gesundheitswesen fokussierende Übersicht Verfasser (Jahr) Titel Akhmedjonov et al. (2011) Healthcare financing: How does Turkey compare

Kernbereiche Ausgaben für Gesundheit, Input (z. B. Ärztedichte, Pflegepersonaldichte, Bettendichte, Belegungsrate, Krankenhausverweildauer), Leistung (insbesondere Lebenserwartung, Kindersterblichkeit), Zusammenhang zwischen Gesundheitsausgaben und Gesundheitsstatus

Armstrong et al. (2011) The health care dilemma: A comparison of health care systems in three European countries and the U. S.

Vergleich des dänischen, deutschen und schwedischen Gesundheitssystems jeweils mit den USA; zusätzliche Fallanalysen (von Studierenden verfasst, im Stile eines Sammelbands)

Brubaker et al. (2011) Health care systems of developed non-U. S. nations: Strengths, weakness, and recommendations for the United States-observation from internationally recognized imaging specialists

Internationale Expertenbefragung zum eigenen Gesundheitssystem und zu den USA

Department for Professional Employees (2011) The U. S. health care system in international perspective

Vergleich der USA mit anderen hoch entwickelten Staaten, Fokus auf Finanzierung und Ausgaben

Hoffmann et al. (2011) Die Dimension der Kostensteigerung im deutschen Gesundheitssystem im Allgemeinen und im Arzneimittelbereich im Besonderen (internationaler Vergleich) – Anlass zur Kostenbegrenzung oder Effizienzerhöhung? – Die Innovationsverifizierung in Deutschland – eine Positionsbestimmung

Vergleich der G7-Länder: Kostenentwicklung im Allgemeinen und Entwicklung im Arzneimittelbereich im Speziellen

Sirven et al. (2012) Comparability of health care responsiveness in Europe

Analyse von Daten aus dem Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe; Befragte ab Alter von 50 Jahren; Bewertete Dimensionen: (i) Wartezeit, (ii) Qualität der Bedingungen in Gesundheitseinrichtungen, (iii) Kommunikation und Einbeziehung in behandlungsrelevante Entscheidungen

Ausgewählte Aussagen/Aspekte – auf das deutsche Gesundheitswesen bezogen – Im Vergleich von OECD-Mitgliedsstaaten – Hohe Bettendichte – Gesundheitsausgaben gemessen am BIP: Rang 4 nach USA, Frankreich, Schweiz – Gesundheitsausgaben pro Kopf: Rang 8 – Praktizierende Ärzte pro 1000 Einwohner: Über OECDDurchschnitt – Praktizierende Krankenschwestern pro 1000 Einwohner: Rang 4 – Kindersterblichkeit: Unter OECD Durchschnitt – Gegenüberstellung Deutschland und USA – Identifikation von Analogien und ähnlichen Problemstellungen – Vergleich von Ausgaben, Ausgabenentwicklung, Selbstzahlungen etc. – Im Übrigen insbesondere Analyse des Aufbaus, der Entwicklung und Reform des deutschen Gesundheitswesens – Stärken – Freie Arzt- und Krankenhauswahl – Umfangreicher Leistungskatalog – Schwächen – Private Versicherungsunternehmen bevorzugen gesunde und junge Versicherungsnehmer – Einflussmöglichkeit der Regierung als Schwäche in Bezug auf die Autonomie der Ärzte – Exemplarisch – Gesundheitsausgaben pro Kopf über dem OECDDurchschnitt – Große Zahl an Krankenkassen mit hohen Verwaltungskosten assoziiert – Keine Gefahr einer privaten Insolvenz aufgrund von Versorgungskosten – Ausgaben OECD-Vergleich – Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP: Rang 4 – Mittlerer Zuwachs der Gesundheitsausgaben als Anteil am BIP – Geringes Wachstum bei öffentlichem Anteil an Gesundheitsausgaben (GKV-Perspektive) – Rang 10 bei Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben (Kaufkraftparitäten) – Arzneimittel – Eher geringe Steigerung des Umsatzes mit Arzneimitteln – Wachstum des Anteils der Arzneimittelausgaben am BIP gering – Anteil der Arzneimittelausgaben an Gesundheitsausgaben unter dem OECD-Durchschnitt – Arzneimittelverbrauch eher gering – Gegenüberstellung IQWiG und NICE – 1108 Befragte aus Deutschland – Heterogenität bei der Berichterstattung (Deutschland als Referenz) – Heterogenität variiert mit der Dimension – Bsp. Wartezeit: Befragte Personen aus Schweden und Tschechien sind in der gleichen Situation weniger unzufrieden als Deutsche

(Fortsetzung)

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Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung

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Tab. 2 (Fortsetzung) Verfasser (Jahr) Titel Wang et al. (2011) Health care efficiency and determinants – A comparison of Taiwan and OECD countries

Kernbereiche Effizienz der Gesundheitsversorgung, Determinanten; Fokus auf Taiwan im OECD-Vergleich; Data envelopment analysis und Malmquist productivity index

Salamon (2012) Die Gesundheitssysteme Deutschlands, Großbritanniens, Schwedens, der Niederlande sowie der USA im internationalen Vergleich – Eine komparative Institutionenanalyse im Hinblick auf eine grundsätzliche Reform des deutschen Gesundheitswesens Boslaugh (2013) Health care systems around the world

Analyse insbesondere der Märkte für Versicherungsleistungen und Gesundheitsleistungen

Finkenstädt und Niehaus (2013) Rationierung und Versorgungsunterschiede in Gesundheitssystemen

Fokus auf Rationierung im Gesundheitssystem (über Wartezeiten, Beschränkung der Wahlfreiheit, Begrenzung des Leistungsumfangs, Zuzahlungen)

Carlson (2014) Leistungsausschlüsse als Rationierungsinstrument im Gesundheitswesen: Eine vergleichende Untersuchung der Rechtslage in Deutschland und England

Rationierung, rechtliche Grundlagen, Einschränkung des Versorgungsangebots der GKV, Ausgestaltung NHS, Legitimation durch Entscheidungsträger

Cheng und Zervopoulos (2014) Estimating the technical efficiency of health care systems: A cross-country comparison using the directional distance function

Effizienz der Gesundheitssysteme unter Berücksichtigung erwünschter und unerwünschter Outputs; 171 Länder; Entwicklung einer generalized directional distance function (GDDF) Qualität, Sicherheit, Gesundheitssystem, Informationstechnologie

Gauld et al. (2014) Healthcare system performance improvement

Knappe Übersicht: Notfallversorgung, Versicherung, Zugang, Arzneimittelausgaben, personelle und technische Ausstattung, bedeutsamste Gesundheitsprobleme, Rolle der Regierung, Public Health Programme

Ausgewählte Aussagen/Aspekte – auf das deutsche Gesundheitswesen bezogen – Input-Variable: Gesundheitsausgaben pro Kopf – Output-Variablen: Lebenserwartung, Kindersterblichkeit – Kontrollvariablen: Bevölkerungsanteil älter 60, BNE pro Kopf – Tabellarische Übersicht unter Berücksichtigung Deutschlands – Exemplarisch – Leistungskataloge GKV und PKV (Grundlagen, Erstellung durch Positiv- bzw. Negativlisten) – Analyse der Finanzströme im Kontext des Gesundheitsfonds – Rolle des Staates bei Krankenhausleistungen

– Exemplarisch – Freier Zugang zum Notfallsystem in Deutschland – Duales Versicherungssystem – Krankenhauskosten: 29,4 % der Gesundheitsausgaben (2008) – Sehr guter Zugang zu Gesundheitsleistungen – Kindersterblichkeitsrate gehört zu den niedrigsten der Welt – Deutsches Gesundheitssystem eines der leistungsfähigsten – Einziges Land mit Versicherungspflicht und zwei parallelen Systemen – Kurze Wartezeiten im internationalen Vergleich – Einfacher Zugang zu Haus- und Facharzt (freie Wahl) – Großer Leistungsumfang bei Arzneimitteln und Leistungen – Exemplarisch – Deutschland v. a. im ambulanten Sektor bei neuen Leistungen restriktiver als NHS (nur nach positiver Bewertung) – In England auch indikationsübergreifend, hier nur indikationsbezogene Vergleiche – Rechtliche Bedenken bei Übertragung des Vorgehen aus dem NHS – Derzeit keine ausreichende Legitimation der Entscheidungsträger – Input-Variablen: Gesundheitsausgaben pro Kopf, Anteil Gesundheitsausgaben am BIP, Alphabetisierungsrate – Output-Variablen: Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Müttersterblichkeit – Tabellarische Übersicht unter Berücksichtigung Deutschlands – Rang 5 Commonwealth Fund „Quality Care“ Ranking – Rang 3 Commonwealth Fund „Safe Care“ Ranking – Qualitätsorientierung: Regierung gibt wie in Vergleichsländern Qualitätsstandards zur Datensammlung vor, darüber hinaus in diesem Bereich keine weiteren Anstrengungen; passive Haltung, wenig Initiativen – Ausgestaltung der IT im Krankenhaussektor deutlich am schlechtesten – keine nationale Strategie/Behörde, nur limitierte Interoperabilität zwischen ambulantem und stationärem Sektor – Allgemeinmediziner keine Gatekeeper (Fortsetzung)

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M. Lauerer et al.

Tab. 2 (Fortsetzung) Verfasser (Jahr) Titel Maskileyson (2014) Healthcare system and the wealth-health gradient: A comparative study of older populations in six countries

Kernbereiche Zusammenhang Wohlstand und Gesundheitszustand, Wealth-HealthGradient in der älteren Bevölkerung, Unterschiede zwischen den Gesundheitssystemen

Matusitz (2014) Problematic healthcare insurance: A comparison with successful models

Finanzierung, Zugangsmöglichkeiten, Leistungsspektrum

Raulinajtys-Grzybek (2014) Cost accounting models used for pricesetting of health services: An international review

Gesundheitssystem, DRG-System, Kostenrechnungsmodell

Reeves et al. (2014) The political economy of austerity and healthcare: Cross-national analysis of expenditure changes in 27 European nations 1995–2011

Gesundheitsausgaben, Veränderungen Gesundheitsausgaben am BIP, Rezession, Finanzkrise

Stabile und Thompson (2014) The changing role of government in financing health care: An international perspective

Finanzierung, Versicherungsmodi, Risikoadjustierung, Wettbewerb, Wartezeiten

Busse et al. (2015) Arzneimittelversorgung in der GKV und 15 anderen europäischen Gesundheitssystemen

Arzneimittelausgaben, Arzneimittelversorgung, Arzneimittelzugang

Fierlbeck und Palley (2015) Comparative health care federalism

Einfluss des Föderalismus auf Gesundheitswesen

Ausgewählte Aussagen/Aspekte – auf das deutsche Gesundheitswesen bezogen – Physische Gesundheit zwischen den sechs Vergleichsländern signifikant unterschiedlich, Deutschland ähnlich hohes Niveau wie Schweden (Platz 3) – In allen Ländern positive Korrelation zwischen Wohlstand und Gesundheitszustand, am höchsten in USA, Deutschland an vorletzter Stelle – In allen Ländern bessere Gesundheit in Zusammenhang mit höherem Wohlstand, höherem Einkommen, jüngerem Alter, männlichem Geschlecht und hohem Bildungsstand – Kein gravierender Unterschied des Wealth-HealthGradienten zwischen Deutschland, Tschechien und Schweden; größter Unterschied zwischen Schweden und den USA – Sozialversicherungssysteme in Kanada, Frankreich, Deutschland und Spanien weisen Zugangshürden zur Versorgung (z. B. Wartelisten). – Durch diese Zugangshürden wird das jeweilige Leistungsspektrum eingeschränkt – DRG-System in Deutschland: Adaption des australischen Modells – Hoher Standardisierungsgrad in Deutschland – Durchschnittlicher Anteil an Krankenhäusern, die freiwillig Kostendaten zum Vergleich zur Verfügung stellen (2014: 437 Krankenhäuser (13 %)) – Hoher Regulierungsgrad im stationären Sektor – Ähnliche Effekte der Finanzkrise in Österreich und Deutschland (geringeres BIP), aber Anstieg der öffentlichen Gesundheitsausgaben in Deutschland und Reduktion in Österreich oder Spanien – Budgetkürzungen v. a. im Gesundheitssektor bei den Ländern, die an Vereinbarungen des Internationalen Währungsfonds partizipieren – Einziges OECD-Land mit umfassender private Krankenversicherung für Personen mit hohem Einkommen – Beitragssatz durch zentrale Regierung geregelt – Risikoselektion trotz Weiterentwicklungen der Risikostrukturausgleiche in der Schweiz und Deutschland – Wie in Frankreich und der Schweiz: Wartezeit nicht problematisch, ggf. aufgrund höherer Kapazitäten – Überdurchschnittliche Arzneimittelausgaben in Deutschland (relativ gemessen am BIP) – Hoher öffentlicher Ausgabenanteil bei Arzneimitteln in Deutschland – Schneller und umfangreicher Arzneimittelzugang – Eines der führenden Länder mit 75 % Generikaanteil, trotzdem überdurchschnittliche Arzneimittelausgaben – Sehr hohes Arzneimittelpreisniveau, Herstellerabgabepreise und Apothekenpreise – Institutionelle Strukturen und kulturelle Normen können in ähnlichen Gesundheitssystemen zu unterschiedlichen Outcomes führen (z. B. Österreich und Deutschland) – Föderalismus hat großen Einfluss auf die Gesundheitsversorgung (z. B. Krankenhausfinanzierung/planung) – Dezentralisierter Föderalismus als Hürde für konsistente Reaktionen auf sich verändernde Bedingungen (Fortsetzung)

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Grundlagen der vergleichenden Gesundheitssystemforschung

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Tab. 2 (Fortsetzung) Verfasser (Jahr) Titel Schnarr et al. (2015) The link between health governance models and global health innovation: an exploration of OECD nations Buhr et al. (2016) On the way to Welfare 4.0? Digitalisation of the welfare state in labour market, health care and innovation policy: A European comparison

Schölkopf und Pressel (2017) Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich

Kernbereiche Zusammenhang zwischen Governance und Innovationen im Gesundheitswesen Stand der Digitalisierung

Gesundheitsausgaben, stationäre Versorgung, ambulante Versorgung, Arzneimittelversorgung, Effizienz, Qualität, Nutzerorientierung

Literatur Akhmedjonov A, Yunus G, Akinci F (2011) Healthcare financing: how does Turkey compare. Hosp Top 89(3):59–68 Almeida C, Braveman P, Gold MR, Szwarcwald CL, Ribeiro JM, Miglionico A, Millar JS, Porto S, Rosario Costa N, Rubio VO, Segall M, Starfield B, Travessos C, Uga A, Valente J, Viacava F (2001) Methodological concerns and recommendations on policy of the World Health Report 2000. Lancet 357:1692–1697 Armstrong EG, Fischer MR, Parsa-Parsi RW, Wetzel MS (2011) The health care dilemma: a comparison of health care systems in three European Countries and the US. World Scientific Publishing, Singapur Beil-Hildebrand MB (2011) Gesundheitswesen und -politik im internationalen Vergleich – ein Überblick über theoretische und methodische Ansätze. In: Kunhardt H (Hrsg) Systemisches Management im Gesundheitswesen: Innovative Konzepte und Praxisbeispiele. Gabler, Wiesbaden, S 11–25 Boslaugh S (2013) Health care systems around the World. SAGE Publications, Washington, DC Breyer F, Zweifel P, Kifmann M (2013) Gesundheitsökonomik, 6. Aufl. Gabler, Wiesbaden Brubaker LM, Picano E, Breen DJ, Marti-Bonmati L, Semelka RC (2011) Health care systems of developed non-U.S. Nations: strengths, weakness, and recommendations for the United Statesobservation from internationally recognized imaging specialists. Am J Roentgenol 136(1):W30–W36

Ausgewählte Aussagen/Aspekte – auf das deutsche Gesundheitswesen bezogen Zentrale Gegenüberstellung für Deutschland: – Governance-Modell: Staat als Hüter – Schlüsselinnovationen: DMPs, Einführung der Gesundheitskarte – Bisher lediglich in Form der Etablierung der elektronischen Gesundheitskarte – Nur langsamer Fortschritt, v. a. Ausbau der Infrastruktur und IT-Sicherheit – Durch viele Akteure, die in Entscheidungsprozess eingebunden werden, Fortschritt schwieriger als in anderen Ländern – Hohe Gesundheitsausgaben im OECD-Ranking (Anteil am BIP; Rang 4) – Stationäre Versorgung: Ausgaben (Anteil am BIP) im oberen Mittelfeld, hohe Krankenhauskapazität, in Bezug auf Ausgaben überdurchschnittlich viele Fälle, Verweildauer hoch, wenig Personal pro Bett – Ambulante Versorgung: Durchschnittliche Ausgaben (Anteil am BIP), Ärztedichte im oberen Mittelfeld, hohe Arztkontaktrate – Arzneimittelsektor: Arzneimittelausgaben als Anteil der Gesundheitsausgaben im Mittelfeld, keine festgelegte Positivliste, Zuzahlungen geringer als im OECDDurchschnitt – Effizienz, Qualität, Nutzerorientierung: Umfassendstes Versorgungsniveau, sehr hohe Arztdichte im stationären Sektor, geringe Wartezeiten, Leistungskatalog umfangreich, Rang 4 im Effizienzvergleich

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Entwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland und ihr Beitrag zu einer bedarfsorientierten Gestaltung des Gesundheitssystems

65

Heidi Höppner und Monika Zoege

Inhalt 1 Gesundheitsfachberufe in den Gesundheitswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 2 Gesundheitsfachberufe und ihre Ausbildung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 3 Berufliche Pflegearbeit und Heilmittelerbringung (Care und Cure) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 4 Gesundheitsberufe zwischen Ausbildung und Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 5 Gesundheitsfachberufe als Public-Health-Ressource . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796 6 Entwicklungsherausforderungen der Gesundheitsfachberufe im Kontext von Public Health . . . . 797 7 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800

1

Gesundheitsfachberufe in den Gesundheitswissenschaften

Die Gesundheitsfachberufe (hier Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Hebammen) – lange als nicht-ärztliche Heil- und Hilfsberufe geführt – erhalten gegenwärtig vermehrt Aufmerksamkeit. Gesellschaftlich relevant ist aktuell die Frage der Fachkräftesicherung, die verknüpft ist mit z. T. problematischen Arbeitsbedingungen, geringer Vergütung sowie berufsspezifisch auch vereinzelter Schulgeldpflicht für die Ausbildung. Gesellschaftlich ebenso relevant ist der wachsende Bedarf bzw. die Nachfrage nach Pflegeleistungen und Heilmitteln. Gesundheitsfachberufe sind bedeutende Partner in komplexen Versorgungsprozessen von Patienten und i. d. R. traditionelle Frauenberufe; von fünf Berufsangehörigen sind statistisch 4 (bis 5) Frauen (Tab. 1).

H. Höppner (*) Alice Salomon Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Zoege Diakovere Fachschulzentrum Gesundheitsberufe, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]

In diesen Berufen zeigen sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland Professionalisierungsbestrebungen z. B. durch Studiengänge an Hochschulen. Im internationalen Vergleich ist dies jedoch eine nachholende Entwicklung. In Konzepten zur Nachhaltigkeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die als wesentliche Triebkräfte für Veränderungen gelten und auf eine universale und bevölkerungsorientierte Versorgung zielen, erhalten Fachkräfte eine große Bedeutung. Darüber hinaus gehört die Fachkräfteentwicklung zur europäischen Workforce-Debatte (Kuhlmann 2018, S. 45). Der vorliegende Beitrag fokussiert fünf Berufe, die – neben Medizinischen Fachangestellten, Pflegekräften in der Altenhilfe und Ärzten – die quantitativ größten Berufsgruppen der patientenorientierten Versorgung in Deutschland abbilden. Sie stellen ein Viertel der Beschäftigten im Gesundheitswesen und zählten 2015 konkret 1.107.000 Berufstätige (destatis 2017, Tab. 1). Im Kontext der Gesundheitswissenschaften sind diese Berufe und ihre Entwicklung eine äußerst relevante Ressource für den gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Die Übersicht erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und kann keine spezifische Differenzierung innerberuflicher Perspektiven vornehmen. Vielmehr soll sie eine Perspektiverweiterung ermöglichen und für die gesundheitswissenschaftlich relevanten Beiträge

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_71

791

792

H. Höppner und M. Zoege

Tab. 1 Gesundheitsfachberufe: Beschäftigte 2015 Berufsgruppe Gesundheits- und Krankenpflege Hebammen Ergotherapie Physiotherapie Logopädie Summe

Gesamt [auf Tausend gerundet] 765.000

% vom Gesamt 69,1

Teilzeitbeschäftigte je Berufsgruppe [in %] 52,8

Frauenanteil je Berufsgruppe [in %] 85,5

24.000 59.000 231.000 28.000 1.107.000

2,2 5,3 20,9 2,5 100

54,2 55,9 51,9 53,4 –

100 86,4 75,3 92,9 –

Auszug aus: destatis (2017) Gesundheit – Personal 2015. Fachserie 12 Reihe 7.3.1. Statistisches Bundesamt, S. 10 f

dieser Berufe sensibilisieren. Verdeutlicht werden auch die Potenziale und Ressourcen dieser Berufe, die aktuell im sozialen und gesundheitssystemischen Wandel zur Disposition stehen.

2

Gesundheitsfachberufe und ihre Ausbildung in Deutschland

Bemerkenswert ist, dass neben Ärzten, Apothekern und Psychologen ca. 90 weitere Gesundheitsberufe (Dielmann 2013, S. 151 ff.) an der konkreten Patientenversorgung beteiligt sind. Das sind insgesamt 4,8 Mio. Beschäftigte (destatis 2017, S. 10 f.). Hierbei handelt es sich erstens um 16 Ausbildungsberufe, die in das duale System der Berufsbildung integriert sind (z. B. Zahntechniker oder Medizinische Fachangestellte), zweitens um ca. 58 Berufe, die landesrechtlich geregelt sind (z. B. Pflegeassistenz oder Heilerziehungspflege), sowie drittens um 16 Gesundheitsfachberufe, die Bundesberufsgesetzen unterliegen und damit eine Sonderstellung im Berufsbildungssystem einnehmen (neben den hier im Fokus stehenden fünf Berufen sind dies z. B. Rettungssanitäter, Orthoptisten, Diätassistenten und seit 2003 auch die Altenpflege) (Dielmann 2013, S. 157). Die Sonderstellung der Gesundheitsfachberufe geht auf das besondere gesamtstaatliche Interesse an der Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen zurück (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG), durch die die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sichergestellt werden soll. Ihre Berufsgesetze regeln die Berufsbezeichnung und -zulassung, ihre Zugangsvoraussetzungen, Umfang und Inhalte der Ausbildung sowie Prüfungsmodalitäten, welche nachgeordnet auch noch länderspezifisch geregelt sind. Während Pflegende und Hebammen eine Ausbildungsvergütung erhalten, zahlen Auszubildende der Therapieberufe meist noch Schulgeld (Dielmann 2013, S. 332). Ausbildungsvoraussetzung für die Gesundheitsfachberufe ist der mittlere Bildungsabschluss, d. h. Realschule oder ein Hauptschulabschluss plus zweijähriger Berufsausbildung. Ihre Ausbildung erfolgt im sekundären Bildungsbereich und die Einstufung der Berufe laut Deutschem Qualifizierungsrahmen auf Level 4 (Bachelor Level 6). Da sie nicht unter das

duale Bildungssystem nach dem Berufsbildungsgesetz fallen, kann kein weiterführender Schulabschluss (im Sinne des zweiten Bildungswegs) erworben werden. Mittlerweile verfügt jedoch ein großer Teil der Auszubildenden bereits über die Fachhochschulreife oder das Abitur, was statistisch jedoch nicht erfasst ist. Die Rolle des Arztes im deutschen Gesundheitssystem ist soziologisch gut belegt. Als sog. Gatekeeper, d. h. zentral Steuernde von Versorgungsverläufen qua ärztlicher Weisungsbefugnis, definieren und verantworten sie neben der medizinischen auch die spezifische Heil- und Hilfsmittelversorgung sowie pflegerische Verrichtungen. So weist der bis heute in Deutschland verbreitete Sprachgebrauch von ärztlichen und sog. nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen sowohl auf ihre Stellung im System hin als auch auf die steuerungsund dominanzorientierte Referenz der Mediziner für andere Gesundheitsberufe in Deutschland. Die Ausübung der Heilkunde ist nach dem seit 1939 bis heute geltenden Heilpraktikergesetz approbierten Ärzten und in gewissem Rahmen Heilpraktikern vorbehalten. Gesundheitsberufe sind heilend und pflegend tätig (Igl 2013), weshalb sie früher auch Heilhilfsberufe genannt wurden. Lediglich im Präventionsbereich, d. h. in der Arbeit mit gesunden Menschen, sind die Gesundheitsfachberufe nicht auf das Delegationsverfahren durch den Arzt angewiesen. In Bezug auf die Weisungsabhängigkeit nehmen Hebammen jedoch eine Sonderstellung ein: Sie sind der einzige Gesundheitsfachberuf, der vorbehaltene Tätigkeiten ausübt, d. h. Leistungen, die nur von bestimmten Berufen ausgeführt werden dürfen, was sich auch auf den Zugang zur Leistungserbringung sowie auf die Abrechnung auswirkt (Igl 2013). Sie sind autorisiert, den Geburtsvorgang (s. Hebammengesetz § 4) von Beginn der Wehen an zu begleiten, Geburtshilfe zu leisten und den Wochenbettverlauf zu überwachen. Ärzte sind verpflichtet, eine Hebamme zur Geburt hinzuzuziehen, d. h. außer in Notfällen darf keine Geburtshilfe ohne Hebamme stattfinden. Davon ausgenommen ist ein pathologischer Geburtsverlauf, der dann eine ärztliche Übernahme begründet. Der Großteil der Angehörigen der Gesundheitsfachberufe ist bis heute im traditionellen System qualifiziert: Ihre Berufszulassung erfolgt nach dreijähriger Berufsfachschulausbil-

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Entwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland und ihr Beitrag zu einer bedarfsorientierten Gestaltung des . . .

dung unter der Bedingung eines Staatsexamens. Eine hochschulische Qualifikation inkludiert nur einen kleinen Teil der Berufsangehörigen und erfolgt gegenwärtig in verschiedenen Formen: ein additives Studium nach dem Staatsexamen oder ein Studium parallel zur beruflichen Ausbildung. Eine primärqualifizierende Studienvariante ist für die Pflege seit 2000 und für die Hebammen und Therapieberufe seit 2009 durch eine Modellklausel in den Berufsgesetzen der Gesundheitsfachberufe legitimiert. Diese sieht vor, dass auch Hochschulen Orte der Ausbildung sein können, wenn auch unter Wahrung von Inhalten und Form wie in den Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen der Berufsgesetze vorgegeben. Deutlich wird heute, dass die im internationalen Vergleich nachholende Entwicklung akademischer Qualifikation in diesen Berufen äußerst schwerfällig verläuft. Der erwartete Impact für das Gesundheitssystem und die Outcomes durch veränderte Ausbildung – wie dies in internationalen WorkforceDebatten deutlich wird – sind in Deutschland erschwert durch viele offene Fragen und restriktive Rahmenbedingungen sowie marginale Raten von studierten Gesundheitsfachleuten in diesem Feld. " Zukunftsorientierte Studienprogramme sind nicht genug: es braucht auch die Möglichkeit, die notwendigen und neuen Kompetenzen einsetzen zu dürfen bzw. können.

Entsprechend hat der Wissenschaftsrat 2012 in seinen Empfehlungen für hochschulische Qualifikation für das Gesundheitswesen darauf verwiesen, dass die komplexe Versorgung von Patienten neue berufliche Kompetenzen der Gesundheitsfachberufe erfordert und die bisherigen Ausbildungen diese nicht mehr sicherstellen. Er plädiert deshalb für eine Teilakademisierung der Gesundheitsfachberufe in der Größenordnung von 10–20 % der Berufsangehörigen (WR 2012). Von diesem Ziel ist man sechs Jahre später jedoch weit entfernt, was als Innovationsstau in der Gesundheitsbildungs(politik) insbesondere kontraproduktive Auswirkungen auf eine angemessene und zukunftsorientierte Entwicklung der Praxis und Versorgung hat sowie den Anschluss an (internationale) Wissenschaftsentwicklungen erschwert (Höppner 2017b).

3

Berufliche Pflegearbeit und Heilmittelerbringung (Care und Cure)

Anspruch dieses Beitrags ist, die fünf Berufe – exemplarisch auch für weitere patientenorientierte Dienstleistungsberufe im Gesundheitssystem – einer gesundheitswissenschaftlichen Leserschaft vorzustellen. Die folgenden, kurzen Erläuterungen zu den Anfängen ihrer Verberuflichung beleuchten die Schnittstellen zwischen helfenden Tätigkeiten (Sorgearbeit oder Care) und der Entstehung von formal geregelten Berufen (professionelle heilkundliche Tätigkeit durch ärztliche Delega-

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tion – Cure). Ihre Entwicklungen sind in unterschiedlicher Weise mit der Geschichte und Ausdifferenzierung der Medizin verknüpft. Dieses kann hier nur oberflächlich skizziert werden und so die Historie der jeweiligen Berufe andeuten. Vom Beistand zur beruflichen Hebammen- und Pflegetätigkeit Schon immer wurden kranke Menschen gepflegt, in der Regel von Angehörigen, aber häufig auch von heilkundigen Personen, die überliefertes Pflegewissen anwendeten, u. a. von Nonnen in Klöstern oder Armenhäusern. Hebammen standen Frauen (mit Hilfe von tradiertem Wissen) unter der Geburt bei; Hebammenordnungen verweisen bereits ab dem 17. Jahrhundert auf das Entstehen einer beruflichen Domäne. Die Verberuflichung der Pflege und des Hebammenwesens im engeren Sinne fand im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts statt und war an formalisierte Ausbildungsgänge gebunden sowie eng verknüpft mit dem damaligen Zuwachs an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Es galt, die Ausübung der Heilkunde zunehmend an universitär ausgebildete Ärzte zu binden und deren erhöhtem Bedarf an ausgebildetem Hilfspersonal Rechnung zu tragen, welches weisungsgebunden und mit ausgewähltem Wissen versehen im Bereich der Pflege von Kranken und in der Klinik-Geburtshilfe tätig sein sollte. Ärzte waren somit Lehrer an den Krankenpflege- und Hebammenschulen und bestimmten die Lehrpläne für die zunächst noch sehr kurzen Ausbildungsgänge (6 Monate bis 1 Jahr) (Steppe 1985; Loytved 2001). Hebammenhilfliche sowie pflegerische Fachkenntnisse wurden jedoch im 20. Jahrhundert u. a. unter angelsächsischem Einfluss (Midwifery und Pflegewissenschaften) breiter. Pflegetheorien stellen Pflegetätigkeit (im Gegensatz zur Arzt-Assistenz) und Pflegebedarfe der Menschen in den Mittelpunkt. Von der Beschäftigungstherapie zur Ergotherapie Vorläufer der Ergotherapie finden sich im 18. und 19. Jahrhundert in Arbeits- und Beschäftigungsangeboten für die damals sog. Geisteskranken in den entsprechenden Heilanstalten. Die Verberuflichung der heutigen deutschen Ergotherapie ist jedoch jüngeren Datums und geht auf die Initiative des Britischen Roten Kreuzes im Nachkriegsdeutschland zurück. Nach englischem Vorbild wurden 1946 in Bad Pyrmont erste Beschäftigungstherapeutinnen ausgebildet, um den vielen Kriegsverletzten die Möglichkeit zu eröffnen, trotz ihrer Einschränkung Handfertigkeiten (wieder) zu erlernen und einer Arbeit nachzugehen (Marquard 2004). Heutzutage steht die Betätigungsorientierung im Zentrum der Ergotherapie: Nicht mehr funktionelles Üben oder Beschäftigung steht im Mittelpunkt, sondern die von den Klienten geäußerten Ziele in Bezug auf ihre Tätigkeiten. Von der Heilgymnastik zur Physiotherapie Die Physiotherapie als Beruf nahm ihren Anfang bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des wachsenden

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Bedarfes an rehabilitativer Medizin und eines notwendigen Imports skandinavischer Heilgymnastikerinnen entstand 1900 die erste Schule für Heilgymnastik in Kiel bzw. etwas zeitversetzt die erste staatliche Lehranstalt für Krankengymnastik in Dresden. Auch hier kam – wie in der Pflege – der Impuls aus der Ärzteschaft. Mit Hilfe der Heilgymnastik (später: Krankengymnastik) ging es darum, den Betroffenen von Arbeitsunfällen (Zunahme durch veränderte Arbeitsbedingungen – Industrialisierung) sowie Kriegsversehrten durch gymnastische Angebote zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit zu verhelfen. Im 20. Jahrhundert kam es zu einer immensen Ausdifferenzierung der Fächer (in Anlehnung an die Medizin) und Therapiemethoden, die in (privat finanzierten) Fort- und Weiterbildungen nach der Ausbildung erlangt werden. Seit 1994 ist, durch die deutsche Wiedervereinigung und die Ausbildungsverlängerung auf drei Jahre, die Berufsbezeichnung „Physiotherapeutin/Physiotherapeut“ eingeführt (Hüter-Becker 2010). Das berufliche Selbstverständnis ist somit freier auch für die Prävention. Einflüsse durch geräte- und technikunterstütze Angebote (z. B. Medizinische Trainingstherapie oder Robotik) tangieren gegenwärtig die Entwicklung des Berufsbildes. Zudem hat die gesellschaftliche Bedeutung von (Leistungs-)Sport die Physiotherapie in den letzten Jahren attraktiver werden lassen. Verschiedene Wege zur Logopädie Bereits im Altertum gibt es Aufzeichnungen über Ursachen und Behandlungsversuche von Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen. Die Logopädie hat sich Ende des 19. Jahrhunderts aus pädagogischen Heilkursen einerseits und medizinischen Erkenntnisfortschritten und Behandlungsmethoden andererseits entwickelt. Der Begriff Logopädie wurde 1913 als Bezeichnung medizinischer Sprachheilkunde und in Abgrenzung zu medizinischer Stimmheilkunde (Phoniatrie), aber auch zu pädagogischer Förderung und Unterrichtung eingeführt (dbl 2004). Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die westdeutsche Logopädie als Assistenzberuf der Phoniatrie, während die ostdeutsche Stimm-, Sprech- und Sprachheilkunde neben einem kleineren medizinischen Tätigkeitsbereich in osteuropäischer Tradition vor allem einen pädagogischen Zweig entwickelte. In den Anpassungsprozessen der Deutschen Einheit wurde diese Qualifikation der westdeutschen Logopädie zugeordnet, die sich als medizinischer Gesundheitsfachberuf weiterentwickelte. Parallel zur medizinisch orientierten Logopädie verlief die Entwicklung einer pädagogisch orientierten Sprachheilkunde (Sprachbehindertenpädagogik, Sprachheilpädagogik) in unterschiedlich großer inhaltlicher Nähe oder Abgrenzung. Der Begriff Logopädie/Sprachtherapie drückt aus, dass im Gebiet der Logopädie heute Therapeuten mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Wurzeln tätig sind (Rausch 2018).

H. Höppner und M. Zoege

4

Gesundheitsberufe zwischen Ausbildung und Studium

Der nächste Abschnitt stellt eine Übersicht zu den Berufen dar: ihre Ausbildungen, Tätigkeitsmerkmale, Verweise auf rechtliche Regulierung und die gesetzliche Rahmung der Berufsausübung (Tab. 2; Igl 2013; Dielmann 2013). Die berufsfachschulische Ausbildung erfolgt i. d. R. an Berufsfachschulen und Praxisorten. Je nach Bundesland und Ausbildungsberuf ist (un)geregelt, welche pädagogische Qualifikation die Lehrkräfte vorhalten müssen. Das Spektrum ist groß und bewegt sich von Berufsangehörigen bis hin zu studierten Pflege- oder Gesundheitspädagogen, Vollakademikern der Bezugswissenschaften sowie neuerdings auch hochschulisch Qualifizierten aus den eigenen Disziplinen. Für die Pflege- und Hebammenausbildung gibt es bzgl. Praxisanleiteranzahl und -qualifikation konkrete Regelungen. Für die Therapieberufe gelten hier eher informelle Vereinbarungen zwischen den Schulen und den Praxisorten (Dielmann 2013). Es obliegt den Ländern, dies auch für Therapieberufe durchzusetzen (AG Berufsbildung in den Heilberufen 2015). Die Gesamtverantwortung für die Ausbildung liegt laut der Berufsgesetze bei den Schulen und kann (wie erwähnt z. T. im Modellstadium) auf Hochschulen übertragen werden. Der Anteil akademisierter Pflegender, Hebammen und Therapeuten ist nicht verlässlich registriert: die amtliche Berufe-Statistik weist für die einzelnen Berufe „Fachkräfte“ und „Experten“ aus, letztere müssen aber nicht zwangsläufig akademisch ausgebildet sein (destatis 2017). Die Bildungsstatistik fasst Studienabsolventen nach Fächergruppen zusammen. Für Therapieberufe und Pflegende werden hier für das Jahr 2015 insgesamt 3000 Absolventinnen und Absolventen aufgeführt (Tab. 3). Es gibt aber keine Zahlen, die explizit Hochschulabsolventen berücksichtigen, die dem deutschen Arbeitsmarkt auch wirklich zur Verfügung stehen. Wahrnehmbar ist jedoch, dass im Sinne eines „brain drain“ gut Qualifizierte z. B. ins Ausland gehen, wo sie in der Regel auf attraktivere Arbeitsbedingungen treffen. Die Begründung von Hochschulstudiengängen basiert auf folgenden Argumenten: eine notwendige kontinuierliche Weiterentwicklung der Leistungen dieser Berufe (Evidenzbasierung, theoretische Reflexion und Zukunftsausrichtung, Interprofessionalität, Internationalität, neue Handlungsfelder u. a.) sowie die Beseitigung der – international betrachteten – Sonderstellung der Ausbildungen auf Sekundarstufe in Deutschland (SVR 2007; Kälble und Pfundt 2018). Die Professionalisierungsdebatte, die ab den 1990er-Jahren geführt wurde (z. B. Oevermann 1996) hat belegen können, dass sich die Gesundheitsfachberufe aufgrund der vielfältigen gestiegenen Anforderungen im Gesundheitswesen professionalisieren müssen (z. B. Zoege 2004). Die Fähigkeit zum selbst-

65

Entwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland und ihr Beitrag zu einer bedarfsorientierten Gestaltung des . . .

795

Tab. 2 Gesundheitsfachberufe: Tätigkeitsbereiche/Ausbildungsziele Berufsgruppe

Ausbildungsziele Für Hebammen, Pflegende und Physiotherapeuten findet sich eine komprimierte Tätigkeitsbeschreibung in den Berufsgesetzen Für die Ergotherapie und Logopädie wurden sie von Berufsverbänden formuliert

Hebammen

Die Ausbildung soll insbesondere dazu befähigen, Frauen während der Schwangerschaft, der Geburt und dem Wochenbett Rat zu erteilen und die notwendige Fürsorge zu gewähren, normale Geburten zu leiten, Komplikationen des Geburtsverlaufs frühzeitig zu erkennen, Neugeborene zu versorgen, den Wochenbettverlauf zu überwachen und eine Dokumentation über den Geburtsverlauf anzufertigen. (HebG § 5; Stand 23.12.2016) Ausbildungsziel nach dem neuen Pflegeberufereformgesetz = Generalistik: Pflege umfasst präventive, kurative, rehabilitative, palliative und sozialpflegerische Maßnahmen zur Erhaltung, Förderung, Wiedererlangung oder Verbesserung der physischen und psychischen Situation der zu pflegenden Menschen, ihre Beratung sowie ihre Begleitung in allen Lebensphasen und die Begleitung Sterbender. (PflBRefG § 5; Stand 17.07.2017) Die Ausbildung soll entsprechend der Aufgabenstellung des Berufs insbesondere dazu befähigen, durch Anwenden geeigneter Verfahren der Physiotherapie in Prävention, kurativer Medizin, Rehabilitation und im Kurwesen Hilfen zur Entwicklung, zum Erhalt oder zur Wiederherstellung aller Funktionen im somatischen und psychischen Bereich zu geben und bei nicht rückbildungsfähigen Körperbehinderungen Ersatzfunktionen zu schulen. (MPhG § 8; Stand 23.12.2016) Ergotherapie unterstützt und begleitet Menschen jeden Alters, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. Ziel ist, sie bei der Durchführung für sie bedeutungsvoller Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer persönlichen Umwelt zu stärken. Hierbei dienen spezifische Aktivitäten, Umweltanpassung und Beratung dazu, dem Menschen Handlungsfähigkeit im Alltag, gesellschaftliche Teilhabe und eine Verbesserung seiner Lebensqualität zu ermöglichen. (DVE 2007) Die Logopädie beschäftigt sich dabei mit der Ätiologie, Diagnostik* (dbl 2011) und Intervention** (dbl 2011) hinsichtlich sämtlicher Kommunikations- und Schluckstörungen

Pflegende, d. h. Altenpflege, Gesundheits- und (Kinder-) Krankenpflege: ab 2020 generalistische Ausbildung, z. Zt. Übergangssituation

Physiotherapie

Ergotherapie

Logopädie

Dauer der Ausbildung 3 Jahre Mindeststunden laut Ausbildung und Prüfungsverordnungen Theoretischer und Praktische praktischer Ausbildung im Unterricht Betrieb 1600 Std. 3000 Std.

2100 Std.

2500 Std.

2900 Std.

1600 Std.

2700 Std.

1700 Std.

1740 Std.

2800 Std.

*Einschließlich (in-)formeller Verfahren; Erkennung, Diagnose und Evaluation (dbl 2011) **Einschließlich Prävention, Förderung, Therapie, Beratung, Begleitung, Management sowie Rehabilitation im Gesundheits- und (Aus-) Bildungsbereich (dbl 2011) Tab. 3 Studienabsolventen Pro Jahr nach ausgewählten Studienfächern, 1995–2015 (nach der Nomenklatur des Statistischen Bundesamtes)

Gesundheitswissenschaften/-management Therapie/nichtärztliche Heilberufe Pflegewissenschaft/-management Allgemeinmedizin

1995 Anzahl 66 0 58 16.547

Frauenanteil [in %] 50,0 – 75,9 44,2

2005 Anzahl 1025 202 452 16.050

Frauenanteil [in %] 69,6 81,2 75,2 52,0

2015 Anzahl 5519 1536 1538 16.022

Frauenanteil [in %] 70,1 84,9 79,5 61,2

Auszug aus destatis (2016a) Bildung und Kultur. Nichtmonetäre hochschulstatistische Kennzahlen. 1980–2015. Fachserie 11 Reihe 4.3.1. Statistisches Bundesamt, S. 472 f

reflektierenden Handeln und zu wissenschaftlich fundierter Problemlösung in der Praxis sind wesentliche Merkmale professioneller Pflege, Hebammen und Therapeuten (Sottas

2011). Eine Akademisierung mit intensiver Praxisanbindung soll zu reflektierten Praktikern (z. B. Walkenhorst 2006) führen, die zudem in der Lage sind, über die konkrete Ver-

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H. Höppner und M. Zoege

sorgungsleistung hinaus interdisziplinär zu denken und die Gesundheitsversorgung insgesamt in den Blick zu nehmen. Bei den ersten Pflegestudiengängen handelte es sich Anfang der 1990er-Jahre um pflegepädagogische Studiengänge mit dem Ziel, in einem ersten Schritt die Lehrenden an den Berufsfachschulen zu akademisieren, gefolgt von Pflegemanagement und dem Aufbau der Disziplin Pflegewissenschaft z. B. durch öffentlich geförderter Forschungsverbünde. Die ersten Bachelorstudiengänge (vor der Modellklausel, also ausbildungsintegrierend) in der Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie in Deutschland entstanden 2001 an öffentlichen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften z. B. Hildesheim, Kiel und Osnabrück; 2005 folgten erste Masterprogramme (z. B. HAWK Hildesheim). Die Hebammenakademisierung begann 2008 an der Hochschule Osnabrück. Für die Logopädie ermöglichte die Nähe zum Universitätsstudium der Klinischen Linguistik und der an der RWTH Aachen etablierte Studiengang für Lehrlogopäden einen – im Vergleich – früheren Kontakt mit Wissenschaftlichkeit. Seit 2009 existiert als Neugründung die Hochschule für Gesundheit in Bochum, wo in allen fünf Berufen primärqualifizierenden Studiengängen ausgebildet wird. Inzwischen ist – s. Hochschulkompass der Hochschulrektorenkonferenz – ein äußerst diverses Spektrum an Angeboten im Kontext von staatlichen und privaten Hochschulen entstanden. Die fünf Berufe befinden sich aktuell in einer dynamischen Professionalisierungsphase. Auch sie haben sich, wie die Medizin, durch naturwissenschaftliche Expertise stark ausdifferenziert. Die Gegenstände der Disziplinen (z. B. Bewegung, Betätigung, Kommunikation etc.) integrieren selbstverständlich auch Anleihen aus den Sozialwissenschaften. Fachmodelle und Theorie wurden größtenteils aus englischsprachigen Ländern übernommen und auf die Praxis in Deutschland übertragen. Der Bachelorabschluss qualifiziert i. d. R. für die Praxis, doch die Weiterentwicklung und zukünftige Orientierung der Berufe braucht auch Forschung (-strukturen) und wissenschaftlichen Nachwuchs (Höppner 2017a).

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Gesundheitsfachberufe als PublicHealth-Ressource

Angesichts der Zunahme altersassoziierter gesundheitlicher Probleme, chronischer Erkrankungen, Multimorbidität und psychiatrischer (Neben-)Diagnosen sind alle Berufe herausgefordert, künftig vermehrt Menschen interprofessionell und zum Teil über lange Zeit zu begleiten. Eine professionelle Orientierung der Gesundheitsfachberufe ist geleitet von einem biopsychosozialen Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Dieses bildet die Grundlage der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und

Gesundheit (ICF WHO 2001), die die Entwicklung der therapeutischen Berufe stark beeinflusst hat. " Teilhabe- bzw. Ressourcenorientierung sowie Barrieren und Förderfaktoren in der Rehabilitation zwingen zu einer am Subjekt ausgerichteten Perspektive. Eine neue Professionalität der Gesundheitsberufe gilt es patientenorientiert und kooperativ zu entwickeln (z. B. Borgetto 2017).

Kooperatives Arbeiten unter Einbezug von anderen Hilfesystemen (Angehörige, Settings etc.) erfordert neue Kompetenzen (z. B. die Kommunikation mit Fachfremden). Konkrete Anforderungen an eine zielgruppenspezifische und klientenorientierte Ausrichtung von Pflege, Therapie bzw. Begleitung von Schwangerschaften und Geburten sind wegweisend für effektive bevölkerungsorientierte Maßnahmen und damit für Public Health. Neben den klassischen Einsatzorten im Feld ambulanter und stationärer gesundheitlicher Versorgung (Praxen, Kliniken, Pflegeeinrichtungen, Rehabilitationskliniken etc.) arbeiten die Gesundheitsfachberufe im Ausland z. T. mehr im Bereich der sozialen oder gemeinwohlorientierten Ergotherapie, als Familienhebammen, als Public Health Nurse (PHN) oder Physiotherapeuten vermehrt aufsuchend in den Lebenswelten von Klienten, z. B. Betrieben etc. Für Fragen der Bevölkerungsgesundheit sind hier Verbindungen zwischen den gesellschaftlichen Systemen von Interesse: z. B. Gesundheitsarbeit im engeren Verständnis der Sozialgesetzgebung SGB V (z. B. Heilmittel und Pflege), Bildungsarbeit (Prävention, Inklusion, Gesundheitskompetenz) oder weitere Sozialdienstleistungen (Zugang zu Hilfen der Integration und Teilhabe). Durch die Erfahrung der Angehörigen dieser Berufsgruppen lassen sich Effekte der Arbeit in aktuellen Strukturen und durch neue Anreize (Innovation) zur Entwicklung im Gesundheitssystem verstehen. Die Gesundheitsberufe nehmen hier eine moderierende und sozial bedeutende Funktion ein. Eine Individualperspektive gilt es mit der systemischen – gesundheitswissenschaftlichen – Perspektive zu verbinden. Ein Beispiel Erfreulicherweise erfahren gesundheitswissenschaftliche Konzepte, wie die Salutogenese, in der akademischen Entwicklung der Gesundheitsfachdisziplinen eine große Beachtung und werden dort rezipiert. Der übliche Fokus auf Risiken für die Gesundheit und Krankheit wird heute durch eine ressourcenorientierte Praxis im Denken und Handeln der Professionellen in Therapie und Pflege erweitert. Hier haben die Gesundheitswissenschaften die Berufe bereichert. Gesundheitswissenschaften sind in die Curricula der Studiengänge Pflege und Therapie/Hebammenwesen selbstverständlich und durch Professuren mit entsprechender Denomination etabliert. Eine Integration der Absolventen der Pflege-, Therapie- und Hebammenstudiengänge in

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Entwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland und ihr Beitrag zu einer bedarfsorientierten Gestaltung des . . .

gesundheitswissenschaftliche Masterprogramme ist inzwischen auch für Absolventen von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften möglich. Ihr Verbleib oder Effekte dieser doppelt Qualifizierten in gesundheitsrelevanten Berufsfeldern sind jedoch kaum erforscht (Höppner et al. 2018). Eine gesundheitswissenschaftliche Ausrichtung lässt bislang eine verbindende Gesundheitstheorie für das Denken und Handeln aller Gesundheitsberufe (über die der Biomedizin hinaus) vermissen.

6

Entwicklungsherausforderungen der Gesundheitsfachberufe im Kontext von Public Health

Im Widerspruch zum im SGV V (§§ 2 und 70) formulierten Anspruch an wissenschaftliche Evidenz der Leistungen von Gesundheitsdienstleistenden steht die Tatsache, dass ein Großteil der Leistungen von Gesundheitsfachberufen nicht im Kontext der konkreten Versorgung in Deutschland erforscht ist (Haring und Siegmüller 2017). 2010 setzte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF/Gesundheitsforschungsrat) eine Expertengruppe ein, die Empfehlungen für Forschung durch die Gesundheitsfachdisziplinen selbst und deren notwendigen Rahmenbedingungen verabschiedet hat. Hintergrund war die Frage der Qualitätssicherung der Versorgung für die Bevölkerung (Ewers et al. 2012; BMBF Gesundheitsforschungsrat 2011). Gegenwärtige Themen in allen Berufen sind: Fragen einer angemessenen Vergütung, neue Berufegesetze, Professionalisierung durch Akademisierung, Qualitätssicherung (Standards, evidenzbasierte Praxis), Institutionalisierung von beruflichen Interessenvertretungen (z. B. Berufekammern), die Übernahme neuer Aufgaben und Verantwortung im Gesundheitssystem sowie Fachkräftesicherung. Unterschiedlich relevant sind in den fünf Berufen jedoch verbindende Fragen eines zukünftigen Qualifizierungsmix („skill mix“), nach neuen Handlungsfeldern, Prävention, Kooperation, Maßnahmen einer abgestimmten Versorgung, Spezialisierung und Generalistik, internationale Vernetzung sowie Strukturbildung für Forschung bzw. Wissenschaftsentwicklung. Im Folgenden werden die Eckpfeiler für Entwicklungen der nächsten Jahre verdeutlicht. Die Auswahl erfolgt durch die Brille langjährig teilnehmender Beobachtung und Mitgestaltung der Professionalisierungsprozesse. Den Autorinnen ist bewusst, dass sie an dieser Stelle die Vielfalt an Positionen und Schwerpunkten in den Berufen nur unzureichend wiedergeben können. Pflege Für die Pflegeberufe ist durch die Reform des Pflegeberufegesetzes (2017) festgeschrieben, dass ein Teil der Pflegenden

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primär akademisch ausgebildet werden soll; die über die Fachschulausbildung hinaus gehenden Kompetenzen in Bezug auf Wissenschaftsfundierung und die Fähigkeit, hochkomplexe Pflegeprozesse eigenverantwortlich zu gestalten, werden in den §§ 37–39 PflBRefG umrissen. Ergänzend hierzu kann das Konzept der Advanced Practice Nurse (APN) (DBfK et al. 2013) gesehen werden: Die APN soll, angelehnt an internationale Standards, auf Master-Niveau ausgebildet sein und vertiefte Pflegeexpertise mit Beratungsund Steuerungskompetenzen verknüpfen. Gerade auch in Anbetracht des voraussehbaren Fachkräftemangels in der Pflege sei es wichtig, Schlüsselpositionen mit solchen Pflegeexperten zu besetzen (DBfK et al. 2013, S. 4). Die aktuelle Situation in der Berufsgruppe der Pflegenden stellt sich sehr vielschichtig dar. Neben den dreijährig an Berufsfachschulen ausgebildeten Fachkräften gibt es ein- und zweijährig Ausgebildete (Pflegehilfe bzw. Pflegeassistenz). Außerdem gibt es Hochschulabsolventen (Bachelor und Masterabsolventen) und (z. T. weitergebildete) Pflegeexperten, die sowohl direkt in der praktischen Pflege tätig sind als auch in Leitungspositionen, in Lehre oder Forschung und Wissenschaft. Im neuen Pflegeberufegesetz ist zudem festgelegt, dass die bisher vorhandene Aufsplittung der Pflegeberufe nach Alter ihres Klientels (Kinder, pflegebedürftige Personen allgemein und alte Menschen) zu Gunsten einer ab 2020 in Kraft tretenden generalistischen Ausbildung zur Pflege-Fachkraft aufgehoben werden soll. Hier spielte, wie auch bei den Hebammen, die EU-Richtlinie 2013/55/EG eine entscheidende Rolle im Sinne der europaweiten Angleichung der Qualifikationen und Anerkennung der Berufsabschlüsse sowie die Erkenntnis, dass es fachlich nicht gerechtfertigt ist, die Pflegebedarfe nach Alter zu unterteilen. Vor allem die bisherige Altenpflegeausbildung erfährt durch die Generalistik eine den komplexen Problemlagen alter Menschen angemessene Aufwertung und ermöglicht es den zukünftigen Pflegefachleuten, im Laufe ihres Berufslebens in ganz unterschiedlichen Einsatzfeldern zu arbeiten. Es ist zwar möglich sich nach zwei gemeinsamen Ausbildungsjahren auf Kinder- oder Altenpflege zu spezialisieren. Dies ist unter den Bildungsexperten jedoch sehr umstritten, da den entsprechenden Absolventen damit erneut der Zugang zum allgemeinen sowie dem EU-weiten Pflege-Arbeitsmarkt versperrt wird. Ab 2020 werden auch Pflegenden vorbehaltene Tätigkeiten zugesprochen: nach § 4 des neuen Pflegeberufegesetzes (PflBRefG 2017) ist es den dreijährig ausgebildeten Pflegefachkräften vorbehalten, den Pflegebedarf zu erheben, die Pflege zu planen, den Pflegeprozess zu organisieren, zu steuern und zu evaluieren. Hierzu gehört auch die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der Pflege, d. h. ihnen obliegt die Verantwortung für den Pflegeprozess, während die einzelnen Pflegemaßnahmen je nach Qualifikation auch von Pflegehelferinnen und anderen Personen ausgeführt werden dürfen.

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Hebammen Hebammentätigkeit vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen risikoorientierter Schwangerenvorsorge, Pränataldiagnostik, Reproduktionsmedizin und medikalisierter Geburtshilfe mit einer Kaiserschnittrate von 31 % auf der einen Seite (destatis 2016b) und zahlreichen Ansätzen der Zusammenarbeit zwischen Hebammen und Ärzten auf der anderen Seite, z. B. im AKF (Arbeitskreis Frauengesundheit), bei der Leitlinienentwicklung oder bei interdisziplinär gestalteter Schwangerenbetreuung (DGHWi 2017; Erdmann 2018). In sog. Hebammenkreißsälen wird zudem seit Jahren erfolgreich eine interventionsarme Geburtshilfe praktiziert (Bauer et al. 2010; DHV 2015). Forschende Hebammen sind seit 2008 in der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) engagiert, die ihrerseits u. a. mit dem Deutschen Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) und dem Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung (DNVF) vernetzt ist. Aufgrund der Umsetzung der EU-Richtlinie 2013/55/EU ist für die Hebammen die Vollakademisierung bis 2020 geregelt, da dort eine Ausbildung im Tertiärsektor im Anschluss an eine 12-jährige Schulbildung vorgeschrieben ist. Herausforderungen der Zukunft bestehen darin, einer zunehmenden Verunsicherung von Frauen und Familien durch fachkundige Hebammenhilfe wirksam zu begegnen. Wichtigste Voraussetzung hierfür sind ein Abbau des Fachkräftemangels und eine vertrauensvolle, interventionsarme und interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Betreuung von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen. Therapieberufe Neben den eingangs erwähnten, für alle fünf Berufe mehr und weniger bedeutsamen Fragen für die Entwicklung der therapeutischen Fachberufe zeigen sich auch hier verschiedene Schwerpunkte. Hebammen und Pflege sind im Moment stärker politisch im Blick als z. B. die Berufe Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie (oder auch noch andere patientenorientierte Gesundheitsberufe). Positiv in der Entwicklung der Berufe war und ist, in spezifischen Fragen mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Zusammenschlüsse von Interessenvertretern für eine (hochschulische) Entwicklung sind in Form der Arbeitsgemeinschaft Medizinalfachberufe in der Therapie und Geburtshilfe (AG MTG), oder für Fragen der Positionierung im Gesundheitssystem des Spitzenverbandes für Heilmittelerbinger (SHV), der Etablierung von Hochschulstudiengängen im Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe (HVG) bzw. dem Fachbereichstag Therapiewissenschaften (FBT) wie auch dem Zusammenschluss von Lehrenden für Fragen der künftigen Ausbildung im Verbund für Ausbildung und Studium (VAST) zu erkennen. Deutlich wird, dass die

H. Höppner und M. Zoege

gemeinsame politische innovative Kraft immer wieder durch die Berufelogiken selbst oder durch bestehende traditionelle Verhältnisse im Bildungs- und Gesundheitssystem konterkariert wird. Physiotherapie und Ergotherapie Physio- und Ergotherapeuten arbeiten vorwiegend im ambulanten Bereich und müssen daher auch unternehmerisch agieren. Daher sind ökonomische Aspekte von Bedeutung und für die Berufe existenzsichernd; für die Praxen und Patienten ist also entscheidend, ob dieses therapeutische Angebot erhalten bleibt. Honorierung und Forderungen nach mehr Handlungsautonomie sowie Mitgestaltungsmöglichkeiten im System stehen im Vordergrund berufsverbandlicher Aktivitäten, die allerdings von diesen unterschiedlich forciert werden. Fragen nach der Einrichtung von Therapeutenkammern oder aber die Beurteilung der Blankoverordnungen lt. Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG)), und des direct access (Direktzugang) ist in diesem Kontext zu verstehen. Die Bundesländer sind laut HHVG 2017 aufgefordert, Modelle der Blankoverordnung zu erproben, in denen der Arzt zwar die Diagnose stellt, die Anwendung/ Methode, Umfang und Dauer der Behandlung Physiotherapeuten in Eigenverantwortung übernehmen. Neue Handlungsfelder von Physiotherapeuten bieten sich in der betrieblichen Gesundheitsförderung, in der Förderung der Gesundheitskompetenz oder Prävention (heute: Rückenschule, Sturzprophylaxe) oder im Breiten- und Leistungssport. Physio- und Ergotherapeuten werden künftig vermehrt kooperativ arbeiten: in integrierten Projekten der Primärversorgung oder Begleitung von alten und hochbetagten Menschen bzw. Menschen mit chronischen Erkrankungen, in der mobilen oder digital gestützten Rehabilitation oder Hilfsmittelversorgung. Für die Ergotherapie zeigen sich Entwicklungsschwerpunkte verstärkt im Kontext von Prävention und Gesundheitsförderung, in schulischer Inklusion und Gemeinwesenarbeit. Logopädie Hinsichtlich der Akademisierung der Logopädie erscheint (anders als in der Ergo- und Physiotherapie) die wissenschaftshistorische Parallelentwicklung von (sprachheil-)pädagogischen Studiengängen. Heute arbeiten akademische und nicht-akademische Logopäden sowie akademische Sprachtherapeuten und können Maßnahmen der Sprach-, Sprech- und Stimmtherapie als Kassenleistung abrechnen. Offen ist, ob eine linguistische, pädagogische oder medizinisch/gesundheitswissenschaftliche Gesamtentwicklung im Feld erfolgen wird. Das Thema Sprachförderung in der Kita ist somit ein Beispiel dafür, wo die beiden Wurzeln der Logopädie in der Sprachentwicklung bzw. mögliche Rückstände, Gefährdungen oder Störungen sowohl pädagogisch als auch medizinisch behandelt werden. Themen der aktuel-

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Entwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland und ihr Beitrag zu einer bedarfsorientierten Gestaltung des . . .

len Kongresse sind z. B. Sinneseinschränkungen (z. B. Hören), Ernährung, sprech- und sprachunterstützende Hilfen und unterstützte Kommunikation bzw. zielgruppenspezifische Aspekte (ältere Menschen). Der Logopädieverband (dbl) fordert zudem – wie im Bereich der Hebammen – eine Vollakademisierung und damit eine einheitliche Anhebung der Ausbildung auf Hochschulniveau. Allen Berufen ist gemein, dass sie die Novellierung der Berufegesetze erwarten, die in der gegenwärtigen Legislaturperiode der Pflegeausbildungsreform folgt und hochschulische primärqualifizierende Ausbildung vorsieht. Offen ist heute, ob die Reform der Berufegesetze der Pflege- und Heilberufe sowie der Masterplan Medizinstudium 2020 helfen, die Bildungssilos (jede Berufsgruppe lernt im Prinzip für sich, an unterschiedlichen Orten bzw. verschiedenen Bildungstypen) zu überwinden. Vor dem Hintergrund einer komplexeren Versorgungssituation fordern Experten, z. B. der Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007), diverse Initiativen der RobertBosch-Stiftung (Memorandum für mehr Kooperation 2011, Operation Team seit 2012) und Fachgesellschaften (z. B. Gesellschaft für Medizinische Ausbildung) mehr Kompetenzen für die Zusammenarbeit in allen Gesundheitsberufen.

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Gesundheitsfachberufe (HVG) existiert seit 2009 eine AG Therapieberufe und Public Health, die sich den Verbindungen der Perspektiven widmet (HVG). Die Potenziale einer Neuausrichtung der Gesundheitsfachberufe liegen in ihrem beruflichen Selbstverständnis, dass über eine rein naturwissenschaftliche Ausrichtung auch sozialwissenschaftliche Konzeptionalisierung professioneller Arbeit beinhaltet. In der gegenwärtigen Professionalisierungsphase kann ihre Entwicklung als Treiber für einen Wandel im Gesundheitssystem gesehen werden. Die Berufe reagieren auf neue Bedürfnisse von Klienten und füllen praktisch bereits Lücken, z. B. Patientenedukation und Beratung (nach Aufklärung und Kommunikation). In Theorien und Konzepten der Gesundheitsfachberufe sind Lebenswelten, Teilhabe und Partizipation, Hilfe zur Selbsthilfe, Ressourcensowie Gesundheitskompentenzorientierung wesentliche Aspekte. Subjektorientierung entscheidet über die Annahme von Innovationen, z. B. Digitalisierung oder technische Hilfsmittelversorgung. Dies braucht Vermittlung zwischen Betroffenen und Professionellen. Soziale Kompetenzen und Empathiefähigkeit werden daher nicht weniger, sondern mehr benötigt. Es bedarf einer Sprache der Gesundheitsberufe, die neben Körperstrukturen und -funktionen auch Aktivität und Partizipation mit einbezieht, wie dies z. B. unter Verwendung der ICF (WHO) geschieht.

Ausblick

Dieser Beitrag plädiert für die bewusste Integration und Reflexion der Potenziale der Pflege-, Therapie- und Hebammenwissenschaften in und für die Gesundheitswissenschaften. Diese Berufe sind wesentlich an der gesellschaftlichen Produktion von Gesundheit beteiligt. Allerdings agieren sie im Korsett eines tradierten Verständnisses als ärztliche Assistenz und bleiben so hinter ihren Möglichkeiten zurück. Wesentlich ist es, Ziele zur Bevölkerungsgesundheit auch mit neuen Akteuren umzusetzen und mit Strukturfragen zu verknüpfen. Der Blick auf das Versorgungssystem greift dabei jedoch zu kurz. Gesundheitsversorgung und Bildung sind unterschiedliche Ressorts und es fehlt an Plattformen (z. B die Förderung eines Nationalen Gesundheitsberuferates/ NGBR) für die Fragen und Adressaten dieser komplexen Aufgabe und Maßnahmen einer Gesundheitsbildungspolitik (Sottas et al. 2013). Grundlagen gesundheitswissenschaftlichen Denkens sind in der (hoch-)schulischen Ausbildung dieser Berufe angekommen. Zunehmend integrieren Public-Health-Studiengänge auch Absolventen aus Studiengängen der Pflege- und Therapiewissenschaften. Die Verbindung beider Perspektiven (individual- bzw. populationsbezogen) verspricht ein Potenzial für die Gesundheitswissenschaften zu sein, da insbesondere die klientenorientierte, unmittelbare Erfahrung den Transfer globaler Konzepte in die Praxis bereichern. Der Verbleib von doppelt Qualifizierten wird gegenwärtig untersucht (Höppner et al. 2018) und im Hochschulverbund

" Für die Neuausrichtung des professionellen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit sind sowohl ihr fachliches Potenzial als auch die Überwindung traditioneller Machtkonstellationen und berufsständischen Denkens bedeutsam. Angesichts der Zielperspektiven von Public Health braucht es ein vernetztes Denken, das den Berufen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen mehr Aufmerksamkeit zu teil werden lässt.

Ausgangpunkte für Problemlösungen sind dabei die jeweilig individuellen Lebenslagen der Betroffenen, mit denen Gesundheitsfachberufe arbeiten. Daher können sie diesbezüglich eine moderierende gesellschaftliche Funktion einnehmen. Kooperationsfähigkeit und Strukturen, in denen eine klientenorientierte, interprofessionelle Arbeit geleistet werden kann, müssen stärker Gegenstand gesundheitswissenschaftlichen Interesses sein. Mehr Kooperation und Integration im Gesundheitssystem zu ermöglichen, gilt in Deutschland als ein unvollendetes Projekt (Brandhorst et al. 2017). Die Entwicklung der vorgestellten Gesundheitsfachberufe hat im Laufe ihrer Professionalisierung bisher kaum zu rechtlich legitimierten neuen Tätigkeiten (Substitution und Delegation) oder zu mehr Handlungsautonomie, einschließlich monetärer, gesellschaftlicher Anerkennung, geführt. Dies zeigt sich in der problematischen Arbeitsmarktsituation aller fünf Berufe. Prekäre Beschäftigungsbedingungen mit hohen Arbeitsanforderungen führen zu Gratifikationskrisen der

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Berufsangehörigen und damit zu ihrer Berufsflucht. Hinzugewonnene Kompetenzen (es zu können) führen nicht zwangsläufig auch zu einer Kompetenz im System (es auch anwenden zu können). Diese Berufe erheben aktuell vermehrt Ansprüche auf mehr Autonomie und Mitgestaltungsmöglichkeiten in Politik, Versorgung und Forschung. Im internationalen Vergleich sind Debatten um den heute und künftig benötigten Kompetenzmix („skillmix“) und eine Workforce-Debatte weit fortgeschritten. Hier sind effektive und kurzfristig greifende Maßnahmen auf einer Makroebene (Politik, Selbstverwaltung) gefordert, damit der Innovationsstau nicht fortbesteht sowie Potenziale aller Akteure im Gesundheitswesen im Interesse der Patientenversorgung zur Entfaltung kommen. Den fünf Berufen ist gemein, dass sie traditionelle Frauenberufe sind und in der Mehrzahl auch heute von Frauen ausgeübt werden. Weiter verbindet sie, dass sich alle auf dynamischen Professionalisierungspfaden befinden, z. B. wissenschaftliche Disziplinen und Akademisierungsstrukturen entwickeln. Sie sind dabei im internationalen Vergleich in einer nachholenden Entwicklung der hochschulischen Ausbildung und Akademisierung. Vor dem Hintergrund einer multimorbiden, alternden Bevölkerung ist die Versorgung bzw. Versorgungslandschaft komplexer geworden und die Gesundheitswissenschaften können zur Neuorientierung und nachhaltigen Gestaltung einer neuen Praxis beitragen. Eine Schlüsselrolle spielen dabei jene Angehörigen der Gesundheitsberufe, die heute für an den Bedarfen und Bedürfnissen ausgerichtete Gesundheitsleistungen im 21. Jahrhundert ausgebildet werden. Für diese Anpassungsleistung werden Hochschulabsolventen in einer Anzahl benötigt, die das Praxisfeld – im Verständnis einer kritischen Masse – auch zahlenmäßig verändern können. Diese Berufe müssen jedoch in ihrer weiteren Professionalisierung Beachtung und Unterstützung finden, denn restriktive und tradierte Bedingungen im System verringern gegenwärtig ihr innovatives Potenzial. Maßnahmen dafür stehen aktuell vor allem auf einer gesundheits- und bildungspolitischen Agenda. Der Einbezug dieser beruflichen und wissenschaftlichen Perspektiven verspricht Potenziale für die Entwicklung für Public Health am Beginn des 21. Jahrhunderts. Danksagung Für die berufsspezifischen Anmerkungen bedanken wir uns bei den Kolleginnen Christine Loytved, Ulrike Marotzki und Monika Rausch.

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Professionalisierung und Handlungsfelder in den Gesundheitsfachberufen

66

Susanne Klotz

Inhalt 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803

2 Akademisierung der Gesundheitsberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 2.1 Phasen der Akademisierung in den Gesundheitsberufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 2.2 Notwendigkeit einer Akademisierung der Gesundheitsberufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804 3

Professionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806

4 4.1 4.2 4.3

Handlungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsangehörige mit Bachelor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsangehörige mit Master . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsangehörige mit Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810

807 807 808 809

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810

1

Einleitung

Die Gesundheitsberufe, hier Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Hebammenkunde und Pflege, befinden sich im Wandel von einstigen Heilhilfsberufen hin zu Professionen. Treibende Kräfte für diesen Wandel sind sowohl in den Rahmenbedingungen der Berufsausübung, den Veränderungen in dem Gesundheitswesen und der Bevölkerung als auch in den jungen Professionen und deren beruflichem Selbstverständnis zu finden (Becker 2010; Walkenhorst 2011; Wissenschaftsrat 2012). Mit der Professionalisierung ändert sich nicht nur die Ausbildung der Gesundheitsberufe, sondern auch deren Handlungsfelder. Der folgende Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte der Akademisierung in den Gesundheitsberufen und erläutert die Faktoren, die eine Akademisierung bedingen. Im zweiten Teil wird dann der Bogen von der Akademisierung zur Professionalisierung geschlagen und die Berufe in den Prozess der Professionalisierung eingeordnet. Abschließend wird ein Blick auf die

S. Klotz (*) Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

Handlungsfelder geworfen, die sich durch den Akademisierungs- und Professionalisierungsprozess ergeben.

2

Akademisierung der Gesundheitsberufe

Mit Akademisierung wird nicht nur der Aufbau von Studiengängen, sondern auch eine konsequente Disziplinentwicklung in den Gesundheitsberufen verstanden (Höppner 2016). Entlang der von Walkenhorst (2018) entworfenen Phasen der Akademisierung sollen die Entwicklungen in diesem Feld beschrieben werden (Walkenhorst 2018).

2.1

Phasen der Akademisierung in den Gesundheitsberufen

Erste Phase der Akademisierung (1973–1996) Traditionell wurden die Gesundheitsberufe im sekundären Berufsbildungssystem ausgebildet. Ausgehend von professionstheoretischen Diskussionen und dem Blick in das Ausland wurden zunehmend Akademisierungsbestrebungen artikuliert. Aber nicht nur die Professionen selbst, sondern auch

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_72

803

804

von anderen Stellen, wie z. B. 1973 von dem Wissenschaftsrat, wurden bereits Anfang der 1970er-Jahre Empfehlungen hinsichtlich akademischer Ausbildung ausgesprochen (Friedrichs und Schaub 2011). Die ersten Studiengänge entwickelten sich ab den 1970erund 1980er-Jahren zunächst in der Pflege. Diese Studiengänge waren additive Modelle und vor allem im Bereich der Pflegepädagogik und des Pflegemanagements angesiedelt. Ab den 1990er-Jahren gab es aufgrund der Bologna-Reform auch zunehmend Bachelor-Studiengänge bzw. die bestehenden Diplom-Studiengänge wurden in Studienmöglichkeiten mit Bachelorabschluss umgewandelt (Lull 2014; Reuschenbach und Darmann-Fink 2018). Gemeinsam war den Studiengängen in den 1990er-Jahren, dass sie eine Ausbildung voraussetzten. Die Forderung nach primärqualifizierenden Angeboten wurde, wenn überhaupt, nur sehr zaghaft geäußert (Walkenhorst 2018). Zweite Phase der Akademisierung (1997–2008) In den therapeutischen Gesundheitsberufen begann die Diskussion um die Akademisierung in den 1990er-Jahren (Lull 2014) und bekam durch die Bologna-Reform einen deutlichen Impuls (Zalpour und von Piekartz 2011), so dass sich 1997 der erste Studiengang für Ergotherapeuten entwickelte (Walkenhorst 2018). Bereits 1991 gründete sich die Arbeitsgemeinschaft der Medizinalfachberufe in der Therapie und Geburtshilfe (AG MTG) mit dem Ziel, die Berufsausbildung auf Hochschulniveau anzuheben und somit die Professionalisierung der Berufe mit voranzubringen (AG MTG 2016). Die Studienmöglichkeiten in den 1990er-Jahren in den Therapieberufen waren additive oder ausbildungsintegrierende Studienmöglichkeiten, welche größtenteils in Kooperation mit Berufsfachschulen im In- oder Ausland (hier vor allem die Niederlande) durchgeführt wurden (Friedrichs und Schaub 2011). Im Jahr 2001 entstanden dann die ersten Studienangebote mit einem Abschluss an einer deutschen Hochschule (Walkenhorst 2018). Für Hebammen und Entbindungspfleger war es erstmalig 2008 möglich in Deutschland einen ausbildungsbegleitenden Bachelorstudiengang zu absolvieren (Sayn-Wittgenstein 2018). Dritte Phase der Akademisierung (2009–2016) Seit 2009 ist es aufgrund des Gesetzes über die Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze von Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Hebammenwesen möglich, dass in den entsprechenden Berufen erstmals primärqualifizierende Studiengänge angeboten werden können, deren Outcomes evaluiert werden müssen (BMG 2009). In der Kranken- und Altenpflege wurden entsprechende Modellklauseln bereits 2003 und 2004 eingeführt (Reuschenbach und Darmann-Fink 2018). Allerdings sind bei der Gestaltung der Studiengänge die erlaubten Abweichungen von den Berufsgesetzen, die zu dem Zeitpunkt teils bis zu 33 Jahre

S. Klotz

alt waren, nur in moderatem Maße möglich. Insbesondere die praktische Ausbildung muss den Berufsgesetzen folgen. Eigenheiten der beruflichen und der akademischen Ausbildung prallen aufeinander, so z. B. in der Vermittlung des Wissens in Präsenzphasen der Berufsausbildung versus Selbstlernphasen des Studiums (Friedrichs und Schaub 2011). Die Modellstudiengänge bieten aber auch die Chance einer früh einsetzenden Sozialisation für Wissenschaft und Praxis zugleich (Höppner 2016). Vierte Phase der Akademisierung (seit 2017) Mit der Entscheidung des Bundestages im Oktober 2016, die Modellklausel um weitere vier Jahre zu verlängern, begann die vierte Phase der Akademisierung. Ausschlaggebender Grund für die Verlängerung war die aus Sicht des Bundesministeriums für Gesundheit unzureichende Möglichkeit der Evaluation längerfristiger Auswirkungen auf das Gesundheitswesen inklusive Kostenentwicklung. Die ursprünglich geplante Verlängerung von zehn Jahren führte zu großen Protesten bei vielen Verbänden und Interessensvertretungen. Die Kürzung der Verlängerung auf vier Jahre kann so zumindest als Teilerfolg gewertet werden und sichert eine Entscheidung in der laufenden Legislaturperiode (Pula-Keuneke 2016; Walkenhorst 2018).

2.2

Notwendigkeit einer Akademisierung der Gesundheitsberufe

Die Akademisierung der Gesundheitsberufe ist kein Selbstzweck, sondern soll den Transfer von innovativen Konzepten und forschungsgestützten Lösungsansätzen in die Praxis ermöglichen und somit zu einer Qualitätssteigerung der Berufsausübung, zu einer Weiterentwicklung der jeweiligen Berufe und daraus folgend zu einer verbesserten Gesundheitsversorgung beitragen (Billig 2011; BMG und BMFSFJ 2017; Friedrichs und Schaub 2011). Auch die Evaluierungen der Modellstudiengänge bescheinigten den Absolventen höhere Kompetenzen und bessere Strategien zur Problemlösung im Vergleich zu Fachschülern (Deutscher Bundestag 2016). Im Folgenden soll die Notwendigkeit der Akademisierung erläutert werden.

2.2.1

Steigende Anforderungen an das Berufsfeld bedingt durch eine veränderte Versorgungssituation In vielen Arbeitsbereichen ist es bereits zu einer Steigerung der Versorgungskomplexität gekommen, welche weiterhin zunehmen wird. Damit einhergehend werden sich auch die Bedeutung der Interdisziplinarität erhöhen und die Arbeitsteilung verändern (Billig 2011; Wissenschaftsrat 2012). Eine der Ursachen für die steigende Komplexität in den Berufsfeldern ist der demografische Wandel. Dieser wird

66

Professionalisierung und Handlungsfelder in den Gesundheitsfachberufen

insbesondere für die Pflege- und Therapieberufe spürbar sein, da die Zahl an chronisch kranken und multimorbiden Patienten steigen wird. Zudem werden Berufe im Gesundheitswesen zunehmend mit Patienten mit anderen kulturellen Hintergründen konfrontiert, auf die sie kultursensibel und zielgruppenspezifisch reagieren müssen. Ein weiterer Grund ist die Verlagerung aus dem stationären in den ambulanten Versorgungsbereich und den damit verbundenen kürzeren Liegezeiten. Zusätzlich bedingt der medizinische Fortschritt nicht nur immer komplexere Möglichkeiten, sondern auch mehr Ansprüche an Diagnostik und Therapie (Bauer und Kraienhemke 2013; Funk 2008; Gerst und Hibbeler 2012; Pflanz et al. 2013; Reuschenbach und DarmannFink 2018; Walkenhorst 2011). Zu den erhöhten Anforderungen zählt auch die zunehmende Bedeutung an interprofessioneller Zusammenarbeit. Dabei sollen unterschiedliche Professionen in einem sozialen Prozess zielorientiert komplexe gesundheitsbezogene Probleme bearbeiten können. Dies bedarf der Herausbildung interprofessioneller Kompetenzen, die in der aktuellen Ausbildungssituation nicht oder nur unzureichend entwickelt werden können (Bauer und Kraienhemke 2013). Angehörige der Gesundheitsberufe müssen daher zu eigenständiger, kritisch-reflektierender und ethischer Berufsausübung im Sinne des Clinical Reasonings befähigt werden. " Definition Clinical Reasoning Clinical Reasoning ist ein

komplexer kognitiver Prozess, bei dem mit Hilfe von Kognition, Metakognition und disziplin-spezifischem Wissen alle wichtigen Informationen in einem Patientenfall zusammengetragen, analysiert und bewertet werden, um alternative Lösungsmöglichkeiten abzuwägen (Simmons 2010). Dies erfordert kompetenzorientierte und transformative akademische Bildung, welche auch die psychosozialen, kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen entsprechend ausbildet (Bauer und Kraienhemke 2013; Frenk et al. 2010).

2.2.2

Entstehung einer eigenständigen Wissenschaft und genuinen Forschung Der Aufbau von Studiengängen soll zum Aufbau von Wissenschaft und Forschung führen. " Genuine Forschung ist unverzichtbar, wenn die Gesundheitsberufe ihren Beitrag zur intra- und interprofessionellen Beantwortung von gesundheitsrelevanten Frage- und Problemstellungen leisten wollen (Küther 2013; Walkenhorst 2018).

Sie tragen somit nicht nur zur Verbesserung der Versorgungsqualität bei, sondern erlangen über die wissenschaftliche Reflexion und Untermauerung ihrer Arbeit auch eine

805

breitere Akzeptanz und Würdigung ihrer Arbeit (Ewers et al. 2012). Im Kontext der Gesundheitsberufe kann Forschung als Voraussetzung für Modernisierung und Adaptierung an sich verändernde Rahmenbedingungen verstanden werden. Die Prüfung der Wirksamkeit und Weiterentwicklung der eigenen Behandlungsansätze kann nur aus der eigenen Profession heraus erfolgen. Die zunehmende Evidenzbasierung der pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen trägt zur Qualitätssteigerung der täglichen Praxis bei. Die Themenfelder in der Forschung umfassen aber nicht nur den Bereich der Wirksamkeitsprüfung und Entwicklung von innovativen Behandlungsansätzen, sondern erstrecken sich auch auf Bildungs- und Professionsforschung (Höppner 2010; Küther 2013). Für eine effektive und effiziente Forschung in den Gesundheitsberufen bedarf es einer systematischen Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und dem Ausbau von Forschungsstrukturen im Zuge des Akademisierungsund Professionalisierungsprozesses (Ewers et al. 2012).

2.2.3

Vorbeugung des Fachkräftemangels und Steigerung der Attraktivität der Berufe Die Bundesagentur für Arbeit bescheinigt schon jetzt den Berufen in der Pflege, der Geburtshilfe und der Physiotherapie einen bundesweiten Fachkräftemangel mit Vakanzzeiten von offenen Stellen, die deutlich über dem Durchschnitt aller Berufe liegen (Bundesagentur für Arbeit 2017). Die Problematik eines Fachkräftemangels bei den Gesundheitsberufen wird sich in den kommenden Jahren zum einen aufgrund der steigenden Nachfrage nach deren Leistungen und zum anderen aufgrund eines sinkenden Angebotes weiter verschärfen. In etlichen Gesundheitsberufen sinkt die Zahl der Auszubildenden seit Jahren. Eklatantestes Beispiel ist die Ergotherapie, in der die Schülerenzahlen von dem Schuljahr 2007/08 bis zu dem Schuljahr 2013/14 um 24 % zurückgegangen sind (Zöller 2015). Demgegenüber steht ein hoher Anteil an älteren Berufsangehörigen, so z. B. in der Krankenpflege mit 32 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten über 50 Jahre (Bußmann und Seyda 2014). Zudem steigt mindestens jeder Vierte der Berufsangehörigen im Laufe des Berufslebens aus dem direkten Patientenkontakt im System der gesetzlichen Krankenversicherung aus, wie eine Befragung von knapp 1.000 Berufsangehörigen der Therapieberufe zeigt. Etwa ein Drittel dieser ausgestiegenen Therapeuten arbeitet nur noch mit Privatpatienten, im Ausland oder in fachfremden Berufen. Die restlichen Zweidrittel sind in Forschung oder Lehre tätig. Gründe für den (teilweisen) Berufsausstieg liegen unter anderem in der fehlenden beruflichen Perspektive (Staeck 2017). Der Mangel an aufeinander aufbauenden und anrechenbaren Bildungsabschlüssen und damit verbundenen fehlenden Karrierewegen machen die Gesundheitsberufe mitunter zu

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S. Klotz

einer unattraktiven Bildungssackgasse (Höppner 2016, SaynWittgenstein 2018). In der Akademisierung wird daher auch die Chance gesehen, die Attraktivität der Berufe zu steigern und Karrierepfade für diese zu entwickeln (Becker 2010; Reuschenbach und Darmann-Fink 2018; Striebich et al. 2016).

2.2.4 Internationale Anschlussfähigkeit Im inner- und außereuropäischen Ausland findet die Ausbildung in den Gesundheitsberufen größtenteils auf akademischem Niveau statt, oft bereits seit vielen Jahrzehnten. Damit verbunden entstanden auf dem Arbeitsmarkt auch entsprechende Stellen, z. B. in der Forschung, die in Deutschland noch nicht etabliert sind. Die fehlende breite akademische Landschaft in Deutschland führt dazu, dass Deutschland als Ausbildungsstandort in den Gesundheitsberufen für ausländische Studierende, aber auch für deutsche Schulabgänger unattraktiv ist (Friedrichs und Schaub 2011). Auf der anderen Seite haben es deutsche Berufsangehörige mitunter nicht einfach, im Ausland in ihrem Beruf tätig zu werden, da die Ausbildung nicht anerkannt wird (Funk 2008). Für die Hebammenkunde stellte die mangelnde internationale Anschlussfähigkeit bislang ein besonderes Problem dar, da das Europäische Parlament einheitlich einen 12jährigen allgemeinbildenden Schulbesuch als Einstiegsvoraussetzung für die (akademische) Ausbildung der Hebammen in der Europäischen Union festgeschrieben hat. Infolgedessen mussten deutsche Hebammen bisher mindestens zwei Jahre berufstätig sein, um überhaupt erst eine Anerkennung ihrer Ausbildung im Ausland anstreben zu können. Da dies der Richtlinienkonformität zur gegenseitigen Anerkennung von Bildungsabschlüssen entgegensteht, ist Deutschland aufgefordert, die deutsche Hebammenausbildung bis zum 18. Januar 2020 auf das tertiäre Niveau anzuheben (Ayerle und Sektion Hochschulbildung der DGHWi 2016; Bauer und Kraienhemke 2013).

3

Professionalisierung

Die Professionalisierung ist ein vielschichtiger Entwicklungsprozess, in dem aus einem Beruf eine Profession wird. " Definition Profession Mit Profession werden Experten-

berufe im Dienstleistungsbereich bezeichnet, die in einem gesellschaftlich relevanten Problemfeld wissenschaftlich begründbare Leistungen erbringen. Der Fokus liegt hier auf der Ausrichtung auf und dem Nutzen für die Gesellschaft (Kälble und Borgetto 2016). Zeitlich der Professionalisierung vorausgehend ist der Prozess der Verberuflichung. Hierbei werden bestimmte Tätigkeiten oder Verrichtungen, die als Arbeit eingruppiert werden können, einem Beruf zugeordnet (Macha-Krau 2013).

Die Gesundheitsberufe befinden sich im Prozess der Professionalisierung. Eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen einem Beruf und einer Profession ist die Ausbildung auf akademischem Niveau. " Als Grundstein und Motor der Professionalisierung zugleich trägt die Akademisierung zur Entwicklung von Wissenschaft und Forschung und somit zur Weiterentwicklung des Berufes bei.

Deren Erkenntnisse führen zu einer Verbesserung der Qualität der Dienstleistung des jeweiligen Berufes und zu professionellem Handeln, das es ermöglicht sich den Herausforderungen im Umgang mit Patienten zu stellen. Somit kann Professionalisierung innerhalb der Profession eine verstärkte Identitätsbildung und außerhalb der Profession eine Aufwertung des Berufsstandes verbunden mit höherer Autonomie ermöglichen (Beyermann 2006; Funk 2008; Geissler 2013; Hoffschildt 2013; Walkenhorst 2018). Welche Charakteristika einen Beruf zu einer Profession machen, wird in den merkmalsbezogenen Professionalisierungstheorien definiert, wobei die Merkmale nach Beyermann (2006) drei Dimensionen zugeordnet werden können: Dimensionen von Professionalisierung

• Dimension Qualifikation – Wissenschaftliche, theoretisch fundierte und akademische Ausbildung (mit Praxisanteilen in der Ausbildung) – Fachterminologie, die eine spezifische und gelingende Kommunikation ermöglicht – Wissenschaft und wissenschaftlich fundiertes Spezialwissen • Dimension Gesellschaft und Sozialwesen – Erbringung einer Leistung von hohem gesellschaftlichen Nutzen und sozialer Status – Berufsethos, Verpflichtung auf Werte und Vorhandensein eines Ethikkodexes – Autonomie bei gleichzeitiger Problemlösekompetenz • Dimension Berufsvertretung – Organisierte Vertretung der beruflichen Interessen – Kollegial-korporative Selbstkontrolle – Exklusive Berechtigung der Berufsausübung (Beyermann 2006; Geissler 2013; Richter 2018) Da sich die Gesundheitsberufe im Prozess der Professionalisierung befinden, sind noch nicht alle Merkmale einer Profession erfüllt und durchaus auch Unterschiede zwischen den einzelnen Berufen zu erkennen. Exemplarisch sollen einige Merkmale und deren Professionalisierungsgrad beleuchtet werden.

66

Professionalisierung und Handlungsfelder in den Gesundheitsfachberufen

Dimension Qualifikation Der Stand der Akademisierung wurde schon ausführlich dargestellt inklusive der Anhebung der Hebammenausbildung bis zum Jahr 2020. Problematisch für die aktuelle Situation der Akademisierung ist die durch die Verlängerung der Modellklausel andauernde Bindung an die Vorgaben der Berufsgesetze (Friedrichs und Schaub 2011). Insgesamt sind die Akademisierungsquoten in den einzelnen Berufen noch gering, so erreicht sie aktuell bei den Physiotherapeuten gerade mal 2,75 % (Heck-Darabi 2017). Die Entwicklung von Fachterminologie hält Einzug in die Gesundheitsberufe (Stadler-Grillmaier 2007) und auch die Forschungsaktivitäten nehmen zu (Wissenschaftsrat 2012). Allerdings ist für die weitere Professionalisierung die Entwicklung einer breiten wissenschaftlichen Fundierung entscheidend. Wenn die Gesundheitsberufe keine genuine Forschung implementieren, werden sie weiterhin ausschließlich auf Ergebnissen aus dem Ausland angewiesen sein oder andere Professionen übernehmen deren Forschungsfragen und machen sie zu ihren eigenen. Für die Weiterentwicklung der Tätigkeit an Patienten und für die Evidenzbasierung von diagnostischen sowie therapeutischen bzw. pflegerischen Maßnahmen ist Forschung unabdingbar (Hoffschildt 2013). Die Verwissenschaftlichung muss geprägt sein von einer großen Selbst- und Eigenständigkeit (Klemme et al. 2008), was unter anderem der Einrichtung von eigenständigen Departments an universitären Institutionen bedarf, um die genuine Forschung voranzutreiben (Wissenschaftsrat 2012). Dimension Gesellschaft und Sozialwesen Die Dienstleistungen der Gesundheitsberufe sind eindeutig gesellschaftlich zentralwertbezogen, nützlich und relevant und erfüllen somit den Anspruch an eine Profession. Berufsordnungen und internationale Ethikkodizes existieren in allen Gesundheitsberufen, teilweise ergänzt durch nationale Ethikkodizes. Weder Ethikkodex noch Berufsordnung sind rechtlich bindend, sondern eine Selbstverpflichtung der jeweiligen Berufsangehörigen. Ausnahmen bilden hier die Hebammen und die Pflege, deren Berufsgesetze die Einsetzung bindender Rechtsverordnungen auf Landesebene vorsehen (Höfert 2008). Die Handlungsautonomie ist in den einzelnen Berufen unterschiedlich ausgeprägt. Insbesondere die Hebammen genießen hier eine Sonderstellung unter den Gesundheitsberufen, die mitunter zu ärztlichen Assistenzberufen degradiert werden. Durch die Vorbehaltstätigkeiten verfügen die Hebammen über einen gesetzlich definierten Zuständigkeitsbereich, in dem sie ohne An-/Verordnung selbstständig und innerhalb des gesetzlichen Krankenversicherungssystems tätig sein können (Pflanz et al. 2013). Mit dem neuen Pflegeberufereformgesetz wächst auch in der Pflege die Autonomie, da es explizit vorbehaltene Tätigkeiten aus dem pflegerischen Spektrum definiert, die nur von Personen mit entsprechender Erlaubnis ausgeführt werden dürfen (BMG und BMFSFJ

807

2017). Den Therapieberufen ist es, unter anderem bedingt durch die Ausbildungssituation, aktuell nicht gestattet, Patienten im Direktzugang zu behandeln (Rohrbach et al. 2013), jedoch erlaubt der Heilmittelkatalog Ergotherapeuten und Logopäden hinsichtlich Befund und Therapie größere Freiheiten (Grosch 2015). Dimension Berufsvertretung Durch die Berufsgesetze, die die jeweiligen Berufsbezeichnungen unter Schutz stellen, genießen die Gesundheitsberufe die exklusiven Rechte der jeweiligen Berufsausübung. Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Berufsausübung können die Gesundheitsberufe prinzipiell über ihre berufsständigen Vertretungen nehmen. Allerdings empfinden viel Angehörige der Therapieberufe ihre Vertretungen als zu schwach und bemängeln eine fehlende Lobby (Staeck 2017). Die Hebammen sind, was Lobbyarbeit angeht, durchaus Vorbild, schaffen sie es doch regelmäßig, eine breite Öffentlichkeit für ihre Themen zu sensibilisieren. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass ihre Forderungen auch zufriedenstellend umgesetzt werden (Vorndran 2017). Eine Möglichkeit, um nicht nur mehr Einfluss nehmen zu können, sondern auch die Kontrolle über die Berufsausübung zu erlangen, die aktuell nicht in der Hand der Gesundheitsberufe selbst liegt, ist die Verkammerung. In der Pflege gibt es bereits in einigen Bundesländern Pflegekammern, eine Bundespflegekammer soll folgen (Osterloh 2017). Auch in den Therapieberufen wird das Thema Verkammerung diskutiert (Herzig 2017).

4

Handlungsfelder

Ausgehend von dem Szenario, dass der erfolgreiche Bachelor-Abschluss das Berufseinstiegslevel für die Gesundheitsberufe ist (AG MTG 2016), werden die verschiedenen Handlungsfelder anhand der drei Studienzyklen Bachelor, Master und Promotion aufgezeigt.

4.1

Berufsangehörige mit Bachelor

Entsprechend des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR), der die Kompetenzen der Berufsangehörigen mit Bachelorabschluss auf Stufe 6 eingruppiert, verfügen diese über alle Kompetenzen, die zur Planung, Bearbeitung, Überwachung, Steuerung und Auswertung von umfassenden Aufgaben- und Problemstellungen sowie Prozessen notwendig sind (Europäische Kommission 2008). Im Fall der Gesundheitsberufe zielt der Erwerb dieser Kompetenzen auf eine Tätigkeit unmittelbar in der Patientenversorgung ab. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder das Schlagwort reflektierender Praktiker.

808

" Definition reflektierender Praktiker Reflektierende Prak-

tiker arbeiten mit Patienten, lassen ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in diese Arbeit einfließen und reflektieren dabei ihr Handeln (AG MTG 2016; Funk 2008; Gerst und Hibbeler 2012). Der reflektierende Praktiker verkörpert somit das moderne Berufsethos in den Gesundheitsberufen, das weggeht vom Ausführen von standardisierten Handlungsanweisungen hin zum eigenständigen Erfassen, Planen, Ausführen und Evaluieren von neuen komplexen Situationen und Handlungsweisen (Striebich et al. 2016). Erste Absolventenbefragungen aus dem Bereich der Therapiewissenschaften zeigen, dass Angehörige mit Bachelorabschluss auch das Selbstverständnis haben, im direkten Patientenkontakt zu arbeiten. Sie können ihren Therapieprozess kritisch reflektieren und den eigenen Standpunkt gegenüber anderen Berufsgruppen gut vertreten. Ferner haben Befundung und Dokumentation einen höheren Stellenwert im Behandlungsprozess (Hluchy und Zalpour 2011; Zalpour und Hluchy 2010). Durch die in der akademischen Ausbildung erworbenen Kompetenzen, insbesondere die Reflexionsfähigkeit, die wissenschaftliche Urteilsfähigkeit und die kritisch-analytische Herangehensweise an komplexe Sachverhalte, kann die Ausübung des Berufes noch qualifizierter, zielgenauer und individueller erfolgen als mit der klassischen Berufsausbildung (Becker 2010; Friedrichs und Schaub 2011; Reuschenbach und Darmann-Fink 2018). Die Prinzipien der evidenzbasierten Medizin (EBM) nach Sackett et al. (1996) haben auch in den anderen Gesundheitsprofessionen Einzug gefunden. " Definition EBM EBM ist demnach die gewissenhafte,

ausdrückliche und vernünftige Integration der gegenwärtig besten externen Evidenz mit der subjektiven klinischen Expertise und der individuellen Patientensicht, um Versorgungsentscheidungen zu treffen (Sackett et al. 1996). Aufgrund ihrer Ausbildung verfügen Bachelorabsolventen über alle notwendigen Fach-, Management-, Wissenschafts-, Sozial- und Personalkompetenzen, um einen evidenzbasierten Theorie-Praxis-Transfer zu vollziehen (Höppner 2005; Scheidhauer et al. 2013). Sie sind somit in der Lage, die Prinzipien der EBM in der täglichen Praxis umzusetzen (Brenner 2013). Neben dem Finden, dem Verstehen und der kritischen Bewertung von Forschungsergebnissen, haben die wissenschaftlich ausgebildeten Berufsangehörigen auch entscheidenden Einfluss darauf, dass diese Ergebnisse in die Praxis transferiert und individuell angewandt werden. Das Hinterfragen des täglichen Handelns und von Routinen kann dabei ein entscheidender Antrieb sein (Friesacher 2013). Mit der Fähigkeit zum kritischen Denken und Reflektieren wird die kritische Distanz zu neuen, aber auch zu tradierten

S. Klotz

Methoden, deren Wirksamkeit nicht bewiesen ist, zunehmen und umgekehrt die Integration von evidenzbasierten Methoden gefördert (Küther 2013). Neben der Reflexions- und Problemlösekompetenz auf der Ebene des direkten Patientenkontaktes, also der Mikroebene, sind Bachelorabsolventen auch in der Lage, bei komplexen Fragestellungen die Einflüsse der Meso- (Ebene der Organisationen und Institutionen) und Makroebene (Ebene der staatlichen Akteure) zu berücksichtigen und in den Lösungsprozess mit einzubeziehen (Walkenhorst 2018). In Ergänzung zu der Tätigkeit an Patienten im gesamten Spektrum der Versorgung können reflektierende Praktiker auch neue Betätigungsfelder erschließen, die eng verzahnt sind mit der zunehmenden Forderung nach Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen, so z. B. die (Mit)Entwicklung von Leitlinien, Qualitätsmanagementprozessen, Versorgungs- und Beratungsangeboten sowie die Beteiligung an Forschungsprojekten (AG MTG 2016; Bauer und Kraienhemke 2013). Ein weiteres Tätigkeitsfeld liegt in der qualifizierten Praxisanleitung der angehenden Berufsangehörigen. Wichtig erscheint in dem Zusammenhang eine einheitlich geregelte Mindestanforderung, um die Qualität der Praxisanleitung zu gewährleisten (Ayerle und Sektion Hochschulbildung der DGHWi 2016). Insbesondere in den Therapieberufen könnte die grundständige Qualifizierung der Gesundheitsberufe auch dazu beitragen, dass Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden zukünftig Direktzugang erhalten. So deckt z. B. eine Analyse der aktuellen Ausbildungssituation in der Physiotherapie Defizite in den notwendigen Fach- und Personalkompetenzen auf (Rohrbach et al. 2013), die durch die hochschulische Ausbildung behoben werden könnten (Höppner 2005; Scheidhauer et al. 2013). Somit könnte ein aus der Akademisierung folgender Schritt mehr Autonomie und ein neuer Zuschnitt von Aufgaben der Berufe im Gesundheitswesen sein (Küther 2013).

4.2

Berufsangehörige mit Master

Das Masterniveau, angesiedelt auf Stufe 7 des EQR, ermöglicht die Bewältigung neuer komplexer Aufgaben- und Problemstellungen verbunden mit einer eigenverantwortlichen Steuerung von Prozessen in strategie- und wissenschaftsorientierten Feldern (Europäische Kommission 2008). Somit wird eine Spezialisierung ermöglicht, wobei diese sowohl in der klinischen Praxis im Sinne von fachspezifischen Kompetenzen, in der Lehre, in der Forschung als auch in dem Managementbereich erfolgen kann (AG MTG 2016; Brenner 2013; Funk 2008). Gemeinsam ist allen Masterstudiengängen, dass sie unmittelbar oder mittelbar zu einer verbesserten Patientenversorgung führen können (Küther 2013). So sollte z. B.

66

Professionalisierung und Handlungsfelder in den Gesundheitsfachberufen

im Sinne der Qualitätssicherung die Ausbildung von Berufsangehörigen mit Bachelorabschluss durch entsprechend qualifizierte Lehrkräfte auf Masterniveau erfolgen (Ayerle und Sektion Hochschulbildung der DGHWi 2016). Neben dem klinischen Einsatz und der Tätigkeit in Leitung, Lehre und Forschung bestehen noch vielfältige andere Handlungsfelder, z. B. in der betrieblichen Gesundheitsförderung, der Medizintechnik, dem Verlagswesen, dem Projektmanagement oder der Gesundheitspolitik (Hegewald et al. 2017; Lüdtke 2009). Aber auch Masterabsolventen, die immer noch direkt in der Patientenversorgung arbeiten, sind keine Seltenheit. So üben 41 % der befragten Absolventen eines Masterstudienganges in Physiotherapie zumindest teilweise physiotherapeutische Tätigkeiten mit Patienten aus (Hegewald et al. 2017). Zudem empfiehlt der Wissenschaftsrat die Einrichtung von Masterstudiengängen, die über die Vermittlung von klinischer und forschungsbezogener Expertise klinische Experten in der patientenorientierten Arbeit ausbildet (Wissenschaftsrat 2012). Ein mögliches zukünftiges klinisches Handlungsfeld für Berufsangehörige mit Master könnte die Advanced Practice bieten, wie sie in anderen Ländern für Gesundheitsberufe schon realisiert ist. Die hoch spezialisierten Therapeuten, Pflegekräfte und Hebammen führen in ihrem spezifischen Bereich eigenständig Diagnostik und Therapie durch. Sie haben ein großes Maß an Autonomie und können z. B. Überweisungen an andere Akteure im Gesundheitswesen veranlassen und Verordnungen ausstellen. Dabei hat der Tätigkeitsbereich immer einen spezifischen Fokus in Abhängigkeit der jeweiligen Profession und wird dementsprechend als z. B. Advanced Nursing Practice oder Advanced Physiotherapy Practice bezeichnet. In Deutschland besteht diese Möglichkeit bislang noch nicht, allerdings hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bereits 2007 die Erprobung der Advanced Practice empfohlen (Chartered Society of Physiotherapy 2016; Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe 2013; Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007).

4.3

Berufsangehörige mit Promotion

Der dritte Zyklus der Bildungsabschlüsse ist die Promotion auf Stufe 8 des EQR und ermöglicht die Gewinnung und Entwicklung von Forschungserkenntnissen und innovativer Lösungen (Europäische Kommission 2008). Oft liegt der Promotion eine intrinsische Motivation zugrunde, bei der die fachlich-beruflichen Interessen verbunden werden mit der Weiterentwicklung des eigenen Berufsstandes, indem im Rahmen der Qualifizierungsarbeit Fragestellungen aus der alltäglichen Berufspraxis beantwortet werden (Kranz 2013; Reichwein 2012).

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" Promotionen stellen eine Quelle für Theorieentwicklung und Evidenzbasierung dar (Höppner 2016) und bringen durch die Innovationen den gesamten Berufsstand voran (Brenner 2013; Kranz 2013).

Natürlich eröffnen sich für Angehörige der Gesundheitsberufe mit der Promotion auch neue berufliche Perspektiven, so z. B. die Möglichkeit auf eine Professur berufen zu werden (Kranz 2013). Bislang war es für Promotionswillige in den Gesundheitsberufen in Deutschland allerdings nicht ohne weiteres möglich zu promovieren bzw. mit Hürden verbunden (Kranz 2013). Dies liegt hauptsächlich an drei Faktoren: der überwiegenden Verortung an Fachhochschulen, dem Mangel an strukturierten Promotionsprogrammen und der fehlenden Möglichkeit, in der eigenen Disziplin zu promovieren (Reichwein 2012). Daher finden die Qualifizierungsarbeiten häufig in Form von internen oder externen Individualpromotionen in Bezugswissenschaften wie Medizin, Sport-, Gesundheits- oder Erziehungswissenschaften statt (Reichwein 2012; Thierfelder 2013). Neben solchen Promotionen in den verschiedenen Bezugswissenschaften sind auch kooperative Modelle zwischen (Fach)Hochschulen und Universitäten in Form von Forschungskollegs möglich. Die Bildung von sog. Tandems ermöglicht dann die Erstbetreuung von Promotionen an der Universität durch Hochschulprofessoren (Sayn-Wittgenstein 2018). Aber auch beim Promotionsrecht für (Fach)Hochschulen bewegt sich langsam etwas. Ende 2016 wurde der Hochschule Fulda als erster Hochschule für Angewandte Wissenschaften bundesweit das eigenständige Promotionsrecht verliehen, unter anderem für den Bereich Public Health. Durch die an der Hochschule Fulda angesiedelten Studiengänge in Pflege, Physiotherapie und Hebammenkunde ergibt sich somit erstmals auch die Möglichkeit, dass Promovierende eine Doktormutter bzw. einen Doktorvater aus ihrer eigenen Profession wählen können (Wolf 2017). Dennoch bedarf es mehr Möglichkeiten für Angehörige der Gesundheitsberufe zu promovieren, da für eine nachhaltige Disziplinenentwicklung und Professionalisierung die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses unabdingbar ist (Höppner 2016). Auch sollten gesundheitswissenschaftliche Studiengänge vermehrt an medizinischen Fakultäten angegliedert werden, um Interdisziplinarität und genuine Forschung zu fördern (Wissenschaftsrat 2012). Die Universität zu Lübeck kommt der Empfehlung des Wissenschaftsrates nach und hat den ersten universitären primärqualifizierenden Bachelorstudiengang in Physiotherapie in Deutschland eingerichtet. Ziel des Studienganges ist in erster Linie reflektierende, evidenzbasiert handelnde Praktiker auszubilden. Allerdings bietet der universitäre Studiengang auch gute Anschlussmöglichkeiten für universitäre Master- und Promotionsprogramme (Bretin et al. 2018). Für die weitere Professionalisierung der Gesundheitsberufe wäre

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S. Klotz

es nur zu begrüßen, wenn weitere Universitäten dem Lübecker Beispiel folgen und so neue universitäre Studienmöglichkeiten in allen drei Studienzyklen geschaffen würden.

5

Fazit

Die Gesundheitsberufe haben sich auf den Weg gemacht, von Heilhilfsberufen über die Akademisierung zu Professionen zu werden. Akademisierung ist somit ein Bestandteil des übergeordneten Prozesses der Professionalisierung, da sich die akademischen Berufe als wissenschaftliche Disziplin etablieren. Hierbei müssen sie ihre eigene Identität finden und sich von den Bezugswissenschaften abgrenzen (Friedrichs und Schaub 2011). " Die Akademisierung und die Professionalisierung sind kein Selbstweck, sondern führen zu einer qualitativ höherwertigen Gesundheitsversorgung (Billig 2011; BMG und BMFSFJ 2017; Friedrichs und Schaub 2011).

Durch die drei Studienzyklen entstehen differenzierte Handlungsfelder für die Absolventen, wobei der Bachelor im Sinne eines reflektierenden Praktikers für die Arbeit mit Patienten ausgebildet wird und in den höheren Studienzyklen Master und Promotion die Spezialisierung erfolgt. Jedoch gibt es, anders als im internationalen Vergleich, für Masterabsolventen und Promovierende noch keine verlässlichen Karrierepfade. Diese gilt es zu erschließen, um im deutschen Gesundheitssystem das Selbstverständnis zu fördern, in der eigenen Disziplin studieren, promovieren und ggf. habilitieren zu können (Höppner 2016). Der Aufbau von Forschungsstrukturen und die Wissenschaftsorientierung sind derzeit noch durch die fast ausschließliche Verortung an (Fach)Hochschulen nicht nur im Bereich von Promotionen erschwert, sondern stellen auch eine Herausforderung für die gesamte Disziplin dar. Es fehlt an Verankerungen der jungen Wissenschaften in staatlichen Strukturen, die fazilitierend wirken könnten (SaynWittgenstein 2018). Als Fazit bleibt festzuhalten, dass der radikale Paradigmenwechsel in der Ausbildung der Gesundheitsberufe noch aussteht (Friedrichs und Schaub 2011).

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66

Professionalisierung und Handlungsfelder in den Gesundheitsfachberufen

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Global Health – Entwicklung, Akteure und Herausforderungen

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Silke Gräser

Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 2 Global Health und Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814 3 Herausforderungen globaler Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815 4 Chancen und Instrumente globaler Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816 5 Berufsfelder und Professionalisierung in globaler Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818

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Einleitung

Derzeit fehlt eine eindeutige Definition von „globaler Gesundheit“ bzw. Global Health, allerdings hat sich in den letzten Jahren eine akademische Diskussion dazu entwickelt. Frühe medizinische Bezüge zur Tropenmedizin sind abgelöst worden durch den Begriff der internationalen Gesundheit und erleben jetzt im Rahmen der Globalisierungsdebatte auch im Bereich der globalen Gesundheit erhöhte Aufmerksamkeit. Während sich „internationale Gesundheit“ mit einem starken Fokus auf Entwicklungsländer vor allem mit Gesundheitsproblemen wie Infektionskrankheiten, z. B. Malaria, Tuberkulose oder HIV/AIDS, oder sich mit „traditionellen“ Feldern wie reproduktiver Gesundheit und Mutter-Kind-Gesundheit befasste, nimmt globale Gesundheit eine deutlich umfassendere Perspektive ein. Meist zitiert ist die Definition von Koplan et al. (2009), die eine Abgrenzung zwischen internationaler Gesundheit, globaler Gesundheit und Public Health vornehmen. " Definition Global Health „... ein Studien-, Forschungs-

und Praxisbereich, der die Verbesserung der Gesundheit und die Gewährleistung von einem gerechten Zugang zu Gesundheit für alle Menschen weltweit als Priorität versteht. ‚Glo-

S. Gräser (*) Graeser Health Consulting, Oldenburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

bale Gesundheit‘ betont transnationale Gesundheitsthemen, Determinanten und Lösungen; sie bezieht dabei viele Disziplinen der Gesundheitswissenschaften und darüber hinaus ein, fördert interdisziplinäre Kooperationen und ist eine Synthese aus bevölkerungsbasierter Prävention und individueller klinischer Versorgung“ (Koplan et al. 2009, übersetzt durch Verfasser). Global Health bezieht sich auf die transnationalen Einflüsse der Globalisierung auf gesundheitliche Lagen, Determinanten und Risiken und schließt globale gesundheitsbezogene Herausforderungen und Lösungen ein, die sich den Kontrollmöglichkeiten einzelner Staaten entziehen, wie z. B. Auswirkungen und Effekte von Migration, internationaler Mobilität und internationalem Handel und Investitionen, insbesondere die daraus resultierenden sozioökonomischen Ungleichheiten, Hunger und Armut, aber auch Effekte des Klimawandels. Fried et al. (2010) gehen weiter und setzen Global Health und Public Health gleich und verstehen Gesundheit dabei vorrangig als öffentliches Gut und Menschenrecht mit einem besonderen Schwerpunkt auf vulnerable Bevölkerungsgruppen. Als zentrale Prinzipien von „Global Public Health“ betonen sie ein breites Verständnis der Determinanten von Gesundheit auf Basis wissenschaftlicher Ergebnisse, der die evidenzbasierte praktische Umsetzung ermöglicht. Dazu dienen ein interdisziplinärer Zugang, multisektorale und multidisziplinäre Kooperationen und ein integrativer Ansatz,

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2_73

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814

S. Gräser

der die unterschiedlichen Ebenen, Strukturen und Akteure einschließt und Regierungen, Gesundheitseinrichtungen und gemeindebasierte Aktivitäten als Komponenten eines systembasierten Mehrebenen-Interventionsansatzes begreift.

2

Global Health und Gesundheitspolitik

Global Health und deren Aktionsfelder sind politisch und strategisch eng verbunden mit den Millenniums-Entwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDGs) der Vereinten Nationen (2000). Zu den gesundheitsrelevanten Entwicklungszielen gehören die Bekämpfung von Armut und Hunger (MDG 1), der Rückgang der Kindersterblichkeit (MDG 4), die Verbesserung der Müttergesundheit (MDG 5), die Bekämpfung von HIV, Malaria und anderen Krankheiten (MDG 6), die Sicherung einer nachhaltigen Umwelt (MDG 7) und die Entwicklung einer globalen Partnerschaft für Entwicklung (MDG 8). Auch nach 2015 soll an den MDGs festgehalten werden, die noch nicht umgesetzt sind, gleichzeitig sollen aber auch Aspekte von Nachhaltigkeit stärker einfließen. Die von den Vereinten Nationen verabschiedete Post-2015-Entwicklungsagenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (UN 2015) (Sustainable Development Goals, SDGs) enthält nun 17 neue Entwicklungsziele zur Nachhaltigkeit, die auf den MDGs aufbauen, aber insgesamt in einer umfassenderen Perspektive eine neue universelle Agenda setzen wollen. Dabei wird Global Health zunehmend auch als Ergebnis globalen politischen Handelns diskutiert; so haben die G20-Länder erstmals globale prioritäre Gesundheitsthemen in ihre Abschlusserklärung aufgenommen. Dazu gehören Antibiotikaresistenzen, die Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln, die Ausrottung der Kinderlähmung oder auch Tuberkulose, aber auch der Aufbau belastbarer Gesundheitssysteme und die Förderung der Rolle der WHO (Weltgesundheitsorganisation) in der Bekämpfung von grenzüberschreitenden Gesundheitskrisen (BMG 2017). Auf Basis eines stärkeren Engagements im Bereich der globalen Gesundheit haben sich die Ausgaben für Entwicklungshilfe und globale Gesundheitsfonds durch Deutschland, USA und Großbritannien deutlich erhöht. Kickbusch et al. (2017) argumentieren, dass Deutschland dabei eine wichtige Rolle als politischer Akteur einnehmen könnte. Dazu tragen aktuelle Entwicklungen bei, wie z. B. Deutschlands prominente Rolle in der Ebola-Bekämpfung, politische Verwerfungen in der politischen Verantwortungsübernahme für globale Gesundheitsthemen sowie der Rückzug der USA aus der Entwicklungshilfe und der Brexit auf Europäischer Ebene (Kickbusch et al. 2017). Zwar hat die EU im Rahmen der Entwicklung eines politischen Rahmenprogrammes zu ihrer Rolle in der globaler Gesundheit (EU 2010) zentrale Aktionsfelder und vier thematische Schwerpunkte definiert: Führung und Steuerung

in globaler Gesundheit (governance), Zugang zu Gesundheitsleistungen, die Schaffung von politischer Kohärenz in den EU-Politiken mit Relevanz für globale Gesundheit (unter Inklusion von Handel, Migration, Sicherheit, Lebensmittelsicherheit und Ernährung) sowie Forschung und Förderung von evidenzbasiertem Handeln und Wissenstransfer unter Zuhilfenahme von verbesserter Koordination, Monitoring und Kapazitätsentwicklung. Dennoch liegt auf europäischer Ebene derzeit keine Strategie zu globaler oder europäischer Gesundheit vor (Speakman et al. 2017). Die Akteure in globaler Gesundheit sind vielfältig und umfassen Regierungen, internationale Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft. Globale Gesundheit erfordert daher die Bildung partnerschaftlicher Netzwerke und globaler Koalitionen von Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Als handlungsleitendes Prinzip gehören dazu ein Grundverständnis von Gesundheit als Menschenrecht und ein gerechter Zugang zu Gesundheitsleistungen, Partizipation und Verantwortungsübernahme von Staaten, außerdem der Übernahme sozialer und politischer Verantwortung für den Kampf gegen Armut und Hunger und für Chancengleichheit auf globaler Ebene. Dazu gehören auch Fragen eines globalen und internationalen Finanzierungsmechanismus (Gostin et al. 2013). Als Institution der Vereinten Nationen nimmt die WHO dabei eine wichtige gesundheitspolitische Rolle für globale Gesundheit ein. Diese soll noch weiter gestärkt werden, z. B. auch durch eine bessere Abstimmung mit den anderen Organisationen der Vereinten Nationen. Politisch bedeutsam ist auch die M8-Deklaration zum World Health Summit 2017 in Berlin, die sechs Forderungen zu Schlüsselfeldern globaler Gesundheit zusammenfasst: 1. Verpflichtung zur politischen Führung und Steuerung wie z. B. durch die SDGs und deren Umsetzung 2. Globale Gesundheitssicherheit 3. Gesunde und resiliente Städte fördern, um den Erfordernissen einer zunehmenden Urbanisierung als Herausforderung auf lokaler Ebene zu begegnen z. B. um nichtübertragbare Erkrankungen zu bekämpfen 4. Verantwortlicher Umgang mit Gesundheitsdaten 5. Forschung, Innovation und Entwicklung, insbesondere mit einem aktuellen Fokus auf Impfstoffe und antimikrobiellen Resistenzen und 6. Innovation und Gesundheitssystemstärkung für einkommensschwächere Länder, mit besonderem Fokus auf Afrika. Grundsätzlich sind die Aktionsfelder in Global Public Health immer auch von gesundheitspolitischen Entscheidungen und Ausrichtungen abhängig und reflektieren internationale und globale Entwicklungen, aber auch gleichzeitig nationale politische Entwicklungen und Gesundheitslagen.

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Global Health – Entwicklung, Akteure und Herausforderungen

Insbesondere für die Schwellen- und Entwicklungsländer reflektieren die Orientierungen der internationalen Geber wie der EU, UNICEF oder nationale Entwicklungsförderungsstrukturen wie beispielsweise die GIZ für Deutschland, die Swedish International Development Cooperation Agency/SIDA für Schweden oder die Swiss Agency for Development and Cooperation (SDC) für die Schweiz auch unterschiedliche Geberpolitiken. Während z. B. SDC eine Politik langfristiger und kontinuierlicher Förderung einzelner Gesundheitsprojekte von mehr als 10 Jahren betreibt, beschränken andere Geber (z. B. Millennium Challenge Corporation/MCC der USA) ihren Einsatz in Einzelprojekten auf festgelegte limitierte Zeiträume von z. B. 4 Jahren. So wirken sich nationale Steuerungen über thematische und inhaltliche Schwerpunktsetzungen auch auf viele einkommensschwache Empfängerländer (low income countries) aus, deren Gesundheitssystementwicklung oft entscheidend durch Förderungen der Geber bzw. Geberstaaten beeinflusst ist.

3

Herausforderungen globaler Gesundheit

In Zeiten zunehmender Bedeutsamkeit internationaler und globaler Entwicklungen für Gesundheit und Gesundheitssysteme rückt auch der Begriff der „globalen Gesundheit“ mehr in den Fokus. Globale Gesundheit umfasst dabei nicht nur Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik und deren Beeinflussung durch globale Entwicklungen, sondern ist eng verknüpft mit der Entwicklung von nationalen Gesundheitslagen, die durch Globalisierung, Migration oder Urbanisierung beeinflusst werden. Globale Mobilität und Migration beeinflussen die globale gesundheitliche Lage; sie schaffen Vulnerabilitätslagen für Migrantenpopulationen und befördern die Verbreitung sowohl übertragbarer als auch nicht-übertragbarer Erkrankungen. Empfängerstaaten der Entwicklungsförderung stehen daher vor der Herausforderung, Lösungskonzepte sowohl für übertragbare Erkrankungen wie z. B. Malaria, HIV/AIDS, Tuberkulose oder Ebola als auch für nicht-übertragbare Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Krebs zu entwickeln. Experten sprechen von der „doppelten Krankheitslast“ („double burden of diseases“) (Boutayeb 2006) der Entwicklungs- und Schwellenländer im Rahmen einer epidemiologischen Transition in Richtung einer starken Zunahme nicht-übertragbarer Erkrankungen mit gleichzeitig hohen Raten infektiöser bzw. übertragbarer Erkrankungen. Urbanisierung als globale Entwicklung hat nicht nur Auswirkungen auf viele übertragbare Erkrankungen, die sich durch unzureichende hygienische Bedingungen in eng besiedelten und durch geringes Einkommen geprägten Orten schneller verbreiten, sondern beeinflusst durch die Veränderung von Lebensstilen auch die Inzidenz nicht-übertragbarer Erkrankungen. Hier kommen Lebensstiländerungen beson-

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ders zum Tragen und verändern so die Gesundheitslagen ganzer Länder bzw. Nationen. Zunehmende Migration von ländlicher Bevölkerung in urbane Lebensräume bedeutet die Konfrontation mit anderen Lebensstilen und deren sukzessive Adaptation. Dies beinhaltet z. B. Veränderungen von Ernährungsweisen durch die Zunahme des Konsums von industriell gefertigten Produkten, die Abnahme körperlicher Aktivität in bewegungsärmeren Lebensräumen, die Zunahme von Stress in urbanen Kontexten oder die Abnahme familiärer sozialer Unterstützungssysteme. Dabei nehmen Bemühungen zu, nicht-übertragbare Erkrankungen auf Populationsniveau anzugehen und durch Aufklärung, Information, Gesundheitsbildung und -kommunikation und Gesundheitssystementwicklung zu begegnen. Gesundheitsförderung und Prävention durch Lebensstiländerungen berücksichtigen dabei sowohl Lebensstil-Determinanten als auch die Verbesserung des Gesundheitssystems, der Strukturen und Angebote, der Ausstattung von Gesundheitseinrichtungen, aber auch ganz wesentlich die Ausbildung und Qualifizierung von Fachkräften im Gesundheitswesen. Das folgende Beispiel zeigt ein typisches Projekt der Entwicklungshilfe, das die Reaktion auf die Veränderung von Lebensstilen durch Urbanisierung und Migration im Kontext nicht-übertragbarer Erkrankungen illustriert. Beispiel: Gesundheitsförderung, Prävention und Kontrolle nicht-übertragbarer Erkrankungen in der Mongolei (MCC NCDI-Project Mongolei) Die Mongolei ist ein typisches Beispiel für die Zunahme nicht-übertragbarer Erkrankungen (NCD) durch kulturelle Determinanten, aber auch die Adaptation einer industrialisierten Lebensweise. Nicht-übertragbare Erkrankungen sind die Hauptursache für frühzeitige Mortalität in der Mongolei mit fast 80 % aller Todesfälle. Die Wahrscheinlichkeit, in der Mongolei frühzeitig zwischen 30 und 70 Jahren an einer nicht-übertragbaren Erkrankung zu sterben, beträgt 30 % (WHO 2013). Weltweit repräsentieren nicht-übertragbare Erkrankungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus und Krebs 43 % der globalen Mortalität. Mehr als 60 % der weltweiten Todesfälle werden durch nicht-übertragbare Erkrankungen verursacht. Schätzungen der WHO für 2020 gehen von einem möglichen Anstieg der jährlichen globalen Mortalität auf bis zu 60 % und der jährlichen weltweiten Todesfälle auf bis zu 73 % aus (WHO 2013). Die Mongolei ist ein extrem dünn besiedeltes Land mit einer Bevölkerung von ca. 3 Mio. Einwohnern. Auch die Strukturen des Gesundheitswesens reflektieren die dünne Besiedelung des Landes, Gesundheitsdienste wie zur primären und sekundären Gesundheitsversorgung sind in größeren Kreisstädten konzentriert, während die ländliche Versorgung vor allem durch karg ausgestattete Gesundheitsposten zu leisten ist. Die nomadische Lebensweise stellt dabei zusätzliche Erfordernisse an die Versorgung. Spezialisierte Gesund-

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S. Gräser

heitsangebote finden sich nur in größeren Städten oder der Hauptstadt selber. Urbanisierung ist ein zentrales Thema der Mongolei; immer mehr Mongolen geben die nomadische Lebensweise auf und wandern in die Großstädte, vor allem nach Ulaanbaatar, ab. Mittlerweile gehen Schätzungen davon aus, dass die Hälfte der Gesamtbevölkerung in der Hauptstadt lebt. Der Reichtum des Landes an Bodenschätzen wie Gold, Kupfer und seltene Erden machen die Mongolei zu einem prosperierenden Staat, der insbesondere die Hauptstadt für ausländische Investoren und Regierungen interessant macht. Die Mongolen sind traditionell ein Nomadenvolk, das intensiv Viehzucht vor allem mit Ziegen und Schafen betreibt. Der traditionelle mongolische Lebensstil ist dabei durch die nomadische Lebensweise und die extreme Witterung mit langen kalten Wintern geprägt; so erreichen Temperaturen in der Mongolei leicht bis zu 40  C. Dazu gehören traditionell ein bewegungsreicher Alltag, ein intensiver Fleischkonsum, dagegen aber der geringe Verzehr von Gemüse und Obst. Da die Mongolei aufgrund der zu kurzen Sommer von Exporten z. B. aus China abhängig ist, hat 96 % der erwachsenen Bevölkerung keinen ausreichenden Konsum von Gemüse und Früchten (WHO/STEPS 2013), 20 % der Bevölkerung hat keine ausreichende Bewegung und 14 % der Frauen und 18 % der Männer sind übergewichtig (WHO 2013). Mit rund 23 Mio. US-Dollar förderte die amerikanische Millennium Challenge Corporation (MCC), einer Unterinstitution des US-amerikanischen Außenministeriums, ein vierjähriges Gesundheitsprojekt in der Mongolei. Im Fokus des Projektes stand die Prävention und Kontrolle von nicht-übertragbaren Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Brustund Gebärmutterhalskrebs sowie Aktivitäten zur Prävention und Gesundheitsförderung. Dazu gehören die Aufklärung und Ermöglichung von Lebensstiländerungen in den Bereichen Bewegung, Ernährung, Alkohol- und Tabakkonsum, der Ausbau der primären Gesundheitsversorgung und die Implementierung von entsprechenden Screening-Programmen. Zentrale Ansatzpunkte waren die Ausstattung von Gesundheitseinrichtungen der primären Gesundheitsversorgung und die Qualifizierung im Gesundheitswesen in Hinblick auf nicht-übertragbare Erkrankungen durch die Fortund Weiterbildung von Gesundheitsfachkräften.

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Chancen und Instrumente globaler Gesundheit

Im Zentrum globaler Gesundheit stehen der transnationale Technologie-, Wissens- und Erfahrungstransfer für die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung von Gesundheitsprogrammen, um für Herausforderungen globaler Gesundheitslagen Lösungen anzubieten. Beispielsweise gehört die Telemedizin

zu den Aktionsfeldern, von denen auf globaler Ebene durch Technologietransfer insbesondere dünn besiedelte Länder profitieren können. Gesundheitsdienste konzentrieren sich meist in den urbanen Kontexten, während ländliche Gebiete oft gar nicht oder nur schwach versorgt sind. Zur Sicherstellung einer gesundheitlichen Versorgung bietet die Telemedizin die Möglichkeit, unter Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien medizinische Versorgung, Diagnostik und Therapie über räumliche Distanzen zu stärken. Globale Gesundheit kann auch von Erkenntnissen und Modellen guter Praxis profitieren und bietet durch den Zugriff auf globale Innovationen und Entwicklungen auch die Möglichkeit des Technologie- und Wissenstransfers. So können Gesundheitsförderung und Prävention insbesondere durch Informationstechnologien (Haluza und Jungwirth 2015) z. B. die Zugänglichkeit von Informationen für die Bevölkerung, Patienten oder Angehörigen befördern. Beispiele sind e-diabetes für Diabetespatienten oder das Parkinson-Netz im Kontext seltener Erkrankungen; hier bieten neue Technologien wie Instrumente elektronischer Gesundheit (e-health) oder mobile Anwendungen (m-health) Chancen für die Förderung von Gesundheitskompetenz z. B. mittels internetbasierter Schulungsprogramme zu Gesundheitsthemen, gesunden Lebensstilen oder Patienteninformationen. Im Kontext von Prävention und Gesundheitsförderung findet e-health zunehmenden Einsatz besonders in internationalen Projekten der Entwicklungszusammenarbeit und profitiert dabei oft von einer engeren Zusammenarbeit zwischen Gebern und Regierungen und nutzt dabei in vielen Ländern die digitale Vernetzung und die hohe Nutzungsdichte von Mobiltelefonen, auch in Ländern mit geringem Einkommen. Entwicklungszusammenarbeitsprojekte bieten hier sogar oft die Chance zu einer leichteren und schnelleren Umsetzung. Sie haben so das Potenzial für die Entwicklung, aber vor allem Implementierung innovativer Ansätze und können sogar zu Innovationswerkstätten werden. Im Kontext von Evidenzbasierung als zentralem Handlungsprinzip in Public Health kann globale Gesundheit mit Hilfe von Beispielen guter Praxis dazu beitragen, Erfahrungen und Evidenzen von Programmen und deren Auswirkungen z. B. über Netzwerke und Partnerschaften zu disseminieren und transferieren. Dabei ist hier die Beziehung zwischen Empfänger- und Geberstaaten wechselseitig (Stratton 2015): während die Empfängerstaaten besonders von Technologieund Wissenstransfer profitieren, können Geberstaaten andererseits Erfahrungen aus der Anwendung innovativer Projekte für die Weiterentwicklung von Programmen weltweit nutzen, beispielsweise auch in der Medizintechnikfolgenabschätzung (Health Technology Assessment/HTA). Partnerschaften und Netzwerke zwischen internationalen Organisationen, Staaten, staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in Gesundheit, Politik und Wissenschaft sind daher zentrale Instrumente zur Förderung globaler Gesundheit. Chancen für die Entwicklung

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Global Health – Entwicklung, Akteure und Herausforderungen

globaler Ansatzpunkte liegen hier gerade auch in der Gesundheitsberichterstattung durch die Erfassung und Dokumentation von Gesundheitslagen, den ökonomischen und sozialen Determinanten von Gesundheit und Krankheit sowie der damit verbundenen Analyse und schließlich Konzeption von Lösungen und Programmen.

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Berufsfelder und Professionalisierung in globaler Gesundheit

Public-Health-Experten in globalen und internationalen Kontexten decken berufstypische Handlungsfelder ab, allerdings folgen die prioritären Themen auch der globalen und europäischen gesundheitspolitischen Agenda. So wirken sich die neuen SDGs und die Schwerpunktsetzungen auch auf die internationale Geberpolitik aus, die die Ausprägung internationaler Bemühungen für Themen oder Länderschwerpunkte um Global Health beeinflussen und einen Themenbereich im Rahmen von Public Health sowohl stärken als auch schwächen können und damit signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der globalen Gesundheitsagenda haben. Dabei bilden sich veränderte politische Schwerpunktsetzungen der Fördernationen und der EU, und damit auch verfügbare Fördermittel in der Entwicklungsförderungslandschaft verspätet ab und kommen erst mit einigen Jahren Verzögerung zum Tragen. Im Zuge der jüngst formulierten SDGs und dem damit verbundenen Bedarf an Fachkräften mit einer Spezialisierung in Global Health eröffnen sich vielfältige Chancen für die Gesundheitsberufe. Dabei ergeben sich Perspektiven professioneller Tätigkeit gerade durch globale Entwicklungen, die durch die politische und gesundheitspolitische Agenda, aber auch durch epidemiologische Lagen und in diesem Kontext notwendigen Qualifikationen und Kompetenzen der Fachkräfte liegen. Darüber hinaus beeinflusst die Entwicklung die Anforderungen an den Gesundheitssektor und dessen Expertise z. B. durch die zunehmende Bedeutung von Evidenzbasierung als Basis für gesundheitspolitische Entscheidungen und Gesundheitshandeln in nationalen und internationalen Strukturen. Dazu gehören auch Aspekte wie Führung und Steuerung („governance“) der Gesundheitssysteme sowie die zunehmende Bedeutung von Monitoring, Evaluation und Gesundheitsberichterstattung; in diesem Kontext insbesondere auch gesundheitsökonomische Aspekte, die als Entscheidungs- und Planungshilfen national wie international und global immer mehr zum Tragen kommen. Für die Gesundheitsberufe ergeben sich breite Handlungsfelder, die im Bereich von Global Public Health neben dem Basiswissen auch die Möglichkeit bieten, spezielle Berufsfelder mit Gesundheit zu verknüpfen. Dies zeigt sich z. B. an dem Bedarf an Gesundheitsökonomen, Spezialisten im Bereich der Verhaltensänderung, IT-Spezialisten, die z. B.

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in der Gesundheitsberichterstattung (surveillance, monitoring, evaluation), aber auch in Bereichen von Information, Bildung und Kommunikationstechnologien (e-health, m-health) tätig werden können oder in Steuerung und Management im Gesundheitswesen (governance). Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Professionalisierung und Qualifizierung in Global Health und dem formulierten Bedarf an spezialisierten Gesundheitsfachkräften, nehmen international Bemühungen zu, zentrale Kompetenzen für globale Gesundheit für die akademische Ausbildung zu definieren. In einem Überblicksartikel identifizierten Sawleshwarkar und Negin (2017) drei Kern-Kompetenzbereiche: Krankheitslast und Determinanten von Gesundheit, Public Health im Sinne von Politikentwicklung, Analyse und Programm-Management und „soft skills“ wie z. B. Kollaboration, Partnerschaftlichkeit und Netzwerkwerkbildung, Kommunikation und Kapazitätsentwicklung. Zugrundeliegend ist ein Verständnis von globaler Gesundheit als Menschenrecht, das auf Basis von Ethik, sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Zugang zu Gesundheit agiert. Die insgesamt 12 Kompetenzdomänen setzen sich aus Wissens- (z. B. Gesundheitssysteme und Determinanten von Gesundheit) und Fähigkeitsprofilen (z. B. analytische Fähigkeiten, Führung und Management und Politikentwicklung) zusammen und beinhalten: Kompetenzdomänen von Global Health

1. Verständnis globaler Krankheitslasten 2. Verständnis von Globalisierungsfolgen für Gesundheit und Gesundheitsversorgung 3. Soziale, ökonomische und umweltbezogene Determinanten von Gesundheit 4. Kapazitätsstärkung 5. Ethik 6. Professionalität 7. Kommunikation, Kollaboration und Partnerschaften 8. Gesundheitliche Chancengleichheit 9. Programm-Management 10. Soziokulturelle und politische Sensibilität 11. Strategische Analyse 12. Forschungskompetenz In Deutschland sind die Möglichkeiten zur Professionalisierung in Global Health derzeit noch sehr limitiert und nur wenige Studiengänge befassen sich explizit mit globaler oder internationaler Gesundheit oder bieten eine spezifische Professionalisierungsmöglichkeit an. Nur 34 % der relevanten Studiengänge aus dem Bereich Medizin oder Public Health bieten zumindest Module zum Thema Global Health an (Kaffes et al. 2016). Derzeit bieten nur wenige deutsche Universitäten postgraduale Programme an wie z. B. die Universi-

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tätsmedizin Charité in Berlin oder die Universität Heidelberg den Master of Science in International Health als Teil von TropED, einem Europäischen Master-Programm eines Netzwerk-Verbundes aus europäischen Universitäten und Hochschulen (TropED 2013). Es gibt zudem anderweitig spezialisierte postgraduale Studienprogramme wie z. B. das der Universität Bonn, die einen Master of Science in Global Health Risk Management & Hygiene Policies vergibt. In Europa bieten u. a. die Universitäten in Bergen in Norwegen, Kopenhagen in Dänemark und Maastricht in den Niederlanden Master-Kurse in Voll- oder Teilzeit als Studienprogramme zu Global oder International Health an. Durch die sich erst entwickelnden akademischen Strukturen erfolgt der Berufseinstieg derzeit noch weitgehend über Spezialisierungen, die dann auf den internationalen Kontext übertragen werden können. Im internationalen und globalen Kontext technischer Assistenzprojekte kommen in der Regel vor allem Senior-Gesundheitsexperten in Public Health mit langjähriger Berufserfahrung in spezifischen Bereichen zum Einsatz. Während bei Senior-Experten eine passgenaue Spezialisierung und reichhaltige Erfahrungen in relevanten Berufsfeldern notwendig sind, bieten Junior-Positionen oder Praktika die Möglichkeit für einen frühen Berufseinstieg, in dessen Verlauf sich weitere Spezialisierungen im Bereich Global Health entwickeln können.

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S. Gräser European Commission (2010) The EU Role in Global Health. Communication from the Commission to the council, the European Government, the European Parliament, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions. https:// ec.europa.eu/europeaid/sites/devco/files/communication-eu-rolein-global-health-com2010128-20100331_en.pdf. Zugegriffen am 06.02.2018 Fried LP et al (2010) Global health is public health. Lancet 375:535–537 Gostin LO et al (2013) Towards a framework convention on global health. Bull World Health Organ 91:790–793 Haluza D, Jungwirth D (2015) ICT and the future of health care: aspects of health promotion. Int J Med Inform 84(1):48–57. https://doi.org/ 10.1016/j.ijmedinf.2014.09.005 Kaffes et al (2016) Global health education in Germany: an analysis of current capacity, needs and barriers. BMC Med Educ 16:304. https:// doi.org/10.1186/s12909-016-0814-y Kickbusch et al (2017) Germany’s expanding role in global health. Lancet 390:898–912. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(17)31460-5 Koplan JP et al (2009) Towards a common definition of global health. Lancet 373(9679):1993–1995 Sawleshwarkar S, Negin J (2017) A review of global health competencies for postgraduate public health education. Front Public Health 5:46. https://doi.org/10.3389/pubh.2017.00046 Speakman EM, McKee M, Coker R (2017) If not now, when? Time for the European Union to define a global health strategy. Lancet Glob Health 5(4):e392–e393 Stratton S (2015) Health in the context of global health. Prehosp Disaster Med 30(6):545–546. https://doi.org/10.1017/s1049023X15005373 TropED Network for Education in International Health (2013) Profile of tropED. tropED Secretariat, Basel. http://www.tropED.org. Zugegriffen am 28.02.2018 Vereinte Nationen (2000) Millennium Development Goals. http://www. un.org/millenniumgoals. Zugegriffen am 04.02.2018 Vereinte Nationen (2015) Post-2015-Entwicklungsagenda: Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015. http://www.un.org/Depts/german/gv-70/band1/ ar70001.pdf. Zugegriffen am 04.03.2018 World Health Organization (WHO) (2013) Third national STEPS Survey on the Prevalence of Noncommunicable Disease and Injury Risk Factors-2013. http://www.who.int/ncds/surveillance/steps/mongolia/en. Zugegriffen am 18.03.2018

Stichwortverzeichnis

A Abbauprozess 24 Abgrenzung 25, 396 abhängige Variable 499 Abschirmtendenz 305 Abstinenz-Verletzungs-Effekt 32 Abwehrmechanismus 316 Accuracy 111 Achtsamkeit 32 Achtsamkeitsübung 33 active assisted living 636 Adaptation konstruktive 489 resignative 489 Adherence 259 Adipositas 323, 340, 469, 509 Adressatenorientierung 7 Advanced Practice 809 Äquivalenzprinzip 754 Ärzteatlas 149 Ätiologiemodell 248 Affekt 291 Akademisierung 795, 803 Therapieberufe 684 Akkulturation 528 aktivierende Pflege 635 Aktivität 17 Akutpsychiatrie stationäre 615 Akutpsychosomatik stationäre 615 Alkoholismus 494 Alkoholkonsum 513 Riskanter, Grenzwerte 513 Allergie 27, 507 allgemeine Krankenversicherungspflicht 741 Allgemeines Adaptationssyndrom 348 Allgemeinkrankenhaus 615 Allokation 704 Allokationsproblem 669 allostatische Ladung 349 allostatische Last 349 alltägliche Identitätsarbeit 216 alltägliche Lebensführung 222 Alltagsbedingungen 541 Alltagsbewegungen 334 Alltagsfunktionen 254 Alltagskompetenz 631 eingeschränkte 639 Alphafehler 72 Alphaniveau 72

Alter 292 psychisches 458 soziales 458 Altern gelingendes 461 passives 458 Alternativhypothese 83 alternde Belegschaft 727 altersassoziierte Gesundheitsprobleme 796 alterskorrelierte Erkrankungen 459 Alterungsrückstellung 743, 754 ambulant betreutes Wohnen 429 ambulante ärztliche Versorgung 548 ambulante Behandlung 618 ambulante Operationen 591 Ambulante psychiatrische Pflege 618 ambulanter Pflegedienst 628 Ambulante Soziotherapie 618 ambulante Versorgung 617 Ambulantisierung 576 Amtsermittlungsgrundsatz 197 Analogskala visuelle 677 analytische Psychotherapie 285 Anerkennung 274 Anforderungs-Kontroll-Modell 42, 158, 353. Siehe auch job strain Anforderungs-Ressourcen-Modell systemisches 427 Angehörige 614 Angina pectoris 506 Anonymisierung 116 ANOVA 53 Anpassungen des Organismus physiologische 350 psychologische 350 verhaltensbezogene 350 anthropologische Vulnerabilität 274 antikategoriale Orientierung 453 antipsychiatrische Einrichtung 624 Apnoe-Hypopnoe-Index 365 App-Entwicklung qualitätsgesicherte 437 Arbeitgeberattraktivität 727 Arbeitsbedingungen gesundheitsschädigende 449 Arbeitsbelastung psychosoziale 41 Arbeitsfähigkeit 727 Arbeitsschutz 725 Arbeitslose Maßnahmen 494

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Haring et al. (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften, Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2

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820 Arbeitslosenunterstützungssystem 490 Arbeitslosigkeit 487 Definition 488 positive Auswirkungen 495 Arbeitslosigkeitsdauer 489 Arbeitsschutz 730 Arbeitsschutzgesetz 728 Arbeitssicherheitsgesetz 728 Arbeitsteilung häusliche 451 Arbeitsunfähigkeit 149, 150, 284 Arbeitsunfähigkeitstage 352 Arbeitswelt 284 Armut 423, 660 Armutseffekt 494 Armuts- und Reichtumsbericht 426 Arthrose 341 Arzneimittel 770 Arzneiverordnungs-Report 149 Arzt-Patient-Beziehung 258, 259, 281 Arzt-Patient-Gespräch 258 Arzt-Patient-Kommunikation 258 Arztvorbehalt 681 Assessment 604 Assistenzlösung 636 Atherosklerose 324 Atmungsstörung schlafbezogene 365 Attributionsprozess 329 Audit 716 Auditierung 713 Ausbildungswelt 284 ausdauerorientierte Bewegung 335 Ausgaben 780 Ausgabenträger 738 Außenluft 122 Auswahlverzerrung 112 Auswertungsplan 114 Auszahlungsquote 569 Autismus-Spektrum-Störung 480 Autonomie 702, 705 relationale 274 autoregulativer Mechanismus 355 autoregulativer Prozess 355 B Bachelor 807 Barrierefreiheit 478 Basisgesundheitsbericht 146 Basistarif 754 Bastelbiografie 167 Beauty Food 331 Bedarf 392, 659 Bedarfsdeckungsprinzip 548 Bedarfsplanungsrichtlinie 574 Bedeutsamkeit 252 Bedrohungseinschätzung 300 Bedürfnis 392, 659 Befähigung 274 individuelle 273 Begutachtungsrichtlinien 192 Behandler-Patient-Kommunikation 319 Behandlung ambulante 618 multimodale 285

Stichwortverzeichnis nachstationäre 591 psychosomatische 283 teilstationäre 591 vorstationäre 591 zahnärztliche 550 Behandlungsbedarf 567 Behandlungskonzept interdisziplinäres 319 Behandlungsvertrag 772 Behindertenhilfe 426 Behinderung 477, 764 geistige 478 integratives Modell 477 Behinderungsgrad 478 Beihilfe 756 Beitragsbemessungsgrenze 752, 753, 759 beitragspflichtige Einnahmen 752 Beitragssatzstabilität 567 Beitragsschulden 754 Belastung berufsbezogene 498 psychische 319 psychosoziale 158, 349 Belastungs-Bewältigungs-Perspektive 214 Belastungsprofil 149 Belastungsstörung somatische 283 Belegschaft alternde 727 Belohnungswert 328 Beobachtung teilnehmende 137 Beobachtungsstudie 107 Beratung pflegefachliche 635 beratungsorientierter Prüfansatz 196 Bereichsethik 691 Bereitschaftsdienst 579 Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung 555 Berichterstattung sozioökonomische 426 Berichtsroutine 145 BERN – Gesund im Stress 354 berufliche Rehabilitation 603 berufliches Prestige 449 berufsbezogene Belastung 498 berufsbezogene Ressourcen 498 Berufsflucht 800 Berufsgesetze 417 Beschwerde 469 Beschwerdemanagement 713 patientenorientiertes 717 Betätigungsorientierung 793 Betafehler 72 Betreuung 775 Betriebliche Gesundheitsförderung 150, 725, 731 Betriebliche Gesundheitspolitik 729 Betriebliches Eingliederungsmanagement 725, 728, 731 Betriebliches Gesundheitsmanagement 178, 185, 725 Betriebsvereinbarung 732 Bettendichte 588 Beveridge-Gesundheitssystem 739 Bevölkerungsbezug 7 Bevölkerungsgesundheit 701 Bevölkerungsstrategie 381

Stichwortverzeichnis Bewältigbarkeit 252 Bewältigung biografische 174 Bewältigungsarbeit 174 Bewältigungsforschung 93 Bewältigungspläne 303 Bewältigungsstrategie 350, 481, 489 Bewegung 16, 471 im Alter 336 ausdauerorientierte 335 Empfehlung 510 Kindes-/Jugendalter 335 muskelkräftigende 335 Bewegungsapparat Erkrankung 341 Bewertung ethische 690 medizinische 689 subjektive 410 Bewertungsausschuss 567 Bewertungsmethode 697 Beziehung parasoziale 235 soziale 39 Beziehungsmedizin 281 beziehungsorientierte Psychotherapie 283 BGM-Säulen 729 Bias 111, 126 Big Data 129 Bildung 489 Bildungsertrag 514 nicht-monetärer 514 Bildungsexpansion 498 Bildungsinvestition 514 Bildungspaket 424 Bildungspolitik 275 Bildungssilo 799 Bildungssystem duales 792 Bindung an Erwerbsarbeit 494 Bioethik 695 Biografie 165 Biografiearbeit 99, 175 Biografieorientierung 175 biografische Bewältigung 174 Bioinformatik 50 Biologie des Alterns 457 Biomarker 458 biomedizinische Ethik 702 biomedizinisches Krankheitsmodell 190, 248, 427 biopsychosoziale Simultandiagnostik 280 biopsychosoziales Krankheitsmodell 29, 38, 190, 249, 280, 482 Bismarck-System 739 Blankoverordnung 798 Bluthochdruck 324, 337, 508 Body Mass Index 340, 509 Boundary-Management 167 Boxplot 64, 79 Bradford-Hill-Kriterien 56 brain drain 794 brain food 331 Breitensport 798 broad consent 117 Brustenge 506 Brustkrebsscreening 706 Bürgerbeteiligung 185

821 bürgerschaftliches Engagement 184 Bürgerversicherung 746, 758 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 557 Bundesteilhabegesetz (BTHG) 426, 478, 556, 601 Bundeszuschuss 757 steuerfinanzierter 752 C Care 793 Carrier Screening 706 Carry-over-Mechanismus 308 causal inference 125 CCAM (Compensatory Carry-Over Action Model) 307 Chance 106 Chancengleichheit 704 gesundheitliche 6, 407, 446, 533 Change Agents 685 Checkliste 263, 713 Cholesterin 324 chromosomale Veränderung 479 chronische Entzündung 326 chronische Erkrankung 168, 293, 312, 333, 469, 505, 597, 796 Belastungen 313 Heterogenität 313 chronischer Rückenschmerz 341 chronischer Stress 342 CIRS (Critical Incident Reporting System) 716 Clinical Reasoning 805 clusterrandomisierte Interventionsstudie 543 Coaching 623 Cochrane Collaboration 135 collateral benefits 514 Compensatory Carry-Over Action Model 307 Compliance 259 computer-adaptives Testen 209 computervermittelte Kommunikation 235 Confounder 112, 125 Confounding Bias 112 Convenience Sample 114 Coping 250, 313 bewertungsorientiertes 316 emotionsorientiertes 316 kognitives 316 problemorientiertes 315 Copingforschung 93 Copingstrategie 315, 317 COSMIN-Checkliste 207 craving 305 credible worst case 715 Critical Incident Reporting System 716 Cure 793 Curricula 413 D DAG 125 data freeze 115 Data Science 49 Datenbank 783 Datengrundlage 785 Datenmissbrauch 437 Datenquelle 548 Datenschutz 436 Datenschutzbestimmungen 198 Datenschutzkonzept 116

822 Deep Learning 57 Dehydration 19 Demenz 326, 479, 640 Demografieanfälligkeit 743 demografischer Wandel 3, 129, 605 Depression 507 depressive Symptomatik 342 Deprivation 494 regionale 452 Deprivationsmodell 491 Deskription 78 deskriptive Methode 78 Determinanten von Gesundheit 378 soziale 37, 497 Deutsche Gesellschaft für Ernährung 324 Deutsche Krankenhausgesellschaft 744 Deutscher Qualifizierungsrahmen 792 Deutsches Qualitätsbündnis Sepsis 722 Diabetes mellitus 19, 338, 505 Typ 2 323 Diagnoseübermittlung 318 Diagnosis Related Groups. Siehe DRG diagnostic overshadowing 481 Diagnostic Suspicion Bias 112 diagnostische Leistung 590 diagnostisch-genetische Untersuchung 52 dialektisch behaviorale Therapie 484 Dialog strukturierter 719 dialogbasierte Medizin 100 Diathese-Stress-Modell 250 dichotomes Konzept 248 didaktische Kenntnisse 420 Dienst medizinischer, der Krankenversicherung 631 schulpsychologischer 624 sozialpsychiatrischer 621, 623 Differenz 35 Digitalalphabetisierung 438 Digitalisierung 400, 433, 785 Digitalisierungsansatz 236 digital literacy 638 direct access 798 direkte soziale Kontrolle 291 Direktzugang 798 disease mongering 383 Diskontierung 678 diskrete Ereignissimulation 679 Diskriminierung 35, 449 Diskriminierungsverbot 426 Dispersionsmodell 123 dissoziative Identitätsstörung 221 Distanz 659 Distinktionsgewinn 396 Distress 30, 41 Diversifizierung 400 Diversity Management 727 DNA-Chip 51 DNA-Sequenz 51 Doing Health 227 doing inequality 393 Doing Prevention 227 domänenspezifisches Modell 291 dominierende Teilidentität 217

Stichwortverzeichnis doppelte Risikoselektion 756, 758 Dreiecksverhältnis sozialrechtliches 548 DRG (Diagnosis Related Groups) 549, 589, 667, 770 DRG-Pauschale 745 DRG-System 593 Drift-Hypothese 43 Drittvariablen 294 Dual-Effects-Hypothese 291 duale Finanzierung 665, 744 duales Bildungssystem 792 duales System der Berufsbildung 792 Durchführungsqualität 649, 651 Durchhaltetendenz 305 Durchschlafstörung 342 durchschnittliche Liegezeit 746 dynamisches Konzept der positiven Gesundheit 253 E EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) 549, 567, 746 effectiveness 543 effektive Gesundheitskommunikation 258 Effektivität 652, 662 Effekt-Modifikation 113 Effektstärke 73 efficacy 543 Effizienz 657, 661, 739 eHealth 265, 816 Ehrenamt 622 Eigenverantwortung 438 Einfluss sozialer Beziehungen 289 Einflussgröße 299 Einflussvariable 120 eingeschränkte Alltagskompetenz 639 Eingliederungshilfe 429, 478, 556, 557 Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM) 549, 567, 746 Einkommen 498 Einkommensarmut 450 Einkommenssolidarität 751 Einnahmen beitragspflichtige 752 Einnahmeschwäche strukturelle 753, 759 Einrichtung antipsychiatrische 624 Einschlafstörung 342 Einwanderungsland 527 Einzelleistungsvergütung 740 emotionale Entwicklungsdiagnostik 482 Emotional Support 240 Empfehlungen für hochschulische Qualifikation 793 Empfindlichkeit 125 empirische Forschungsmethode 697 Empowerment 7, 265, 274, 316, 353, 382, 428, 535, 536 EMPRO 207 Engagement bürgerschaftliches 184 Entfernung 659 Entlohnungsform 740 Entscheidung informationsbasierte 263 klinische 645 entscheidungsanalytische Modellierung 679 Entscheidungsbaummodell 679

Stichwortverzeichnis Entscheidungsfindung 230 Entwicklung kindliche 24 nachholende 791 Entwicklungsaufgabe 471 Entwicklungsdiagnostik emotionale 482 Entwicklungsstörung intellektuelle 478 Entzündungsreaktion 493 Epidemiologie 8, 37, 49, 50, 119 genetische 49, 50 epigenetische Veränderung 326 Epigenom 54 Epilepsie 480 equality 704 equity 446, 704 Ereignissimulation diskrete 679 Erfahrungshintergrund 623 Ergebniserwartung 327 Ergebnisqualität 649, 651, 710, 784 Ergotherapie 684, 791 Ernährung 18 vegane 330 vegetarische 330 Ernährungsregeln 324 Ersatzpflege 635 Erschwinglichkeit 662 Erste-Person-Perspektive 280 Ersteinschätzungsverfahren 580 erweiterter Pflegebedürftigkeitsbegriff 194 Erwerbsarbeit Bindung 494 latente Funktionen 491 Erwerbslosigkeit 488 erziehungswissenschaftliche Teildisziplin 414 Essential Elements Model 260 Ethik 702 allgemeine normative 691 angewandte 691 biomedizinische 702 deskriptive 691 klinische 692 normative 691 Ethikkommission 116 ethische Argumente 699 ethische Bewertung 690 ethische Werte 690 Ethos wissenschaftliches 695 Evaluation 78, 87, 400, 436 gesundheitsökonomische 669 Evaluationsstandards 409 Evidence Based Medicine (EBM) 9, 135, 644, 808 Evidenz 435 externe 645 interne 644 personale, interne 644 situative, interne 645 soziale, interne 645 evidenzbasierte Gesundheitspädagogik 420 evidenzbasierte Kommunikation 257 evidenzbasierte Leitlinien 605 evidenzbasierte Medizin 9, 135, 644, 808

823 evidenzbasierte Pflege 682 evidenzbasierte Praxis 644, 683 Evidenzbasierung 419, 681, 794, 807, 816 Evidenzklassen 649 Evidenzlage 436 existenzsichernde Leistungen 556 experienced involvement 622 Experiment 135 Expertise klinische 645 Exploration 78 Exposition 39, 106, 122, 448 Exposom 124 externe Qualitätssicherung 593 F Fabrikschließungsstudie 491 Facharzteinführung 282 Fachklinik 615 Fachkräfteentwicklung 791 Fachkräftemangel 727 Fachkräftesicherung 791 Fähigkeiten Schweregrad der Beeinträchtigung 193 Fallanalyse 137 Fallauswahl 651 Fallgruppe 120 Fall-Kontroll-Studie 39, 108, 121 Fallzahlen 592 Familie 472 Familiengespräch 319 Feasibilitystudie 114 Fehler erster Art 127 zweiter Art 127 Fehlerkultur 715 Fehlschluss optimistischer 300 Fehlzeiten-Report 149 Fettsäuren gesättigte 325 Fettstoffwechselstörung 339 fight-or-flight response 348 Filter-Modell 235 Finalitätsprinzip 602 Finanzen 660 finanzieller Druck 489 finanzielle Schwierigkeiten 490 Finanzierung 665, 780 duale 667, 744 Fitness-Apps 436 Flexibilität 335 flüchtige Moderne 166 Follow-up-Indikator 719 Follow-up-Studie 109 Follow-up-Verlust 109 forensische Psychiatrie 617 Forschung partizipative 100 Forschungsansatz 653 Forschungsethik klinische 695 Forschungshypothese 83 Forschungsmethode 697

824 Forschungsmethode (Fortsetzung) empirische 697 Forschungsplan 113 Forschungspyramide 647 Four Habits Model 260 Fragebogen 207, 499 fragmentiertes Gesundheitssystem 547 Framework for Patient-Centered Communication 261 Framingham-Studie 404 Freiheit 661 Freiheitsrechte 702 Fremdbeurteilung 202 Friktionskostenansatz 674 Friktionskosten-Methode 665 F-Test 87 Führung gesunde 732 Führungsaufgabe 732 functional food 331 funktionale Gesundheit 337 funktionaler Test 271 Funktionalität 436 Funktionsfähigkeit 191 Furchtappell 300 G Gatekeeper 792 GBE (Gesundheitsberichterstattung des Bundes) 8, 143, 144, 306 GBE kompakt 147 GBE-Informationssystem 147 GBE-Schwerpunktbericht 147 GBE-Themenheft 147 Gebrechlichkeit 337 Gebührenordnungen für Ärzte (GOÄ) 746 Geburt 25 Gefährdungsbeurteilung 730 Gefahr physikalische 349 Gefühl von Ungerechtigkeit 492 geistige Behinderung 478 Geldleistung 554, 742 gelingendes Altern 461 Gemeindepsychiatrie 625 gemeindepsychiatrische Versorgung 622 gemeinnützige freie Träger 621 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) 426, 611, 740 gemeinsame Selbstverwaltung 589, 740 Gemeinschaft 290 Gemeinwesenarbeit 798 Gemüsekonsum 511 Gen 51 gender 450 Gendiagnostikgesetz 52, 706 generalisierte Widerstandsressourcen 252 generische Wirkfaktoren 281 Genetik 479 genetische Epidemiologie 49, 50 genetische Prädisposition 706 genetisches Screening 706, 707 Genom 50 geplantes Verhalten 31 gerechte Verteilung 704 Gerechtigkeit 446, 661, 702, 704 horizontale 447, 753 umweltbezogene 521 vertikale 447, 753

Stichwortverzeichnis Gerechtigkeitsempfinden 155 gesättigte Fettsäuren 325 Gesamtvergütung 567 Geschlecht 39 Geschlechtereffekt 292 Geschlechternorm 451 Gesellschaft inklusive 231 gesellschaftliche Perspektive 673 gesellschaftliche Teilhabe 705 gesetzliche Krankenversicherung 612, 731, 741 Gesprächspsychotherapie 619 gesunde Führung 732 gesunde Lebenswelt 10 Gesundheit Definition 226 Definition nach WHO 248 Determinanten 378 in Deutschland aktuell 498 funktionale 337 globale 11 internationale 813 Multidimensionalität 378 multifaktorielle Genese 404 ökologisches Modell 406 physische 487, 727 psychische 487, 488, 727 subjektive 237, 469, 501 gesundheitliche Chancengleichheit 6, 407, 446, 533 gesundheitliche Ressourcen 7 gesundheitliches Wohlbefinden 469 gesundheitliche Überzeugung 31 gesundheitliche Ungleichheit 155, 169, 180, 183, 307, 446, 471 Gesundheitsaffinität 230 Gesundheitsalphabetisierung 438 Gesundheitsbegriff 213 Gesundheitsbelastung 473 Gesundheitsbericht 729 Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Siehe GBE Gesundheitsberuf 383, 681, 803 EbP-Implementierung 685 Gesundheitsbetrieb 660 gesundheitsbezogene Lebensqualität 201, 253 bei Kindern/Jugendlichen 205 Gesundheitsbildungspolitik 799 Gesundheitsdeterminanten 427, 518 Gesundheitsdienst öffentlicher 524 Gesundheitsdienstleistung 183 Gesundheitsentscheidung 265 Gesundheitserziehung 415, 419 Gesundheitsfachberuf 791 gesundheitsförderlicher Prozess 355 gesundheitsfördernder Mechanismus 234 gesundheitsförderndes Setting 408 Gesundheitsförderung 6, 231, 352, 377, 428, 531 integrierte kommunale Strategie 531, 533 Prävention für Menschen mit Migrationshintergrund 531 im Setting 408 verhaltensorientierte 428 verhältnisbasierte 428 zielgruppenorientierte 473 Gesundheitsfonds 741, 752 gesundheitsgefährdender Mechanismus 234 Gesundheitsgewinn 380, 428 Gesundheitsideal 225

Stichwortverzeichnis Gesundheitsinformation 178, 269 online-vermittelte 239 Gesundheitskommunikation 257 effektive 258 Gesundheitskompetenz 12, 34, 415, 418, 498 Förderung 416 funktionale 270 interaktive 270 kritische 270 organisationale 272 Gesundheitskontinuum 30 Gesundheits-Krankheits-Kontinuum 427 Gesundheitslebensstil 393 Gesundheitsleistung individuelle (IGeL) 549 Gesundheitsmarkt 660 Gesundheitsmodell ressourcenorientiertes 427 Gesundheitsmonitor 149 Gesundheitsmonitoring 469 Gesundheitsökonomie 543 gesundheitsökonomische Evaluation 669 Gesundheitsoptimierung 231 Gesundheitspädagogik 413, 415 in Erziehungswissenschaften 414 evidenzbasierte 420 Legitimierung 413 gesundheitspädagogische Handlungsstrategie 420 gesundheitspädagogische Kompetenzentwicklung 420 Gesundheitsperformance 227 Gesundheitspolitik 275, 737 Gesundheitspotenziale 231 Gesundheitsprävention 92 Gesundheitsproblem altersassoziiertes 796 Gesundheitsrecht 762 Gesundheitsreport 149 Gesundheitsressource 183, 428 Gesundheitsrisiko 264 gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen 449 Gesundheitsschutz 725 Gesundheitssouverän 229 Gesundheitsstrukturgesetz 745 Gesundheitssubjekt pluripotentes 228 Gesundheitssurvey 146 Gesundheitssystem 11, 738 fragmentiertes 547 Gesundheitssystemforschung 8, 783 Gesundheitssystemvergleich 779 Gesundheitsteam 261 Gesundheitstheorie 797 Gesundheitsverhalten 178, 293, 468, 470, 494 riskantes 473 sozial-kognitives Prozessmodell 304 Gesundheitsversorgung 3 Gesundheitswirklichkeit 225 Gesundheitswissenschaft 177 Gesundheitsziel nationales 275 Gewichtungsfaktor 501 Gewohnheit 302 Global Activity Limitation Indicator 504 globale Gesundheit 11 Globalisierung 166, 813 glykosyliertes Hämoglobin 339 governance 685, 817

825 Grade der Pflegebedürftigkeit 193 Gradient 501 sozialer 42, 156 Grenzwerte für Alkohol 513 Großgerät medizinisch-technisches 588 Grundgesamtheit 82 Grundlagenreflexion 696 Grundpauschale 745 Grundpflege 634 Grundsatz der horizontalen Gerechtigkeit 753 der vertikalen Gerechtigkeit 753 Gruppendiskussion 96 Gruppenkommunikation in Kliniken 262 Gütekriterien 140 gute gesunde Schule 408 H Habitus 226, 395 Habitussensibilität 396 Hämoglobin glykosyliertes 339 häusliche Arbeitsteilung 451 häusliche Krankenpflege 618 Handlungsautonomie 798 Handlungsbefähigung 219, 221 Handlungsfreiheit 450 Handlungspläne 302 Handlungsrestriktionstheorie 491 Handlungsstrategie gesundheitspädagogische 420 Handlungswissenschaft 657 Hannawa-SACCIA-Typologie 262 Haupteffekt-Modell 41 hauswirtschaftliche Versorgung 634 HBSC-Studie 468 Health Action Process Approach 304 Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) 468 Health Belief Model 295, 300, 327 Health Education 415 health engagement 265 Health in all Policies 46, 162, 522 health lifestyle 393 health literacy 264, 415, 498, 638, 726 health mainstreaming 407 healthy migrant effect 44, 451 Hebamme 791 Heilberuf 384, 792 Heilmittel 770 Heilmittelversorgung 792 Heimvertrag 774 Helsinki-Deklaration 115 Herz-Kreislauf-Erkrankung 337 Herzinfarkt 338 Herzinsuffizienz 338 Heterogenität 52, 53, 55 Heuschnupfen 507 High-Density Lipoprotein 324 Hilfe zur Pflege 557, 558, 632 Hilfsmittelversorgung 798, 792 Hinweisreiz 305 Histogramm 79 Hochrisikobereich 717 Hochrisikosituation 32 Hochrisikostrategie 381

826 Hochschule für Gesundheit 796 hoheitliche Funktion 198 Homöostase 349 Homo hygienicus 227 horizontale Gerechtigkeit 447, 753 HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse) 350 Humankapital-Ansatz 665, 674 Hybridmodell 124, 304 Hypersomnie 368 Hypertonie 324, 508 Hypertriglyzeridämie 323 Hypnogramm 363 Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse 350 Hypothesenprüfung 78 I ICF 190, 418 ICF Core Sets 601 icosmos (Deutsches Qualitätsbündnis Sepsis) 722 Identität 165, 213 narrative 166 Identitätsarbeit 168 alltägliche 216 Identitätsbedrohung 217 identitätsbezogene Stressforschung 217 Identitätsentwicklung 218 identitätsrelevanter Stressor 218 Identitätsstiftung 330 Identitätsstörung dissoziative 221 Identitätsunterbrechung 221 Immunfunktion 493 Immunsystem 26 soziales 233 Implementierung 683 Inanspruchnahme 43, 611 Indikatorensatz der Länder 148 indirekte soziale Kontrolle 290 individualisierte Standardisierung 274 Individualisierung 166 individuelle Befähigung 273 individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) 549 individuelle Steuerungsfunktion 191 individuumszentrierte Perspektive 410 Induktionszeit 108 Infektion 27 akute 27 Inferenzqualität 647 Inferenzübertragbarkeit 647 Informational Support 239 Information Bias 112 Informationsasymmetrie 191 informationsbasierte Entscheidung 263 informationsorientierter Ansatz 197 Informationsvermittlung 264 informed consent 116 informierter Patient 258 Infrastrukturverantwortung 770 Inhaltsanalyse qualitative 139 Initiative Qualitätsmedizin 721 Inklusion 423, 599 inklusive Gesellschaft 231

Stichwortverzeichnis Inkongruenzmodell 491 inkrementelle Kosten-Effektivitäts-Relation 671 Innenräume 123 Input-Process-Output-Modell 261 INQA 731 Insomnie-Medikamente 369 Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG) 744 Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) 744 Insulin 325 Insulinresistenz 325 Integration 396 soziale 236 Integrationsmodell 138 integratives Modell von Behinderung 477 integrierte kommunale Strategie zur Gesundheitsförderung 531, 533 integrierte psychosomatische Medizin 282 integrierte Versorgung 280, 625 intellektuelle Entwicklungsstörung 478 Intensität 334 interdisziplinäres Behandlungskonzept 319 interkategoriale Orientierung 453 International Classification of Functioning 477 International Classification of Functioning, Disabality and Health (ICF) 250, 426, 796 internationale Gesundheit 813 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) 250, 426, 796 Internationale Klassifikation von Krankheiten 478 internationaler Vergleich 785 International Standard Classification of Education 500 Internet 234 Internetnutzung 258 Interprofessionalität 794 interprofessionelle Teamarbeit 604 Intersektionalität 34, 397, 453 intersektorale Kooperation 410 Intersektoralität 382 Intervalltraining 335 Intervention 542 komplexe 407, 542 psychologische 319 verhaltensbezogene 7 verhältnisbezogene 7 Interventionsmaßnahme 488 Interventionsstudie 109, 121 clusterrandomisierte 543 Interview 95 Interviewer Bias 112 intraindividuelle Normalität 482 intrakategoriale Orientierung 453 intrinsisches Motivationspotenzial 489 inverse evidence law 409 Investitionsquote 589 Inzidenz 38, 105 Item-non-response 112

J Jahresarbeitsentgeltgrenze 742 Job strain 42. Siehe auch Anforderungs-Kontroll-Modell Jugend 467 Jugendarbeitslosigkeit 489

Stichwortverzeichnis Jugendkultur 472 jugendlicher Lebensstil 472 Jugendszene 472 K Kanalreduktionstheorie 235 Kapitaldeckungsverfahren 754 Kapitalmarktanfälligkeit 743 Kassenärztliche Bundesvereinigung 550 Kassenärztliche Vereinigung (KV) 548, 743 kasseneinheitlicher allgemeiner Beitragssatz 752 kassenindividueller Zusatzbeitragssatz 752 Kaufkraft 659 Kausalattribuierung 316 Kausalität 128, 135, 294, 646 Kausalitätsprinzip 602 Kausation soziale 448 Kenntnisse didaktische 420 Kerndisziplin 692 Kinder- und Jugendgesundheitsforschung 467 Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) 468 Kindheit 467 kindliche Entwicklung 24 kirchliche Organisationen 621 Klimawande 129 klinische Entscheidung 645 klinische Expertise 645 klinische Forschungsethik 695 klinisches Risikomanagement 714 Knappheit 657 Knappheitsproblem 669 Körperbeschwerden 283 Körperfunktionen 248, 253 Körperstilisierung 472 kognitive Ressourcen 308 kognitive Verhaltenstherapie 285 für Insomnie 370 kognitiv-transaktionale Stresstheorie 348 Kohärenzgefühl 30, 171, 215, 218, 353, 427 Kohärenzsinn 251 Kohäsion soziale 181, 423 Kohortenstudie 39, 109, 120 Kollateralnutzen von Bildungsinvestitionen 514 kollegiales Gespräch 720 Kollektivvertrag 565 Kombinationsmodell 138 Kommunen 178 Kommunikation 25, 318 computervermittelte 235 evidenzbasierte 257 patientenzentrierte 259 Kommunikationsprozess 717 Kommunikationsstrategie 399 kommunizierende Störung 281 komparative Analysen 780 Kompetenz 727, 804 Kompetenzbegriff 415 Kompetenzempfinden 492 Kompetenzentwicklung gesundheitspädagogische 420 Kompetenzmix 800 Kompetenzprofil 419

827 komplexe Interventionen 407, 542 Komplexität 653 Komplexleistungen 616 kompositionelle Effekte 452 Konfidenzintervall 70 Konsiliardienst psychosomatischer 286 Konsiliarpsychiatrie 617 konstruktive Adaptation 489 Kontaktekzem 507 Kontaktgruppe soziale 292 Kontextfaktoren 426 Kontextmodell 292 kontextuelle Effekte 452 kontinuierlicher Verbesserungsprozess 710, 712 Kontinuum 249, 251 Kontrollattribution 329 Kontrolle soziale 290 soziale, direkte 291 soziale, indirekte 290 kontrollorientierer Prüfansatz 196 Konzept der fluiden Gesellschaft 165 Konzertierte Aktion Pflege 627 Koordination 335 Kopfpauschale 757 Koproduzent 229 koronare Herzkrankheit 324, 338, 506 Korrelation 65 Kosten 673 Kosten-Effektivitäts-Analyse 675 Kosten-Effektivitäts-Relation inkrementelle 671 Kostenmanagement 194 Kosten-Nutzen-Analyse 327, 675–677 Krankenhaus 587 Ökonomisierung 592 Krankenhausarzt 194 Krankenhausaufenthalt stationärer 493 Krankenhausausgaben 588 Krankenhausbehandlung vollstationäre 195 Krankenhausbetten 588 Krankenhauseinweisung vermeidbare 593 Krankenhausfinanzierung 588 Krankenhausfinanzierungsgesetz 741 Krankenhausleistungen 194, 549, 590 Krankenhauspersonal 588 Krankenhauspflege 591. Siehe auch Pflege Krankenhausplan 743 Krankenhausplanung 588, 589 Krankenhaus-Report 149 Krankenhausstatistik 549 Krankenhausträger 587 Krankenhausvermeidungspflege 634 Krankenhausvertrag 773 Krankenkasse 611 Krankenpflege. Siehe auch Pflege häusliche 618 Krankenversicherung 667, 750, 762, 763 gesetzliche 612, 731, 741 Leistungen 764 private 742

828 Krankenversicherungspflicht allgemeine 741 Krankenversicherungssystem 751 Niederlande 751 Schweiz 751 USA 750 Krankheit 190, 763 multifaktorielle Genese 404 Krankheitsbewältigung 313 Krankheitskosten 352, 664 Krankheitsspektrum 404 Krankheitstheorie subjektive 316 Krankheitsverarbeitung 313 Vier-Phasen-Modell 316 Krankheitsverhalten 33 Krankheitsverlaufskurve 170 Krisendienst 621, 624 kriterienorientiertes Testen 88 Kündigungsrisiko 491 kulturelles Kapital 226 Kummerspeck 329 kumulatives Stressmodell 489 Kurzzeitpflege 635 L Längsschnittstudie 38, 109, 294 Lancet-Report 417 Landes-Gesundheitssurvey 147 Landes-ÖGD-Gesetze 148 Landnutzungsmodelle 123 Langzeitarbeitslose 489 Langzeit-Effekt 124 latente Funktionen der Erwerbsarbeit 491 LD-Block 56 Leadership-Kompetenz 685 Leben selbstbestimmtes 424, 426 Lebensbedingungen 397 Lebenserwartung 404, 445, 628 Lebensführung alltägliche 222 Lebensjahr qualitätsgleiches 676 Lebenslage 424 Lebenslagendimension 424 Lebenslagenkonzept 393 Lebenslaufforschung 159 Lebenslaufmodell zu Migration-Gesundheit-Zusammenhang 528 Lebenslaufperspektive 448, 529 Lebensorientierung 165 Lebensphasen 467 Lebensqualität 184, 201, 230, 253, 254, 269, 342, 424, 616 Diagnostik 208 gesundheitsbezogene 201, 253 bei Kindern/Jugendlichen 205 Messung 206 Lebensqualitäts-Messinstrumente 203 generische 203 krankheitsspezifische 204 Neuentwicklung 208 populationsspezifische 204 präferenzbasierte 206 Lebensraum 409 Lebensstil 395

Stichwortverzeichnis jugendlicher 472 Lebensstilkonzept 393 Lebenswelt 6, 91, 409, 519 gesunde 10 Lebensweltansatz 404 Lebensweltorientierung 410 Lebensziel 307 Leistung diagnostische 590 existenzsichernde 556 der Pflegeversicherung 554 für Menschen mit Behinderung 551 therapeutische 591 Leistungserbringer 612, 738 Leistungserbringung 768 Leistungsgruppen zur Teilhabe 602 Leistungsinanspruchnahme 550 der GKV 550 Leistungssport 798 Leistungsstress 472 Leistungsträger 602, 612 gemeinnütziger freier 621 Leistungsverdichtung 618 Leistungsverlagerung 572 Leitlinie 115, 613 evidenzbasierte 605 Lerntheorie sozialkognitive 295 Letalität 38 Liasiondienst psychosomatischer 286 Liaisonpsychiatrie 617 Liegezeit 746 Local Champions 685 Logopädie 791 Low-Density Lipoprotein 324 Luftschadstoffexposition 123 Luxemburger Deklaration 731 M Machbarkeitsstudie 114 Machine Learning 56 Main-Effekt-Hypothese 236 Mangelernährung 19 Markov-Modell 679 Massenentlassung 491 Massenmedien 265 Maßnahmen für arbeitslose Menschen 494 Maßnahmenplanung 186 Master 807 Matching 126, 544 Maximum 62 Maximumprinzip 662 Medialisierung 235 Median 62, 79 Mediation 307 Mediationsanalyse 126 Mediationsmodell 291 Mediatisierung 235 MEDICPROOF 631 Medienkompetenz 34 Medikalisierung 383 Medizin 614 dialogbasierte 100 evidenzbasierte 9, 135, 644, 808

Stichwortverzeichnis narrative 174 personalisierte 49, 706 psychosomatische 282 psychosomatische, integrierte 282 Medizinalstatistik 144 Medizinethik 702 medizinische Bewertung 689 Medizinischer Dienst der Krankenversicherung 631 medizinische Rehabilitation 551, 603 medizinisch-technisches Großgerät 588 Medizinprodukt 439 Mehrebenenanalyse 454 Mendelsche Segregation 51 Mengenbegrenzung 568 menschliches Genom 50 Mentalität 395 Mental Map 518 merkmalsbezogene Professionalisierungstheorie 806 Messniveau 79 Messstation 123 metabolisches Syndrom 326 m-health 816 Migration 39, 527, 815 Gesundheit 528 Gesundheitsverhalten 531 Migrationshintergrund 271 Migrationsstress-Hypothese 44 Milieukonzept 393 Millenniums-Entwicklungsziel 814 Mind-Body-Intervention 354 Mindestmenge 594 Minimum 62 Minimumprinzip 662 Mitarbeiter 712 Mittelwert 62, 79 Mitversorgungsfunktion 564 Mitwirkungspflicht 198 Mixed Methods 136 Mixed-methods-Verfahren 100 Modal 80 Modalwert 62 Modell beruflicher Gratifikationskrisen 42, 158, 353 der Funktionsfähigkeit und Behinderung 600 des gesunden Migranten 528 des gesundheitlichen Übergangs 528 der gesundheitlichen Überzeugung 300, 327 der Netzkultur 236 Modellierung entscheidungsanalytische 679 Modellklausel 804 Modellklausel Berufsgesetz 793 Modelllernen 329 Modellzusammenfassung 87 Moderation 307 Moderatorvariablen 488 Moderne flüchtige 166 Modus 62 Monistik 667 Monitoring 115, 124 persönliches 124 Monogenität 52 Moral 690 Moral-Hazard-Verhalten 738 moralische Werte 690

829 Morbidität 38, 104 Morbiditätskonferenz 716 morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich 752 Morbi-RSA 745 Mortalität 38, 182, 480, 492 Mortalitätskonferenz 716 Motivation 31 Motivationspotenzial intrinsisches 489 mündiger Kunde 229 Multidimensionalität von Gesundheit 378 multifaktorielle Genese von Gesundheit 404 von Krankheit 404 Multi-Methoden-Studie 9 multimodale Behandlung 285 Multimorbidität 632, 796 multiples Testen 127 muskelkräftigende Bewegung 335 mutuality 265 N Nachfrage 658, 659 Nachhaltigkeit 11 nachholende Entwicklung 791 Nachsorge 605 nachstationäre Behandlung 591 Nahrungsergänzungsmittel 330 Nahrungsmittelallergie 507 narrative Identität 166 narrative Medizin 174 Nationale Bewegungsempfehlungen 334 Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz 418 nationales Gesundheitsziel 275 naturwissenschaftliche Grundlagen 15 negativer Social Support 236 Nervensystem sympathisches 350 Netzwerk 180 soziales 180, 182, 437, 449 Netzwerkanalyse 518 Netzwerkforschung 182 Neues Begutachtungsassessment 631, 765 Neugeborenen-Screening 706 Neurodermitis 507 Neutralität 198 Never-Event-Listen 718 New Public Health 5 nicht-betriebliches Setting 407 nicht-monetärer Bildungsertrag 514 Nichtraucherschutz 705 nicht-übertragbare Erkrankung 311, 815 Niederlassungsentscheidung 756 Non-Affektationsprinzip 757 Norm soziale 329 Normalverteilung 69 Normkostenansatz 568 Notfallversorgung 592 Notlagentarif 754 Noxe 349 Nullhypothese 83, 85 Nullhypothesensignifikanztest 71 numeracy 263 Nutriceutical 330 Nutzen 435

830 O Objektivierbarkeit 271 Objektivität, 140 Obstkonsum 511 Odds 106 Odds Ratio 106, 501 Öffentlicher Gesundheitsdienst 524 ökologische Korrelationen 107 ökologischer Trugschluss 107 ökologisches Modell von Gesundheit 406 ökologische Studie 39, 121 Ökonomisierung des Krankenhauses 592 Offline-Netzwerk 240 Offline-Vergleichspopulation 237 Old Public Health 5 OMICS-Technologie 129 onkologische Erkrankung 340 Online-Befragung 207 Online Health Communities 234 Online-Netzwerk 240 Online-Patient 260 Online-Plattformen 240 Online Social Network 240 Online Social Support 238 Online-Suchtverhalten 238 online-vermittelte Gesundheitsinformation 239 Operation ambulante 591 Operationalisierung 294 Operationshandbuch 114 Opportunitätskosten 674 Opportunitätskostenprinzip 573 optimism bias 264 optimistischer Fehlschluss 300 Organigramm 711 Organisation kirchliche 621 Organisationsentwicklung 406, 726 Organisationsethik 696 Orientierung antikategoriale 453 Orientierungswert 567 Osteoporose 336, 341 Ottawa-Charta 214, 382, 405, 406, 416, 728 Outcome 124 outcome expectancy 327 oxidativer Stress 326

P Pädagogik 414 Paradigma qualitatives 134 paradoxer Effekt 36 Parasomnie 367 parasoziale Beziehung 235 Partizipation 7, 382, 410, 423, 662 Partizipationsleiter 523 Partizipationsstufen 425 partizipative Forschung 100 Partnerschaftlichkeit 259 passives Altern 458 Patchworkidentität 216 Paternalismus 11, 705 Pathogenese 427

Stichwortverzeichnis pathophysiologischer Prozess 351 Patient 712, 738 informierter 258 Patientenautonomie 774 Patientenbefragung 713 patient engagement 261 Patientenkompetenz 33 patientenorientiertes Beschwerdemanagement 717 Patientenrolle 33 Patientenschulung 418 Patientenschutz 191 Patientensicherheit 263 Patientenverfügung 775 patientenzentrierte Kommunikation 259 Patient Reported Outcomes 541 pay-for-performance 667 PDCA-Zyklus 710 PEA-Assessment 640 PEA-Screening 640 Peerbeziehung 472 peer counseling 622 Peergroup 472 Peer Review 716 Penetranz 53 periphere Disziplin 692 Persönlichkeitseigenschaften 292 Persönlichkeitsentwicklung 490 personalisierte Medizin 49, 706 personbezogene Faktoren 600 Perspektive 294 Perspektivwechsel 382 Pfadhypothese 237 Pfadmodell 41 Pflege 791 aktivierende 635 evidenzbasierte 682 psychiatrische, ambulante 618 psychosoziale 259 vollstationäre 635 Pflegebedürftigkeit 192, 629, 630, 765 Feststellungsverfahren 554 Grade 193, 632, 765 Pflegebedürftigkeitsbegriff erweiterter 194 Pflegeberichterstattung 150 Pflegedienst 771 ambulanter 628 pflegefachliche Beratung 635 Pflegegeld 635 Pflegegrad 193, 632, 765 Pflegeheim 628, 639, 771 Pflegehilfsmittel 636 zum Verbrauch 636 Pflegekurs 635 Pflegenotstand 462 Pflegepersonen 636 Pflegepotenzial 629 Pflegepraxis 683 Pflegeprozess 797 Pflegequote 628 Pflege-Report 149 pflegerische Versorgung 633 Pflegesachleistung 635 Pflegestärkungsgesetz 630 Pflegestatistik 555, 628 Pflegetheorie 793

Stichwortverzeichnis Pflegeversicherung 630, 762, 765 Leistungen 767 Pflegevertrag 773 Pflegevorsorgefonds 630 Pflegewissenschaft 796 Phänotyp 55 Phi-Koeffizient 66 PhotVoice 518 physikalische Gefahr 349 physiologische Anpassungen des Organismus 350 Physiotherapie 684, 791 physische Gesundheit 487, 727 Pilotstudie 114 Planungserfordernis 523 Planungsprozess 717 planungsrelevante Qualitätsindikatoren 719 Plastizität 21 Plausibilitätsprüfung 115 Pluralisierung 167 pluripotentes Gesundheitssubjekt 228 Policy-Instrumente 697 Politikwissenschaft 737 polygener Risiko-Score 54 Population 62 Portalpraxen 579 potenzielle Risiken 713 prädiktiv-genetische Untersuchung 52 prädiktive Modelle 56 Prädisposition genetische 706 Prävalenz 38, 104, 500 Prävention 45, 226, 284, 377, 701, 816 Gesundheitsförderung 531 indizierte 381 Maßnahmen 352 Methoden 715 primäre 380 sekundäre 380 selektive 381 tertiäre 380 universelle 381 Präventions-Apps 435 Präventionsdilemma 157, 393 Präventionsgesetz 384, 404, 417, 446, 731 Präventionskampagne 149 Präventionskette 178 Präventionsparadox 381 Präventionspfad 284 Präventionspotenzial 355 Präventionsziel 275 Präzision 111 Pragmatic RCT 543 Praktiker reflektierender 795, 807 Praxis evidenzbasierte 644, 683 Praxisbetriebskosten 569 Pre-Post-Analyse 87 Prestige berufliches 449 Pretest 113 Primärdaten 544 Primärprävention 110 primärqualifizierender Studiengang 796 Primärqualifizierung 804 Primärversorgung 798

831 primary appraisal 315 Primordialprävention 380 Prinzip der einheitlichen Risikozuordnung 602 Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis 115 Priorisierung 704 private Krankenversicherung 742 proaktive Methoden 715 Produktionsfaktor 659 Produktionsmöglichkeitskurve 663 Produkt-Moment-Korrelation 69 Professionalisierung 803, 817 Professionalisierungstheorie merkmalsbezogene 806 Professionalität 695 Programmgebiete der Sozialen Stadt 523 Promotion 807 Prosumer 234 Protection Motivation Theory 300 Protektivfaktoren 38. Siehe auch Schutzfaktoren Proteomik 55 Prozesslandschaft 712 Prozessmodell des gesundheitlichen Handelns 31 sozialkognitives 327 sozialkognitives, des Gesundheitsverhaltens 304 Prozessqualität 710, 784 Prüfansatz beratungsorientierter 196 versorgungsorientierter 197 Prüfgröße 72 Prüfungscharakter 271 Pseudonymisierung 115 Psychiatrie 610 forensische 617 Psychiatrische Institutsambulanz 616, 618 Psychiatrische Tagesklinik 616 psychische Aspekte 254 psychische Belastung 319 psychische Erkrankung 342, 598, 615 psychische Faktoren 249 psychische Gesundheit 487, 488, 727 psychisches Alter 458 psychische Störung 480 Zwölf-Monats-Gesamtprävalenz 284 psychisches Wohlbefinden 470 psychoanalytische Psychotherapie 285, 619 Psychoedukation 623 psychogenetisches Störungsmodell 281 Psychologie 614 psychologische Anpassung des Organismus 350 psychologische Intervention 319 Psychosomatik 610 psychosomatische Medizin 282 psychosomatischer Konsiliar- und Liasiondienst 286 psychosomatisches Behandlungsspektrum 283 psychosomatisch-psychotherapeutische Versorgung 282 psychosoziale Angebote 610, 621 psychosoziale Arbeitsbelastungen 41 psychosoziale Belastung 158, 349 psychosoziale Pflege 259 Psychotherapeutengesetz 610, 619 Psychotherapie 281, 610 analytische 285, 619 beziehungsorientierte 283 Sprechstunde 620 tiefenpsychologisch fundierte 285, 619

832 Psychotherapierichtlinie 285 Public Health 3, 694, 701 Definition 4 Multidisziplin 5 Public Health Action Cycle 10, 420 Public Health Ethik 694 Public-Health-Forschung 4, 181 qualitative 9 quantitative 9 Public Health Policy 9 Public-Health-Praxis 4 Public-Health-Relevanz 501 Public-Health-Strategie 4 Puffer-Modell 40 Pufferhypothese 236 punktbiseriale Korrelation 68 p-Wert 72 Pyramiden-Review 647 Q QALY 664, 676 Qualifikation hochschulische 793 Qualität 659, 709 der medizinischen Versorgung 739 Sicherstellung 744 der Versorgung 43 qualitätsabhängige Vergütung 720 Qualitätsbericht 721 strukturierter 593, 721 qualitätsgesicherte App-Entwicklung 437 qualitätsgleiches Lebensjahr 676 Qualitätsindikatoren 719 für kirchliche Krankenhäuser 721 planungsrelevante 719 Qualitätskriterien 126, 198 Qualitätsmanagement 709 Qualitätsmanagement-Handbuch 711 Qualitätsmanagementmodell 714 Qualitätsmanagementsystem 711 Qualitätsorientierung 784 qualitätssichernde Funktion 191 Qualitätssicherung 709 externe 593 Routinedaten 716, 721 Qualitätssicherungsmaßnahme 710 Qualitätssicherungsverfahren 719 Qualitätssiegel 438 qualitative Inhaltsanalyse 139 qualitatives Paradigma 134 Quality Adjusted Life Years (QUALYS) 39, 664 Querschnittsaufgabe 9 Querschnittstudie 39, 108, 121 R Rahmenlehrpläne 418 Rahmenmodell 657 Randomisierung 651 Randomized Controlled Trial 135 Rangkorrelation nach Spearman 68 Rationierung 704 Rauchen 512, 705, 707 Rauchverbot 705 raumbezogene Wissenschaft 517

Stichwortverzeichnis Rauschtrinken 513 REAIM 419 Realnutzungskartierung 519 Recall Bias 112 Recht auf Nichtwissen 706 auf Wissen 706 reflektierender Praktiker 795, 807 Reflexivität 95 Regelkreis 729 Regel-Verletzungs-Effekt 32 regionale Deprivation 452 Register 543 Regressionsgerade 85 Reha-Bericht 552 Rehabilitation 615, 798 berufliche 603 medizinische 551, 603 soziale 604 Rehabilitationsleistung 632 Rehabilitationsnachsorge 605 Reha-Therapiestandards 605 Reizbarkeit 19 relationale Autonomie 274 relaxation response 355 Reliabilität 111, 140 resignative Adaptation 489 Resilienz 219, 220, 250, 353, 461 Resilienzmodell 427 Responserate 499 Ressourcen 177, 425 berufsbezogene 498 gesundheitliche 7 kognitive 308 ressourcenorientiertes Gesundheitsmodell 427 Restless-Legs-Syndrom 366 retrospektive Sichtweise 108 Rettungsmedizin 684 Review 10 Richtlinien des GBA 192 Richtlinien-Psychotherapie 618 Richtlinienverfahren 610, 619 Risiko 105 körperlicher Aktivität 334 relatives 106 Risikoeinschätzung 329 Risikofaktor 38, 106, 159 Risikofaktorenmodell 427 Risikokommunikation 263 Risikokonstellation 472 Risikokultur 715 Risikomanagement klinisches 714 Risiko-Nutzen-Abwägung 438 Risiko-Score polygener 54 Risikoselektion 745 doppelte 756, 758 Risikosolidarität 751 Risikostrukturausgleich 745 morbiditätsorientierter 752 Risikoverhalten 471 Risikowahrnehmung 263 riskantes Gesundheitsverhalten 473 Routinedaten 122 Rubikonmodell 302

Stichwortverzeichnis Rückenschmerz chronischer 341 Rückfall 32 Rückfallprävention 32 S Sachleistung 554, 742 Salutogenese 11, 30, 214, 351, 728 Salutogenese-Modell 251, 379, 427 Sauerstoffradikale 326 Schadensvermeidung 702 Schadpotenziale von Apps 436 Schicht soziale 30 Schichtindex 449 Schlafapnoe 365 schlafbezogene Atmungsstörung 365 Schlafeffizienz 363 schlafhygienische Maßnahmen 370 Schlaflabor 362 Schlafmangelsyndrom 368 Schlafmedizin 362 Schlafmittelgabe 369 Schlafprotokoll 370 Schlafqualität 363 Schlafstörung 361 Schlaganfall 338 Schlüsselperson 534 Schmerz 21 School Nurses 418 Schule 472 gute gesunde 408 schulpsychologischer Dienst 624 Schulstress 472 Schulung 316 Schulungsprogramm 318 Schutzfaktoren 159. Siehe auch Protektivfaktoren Schwangerschaft 25 Schweizer-Käse-Modell 715 Schwerbehinderung 478 Schweregrade der Beeinträchtigung von Selbstständigkeit oder Fähigkeiten 193 Screening 319, 386 genetisches 706, 707 secondary appraisal 315 seelische Reaktion 283 Segregation sozialräumliche 158 Selbstbefähigung 281 selbstbestimmtes Leben 424, 426 Selbstbestimmung 429, 703, 706, 707 Selbstbeurteilung 202 Selbsteinschätzungsinstrument standardisiertes 270 Selbsthilfegruppe 623 Selbstmanagement 33, 312, 318 Selbstmanagement-Technik 35 Selbstregulierung 697 Selbstständigkeit Schweregrad der Beeinträchtigung 193 Selbstthematisierung situationale 216 Selbstunternehmer 230 Selbstwerterhöhung 330 Selbstwirksamkeit 315, 318, 319, 327, 616, 703

833 Selbstwirksamkeitserwartung 219, 301 Selection Bias 112 Selektionseffekte 493 Selektionsprozess 294 Seneszenz 457 Senkung des Lebensstandards 493 Sensibilisierung 699 Sensitivitätsanalyse 675, 679 Sensorik 434 Setting 6, 382, 405, 534 gesundheitsförderndes 408 nicht-betriebliches 407 Setting-Ansatz 382, 404, 406, 428, 533 settingbezogene Maßnahmen 162 Setting-Orientierung 382 sex 450 SGB. Siehe Sozialgesetzbuch shared decision making 259, 317, 718 Sicherheitskultur 715 Sicherstellung 563 der Qualität 744 Sicherstellungsauftrag 769, 771 Siegel 439 Signifikanz 71, 84 Signifikanzniveau 72, 127 Signifikanztest 71, 73 Simultandiagnostik biopsychosoziale 280 site visit 115 situationale Selbstthematisierung 216 Sitzen 334 Skalenniveau 64 Smartphone 434 Social-Cognitive Theory 301 Social Media 234 Social Networking Site 234 Social Network Site 234 Social Support negativer 236 Solidarität 661, 702 somatische Belastungsstörung 283 somatopsychische Störung 283 SoundWalks 519 Sozialanamnese 45 sozial benachteiligte Menschen 423 Sozialberichterstattung 145, 146 soziale Beziehungen 39 soziale Determinanten 37, 497 soziale Faktoren 249 soziale Integration 236 soziale Kausation 448 soziale Kohäsion 181, 423 soziale Kontaktgruppe 292 soziale Kontrolle 290 soziale Netzwerke 437, 449 soziale Normen 329 Sozialepidemiologie 37 soziale Rehabilitation 604 soziale Schicht 30 soziale Stratifizierung 448 soziale Teilhabe 185, 254, 426, 703 soziale Ungleichheit 42, 155, 169, 306, 447 soziale Unterstützung 182, 289, 318 soziale Verursachung 43 sozialer Gradient 42, 156 sozialer Status 30, 42, 156, 529

834 soziales Alter 458 soziales Immunsystem 233 soziales Netzwerk 180, 182, 437, 449 Sozialethik 702 Sozialgesetzbuch (SGB) 424, 478, 611, 740 Sozialgesetzbuch V 612, 740 Sozialgesetzbuch IX 599 Sozialgesetzbuch IX-neu 601 Sozialgesetze 740 Sozialhilfe 556 Sozialindikatoren 145 Sozialisationsmodell 379 Sozialkapital 177, 181, 452 sozialkognitives Prozessmodell 327 des Gesundheitsverhaltens 304 sozialkognitive Lerntheorie 295 sozialkognitive Theorie 301, 327 Sozialmedizin 381 Sozialpolitik 275 sozialpsychiatrischer Dienst 621, 623 Sozialraum 424, 518 sozialräumliche Segregation 158 Sozialraumorientierung 605 sozialrechtliches Dreiecksverhältnis 548 sozialstrukturelle Gruppe 447 sozialstrukturelle Merkmale 447 Sozialzusammenhänge 406 soziodemografische Variablen 329 sozioökonomische Berichterstattung 426 sozioökonomische Position 449 sozioökonomischer Status 306, 489 Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) 145 Spannungsreduktion 328 Spannweite 62 Spatial Urban Health Inequity-Modell 521 Spiritualität 253 spirituelle-existenzielle Dimension 254 Spitzenverband der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) 553 Staat 666 Stadtentwicklung 522 Stadtteilspaziergang 519 Stages of Change Model 295 Standard Operating Procedure 113 Standardabweichung 63, 82 standardisiertes Selbsteinschätzungsinstrument 270 Standardisierung individualisierte 274 Standardized Mortality Ratio 722 Standardlotterieverfahren 677 Standardtarif 754 stationäre Akutpsychiatrie 615 stationäre Akutpsychosomatik 615 stationärer Krankenhausaufenthalt 493 Statistikband Rehabilitation 553 statistische Landesämter 555 Status sozialer 30, 42, 156, 529 sozioökonomischer 306, 489 Stellenverlust 489 Stepped Wedge Design 543 Sterbebegleitung 634 steuerfinanzierter Bundeszuschuss 752 Steuerungsfunktion individuelle 191 Stichprobe 62, 82, 120

Stichwortverzeichnis Stichprobenbeschreibung 500 Stichprobenumfang 111, 126 Stigma 452 Stigmatisierung 707 Stimuluskontrolle 305 Störfaktor 111 Störgröße 125 Störvariable 120 Stoffwechsel 18 Store-Bewertungen 439 straffällig gewordene Menschen 617 Stratifizierung soziale 448 Stratifizierungsfaktor 448 Stress 21, 30, 250 assoziierte Symptome 283 chronischer 342 oxidativer 326 Stressbelastung 448 Stresserleben 490 Stressforschung identitätsbezogene 217 Stressmodell kumulatives 489 Stressor 290, 347 identitätsrelevanter 218 Stressreaktion 347 Stresstheorie kognitiv-transaktionale 348 transaktionale 314 strukturelle Einnahmeschwäche 753, 759 Strukturfonds 575, 744 strukturierter Dialog 719 strukturierter Qualitätsbericht 593, 721 Strukturmodell triadisches 380 Strukturqualität 710, 784 Studien 208 beobachtende 649 experimentelle 649 prospektive 109, 650 qualitative 649 quantitative 651 randomisierte kontrollierte 109, 653 retrospektive 650 vergleichende 649 Studiendesign 683 Studiengang primärqualifizierender 796 Studienperspektive 672 Studienplan 113 Studienprotokoll 113 Studientyp 653 Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) 468 Stufenmodelle 489 Sturz 337 subjektive Bewertung 410 subjektive Gesundheit 237, 469, 501 subjektive Krankheitstheorie 316 subjektiver Sinn 171 Substanzkonsum 470 Suchterkrankung 615 Suchtprävention 732 SUHEI (Spatial Urban Health Inequity-Modell) 521 Suizid 492

Stichwortverzeichnis Summe der quadrierten Abweichung 85 Superdiversität 453 susceptibility 125 Sustainable Development Goals 814 sympathisches Nervensystem 350 systemische Perspektive 406 systemisches Anforderungs-Ressourcen-Modell 427 systemische Therapie 619 Szenario-Analyse 715 T Tabakkonsum 512 Tablet 434 Tatsachenfeststellung 198 Teamarbeit interprofessionelle 604 Teamkommunikation 261 Teamprozesse 262 Technikethik 696 Teilhabe 423, 477, 637 am Arbeitsleben 424 am Leben in der Gemeinschaft 424 soziale 185, 254, 426, 703 Teilhabeberatung 622 Teilhabeberichterstattung 599 Teilhabeeinschränkung 598 Teilhabefelder 424 Teilhabeorientierung 632 Teilhabepaket 424 Teilhabeplan 429 Teilidentität 216 dominierende 217 Gesundheit 218 teilnehmende Beobachtung 137 teilstationäre Behandlung 591 Telefonseelsorge 621, 624 Temporal Self-Regulation Theory 306 Tertiarisierung 41 Test funktionaler 271 Testen computer-adaptives 209 kriterienorientiertes 88 multiples 127 theoretische Fundierung 408 Theorie des geplanten Verhaltens 295, 301 der Ressourcenerhaltung 348 der Schutzmotivation 300 sozialkognitive 301, 327 des überlegten Handelns 301 der zeitlich bezogenen Selbstregulation 306 Theorieentwicklung 696 Theory of Planned Behavior 301 of Reasoned Action 301 therapeutische Leistung 591 Therapeut-Patient-Beziehung 318 Therapie dialektisch behaviorale 484 systemische 619 tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 285, 619 Tierversuchsethik 695 traditionelle Frauenberufe 800 Träger 556

835 Träume 364 Training 623 transaktionale Stresstheorie 314 Transfettsäuren 325 Transkriptom 54, 55 Translation 697 transparenzorientierter Ansatz 197 transtheoretical Model 303 transtheoretisches Stadienmodell 31, 303 triadisches Strukturmodell 380 triadisches Zielgruppenmodell 381 Triangulation 136 t-Test 83 Tugend 227 U Übergewicht 19, 340, 469 überregionale Mitversorgungsfunktionen 564 Übertragbarkeit 647 Überversorgung 574, 740 Umbauprozess 24 Umlageverfahren 742 Umverteilung 741 Umweltausschnitt 409 Umweltbedingungen 518 umweltbezogene Gerechtigkeit 521 umweltbezogene Verteilungsungerechtigkeit 521 Umweltepidemiologie 120 Umweltfaktoren 119, 600 UN-Behindertenrechtskonvention 426, 477, 556, 599 UN-BRK (UN-Behindertenrechtskonvention) 426, 477, 556, 599 Unabhängigkeit 198 underreporting 481 Unfallversicherungsrecht 728 Ungleichheit 426 gesundheitliche 155, 169, 180, 183, 307, 446, 471 soziale 42, 155, 169, 306, 447 wahrgenommene 450 Universal Health Coverage 660 Universitätsklinik 615 Unsicherheit 265 Unternehmensmantra 711 Unternehmensmotto 711 Unterschied 82 Unterstützung soziale 182, 289, 318 Unterstützung im Alltag 636 Untersuchung diagnostisch-genetische 52 Unterversorgung 740 Urban Gardening 524 Urbanisierung 815 Ursache 493 Usability 436 V Validität 111, 544, 683 externe 111, 544, 646 interne 111, 646, 683 Variable abhängige 499 Varianz 63, 81, 111 Variationsbreite 81 vegane Ernährung 330

836 vegetarische Ernährung 330 vegetative Reaktionen 22 Verallgemeinerungsmodell 138 Verantwortung für Vernünftigkeit 705 Verarmung 490 Verbesserungsprozess kontinuierlicher 710, 712 Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit 554 Verfahrensgerechtigkeit 706 Vergleichsdimensionen 781 Vergütung 720 qualitätsabhängige 720 verhältnisbasierte Gesundheitsförderung 428 Verhältnisprävention 110, 380 Verhältniszahlen 574 Verhalten 350 verhaltensbezogene Anpassungen des Organismus 350 verhaltensorientierte Gesundheitsförderung 428 Verhaltensphänotyp 483 Verhaltensprävention 110, 380 Verhaltensstörung 480, 483 Verhaltenstherapie 619 kognitive 285 kognitive, für Insomnie 370 Verhaltensunterschiede 35 Verhinderungspflege 635 Verkehrsunfall 492 Verkörperung 282 Verlaufskurvenphasen 170 Verletzung der sozialen Leiblichkeit 168 vermeidbare Krankenhauseinweisung 593 Vermessenheit 229 Vermittlungskompetenz 419 Verordnung 552 Versichertenklassifikationsverfahren 571 versicherungsökonomische Auswirkungen 191 Versicherungspflicht 739 Versicherungspflichtgrenze 755 Versicherungsprinzip 189 Versicherungswettbewerb 745 Versorgung ärztliche, ambulante 548 ambulante 617 integrierte 280, 625 pflegerische 633 psychosomatisch-psychotherapeutische 282 vertragsärztliche 562 Versorgungsepidemiologie 542 Versorgungsforschung 8, 541 Versorgungskosten 740 versorgungsorientierter Prüfansatz 197 Versorgungsprinzip 189 Versorgungsqualität 593 Versorgungsrealität 462 Versorgungsstärkungsgesetz 620 Versorgungssystem 610 Versorgungszugang 738 Verständlichkeit 252 Verteilungsgerechtigkeit 706 umweltbezogene 521 Vertiefungsmodell 138 vertikale Gerechtigkeit 447, 757 Vertragsarzt 194 vertragsärztliche Versorgung 562 Vertrauen 179 Vertrauenswürdigkeit 646

Stichwortverzeichnis Verweildauer Krankenhauspatient 549, 592 Verzerrungsmöglichkeiten 126 Vielzweckkohorte 109 Vier-Phasen-Modell der Krankheitsverarbeitung 316 Virtualisierung 236 visuelle Analogskala 677 Volition 328 Volkswirtschaftslehre 737 vollstationäre Krankenhausbehandlung 195 vollstationäre Pflege 635 Vollversicherung 742 vorbehaltene Tätigkeiten 792, 797 Vorsorgevollmacht 775 vorstationäre Behandlung 591 Vorstudienmodell 138 Vulnerabilität 250, 448, 468, 481, 520 anthropologische 274 Vulnerabilitäts-Stress-Modell 250 W Wahltarife 754 wahrgenommene Ungleichheiten 450 Wahrnehmung 19, 77 Wartezeiten 756 Wearables 434 Web 2.0 234 Wellness-Modell 252 Weltgesundheitsorganisation 814 Werte 727 moralische 690 Whitehall-Studien 404 WHO 814 WHO-OP-Checkliste 718 Widerstandsressourcen 214 generalisierte 252 Wiedereingliederung 286 Willingness-to-Pay-Methode 665 Wirkfaktoren generische 281 Wirkmechanismus 491, 493 Wirksamkeit 652 Wirkung 493 Wirkzusammenhänge 4 Wirtschaftlichkeit 669 Wirtschaftlichkeitsgebot 548, 744, 763 Wirtschaftlichkeitsreserve 570 Wirtschaftsethik 696 Wissenschaft raumbezogene 517 wissenschaftlicher Nachwuchs 796 wissenschaftliches Ethos 695 Wissenschaftsethik 696 Wissenschaftsrat 793 Wissenschaftstheorie 134 Wohlbefinden 6, 427 Wohlfahrtsmessung 145 Wohlfahrtsstaat 160 Wohlfahrtsverbände 621 Wohnen ambulant betreutes 429 Wohnform 639 Wohngruppe 637 Wohnumfeld 633 wohnumfeldverbessernde Maßnahme 636

Stichwortverzeichnis Wohnumgebung 637 Workforce 793 World Health Organisation (WHO) 30 Würde 274, 661 Y yardstick competition 745 Yerkes-Dodson-Gesetz 351 Z Zahler 738 Zahlungsbereitschaft 678 zahnärztliche Behandlung 550 Zeitausgleichsverfahren 677 Zeitmanagement 260 Zeitreihendaten 122 Zielgruppenbildung 391 Zielgruppenforschung 392 Zielgruppenmodell triadisches 381

837 zielgruppenorientierte Gesundheitsförderung 473 Zielgruppensegmentierung 395 Zielgruppentheorie 392 Zielvariable 120 Zi-PP 569 Zi-Praxis-Panel 569 z-Transformation 70 Zuckerkrankheit. Siehe Diabetes mellitus Zufallsfehler 111 Zugang 43 Zugangsstruktur 399 Zugangsweg 393 Zulassung 574 Zusammenhang 84, 85 Zusatzbeitrag 745 Zusatzversicherung 742 Zuwanderung 606 Zwangsbehandlung 776 Zweckbestimmung 436 Zweites Pflegestärkungsgesetz 630 z-Wert 70 Zwölf-Monats-Gesamtprävalenz psychischer Störungen 284