Gesprächsanalytische Untersuchungen zur Arzt-Patienten-Kommunikation
 3484301368, 9783484301368

Table of contents :
VORWORT
ZEICHENERKLÄRUNG
0 EINLEITUNG
1. EINFÜHRUNG
1.1 Verstehen und Verständigung
1.2 Die Rahmenbedingungen der Arzt-Patienten-Kommunikation
1.3 Aspekte des Fachsprachengebrauchs in der Arzt-Patienten-Kommunikation
2. DAS TEXTKORPUS
2.1 Bemerkungen zur Herstellung von Textkorpora
3. FACHSPRACHLICHER UND GEMEINSPRACHLICHER GEBRAUCH AM BEISPIEL DES AUSDRUCKS SCHMERZ
3.1 Wittgenstein über Schmerz
3.2 Der fachsprachliche Gebrauch des Ausdrucks Schmerz
3.3 Der Gebrauch des Ausdrucks Schmerz im Arzt-Patienten-Gespräch
4. KOMMUNIKATIONSKONFLIKTE
4.1 Unterschiedliche thematische Relevanzen (AAA/ZZZA; BBB/SSSB; BBB/VVVB)
4.2 Verstehens- und Kommunikationskonflikte auf gemeinsprachlicher Ebene (AAA/XXXA)
4.3 Vermittlung eines Krankheitsverständnisses I (AAA/ZZZA; AAA/YYYA; BBB/SSSB; AAA/XXXA)
4.4 Ansätze der Verständigung
5. UNTERSUCHUNGEN ZUR TEXTSTRUKTUR UND ZU DEN GLIEDERUNGSSIGNALEN
5.1 Das Verfahren der Thema-Rhema-Gliederung, Untersuchungen zur Gliederung und zum Ablauf von Gesprächen
5.2 Beispielanalysen
6. DIE ARZT-PATIENTEN-BEZIEHUNG
6.1 "Image" und Rolle
6.2 Die Konzeption Hollys
6.3 Analyse einiger Beispiele
7. DAS ARZT-PATIENIEN-GESPRÄCH AUS MEDIZINISCHER SICHT
7.1 Gespräch und Anamnese
7.2 Analyse eines Gesprächsbeispiels
8. ZUSAMMENFASSUNG UND PERSPEKTIVEN
LITERATUR
Linguistische Literatur
Medizinische Literatur
ANHANG
Gespräch AAA/ZZZA
Gespräch AAA/YYYA
Gespräch AAA/XXXA
Gespräch BBB/WWWB
Gespräch BBB/VVVB
Gespräch BBB/UUUB
Gespräch BBB/TTTB
Gespräch BBB/SSSB
Gespräch CCC/RRRC
Gespräch CCC/QQQC
Gespräch CCC/PPPC
Gespräch CCC/OOOC
Gespräch' CCC/NNNC

Citation preview

Linguistische Arbeiten

136

Herausgegeben von Hans Altmann, Herbert E.Brekle, Hans Jürgen Heringer Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner

Helgard Lördier

Gesprächsanalytische Untersuchungen zur Arzt-Patienten-Kommunikation

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lörcher, Helgard: Gesprächsanalytische Untersuchungen zur Arzt-Patienten-Kommunikation / Helgard Lörcher. - Tübingen : Niemeyer, 1983. (Linguistische Arbeiten ; 136) N E: GT ISBN 3-484-30136-8

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt.

VORWORT

Die vorliegende Untersuchung ist ein Versuch, Aspekte des Arzt-Patienten-Gesprächs aus linguistischer Sicht darzustellen. Die Vielschichtigkeit solcher Gespräche macht eine strikte Beschränkung der Thematik auf einige wenige Gesichtspunkte notwendig. Die Arbeit wurde im Januar 1982 als Dissertation von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg angenonmen. In der vorliegenden überarbeiteten Fassung sind Ausschnitte der transkribierten Gespräche, ursprünglich Band 2 der Dissertation, im Anhang aufgeführt. Für die Erstellung der Gutachten danke ich Dr. R. Wirmver und Professor H. E. Wiegand. Für Kritik und Diskussionen danke ich vor allem Rainer Wimmer, der die Arbeit angeregt und sie stets mit großem Verständnis verfolgt hat. Besonders danken möchte ich Professor E. Nüssel (Klinikum der Universität Heidelberg, Abteilung Klinische Sozialxnedizin), der in seiner Offenheit für interdisziplinäre Forschung die Untersuchung in dieser Form erst ermöglichte. Durch die Unterstützung von Frau Dr. Malchov konnte das Textkorpus wesentlich erweitert werden. Auch die Patienten und Ärzte, die bereit waren, Gespräche zur Verfügung zu stellen, seien in diesen Dank miteinbezogen, ihre Mitarbeit ist nicht als Selbstverständlichkeit anzusehen. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei Karin Frey, die mit großer Sorgfalt und Geduld die Druckvorlage hergestellt hat.

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

V

ZEICHENEmÄHJNG

X

O

EINLEITUNG

1

1.

EINFÜHRUNG

3

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2

Verstehen und Verständigung Wittgenstein über verstehen Sprachspiele Sprachspiel Verstehen Die Rahmenbedingungen der Arzt-Patienten-Kcmnunikation

3 3 6 8 12

1.2.1 1.2.2 1.3

12 15

1.3.1 1.3.2 1.3.3 2. 2.1 2.1.1 2.1.2

Die situativen Merkmale Alltagswissen und Relevanz Aspekte des Fachsprachengebrauchs in der Arzt-Patienten-Kctnnunikation Terminologisierung und Normierung fachsprachlicher Ausdrücke Vertikale und horizontale Schichtungsmcdelle Bemerkungen zu der medizinischen Fachsprache DAS TEXTKORPUS Bemerkungen zur Herstellung von Textkorpora Korpusbildung und Materialerhebung Materialaufbereitung

3.

FACHSPRACHLICHER UND GEMEINSPRACHLICHER GEBRAUCH AM BEISPIEL DES AUSDRUCKS SCHMERZ

18 19 21 22 27 27 28 30 33

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4

Wittgenstein über Schmerz Die private Sprache Folgerungen aus der Widerlegung des Privatsprachenarguments "Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen?" Der Gebrauch des Ausdrucks Schmerz

33 33 36 40 42

3.2

Der fachsprachliche Gebrauch des Ausdrucks Schmerz

43

3.2.1 3.2.2

Der Kriterienkatalog der WHO Bemerkungen zu den einzelnen Kriterien

44 45

VIII

3.3 3.3.1 3.3.2

Der Gebrauch des Ausdrucks Sahmerz im Arzt-Patienten-Gespräch Die Beschreibung der Bnpfindung Schmerz I: so'n schwingender zustand (CCC/PPPC)

3.3.4

50

Die Beschreibung der Enpfindung Schmerz II:

so'n wundes gefühl (CCC/RRRC) Exkurs: Ihematisierung eines Verstehenskonfliktes (CCC/NNNC) 3.3.3

49

Die Beschreibung der Enpfindung Schmerz III: is diese stelle wärmer (CCC/OOOC)

58 61 62

Die Relevanz der Enpfindung Schmerz in der Alltagswelt (CCC/QQQC)

64

4.

KQMMUNIKATIONSKONFLIKTE

68

4.1

Unterschiedliche thematische Relevanzen (AAA/ZZZA; BBB/SSSB; BBB/VWB)

68

Verstehens- und Kcmmunikationskonflikte auf gemeinsprachlicher Ebene (AAA/XXXA) Vermittlung eines Krankheitsverständnisses I

78

(AAA/ZZZA; AAA/¥YYA; BBB/SSSB; AAA/XXXA)

83

4.4

Ansätze der Verständigung

9O

4.4.1

Versuche (BBB/WWWB; BBB/ÜUUB)

91

4.4.2

Die Funktion medizinischer Termini (

4.4.3

Vermittlung eines Krankheitsverständnisses II/ Aspekt der Beratung (BBB/WWWB; BBB/VWB)

4.2 4.3

4.4.4

/

)

10O

Möglichkeiten der Verständigung (CCC/NNNC; CCC/PPPC,- AAA/ZZZA; CCC/QQQC)

5.

98

104

UNTERSUCHUNGEN ZUR TEXTSTRUKTUR UND ZU DEN GLIEDERUNGSSIGNALEN

1O8

5.1

Das Verfahren der Thema-Rhema-Gliederung, Untersuchungen

5.2

zur Gliederung und zum Ablauf von Gesprächen Beispielanalysen

108 119

Untersuchungsgesichtspunkte Analysen zur Thema-Rhema-Gliederung und zu den Gliederungssignalen/Beispiel I (AAA/ZZZA)

12O 124

5.2.3 5.2.4

Beispiel II (BBB/SSSB) Zusammenfassung der Ergebnisse

132 136

6.

DIE ARZT-PATIENTEN-BEZIEHUNG

138

6.1

"Image" und Rolle

138

6.2

Die Konzeption Hollys

140

5.2.1 5.2.2

IX

6.3

Analyse einiger Beispiele

142

6.3.1

Bestätigende Sequenzen (CCC/QQQC)

142

6.3.2 6.3.3 6.3.4

Eine korplexe Sequenz (CCC/RRRC) Korrektive Sequenzen (COC/OOOC; CCC/NNNC) Die dcminierende Rolle des Arztes (AAA/YYYA; OQC/OOOC)

144 146 151

7.

DAS APZT-PATIENTEN-GESPRSCH AUS MEDIZINISCHER SICHT

156

7.1 7.1.1 Exkurs: 7.1.2 7.2

Gespräch und Anamnese Hinweise zur Gesprächsführung Fragehandlungen/Anmerkungen aus linguistischer Sicht Eine praktische Anleitung Analyse eines Gesprächsbeispiels

156 157 161 162 171

8.

ZUSAMMENFASSUNG UND PERSPEKTIVEN

179

LITERATUR Linguistische Literatur

183 183

Medizinische Literatur

192

ANHANG

196

Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch Gespräch'

AAA/ZZZA AAA/YYYA AAA/XXXA BBB/WWWB BBB/VWB BBB/UUUB BBB/TTTB BBB/SSSB CCC/RRRC CCC/QQQC CCC/PPPC CCC/OOOC CCC/NNNC

196 197 199 200 201 203 204 206 207 2O8 21O 211 212

ZEICHENERKLÄRUNG

TA

- Textarchiv. Das bisher nicht veröffentlichte Textarchiv liegt in maschinenschriftlicher Form vor. TA l, Z. 5 - Die Ziffern nach TA beziehen sich auf die Seitenzahlen, die Zahlen nach "Z" auf die Zeilen der maschinenschriftlichen Fassung. Verschriftlichungsschlüssel l 2 3 l SCHREIBT l

LACHEN ja ja

+ 8 ?

8 •

AAA, BBB, CCC ZZZA, YYYA, XXXA WWWB, WVB, UUUB, TTTB, SSSB RRRC, QQQC, PPPC, OOOC, NNNC

lange Pause mittellange Pause kurze Pause mit nonverbaler Tätigkeit gefüllte lange Pause, entsprechend für mittellange und kurze Pausen nonverbale Äußerung Kommentar des Transkribenten unverständliche Äußerung längere unverständliche Äußerung Eigennamen, Ortsnamen simultanes Sprechen Fragehandlung abgebrochene Fragehandlung die Ärzte die Patienten des Arztes AAA die Patienten des Arztes BBB die Patienten des Arztes CCC

Hinweise zur Notierung der Thema-Rhema-Strukturen I, II, III V

I]C

a, p *

2 '··

Kennzeichnung der Äußerungseinheit Teiläußerungseinheit/Wiederaufnahmen von Äußerungseinheiten werden mit demselben Zahlenindex gekennzeichnet Arzt, Patient nicht authentisches Beispiel nicht unterbrochene Verknüpfung unterbrochene Verknüpfung

1 Zur Erläuterung des Transkriptionsverfahrens vgl. 2.1.2 2 Zur Erläuterung der Notierung vgl. 5.2.1

0

EINLEITUNG

Seit einiger Zeit wird in der Öffentlichkeit ein zunehmendes Unbehagen gegenüber der modernen, mit allen Mitteln der Technisierung verfeinerten medizinischen Versorgung laut. Beinahe täglich finden sich in den Medien, sei es im Fernsehen, im Rundfunk oder in der Zeitung, Berichte über medizinische Kongresse, Fortschritte in der Medizin. Titel wie "Sprechstunde: Herzinfarkt, früherkennen, überwinden, Re-Infarkt verhindern", "Plädoyer für eine neue Me2 3 4 dizin", "Patienten mißachten Einnahme-Vorschrift", "Medizin in der Krise" beleuchten die Probleme. Aufwendige und breit gefächerte Forschung, differenzierte diagnostische und therapeutische Programme, z. T. repräsentiert durch riesige Diagnostik-Zentren und Institutionen zur Therapie spezifischer Erkrankungen, lassen die Distanz zwischen Arzt und Patient offenbar größer werden. Auch innerhalb der medizinischen Wissenschaft artikuliert sich inzwischen Kritik. Es wird betont, daß das Gespräch mit dem Patienten wieder eine zentrale Rolle in der Sprechstunde spielen sollte. Eine erste grobe Durchsicht der medizinischen Literatur zum Thema Gespräch zeigt deutlich, daß in diesem offenbar so zentralen Vorgang Arzt-Patienten-Gespräch in vieler Hinsicht Probleme auftreten. Die linguistische Untersuchung von Arzt-Patienten-Gesprächen ist deshalb nicht nur von rein fachinterner Bedeutung, sondern dann von generellem Interesse, wenn es gelingt, zur Lösung solcher Probleme einen Beitrag zu leisten. Die vorliegende Untersuchung ist in diesem Sinne als Versuch anzusehen. Ausdrücklich betont sei, daß die Gespräche unter rein linguistischen Gesichtspunkten analysiert werden, ein Eingriff in medizinische Problematik soll und kann nicht erfolgen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die in Arzt-Patienten-Gesprächen auftretenden Kcnntunikationskonflikte. Entsprechend sind die Kapitel drei und vier zentral. Die Vielschichtigkeit des Verstehens- und Verständigungsproblems macht 1 2 3 4

Hallhuber/Hallhuber o. J. Schäfer 1979 Müller-Christiansen 1979 Halter 198O, Spiegel-Serie Nr. 34 - 37

es erforderlich, neben sprachwissenschaftlichen auch philosophische Konzeptionen und soziologische Kategorien miteinzubeziehen. Die Darstellung von Teilen der Spätphilosophie Wittgensteins im Zusanmenhang mit dem Verstehens- und Verständigungsproblem erhebt aber nicht den Anspruch, zu wesentlich neuen Erkenntnissen zu kamen. Wittgensteins Einsichten sind jedoch als die wichtige Voraussetzung für die Analyse von Verstehenskonflikten anzusehen. Die Einbeziehung soziologischer Kategorien hat entsprechend nur die Funktion, einige wichtige Aspekte der Arzt-Patienten-Gespräche einsichtiger zu machen. Auch hier ist in keiner Weise Vollständigkeit angestrebt. Grundlage der Untersuchung sind alltägliche, nicht zu wissenschaftlichen Zwecken geführte Arzt-Patienten-Gespräche. Die Analyse und Dokumentation von Gesprächen ist aber nicht objektiv in dem Sinne, daß sie nur empirisch überprüfbare Fakten wiedergibt. Bei der Dokumentation von Gesprächen muß inner wieder über unterschiedliche Itöglichkeiten des Verstehens und Kotmentierens entschieden werden. Untersucht der Linguist alltägliche Gespräche, so macht er das zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung, was er häufig selbst tut. Aussagen über alltägliche Gespräche, genauer über Kcmnunikationskonflikte in Gesprächen, kann der Untersuchende deshalb zu einem großen Teil nur aufgrund seiner eigenen Kompetenz zum Handeln machen. Bei der Beurteilung, ob in Gesprächen Kommunikationskonflikte auftreten oder nicht auftreten, ist der Untersuchende deshalb nicht außenstehender Beobachter, sondern aufgrund persönlicher Erfahrungen engagiert.

Wimmer 1979b, l

EINFÜHRUNG

1.1

Verstehen und Verständigung

1.1.1 Wittgenstein über verstehen Die Einsicht, daß wir täglich miteinander sprechen und im allgemeinen auch verstehen, was der andere meint, ist trivial. Die Äußerung ich habe Angst, morgen zum Arzt zu gehen wird von jemandem, der die deutsche Sprache versteht, im allgemeinen verstanden werden. Derjenige, der selbst Angst hat, wird wahrscheinlich besser verstehen als derjenige, der keine Angst hat. Beide werden aber durch sichtbare Verhaltensweisen, durch ihr Benehmen zeigen, daß sie verstanden haben. Ersterer vielleicht durch Gesten, Zuwendung, Berührung, durch Äußerungen wie (1) Mach dir keine Sorgen! (2) Es ist bestimmt nicht so schlimm. (3) Ich verstehe dich sehr gut. Der zweite sagt vielleicht: (4) Das ist Unsinni (5) Es besteht nicht der geringste Grund. (6) Das versteh ich nicht! Du bist doch gesund! In allen diesen Fällen geht es um unterschiedliche Grade des Verstehens, nicht um das Verstehen selbst. Auch bei der Äußerung Das versteh ich nicht! handelt es sich nicht um das grundsätzliche Problem des Verstehens, d. h., es geht nicht um das Nicht-Verstehen des Sinns der Äußerung, sondern darum, Haß jemand nicht nachvollziehen kann, warum ein anderer Angst hat, zum Arzt zu gehen. Dieses Verstehen ist offenbar ein anderes als Eine-Äußerung-Verstehen oder Eine-SpracheVerstehen. Die Beispiele zeigen, daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, etwas zu verstehen. Vgl. Naess 1975, l ff

Das Problem des Verstehens ist einer der zentralen Gesichtspunkte in Witt2 gensteins "Philosophische(n) Untersuchungen". Verstehen wird unter verschiedenen Aspekten diskutiert. Die Beispiele (1) - (6) legen die Vermutung nahe, daß es sich bei dieser Art von Verstehen um einen seelischen Vorgang handelt. Baker/Hacker führen mehrere Gründe für die Berechtigung dieser Sichtweise an. 4 Verstehen ist nicht beobachtbar. Nur am Benehmen zeigt sich, ob jemand verstanden hat. Die Ausführung eines gegebenen Befehls kann man beobachten, nicht aber dessen Verstehen, das die Voraussetzung für die Erfüllung des Befehls zu sein scheint. Wenn ein Befehl verstanden, aber nicht ausgeführt wird, sind Benehmen und Verstehen nicht identisch. Verstehen ist dann "the underlying mental phenomenon of which the behaviour is a symptom". Kenny spricht in diesem Zusammenhang von Verstehen als einem Zustand "eines verborgenen Systems oder Mechanismus ( . . . ) , dessen Tätigkeit wir nur von außen sehen". A beobachtet einen ändern beim Schreiben von Zahlenreihen und versucht, die zugrundeliegende Regel dieser Reihe zu finden, schließlich ruft er: '"Jetzt versteh ich's 1 ". Auch beim Fall dieses plötzlichen Verstehens kann man die Äußerung Jetzt versteh ich's! als Folge eines vorausgegangenen geistigen Mechanismus auffassen. Ebenso kann man von einem geistigen Phänomen sprechen, wenn sich im Gespräch Sprecher und Hörer gegenseitig versichern, daß sie verstanden 9 haben. Verstehen schließlich kann als geistiges Phänomen gesehen werden, das mit Hören zusanmenhängt. Es macht einen Unterschied, ob man einem Vortrag zuhört, den man nicht versteht, eine Unterhaltung in einer fremden Sprache zufällig hört, die man nicht oder nur unvollkomnen beherrscht, oder ob man den Vortrag/die Unterhaltung versteht. Im ersten Fall fehlt das geistige Verstehen, ähnlich ist der Fall, wenn man Äußerungen nur nachplappert. Wittgenstein kritisiert die Auffassung, daß Verstehen ein "seelischer Vorgang" oder ein "seelischer Zustand" sei. Anhand einer "granmatische(n) Betrachtung" werden die Unterschiede deutlich: Q

2 3 4 5 6 7 8 9 11 12

Wittgenstein PU 1977 Baker/Hacker 198O, 596: "mental phenomena" Baker/Hacker 198O, 597 ff Baker/Hacker 198O, 597 Kenny 1974, 169 Wittgenstein PU 1977, § 151, 97 Baker/Hacker 198O, 597; vgl. Kenny 1974, 167 Bfiker/Hacker 198O, 597: "mental understanding" Baker/Hacker 198O, 597: "mental understanding" Baker/Hacker 198O, 596 Wittgenstein PU 1977, § 154, 98 und 96 (Text)

(7) (8) (9) (10) (11) (12)

"'Er war den ganzen Tag betrübt". 'Er war den ganzen Tag in großer Aufregung'. 'Er hatte seit gestern ununterbrochen Schmerzen'. - " '"Ich verstehe dieses Wort seit gestern1." "'Wann haben deine Schmerzen nachgelassen?1" "'Wann hast du aufgehört, das Wort zu verstehen?1"13 Charakteristikum seelischer Zustände ist ihre Dauer. 14 Die Dauer eines Vorgangs kann beobachtet werden, ständig oder zeitweise. Unmöglich ist dagegen, das Verstehen eines Wortes ständig zu beobachten. Dauer eines Vorgangs heißt, daß er Anfang, Mitte, Ende hat. Vom Verstehen eines Wortes kann aber nur ab einer gewissen Zeit (seit gestern) oder für eine gewisse Zeit gesprochen werden. Ab einer gewissen Zeit kann man ein Wort verstehen, wenn es zu diesem Zeitpunkt gelernt wurde, aber das Verstehen dauert nicht ununterbrochen ab diesem Zeitpunkt. Von einer Unterbrechung des Verstehens kann man nur sprechen, wenn man z. B. ein Wort vergessen und dann wieder gelernt hat. Es ist denkbar, daß man ein Wort nicht mehr versteht (s. Beispiel ( 1 2 ) ) , ebenso möglich ist der umgekehrte Fall des plötzlich erneuten Verstehens. Es ist sinnlos zu fragen: "'Um wieviel Uhr hast du aufgehört es zu verstehen?1" Man kann aber fragen: "'Um wie18 viel Uhr haben deine Schmerzen nachgelassen?1". Seelische Vorgänge können an Intensität zu- oder abnehmen, nicht aber das Verstehen. 19 Das Verstehen kann deshalb nicht mit dem verglichen werden, was in uns vorgeht, wenn wir Schmerzen haben. Verwirrend ist es nun, daß an anderer Stelle gesagt wird, daß "das Verstehen selbst ein Zustand (ist), woraus die richtige Verwendung entspringt." Die Äußerung ist im Zusammenhang mit dem in PU § 143 genannten Beispiel zu_sehen. Es geht darum, eine Zahlenreihe entsprechend einer Regel fortzusetzen. Angenommen die Zahlenreihe wird gemäß meinen Wünschen richtig fortgesetzt, dann kann man sagen, "er beherrscht das System". 21 Wann jemand allerdings ein System be13 14

Wittgenstein PU 1977, 96 (Text) Wittgenstein Zettel 1967, §§ 76 ff, cf. Zettel § 488, zit. n. Baker/Hacker 198O, 6O9 15 Baker/Hacker 198O, 6O9 16 Wittgenstein, Manuskripte o. J. , Bd. XII, 88 zit. n. Baker/Hacker 198O, 63O 17 Baker/Hacker 198O, 61O 18 Wittgenstein, Manuskripte o. J., Bd. XII, 88 zit. n. Baker/Hacker 198O, 63O 19 Wittgenstein PU 1977, § 154, 98/99 20 Wittgenstein PU 1977, § 146, 95 21 Wittgenstein PU 1977, § 145, 94

herrscht, ist nicht angebbar. 22 Gleichwohl ist die Anwendung ein "Kriterium des Verständnisses".23 Betrachtet man, was passiert, wenn jemand plötzlich versteht, so wird etwas deutlicher, was in diesem Zusammenhang mit Zustand gemeint sein könnte. Wittgenstein spricht von "mehr oder weniger charakteristischen, Begleitvorgänge ( n ) , oder Äußerungen, des Verstehens". Baker/Hacker nennen u. a. folgende Beispiele: Plötzliches Aufleuchten der Augen, Veränderungen beim Atmen, A'ußerungen wie Jetzt weiß ich weiter. 25 Die Reihe ließe sich fortsetzen. Diese Begleitvorgänge oder Zustände können jedoch unabhängig davon auftreten, ob jemand verstanden oder nicht verstanden hat; "das aber, was ihn für uns berechtigt, in so einem Fall zu sagen, er verstehe, er wisse weiter, sind die Umstände, unter denen er ein solches Erlebnis hatte." Mit Umständen ist nicht eine Beschreibung des richtigen Gebrauchs der Worte gemeint, sondern "the circumstances are the stage-setting of the language-game with such expressions of 27 understanding". 1.1.2 Sprachspiele Un zu zeigen, was wir tun, wenn wir sprechen, vergleicht Wittgenstein Sprache und Spiel. Die Analogie Sprache - Spiel, durch zahlreiche Beispiele erhellt, verdeutlicht verschiedene Dimensionen der Sprache. Im "Blaue (n) Buch" werden Sprachspiele gesehen als "einfachere Verfahren zum Gebrauch von Zeichen als jene, nach denen wir Zeichen in unserer äußerst OQ

komplizierten Alltagssprache gebrauchen".

Lernt ein Kind zum ersten Mal eine

Sprache, so ist der Gebrauch, den es von den Wörtern macht, eine einfache Form 29 eines Sprachspiels. Das Lernen einer Sprache ist aber, wie Baker/Hacker zu recht einwenden, nur als Übergangsstadium, nicht als geschlossenes System zu sehen. Werden Teile einer Sprache gelehrt, so steht im Hintergrund die Gesamtheit der Sprachspiele einer Sprache. 30 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Wittgenstein Wittgenstein Wittgenstein Baker/Hacker Wittgenstein Baker/Hacker Wittgenstein Wittgenstein Baker/Hacker

PU 1977, § 146, PU 1977, § 146, PU 1977, § 152, 198O, 6O6 PU 1977, § 155, 198O, 6O6 BB 198O, 37 BB 198O, 37 198O, 94/95

94 95 98; vgl. § 153, 98 99

In den "Philosophische (n) Untersuchungen" ist deshalb in erster Linie von primitiven Sprachen die Rede. Solche primitiven Sprachspiele sind "VergleichsObjekte, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache werfen sollen". 32 Die Analogie Sprache - Spiel hängt zusanmen mit der sog. Gebrauchstheorie. Der Gebrauch von Sprache, also der Zeichen, Worte, Sätze beruht wie das Spielen eines Spiels auf bestürmten vorher verabredeten Regeln. 34 Die Bedeutung einer Spielfigur, z. B. des Königs im Schachspiel, wird durch ihren Gebrauch im Spiel bestimmt. Jemand, der nicht Schach spielen kann, wird mit dem Hinweis "'Das ist der König1" nichts anzufangen wissen. Er muß wissen, welche Rolle der König im Schachspiel spielt, um seine Bedeutung zu erkennen. Ähnlich ist die Bedeutung eines Wortes nicht die einmal festgesetzte Zuordnung bestimmter Lautketten zu einem Gegenstand, sondern die "Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache". Ändert sich der Gebrauch in der Sprache, so verändert sich die Bedeutung eines Wortes. Die Analogie Sprache - Spiel verdeutlicht zweitens den Zusarrroenhang von Eine-Sprache-Sprechen und praktischen Handlungen: "der eine Teil (ruft) die 38 Wörter, der andere handelt nach ihnen". An anderer Stelle heißt es, "daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform". 39 Die im folgenden genannten Beispiele verdeutlichen den mit dem Ausdruck Spraahspiel gemeinten Zusammenhang von Sprechen und Handeln: "Befehlen, und nach Befehlen handeln - Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen - Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung (Zeichnung) - Berichten eines Hergangs - Über den Hergang Vermutungen anstellen - Eine Hypothese aufstellen und prüfen - Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme - Eine Geschichte erfinden; und lesen - Theater spielen Reigen singen - Rätsel raten - Einen Witz machen; erzählen - Ein angewandtes Rechenexempel lösen - Aus einer Sprache in die andere übersetzen - Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten."

Sprache wird damit nicht mehr isoliert gesehen, sondern sie ist integriert in 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Wittgenstein PU 1977, § 2 ff, 16, stellt eine solche primitive Sprache vor. Wittgenstein PU 1977, § 13O, 84; vgl. BB 198O, 37 Vgl. Heringer 1974a, 18 ff Mit Regel sind "Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)" gemeint. Wittgenstein PU 1977, § 199, 127; zu Regel s. Heringer 1974a, 18 ff und Heringer 1974b Wittgenstein PU 1977, §§ 3O/31, 33/34 Wittgenstein PU 1977, § 31, 33; vgl. § 3O, 33 Wittgenstein PU 1977, § 43, 41 Wittgenstein PU 1977, § 7, 19 Wittgenstein PU 1977, § 23, 28 Wittgenstein PU 1977, § 23, 28/29

8

den Bezugsrahmen menschlicher Tätigkeiten, d. h. des Handelns, die mit einer bestürmten Art des Lebens in der Gemeinschaft zusammenhängen. Die Sichtweise des Sprechens als ein Handeln läßt sich anhand des Sprachspiels Versprechen und danach Handeln zeigen. Die Äußerung etwas versprechen hängt mit einer Handlung zusammen, nämlich ob der Betreffende das Versprechen einlöst oder nicht einlöst, also danach handelt oder nicht handelt. Das soll jedoch nicht heißen, daß sprachliches Handeln dem nicht-sprachlichen Handeln gleichgesetzt wird, sondern nur, daß die Bedeutung einer Äußerung in einer Versprechenshandlung von ihren Gebrauchsarten abhängt. Heringer deutet Gebrauchsarten hier als "Handlungsalternativen", die vorhanden sind, sofern nicht abweichend gehandelt wird. 41 1.1.3 Sprachspiel Verstehen Wie nun das Versprechen und das danach Handeln oder das Befehlen und nach Befehlen Handeln Teil eines Sprachspiels sind, so auch das Verstehen. Wie in Abschnitt 1.1.2 deutlich wurde, ist aber das Verstehen selbst keine Handlung. Ob jemand verstanden hat, ist nur - und auch das nur annähernd - an den "BegleitVorgänge(n)" 42 des Verstehens erkennbar. Man kann annehmen, daß jemand die Äußerung (13) Mach bitte die Tür zu! verstanden hat, wenn er die Tür schließt, sich bemüht, die Tür zu schließen, oder es ablehnt, die Tür zu schließen. Mit Begleitvorgängen des Verstehens ist also hier die Ausführung einer Handlung, der Versuch oder die Weigerung, eine Handlung auszuführen, gemeint. 43 Der Unterschied zwischen Handeln und Verstehen wird noch etwas deutlicher, wenn man sich klarmacht, daß niemand einem ändern versprechen kann, dies oder jenes zu verstehen. Man kann nur versprechen, daß man sich bemühen werde, dies oder jenes zu verstehen. Aufgrund dieser Bemühungen tritt vielleicht das Verstehen ein. 44 Mit der Beschreibung der Be41 42 43 44

Vgl. Heringer 1974a, 19; Heringers Beispiel ist Befehlen und nach Befehlen handeln. Wittgenstein PU 1977, § 152, 98; vgl. § 153, 98,-vgl. Abschnitt . . , merk. 24 Vgl. Keller 1977, 1O ff, zeigt, was mit "'Ergebnis einer Handlung'" gemeint ist. Wimmer 1979b, 29: "Aber das Verstehen ist ein mögliches Ergebnis solcher Mühen und niemals die Handlung, die im Zusammenhang mit den Verstehensbemühungen so mühselig sein kann. Man muß hier klar zwischen dem Ergebnis der Handlung und der Handlung selbst unterscheiden."

gleitvorgänge des Verstehens ist aber noch nichts über den Gebrauch von verstehen gesagt. 45 Die Schwierigkeit liegt darin, daß der Gebrauch von verstehen umgangssprachlich mehrdeutig ist. (14) Obwohl er so undeutlich gesprochen hat, habe ich ihn verstanden. (15) Fritz versteht so gut Englisch, daß er englische Texte ins Deutsche übersetzen kann. (16) Mir tut mein Herz weh. (17) Hans hat sich gestern einen Golf gekauft. (18) Die Atherosklerose der Koronararterien ist die häufigste Ursache der koronaren Herzkrankheit (KHK). (19) Ich verstehe ja, daß du Angst hast, morgen zum Arzt zu gehen. Die Interpretation von verstehen in Beispiel (14) ist relativ einfach. Hier geht es um ein Hören-Können trotz akustischer Störfaktoren. 47 Eine-SpracheVerstehen in (15) ist im Sinne einer "Technik" aufzufassen.48 Technik meint die Fähigkeit Eine-Sprache-Beherrschen, die Übersetzung in andere Sprachen. 49 Eine-Sprache-Verstehen in (16) heißt, daß ein Satz dieser Sprache paraphrasiert, erklärt, durch synonyme ersetzt werden kann. 5O Statt Mir tut mein Herz weh kann man auch den Satz Ich habe Herzschmerzen sagen. In (17) kotmtt Verstehen nur zustande, wenn der Gesprächspartner weiß, was mit Golf gemeint ist. Solche möglichen Verstehensschwierigkeiten sind durch zusätzliche Informationen oder Fragen (z. B.: Was meinst du mit Golf?) leicht zu beheben. 52 Das Verstehensproblem in (18) ist komplizierter. Hier genügt es nicht, die lateinischen Termini durch deutsche zu ersetzen; um ein Verstehen zu sichern, müßten die Zusammenhänge erläutert werden. Jemand, der (19) äußert, weiß um die Motive des ändern, kann nachvollziehen, warum der andere Angst hat, zum Arzt 45 46 47 48 49 50 51 52

53

Vgl. Abschnitt l . l . l , Anmerk. 27 Beispiel aus Schettler 198O, 92 Vgl. zu diesem Abschnitt: Keller 1977, 6 ff; Wimmer 1979b, 29 ff; vgl. a. Loretz 1976 Wittgenstein PU 1977, § 199, 127 Kenny 1974, 179 Wittgenstein PU 1977, § 531, 227; vgl. Baker/Hacker 198O, 617; Kenny 1974, 179 ff Wittgenstein PU 1977, § 532, 227, unterscheidet nur zwei Gebrauchsarten von verstehen, s. die Beispiele (15) und (16) Vgl. Wiegand 1977, 7O f f : Typen von Wortverstehensschwierigkeiten; zu den in Arzt-Patienten-Gesprächen auftretenden Wortverstehensschwierigkeiten s. Abschnitt 1.3.3 Zu Terminus vgl. Abschnitt 1.3.1

10

zu gehen. Mit Verstehen ist hier die Summe praktischer Fertigkeiten gemeint. 54 Vergleicht man die Verschiedenartigkeit der Spiele mit der Bedeutung von verstehen, so wird deutlich, daß es nicht darum gehen kann, das Gemeinsame aller Spiele zu finden. Was die Spiele zu Spielen macht, ist ein kompliziertes Geflecht von Ähnlichkeiten, eine Verwandtschaft der unterschiedlichsten Arten, ein Spiel zu spielen. Diese Verwandtschaft nennt Wittgenstein '"Familienähnlichkeiten1", vergleichbar der Ähnlichkeit von Augenfarbe, Größe, Gesichtszügen bei den Gliedern einer Familie. Eine solche Familienähnlichkeit besteht auch zwischen den verschiedenen Bedeutungen von verstehen, anders ausgedrückt, "diese Gebrauchsarten von 'verstehen' bilden seine Bedeutung, meinen Begriff des Verstehens. Denn ich will 'verstehen1 auf alles das anwenden". Betrachtet man Sprache als Teil einer Lebensform, so bedürfen die bisher diskutierten Gebrauchsarten von verstehen der Ergänzung durch einen textuellen und außersprachlichen Zusammenhang, d. h., eine Äußerung steht einerseits im Zusanmenhang mit anderen Äußerungen, sie kann Anfang, Mitte oder das Ende von Sprechhandlungen markieren, andererseits sind Sprechhandlungen nicht unabhängig von räumlichen, zeitlichen und den sozialen Voraussetzungen der Sprecher zu sehen. So kennt jeder, der die deutsche Sprache beherrscht, den Gebrauch des Satzes ich verspreche, morgen zu kommen, aber man wei.ß nicht, "wovon er handelt". 58 Allerdings kann man sich Zusanroenhänge dazu erfinden: Ich kann diese Äußerung machen, weil ich im Moment keine Zeit und Lust habe, mit jemandem zu sprechen, oder weil ich einen lästigen Besucher möglichst schnell verabschieden will. Diese Äußerung ist auch vorstellbar als 2-ntwort auf eine längere Ermahnung des Arztes, die Sprechstundentenrine doch nicht ständig zu versäumen. Solche Sprechhandlungen also, die sowohl auf außersprachliche Gegebenheiten tezogen sind .als auch im Zusammenhang mit anderen Sprechhandlungen stehen, sollen Gespräch oder Kommunikation heißen. Als zusätzliche Bedingung für Gespräche/Kommunikationen gilt, daß mindestens zwei Partner, die wechselseitig die Ißrer- und Sprecherrolle übernehmen, beteiligt sind. 59 54 55 56 57 58 59

Vgl. Baker/Hacker 198O, 617/618; Keller 1977, 6/7 Wittgenstein PU 1977, § 65, 56, § 6 6 , 56/57; vgl. Baker/Hacker 198O, 325 ff Wittgenstein PU 1977, § 67, 57 Wittgenstein PU 1977, § 532, 227 Wittgenstein PU 1977, § 525, 225 Zur weiteren Bestimmung von Gespräch s. Abschnitt 1.2.1, Definitionen von Gespräch in: Henne 1977a, 67 ff; Henne/Rehbock 1979, 7 ff; Ungeheuer 1977, 27 ff; ferner: Berens 1976a, 265; Schank/Schoenthal 1976, 64 ff

11

Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen sind die eben formulierten Bedingungen. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: (i) A muß die Bedeutung der Ausdrücke/Wörter kennen, die B gebraucht. (ii) A und B müssen wechselseitig fähig sein, Sprechhandlungen zu paraphrasieren.

6O

(iii) A und B müssen den textuellen und außersprachlichen Zusammenhang von Sprechhandlungen kennen. Analog dazu lassen sich die Bedingungen für gegenseitiges Mißverstehen formulieren.

62

Mißverständnisse (= Mißverstehen) entstehen zunächst, wenn Gesprächs-

partner ein Wort (Wörter)/einen Ausdruck (Ausdrücke) der Sprache unterschiedlich gebrauchen ( ( i 1 ) ) .

Typen von Wbrtverstehensschwierigkeiten, wie sie spe-

ziell in Arzt-Patienten-Gesprächen auftreten, werde ich in Abschnitt 1.3.3 näher erläutern. Die Bedingung (ii)

muß im Zusammenhang mit Mißverständnissen etwas diffe-

renziert werden. Es sind zwei Fälle zu unterscheiden. A ist nicht fähig, die Sprechhandlung, die B nicht versteht, zu paraphrasieren. Im zweiten Fall, der für die Untersuchung in erster Linie wesentlich ist,

ist A fähig, die von B

nicht verstandene Sprechhandlung zu paraphrasieren. Ein Mißverstehen (ii 1 ) kann nun dadurch zustande kamen, daß B auch die paraphrastische Sprechhandlung nicht versteht. Ob ein Verstehen oder Mißverstehen vorliegt, kann im Fall zwei nur kommunikativ geklärt werden. Mißverstehen kennt drittens durch unterschiedliches Verstehen außersprach-. licher Gegebenheiten zustande (iii'). Genauso wie man im allgemeinen weiß, wie eine bestimmte Äußerung gebraucht wird, kann man davon ausgehen, daß ein Konsens darüber besteht, wie man in einer bestimmten Situation zu handeln hat. 60

61

62 63 64

Vgl. Anmerk. 5O. Den Fall der Ersetzung von Sprechhandlungen durch synonyme schließe ich aus, da eine notwendige Definition von Synonymie den Rahmen der Untersuchung sprengen würde. Ich verweise auf Wiegand 1976b. Zu Paraphrase: Rath 1975a, 1O3 ff; Rath 1979, 185 ff; vgl. Abschnitt 5.1. Unter Paraphrase verstehe ich hier auch die Fähigkeit, gemeinsprachliche Äußerungen in die Fachsprache zu übersetzen; vgl. die Abschnitte 1.3.3 und 3.3 Das akustische Verstehen setze ich als selbstverständlich voraus. Auch der Gebrauch von verstehen in (15) ist uninteressant, da der Fall, daß zwei Sprecher verschiedene Sprachen, z. B. Deutsch und Englisch, sprechen, ausdrücklich ausgeschlossen sei. Typen von Mißverständnissen vgl. Keller 1977, 5 - 1O; s. a. Harras 198O; ,Loretz 1976 Bedingungen für Mißverständnisse bezeichne ich mit ( i 1 ) , ( i i 1 ) , ( i i i ' ) Vgl. Wiegand 1977, 7O ff: Typen von Wortverstehensschwierigkeiten; s. a. die Abschnitte 1.3.3 und 3.3

12

Als abweichende Handlungsweise könnte man von daher bezeichnen, wenn z. B. der Angeklagte dem Richter Fragen stellt oder der Patient versucht, die persönlichen Probleme des Arztes zu erfahren. Beharrt der sich-nicht-abweichend verhaltende Gesprächspartner auf seinem Situationsverständnis, kann es auch hier zu Mißverständnissen kommen. Solche Mißverständnisse (iii 1 ), die zustande kommen, weil die Gesprächspartner unterschiedliche kommunikative Ziele verfolgen, sollen im folgenden Kommunikationskonflikt 1

heißen. 1

Mißverständnisse des Typs (i ) und (ii ) bilden einen Untertyp der Kommunikationskonflikte. Im allgemeinen bezeichne ich solche Mißverständnisse als Verstehenskonflikt.

Die Unterscheidung von Kommunikations- und Verstehenskon-

flikt kann nicht immer getroffen werden, denn Verstehenskonflikte haben häufig Kommunikationskonflikte zur Folge, d. h., die Grenzen zwischen Verstehens- und Kommunikationskonflikten sind fließend.

1.2

Die Rahmenbedingungen der Arzt-Patienten-Kommunikation

1.2.1

Die situativen Merkmale

Bisher wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, was mit Situation, außersprachlichen Gegebenheiten bzw. Lebensform gemeint ist. nen, ob eine Handlung abweichend/nicht abweichend ist,

Um beurteilen zu könmüssen Merkmale angeb-

bar sein, die die jeweilige Situation oder Lebensform bzw. die jeweiligen Gegebenheiten charakterisieren. 65 66

67

Vgl. Abschnitt 1.2 Vgl. Wiegand 1979b, 35 ff: Kornmunikationskonflikte sind dann indiziert, wenn in einem "Interaktionszusammenhang" ( 3 5 ) kommunikative Ziele und Absichten von Sprecher und Hörer "erkennbar kollidieren" und "wenn auf die dadurch gegebene Konstellation in irgendeiner Weise kommunikativ reagiert wird" ( 3 5 ) , "kommunikativ reagieren" ist dabei "möglichst allgemein" zu verstehen ( 4 O ) . Ein "verbal thematisiert(er)" Kommunikationskonflikt soll "akut" heißen ( 3 9 ) . "Sprachverstehenskonflikte" (39) sind als Untertypen dieser Kategorie anzusehen. Grundlegend für diesen Abschnitt sind die Untersuchungen von Schütz 1971 und Berger/Luckmann 198O. In 1.2.2 werden einige der von diesen Autoren genannten Aspekte näher erläutert. Wesentlich sind auch die Arbeiten des Freiburger Projektes, vgl. Steger 1976a, 7: Ausgangspunkt dieser Analysen ist die inzwischen nachgewiesene Kovarianz von Situation und sprachlichem Handeln. Vgl. Schank/Schoenthal 1976, 29 ff, klassifizieren die außersprachlichen Gegebenheiten, d. i. die soziale Situation, nach insgesamt 16 Merkmalen: Teilnehmerzahl, Verhältnis der Teilnehmer zueinander, Kommunikationsmedium, Kommunikationsort, Zeitpunkt und -dauer eines Kommunikationsaktes,

13

Im Vergleich zu Party- oder Thekengesprächen, Gruppendiskussionen u. ä., deren situative Bedingungen wie Thema und Teilnehmerzahl frei gewählt werden können, sind die Rahmenbedingungen von Arzt-Patienten-Gesprächen weitgehend infifi stitutionalisiert. Während jedoch Vernehmungen, Aussagen vor Gericht, Prüfungen, die auch zu den institutionalisierten Gesprächen gehören, in gewisser Weise der öffentlichen Kontrolle (z. B. Berichterstattung über Gerichtsverhandlungen in den Medien) unterliegen, ist die Nicht-Öffentlichkeit für die Arzt-Patienten-Komnunikation Voraussetzung. Die Nicht-Öffentlichkeit ist bedingt durch das spezifische Thema, die Beschwerden/Schmerzen des Patienten, und durch die Funktion des Arztes in diesem Zusammenhang, nämlich Beratung und Hilfe. Der Arzt ist aber auch Vertreter von Behörden wie Gesundheitsamt, von Institutionen wie Ärztekammer, andererseits ist er selbst Institution mit Behördencharakter. Das zeigt sich darin, daß dem Arzt in einer Kartei Daten persönlichster Art wie Alter, Familienverhältnisse, Beruf, frühere Krankheiten (z. B. Alkoholsucht) zur Verfügung stehen. Diese Funktion des Arztes und das Berufsmäßige seiner Tätigkeit bewirken eine routinierte Beherrschung der Situation 'Gespräch mit Fremden1. Auf der anderen Seite steht nun ein Gesprächspartner, der Patient, dem solches Wissen über die Person des Arztes nicht zur Verfügung steht, außerdem ist er weit weniger mit der Situation vertraut. Diese "Situationsdistanz" verringert sich nur, wenn der Patient häufiger mit Ärzten zu tun hat/hatte oder wenn er sehr oft vom selben Arzt behandelt wird.

Dieser so benachteiligte Ge-

sprächspartner erwartet von dem Arzt bestimmte Dienstleistungen, von den meisten Patienten als Hilfe und Heilung apostrophiert. Charakteristikum von Dienstleistungen ist im allgemeinen, daß derjenige, der sie erbringt, dafür bezahlt wird. Die Bezahlung des Arztes erfolgt aber meist nicht direkt, sondern über eine Pflichtkrankenkasse. Es ist durchaus vorstellbar, daß ein Patient aufgrund dieses Bezahlungsnodus sich nicht mehr seiner Gegenleistung bewußt ist,

sondern

das Gefühl hat, er bekommt etwas geschenkt.

68

69 70

Inszeniertheit von Kommunikationssituationen, Spontaneität, Intentionen der Kommunikationspartner, Thematik, Themenbehandlung, Relation Thema zu äußerer Situation und Sprechzeitwelt, Relation Thema - Sprecher, Themafixierung, Öffentlichkeitsgrad, Situationsvertrautheit, Situationsdistanz. Berger/Luckmann 198O, 49 ff gehen davon aus, daß in bestimmten Situationen häufig wiederholte Handlungen sich zu beliebig oft reproduzierbaren "Modellen" (56) entwickeln, d. h . , befindet sich der Handelnde in einer solchen Situation, kann die Handlung antizipiert werden. Institutionalisierung findet dann statt, wenn solche "Modelle" von den Handelnden wechselseitig reproduziert und antizipiert werden können (bes. 58). Vgl. Berger/Luckmann 1980, 44; Schütz 1971, 184, s. a. Abschnitt 1 . 2 . 2 Vgl. Schank/Schoenthal 1976, 35/36

14

All dies bewirkt, daß der Arzt in der Regel die dominierende Rolle in sol71 chen Gesprächen hat. Charakteristisch für die Dominanz des Arztes sind ferner Höhe des Einkonmens und das soziale Ansehen, das der Arzt inner noch in der Bevölkerung genießt. Sind Beruf und Einkommen von Arzt und Patient etwa gleichwertig, so verringern sich wahrscheinlich sowohl die Dominanz des Arztes als auch die Situationsdistanz des Patienten. Die Asyitmetrie derartiger Gespräche ist jedoch nicht nur durch solche gesamtgesellschaftlichen Strukturen bedingt, sondern auch dadurch, daß ein Gesprächspartner auf weitere Situationsmerkmale entscheidenden Einfluß hat. Das Ihema des Gesprächs ist zwar festgelegt, nämlich die Beschwerden/Schmerzen des Patienten, die Strukturierung des Gesprächsablaufs bzw. des speziellen Themas ist allein darauf bezogen, was einer der beiden Partner, der Arzt,für wichtig hält. Ist die Relevanz einzelner Sachverhalte strittig, so kann zwar grundsätzlich eine Einigung zustande konrnen, doch wahrscheinlicher ist, daß 72 der Arzt sein Relevanzsystem durchsetzt. Das Situationsmerkmal 'Dominanz des Arztes1 ist damit von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der dominierenden Rolle kann der Arzt die weiteren Situationsmerkmale wie Ort, Zeitpunkt, Dauer des Gesprächs bestimmen. Kommunikationskonflikte können dann entstehen, wenn die beiden Gesprächspartner eines oder mehrere dieser Situationsmerkmale in jeweils anderer Weise verstehen.

71

72 73

Vgl. Schank/Schoenthal 1976, 31 Berger/Luckmann 198O, 76 - 83: "Rollen treten in Erscheinung, sobald ein allgemeiner Wissensvorrat mit reziproken Verhaltenstypisierungen entsteht ( . . . ) " ( 7 9 ) , innerhalb dieses Wissensvorrates können bestimmte Verhaltensoder Handlungsweisen, die Autoren unterscheiden hier nicht genau, reproduziert und antizipiert werden. Rollenträger, d. h. "Typen von Handelnden" ( 7 8 ) , zeichnen sich gegenüber den Nicht-Rollenträgern dadurch aus, daß sie bestimmte Verhaltens- und Handlungsweisen nicht nur antizipieren können, sondern auch reproduzieren dürfen. Rollen implizieren damit einen ganzen "Verhaltenskomplex" ( 7 9 ) . Schütz 1971, 5O ff, s. Abschnitt 1 . 2 . 2 Auf die Situationsmerkmale Ort' und 'Zeitpunkt' werde ich nicht näher eingehen, sie sind unter linguistischen Gesichtspunkten wenig ergiebig. Auch das Situationsmerkmal 'Dauer' wird nicht untersucht. Die in diesem Zusammenhang notwendigen Analysen zur Beendigung von Gesprächen würden den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Ich verweise auf Jäger 1976b.

15

1.2.2 Alltagswissen und Relevanz Der zuvor aufgestellten Behauptung, daß für Arzt und Patient bestimmte Sachverhalte unterschiedlich relevant sind, liegen die Untersuchungen von Schütz 74 zum "Problem der Relevanz" und von Berger/Luckmann "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit"

zugrunde. Es wäre allerdings vermessen, die

komplexen Systeme von Schütz und Berger/Luckmann in einem Abschnitt darzulegen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb strikt auf die für das Arzt-Patienten-Gespräch wesentlichen Aspekte.

Eine zum Teil sehr ver-

einfachende Darstellung der Theorien ist nicht zu vermeiden. Innerhalb dessen, was man gemeinhin als Welt versteht, ist zunächst die "Wirklichkeit der Alltagswelt" für das menschliche Handeln konstitutiv.

Das

Individuum sieht sich in diese Wirklichkeit hineingestellt, sie ist "fraglos 78 gegeben". Die Alltagswelt ist durch ein System interdependenter Ausschnitte und den den Mitgliedern einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden "Wissens79 Vorrat" strukturiert. Im Zentrum des Interesses eines Individuums steht der Ausschnitt der räumlichen und zeitlichen Nähe, d. h. "die Welt in meiner Reichweite", derjenige Ausschnitt der Alltagswelt, der dadurch modifizierbar, ver8O änderbar ist, daß das Individuum handelt, gehandelt hat und handeln wird. Dieser Ausschnitt ist in "Thema" und "Horizont" gegliedert, ein "Element" rückt in den Mittelpunkt des Interesses, wird "thematisch" gegenüber der Menge aller 81 möglichen Elemente des Ausschnitts, die peripher, d. h. "horizontal" werden. 74 75 76

77 78 79

80 81

Schütz 1971 Berger/Luckmann 198O Auf di'e Äußerungen Berger/Luckmanns 198O, 36 ff, zur Funktion der Sprache in der Alltagswelt werde ich nicht eingehen. Diese Äußerungen sind im Hinblick auf die in 1.1 und 3.1 dargestellten Teile der Spätphilosophie Wittgensteins problematisch. Dies aufzuzeigen, würde jedoch im Rahmen dieser Untersuchung zu weit führen. Berger/Luckmann 198O, 24 Schütz 1971, 181 Berger/Luckmann 198O, 25/26 u. 44; vgl.: Schütz 1971, 112 u. 179 spricht von "Lebenswelt" und dem "zuhandene(n) Wissensvorrat", der "genetisch" und "statisch" interpretiert wird. Schütz abstrahiert zunächst von der Tatsache, "daß die Masse unseres Wissens sozial abgeleitet ist" (179). Ich gebrauche im folgenden die von Berger/Luckmann vorgeschlagenen Ausdrücke: Wissensvorrat, Alltagswissen bzw. Alltagswelt-tfissen. Auf das Wie der Vermittlung solchen Wissens kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur angemerkt, daß nicht allen Mitgliedern einer Gesellschaft solches Wissen gleichermaßen zur Verfügung steht; vgl. Berger/Luckmann 1980, 75 ff Berger/Luckmann 198O, 25 Schütz 1971, 56, 44, 38

16 Die Vielzahl möglicher Ausschnitte aus der Wirklichkeit der Alltagswelt unterscheiden sich durch unterschiedliche Grade der "Vertrautheit".

82

Thematisch

relevant wird ein Element des Ausschnitts dann, wenn es innerhalb des Bereichs 00

einer "unproblematischen Vertrautheit zum Problem" wird.

Schütz nennt diese

Kategorie "thematische Relevanz". Un handeln zu können, bedarf das thematisch Relevante der "Auslegung" Qr

("Auslegungsrelevanz"). sensvorrat".

86

Grundlage der Auslegung ist

der "zuhandene(n) Wis-

Abhängig vom Grad der Vertrautheit mit den thematisch relevan-

ten Elementen eines Bereichs kann eine Vielzahl von Handlungen "routinemäßig"

87

ausgelegt, d. h. vollzogen werden, ihr Ziel und die Art ihres Vollzugs unterliegen keinem Zweifel, sie sind "fraglos gegeben".

88

Routinemäßiges Handeln

QQ

kann "problematisch" bzw. "problematisiert" werden. Das Problematisch-Gewordene ist in den Bereich des Routinemäßigen integrierbar. 90 Zur Lösung von ROUtineproblemen stehen aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat eine Vielzahl 82

83 84 85

86 87 88 89 90

Berger/Luckmann 1980, 44 f. Meiner Ansicht nach entspricht es der Intention der Autoren, den Ausdruck umgangssprachlich zu gebrauchen. Vgl. Schütz 1971, 56/57: "Der Terminus 'Vertrautheit' ( . . . ) kann objektiv interpretiert werden und bedeutet dann das, was den uns schon bekannten Erfahrungsgegenständen innewohnt. ( . . . ) 'Vertrautheit 1 hat aber auch eine subjektive Bedeutung. Sie erstreckt sich einerseits auf die Gewohnheiten des Subjekts, das eine aktuelle Erfahrung mittels der in seinem gegenwärtigen Wissensvorrat vorhandenen Typen wiedererkennt, identifiziert oder auswählt." Schütz 1971, 56; anstelle der Ausdrücke Bereich bzw. Ausschnitt gebraucht Schütz Wahrnehmungsfeld oder Bewußtseinsfeld ( 2 7 / 2 9 ) . Schütz 1971, 56. Auf die Unterscheidung von "auferlegter" (58/59) und "wesentlicher" thematischer Relevanz (61 - 64) kann hier nicht näher eingegangen werden. Schütz 1971, 67 ff. Auf die im Zusammenhang des Um-Handeln-zu-Können eine Rolle spielenden "Motivationsrelevanzen" (78 ff) soll hier kurz eingegangen werden, da dies die dritte zentrale Kategorie in Schütz 1 Untersuchung ist. Die Analyse von Motivationsrelevanzen in Arzt-Patienten-Gesprächen würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zu unterscheiden sind Relevanzen des "Um-zu"-Typus und des "Weil"-Typus (79 f f , bes. 83 u. 85). Die Entscheidung, wie das thematisch Relevante ausgelegt wird, ist im Hinblick auf zukünftiges Handeln motivationsmäßig relevant (8O). Anders ausgedrückt, aus der Interdependenz von Auslegung und Handlungsentwurf entstehen Motivationsrelevanzen des "Um-zu"-Typus. Im Gegensatz dazu ist die "Motivation" des Handlungsentwurfs selbst für den "Weil"-Typus kennzeichnend ( 8 4 ) . Schütz 1971, 67; vgl. Anmerk. 79 dieses Abschnitts Berger/Luckmann 198O, 26; vgl. Schütz 1971, 184 ff Schütz 1971, 181 Berger/Luckmann 198O, 27 Berger/Luckmann 198O, 27

17 von "Rezepten zur Lösung" bzw. zur Auslegung, das sogenannte "Rezeptwissen",

• ^ 91 bereit.

Das nicht in die Routine integrierbare Problematisch-Gewordene ist auslegbar, insoweit das Alltagswelt-Wissen des Individuums über den nächstliegenden Bereich der Routine hinausgeht. 92 Das routinemäßige Handeln ist möglich aufgrund von "Typisierungen für alle Sorten von Ereignissen und Erfahrungen: gesellschaftlichen und persönlichen", die im gesellschaftlichen Wissensvorrat zur Verfügung stehen. 93 Die Strukturierung des Wissensvorrates von Arzt und Patient ist durch die jeweils andere Berufswelt unterschiedlich. Der Arzt verfügt über ein hoch spezialisiertes Wissen im Hinblick auf den thematisch relevanten Ausschnitt Schmerzen/Beschwerden des Patienten, ein Wissen, das dem Patienten nicht in dieser differenzierten Form zur Verfügung steht; der Fall, daß der Patient selbst Arzt ist, sei ausdrücklich ausgeschlossen. Die thematische Relevanz des Ausschnitts Schmerzen/Beschwerden des Patienten wird normalerweise von den beiden Partnern akzeptiert werden. Für den Arzt dürften jedoch andere Elemente dieses Ausschnittes thematisch relevant sein als für den Patienten, denn auch der Wissensvorrat des Patienten ist durch diejenigen Handlungen und Tätigkeiten strukturiert, die er tagtäglich ausübt. Hindern ihn z. B. Schmerzen/ Beschwerden daran, seinen Beruf auszuüben, so ist Schmerz in erster Linie innerhalb dieses Bereiches thematisch relevant. Bedingt durch die unterschiedliche Strukturierung des Wissens legen Arzt und Patient die einzelnen Elemente des thematisch relevanten Ausschnittes jeweils anders aus. Der Patient, der zu dem Arzt in die Sprechstunde kommt, hat bereits versucht, das, was er als Störung empfindet, auszulegen.94 Solche Auslegungsrelevanzen dürften jedoch nicht zu Kcnittunikationskonflikten führen, denn der Patient wird im allgemeinen die Auslegung des Arztes, d. h. die Diagnose, akzeptieren. 91 92 93

94

Berger/Luckmann 1980, 44 Berger/Luckmann 198O, 27 Berger/Luckmann 198O, 45: der Ausdruck Typisierung ist umgangssprachlich zu verstehen, siehe dazu die von den Autoren genannten Beispiele: " ' e i n ( e n ) K e r l ' " , " ' e i n ( e n ) typischer(n) Amerikaner 1 ", " ' e i n ( e n ) Bursche(n), der sich beliebt machen will" 1 ( 3 4 ) . Vgl. Schütz 1971, 90 ff, 93: "Die Typizität enthält zu allererst einen Erwartungsbestand, der die Wiederkehr der typisch gleichen oder ähnlichen Erfahrungen b e t r i f f t . " Nüssel 1968, 46: "die ' m i t g e b r a c h t e n V o r s t e l l u n g e n ' "

18

1.3

Aspekte des Fadisprachengebrauchs in der Arzt-Patienten-Kcmttunikation

Die zunehmende Differenzierung und Aufsplitterung in kleine und kleinste Teileinheiten einzelner Wissenschafts- und Arbeitsbereiche ermöglicht zwar einerseits neue Erkenntnisse und damit das Vordringen in unbekannte Wissensgebiete, andererseits ist durch die immer größer werdende Spezialisierung das Wissen auch wenigeren zugänglich. Die Weiterentwicklung schon bestehender und die Bildung neuer Fachsprachen sind das Ergebnis solcher Spezialisierung. Innerhalb der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen haben Fachsprachen die Aufgabe, Er95 kenntnisse festzuhalten und zu übermitteln. Außerhalb dieses Bereichs, in der Komnunikation mit Nicht-Wissenschaftlern, tragen Fachsprachen eher zur MyQ/T

stifizierung von auch für die Alltagswelt

bedeutsamen ede Sachverhalten denn zu

97 ihrer Klärung bei, sie werden zu Geheimcodes."

Angesichts der Wissens- und Wissenschaftsgläubigkeit unserer Zeit dürfen die Gefahren, die solche Geheimcodes in sich bergen, nicht unterschätzt werden; denn derartige Entwicklungen haben die Tendenz, sich sehr schnell zu verselbständigen, d. h., die Fachsprache verhilft einzelnen Mitgliedern einer sich als demokratisch verstehenden Gesellschaft zu einer Sonderstellung, die sie zu berechtigen scheint, Herrschaft über andere auszuüben.

98

Die medizinische Fach-

sprache ist hier das Beispiel par excellence, vor allem deshalb, weil es keine Wissenschaft gibt, die jeden einzelnen so persönlich betrifft, so sehr in seine individuellen Bedürfnisse und Lebensumstände eingreift, eingreifen darf wie die Medizin. Die Kritik am Fachchinesisch, am unverständlichen Kauderwelsch der 99 Ärzte ist von daher mehr als berechtigt. Es wäre nun naiv, aufgrund der angedeuteten Probleme das Existenzrecht von Fachsprachen generell zu bestreiten, denn in einer Gesellschaft, deren Lebensstandard und vielleicht Lebensqualität ihrer Mitglieder zu einem nicht unerheblichen Teil auf Arbeitsteilung und Spezialisierung beruht, sind Fachsprachen 100 nicht wegzudenken. 95 96 97

98 99 1OO

Vgl. Fluck 1976, 34 Ich gebrauche den Ausdruck im Sinne Berger/Luckmanns 198O; vgl. Anmerk. 79 dieses Abschnitts, Auf solche Kommunikationsbarrieren zwischen Wissenschaftlern und Laien wird in der Literatur häufig verwiesen. Ich nenne hier stellvertretend Fluck 1976, 37 - 46. Vgl. Wiromer 1979a, 246/247; vgl. Fluck 1976, 39 Vgl. Berger/Luckmann 198O, 93, sprechen in diesem Zusammenhang von "Subsinnwelt". Vgl. Fluck 1976, 27 ff: Entstehung und Entwicklung der Fachsprachen

19

1.3.1 Terminologisierung und Normierung fachsprachlicher Ausdrücke Bis heute ist der Ausdruck Fachsprache von der Forschung nicht "gültig definiert". ° Eine Definition ° im Sinne von "gültig", d. h. hier ein für allemal festgelegt, wird wahrscheinlich nicht möglich sein, denn die Grenzen zwischen Fach- und Gemeinsprache sind fließend. Fachsprache kann nicht unabhängig von der Gemeinsprache gesehen werden, sie ist auf ein vorwissenschaftliches, durch die alltägliche Sprachverwendung und Erfahrung vorgeprägtes Wissen und Verständnis angewiesen, 1O4 sowohl hinsichtlich der Benennung von Gegenständen, Sachverhalten als auch im Zusammenhang mit der fachsprachlichen Verständigung. Auf diese beiden Gesichtspunkte, der Benennung und fachsprachlichen Verständigung, soll in den folgenden Abschnitten näher eingegangen werden. Das eine ist allerdings nur bedingt von dem ändern zu trennen. Ein wichtiger Zweig innerhalb der Fachsprachenforschung beschäftigt sich mit der Terminologisierung und Normierung von Fachausdrücken. Wer Fachausdrücke normieren will, muß sie zunächst definieren. Es geht also darum festzulegen, 1Ofi was es heißt, einen Ausdruck zu definieren. Wiegand, der den Gebrauch des Ausdrucks Definition in seiner historischen Entwicklung kritisch darstellt, weist darauf hin, daß "Definitionen" nur "relativ zu irgendeiner Definitionslehre" sinnvoll sind. Bei der Terminologisierung von Fachausdrücken sollte die Verwendung im betreffenden Fachgebiet berücksichtigt werden. 108 Wiegand unterscheidet "Feststellungen ü b e r eine Sprache" von "Festsetzungen f ü r eine Spraehe". 1O9 Bei ersterem handelt es sich um "Feststellungsdefinitionen", d. h., der Gebrauch eines Fachausdrucks im betreffenden Fachgebiet ist durch "Referenz- und Prädikationsregeln" bestimmt. Wimmer spricht in diesem Zusammenhang von "Referenzfixierungsakte(n)", allerdings geht es hier weniger um die Terminologisierung vorhandener fachsprachlicher Ausdrücke, sondern um die 101 102 103 104 105 106 107 108 109

Fluck 1976, 11 Der Ausdruck Definition ist problematisch; vgl. dazu Wiegand 1979c, 1O2 Vgl. Wimmer 1979a, 253, Fluck 1976, 11 Wiegand 1979b, 29 Vgl. die Abschnitte 1.1 und 3.1 ff Wiegand 1979c, 1O2 Wiegand 1979c, 1O2 Wiegand 1979c, 123 Wiegand 1979c, 126, s. a. 123 ff. Auf die außerdem getroffene Unterscheidung, die "Feststellung i n der Fachsprache" (123) möchte ich nicht näher eingehen, da dies im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen würde. HO Wiegand 1979c, 128

20

Einführung von Fachvokabular im Zusammenhang mit Lehrsituationen. "Referenzfixierungsakte" sind Benennungen, d. h. Feststellungen "bestimmte(r) Bezeichnungsfunktionen" "für bestürmte Ausdrücke hinsichtlich bestimmter Gegenstände" . "Festsetzungen für eine Sprache", sogenannte "Festsetzungsdefinitionen" legen im Unterschied zu den "Feststellungsdefinitionen" fest, wie ein bestimttter Ausdruck ab dem Zeitpunkt dieser Festsetzung gebraucht werden soll. 113 Terminologisierung befaßt sich also mit der Verwendung von Fachausdrücken innerhalb des Fachgebietes, während bei der Normierung festgesetzt wird, wie ein Fachausdruck künftig zu gebrauchen ist, Normierungen sind " V o r s c h r i f t e n f o r m u l i e r u n g e n " , die "zweckmäßig oder unzweckmäßig" sein können. 114 Auf letzteres, den konmunikativen Aspekt, geht Winner im Zusammenhang mit der Einführung von Fachausdrücken in Lehrsituationen ein. Die hier formulierten Bedingungen sind übertragbar, sie sollten also auch bei "Festsetzungsdefinitionen" beachtet werden. Besonders wichtig sind die Bedingungen vier bis sechs: die Personengruppe, die den Gebrauch des Fachausdrucks festlegt, muß bekannt und autorisiert sein, eine solche Festlegung vorzunehmen. Zweitens muß klar sein, welche Adressatengruppe den Fachausdruck in Zukunft gebrauchen soll. Schließlich ist die Normierung eines Fachausdrucks nur sinnvoll, wenn der betreffende Ausdruck innerhalb einer bestimnten Adressatengruppe häufig gebraucht wird, seine Bedeutung aber für die jeweiligen Zwecke nicht eindeutig genug festgelegt ist.116 Terminologisierung und Normierung, Wiegand spricht von "'Kann-verwenden'" und '"Muß-verwenden'", 117 machen die Problematik beim Gebrauch von Fachausdrükken deutlich, denn viele Fachausdrücke sind zwar terminologisiert, aber nicht normiert, d. h., es existieren u. U. unterschiedliche Terminologisierungen innerhalb eines Faches. Andere Fachausdrücke sind weder terminologisiert noch normiert. Die von Wiegand aufgestellte "Typologie von Fachausdrücken" verdeutlicht das Gesagte. 118 Zu unterscheiden sind "definierte Fachausdrücke (Termini)" von den "nicht definierte(n), pragmatisch eingespielte(n) Fachausdrücke(n)". Die 111 112 113 114 115 116 117 118

Wimmer 1979a, 25O Wimmer 1979a, 25O Wiegand 1979c, 126 Wiegand 1979c, 128 Wimmer 1979a, 246 f, vgl. Wimmer 1976b, 337 - 346 Wimmer 1979a, 256 - 257 Wiegand 1979c, 129 Wiegand 1979b, 44

21

Termini sind einerseits "normiert(e)", andererseits "nicht-normiert(e)". 119 1.3.2 Vertikale und horizontale Schichtungsmodelle Jener im vorigen Abschnitt angedeutete kommunikative Aspekt von Fachsprachen wurde von der Forschung lange Zeit vernachlässigt. Es ging vor allem darum, die Fachsprachen in bestimmten Ordnungssystemen aufzulisten und deren Termini zu klassifizieren. Derartige Systematisierungsvorschläge, die die Fachsprache weitgehend unabhängig von der Gemeinsprache sehen, führten zu sogenannten horizontalen Schichtungsnodellen. Die einzelnen Fachbereiche wie Medizin, Technik, Handel wurden zunächst zusammengestellt, dann in Teilbereiche untergliedert, z. B. Medizin in Anatomie, Pathologie usw.121 Die bereits vorhandenen gebräuchlichen Termini dieser Teilbereiche wurden in hierarchischen Systemen katalogisiert. 122 In neueren Forschungsarbeiten geht es um die Vereinheitlichung des Fachwortschatzes einzelner Teilgebiete, z. B. bei Synonym- und Homonymbildungen, femer um die Probleme der Normierung. In horizontalen Schichtungsmodellen werden damit vor allem folgende Kennzeichen betont: Fachsprache ist als weitgehend verabredetes Terminologiesystem anzusehen, das durch ein hohes Maß an Exaktheit, inhaltlicher Eindeutigkeit und begrenzter Geltung charakterisiert ist. Betont werden die Dominanz der Nomina, das Fehlen einer eigenen Syntax. Kaum in Betracht gezogen wird die Möglichkeit eines 124 sich verändernden Gebrauchs. In vertikalen Schichtungsmodellen dagegen stehen die Verwendungsweisen von Fachsprachen in bestimmten Situationen im Vordergrund. Fachsprache wird damit im Zusammenhang mit der Gemeinsprache betrachtet. Von der Forschung werden im wesentlichen drei Verwendungsweisen aufgezeigt: - der Gebrauch der Fachsprache in wissenschaftlichen Veröffentlichungen - fachliche Umgangssprache in der Produktion bzw. bei Dienstleistungen - der Gebrauch von Fachsprache in der Kommunikation zwischen Laien und Fachleuten. 119 Wiegand 1979b, 44; ich gebrauche im folgenden Terminus im Sinne Wiegands. 120 Darauf wird in der neueren Forschung mehrfach verwiesen, ich nenne stellvertretend: Lippert 1978, 87 f, Mohn 198O, 356 ff 121 Vgl. Lippert 1978, 87 f 122 Vgl. Lippert 1979, 85 - 87, Mentrup 1976a, 432 f 123 Vgl. Lippert 1979, 86 ff 124 Mentrup 1976a, 435, referiert diese· Auffassung. 125 Vgl. Fluck 1976, 17 ff (Übersicht), Lippert 1978, 93, Lippert 1979, 9O ff, Mentrup 1976b, 373, Mohn 1978, 79

22

Für die vorliegende Untersuchung hat der zuletzt genannte Gesichtspunkt, die Konmunikation zwischen Fachleuten und Laien, Vorrang. Zunächst erfolgen einige Hinweise zu der medizinischen Fachsprache. Die medizinische Fachsprache ist ein äußerst kompliziertes System vielfältiger Termini und Terminologien, von dem eine ungefähre Kenntnis - mehr ist nicht erreichbar - notwendig ist, denn nur so ist annähernd zu ermessen, welche Probleme durch den Gebrauch der Fachsprache in Kommunikationen zwischen Arzt und Patient entstehen können. 1.3.3 Bemerkungen zu der medizinischen Fachsprache Nicht nur die Verständigung zwischen medizinisch nicht Vorgebildeten und Fachleuten ist schwierig geworden, sondern auch die Verständigung der Fachleute untereinander wirft wegen der Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen und der explosionsartigen Zunahme medizinischen Wissens Probleme auf. Kritisiert werden in diesem Zusarnnenhang u. a. die Vielfältigkeit der Termini zur Bezeichnung desselben Sachverhaltes und die Zunahme klinikinterner Fachsprache, die 1 ?fi nur noch von den Ärzten der betreffenden Kliniken verstanden wird. Solche Probleme sind nicht zufällig, sie hängen mit der Entstehung und dem Umfang des medizinischen Wortschatzes zusammen. Dieser Umfang ist inzwischen kaum noch 127 überschaubar, nach einer Schätzung von Porep/Steudel etwa 17O 000 Namen, Lippert kommt auf eine halbe Million Bezeichnungen. Allerdings besteht ein erheblicher Unterschied zwischen den tatsächlich verwendeten und den nach "terminologischen Regeln" möglichen Bezeichnungen.129 Diese verschiedenen Arten der Regelbildung spielen vor allem in der Nomenklatur der Anatomie eine Rolle. An der Geschichte der anatomischen Nomenklatur zeigt sich das Unbehagen der Fachwissenschaft besonders deutlich. Mehrfach wurden Versuche unternannen, die anatomische Nomenklatur zu vereinfachen und zu vereinheitlichen, so ist das Ergebnis der Nomenklatur-Kctimissionen auf den Anatcmenkongressen in Basel (1895), in Jena (1935), in Paris (1955) jeweils ein Schritt auf dem Wege zur Vereinheitlichung und Vereinfachung. Die zuletzt beschlossenen sogenannten "Pariser Nomina Anatomica" sind die heute gebräuchliche Nomenklatur. 131 l OR

126 Vgl. Lippert 1979, 84, 94/95; Lippert 1978, 95; Janzen 197O, 4: die "unzureichende Terminologie - als Quelle von Irrtümern". 127 Porep/Steudel 1974, 9 128 Lippert 1978, 87 129 Lippert 1978, 86 130 Lippert 1978, 93 131 Michler/Benedum 1972, 1O f

23

Der anatomische Wortschatz, der zwar als Basiswortschatz für alle medizi132 nischen Fachbereiche gilt, umfaßt den geringsten Teil medizinischen Wortschatzes. Porep/Steudel schätzen die Zahl der Namen zur Bezeichnung von Körperteilen, Organen, Organteilen und Organfunktionen auf etwa 30 000. Medizinische Termini wurden u. a. entwickelt für Krankheitsbezeichnungen, Unter134 suchungen, Behandlungsverfahren. In neuerer Zeit gewinnt zwar Englisch zu135 nehmend an Bedeutung, der überwiegende Teil dieser Termini stammt aber aus dem Lateinischen und Griechischen. Häufig daraus entstehende Schwierigkei137 ten sind Synonyme und Mischbildungen, sogenannte "Hybridbildungen". Der 1 Terminus Hämoglobin besteht aus dem griechischen haima 'Blut und dem lateini138 sehen globus 'Kugel'. Herz kann mit dem lateinischen oor bezeichnet werden, auch die zur Charakterisierung von Herz verwendeten Adjektive sind lateinischen Ursprungs, sie stimmen in Genus, Numerus und Kasus mit dem Substantiv 139 überein, z. B. COT bovinum, Cor nervosum. Aus dem griechischen kard- entstehen Termini wie Kardiologie , d. h. die "Lehre v. Herzen u. seinen Erkrankungen" , und Endokard "die innerste Herzwandschicht" . 14O Es wurden deshalb verschiedene Versuche, zunächst v. a. für Lehrzwecke unternommen, diese Wortfülle und Bezeichnungsvielfalt zu systematisieren. Michler/Benedum unterscheiden in ihren einleitenden Bemerkungen zwischen anatomischer und klinischer Terminologie, diese Einteilung hat jedoch für den praktischen Teil dieses Lehrbuchs keine Konsequenzen, denn hier wird die lateinische und griechische Formenlehre unter Berücksichtigung medizinischer Aspekte 141 dargestellt. Laut Porep/Steudel setzt sich die "medizinische Terminologie" zusammen aus "medizinische (r)m Ausdruck" und "Ausdruck aus der Umgangsspra142 ehe" . Die Autoren führen zunächst die Grundlagen der griechischen und la143 teinischen Formenlehre und die "Bildung zusammengesetzter Termini" ein. 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141

Lippert 1979, 87 Porep/Steudel 1974, 9 Porep/Steudel 1974, 6 Lippert 1978, 92, Lippert 1979, 89 Porep/Steudel 1974, 14 Michler/Benedum 1972, 6 Michler/Benedum 1972, 6 Porep/Steudel 1974, 242 Pschyrembel 1977, 588 u. 3O8 Michler/Benedum 1972, 8 - 2 5 , bes. 8 u. 22; vgl. die Einteilung von Kümmel/Siefert 198O, IX 142 Porep/Steudel 1974, 7 143 Porep/Steudel 1974, 6O

24

Danach erfolgt ein Überblick über die verschiedenen medizinischen Termini zur "Bezeichnung von Körperteilen und Organen", von "Organfunktionen und Lebensvorgängen" , "Termini aus dem Gebiet der Biochemie und Organischen Chemie", aus dem Bereich der "klinischen Fachdisziplinen", der "praktischen, patientenori144 145 entierten Medizin". Die Bezeichnung Ausdruck aus der Umgangssprache, 146 auch Michler/Benedum weisen auf die Existenz solcher Ausdrücke hin, wird in keinem der beiden Lehrbücher erläutert. Der Vorschlag von Lippert ist linguistisch-fachsprachlich orientiert. 147 Dieser Systematisierungsvorschlag des in der Medizin gebräuchlichen Wortschatzes beruht auf einer "horizontale(n) Gliederung" und einer "vertikale(n) Schichtung". Unter der Kategorie "horizontale Gliederung" werden die "'praktischein) 1 " und "'theoretische(n)'" Fächer subsumiert, Kriterium hierfür "ob sie sich unmittelbar dem Patienten widmen oder nicht".

ist,

Auf der verti-

kalen Ebene unterscheidet Lippert drei Schichten: (i) "als Wissenschaftssprache in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Vorträgen" (ii) "als fachliche Umgangssprache in der Alltagsarbeit des Arztes und des medizinischen Personals in der Klinik oder in der Praxis" (iii) "als laienbezogene Sprache in der Kotinunikation des Arztes mit me149 dizinisch nicht Vorgebildeten". Im Mittelpunkt der Untersuchung soll das unter (iii) Genannte stehen. Es würde zu weit führen, auch auf die Punkte (i) und (ii) einzugehen. In der KcnnTunikation zwischen Arzt und Patient werden zwar griechische und lateinische Termini, die an sich für die unter (i) genannte Wissenschaftssprache charakteristisch sind, gebraucht, doch Ausdrücke der Gemeinsprache spielen bei der Beschreibung fachspezifischer, d. h. medizinischer Sachverhalte eine ungleich größere Rolle als in anderen Wissenschaften.

So sind bei der Beschreibung

von bestimmten Krankheitsbildern die Ärzte zunächst auf die Aussagen von Patienten angewiesen. Die medizinische Fachsprache ist zum Teil auf diese Weise entstanden, denn im Laufe der Geschichte der medizinischen Wissenschaft werden 144 145 146 147 148 149 150

Poirep/Steudel 1974, s. Inhaltsverzeichnis Porep/Steudel 1974, 7 Michler/Benedum 1972, 6 Lippert 1978, 87 - 89, 93 Lippert 1978, 87 Lippert 1978, 93 Fluck 1976, 39 f, verdeutlicht dies am Beispiel der Rechtssprache.

25

solche gemeinsprachlichen Ausdrücke fachsprachlich gebraucht. Dieser Prozeß läßt sich bei der Entstehung anderer wissenschaftlicher Fachsprachen auch nachweisen, nur sind die daraus entstehenden Probleme weniger virulent, einfach, weil sie Nicht-Wissenschaftler nicht so unmittelbar betreffen. 152 Das Nebeneinander von gemeinsprachlichem und fachsprachlichem Gebrauch zeigt sich z. B. beim Gebrauch des Ausdrucks Schmerz, dies wird in Kapitel 3 ausführlich zu beschreiben sein. Dieser Prozeß eines sich allmählich entwickelnden fachsprachlichen Gebrauchs gemeinsprachlicher Ausdrücke vollzieht sich nicht bei allen diesen der Alltagssprache entlehnten Ausdrücken. Bei einem großen Teil der sowohl von Ärzten als auch von Nicht-Ärzten im Zusammenhang mit medizinischen Sachverhalten verwendeten Ausdrücke ist der Gebrauch terminologisch nicht festgelegt, d. h. nicht fachsprachlich. Im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient sind damit folgende drei Gesichtspunkte wesentlich: (iv) medizinische Termini aus dem Lateinischen, Griechischen; Abkürzungen153 (v) fachsprachlich gebrauchter gemeinsprachlicher Ausdruck (vi) gemeinsprachliche Ausdrücke, die bei der Beschreibung medizinischer Sachverhalte gebraucht werden. 154 Bei den unter (v) und (vi) genannten Ausdrücken kann nur kommunikativ geklärt werden, ob sie fachsprachlich oder gemeinsprachlich gebraucht sind, d. h., ihre fachsprachliche oder gemeinsprachliche Bedeutung ist durch ihren Gebrauch in Koimunikationen zwischen Arzt und Patient bestimmt. Der Ausdruck medizinischer Sachverhalt ist im allgemeinsten Sinne zu verstehen, dazu gehören alle Äußerungen, die im Zusammenhang mit einer Krankheit oder dem Befinden des Patienten gemacht werden. Eine genauere Festlegung würde die Untersuchung des Gebrauchs gemeinsprachlicher Ausdrücke in unzulässiger Weise einschränken. Hier muß auf die Zusammenhänge in der Kommunikation verwiesen werden. Bei den unter (iv) genannten medizinischen Termini entstehen Probleme etwas anderer Art, sie sind nur unter dem Aspekt interessant, wie die Gesprächspartner auf den Gebrauch solcher Termini reagieren. 151 Michler/Benedum 1972, 6; vgl. Fluck 1976, 27 - 46 152 Vgl. Fluck 1976, bes. 3O: Entwicklung der mathematischen Fachsprache 153 Lippert 1978, 95, weist darauf hin, daß vor allem in der ärztlichen Umgangssprache Abkürzungen gebräuchlich sind. 154 Vgl. Rieser 1977, 58; Wiegand 1979b, 44

26

Für die Untersuchung ergeben sich folgende Gesichtspunkte: (vii) Wer gebraucht die unter (iv) bis (vi) genannten Ausdrücke? (viii) Entstehen / Entstehen nicht durch den Gebrauch der unter (iv) bis (vi) genannten Ausdrücke Kccrmunikationskonflikte? Erstrebenswert im Zusammenhang mit (viii) ist die Aufstellung einer Liste von Sprechhandlungen, die Kctmrunikationskonflikte zur Folge haben. Im Rahmen dieser Arbeit kann es jedoch zunächst nur darum gehen, bestehende Kcnmunikationskonflikte aufzudecken und den Grund ihres Zustandekcninens zu interpretieren.

27

DAS TEXTKDRPUS

2.1

Bemerkungen zur Herstellung von Textkorpora

Für die Untersuchung alltagsweltlicher Komtunikation in bestimmten Situationen bedarf es einer Materialbasis, die nicht im Labor, sondern im "Feld" gewonnen werden muß. Das Material muß also authentisch sein, d. h., der Untersuchung müssen tatsächlich geführte Gespräche in bestimmten Situationen zugrunde liegen, wenn das Ziel der Analyse ist, Aussagen über gesprochene Sprache zu machen. Kennzeichnend für Gespräche, für gesprochene Sprache, ist, daß sie in verschiedenen Situationen mit unterschiedlichen Absichten zu allen möglichen Zwecken produziert werden können. Im Gegensatz zur geschriebenen Sprache entsteht gesprochene Sprache spontan, ein Sprecher formuliert frei ohne Vorlage und vorherige Absprache. Die Übermittlung an einen Hörer erfolgt direkt, dabei werden nicht nur die akustischen Signale übermittelt, sondern auch außersprachliche Signale wie Blicke, Gesten usw. Spontanes, freies Formulieren und dessen sofortige Übermittlung bedeutet gleichzeitig Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. Voraussetzung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Gegenstand ist seine Verfügbarkeit, gesprochene Sprache muß also so do2 kumentiert werden, daß sie jederzeit abrufbar ist. Bei der Dokumentation gesprochener Sprache gibt es zwei Möglichkeiten: durch sogenannte Beobachterprotokolle und durch technische Hilfsmittel wie Tonbandgeräte oder Videorecorder, die Verwendung des letzteren ermöglicht auch die Dokumentation nonverbaler Äußerungen wie Blicke, Gesten usw. Die nachträgliche oder auch simultane Notierung eines Gesprächs durch einen Beobachter ist wissenschaftlich nur brauchbar, wenn die Kriterien der Notierung angebbar 1

2 3

Labov 1973, 142 ("Feldarbeit"), 125 - 139, kritisiert die herkömmlichen sprachwissenschaftlichen Methoden, wenn deren Verfechter die Unabhängigkeit sprachwissenschaftlicher Theorie von im Feld erhobenen sprachlichen Daten postulieren. Auf die in diesem Abschnitt dargestellten Probleme wird in der Literatur häufig hingewiesen, ich nenne stellvertretend: Berens 1976a, Schank/ Schoenthal 1976, 7 ff Vgl. Labov 1973, 142 - 156

28

sind. Die empirische Sozialforschung versuchte, solche Kriterien systematisch zu erfassen; der Beobachter wird so geschult, daß er die Ereignisse den situa4 tionsexternen Kategorien zuordnen kann. Läßt man einmal unberücksichtigt, daß die Auffassungskapazität eines oder mehrerer Beobachter bei relativ schnell ablaufenden simultanen Vorgängen begrenzt ist,

so bleibt doch noch ^as gene-

relle Problem bestehen, daß die Zuordnung zu bestimmten Kategorien, während gleichzeitig das Gesprochene gehört wird, bereits eine nicht mehr korrigierbare Interpretation und Strukturierung des Materials bedeutet. Demgegenüber haben Tonbandaufnahmen den Vorteil, Haß sie eine dem Original angenäherte Fassung wiedergeben. Der Nachteil von Tonbandaufnahmen ist, daß nonverbale Äußerungen wie Blicke, Gesten usw. nicht dokumentiert werden. Abhängig vom jeweiligen Untersuchungsbereich und Untersuchungsgegenstand ist eine Vernachlässigung solcher Äußerungen zulässig.

2.1.1

Korpusbildung und Materialerhebung

In den letzten Jahren wurden innerhalb der medizinischen Forschung Herz-Kreislauf-Erkrankungen wegen ihrer steten Zunahme und Verbreitung besonders intensiv untersucht. Eine besondere Rolle spielt die "primär präventiv-medizinisch orientierte Forschung"; die "interdisziplinäre(n) epidemiologische(n) Herzinfarktforschung" der Medizinischen Universitäts-Klinik Heidelberg war zunächst auf den Heidelberger Raum beschränkt.

Im Auftrag des Bundesministers für Ju-

gend, Familie und Gesundheit erfolgte 197O die Einrichtung des WHOHerzinfarktregisters, d. h., im Stadt-· und Landkreis Heidelberg werden "alle neu auftretenden Fälle mit Herzinfarkt erfaßt und jährlich nachbeobachtet".

Seit 1973

sind die Gemeinden Wiesloch und* Eberbach in das umfassende Projekt der "kommunale (n) Prävention" einbezogen. Dieses Vorsorgeprojekt, an dem inzwischen die Hälfte der niedergelassenen Ärzte beteiligt ist,

ist "in der Welt einmalig und

gleichzeitig ein Beispiel einer ( . . . ) engen Kooperation zwischen Klinik und g Praxis ( . . . ) zwischen wissenschaftlicher und praktizierender Medizin". Das Projekt wird von der Bevölkerung mit großem Engagement unterstützt, die "Zeit" 4

Henne/Rehbock 1979, 44

5 6 7 8

Buchholz 1979, l Buchholz 1979, 2 Buchholz 1979, 2 Forschung in freier Praxis 1976, 2

29 9

schreibt, aas Projekt sei verwirklichte "Gesundheits-Basisdemokratie". Das für die Untersuchung zur Verfügung stehende Textkorpus, Gespräche zwischen Arzt und Patient, die in der Klinik und in Praxen geführt wurden, ist im Zusaimienhang mit diesen Forschungsprojekten zu sehen. Die von der Medizinischen Universitätsklinik Heidelberg, Abteilung Klinische Sozialmedizin, zur Verfügung gestellten Gespräche sind Anamnesegespräche im Rahmen präventiver Maßnahmen, während die in den Praxen geführten Gespräche im weitesten und allgemeinsten Sinn die Heilung des Patienten zum Ziel hatten. Die Gespräche haben also aus rein medizinischen Gründen stattgefunden. Es handelt sich damit um alltägliche Gespräche, die nicht zum Zwecke der vorliegenden Untersuchung geführt wurden. Die Gespräche wurden von dem betreffenden Arzt mit einem Kassettenrecorder aufgenommen. Anwesend während des Gesprächs waren also nur Arzt und Patient. Die Information über das Forschungsvorhaben war für alle am Gespräch Beteiligten standardisiert, die Ärzte erhielten ein ausführliches Arbeitspapier, das auf ihren ausdrücklichen Wunsch über die Ziele des Vorhabens informierte. Im Hinblick auf das Arztgeheimnis und den damit zusammenhängenden menschlichen und rechtlichen Problemen ist ein solcher Wunsch nicht nur verständlich, sondern sehr berechtigt. Die Ärzte hatten also Kenntnis von der Hypothese der Untersuchung, daß im Arzt-Patienten-Gespräch Kommunikationskonflikte entstehen können. Ein eventuell dadurch verschärft auftretendes "Beobachter-Paradoxon" muß in Kauf genommen werden. Die Patienten wurden vor der Aufnahme um ihr Einverständnis gebeten. Ihnen war nur bekannt, daß das Gespräch wissenschaftlich ausgewertet werden sollte. Waren die Patienten nicht einverstanden, wurde das Tonbandgerät entfernt. In der Universitätsklinik Heidelberg wurden während einer Woche im September 1980 alle Patienten, insgesamt sechs, die zur Untersuchung kamen, zunächst befragt. 12 Von diesen sechs Patienten waren fünf damit einverstanden, daß das Gespräch dokunentiert wird. An einigen Tagen im Oktober und November 198O wurden von zwei niedergelassenen Fachärzten der Inneren Medizin aus Eberbach und Wiesloch sieben bzw. fünf Gespräche aufgenommen. Von den sieben von Arzt AAA 9 1O

1 12

Clemens, in: Die Zeit 1981, Nr. 21, 63; vgl. "Umsonst gelitten", in: Der Spiegel 1981, Nr. 23, 191 - 196 Nüssel 1968, 47: Die "Anamnese (ist) als Vorgang und Ergebnis der Erhebung von Fakten aus der Vorgeschichte des Kranken zu definieren. Die Erhebung beschränkt sich nicht auf Daten der Krankheit selbst (Nosographie), sie umfaßt vielmehr alle medizinisch-relevanten Bereiche der Vorgeschichte". Labov 1973, 147 Aus Gründen der Anonymität ist eine genauere Angabe des Datums nicht möglich.

30

wurden drei ausgewählt, die vier nicht dokumentierten waren wegen sehr starker Nebengeräusche nicht rekonstruierbar. Die fünf Gespräche, von Arzt BEB aufgenommen, sind alle verschriftlicht. Mit den beiden Ärzten war verabredet, daß nur solche Gespräche mit dem (zu vermutenden) Thema Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufgenonmen werden sollten. Das Textkorpus hat eine Gesamtlänge von ca. vier Stunden vierzehn Minuten.

2.1.2 Materialaufbereitung Das umfangreiche empirische Material soll und kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Art der Dokumentation bereits einen Verlust an Information bedeutet. Mit Hilfe eines Tonbandes können außersprachliche Handlungen nur erfaßt werden, wenn sie akustisch übermittelt werden. Die Herstellung einer Transkription andererseits ist nicht "'exakt'" in dem Sinne, daß sie nur empirisch überprüfbare Fakten wiedergibt, sondern bereits bei der Verschriftlichung muß über unterschiedliche Möglichkeiten des Verstehens und des Konmentierens entschieden werden. Die Art der Dokumentation und der Transkription macht deutlich, daß ein wie auch immer zu verstehendes "Ideal der Genauigkeit" nicht verwirklicht werden kann.

Der Grad der Genauigkeit ist abhängig

von den Zielen und Fragestellungen der Untersuchung. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Analyse von Kommunikationskonflikten, die durch sprachliches Handeln entstehen. Zu untersuchen sind also in erster Linie sprachliche Äußerungen. Leitendes Prinzip bei der Transkription ist der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, es sollen deshalb nur solche Daten transkribiert werden, die auch tatsächlich untersucht werden. Wesentlich ist die Transkription sprachlicher Äußerungen; außersprachliche Merkmale, wie z. B. Lachen, Lautstärke, Betonung etc. haben im Hinblick auf das genannte Untersuchungsziel 14 nur Hilfsfunktion. 13

14

Wittgenstein PU 1977, § 88, 71: "'Unexakt 1 , das ist eigentlich ein Tadel, und 'exakt' ein Lob. Und das heißt doch: das Unexakte erreicht sein Ziel nicht so vollkommen wie das Exaktere. Da kommt es also auf das an, was wir 'das Ziel' nennen ( . . . ) . Ein Ideal der Genauigkeit ist nicht vorgesehen; wir wissen nicht, was wir uns darunter vorstellen sollen - es sei denn, du selbst setzt fest, was so genannt werden soll. Aber es wird dir schwer werden, so eine Festsetzung zu treffen; eine, die dich befriedigt." Zur Transkription gesprochener Sprache vgl. Ehlich/Schwitalla 1976. Die hier dargestellte Übersicht gebräuchlicher Transkriptionssysteme wird von den Autoren als "exemplarisch(e)" angesehen. Diskutiert werden der Konversationsanalytische Ansatz von Kallmeyer/Schütze (vgl. Kalimeyer/Schütze 1976/77), Halbinterpretative Arbeitstranskriptionen (HIAT) (vgl. Ehlich/

31

Die Notation der sprachlichen Äußerungen erfolgt im wesentlichen gemäß den Konventionen der standardsprachlichen Orthographie. Dialektismen und umgangssprachliche Verschleifungen werden nur erfaßt, wenn die Lesbarkeit gewährlei. ... 15 stet ist. Der Segmentierung liegen die Vorschläge der Freiburger Projekte zugrunde. Systematisch erfaßt werden: - lange, mittellange und kurze Pausen - Fragehandlungen. Fragehandlungen sind erkennbar an: - einem Frageprononen und/oder - der Wörtstellung und/oder - der steigenden Intonation. Nicht systematisch erfaßt werden außersprachliche Daten wie Lachen, besondere Hervorhebungen, Betonungen usw. Die Notation erfolgt dann, wenn solche Daten hinsichtlich des Untersuchungszieles wichtig erscheinen, sie sind als Kdttnentar des Transkribenten aufzufassen. Wie aus Abschnitt 1.2.1 zu ersehen ist, sind einige Situationsmerkmale der Arzt-Patienten-Kommunikation konstant: - die Teilnehmerzahl: zwei Sprecher - Öffentlichkeitsgrad: nicht öffentlich/nicht zugänglich - Koimunikationsort: das Sprechzimmer des Arztes in der Klinik bzw. in 18 der Praxis. Solche Merkmale werden als bekannt vorausgesetzt. Notiert werden variable Si19 tuationsmerkmale wie Zeitpunkt und Dauer der Konnunikation, Beruf und Alter des Patienten. Die in Abschnitt 1.2.1 genannten weiteren situativen Merkmale

15

16 17 18 19

Rehbein 1976), die Transkriptionsverfahren der Freiburger Projekte (vgl. z. B. Schank/Schoenthal 1976). Vgl. Zwirner/Bethge 1958, 34 ff schlagen die sogenannte literarische Umschrift vor. Kriterium dieser literarischen Umschrift ist die "leicht lesb a r e ( r ) Form", unberücksichtigt bleiben geringfügige "Fehlartikulationen", z. B. "gelegentliches Stottern und ähnliches", als Pausenfüller stehen die gebräuchlichen an und hm zur Verfügung. Abgewichen wird von der konventionellen Orthographie nur dann, wenn von der Standardsprache abweichende Lautverbindungen wiedergegeben werden sollen. Vgl. Bausch 1971, Müller 1971, Steger 1971 Bausch 1971, 39 Es handelt sich um das "Freiburger Modell", stellvertretend sei genannt: Schank/Schoenthal 1976, 29 ff; vgl. Abschnitt 1.2.1 Hier gelten die in Anmerk. 12 gemachten Einschränkungen.

32

wie 'Rang der Sprecher1, 'Themenbehandlung', 'Themafixierung1 und 'Situationsvertrautheit bzw. -distanz1 und ihr Zusammenhang mit den sprachlichen Äußerungen können nur interpretativ erschlossen werden. Die Zeichen sind:'20 1 2 3

lange Pause mittellange Pause

ZZZA, YYYA, XXXA,

kurze Pause mit nonverbaler Tätigkeit gefüllte lange Pause, entsprechend für mittellange und kurze Pausen nonverbale Äußerung Kcttmentar des Transkribenten unverständliche Äußerung längere unverständliche Äußerung Eigennamen, Ortsnamen simultanes Sprechen Fragehandlung abgebrochene Fragehandlung die Ärzte die Patienten des Arztes AAA

WWWB, WVB, UUUB, TTTB, SSSB

die Patienten des Arztes BBB

RRRC, QQQC, PPPC, OOOC, NNNC

die Patienten des Arztes CCC

1 SCHREIBT 1

LACHEN jaja

(LACHEND)

+

+

8

8 ·>

? ?

AAA, BBB, CCC

2O

Um eine gewisse Vereinheitlichung bei der Transkription zu erreichen, werden die Zeichen der beiden Freiburger Projekte übernommen, vgl. z. B. Schank/Schoenthal 1976, VIII

33 3

FACHSPRACHLICHER UND GEMEINSPRACHLICHER GEBRAUCH AM BEISPIEL DES AUSDRUCKS SCHMELZ

3.1

Wittgenstein über Sohnerz

Die Probleme des Ausdrucks Schmerz sind ähnlich vielschichtig wie die des Ausdrucks verstehen. Teilweise lassen sich die Erklärungsversuche, die im Zusammenhang mit verstehen gemacht wurden, heranziehen, das wird zu zeigen sein. Ziel der folgenden Ausführungen kann jedoch nicht sein, die Probleme, die der Ausdruck Schmerz beinhaltet, zu lösen; es kann nur darum gehen, die Vielschichtigkeit dieser Probleme aufzuzeigen, um daraus eventuelle Folgerungen für den Gebrauch des Ausdrucks Schmerz im Arzt-Patienten-Gespräch zu ziehen. Zunächst sind vier Fragen zu diskutieren: (i) Ist das, was wir empfinden, wenn wir Schmerzen haben, ein seelischer Vorgang, von dem nur der wissen kann, der den Schmerz empfindet? (ii) Welche Folgerungen ergeben sich aus der Verneinung bzw. Bejahung dieser Frage? 2 (iii) "Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen?" (iv) Wie gebrauchen wir den Ausdruck Schmerz? 3.1.1 Die private Sprache Der Idee der privaten Sprache, wie sie vor allen Dingen von den Anhängern der cartesianischen Philosophie vertreten wird, liegt die Annahme eines Dualismus der Innen- und Außenwelt zugrunde; man kann zwischen dem inneren Vorgang des Verstehens, des Schmerzes und der Äußerung selbst unterscheiden. Anders ausgedrückt, man muß gemäß dieser Theorie trennen zwischen inneren Erlebnissen, 1

2 3

Den folgenden Ausführungen liegen vor allem die Interpretationen von Pitcher 1967, Cook 1968, Donagan 1968, Feyerabend 1968, Rhees 1968, Kenny 1974 zugrunde. Die zum Teil kontroversen Positionen können nicht in allen Einzelheiten aufgezeigt und diskutiert werden. Wittgenstein PU 1977, § 244, 14O Malcolm 1968, 66; vgl. Donagan 1968, 324/325

34

die jeder nur für sich privat hat, und einem äußeren Bereich, nur innerhalb dieses äußeren Bereichs ist eine allgemeine Verständigung möglich. Im Zusammenhang mit dem Ausdruck verstehen wurde bereits deutlich, daß Wittgenstein 4 einen so konstruierten "geistigen Mechanismus" ablehnt. Die Gründe für diese Ablehnung werden am Beispiel Sahmerz erneut dargestellt, die Argumentation ist hier differenzierter. Die Kritik an der cartesianischen Idee des "geistigen Mechanismus" richtet sich - gegen die Annahme einer privaten Sprache - gegen empirisch orientierte Hinweisdefinitionen. Unter privater Sprache ist zu verstehen, daß jemand seine inneren Erlebnisse, Stinmungen nur für seinen eigenen Gebrauch aufschreiben oder aussprechen kann. Die Wörter dieser Sprache sollen sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann, auf seine privaten Empfindungen. Die Existenz einer privaten Sprache impliziert die MSglichkeit, daß eine Verbindung zwischen innerem Vorgang und Äußerung mittels privater Definition des Subjekts hergestellt werden kann. Jemand soll über die Wiederkehr einer bestimmten Empfindung E Tagebuch führen - so im von Wittgenstein konstruierten Beispiel. Das Benennen von E, die "hinweisende Definition" soll dadurch erfolgen, daß der Betreffende seine Aufmerksamkeit nur auf E richtet und "gleichsam im Innern" auf sie zeigt. Die private Definition von E ist aber nur dann sinnvoll, wenn sich derjenige in Zukunft stets richtig an sie erinnert. Richtig kann aber hier nur heißen übereinstimmend mit der Definition. Richtig existiert innerhalb der privaten Sprache nicht, richtig heißt hier, "was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von 'richtig' nicht geredet werden kann". Wenn die Unterscheidung von richtig und nicht-richtig nicht mehr zu 9 treffen ist, entfällt richtig. Der Gebrauch von richtig beruht auf privaten Regeln, "Eindrücke(n) von Regeln". Die Möglichkeit der privaten Regel ist ausdrücklich ausgeschlossen, denn es ist ein Unterschied, ob man einer Regel Q

4 5 6 7 8 9 10

Wittgenstein PU 1977, § 689, 272 Baker/Hacker 198O, 169 ff; vgl. Donagan 1968, 337 ff; Malcolm 1968, 66 ff; Rhees 1968, 267 ff, 273 ff; Kenny 1974, 21O Wittgenstein PU 1977, § 243, 139/14O; vgl. im folgenden Donagan 1968, 338 ff; Malcolm 1968, 66 f Wittgenstein PU 1977, § 258, 145 Wittgenstein PU 1977, § 258, 145 Vgl. Malcolm 1968, 68; Donagan 1968, 339; Kenny 1974, 223 ff Wittgenstein PU 1977, § 259, 145; vgl. Malcolm 1968, 71 ff

35

folgt oder ob nan einer Regel zu folgen glaubt.

Regeln sind "Gepflogenhei-

Der Gebrauch des Ausdrucks richtig ergibt sich also nicht mittels privater Festsetzung, sondern er ist Teil einer Lebensform/ eines Sprachspiels. Die Anwendung von richtig setzt voraus, daß Instanzen außerhalb des einzelnen vorhanden sind. Diese Instanzen sind aber genau dann nicht mehr vorhanden, wenn die Unterscheidung richtig/nicht-richtig jedem selbst überlassen bleibt. 14 Die Kritik an der Hinweisdefinition Die bisherigen Überlegungen haben möglicherweise den Eindruck erweckt, daß das Problem der privaten Sprache sich von selbst löse, wenn es nur gelänge, jenen inneren Vorgängen, Empfindungen, einen Namen zu geben, sie zu benennen, sie zu '"bezeichnen1", so daß sie jedermann versteht. Der Gebrauch von bezeichnen und benennen ist dann am einsichtigsten, wenn dem Gegenstand "ein Namenstäfelchen" angeheftet ist. Diese hinweisende Definition ist jedoch nicht eindeutig. Zeigt jemand ein rotes Blatt Papier mit den Worten: "'das heißt 'rot 1 '", so ist die Annahme, daß der andere "'Papier1, 'Viereck1, 'grell', 'leicht', 'dünn'" usw. versteht, nicht nur rein theoretisch. 18 Die Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem erklärt nicht automatisch die Bedeutung eines Wortes. Die hinweisende Definition ist nur dann sinnvoll, "wenn es sehen klar ist, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll." 19 Wesentlich für das Verstehen von "'das heißt 'rot' 1 " ist der Gebrauch des Wortes rot. Jemand, der diese Erklärung verstehen soll, muß z. B. wissen, daß es sich bei rot im eine Farbe handelt, und nicht un eine Eigenschaft, daß es unterschiedliche Farben gibt, Farbschattierungen von rot usw. H 12 13 14

Wittgenstein PU 1977, § 2O2, 128; vgl. Malcolm 1968, 71 ff Wittgenstein PU 1977, § 199, 127 Vgl. Wittgenstein PU 1977, § 265, 147 Kenny 1974, 223 f f , referiert mögliche Einwände gegen diese Anschauungen; Donagan 1968, 338 ff, zeigt, daß die Argumente nur stichhaltig sind, wenn man die Annahme akzeptiert, daß es sich bei dem -Spiel um ein Sprachspiel handelt. 15 Wittgenstein PU 1977, § 15, 22 16 Wittgenstein PU 1977, § 15, 22; § 2 6 , 3O 17 Wittgenstein PU 1977, § 28, 31 18 Wittgenstein PG 1978, § 24 f f , 6O ff; vgl. dazu Kenny 1974, 184 ff; Rhees 1968, 270 ff; Pitcher 1967, 341 ff 19 Wittgenstein PU 1977, § 3O, 33 20 Vgl. Kenny 1974, 185; Rhees 1968, 27O ff; Pitcher 1967, 341 ff

36

Die hinweisende Definition "'das heißt 'rot 1 '" ist damit nur innerhalb des Sprachspiels Rot verständlich. Die Argumente lassen sich auf den Benennungsvorgang Empfindung - E übertragen: "Und wenn wir davon reden, daß Einer dem Schmerz einen Namen gibt, so ist die Grammatik des Wortes 'Schmerz' hier das Vorbereitete; sie zeigt 9 11 den Posten an, an den das neue Wort gestellt wird."^

Qiarakteristikum der privaten Sprache ist aber gerade, daß nichts vorbereitet ist, geschweige denn eine Grammatik von E. Verstehen ist nicht schon dann gegeben, wenn man einem Ding einen Namen gibt. Die Kenntnis des Namens E ist nicht gleichbedeutend mit verstehen, was mit E gemeint ist. Die Benennung der Empfindung mit E ist nur dann sinnvoll, wenn der Gebrauch von E innerhalb des Sprachspiels Empfindung klar ist. 3.1.2 Folgerungen aus der Widerlegung des Privatsprachenarguments Die Widerlegung der Theorie der Privatsprache stützte sich bisher im wesentlichen auf die Gebrauchstheorie der Bedeutung. Einige dieser Argumente sind aus Abschnitt 1.1 bereits bekannt. Ein wesentlicher bis jetzt nicht erwähnter Unterschied zwischen Ausdrükken wie verstehen und Schmerz ist, daß man zwar bei dem Ausdruck verstehen nicht trennen kann zwischen "geistigem Mechanismus" und Wortäußerung, wie zu zeigen versucht wurde. Es ist aber unübersehbar, daß sich irgend etwas, wie inner man es nennen will, im Innern, im Körper, wo immer es anzusiedeln ist, abspielt, wenn jemand sagt, er habe Schmerzen. Die Konsequenz, die man daraus ziehen kann, ist, daß Empfindungen private Vorgänge sind, die zwar nicht unbedingt im Körper zu lokalisieren sind, aber vielleicht in einem ""yet unexplored medium' of the mind". 22 Das heißt, daß niemand die Schmerzen des ändern fühlen kann, niemand kann wissen, ob der andere Schmerzen hat. Empfin23 düngen sind etwas Privates im Sinne von unveräußerlich. Die Verfechter dieser Annahme gehen davon aus, daß aufgrund der Gleichheit der inneren Erfahrungen es möglich sei, Beziehungen zwischen den eigenen Schmerzen und denen des anderen herzustellen. 24 Die Forschung versucht zu zeigen, daß Wittgenstein solche Annahmen widerlegt. Ausgangspunkt der Argumentation sind im wesent21 22 23 24

Wittgenstein PU 1977, § 257, 145 Donagan 1968, 337 Vgl. Cook 1968, 296; Donagan 1968, 337 ff; Malcolm 1968, 75; Kenny 1974, 216 Malcolm 1968, 75

37

liehen die drei folgenden Gesichtspunkte: (i) ich weiß, daß ich Schmerzen habe (ii) das Kriterium der Identität26 (iii) die Differenz von iah habe Schmerzen und er hat Schmerzen.

Ich weiß, daß ich Schmerzen habe Die Unsinnigkeit bzw. Falschheit dieser Äußerung beruht laut Wittgenstein auf ?R dem hier intendierten Gebrauch von rissen. Der Gebrauch von wissen impliziert die Möglichkeit des Zweifels, der Negation. Ich zweifle, ob ich Schmerzen habe, ich weiß nicht, ob ich Schmerzen habe ist sinnlos, denn das Kriterium von Wissen und Nicht-Wissen/Zweifel ist subjektiv, d. h. allein von der betreffenden Person abhängig, und nicht mehr in ein Sprachspiel integriert. 29 Dagegen kann die Äußerung andere wissen, daß ich Schmerzen habe sowohl bezweifelt als auch negiert werden. Missen in diesem Sinne gebraucht, schließt damit die Möglichkeit des Zweifels/der Negation ein. Die intendierte Bedeutung von ich und wissen ist gerade deshalb '"unsinnig1", weil sie diesen Zweifel 3O ausschließt. Vergleicht man Äußerungen wie ich habe Schmerzen mit es regnet so wird deutlich, warum die Äußerung ich weiß, daß ich Schmerzen habe nicht bezweifelt werden kann. Es sind Situationen möglich, in denen die Äußerung es regnet bezweifelt werden kann, z. B. weil nur A, aber nicht B zum Fenster hinaussehen kann, oder A hat bereits Regentropfen gespürt, B jedoch nicht; es ist im Gegensatz dazu keine Situation denkbar, die es erlaubt, die Äußerung ich habe Schmerzen mit ähnlichen Erfahrungszusammenhängen zu verbinden. Cook legt dar, daß die Äußerung ich weiß, daß ich Schmerzen habe nur dann sinnvoll ist, wenn sie Ausdruck der Erbitterung, nicht aber des Zweifels ist. Die Begleitumstände umschreibt Cook so: Jemand (A) hat seit mehreren Tagen Schmerzen. Der andere (B) rät ihm, doch endlich zum Arzt zu gehen, da er offensichtlich 25 26 27 28 29 30 31

Wittgenstein PU 1977, § 246, 141; vgl. § 293, 157; § 3O2, 159; § 3O3, 16O Wittgenstein PU 1977, § 253, 143 Wittgenstein PU 1977, § 35O, 175. Die drei genannten Gesichtspunkte werden z. B. diskutiert von: Cook 1968, Donagan 1968, Malcolm 1968 Wittgenstein PU 1977, § 246, 14O Wittgenstein PU 1977, § 288, 155/156 Kenny 1974, 216/217 Cook 1968, 292 ff; Kenny 1974, 218, sieht das Mißverständnis darin, daß die Aussage ich habe Schmerzen als empirische Aussage aufgefaßt wird; vgl. Wittgenstein PU 1977, § 251, 142

38

Schmerzen habe. Äußert A nun: "ich weiß, daß ich Schmerzen habe, aber ich kann mir keinen Arzt leisten", so gibt A mit der Äußerung ich weiß, daß ich Schmerzen habe seiner Entrüstung Ausdruck, nicht aber einem Zweifel/Nicht-Zweifel. 32 Das Kriterium der Identität

"Welches sind meine Schmerzen? Was gilt hier als Kriterium der Identität?" Die erste Frage läßt sich einfach beantworten, wenn es sich um meine Schmerzen handelt, dann sind es Schmerzen, die ich habe. Ersetzt man Schmerzen in ich habe Schmerzen durch Mantel, wird deutlich, daß Schmerzen-Haben und EinenMantel-Haben zwei verschiedene Sprachspiele sind. Einen Mantel kann man ausziehen, verschenken, er ist eines Tages abgetragen und wird weggeworfen usw. Die Beispiele zeigen, daß die Analogie nur scheinbar ist, denn Schmerzen-Haben ist nicht gleich Einen-Besitz-Haben. 34 Das Possessivpronomen mein in Verbindung mit Schmerz zeigt kein Besitzverhältnis an wie in der Konstruktion mein Mantel, da "es sehr verschiedene Kriterien der 'Identität' der Person gibt". Zu unterscheiden ist der unterschiedliche Gebrauch des Personalpronomens ich: (1) (2) (3) (4)

'" Ich "'Ich "'Ich "'Ich

bin zehn Zentimeter gewachsen'" habe eine Beule auf meiner Stirn1" höre so-und-so1" habe Zahnschmerzen1".36

In den Sätzen (1) - (2) handelt es sich um den "'Objektgebrauch'", in (3) und (4) um den '"Subjektgebrauch1" von ich. Im ersten Fall geht es darum, daß man denjenigen, der (1) bzw. (2) geäußert hat, im Unterschied zu anderen erkennt. Wie bei wissen gehören Zweifel und Irrtum zum Sprachspiel. Objektgebrauch heißt, daß mit der Person ich etwas geschieht, geschehen ist oder geschehen soll. Die Kriterien jenes Etwas, hier zehn Zentimeter1 wachsen bzw. eine Beule haben, müssen angebbar sein, sie dürfen nicht nur von der betreffenden Person abhängen, sondern müssen auf einer "Übereinstimmung in den Urteilen" beruhen. 38 In (3) und (4) handelt es sich um den Subjektgebrauch von 32 33 34 35 36 37 38

Cook 1968, 291 Wittgenstein PU 1977, § 253, 143 Cook 1968, 310; vgl. Kenny 1974, 219 Wittgenstein PU 1977, § 4O4, 192 Wittgenstein BB 198O, 1O6 Wittgenstein BB 198O, 1O6 Wittgenstein PU 1977, § 242, 139

39

ich, weil die Kriterien von so-und-so hören bzw. Zahnschmerzen haben subjektiv in dem Sinne sind, daß sie allein von der betreffenden Person abhängen. Zweifel und Irrtum sind deshalb ausgeschlossen. Auch kann sich der Träger der Schmerzen nicht mit sich selbst identifizieren. Das Kriterium der Identität entfällt, wenn die ^ßglichkeit der falschen und richtigen Identität nicht gegeben ist: ich kann nicht eine andere Person für mich selbst halten bzw. "vor 39 Schmerz (zu) stöhnen und dabei jemand anderen für mich selbst (zu) halten". Das Kriterium der Identität/Nicht-Identität ist nur innerhalb eines Sprachspiels sinnvoll, in dem die allgemeinen Bedingungen dessen, was als identisch zu gelten hat, bekannt sind: 40 "Nun, welches ist es, das mich bestimmt zu sa41 gen, 'ich1 habe Schmerzen? Gar keins." Eine Aussage in der ersten Person 42 Präsens ist "der Äußerung verwandt", d. h., der Träger des Schmerzes ist 43 derjenige, der ihn äußert. Meine Schmerzen bedeutet also, daß ich derjenige bin, der sie äußert, sie besagen nichts über den Träger des Schmerzes.

Er hat Schmerzen / ich habe Schmerzen "Denn dieser Teil der Grammatik ist mir wohl klar: daß man nämlich sagen werde, der Ofen habe das gleiche Erlebnis wie ich, wenn man sagt: er habe Schmer44 zen und ich habe Schmerzen." Die Differenz, die hier gemeint ist, beruht einerseits auf dem Gebrauch der Personalpronomen ich und er, andererseits auf dem Gebrauch von wissen. Im vorigen Abschnitt wurde dargelegt, daß ein Identitätskriterium beim Subjektgebrauch von ich entfällt. Der Gebrauch von er impliziert sowohl die Möglichkeit des Irrtums als auch des Zweifels. Die "dritte Person des Präsens (ist) durch Beobachtung zu verifizieren, die erste Person nicht." Er hat Schmerzen ist eine "Mitteilung" über jemand. Diese Mitteilung kann falsch oder richtig sein, sie kann bezweifelt oder nicht bezwei39 40

41 42 43 44 45 46

Wittgenstein BB 198O, 1O7 Vgl. Cook 1968, 315 ff, zeigt am Beispiel von dies im Satz "'Aber der Andre kann doch nicht DIESEN Schmerz haben!'" (Wittgenstein PU 1977, § 253, 143), daß dies kein Kriterium der Identität ist: "the word 'this 1 can be used to refer to a particular pain or build only in accordance with the criterion of identity provided by the use of the general term". Wittgenstein PU 1977, § 4O4, 192; vgl. , 3 4 Wittgenstein Zettel 197O, 383 Wittgenstein PU 1977, § 3O2, 16O; vgl. Kenny 1974, 22O Wittgenstein PU 1977, § 35O, 175; vgl. z. d. Abschnitt Cook 1968, 296 3O6; s. a. Pitcher 1967, 33O ff Wittgenstein Zettel 197O, 383 Wittgenstein Zettel 197O, 383

40

felt wann gen, mung

werden. Zweifel und Wissen sind Teil des Sprachspiels, da die Kriterien, Zweifel angebracht bzw. nicht angebracht sind, außerhalb des Selbst lienicht subjektiv sind, sondern auf einer Übereinkunft, einer "Ubereinstimin den Urteilen" beruhen. 47

3.1.3 "Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen?" In den vorangegangenen Abschnitten wurde die These der Privatheit von Empfindungen widerlegt, Schmerzen sind nicht privat im Sinne von unveräußerlich. Die Mitteilbarkeit von Enpfindungen beruht nicht, wie von den Anhängern der cartesianischen Theorie unterstellt, auf der Gleichheit der inneren Erlebnis49 50 se, sondern der Mensch lernt den "Begriff 'Schmerz'" mit der Sprache. Zunächst ist der Ausdruck der Empfindung nicht artikuliert: das Kind schreit, stöhnt, weint, zuckt zusammen usw. Mit dem "ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung" werden Worte "verbunden und an dessen Stelle gesetzt." Ein Kind schreit, weil es sich verletzt hat, Erwachsene kommen, sprechen mit ihm, "bringen ihm Ausrufe, später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehinen". Wörter wie Schmerz werden in Verbindung mit dem natürlichen Ausdruck gelernt. Wahrscheinlich ist die unartikulierte Schmerzäußerung die einzige Möglichkeit, Empfindungswörter zu lernen. Wenn Menschen ihren Schmerz nicht äußerten, ist es unmöglich, einem Kind "den Gebrauch des Wortes 'Zahnschmerzen'" 52 beizubringen, die private Benennung ist ja ausdrücklich ausgeschlossen. Die Verknüpfung von Wortausdruck und Empfindung ist jedoch nicht so zu verstehen, 47

48 49 50 51 52

Wittgenstein PU 1977, § 242, 139; vgl. zu diesem Abschnitt: Seebaß 1981, 126/127, Anmerk. 125, kritisiert Wittgensteins Auffassung: "Und wäre es sprachtheoretisch plausibel, in einer propositionslos 'performativen' Analyse anzunehmen, daß ein unzweifelhaft prädikativer Satz wie 'Er hat Schmerzen' durch bloße Substitution des Pronomens der dritten durch eines der ersten Person seine semantische Struktur so radikal ändert? Nur unter eklatanter Mißachtung der strukturellen Zusammenhänge ist eine nichtprädikative Analyse durchführbar." Es würde zu weit führen, auf die Kritik im einzelnen einzugehen, sicher sind die Ausführungen Wittgensteins nur "richtig", wenn man die Annahme der Verschiedenartigkeit der Sprachspiele akzeptiert. Vgl. Kenny 1974, 216 Malcolm 1968, 66 Wittgenstein PU 1977, § 384, 185 Wittgenstein PU 1977, § 244, 14O; vgl. Donagan 1968, 342 ff Wittgenstein PU 1977, § 257, 144; vgl. Donagan 1968, 343

41

"daß das Wort 'Schmerz1 eigentlich das Schreien bedeute".

Der natürliche

Ausdruck der Empfindung wird durch den "Wortausdruck des Schmerzes ersetzt 54 ( . . . ) " , auch unabhängig von Auftreten dieser Empfindung.

Die Ersetzung ist nicht im Sinne einer Beschreibung zu verstehen. "'Beschreibungen ' ( . . . ) sind Instrumente für besondere Verwendungen", denn Ziel von Beschreibungen ist, in erster Linie deutlich zu machen, wie etwas gebaut, angefertigt werden kann. Die Sprachspiele Beschreiben meines Seelenzustandes und Beschreiben meines Zinmers sind unterschiedlich. Beim letzteren spielen Ausdrücke wie Größe, Länge, Höhe, Breite usw. eine Rolle, die BeSchreibungskriterien beruhen auf einer "Übereinstimmung in den Urteilen". 58 Wenn A äußert: "Die Wände meines Zinmers sind blau gestrichen. Das Zimner ist sehr groß", so versteht B, weil er weiß, daß mit blau eine Farbe gemeint ist, und nicht etwa die Beschaffenheit der Wände. A und B können sich auch darüber verständigen, was mit groß gemeint ist, indem A Angaben über Länge, Breite und Höhe macht. In Äußerungen wie iah habe große Schmerzen und gestern war ich sehr traurig ist die Verständigung darüber, was mit groß bzw. traurig gemeint ist, weitaus schwieriger. Es wäre sinnlos, hier Angaben über Länge, Breite oder Höhe zu machen. Wenn A äußert: "Ich liege den ganzen Tag im Bett, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, weil ich große Schmerzen habe bzw. weil ich traurig bin", so wird B eine ungefähre Vorstellung haben, was A mit groß bzw. traurig meint. A und B werden aber nie mit Sicherheit sagen können, ob groß im Zusammenhang mit Schmerzen für sie genau dasselbe bedeutet. Es kann für A bzw. B nur darum gehen, seinen Gebrauch von groß mit dem von B bzw. A zu vergleichen. Der Gebrauch von groß ist hier also ein anderer als in ein großes Zimmer, Es hieße allerdings die Position Wittgensteins mißverstehen, stellte man sich die Ersetzung der natürlichen Empfindung durch das Wort Schmerz als einen wie auch imner gearteten Mechanismus vor. Schließt man den Fall des Simulierens aus, so ist die Äußerung ich habe Schmerzen von einen Etwas beglei59 tet. "Und dieses Etwas ist das, was wichtig ist, - und schrecklich." Dieses Etwas ist die notwendige Begleiterscheinung, die ein Verstehen dessen, was 53 54 55 56 57 58 59

Wittgenstein Wittgenstein Wittgenstein Wittgenstein Vgl. Pitcher Wittgenstein Wittgenstein

PU 1977, § PU 1977, § PU 1977, § PU 1977, § 1967, 354 PU 1977, § PU 1977, §

2 4 4 , 14O 2 4 4 , 14O 291, 156; vgl. Pitcher 1967, 355 29O, 156 2 4 2 , 139 296, 158

42 mit Schmerz gemeint ist,

erst ermöglicht; zu dem Sprachspiel Schmerz gehört

"nicht nur das Paradigma des Benehmens, sondern auch Hag des Schmerzes",

6O

die Vorstellung von Schmerz ist Teil des Sprachspiels. Die Vorstellung des Schmerzes kann einem Bild entsprechen, sie selbst ist

aber kein Bild in dem

Sinne, daß etwas abgebildet, genau umrissen, sichtbar dargestellt wird.

3.1.4

Der Gebrauch des Ausdrucks Schmerz

Schmerzen sind nicht privat, der Gebrauch des Ausdrucks Schmerz kann zwar gelernt werden, aber es bleibt ein ungeklärter Rest, ein Etwas, eine Vorstellung. Was ist also Schmerz? "'Aber du wirst doch zugeben, daß ein Unterschied ist, zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen.' - Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! - 'Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts. 1 - Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will. Das Paradox verschwindet dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen - seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse, oder was immer." Die beiden zentralen Aussagen dieses Abschnittes sind: (i) Die Empfindung ist kein Etwas, (ii)

Die Empfindung ist kein Nichts.

Zu (i) Jeder Mensch lernt den Gebrauch des Ausdrucks Schmerz zunächst nur deshalb, weil die Möglichkeit der unartikulierten Äußerung besteht. Weil Etwas, das schrecklich ist,

existiert, findet ein Ausdruck wie Schmerz Eingang in

die Sprache. Hat man den Gebrauch von Schmerz gelernt, ist

seine Verwendung

unabhängig davon, ob man Schmerzen hat/nicht hat, ob man Schmerzbenehmen zeigt/nicht zeigt. 60

61 62

63

Das impliziert, daß der Gebrauch von Schmerz unabhängig

Wittgenstein PU 1977, § 3OO, 159. In Anlehnung an Wittgenstein PU 1977, § 321, 165/166, gebrauche ich den Ausdruck Begleiterscheinung. Wittgenstein spricht von den "charakteristischen psychischen Begleiterscheinungen des Verstehens". Ich bin der Ansicht, dieser Ausdruck kann auch im Zusammenhang mit Schmerz gebraucht werden. Donagan 1968, 33O ff Wittgenstein PU 1977, § 3O4, 16O/161; vgl. zu dem gesamten folg. Abschnitt: Donagan 1968, 344 f f . - In Anlehnung an Donagan 1968 bin ich der Auffassung, daß hier der Schlüssel zum Verständnis der Wittgensteinschen Position liegt. Donagan 1968, 345

43

davon ist, ob im Innern etwas vorgeht, über dieses Etwas wird nichts ausgesagt, die Kriterien von Etwas sind nicht Teil des Sprachspiels. Zu (ii) Diese Begleiterscheinungen der Empfindung sind nicht Nichts. Nimmt man an, jeder habe eine Schachtel, die etwas, was alle Käfer nennen, beinhaltet, niemand kennt den Inhalt der anderen Schachteln, jeder kennt Käfer nur aufgrund seiner eigenen Anschauung, so würde sich die Bedeutung des Wortes Käfer nicht verändern, selbst wenn Käfer sich fortwährend änderte, ja selbst, wenn die Schachtel leer wäre, nicht. Das Ding "hebt sich weg, was inner es ist. Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von 'Gegenstand und Bezeichnung1 konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus." 64 Wenn Schmers der Name von Empfindungen ist, wie z. B. Mantel der Name von Kleidungsstücken, dann ist es gleichgültig, was als Schmerz bezeichnet wird oder ob etwas als Schmerz bezeichnet wird.65 Das Vorhandensein des Gegenstandes Schmerz, d. h. die Begleiterscheinungen des Schmerzes, ist wesentlich. Uninteressant ist jedoch, was diese Begleiterscheinungen des Schmerzes sind oder ob diese Begleiterscheinungen von A und B in derselben Weise empfunden werden bzw. ob sich diese Begleiterscheinungen ändern/nicht ändern. 3.2

Der fachsprachliche Gebrauch des Ausdrucks Schmerz

Die bisherigen Überlegungen lassen sich etwa so zusammenfassen: eine Empfindung, die wir Schmerz nennen, ist ein Etwas, das sich nicht durch Kriterien beschreiben läßt, man gebraucht denselben Ausdruck. Welche Folgen hat diese Einsicht für das Arzt-Patienten-Gespräch? Der Patient ist in der Lage des Ich-Habe-Schmerzen, der Arzt dagegen in der Situation des Er-Hat-Schmerzen. Das Ich-Habe-Schmerzen ist für den Patienten von zentraler Bedeutung, denn Schmerz ist in vielen Fällen das äußere Zeichen der Krankheit. Eine Empfindung wie Schmerz ist Anlaß und Ursache, daß jemand den Arzt aufsucht, ist Zeichen dafür, daß jemand Hilfe braucht. Ich habe Schmerzen, unter diesen Umständen geäußert, kann deshalb als "Klage" oder als Bitte um Hilfe aufgefaßt werden. 68 Die Äußerung ist aber auch Ausdruck des 64 65 66 67' 68

Wittgenstein PU 1977, § 293, 157; vgl. Donagan 1968, 346/347 Donagan 1968, 347 Donagan 1968, 347 Wittgenstein PU 1977, § 3O4, 16O u. § 29O, 156 Wittgenstein PU 1977, IX, 3OO: "Also können die Worte 'Ich habe Schmerzen1 eine Klage, und auch etwas anderes sein."

44 CO

Schrecklichen,

das mit der Schmerzempfindung zusammenhängt, schließt man

den Fall des Simulierens einmal aus. Diese Begleiterscheinungen sind genuiner Teil dessen, was man gemeinhin als Sahmerz bezeichnet, insoweit wird der Arzt verstehen, was mit Ich habe Sahmerzen gemeint ist. Normalerweise wird der Arzt auch das Er-Hat-Schmerzen als gegeben ansehen und nicht zweifeln. So gesehen, ist die Position des Er-Hat-Schmerzen unproblematisch. Das Er-HatSchmerzen hat für den Arzt noch eine andere Funktion. Schmerz kann z. B. wesentliches Moment bei der Erstellung einer Diagnose sein, für den Arzt ist deshalb Ich habe Schmerzen weder eine Bitte noch eine Klage. Das Etwas, soll es für die Erstellung einer Diagnose von Belang sein, muß durch Kriterien beschreibbar sein, obwohl es eben gerade nicht durch Kriterien zu beschreiben ist. Sahmerz kann also, wenn es um die Erstellung einer Diagnose geht, kein Zug im Sprachspiel Umgangssprache sein, sondern nur ein Zug im Sprachspiel Fachsprache. Im Laufe seiner Ausbildung lernt der Arzt neue Gebrauchsweisen von Schmerz. In der medizinischen Literatur finden sich Kriterienkataloge, die es ermöglichen, Schmerzen im Umkreis bestimmter Organe zu beschreiben, um sie bestaunten Krankheitsbildern zuordnen zu können.

Diese Kriterien

beruhen auf Erfahrungswerten, die aufgrund der Angaben von Patienten gewonnen wurden.

3.2.1

Der Kriterienkatalog der WHO

In der Medizinischen Universitäts-Klinik Heidelberg wird zur Beschreibung von Schmerzen im Bereich des Herzens ein von der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) erstellter Fragebogen verwendet. Der Fragebogen wird den Patienten nicht vorgelegt, sondern der Arzt erfragt die Kriterien. Im WHO-Programm sind 22 Kriterien aufgeführt, zu allen diesen Kriterien werden weitere Fragen gestellt, insgesamt enthält das Programm 138 Fragen. Die 22 Kriterien werden drei Kategorien zugeordnet: (i) Kategorie ohne nähere Kennzeichnung (ii) "Spezifizierung der Beschwerden" 71 (iii) "Unspezifische Beschwerden". 69 70 71

Wittgenstein PU 1977, § 296, 158 Vgl. z. B. Janzen 197O, 27 ff WHO Herzinfarkt Programm Medizinische Universitäts-Klinik Heidelberg 1975

45

Zunächst folgt eine kurze Übersicht über die Kriterien, anschließend sollen einige Aspekte des fachsprachlichen Gebrauchs von Schmerz diskutiert werden. Kategorie ohne nähere Kennzeichnung "12. Jemals bzw. im Intervall Schmerzen oder Unbehagen in der Brust, z. B. in der Herzgegend?" 72 "16. Jemals bzw. im Intervall Druck-, Beengungs- bzw. Krampfgefühl?" "21. Jemals bzw. im Intervall einen sehr starken Schmerz quer durch die Brust, länger als 3O Minuten?" "Lokalisation der Beschwerden" "Ausstrahlungen der Beschwerden" "Belastungsabhängigkeit der Beschwerden" "Verstärkung oder häufigeres Auftreten der Beschwerden" "Reaktion des Patienten beim Auftreten der Beschwerden" "Verstärkung der Beschwerden in den letzten 28 Tagen" "Gleichbleiben der Beschwerden in den letzten 28 Tagen" "Spezifizierung der Beschwerden" "Stechen im Brustkorb" "Druck im Brustkorb" "Ziehen/Reißen im Brustkorb" "Brennen im Brustkorb" "Engegefühl im Brustkorb" "Unspezifische Beschwerden" "Unbehagen im Brustkorb" "Schweregefühl im Arm" "Ungewöhnliche Müdigkeit" "Ungewöhnliche Atemlosigkeit" "Herzklopfen" "Herzstolpern" "Sonstige Symptome, z. B. Schwindel, Schweißausbruch

etc."

Die Liste spiegelt recht eindrucksvoll die Probleme wider, die auftreten, wenn man die Erfindung Schmerz mit Hilfe von Kriterien beschreiben soll. Auf einige dieser Probleme soll im folgenden kurz hingewiesen werden. Die Ausführungen sind nur als Anmerkungen zu verstehen. 3.2.2 Bemerkungen zu den einzelnen Kriterien Schmerz wird nur zweimal gebraucht, in allen weiteren Fragen ist nur noch von Beschwerden die Rede, wenn es darum geht, die Brpfindung Schmerz zu beschreiben. In drei Vtörterbüchern steht unter dem Stichwort Beschwerde/Beschwerden folgendes: 72 73

Die Fragen l - 1O: persönliche Daten, Frage 11: "Reserve" WHO Herzinfarkt Programm Medizinische Universitäts-Klinik Heidelberg 1975

46

Das Grinmsche Wörterbudi enthält die Eintragung: "Beschwerde ( . . . ) 1. onus, moles, molestia, last, muhe, schmerz, häufig im pl. gebraucht (...) 74 2. guerela: beschwerde führen, über oder gegen einen; ( . . . ) "

Auch im "Duden" und in Wahrigs dtv-Vförterbuch der deutschen Sprache ist diese Einteilung im wesentlichen beibehalten: "Beschwerde ( . . . ) 1. a) (meist P l . > (selten) Anstrengung, Strapaze ( . . . ) 1. b) < P 1 . > Schmerzen, körperliches Leiden ( . . . ) 2. Klage, mit der man sich an höherer Stelle über jmdn. , etw. beschwert "Beschwerde 1 Mühe, Last, Mühsal, Mühseligkeit; ( . . . ) 2 < P l > ~ n körperl. Leiden, Schmerzen ( . . . ) 3 an zuständiger Stelle vorgebrachte Klage über jmdn. od. etwas ( . . . ) "

Der Vergleich dieser Eintragungen zeigt, daß die Ausdrücke Beschwerde und Schmerz synonym gebraucht werden können. Beschwerden kann aber auch im Sinne von 'sich beschweren1, 'Klage führen' gebraucht werden. Die Frage nach den Beschwerden ist deshalb nicht bloß als Frage nach den Empfindungen zu interpretieren, sondern als Frage nach solchen Empfindungen, über die der Patient Grund zur Klage hat. Als dritter Aspekt kotimt schließlich hinzu, daß der Arzt vom Patienten eine Beschreibung des Schmerzes erwartet, eine Beschreibung nach den Kriterien des fachsprachlichen Gebrauchs von Schmerz. Diese Vermutung ist naheliegend, denn Schmerzen-Haben hat für den Arzt eine andere Funktion als für den Patienten. ' Der Arzt muß eine Diagnose erstellen, Schmerz kann dafür der Ausgangspunkt sein, für den Patienten dagegen ist SchmerzenHaben in gewissem Sinne ein Endpunkt, er braucht Hilfe. Wenn Schmerzen-Haben bei der Diagnoseerstellung eine Rolle spielen soll, ist Bedingung, daß Schmerz mit Hilfe von Kriterien beschrieben wird. Es wird nun im konkreten Einzelfall nachzuweisen sein, wie und ob der Patient den Ausdruck Beschwerden versteht. Beim Arzt ist der Gebrauch des Ausdrucks Besahwerden wahrscheinlich an der Fachsprache orientiert. Es wird also für den Arzt darum gehen, seinen Gebrauch des Ausdrucks Beschwerden mit dem des Patienten zu vergleichen. 74 75 76

Grimm 1854, Bd. l, 1602/16O3 Duden 1976, Bd. l, 363 Wahrig 1978, 149

47

Wie die Liste zeigt, kann man grob unterscheiden zwischen Kriterien, die die Begleitumstände von Schmerz erfragen, und solchen, die die Beschreibung von Schmerz intendieren. Zur ersten Kategorie gehört z. B. die Frage nach der "Reaktion des Patienten beim Auftreten von Beschwerden". Sie wird aufgeschlüsselt in:

«^^d.l^^l^AM^d.B.d«^

o o o o

S3. PIUM einlegen

55. NHro-Prtparate emnenmen 58. «Ich nkM datum kümmern 57. Sonstig·

(r, $en - R1

ich

hab einmal ein herzilop/en

T2 (=T1)

R2 (=R1)

und da wird mir dann heiß R3 (=R1=R2) ich

da werd ganz rot im geeicht

T4 (=T1=T2)

R4 (=R1=R2=R3)

ich

und da renn zum fenster

T5 (=T1=T2=T4)

R5 (=R1=R2=R3=R4) muß moment s fenster

T [ ] (=T1=T2=T4=T5) ich

T7 (=T1^T2=T4=

aufmachen

R6 (=R1=R2=R3=R4=R5) \sonst zuviel atembeschwerden kriege R7 (=R1=R2=R3=R4=R5=R6)

Die paraphrastische Struktur dieser Äußerungseinheit ließe sich noch fortsetzen, nach kriege erfolgt jedoch ein Hörersignal ja, das ausnahmsweise das Ende der Äußerungseinheit markieren soll, da die Fortsetzung der Analyse keine neuen Erkenntnisse bringt. Ein weiteres Beispiel (TA 2, Z. 7 - 2 9 ) soll verdeutlichen, daß die Struktur des Typus 2, also ein durchgängiges Thema, dem verschiedene Rhemata zugeordnet werden, die im folgenden Beispiel jedoch keine paraphrastisdie Struktur haben, häufiger vorkamtt. Ergänzend hinzugezogen werden muß wieder wie bei Ip Typus 4.

128

Schematisciie Darstellung 3

_ 2p ich

sag

T1

- R1

zu Ihnen

+ R2

ι

war n dreiviertel j hr krank geschrieben

ich T2 (=T1)

- R3

ich

Τ3 (=Τ1=Τ2)

+ R4

l

l hah mich'damals l ι - R5 l

zur k r auch

gefreut

Sie

das - R6

T4

festgestellt hatten + R7

was T5

Τ6 (=Τ1=Τ2=Τ3)

- R9

ich

- R8

zu Jhnen + R10

sonst irgendwie was hab

- R11

Τ7 Ι ich 8

bin gekommen

r

- R12

Τ9

- R14

zu Jhnen + R13

hab die kontrolle

ich

wei

ich

T10 (=Τ1=Τ2=^Γ3=Τ6=Τ7^Γ8=Τ9)

- R15

Jbin iei Jhnen in guten b nden

ich Τ11 (=Τ1=Τ2^Γ3=Τ6=