Gespräche von Text zu Text. Celan - Heidegger - Hölderlin 3787315764, 9783787315765

In der Forschung ist die Bedeutung der Begegnung zwischen Paul Celan und Martin Heidegger im Sommer 1967 längst konstati

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Gespräche von Text zu Text. Celan - Heidegger - Hölderlin
 3787315764, 9783787315765

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TOPOS POIETIKOS 3

In der Reihe TOPOS POIETIKOS finden Arbeiten ihren Ort, die sich auf der „imaginären“ Grenzlinie zwischen Philosophie und Literatur- bzw. Sprachwissenschaft bewegen und die besonderen Texturen von Theorie und Dichtung zu ihrem Untersuchungsgegenstand machen: Poiesis ist (Kunst)gestaltung im Wort. Streng methodisch und theoretisch reflektierte Wissenschaft der Literatur und der Sprache ist offen auf die Philosophie hin, indem sie sich der philosophischen Modellbildung bedient. Einer Literaturwissenschaft, die darüber hinaus ihren theoretischen Anspruch nicht in der Applikation vorgefundener Modelle erschöpft, sondern sie am konkreten Gegenstand auffindet bzw. durch ihn herausgefordert produziert, und einer Philosophie, die ihren Kontakt mit der Dichtung nicht auf Illustrationszwecke beschränkt, sondern ihren Diskurs selbst als Art der Literaturproduktion begreift, wird mit der Reihe TOPOS POIETIKOS ein Forum geschaffen.

Robert André

Gespräche von Text zu Text Celan – Heidegger – Hölderlin

MEINER

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme André, Robert: Gespräche von Text zu Text, Celan – Heidegger – Hölderlin / Robert André. – Hamburg : Meiner, 2001 (Topos poietikos ; 3) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-7873-1576-4

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2001. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Kusel, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Buchbinderische Verarbeitung: Schaumann, Darmstadt. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

VORBEMERKUNG

Die vorliegende Studie wurde im Sommer 1999 vom Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Der für die Veröffentlichung nochmals durchgesehene Text ist vielfältig den Gaben anderer geschuldet. Insbesondere Klaus Briegleb möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen. Hat er mich doch von den ersten Vorüberlegungen an ermutigt, auch auf Nebenwegen einen Zugang zu dem verhandelten Komplex zu suchen, der für Paul Celans Dichtung alles andere denn marginal ist. Andere Leser, denkbar unterschiedlichster Provenienz, haben mir im Gespräch geholfen, meinen Gesichtskreis immer wieder zu öffnen. Mein Dank geht an die mit der Materie lange schon vertrauten Philologen Bernhard Böschenstein, Klaus Demus, Werner Hamacher, James K. Lyon, Rainer Nägele und Ulrich Wergin. Nicht unerwähnt dürfen hier aber auch die ‚jungen‘ Leser von Celans Gedichten bleiben, die im immer wieder neu ansetzenden Gedankenaustausch meinen Ausarbeitungen zur Seite standen. Ich danke Kyle Boyd, Angela Delissen, Amir Eshel, Joachim Heintz, Marion Lauschke, Rochelle Tobias und Oliver von Wrochem. Stellvertretend für die Mitarbeiter des Literaturarchivs in Marbach a. N., die mir Einlaß zum dort aufbewahrten Nachlaß Paul Celans gewährten, möchte ich Jochen Meyer (Handschriftenabteilung) und Nicolai Riedel (Bibliothek) für ihre Hilfestellungen und bereitwilligen Auskünfte danken. Eric Celan danke ich für sein Vertrauen, mir die Einsicht in geschützte Dokumente seines Vaters gestattet zu haben. Ihm und dem Suhrkamp-Verlag in Frankfurt a. M. ist zudem für die freundliche Genehmigung zu danken, bislang unveröffentlichte Manuskripte aus dem Nachlaß in diesem Buch zitieren zu dürfen. Die Graduiertenförderung der Universität Hamburg und die Studienstiftung des deutschen Volkes haben es mir mit einem Doktorandenstipendium ermöglicht, daß ich überhaupt die Zeit fand, die unzähligen Gaben der oben genannten Leserinnen und Leser empfangen zu können. Mit der großzügigen Druckbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft konnte dieser Band schließlich realisiert werden. Dirk Mötting danke ich für die Durchsicht des Manuskripts, meinen Eltern und Annika für ihre unendliche Unterstützung.

INHALT

I. DER KONTEXT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II. DAS ETHOS DER SPRACHE LESEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Autopsychographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

B. Engführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

III. POSITIONSBESTIMMUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

A. Die stehenden Tempel Celans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

B. Die Athenertempel Hölderlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. „Ein heimathloser Sänger“. Neuorientierung um 1800 . . . 2. Der Athenerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vaterländischer Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64 70 88

C. Das Dastehen des Tempels bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . .

98

1. 2. 3. 4. 5.

Die Aporie von Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kehre und wozu Hölderlin? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Götterflucht und Germanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kunstwerk als heiliger Bezirk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach 1945 – Wozu Dichter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100 105 114 119 127

D. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. ETAPPEN DER LEKTÜRE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 A. Auftakt (1954) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Andenken und die Kluft zwischen Dichten und Denken 2. Poetologische Ansätze oder das Handwerk zum Gedicht

151 169

B. Differenzierung und Entgegensetzung (1960–1962) . . . . . . . 175 1. Vom Handwerk zur Gabe der Hände . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Gesetz der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Heidegger: Die Heimkehr des Geistes als Dichter . . . . . . b) Celan: Ausfahrt ohne Heimkehr. Die Silbe Schmerz . . . .

175 180 183 188

VIII

Inhalt

3. Hölderlintürme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Plural und Verdoppelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 b) Das Datum des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 C. Hoffen auf ein Gespräch (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Schenkend-verschenkte Hände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Todtnauberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 V. RÜCKBLICK – ZWEI BRIEFENTWÜRFE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 VI. SIGLEN UND ABKÜRZUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 VII. LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 A. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 B. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 VIII. GLOSSAR DER GEDICHTE UND TEXTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 A. Paul Celan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 B. Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 C. Friedrich Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

I. DER KONTEXT

Die Wissenschaft von der Literatur hat wie die Philosophie das Privileg, daß sie ihr methodisches Vorgehen nicht aus einer dritten Quelle herbeizitieren muß, sondern daß sie gerade in den bedeutendsten Werken Texte vorfindet, die gleichermaßen die Bedingungen und Möglichkeiten ihres eigenen Status als auch die Voraussetzungen einer möglichen Lektüre erörtern. Daran gilt es anzuknüpfen. Die Literaturwissenschaft muß durchaus nicht selber Literatur sein, um von ihren Texten erfahren zu können, wie mit ihnen umzugehen möglich sei; sie muß sich allerdings auf diese einlassen und sie lesen. Versucht man dies aber so, daß die Kriterien für den auf den Begriff zu bringenden Gegenstand diesem selbst entnommen werden, dann erweist sich das Privileg der Literaturwissenschaft als eine kaum handhabbare Bürde. Denn wenn sich eine Literatur genötigt sieht, sich der Frage anzunehmen, wie es um die hermeneutischen Bedingungen der Lektüre bestellt ist, wird zunächst einmal deutlich, daß ein derartiges Entgegenkommen der Literatur auf Erfahrungen von Unverständnis ihr gegenüber beruhen muß. Das Zugehen auf den Leser erweist sich im Näheren als eine grundlegende Konfrontation, die kenntlich macht, daß das an den Text herangetragene Leseverständnis jenes bedingt, was eine Literatur geben und bedeuten könnte.1 Das wiederum impliziert,

1

Die Geschichte der Gattung des Vorworts, das – noch bevor der Text beginnt – auf die hermeneutische Situation einzuwirken versucht, müßte sich über einen Mangel an ‚Vorkommnissen‘ dieser Art nicht beklagen. Vier berühmte Beispiele seien hier erinnert: Jean-Jacques Rousseau: Seconde Préface zu: Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761), in: ders.: Œuvres Complètes, publ. par Bernard Gagnebin et Marcel Rymond, Vol. 2, Paris 1961, 12–30; vgl. hierzu Paul de Man: Allegory (Julie): „The best place in the text of Julie to enrich one’s understanding of ‚reading‘ is without doubt the second Preface, sometimes referred to as ‚Dialogue on the novel‘ and staging a confrontation between author and reader in the conventional form of an apologia“, in: ders.: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven/London 1979, 188–220, hier 195; Friedrich Hölderlin: Vorrede zu: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/99), in: ders.: Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe‘ (FHA), hg. von Michael Knaupp und Dietrich E. Sattler, Bd. XI, Frankfurt a. M. 1982, 579; Heinrich Heine: Vorrede zu: Französische Zustände (1832), in: ders.: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. V, München/ Wien 1981, 91–105, die ‚mißverstehende‘ Rezeption dieses Textes machte wiederum eine Vorrede zur Vorrede (1832) notwendig, ebd., Bd. IX, 10–14; Charles Baudelaire: Au Lecteur zu: Les Fleurs du Mal (1857), in: ders.: Sämtliche Werke / Briefe, in acht Bänden, Bd. III, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien 1975, 54–57. – Literaturanga-

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Der Kontext

daß eine Literatur insbesondere dann bedeutsam ist, wenn sie eine erneute Verständigung über die Bewandtnisse des Lesens zu veranlassen vermag. Wenn dagegen aber – was unvermeidlich ist – ein Leseverständnis schon vor der Lektüre besteht und damit unkenntlich vor der Literatur steht – was zu vermeiden wäre –, gelingt gerade das nicht, was eine lesende Philologie begünstigen sollte: nämlich ihre Lektüre vom jeweiligen Text her legitimeren zu können. An die Literatur anzuknüpfen kann darum nicht heißen, der Konfrontation mit dem Text mit fertigen Lesemodellen aus dem Wege zu gehen. Muß sich eine Wissenschaft von der Literatur auch nicht eines ihr fremden Metadiskurses bedienen, um ihre Lektüre zu begründen, so ist gleichwohl deutlich, daß sie es mit einer Sprache zu tun hat, die ihr gegenüber derart fremd ist, daß sich das Anliegen erschwert, von der Literatur selbst eine gefestigte Methodik des angemessenen Lesens, Verstehens und Auslegens zu bekommen. Daraus aber wiederum den Schluß zu ziehen, die Wissenschaftlichkeit der Lektüre deshalb nicht auf den in vielerlei Hinsicht vagen Grund der so unterschiedlichen einzelnen Literaturen stellen zu können und sich statt dessen ausschließlich an die Rationalitätskriterien der anderen Wissenschaften zu halten, hat den Preis, daß die Literatur zu einem Objekt degradiert wird, dessen erkenntniskritische Potenz von vornherein beschnitten ist. Statt die Möglichkeit offen zu halten, die Geltung einer Literatur in einer Lektüre analysierend zu erproben und sich auf diesem Wege neue Einsichten und Bezüge zu erschließen, verkäme die Literatur im Anschluß eines scheinbar gefestigten Wissenschaftsverständnisses zum Beiwerk, das die kognitive Leistung der Wissenschaft nur noch in ihren schönen Formen veranschaulichen dürfte. Wenn dagegen aber gilt, wie Werner Hamacher hervorhebt, daß in den „Texten [der Literatur] selbst – und zwar als Texten – eine Dimension der kritischen Erkenntnis ihrer eigenen Verfassung eingeschrieben ist“, und wenn ferner gilt, daß eine Wissenschaft von der Literatur hierin ihren „sachlichen Grund“ haben muß, um wissenschaftlich sein zu können, dann wird vorerst fraglich bleiben müssen, ob es überhaupt „eine Wissenschaft von der Literatur geben kann“.2 Denn wissenschaftlich wäre die Lektüre von literarischen Texten dann, wenn sie in der Auseinandersetzung mit ihrem Text allererst die Regeln des möglichen Verstehens freilegt. Das impliziert, daß prinzipiell mit jeder Lektüre von literarischen Texten von neuem die Fundamente der Literaturwissenschaft auf dem Spiel stehen. Ob aber die einzelnen Lektüren, die nach der jeweiligen Regel des Verstehens fragen, je das einlösen können, was ben, denen in Klammern eine Sigle beigefügt ist, werden fortan so im Text wiedergegeben, vgl. das Siglenverzeichnis unten S. 229. 2 Werner Hamacher: Lectio. De Mans Imperativ (1989), in: ders.: Entferntes Verstehen, Frankfurt a. M. 1998, 151–194, hier 152; vgl. auch 174 ff.

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eine Wissenschaft als Wissenschaft verheißt, daß diese nämlich ihren propädeutischen Charakter bereits überwunden und im Aufstellen von unumstößlichen Prinzipien zu sich selbst gefunden habe, muß mindestens solange bezweifelt werden, bis die Lektüre akzeptiert, daß sie den Buchstaben ihrer Texte zu folgen hat und daß mithin das Lesen notwendigerweise propädeutisch bleibt. Die gangbare Alternative zu dem unwägbaren Wagnis, nämlich beispielsweise der Dichtung Paul Celans auf ihren nonkonformen Pfaden zu folgen und dabei unwillkürlich in Widersprüche hineinzugeraten, die das Selbstverständnis einer Literaturwissenschaft grundlegend berühren müssen, ist das Verfahren, Differenzen und Antagonismen, welche diese Texte hervorrufen und begleiten, als sachlich vorgefundene zu konstatieren und nach empirischwissenschaftlichen Kriterien zu präsentieren. Durch die Darlegung eines objektiv vorgefundenen Widerstreits, den die Gedichte Celans intern und an ihren Rändern in vielerlei Hinsicht austragen und bewirken, kann sich die Wissenschaft selbst dadurch schadlos halten, daß sie beispielsweise mittels eines Vergleichs einen Kontrast gewinnt, der in das für sich besehen Unzugängliche und Dunkle Struktur und Klarheit zu bringen versucht. Damit wird nicht nur das derart zur Darstellung Gebrachte dem Wissen zugänglich gemacht, sondern die Wissenschaft kann sich zudem als Vollbringer einer unentbehrlichen Leistung erweisen; ist sie es doch, die selbst die schmerzlichsten Konflikte auf den Begriff zu bringen hilft. So fällt es unbestritten leichter, mit dem Unverständlichen in und mit dem Unverständnis gegenüber Celans Dichtung ‚umzugehen‘, wenn ein Dritter mit ihr konfrontiert wird. Gegen die Praxis der zahlreichen komparatistischen Analysen stellen sich darum aber auch Bedenken ein. Denn mögen diese Untersuchungsanordnungen auch aufschlußreiche Anhaltspunkte geben, die den literaturgeschichtlichen Stellenwert von Celans Dichtung – und damit nicht zuletzt ihre Unvergleichbarkeit – im erweiterten Kontext verdeutlichen, so muß gleichwohl skeptisch machen, daß auf diesem Wege die Verunsicherungen bezüglich eines hermeneutischen Zugriffs, die Celans Gedichte je bewirken und auf die sie immer wieder aufmerksam machen, besonders leicht kaschiert werden können. Symptomatisch scheint diese Ausflucht insbesondere für die vergleichenden Untersuchungen zu sein, die Paul Celans und Martin Heideggers Texte aufeinander beziehen. Denn einer der Gründe, warum so oft darüber spekuliert wurde, was sich zwischen Celan und Heidegger zugetragen habe, dürfte auch der sein, daß sich gerade in der Person Heideggers jene Erfahrung repräsentieren läßt, die man unvermeidlich selbst beim Lesen von Celans Gedichten macht, aber – insbesondere als deutscher Leser – nur mit Unlust einräumen mag: daß man nämlich mit dieser Sprache nicht zurecht kommt, daß man den Gehalt dieser Dichtung wohl ahnt, sich von ihr darum gar geahndet

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Der Kontext

fühlt, die Gedichte aber nicht derart versteht, daß man ihnen gegenüber zu einem sicheren und ruhigen Stand kommt. Zu fragen muß also erlaubt sein, ob sich in der gegen Heidegger erhobenen Anklage, er habe „Mangel an Gespür“3 und ihm fehle gegenüber Celan „das menschliche Mitempfinden und die Bedachtsamkeit“,4 nicht auch das eigene Unvermögen gegenüber Celans Dichtung zu erkennen gibt. Durch die Anklage aber erhält das Unverständnis einen Namen, ohne daß man sich selbst damit auseinandersetzen müßte, Celan nicht zu verstehen. Eine derart uneingestandene Affinität zu Heidegger muß sich freilich unfreiwillig in eine Aversion gegen den Philosophen versieren. Ungeachtet dieser Bedenken gegen eine vergleichende Analyse spricht gleichwohl vieles dafür, gerade der Konstellation zwischen Celan und Heidegger näher auf den Grund zu gehen. Daß sich bereits so viele literaturwissenschaftliche Essays und Feuilletonartikel zum Verhältnis zwischen den beiden geäußert haben, verdankt sich vordergründig einer Begebenheit, die Aufsehen erregen mußte. Im Juli 1967 besuchte Celan Heidegger in dessen Schwarzwaldhütte. Dieses Zusammentreffen, das Gerhart Baumann in seinen Erinnerungen eine „epochale Begegnung“ 5 nennt, setzt bis heute Affekte frei und nimmt schon darum das Nachdenken weiterhin in die Pflicht. In Freiburg und schließlich in Todtnauberg trafen sich zwei, deren Namen je, um es mit einem Wort Foucaults auszudrücken, „das Ereignis eines gewissen Diskurses sichtbar“ machen.6 Diese beiden unterschiedlichen Diskurse haben wohl eine Geschichte, ihr Aufeinandertreffen scheint aber eben darum alles andere denn möglich. Denn auf der einen Seite steht Celan als Dichter, Überlebender der Shoah und Jude (so der Titel von John Felstiners Celan-Biographie 7), auf der anderen befindet sich Heidegger als der deutsche Wesensdenker, der sich 1933 faktisch mit den Tätern des Genozids verbündete (wenn er 3

Jean Bollack: Vor dem Gericht der Toten. Paul Celans Begegnung mit Martin Heidegger und ihre Bedeutung, in: Neue Rundschau (1998) H.1, 127–156, hier 149. 4 Sieghild Bogumil: „Todtnauberg“, in: Celan-Jahrbuch 2 (1988), 37–51, hier 39. 5 Gerhart Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt a. M. 1986, 74. Es ist bemerkenswert, daß erst mit diesen Erinnerungen die Spekulationen über das Verhältnis zwischen Celan und Heidegger auf breiter Ebene geführt wurden. Vor Baumann hatten allerdings schon Hans-Georg Gadamer (Sinn und Sinnverhüllung, in: Zeitwende 46 (1975), 312–329), Beda Allemann (Heidegger und die Poesie, in: Neue Zürcher Zeitung vom 15. April 1977) und Otto Pöggeler (Mystische Elemente im Denken Heideggers und im Dichten Celans, in: Zeitwende 53 (1982), 65–92; Spur des Worts: zur Lyrik Paul Celans, Freiburg/München 1986, insb. 259 ff.; sowie Celans Begegnung mit Heidegger, in: Zeitmitschrift 5 (1988), 123–132) an ihre Zeugnisse erste Deutungsversuche angeschlossen. 6 Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? (1969), in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, 7–31, hier 17. 7 John Felstiner: Paul Celan. Poet, Survivor, Jew, New Haven/London 1995; die dt. Fassung, übersetzt von Holger Fliessbach, heißt: Paul Celan. Eine Biographie, München 1997.

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diesen auch weder bewirkt noch gewollt hat) und der auch nach der militärischen Niederschlagung der deutschen Hybris durch die Alliierten keine Notwendigkeit sah, sich zu diesem Konnex eingehender öffentlich zu äußern.8 Die Tatsache dieser divergenten Provenienz mußte darum die Frage aufwerfen, was Celan bewogen haben mag, Heidegger in dessen unversehrt gebliebenen Refugium aufzusuchen? All jene, die hierauf eine Antwort zu geben versuchten, konnten feststellen, daß sich an dieser Diskursstelle in extremis die inhaltlich-geschichtlichen sowie methodischen Schwierigkeiten komprimieren. Denn die Beantwortung der Fragen, welchen Bezug Celan zu Heidegger hat und welche Erwartungen seinen Besuch begleitet haben, ist auch bedingt durch die generell geführte Diskussion, unter welchen Prämissen Heideggers Philosophie denn noch zu würdigen sei, nachdem dieser sich in der nationalsozialistischen „Bewegung“9 engagiert hatte. Es überrascht darum nicht, daß den ersten Interpretationen zur Begegnung zwischen Celan und Heidegger – die in die Zeit des sogenannten Historikerstreites fielen – dann nur wenige Jahre später die Ende der 1980er Jahre sowohl in Frankreich, Westdeutschland als auch in Nordamerika geführte Debatte über die systematische Bedeutung von Heideggers Beteiligung am Nationalsozialismus folgte.10 Zu diesen Streitpunkten, nämlich erstens, wie eine sich einlassende Auseinandersetzung mit Heideggers Denken auszusehen hätte und zweitens, unter welchem methodischen Gesichts8

Überliefert ist nur der anstößige Vergleich, den Heidegger 1949 in Bremen geäußert hat: „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen der Sache das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.“ Zit. n.: Wolfgang Schirmacher: Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg i. Br. 1983, 25. Auf Heideggers Äußerung wird unten S. 132 f. eingegangen. 9 Vgl. die oft zitierte Stelle aus Heideggers Vorlesung Einführung in die Metaphysik (EM) (1935), Tübingen 1953, 152. 10 Vgl. oben Anm. 5, sowie die Literaturangaben in Anm. 246 auf S. 106 f. – Allerdings löste nicht erst Heideggers Beteiligung am Nationalsozialismus einen Streit über dessen Philosophie aus. Schon unmittelbar nach dem erscheinen von Sein und Zeit (SuZ) in Tübingen 1927 wird insbesondere Heideggers Sprache, die über die Grenzen der hergebrachten Metaphysik hinaus will, angegriffen. Vgl. Maximilian Beck: Referat und Kritik von Martin Heideggers ‚Sein und Zeit‘, in: Philosophische Hefte 1 (1928), 5–44. Das methodische Problem, wonach man diesem Denken entweder in seiner eigentümlichen Sprache und Begrifflichkeit Folgen müsse oder aber ihm äußerlich bleibe, beschreibt Heidegger selbst als ein Grundproblem der Philosophie überhaupt: „Die absolute Metaphysik gehört mit ihren Umkehrungen durch Marx und Nietzsche in die Geschichte der Wahrheit des Seins. Was aus ihr stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen treffen oder gar beseitigen. Es läßt sich nur aufnehmen, indem seine Wahrheit anfänglicher in das Sein selbst zurückgeborgen und dem Bezirk einer bloß menschlichen Meinung entzogen wird. Alles Widerlegen im Felde des wesentlichen Denkens ist töricht. Der Streit zwischen den Denkern ist der ‚liebende Streit‘ [Hölderlin] der Sache selbst“, ders.: Brief über den „Humanismus“ (BüH) (1946), in: Wegmarken (1967) Frankfurt a. M. 31996, 313–364, hier 336.

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Der Kontext

punkt eine Analyse des systematischen Stellenwerts des historisch-politischen Agens Heideggers durchzuführen sei, addieren sich die Dilemmata, die Celans Dichtung aufwirft. Wollte man nämlich Celans Einstellung bezüglich Heideggers Denken und dessen Funktion im öffentlichen Raum nicht einfach als selbstverständlich voraussetzen, sondern allererst noch eruieren, ist man geradewegs auf seine Dichtung und zunächst einmal auf das im Anschluß an das Treffen im Juli 1967 geschriebene Gedicht Todtnauberg 11 (zurück-)verwiesen. Angesichts dieser Komplexität war es naheliegend, daß sich die Interpreten von Celans Gedicht am Offensichtlichen orientierten, um das Aufeinandertreffen des Unvereinbaren nachvollziehbar machen zu können. Da auch die wenigen überlieferten Äußerungen, die Celan gegenüber Dritten über Heidegger machte, für die Beurteilung dieser Situation kaum aufschlußreich sind, hat man sich immer wieder auf die von Baumann 1986 veröffentlichten Erinnerungen bezogen. Konnte doch der Freiburger Literaturwissenschaftler, der vor Ort den Kontakt zwischen Heidegger und Celan hergestellt hatte, aus eigener Anschauung wenigstens von den Begleitumständen dieser Begegnung berichten. So beschreibt Baumann nicht ohne Erstaunen und mit leichtem Vorwurf, daß Celan die Aufnahme eines gemeinsamen Photos mit Heidegger bei der ersten Begegnung in einem Freiburger Hotel impulsiv verweigerte.12 Die Schilderung dieser Begebenheit wurde in der Forschung wiederholt zitiert, weil sich in dieser Geste die ganze Ambivalenz und Anspannung verdeutlichen würde, welche die Begegnung mit Heidegger für Celan insgesamt bestimmt hätte. Bei den Deutungen dieser Szene blieb allerdings eine Differenz unberücksichtigt, auf die im folgenden besonderer Nachdruck gelegt werden wird. Denn Celan, der noch am selben Abend seine Lesung im vollbesetzten Auditorium maximum der Universität Freiburg mit den Versen ausklingen ließ: „Tief / in der Zeitenschrunde, / beim / Wabeneis / wartet, ein Atemkristall, / dein unumstößliches / Zeugnis“,13 dürfte in dieser Sekunde, als man ihn zusammen mit Heidegger und anderen ablichten wollte, darauf bestanden haben, daß zwischen dem ‚dokumentierenden‘ Bild, das sich der Nachwelt so leicht einprägt, und dem, was hier komplex und damit vor allem unübersichtlich aufeinander trifft – und darum ein anderes Zeugnis verlangt –, unterschieden wird. Denn die auf der zweidimensionalen Ebene des Fotos repräsentierten Identitäten verdecken gerade das, was sich zwischen Celan und

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Paul Celan: Gesammelte Werke, Frankfurt a. M. 1986, Bd. II, 255; fortan ohne Sigle mit römischen Band- und arabischen Seitenzahlen im Text. 12 Vgl. Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 63 f. 13 Das Gedicht Weggebeizt (II, 31) steht am Ende des Zyklus Atemkristall, der 1965 mit acht Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange in 75 Exemplaren gesondert in Paris publiziert wurde. Dieser Zyklus ist der erste Abschnitt des Bandes Atemwende (1967).

Der Kontext

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Heidegger im schwer fixierbaren Zwischenraum der Texte ereignete, in dem nachweislich – wie zu zeigen sein wird – eine auf die Geschichte bezogene Dichtung und ein sich geschichtlich verstehendes Denken aneinandergeraten sind. Daß sich Celan in diesem Moment das Bild verbot, verweist auf einen Sachverhalt, mit dem sich auch die Philologie und die über Celans Literatur Nachdenkenden auseinandersetzen müssen. Es ist nämlich zu bedenken, ob nicht gerade die relativ detailgenaue Rekonstruktion der Umstände dieser drei Tage im Juli 1967 die so notwendigen Überlegungen zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Celan und Heidegger vielmehr erschwert, weil die Gründe und Abgründe zwischen den beiden so handgreifbar nahe zu liegen scheinen. Die Frage also, warum sich Celan auf das Zusammentreffen mit Heidegger eingelassen hat, warum er das Gespräch mit Heidegger führen wollte, ist vielleicht sehr viel genauer in ihrer Dringlichkeit zu entwickeln, wenn von den Umständen dieser Begegnung abgesehen wird und damit (zunächst) auch von dem Gedicht Todtnauberg. Um also deutlicher sehen zu können, was es heißt, daß sich in Todtnauberg jene trafen, die je auf ihre Weise den Ort der Dichtung und den der Philosophie in der Mitte des 20. Jahrhunderts neu auszuloten sich gezwungen sahen, muß die Vorgeschichte von Celans Besuch noch einmal anders ermittelt werden. Das soll im folgenden durch Lektüren geleistet werden, die sich in ihrer Folge als Rekonstruktion eines Gesprächs von Text zu Text verstehen, das Celan über viele Jahre in seinen Gedichten mit Heidegger über die Aufgabe des Zu-Dichten-undzu-Denkenden geführt hat. In dieser aufs geschichtliche Ganze gehenden Auseinandersetzung zeigt sich auch die je spezifische Korrelation der beiden zur Dichtung Friedrich Hölderlins. Da Heidegger seine Philosophie nach 1934 unter anderem von Hölderlin her reformuliert und damit nicht nur Hölderlin, sondern der Dichtung überhaupt ein Vermögen zuspricht, auf das das Denken wesentlich angewiesen sei, muß auch erörtert werden, welche Funktion die Auslegung Hölderlins einmal für Heideggers Entwicklung selbst und zum anderen in den Interferenzen14 zwischen Celan und Heidegger spielt. Um vorführen zu können, welche Momente die Genese und Ausdifferenzierung von Celans Poetologie der intensiv geführten Beschäftigung mit Heideggers und Hölderlins Schriften verdankt, ist der auf der theoretischen Ebene wiederholt versuchte philosophisch-poetologische Vergleich sowohl mit Heidegger als auch mit Hölderlin zurückzustellen, um statt dessen jeweils einzelne Gedichte, die in diesem Zusammenhang markant sind, en détail in ihren möglichen Bezügen zu analysieren. Denn nur so kann einsichtig werden, was Celans Dichtung als Dichtung bezüglich Hölderlin und Heidegger 14

Vgl. Celans Anmerkung zum Begriff der „Interferenz“ gegenüber Hugo Huppert, in: ders.: „Spirituell“. Ein Gespräch mit Paul Celan, in: Werner Hamacher / Winfried Menninghaus (Hg.): Paul Celan, Frankfurt a. M. 1988, 319–324, hier 321.

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neu offenzulegen vermag; und allein dann wird spürbar, daß die hier zu erörternde Konstellation nicht einfach resümierend bilanziert werden kann, ohne daß genau das zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird, was unvermeidlich die Kriterien für einen Vergleich fraglich werden läßt. Schon darum wird die Analyse fortwährend von der für das methodische Vorgehen so beunruhigenden Frage begleitet sein, wie denn Celans Hölderlin- und Heideggerlektüre in seinen Gedichten zu lesen möglich sei? Diese Frage gebietet, auf die methodischen Prämissen der Lektüre zu achten. Damit soll allerdings nicht ein Rückzug auf rein theoretisch-hermeneutische Problemstellungen vorbereitet werden, die von den einzelnen Gedichten erneut absehen würden. Untersucht man aber die Genese von Celans Dichtung im angegebenen Kontext, dann stellen sich in ihrer ganzen theoretischen Tragweite jene Probleme, die unmittelbar die philologische Arbeit betreffen. Denn der Forderung, man möge beispielsweise die Bedeutung von Heideggers Denken für Celans Entwicklung nicht nur aus den poetologischen Überlegungen entnehmen, die Celan öffentlich erstmals im Januar 1958 in seiner Bremer Ansprache (III, 185 f.) und dann vor allem im Oktober 1960 in seiner Meridian-Rede (III, 187–202) formuliert hat, sondern Celans Position gegenüber Heidegger solle auch oder gar vorwiegend von seinen Gedichten her aufgegriffen und vorgeführt werden, scheinen sich die Gedichte selbst zu widersetzen. Mit Recht hat sich gerade in der Celan-Philologie eine ausgeprägte Skepsis bemerkbar gemacht, die zu verstehen gibt, daß selbst dann, wenn sich in den Gedichten direkte Anklänge und Allusionen befinden mögen, die z. B. auf die Hölderlin- und Heideggerlektüre Celans zurückzuführen seien, sich das methodische Bedenken einstellt, das fordert, die Gedichte nicht auf die möglicherweise gegebenen Referenztexte zurückzustutzen. Beide Forderungen stehen sich folglich so gegenüber, daß man sich wie an einer Kreuzung stehend entscheiden muß. Entweder wagt man es, vom Gedicht her einer bestimmten Relation nachzugehen, die einsichtig machen könnte, inwiefern dieser Dichtung ein poetologischer Prozeß inhärent ist, der unter anderem auf Hölderlins Schriften und Heideggers Denken eingeht, oder aber, um das Gedicht vor unzulässigen Vereinnahmungen zu retten, begnügt man sich mit der Strukturbeschreibung einer Dichtung, die sich wahrlich einer Eins-zu-Eins-Auflösung widersetzt. Mögen auch einzelne Bezüge eine für sich selbst sprechende Evidenz aufweisen, so ist das grundlegende Problem schwer von der Hand zu weisen, daß es ein Bärendienst wäre, einen Kontext nachweisen zu wollen, der scheinbar die verbindlichen Koordinaten gibt, die das Gedicht wie auch immer fixieren helfen könnten. In diesem Sinne aber lassen sich Celans Gedichte nicht verketten. Diese Einsicht schließt an die schon früh systematisch begründeten Einwände von Peter Szondi und anderen an, die zu bedenken gegeben haben, daß der Blick auf die konkreten Begleitumstände von Celans Textproduktion all-

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zu leicht ein illusionäres Verstehen begünstigt, welches die fundamentale hermeneutische Herausforderung negiert, mit der Celans Gedichte ihre Leser konfrontieren.15 Und so zeigt denn auch der Gang ins Literaturarchiv zu Marbach am Neckar, in dem 20 Jahre nach Celans Tod die Vorstufen seiner Gedichte, seine Bibliothek und die umfangreiche Korrespondenz versammelt werden konnten, daß selbst dann, wenn eines Tages der schützende Schleier gänzlich gelüftet werden sollte, der den Nachlaß vor unersättlichen Blicken bewahrt, sich mit jenem auch die Hoffnungen verflüchtigen werden, die sich nach wie vor ausmalen, daß erst die Kenntnis der gesperrten Konvolute ermöglichen würde, den wahren oder eigentlichen Gehalt von Celans Werk recht beurteilen zu können.16 Im Nachlaß wird im Gegenteil deutlich, daß dieser keine Fakten zur Verfügung stellt, welche die Interpretation der Gedichte verifizieren helfen könnten. So ist Celans Bibliothek mit all ihren Daten, Anstreichungen, Bemerkungen und zuweilen allerersten Ideen zu künftigen Gedichten schweigsamer als jedes Gedicht, das Celan veröffentlicht hat. Auch die zahlreichen Vorstufen zu den Gedichten, die Celan sorgfältig aufbewahrt hat, sind kaum einfacher zu bewerten. Während das Gedicht der Leserschaft zugedacht ist und ihr darin entgegenkommt, sind all die anderen auffindbaren Marken und Zeichen im Nachlaß einer Deutung bedürftig, die gegen den ersten Anschein diffiziler als die der Gedichte ist, weil der Status dieses Materials nur unzureichend zu bestimmen ist. Der vorläufige Editorische Bericht der Mitarbeiter der Bonner Celan-Ausgabe gibt Auskunft von diesen Schwierigkeiten.17 Selbst eigens entwickelte Hilfskategorien, die unterscheiden helfen sollen zwischen den Aufzeichnungen Celans, die „zu den philologischen Apparaten der Textgenese“ gerechnet werden können und jenen anderen, die noch „aus der Phase vor Beginn des eigentlichen Fixierungsprozesses eines Gedichts“18 stammen, sagen im Einzelfall wenig über den Stellenwert der Manuskripte. Wie problematisch noch diese Unterscheidung ist, erweist sich spätestens dann, wenn die Quellen Hil15

Vgl. Szondis Text Eden (1971) zum Gedicht Du liegst (II, 334), in: ders.: Celan-Studien. Schriften II, Frankfurt a. M. 1978, 390–397; in der Folge ähnlich: Jean Bollack: „Eden“ nach Szondi, in: Celan-Jahrbuch 2 (1988), 81–105; Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Graz / Wien 1986, insb. 38–41; Winfried Menninghaus: Wissen oder Nicht-Wissen. Überlegungen zum Problem des Zitats bei Celan und in der Celan-Philologie, in: Jahrbuch für internationale Germanistik, Bd. 21, Bern/ Frankfurt a. M. / New York / Paris 1987, 81–96. 16 So Elke Günzel: Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext, Würzburg 1994. 17 Vgl. den Band Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans, hg. von Axel Gellhaus und Andreas Lohr, Köln / Weimar / Wien 1996; darin: dieselben / Rolf Büchner: Die historischkritische Celan-Ausgabe. Ein vorläufiger Editorischer Bericht, 197–226. 18 Axel Gellhaus: Das Datum des Gedichts. Textgeschichte und Geschichtlichkeit des Textes bei Celan, in: Lesarten (Anm. 17), 177–196, hier 196; vgl. auch den Editorischen Bericht, ebd., 200 ff.

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festellung bei der Interpretation der Gedichte geben sollen. So ist es nur konsequent, wenn die mit den Materialien des Nachlasses vertrauten Herausgeber den hochgesteckten Erwartungen entgegentreten: „Viele Benutzer der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Celans mögen deshalb enttäuscht von ihr sein, weil die textgenetischen Apparate nur in den seltensten Fällen inhaltlich-thematisch kommentierende Wirkung haben.“19 Nichtsdestotrotz werden mit großem Aufwand die Quellen und Dokumente gesichtet, zugeordnet und nach und nach publiziert.20 Manch einer verspricht sich hiervon, die Textgenese und damit jene Schreibsituation rekonstruieren zu können, in der sich Celan beim Verfassen der einzelnen Gedichte befunden haben mag. Axel Gellhaus versucht diese Bemühungen trotz aller sich hiergegen stellenden methodischen Widersprüche mit einer Bemerkung Celans zu stützen: „Das Unbehagen angesichts der Daten läßt sich aber auch anders formulieren, es resultiert aus dem Dilemma des Literaturwissenschaftlers, der jeden positivistischen Umgang mit der Dichtung für poetologisch unangemessen hält, der aber auch Celans wiederholt zitierte Bemerkungen kennt, in denen er auf dem Realismus und der Gegenständlichkeit der eigenen Gedichte besteht“.21 Müßte aus diesem Dilemma nicht die Konsequenz gezogen werden, sich als Leser bewußt vom auktorialen Fingerzeig zu emanzipieren, der „auf 19

Ebd., 207. In der Tübinger Ausgabe, Vorstufen, Textgenese, Endfassung (TCA), Frankfurt a. M., sind hg. von Jürgen Wertheimer et al. die Bde. Sprachgitter (1996), Die Niemandsrose (1996), Der Meridian (1999), Atemwende und Fadensonnen (2000) erschienen. Die historisch-kritische Ausgabe, hg. von Rolf Büchner et al., Frankfurt a. M., veröffentlichte: Bd. 7, Atemwende (1990), Bd. 8, Fadensonnen (1991), Bd. 10, Schneepart (1994), Bd. 9, Lichtzwang (1997). Hinzukommen: Die Gedichte aus dem Nachlass von Paul Celan (N), hg. von Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1997; Celan / Nelly Sachs: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1993 und Celan / Franz Wurm: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm, Frankfurt a. M. 1995. 21 Gellhaus: Datum des Gedichts (Anm. 18), 181. Gellhaus erinnert hier an Celans Satz: „Glauben Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben“, zit. n. Arno Reinfrank: Schmerzlicher Abschied von Paul Celan, in: die horen 16 (1971), Nr. 83, 73. – Auch Christine Ivanovi´cs Arbeit (Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren, Tübingen 1996), die ganz im Bann des Nachlasses von Paul Celan steht, spricht in diesem Sinne von einem „philologische[n] Spagat“ (ebd., 4), den die Celan-Philologie zu vollbringen habe. Dennoch bleibt diese Erkenntnis für das methodische Vorgehen ihrer sehr informativen „komparatistische[n] Rezeptionsforschung“ (ebd.) ohne Folgen. Das ist insbesondere darum bedenklich, weil Ivanovi´c zugleich suggeriert, daß erst die „auf der Dokumentation aufbauende Interpretation […] sich der wissenschaftlichen Diskussion [stellt]: Sie macht sich überprüfbar“ (ebd., 18). Damit signalisiert sie dem Diskurs, welche Lektüre von sich noch behaupten darf, wissenschaftlich zu sein. – Abzuwarten aber wird sein, was diese Wissenschaft tatsächlich aus der „‚Goldgrube‘, durch deren Funde manches Geheimnis seiner immer wieder als hermetisch qualifizierten Dichtung gelüftet werden kann“ (ebd., 17), zu gewinnen in der Lage ist. 20

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dem Realismus“ der Gedichte besteht, weil das Eingeständnis zu machen ist, daß das Lesen von Celans Dichtung wiederholt dann scheitert, wenn es das Intendierte in die begriffliche Sprache der verstehenden Wissenschaft zu übersetzen versucht? Kann Gellhaus auch dahingehend recht gegeben werden, daß eine Beschränkung auf rein poetologische Fragestellungen nicht hinzunehmen ist, nur weil prinzipiell jene Konstellation nicht hinreichend auszumachen sei, welche das Gedicht an sein bestimmtes historisches Datum bindet, so muß doch noch einmal genauer nachgefragt werden, was denn den Realismus von Celans Gedichten ausmacht und wie dieser zu kennzeichnen wäre. Denn stellt man diese Frage nicht als eine rhetorische, deren Antwort sich von selbst versteht, dann könnte ein Besinnen auf die Poetologie dieser Dichtung gerade dadurch ermöglicht werden, daß man in Betracht zieht, daß das Dilemma des Literaturwissenschaftlers weniger im vom Autor Paul Celan eingeforderten Realismus dieser Gedichte liegt, als in dem ärger liegenden Problem, daß sich das Reale dieser Dichtung vielleicht gerade der Sprache der Wissenschaft entzieht, weil diese einen anderen Begriff von der Realität hat. Erneut ist also zu prüfen, ob die Unterscheidung zwischen Celans Poetologie und der Gegenständlichkeit seiner Gedichte nicht einem Vorverständnis zugrunde liegt, das diese Dichtung gerade attackiert; – dieser für die Diskussionen in der Celan-Philologie so zentrale Punkt wird an gegebener Stelle aufgegriffen werden.22 Trotz dieses ungeklärten Dilemmas – in dem doppelten Sinne, daß es ist und noch zu klären bleibt, worin es denn besteht – bietet der Nachlaß Celans gleichwohl die Chance, jene Bezüge bewußter wahrzunehmen, die diese Dichtung in sich aufgenommen, versammelt und weitergeführt hat. Denn wenn die durch die Materialien des Archivs zum Teil recht plausibel rekonstruierbaren Relationen zu anderen Texten nicht als Ingredienzen des Gedichts aufgefaßt werden, die der Auslegung eine Form von Gewißheit geben, wenn hingegen der Blick auch wieder umgedreht, nämlich vom Gedicht her zu den sogenannten Quellen zurückgegangen würde, dann könnte das Gedicht bei allen Vorbehalten als ein Anfang genommen werden, der in einen zu eröffnenden Fragekomplex allererst hineinreicht. Das bedeutet, daß sich die auffindbaren Referenzen als durch das Gedicht veränderte Marksteine einer erst noch zu spezifizierenden Problemkonstellation erweisen, die das im Gedicht gezeitigte Denken als solche erstmals aufbricht. Geht man dem vom Gedicht aus nach, dann fängt die Arbeit dort an, wo Aufklärung versprochen schien. Angeregt durch das im Nachlaß zu Entdeckende, könnte sich der Lektüre eine Heuristik entfalten, die unversehens einen anderen Gegenstand vorfindet. Nicht mehr nur die um den Autor sich generierende Celan-Forschung wäre zu bewerkstelligen, sondern von Celans Dichtung her wären 22

Vgl. insb. Kap. Engführung, S. 33 ff. und S. 50 f.

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Gänge in die Literatur-, Geistes- und Realgeschichte möglich, die neue Einblicke auf diese eröffnen. Das Desiderium für die künftige Celan-Forschung wäre demnach eine durch dessen Gedichte und Übersetzungen vermittelte „fremde Nähe“23 zum Text Kafkas, Mandel’štams, Pessoas, Rimbauds, Shakespeares etc. Gerade weil sich Celans Dichtung nicht nur auf die tiefgreifende Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts bezieht, sondern selbst immer wieder eine Zäsur zu setzen vermochte,24 welche die Möglichkeitsbedingungen sowohl des Dichtens als auch des Lesens von Literatur offenlegt, ist sie eine Art Zeitprisma, das eine spezifische Textnähe beispielsweise zur Dichtung Hölderlins vermittelt, die weder eine historisch-kritische noch gar eine ‚zeitlose‘ Lektüre von Hölderlins Schriften herzustellen vermöchte. Es ist also zu prüfen, ob von Celans Gedichten her eine Intertextualität zu entdecken ist, die nicht auf eine Quellenkunde25 reduziert wird, sondern die vielmehr in die Lage versetzt, etwa Hölderlins Dichtung aus neuer Perspektive anders wiederzuentdecken. Denn stellt man sich als Leser der hermeneutischen Grundfrage, unter welchen Bedingungen Texte aus einer entfernten Zeit und aus fremd gewordenen kulturellen und politischen Kontexten heute rezipiert werden können, dann könnte gerade der gleichsam verkürzende Umweg über Texte, die aus der Mitte ‚unserer Epoche‘ eine Aus-

23

Vgl. den nach einer Notiz von Celan betitelten Ausstellungskatalog „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer, zusammengestellt von Axel Gellhaus et al., Marbach a. N. 1997, 14. 24 Inwiefern die Shoah als Zäsur anzusehen ist, muß weiterhin bedacht werden; vgl. hierzu: Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988. Von Diners Ansatz, der die Shoah als Zivilisationsbruch begreift, distanziert sich Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoa, Heidelberg 1999, 21 f. Die Zäsur der Shoah ist jedenfalls nicht, wie Philippe Lacoue-Labarthe vorschlägt, mit dem zu vergleichen, was Hölderlin unter einer „Cäsur“ begriff; vgl. ders.: Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik (Paris 1987), Stuttgart 1990, 67 ff. Diesbezüglich geht Jean-François Lyotard kritisch auf Lacoue-Labarthe ein, vgl. Lyotard: Heidegger und „die Juden“, Wien 1988, 98–103. Bedenklich ist es ebenfalls, Hölderlins „Cäsur“, die den Verlauf der Tragödie dahingehend korrigiert, daß sich ein „Gleichgewicht“ einstellt (vgl. Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus und Anmerkungen zur Antigonae, in: Werke, Große Stuttgarter Ausgabe (StA), hg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1943–1985, Bd. V, 196 f. u. 265 f.) mit Celans „Atemwende“ gleichzusetzen. Dies versucht Sieghild Bogumil: Celans Hölderlinlektüre im Gegenlicht des schlichten Wortes, in: Celan-Jahrbuch 1 (1987), 81–125, insb. 86 f. Zum Problem vgl. auch die Arbeiten von Bernhard Böschenstein: Hölderlin und Celan, in: Hamacher / Menninghaus (Hg.): Paul Celan (Anm. 14), 191–200 und Lacoue-Labarthe: Katastrophe, in: ebd.: 31–60; sowie ders: Dichtung als Erfahrung, Stuttgart 1991. 25 Schon Julia Kristeva hat den Terminus der Intertextualität ausdrücklich von einem „banalen Sinne von ‚Quellenkritik‘“ abgegrenzt. Sie hat ihn darum durch den Begriff der „Transposition“ ersetzt. Dieser Terminus „hat den Vorteil, daß er die Dringlichkeit einer Neuartikulation des Thetischen beim Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen unterstreicht.“ Dies.: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M. 1978, 69.

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einandersetzung mit dem alten Werk auf sich genommen haben, einen Zugang zur überlieferten Literatur herstellen. Ungeachtet der Tatsache, daß auf diesem Wege das grundlegende hermeneutische Problem vom alten auf den neuen Text verschoben wird, können sich in der Vermittlung durch Celans Gedichte Lektüren des Älteren ergeben, die in dieser Form beachtliche Einsichten freilegen. Gerade weil das Lesen von Literatur einem historisch gewachsenen und gleichwohl meist unbewußten Deutungsraster unterliegt, das als solches erst in Differenzerfahrungen einsichtig wird, werden beispielsweise bestimmte in Hölderlins Dichtung angelegte Tendenzen erst dadurch lesbar, daß sie durch die jüngere Dichtung aufgenommen und sub-versiv, das heißt unauffällig aber wortgetreu auf die eigene Zeiterfahrung hin gewendet, fortgeführt werden. Indes ist hervorzuheben, daß es bei der (Re-)Konstruktion der Text-zuText-Relationen, die sich aus der Lektüre von Celans Gedichten ergeben, nicht ausreicht, diese mit Hilfe der unter dem Stichwort Intertextualität diskutierten produktions- und wirkungsästhetischen Kategorien zu erschließen. Es gilt darum, diesen Gesichtspunkten systematisch noch vorgeordnet, die Frage wach zu halten und zu explorieren, wie gerade dann, wenn Celan auch als Leser vorgestellt wird, die Möglichkeitsbedingungen des Lesens gelesen werden können? Von Celans Gedichten her die Lektüre dieser Konstellationen aufzunehmen, bedeutet darum auch, im Text auf jene Textzeichen zu achten, die überhaupt auf einen intertextuellen Bezug verweisen. In diesem Zusammenhang ist Eckhard Lobsien zuzustimmen, der an der sich in den 1980er Jahren methodisch so ambitioniert gebenden und sich zugleich etablierenden Intertextualitätstheorie bemängelt, daß sie das, was sie mit der Dezentrierung des Autor-Subjekts in Aussicht stellt, nämlich den Texten in ihrer von der Intention des Autors unabhängigen Eigenheit gerechter zu werden, nicht selten selbst konterkariert. „Gerade Texte, die den Leser in der Immanenz ihres Systemaufbaus halten und ihn so an intertextuellen Expeditionen hindern, die ihn dabei in zutiefst paradoxe rhetorische und semantische Operationen verwickeln, vermögen Irritationseffekte zu erzeugen, die in der ästhetischen Erfahrung das tatsächlich zugänglich machen, was die Intertextualitätstheorie lediglich postuliert.“26 Nun ist einer der Irritationseffekte von Celans Gedichten, daß gerade die sogenannte textimmanente Lektüre den Umstand eröffnet, daß diese Dichtung notwendigerweise über sich hinausgeht. Sichtbar wird dieses etwa daran, daß sich die Gedichte vorzugsweise im Gespräch mit einem anderen konstituieren: – du. Die Begegnung und das Gespräch sind für die Dichtung Celans aber nicht deshalb konstitutiv, weil diese Literatur ein 26

Eckhard Lobsien in seiner Rezension des Buches: Wolf Schmid / Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Dialog der Texte: Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien 1983, in: Poetica 17 (1985), 372–376, hier 375 f.

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„kommunikatives Handeln“ praktiziert,27 sondern darum, weil sie die notwendigen Voraussetzungen zu ergründen versucht, welche eine trotz allem immer wieder erhoffte Begegnung bestimmen. Denn das Gespräch ist insbesondere dann ein solches, wenn in ihm das angerührt wird, was es bedingt. Diametral hierzu ist die Wirkung des Geredes, das auf einem unhinterfragten Konsensus basiert. Eine derartige Kommunikation zementiert den Status quo dadurch, daß sie ihre Prämissen vergißt und somit unzugänglich hält. Dafür können die in diese Gemeinschaft eingelassenen Subjekte sich um so selbstverständlicher gegenseitig Konzessionen erteilen. Es ist aber eine solche kritiklos waltende Homogenität, derenthalben, wie Celan sagt, das Gedicht oft ein „verzweifeltes Gespräch“ ist. „Das Gedicht wird – unter welchen Bedingungen! – zum Gedicht eines – immer noch – Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch“ (III, 198). Celans Gedichte sind also allererst Gespräche auf dem Wege zum Gespräch. Dies ist hervorzuheben, weil bisweilen überlesen wird, daß Celan, um Genauigkeit bedacht, das Gespräch das ist, nämlich das oft verzweifelte, von dem Gedicht, das Gespräch wird, unterscheidet. Um sowohl herauszustreichen, daß in diesem werdenden Gespräch unabdingbar die Zeit mit ihren Daten mitspricht, als auch, daß das Gespräch noch aussteht, faßt er diesen Gedanken in einem Bild: – „wir sind weit draußen.“28 Für die in Celans Gedichte einbezogenen Prätexte bedeutet das, daß auch diese nach draußen und damit in die Perspektive einer bestimmten Zeiterfahrung versetzt werden, welche sie verwandelt erscheinen läßt. Das im Gedicht werdende Gespräch reißt längst in die Literaturgeschichte eingemeindete Texte wieder aus den von der Literaturwissenschaft hergestellten Kontexten heraus. Schon darum ist dieses Gespräch weniger kommunikativ als vielmehr eingefahrene Rezeptionswege unterbrechend. Daß ein derartiger destruktiver 27

So schlägt Bernd Schulte-Middelich vor, den Intertextualitätsbegriff derart zu bestimmen, daß „Texte allgemein und im besonderen literarische Texte als Teil kommunikativen Handelns“ erfaßt werden können, ders.: Funktionen intertextueller Textkonstitution, in: Ulrich Broich und Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 197–242, hier 205. – Wie sehr aber gerade das Ausbleiben einer erhofften Kommunikation das Schreiben initiiert, gibt Celan in seiner Meridian-Rede zu erkennen: „vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier“, III, 201. Damit aber ist die Kommunikation nicht einfach von der Rede zum Text auf ein anderes Medium vertagt worden. Diese „kleine Geschichte“ – vgl. Celans Prosatext Gespräch im Gebirg, III, 169–173 (vgl. auch Anm. 96) – führt vielmehr vor, woran das „Reden“ scheitert. 28 III, 199. Daß draußen die poetologische Standortbestimmung dieser Dichtung ist, verdeutlicht sich auch daran, daß Celan zwischenzeitlich erwog, dem Gedicht Engführung im Band Sprachgitter noch einen weiteren Zyklus folgen zu lassen und diesen Draußen zu betiteln, vgl. TCA Sprachgitter, 104.

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Akt jedoch anderes denn Willkür ist, macht eine Bemerkung Walter Benjamins deutlich. Wenn dieser sich als Geschichtsschreiber fragt: „Wovor kann aber etwas Gewesenes gerettet werden?“, dann dürfte seine Antwort auch für jene Texte gültig sein, die neben Celans Gedichte zu legen und erneut zu deuten wären: „Nicht sowohl vor dem Verruf und der Mißachtung, in die [das Gewesene] geraten ist als vor einer bestimmten Art seiner Überlieferung. Die Art, in der es als ‚Erbe‘ gewürdigt wird, ist unheilvoller als seine Verschollenheit es sein könnte“.29 Ebenso wie die von Benjamin attackierte Historiographie steht auch die Literaturwissenschaft in der Gefahr, zum Diener einer bestenfalls nichtssagenden Überlieferung zu werden, indem sie ihren Gegenstand in der besten Absicht zu erinnern und als Erbe zu würdigen versucht. Damit ihr dieses jedoch nicht blind unterläuft, sollte sie die Gelegenheit nutzen, Celans mit Zuversicht versehene Bohrungen30 in den sprachlichen „Gipfel[n] der Zeit“31 als im Benjaminschen Sinne destruktive Akte der Rettung zu verstehen.32 Das aber heißt nicht, sich damit zu begnügen, von Celan her Hölderlins Texte um jeden Preis ‚anders‘ zu lesen, sondern es gilt vordringlich, die poetologischen und mithin methodischen Implikationen aufzunehmen und zu analysieren, die Celan in seinen Auseinandersetzungen mit Hölderlins Texten aufwirft und (erneut) sichtbar macht. Celans Gedichte werden also als Interventionen verstanden, die an neuralgischen Punkten eine konfrontierende Konstellation mit anderen Texten inszenieren. In diesen Interventionen geht es nicht darum, den Prätext zu nutzen, um sich ihm gegenüber als originell abzuheben. Vielmehr legen – und das wird zu demonstrieren sein – Celans Gedichte durch ihr tiefprüfendes33 Bohren in den früheren Texten deren aufbewahrtes Problembewußtsein frei, um sich auf diesem Wege selbst die Möglichkeit zu eröffnen, eine Sprache zu finden, die den jeweiligen aktuellen Anforderungen nachkommt.

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Walter Benjamin: Archiv Ms 473, in: ders.: Gesammelte Schriften (GS), Frankfurt a. M. 1972 ff., Bd. I.3, 1242. 30 Vgl. den das Gedicht Zuversicht bestimmenden Imperativ: „Kommt, bohrt euren Stollen!“, I, 153. 31 Vgl. Hölderlins Hymne Patmos, 1. Strophe, StA II, 165. 32 „Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert – weil man es nämlich aus ihm herausschlug.“ Benjamin: Karl Kraus, GS II.1, 334–367, hier 365. Vgl. auch Heinrich Kaulen: Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins, Tübingen 1987; Klaus Garber: Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin, Tübingen 1987. 33 Hölderlin sagt in der Hymne Friedensfeier vom „gottgegebnen Geschenke“: „Tiefprüfend ist es zu fassen“, in: ders.: Friedensfeier, hg. und erläutert von Friedrich Beißner (Bibliotheca Bodmeriana IV), Stuttgart 1954, v. 59 f.

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Die Untersuchung gliedert sich dahingehend, daß zunächst an dem Gedicht Autopsicografia von Fernando Pessoa, das Celan übersetzte, grundlegende methodische Fragen bezüglich des Lesens und Deutens von lyrischer Sprache erörtert werden, so daß die Prämissen, die diese Studie leiten, transparent werden (Kap. Autopsychographie). Durch das Hinzuziehen des Pessoa-Gedichts verdeutlicht sich ex negativo auch das Spezifische der Dichtung Celans. Was dessen Schreiben näherhin auszeichnet, wird dann durch eine eingehende Lektüre des Gedichts Engführung bestimmt (Kap. Engführung). Das zyklisch strukturierte Gedicht Engführung ist zugleich der Ausgangspunkt für die zu rekonstruierende Konstellation zwischen Celan, Heidegger und Hölderlin. Dieses ‚Dreieck‘ wird zunächst systematisch erschlossen, indem mittels einer Analyse des Tempel-Motivs, das sich bei allen drei Autoren findet, jeweils eine Positionsbestimmung gegeben wird (Kap. Positionsbestimmungen), und schließlich diachron, indem Celans Entwicklung mit Heidegger und Hölderlin an weiteren Gedichten nachgewiesen und analysiert wird (Kap. Etappen der Lektüre). Die nachstehenden Lektüren und Erläuterungen sind selbst insofern zyklisch angelegt, als das im Kap. Das Ethos der Sprache lesen Erörterte im weiteren Verlauf der Studie immer wieder aufgenommen wird. Das gilt insbesondere auch für die Abschnitte, die überwiegend Hölderlins und Heideggers Werdegang darlegen (Kap. Die Athenertempel Hölderlins und Das Dastehen des Tempels bei Heidegger). Es empfiehlt sich darum, mit der nötigen Geduld dem Textverlauf in all seinen Zwischenschritten und Einzelinterpretationen bis zum ‚zusammenfassenden Urteil‘ (Kap. Rückblick – Zwei Briefentwürfe) zum Verhältnis zwischen Celan und Heidegger zu folgen.

II. DAS ETHOS DER SPRACHE LESEN

A. AUTOPSYCHOGRAPHIE Im Jahre 1929 schrieb der in Lissabon geborene und während seiner Jugendzeit in Südafrika aufgewachsene Dichter Fernando Pessoa (1888–1935) das für seine Dichtung insgesamt programmatische Gedicht Autopsicografia.34 Es ist ein Gedicht über die Bedingungen des Schreibens und Lesens und gibt damit Anlaß zu einer Lektüre, die eben diese Bedingungen und deren Konsequenzen hinterfragt. Autopsicografia ist eines jener insgesamt sieben ausgewählten Gedichte, die Paul Celan im Frühjahr 1954 mit Hilfe von Edouard Roditi aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzte. In der Neuen Rundschau wurden diese Übertragungen schließlich 1956 veröffentlicht.35 Aufmerksam geworden ist Celan auf den portugiesischen Dichter wohl durch die von Roditi und Alain Bosquet herausgegebene Zeitschrift Exils: Revue semestrielle de poésie internationale, die 1952 ihre erste Ausgabe in der Librairie Stock in Paris unter anderem mit Texten Pessoas in französischen Übertragungen versah.36 Das sieben Jahre nach seiner ersten Beschäftigung mit Pessoa von Fritz Arnold an Celan gemachte Angebot, weitere Texte des Portugiesen zu übersetzen, lehnte dieser dann mit der Begründung ab, daß er aus ihm „nur mittelbar zugänglichen Sprachen nicht übersetzen kann“.37 Um so bemerkenswerter ist es, daß Celan mit Autopsicografia ein Gedicht ins Deutsche „übergesetzt“38 hat, welches das Problem der Mittelbarkeit respektive Mitteilbarkeit explizit macht. Es dürfte die in diesem Gedicht umrissene „Phänomenologie des Poe34

Fernando Pessoa: Obras completas I: Poesias de Fernando Pessoa, fundada por Luís de Montalvor, Lissabon (1942) 61996, 237; – Burghard Baltruch hält Autopsicografia für das „wichtigste unter Pessoas programmatischen Gedichten“, ders.: Bewußtsein und Erzählungen der Moderne im Werk Fernando Pessoas, Frankfurt a. M. et al. 1997, 185, Anm. 14. 35 Die Neue Rundschau 67 (1956), H. 2/3, 401–410. 36 Vgl. Celan als Übersetzer (Anm. 23), 166. 37 Celan: Brief an Fritz Arnold, 16. April 1961, zitiert ebd., 170. 38 Im Zusammenhang seiner Picasso-Übertragungen bemerkt Celan am 1. April 1954 – genau in der Zeit, als er auch mit Pessoa beschäftigt ist – gegenüber Peter Schifferli, dem Leiter des Arche Verlag in Zürich: „der Picasso-Text will nämlich nicht nur übersetzt, sondern auch – wenn ich ein Heidegger-Wort missbrauchen darf – übergesetzt sein. / Sie sehen: es handelt sich für mich – mitunter – um eine Art Fergendienst.“ Zitiert nach: Celan als Übersetzer (Anm. 23), 399.

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Das Ethos der Sprache lesen

tischen“39 gewesen sein, die Celan trotz seiner geringen Portugiesischkenntnisse 1954 veranlaßt haben mögen, eine Übersetzung dieses Textes anzufertigen. Er gab Pessoas Gedicht folgende Gestalt:40 AUTOPSICOGRAFIA

AUTOPSYCHOGRAPHIE

O poeta é um fingidor. Finge tão completamente Que chega a fingir que é dor A dor que deveras sente.

Der Dichter macht uns etwas vor: So weit treibt er sein Spiel, Daß Kummer, den er wirklich fühlt, Gespielter Kummer wird.

E os que lêem o que escreve, Na dor lida sentem bem, Não as duas que ele teve, Mas só a que eles não têm.

Und der dann liest, was jener schrieb: Statt jener Doppelpein Empfindet er ein Drittes nun: Den Schmerz, den er nicht fühlt.

E assim nas calhas de roda Gira, a entreter a razão, Esse comboio de corda Que se chama o coração.

Und so, dem Geist zum Zeitvertreib, Rollt sie auf ihrem Gleis: Die kleine Spielzeug-Eisenbahn, Gemeinhin ‚Herz‘ genannt.

Fernando Pessoa

Paul Celan

Der Titel des Gedichts ist eine Deviation. Statt Autopsychographie würde man lieber das bekannte und mithin verständliche Wort Autobiographie lesen wollen. Doch daß ein Gedicht den Namen einer anderen literarischen Gattung anführt,41 so als wollte es lehrhaft zu einer Definition über diese ansetzen, würde nicht minder irritieren. Das Gedicht hebt allerdings, wie sich dann zeigt, durch die Anspielung auf ein anderes literarisches Genre das Spezifische seiner eigenen Gattung hervor. Der Titel bereitet die Leser jedenfalls darauf vor, daß in diesem Gedicht Programmatisches zur Sprache kommt. Inhaltlich scheint er zu bestätigen, daß die Lyrik jene literarische Form ist, in der wie Hegel sagt „das einzelne Subjekt“ und „das Gemüt mit seinem subjektiven Urteil, seiner Freude, Bewunderung, seinem Schmerz und Empfinden“,42 kurz die 39

Celan dachte daran, eine solche Phänomenologie auszuarbeiten, hier zit. n. Axel Gellhaus, in: Celan als Übersetzer (Anm. 23), 14 und 389. 40 Die Neue Rundschau 67 (1956), H. 2/3, 402; und in: V, 566f. Die Titel von Celans Gedichten sind hier und im folgenden in der typographischen Gestalt nach der Ausgabe der Gesammelten Werke gesetzt. 41 Zu den Schwierigkeiten, die Autobiographie als literarische Gattung zu bestimmen, vgl. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Frankfurt a. M. 1993, 131–146. 42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik (1818–1828), hg. von Friedrich Bassenge, Berlin / Weimar 1955, Bd. II, 471.

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Psyche des Einzelnen, Bewußtsein erlangt. Doch durch die befremdliche Abweichung nimmt der Titel schon vorweg, was erst nach dem Lesen des Gedichts verständlich werden kann: daß nämlich insbesondere die Lyrik der Ort in der Sprache ist, in dem angezeigt werden kann, ja muß, daß der Übergang von der Psyche des einzelnen Subjekts zur Schrift, die einem allgemeinen Bewußtsein zugänglich ist, problematisch ist. Warum das so ist, und wie das Gedicht auf diese Differenz eingeht, das soll im folgenden vorzugsweise an Celans Textversion erörtert werden, welche ganz der Forderung nachkommt, ihres „Anders- und Verschiedenseins“, ja ihres „ G e s c h i e d e n s e i n s “ vom Original eingedenk zu bleiben.43 Die erste Strophe entblößt den Dichter, indem sie sich ganz auf die Seite des Rezipienten stellt und aus dieser Perspektive das Artefakt beim Namen nennt: uns Lesern macht der Dichter etwas vor (v. 1), er fingiert etwas für real gegeben, was nicht der Wirklichkeit entspricht. Damit scheinen sich die ersten Verse dessen zu bezichtigen, was seit der Antike variiert wiederholt worden ist: Die Dichter lügen.44 Aber was hier eine Dichtung über sich selbst schreibt und dabei en passant über das Schreiben zum besten gibt, wiegt schwerer noch als der altbekannte Tadel, die Dichter würden nur eine Scheinwelt erfinden.45 Denn mit diesem Vorwurf ist zugleich die Option bekundet, es würde neben der ihrem Wesen nach täuschenden Imagination des DichterSpiels (v. 2) in und mit der Sprache die Wahrheit ausgedrückt werden können. Doch auch dieses Selbstverständnis wird in der im Gedicht entwickelten Autopsychographie erschüttert. Denn während der Dichter von sich (Autopsycho) als Autor einer Schrift (graphie) Bericht gibt, beschreibt er weniger seine Psyche, sondern dekonstruiert vornehmlich die Fassungskraft der Schrift. Das Gedicht setzt also zu einer Analyse der Schrift an, die sowohl den Vorgang des Lesens als auch die Möglichkeiten, welche die Sprache überhaupt zur Mitteilung gewährt, grundlegend auf die Probe stellt. Die Tragweite dieser Problemstellung ergibt sich aus dem Umstand, der die Eigenanalyse des Dichter-Spiels veranlaßte. Jene war notwendig geworden, weil der Wunsch unerfüllt blieb, von dem, was der Dichter als das Wirkliche 43

Vgl. Celan: Brief an Werner Weber, 26. März 1960, in: Celan als Übersetzer (Anm. 23), 397. 44 Ausgerechnet „der erste griechische Dichter, der sich mit Namen nennt“, nämlich Hesiodos von Askra, räumt im Prooemium zur Theogonie ein, daß die Musen, welche seinen Gesang ermöglichen, auszeichne, sowohl zur Lüge als auch zur Wahrheit fähig zu sein. Vgl. Wilfried Stroh: Hesiods lügende Musen, in: Herwig Görgemanns und Ernst A. Schmidt (Hg.): Studien zum antiken Epos, Meisenheim am Glan 1976, 85–112, hier 85 f. Diese Erkenntnis gibt der Dichtungstheorie seitdem zu denken. Vgl. auch Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung, Darmstadt 21992, insb. 89–92. 45 Vgl. Platon: Politeia, 599 a.

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erfährt und von dem er mit Gewißheit fühlt (v. 3), daß es ist, zu berichten. Dieses Scheitern und seine Folgen (Und ... dann, v. 6) geben jenen sich selbst inkriminierenden Versen, mit denen das Gedicht einsetzt, eine weitergehende Signifikanz. Nicht weil er sein Spiel zu weit getrieben hat, verhindert zu sagen, wie und was der gefühlte Kummer wirklich (v. 3) sei, sondern es zeigt sich dann in den Ausführungen der zweiten Strophe, daß es im Wesen der Schrift selbst liegt, daß das, was jener schrieb (v. 5), für den Leser nicht mehr als ein gespielter Kummer (v. 4) sein kann. Was zunächst als Ursache in einem Kausalverhältnis erscheint (So weit treibt er sein Spiel, / Daß, v. 2 f.), erweist sich vielmehr als Konsequenz einer Einsicht: Nicht weil der Dichter spielt, fühlt der Leser den niedergeschriebenen Kummer nicht (v. 8), sondern weil dieser das Geschriebene nicht fühlen kann, bleibt jenem nur, seinen Kummer schreibend vorzuspielen. Daß sich der Dichter gleichwohl als verursachendes Subjekt darstellt, das tatsächlich etwas setzt und inszeniert,46 verdankt sich der hier zurückgelegten Erkenntnisstrecke (weit, v. 2). Indem diese im Gedicht analytisch ausgemessen wird, zeigt sich, daß Dichter und Leser je auf ihre Weise an der Schrift abprallen: Während dieser einen Schmerz empfindet, den er nicht fühlt (v. 7 f.), kann jener seine Doppelpein (v. 6) wohl noch benennen, nicht aber wirklich (v. 3) vermitteln. Dieses asymmetrische Verhältnis zwischen Dichter und Leser hebt Celans Text noch dadurch hervor, daß der dritte Vers, Daß Kummer, den er wirklich fühlt, und der achte, Den Schmerz, den er nicht fühlt, nahezu identisch gestaltet sind und auf diese Weise die hier betonte Differenz augenfällig machen. Damit erweist sich der Eingangsvers der zweiten Strophe als der Differenzpunkt, an dem sich der, der dann liest und jener, der schrieb (v. 5), trennen, wo sie sich doch zum einander verstehenden Austausch treffen sollten. Den ‚ehrlichen‘ Dichter zeichnet aus, diese Demarkation, die die Linie der Schrift immer schon präsupponiert, selber zu präsentieren. Das erlaubt und nötigt ihn gleichermaßen, das Spiel (v. 2) der Sprache nicht nur zu spielen, sondern eigens darauf aufmerksam zu machen, daß ihm keine andere Wahl bleibt, als unter dem Gesetz zu schreiben, welches den Übertritt des unmittelbar Wirklichen ‚über‘ die Schrift untersagt. Für den Leser bedeutet dies, daß er die andere Seite der Linie, die der Dichter gibt, indem er sie zieht, nicht einsehen kann. Ihm bleibt jenes ‚Ursprüngliche‘ verborgen, das zum Schreiben bewogen haben mag. So hinkt der Leser nicht nur immer hinterher (dann, v. 5) und kann nicht nur nicht ermessen, welchen wirklichen Kummer (v. 3) der Dichter seinen Zeilen anvertrauen wollte, sondern ihm entgeht darüber hinaus all zu leicht auch des Dichters anderer Kummer (v. 4), 46

Entsprechend betont Georges Güntert beim Wort fingidor (v. 1) den „vollen, lateinischen Sinn, also auch den der Neuschöpfung“, ders.: Das fremde Ich. Fernando Pessoa, Berlin / New York 1971, 107.

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der sich dadurch einstellt, daß diese Grenze der Sprache nicht aufzuweichen ist. Beides zusammen bewirkt die Doppelpein (v. 6). Daß sie unmittelbar mit dem Darstellungsproblem zusammenfällt, ist zu betonen. Es wäre sonst nicht zu verstehen, warum denn auch das Spiel des Dichters mit dem Darstellungsvermögen der Sprache eine Pein sein sollte und es würde sonst übersehen werden, wie analytisch genau das Wort Doppelpein diesen Sachverhalt faßt. Die Doppelpein ist darum eine doppelte, weil sie systematisch mit dem wirklichen Kummer einhergeht. Denn dieser verlangt, daß man sich – und erst recht der Dichter – des Kummers wegen um die Sprache kümmert. Der wirkliche Kummer und das Sichkümmern um die Sprache machen das Problem der Darstellung allererst bewußt, welches eben das der Doppelung ist. Der Schmerz respektive der Kummer muß ‚verdoppelt‘ werden, aber er kann in der Sprache nicht einfach wiederholt werden. Die Doppelpein ist demnach die Pein an der verfehlenden Doppelung dessen, was unabweisbar nach Darstellung verlangt. Der Kummer ist ein Affekt, der nicht für sich bleiben kann; er drängt sein mit Sprache begabtes Subjekt an die Grenze des in der Sprache Sagbaren. Im Wort Doppelpein ist dieses unerfüllte und darum aporetische Verhältnis zwischen Schmerz und Sprache zusammengedacht. Der Doppelkonsonant pp im ersten Teil des Kopulativums Doppel-pein wiederholt wohl das eine P der Pein. Der Leser aber liest und empfindet ein Drittes nun (v. 7): Ein Wort mit dreifachem p, das nicht derart auseinanderzudividieren möglich ist, so daß der einfache und unmittelbare Schmerz zu fühlen wäre, welcher der Darstellung vorausgeht. Darum spielt der Dichter uns etwas vor. Ihm bleibt, weil er die Grenze der Sprache nicht um- oder übergehen kann, aber gleichwohl seinem Gefühl zur Sprache verhelfen muß, nur, die Sprache als Spiel zum Sprechen zu bringen. Dergestalt spricht das Gedicht von der Psyche der Graphen: Auto-psycho-graphie. Dem entspricht, daß das Gedicht insbesondere in den ersten beiden Strophen auto-analytisch verfährt. Celan betont das durch die vier zwischengesetzten Kola (v. 1, 5, 7 u. 10), welche die argumentativen Schritte des Gedichts strukturieren. Und auch Pessoa hat durch die Iteration des einsilbigen Strophenanfangs (O, E, E) angezeigt, daß sich an die Eingangs geleistete Analyse eine auf zwei Ebenen gezogene Konklusion (Und ... dann, v. 5; Und so, v. 9) anschließt. Diese ist: Übrig bleibt ein Gedicht, das auf eine (wirkliche) Erfahrung referiert und gleichwohl dem Leser nur eine ‚leere‘ Form gibt, die sich nicht auf einen einfachen Sachverhalt zurückübersetzen läßt. Aus dem ersten und ernsten Kummer (v. 3), der den Dichter das Spiel der Sprache bis an die Grenze des Sagbaren – So weit – treiben (v. 2) ließ, ist etwas geworden, das nun dem Geist zum Zeitvertreib (v. 9) dient. Es sind darum die Leser, die sich unbewußt etwas ‚vor-lügen‘, wenn sie den gespielten Kummer mit dem verwechseln, was sie für den authentischen, das Herz (v. 12) betreffenden

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Schmerz halten. Das Gedicht aber gibt zu bedenken, daß Herz und Schrift notwendigerweise auseinanderfallen. Irritierend aber bleibt, daß dieses Gedicht von sich selbst sagt, daß es ein Spiel treibt. Warum sollte es ihm diesbezüglich möglich sein, wahr zu sprechen und bei klarem Bewußtsein nicht zu täuschen? Es ist ihm darum überhaupt zu mißtrauen. Diese grundlegende Skepsis potenziert sich nochmals dadurch, daß das Gedicht in der abschließenden Strophe praktiziert, was gemeinhin (vgl. v. 12) von einer Dichtung erwartet wird und dergestalt dem gerade zuvor desavouierten Trug wieder Vorschub leistet. Lügt das Gedicht also doch, indem es uns Lesern falsche Bedingungen vormacht? Die letzten Zeilen entwerfen die Metapher von der kleinen Spielzeug-Eisenbahn, die sich auf vorherbestimmtem Gleis (v. 10 f.) fortbewegt. Daß auf dem Umweg über einen bildhaften Vergleich das eigentlich Gemeinte (so, v. 9) gesagt wird, scheint nach dem zuvor Erkannten nicht mehr zulässig. Denn dergestalt wird ein inneres Band zum Signifizierten suggeriert, dessen nicht zu kompensierende Zerrissenheit doch gerade die Doppelpein (v. 6) ausmache, die der Dichter zu ertragen habe. Was bewirkt dieser Tonwechsel der abschließenden Strophe, die einem naiven „Gedicht im Gedicht“47 gleicht, das im Grunde ein solches nicht mehr sein dürfte? Paradoxerweise evoziert ausgerechnet dieser Rückfall in ein metaphorisches Sprechen ein Bild, welches das zuvor Analysierte zu synthetisieren scheint. Dieses Bild steht für das Spiel der Sprache. Es darf also nicht mehr als bloßer Schein sein. Denn das, worauf es als Metapher zielt, um so (v. 9) das Gemeinte zu umschreiben, ist kein Eigentliches, sondern das Bild für jene leere Anschauung, die gemeinhin für voll genommen und Herz genannt (v. 12) wird. Wie aber kann eine Metapher eine leere Anschauung treffen und derart vorstellig machen? So bleibt ein Bild, das nicht nur die Vorstellung des Geistes vom Herzen, sondern die Metapher als solche ad absurdum führt. Damit aber wird grundsätzlich fraglich, ob es denn überhaupt noch hinter allem mit der Sprache Vorgespielten ein Verborgenes gibt? Hinterrücks ist der alte Dichtertopos torpediert, wonach der Dichter daran leidet, nicht adäquat „Des Herzens Meinung“48 sagen zu können. Auf genau diesen Topos aber lief zuvor die Analyse der Schrift in der ersten und zweiten Strophe hinaus. Ist des Dichters Kummer also nie wirklich und ernst gewesen und ist selbst die Doppelpein am Ende nur fingiert? Gibt es folglich neben oder hinter der Schrift und ihren Bildern überhaupt kein unsagbares Pathos? Gilt damit für das Gedicht insgesamt, daß es nicht mehr als eine Spielzeug-Eisenbahn ist, mit der sich keine wirkliche Wegstrecke zurücklegen läßt, weil es eine solche bloß simuliert, um dem Geist die Zeit zu vertreiben? Gegen derartige Vermutungen wäre anzuführen, daß sich 47 48

Baltruch: Bewußtsein und Erzählungen (Anm. 34), 189. Hölderlin: Andenken, v. 33 f., StA II, 189.

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im Spiel der Sprache noch etwas anderes als sie selbst zu erkennen gibt, daß also eine Form von Mitteilung gegeben ist, gerade weil der literarische Text auf das Spielerische seiner Darstellung eigens verweist. Denn etwas (vgl. v. 1) muß dem zugrunde liegen, das dem Dichterspiel sowohl Raum als auch Antrieb gibt. Läßt sich dieser Grund genauer bestimmen? Wie verhält es sich etwa mit der affektgeladenen Energie respektive mit dem Trieb, der das Treiben (vgl. v. 2) des Dichters zur Sprache hin motiviert – ganz gleich, ob die Leser das Fingierte des Textes dann (v. 5) nur zum gelangweilten49 Zeitvertreib (v. 9) benützen oder nicht? Äußert sich diese Energie nicht doch im Text und gibt sich so als sein Wirkliches zu erkennen? Expressis verbis kann das Gedicht diese Fragen nicht beantworten, weil es bereits aufgewiesen hat, daß die hierfür erforderliche Gewißheit des Sagenkönnens, wie es wirklich sei, fehlt. Es ließe sich mithin für dieses Gedicht konstatieren, was nach Hamacher für „literarische Texte von Rang“ generell gilt: An „die Stelle der unzweifelhaften Existenz eines Referenten [versuchen sie] das Pathos ihrer Negativität zu setzen“.50 Gerade dann, wenn ein Subjekt schmerzhaft erfahren muß, daß es von einem Affekt in die Pflicht genommen ist, diesem zur Sprache zu verhelfen und doch einsehen muß, daß die Figuren und Tropen der Sprache dem nicht entsprechen können – das ist die Doppelpein von Schmerz und Erkenntnis, die offenbart, wie sehr das Subjekt durch die Sprache bedingt ist –, bleibt diesem ‚Subjekt‘ allein noch eine literarische Sprache, die ihre metaphorischen Bilder negiert, um in dieser Negativität das Pathos vorzustellen. Diese Literatur muß und will dann vor allem „eine Sprache der Desillusionierung über die Bedeutungsfähigkeit der Sprache“ sein. Damit die Illusion der Sprache aber als solche sichtbar wird, darf die Sprache der Affekte „nicht etwas, sondern bloß ihr eigenes Sprechen, keine Vorstellungen mehr, sondern [nur] die Form des Vorstellens selbst“ artikulieren. „Insofern ist die Figur des Pathos nicht mehr eine für das Pathos, sondern das Pathos selbst“.51 Heißt das letztlich, daß die Sprache allein noch in dieser negativen Gewißheit eine verbindliche Bedeutung annehmen kann? Hamacher

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Bemerkenswert ist, daß sich Baudelaire in Les Fleurs du Mal (Anm. 1) an den scheinheiligen Leser, „[au] Hypocrite lecteur“ (v. 40), wendet, um diesen auf das häßlichste und schmutzigste unser Laster – „nos vices, / Il en est un plus laid, plus méchant, plus immonde!“ (v. 32 f.) – aufmerksam zu machen: „C’est l’Ennui! – l’œil chargé d’un pleur involontaire“ (v. 37). Gerade im Gefühl der Langeweile aber, und damit dann, wenn der Versuch sich die Zeit zu vertreiben mißlingt, setzt sich eine unwillkürliche Regung frei: „un pleur involontaire“. – Daß sich Baudelaire überhaupt an seine Leser wendet, zeigt nach Walter Benjamin, daß er „mit Lesern gerechnet [hat], die die Lektüre von Lyrik vor Schwierigkeiten stellt“, ders.: Über einige Motive bei Baudelaire, GS I.2, 607. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Eingangs (S. 1) aufgestellten Thesen. 50 Hamacher: Lectio (Anm. 2), 163. 51 Ebd., 164.

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legt diese Folgerung zumindest nahe, wenn er zunächst festhält: „Nicht die Macht, sondern die Ohnmacht des Gefühls – seine Wahrheit, daß es der Sprache nicht mächtig sei und daß keine Sprache ihm entsprechen könne – schafft die Verbindung zwischen dem Subjekt der Rede und dem des Verstehens. […] Die Sprache des Pathos wäre also die Sprache des reinen Verstehens im Medium der Negativität.“52 Das Verbindende zwischen dem Subjekt der Rede und dem Leseverständnis wäre also ein Text, der vorführt, daß er nur ein „Medium der Negativität“ sein kann, das qua Eigenanalyse das Problem der Darstellung als unmögliche Doppelung eines Sachverhalts – und die hiermit verbundene Pein – bewußt hält. Bezüglich des Gedichts Autopsychographie scheint sich damit widersinniger Weise zu bestätigen, daß ausgerechnet die absurde Metapher von der sich im Kreise53 drehenden Spielzeug-Eisenbahn der Sprache des Pathos, welches die Sprache des Herzens sein sollte, als ‚EntSprechung‘ entspricht. Nichts ist also gesagt, außer, daß es nichts zu sagen gibt? Dann aber ist nachzufragen, was denn eine Lektüre, die auf die unvermeidliche Verfehlung der Sprache aufmerksam macht, von denjenigen Lesern unterscheidet, die den vorgetäuschten Kummer nach wie vor als den wirklichen Schmerz begreifen? Kongruiert mit dem negativen und reinen Verstehen schließlich ein schmerzfreies Lesesubjekt, das sich von seiner ersten gefühlsbetonten und darin naiven Blindheit zu einer unantastbaren Abgeklärtheit modifiziert hat? Hamacher warnt davor, dieser so verständlichen „Verführung der Negativität“54 schlicht Folge zu leisten. Diese Art von wissenschaftlicher Lektüre von literarischen Texten mag in dem Aufweis der Negativität den Grund ihres Geschäftes festhalten wollen, und sie mag sich einreden, daß sie affirmativen Feststellungen und bloßen Versicherungen gegenüber eine Denkbewegung voraus habe, weil diese – Stichwort „Erklärungsphilologie“55 – nicht davor zurückschrecken, literarische Texte in klar bedeutsame kommunikative Situationen zurückzuübersetzen. Ihr bleibt dann aber nicht mehr, als sich darauf zu beschränken, zum Ausdruck zu bringen, wie wenig über Texte an sich ausgesagt werden kann, und sie müßte sich damit begnügen, auf die blinden Flecken der anderen Lektüren hinzuweisen. Doch in dem Grade, wie der li52

Ebd., 165. Vgl. die Übersetzung der letzten Strophe von Georg Rudolf Lind: „Und so fährt auf ihrem Gleise, / unterhaltsam dem Verstand, / eine Spielzeugbahn im Kreise, / unser Herz genannt“ in: Pessoa: Poesie, Frankfurt a. M. 1962, 127; sowie die französische Übertragung von Michel Chandeigne und Patrick Quillier: „Ainsi, sur ses rails circulaires / Tourne, accaparant la raison, / Ce petit train à ressorts / Qui s’appelle le cœur.“ in: Pessoa: Je ne suis personne. Une anthologie, publ. par Robert Bréchon, Paris 1994, 95, beide Hervorh. von mir. 54 Hamacher: Lectio (Anm. 2), 165. 55 Ebd., 151. 53

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terarische Text vor unzulässigen Aneignungen bewahrt würde, stellt sich die Frage, ob eine Wissenschaft, die von sich weiß, daß sie Zurückhaltung üben muß und sich allenfalls ex negativo zur Sache äußern kann, sich nicht selbst ins Abseits stellt, weil sie sich schließlich zu einer Blindheit zweiter Ordnung gesteigert hätte. Eine solche negative Gewißheit droht, wie Hamacher ausführt, „so nüchtern, pragmatisch und illusionslos sie sich“ beim Rückzug auf eine rein „negative Epistemologie, eine negative Hermeneutik oder eine negative Dialektik“ gibt, dazu zu verkommen, „eine Logologie des Pathos, eine Pathologie [zu] betreiben, die – unkritisch gegen ihren Begriff der Kritik – die Bewegung der Intentionalität, statt sie zu analysieren und sie in den Texten analysiert zu lesen, mechanisch bloß wiederholt.“56 Statt sich den hermeneutischen Schwierigkeiten beim Lesen eines spezifischen Textstücks noch hinzugeben, von dem als je Einzelnem nicht behauptet werden kann, daß es ein „von allen referentiellen Bezügen freies Spiel von Signifikanten“ sei, das nicht auch einer „semantischen Gravitation“57 unterliegt, bündelt sich diese „negative Totalisierung“58 lieber in einer ‚Einsicht‘, die ihr Spiegelbild ironischer Weise wiederum in einer Metapher findet. Die Metapher für die negative Gewißheit aber ist – womit die dritte Strophe einen bitteren Ton erhält –: „Und so, dem Geist zum Zeitvertreib / Rollt sie auf ihrem Gleis: / Die kleine Spielzeug-Eisenbahn. / Gemeinhin ‚Herz‘ genannt.“ Mit der Metapher von der Spielzeug-Eisenbahn, die mechanisch und permanent iterativ um das kreist, was sie nicht sein kann, nämlich das Herz der Dinge, hätte sich hier die Rhetorik auf einer zweiten Stufe bestätigt, daß sie einen ‚treffenden‘ Ausdruck besitzt. Dem Vorzug, der von Seiten der negativen Gewißheit der Metonymie gegenüber der Metapher eingeräumt wird, nämlich dem, daß jene der Arbitrarität der Sprache Rechnung trage, wäre wiederum performativ widersprochen. Damit gilt unter verkehrten Vorzeichen von dieser wissenschaftlichen Lektüre, was Paul de Man für die Literatur nachzuweisen versucht, daß nämlich „die Behauptung der Vorherrschaft der Metapher über die Metonymie ihre Überzeugungskraft dem Gebrauch metonymischer Strukturen verdankt.“59 Hamacher hebt diesen Widerspruch auf Seiten der Literaturtheorie hervor, damit ihr nicht einfalle, sich mit dem derart ‚Erkannten‘ zufrieden zu geben. Denn wäre „das Pathos der Defiguration tatsächlich der determinierende Zug in der Struktur literarischer Texte, so wäre die seiner metonymischen Bewegung entsprechende Lektüre, paradox, deren Metapher.“60 – Die Metapher wäre nolens volens rehabilitiert; wenn sie nun auch nicht mehr der

56 57 58 59 60

Ebd., 166. Ebd., 167. Ebd. Paul de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, insb. 43–50, hier 45. Hamacher: Lectio (Anm. 2), 166.

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Sprache des Herzens zur positiven, sondern der Sprache des Geistes zur negativen Gewißheit verhilft. Gibt es aber im Gedicht selbst vielleicht einen Hinweis, der dazu auffordert, noch einmal genauer zu lesen, ohne die zwar reflektierte aber dennoch verblendete Kreisbewegung jener ‚zweiten Gewißheit‘ nochmals zu wiederholen? Denn das Bild von der Spielzeug-Eisenbahn, die man Herz heißt, ist noch in anderer Hinsicht unstimmig. Im Unterschied zu Pessoa hat Celan um das ‚Herz‘ (coração) einfache Anführungszeichen gesetzt. Das Herz ist also nicht einfach mit der Eisenbahn identisch. Ein Unterschied deutet sich an, der die Leser dazu auffordert, nicht bloß um den Text herum zu kreisen und von ihm zu behaupten, er bedeute nur seine eigene Bedeutungslosigkeit. Statt dessen wird man wohl eher zu einem zyklischen Lesen veranlaßt, damit die Lektüre nicht bei ihrem eingefahrenen Textverständnis stehen bleibt. Was bedeutet es also, daß Celan um das ‚Herz‘ Anführungszeichen gesetzt hat? Einiges spricht dafür, daß er es so gleichsam vor den verfälschenden Vorstellungen des Geistes zu ‚beschützen‘ versucht und ferner an die Leser den Wink61 gibt, die zuvor aufgeworfene Frage nach dem Antrieb dieses so weit getriebenen Spiels der Sprache, trotz der epistemologischen Einwände, weiter zu verfolgen. Auch wenn die Frage nach der Bedeutung der Anführungszeichen unbeantwortet bleiben muß, so könnte in diesem unbegründbaren Dichter-Spiel etwas zum Vorschein kommen, das dem eher unscheinbaren Wechsel der Perspektive zu entnehmen wäre, der sich in den drei Strophen vollzieht. Denn was mit einer einvernehmlichen Übereinkunft mit den Lesern begann (uns, v. 1),62 erweist sich schließlich als eine unversöhnliche Leserschelte, die deutlich macht: Gemeinhin sitzt ihr Leser einer Pein erzeugenden Verwechslung auf, wenn ihr das beim Lesen Empfundene entweder als den gemeinten Herzschmerz (v. 7 f.) auffaßt – diesen Lesern ist zu sagen, daß das Herz nur eine Eisenbahn ist – oder aber als das leere Spiel der Sprache begreift – diesen Lesern ist zu sagen, daß die Spielzeug-Eisenbahn nur das in einfache Anführungszeichen gesetzte ‚Herz‘ ist. Beiden Deutungen widersetzt sich das Gedicht, indem es ausdrücklich auf der Differenz besteht, die es vor der Einvernahme bewahrt: qua absurder Metapher gegen die naiven, qua bitter-ironischer Metapher der absurden Metapher gegen die so reflektierten Leser. Diese Differenz, auf die das Gedicht Autopsychographie alle seine Leser so oder so stößt, hat weitere Implikationen. Sie wird bestimmt durch die para61

Vgl. Celans Bemerkung am Schluß seiner Meridian-Rede: „Gibt es nicht gerade in [Georg Büchners] ‚Leonce und Lena‘ diese den Worten unsichtbar zugelächelten Anführungszeichen, die vielleicht nicht als Gänsefüßchen, die vielmehr als Hasenöhrchen, das heißt also als etwas nicht ganz furchtlos über sich und die Worte Hinauslauschendes verstanden sein wollen?“, III, 202. 62 Auch hierin eine deutliche Differenz zu Pessoas ersten Satz, der das Subjekt des Aussageaktes nicht kenntlich macht.

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doxe Simultaneität, welche die Schrift als Schrift unabdingbar mit sich bringt: Denn der Text bezieht sich auf ein vergangenes Geschehen (schrieb, v. 5) und verspricht zugleich, zukünftig (dann, v. 5) vermittels des Lesers eine Bedeutung anzunehmen. Diese Gleichzeitigkeit der verschiedenen Zeitebenen könnte Anlaß zu der Vermutung geben, daß insbesondere der literarische Text der Zeit enthoben ist und so eine unmittelbare Sinnübertragung zwischen Autor und Leser bewirken könnte, etwa derart, daß der Leser sich gänzlich im ästhetischen Text verliert „und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide eines geworden sind“.63 Damit würde aber vorausgesetzt, daß die auseinanderlaufenden Zeitbezüge, die im Text gleichzeitig wirksam sind, von diesem bereits stillgestellt wären. Daß das Gegenteil der Fall ist, macht unser Gedicht, das uns permanent zur Distanz zwingt, deutlich. Es fordert vielmehr anzuerkennen, daß sich die Präsenz einer unmittelbar sinnlichen Gewißheit ( fühlt, v. 3 u. 8) nicht als eine solche im Text zeigen kann. Schließt das auch nicht aus, daß der Leser, der den abwesenden Schmerz des Dichters nicht fühlen kann, diesen als abwesenden – ein Drittes nun – empfindet (v. 7), so heißt das nichtsdestoweniger, daß dort, wo die Schrift ist, keine unmittelbare Präsenz gegeben ist. Es sei denn, sie würde von einer Kontemplation abgelöst, die das prinzipiell Fremde – den singulären Schmerz, der sich in der Schrift wider besseren Wissens mitzuteilen versucht – dadurch negiert, daß schlicht jeder Unterschied zwischen Leser und Text und damit auch der Unterschied zwischen der Gegenwart der Lesezeit und der auf Vergangenes und Zukünftiges verweisenden Zeit des Textes getilgt oder aber, dem entsprechend und nicht minder problematisch, daß das Fremde des Textes generell auf die terra incognita verbannt würde. Sowohl diese als auch jene Restriktion seitens des Lesers verbietet aber die auch in einem lyrischen Text gegebene referenzielle Funktion der Sprache, deren Scheitern hier bezüglich der Darstellung des Pathos zwar angezeigt ist, die darum aber nicht ignoriert werden kann. Fraglos gerät das Lesen damit in eine Aporie, die als solche verdeutlicht, daß die Zeitlichkeit der Schrift nicht still zu stellen ist. 63

Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke, Bd. I, Die Welt als Wille und Vorstellung, Drittes Buch, § 34, Frankfurt a. M. 1986, 257. Die Hervorhebung ist nicht von Schopenhauer, sondern stammt von Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a. M. 1994, 177. Bohrer versucht unter veränderten (nicht-metaphysischen) Vorzeichen an Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Anschauungs- und Schopenhauers Kontemplationsbegriff (ebd., 176–184) anzuschließen, um die ästhetische Erfahrung jeglicher Zeitlichkeit zu entheben und statt dessen das absolute Präsens der Kunst herauszustreichen. Daß sich Bohrer hier für die Beschreibung einer ästhetischen Erfahrung mit Texten an Schopenhauer orientiert, ist allerdings schon darum problematisch, weil Schopenhauer nicht Texte sondern vielmehr einen beliebigen „gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstand“ im Sinn hat, mit dem er eins zu werden versucht.

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Das Gedicht gibt vielmehr zu bedenken, daß die Schrift sich per se über eine Zeitstrecke erstreckt. Das heißt insbesondere für literarische Texte, die ihren eigenen Status bedenken und sich mithin hierin selbst zum Gegenstand werden, daß sie wohl darin auto-nom sind, daß sie sich selbst das Gesetz geben, sich auf die Suche nach ihrem Gesetz zu machen, doch bleiben sie eben dadurch nicht einfach bei oder für sich, sondern bringen das sie Determinierende zum Scheinen. Es zeichnet diese Literatur aus, daß sie gezeitigt ist, weil sie gleichzeitig in zwei Richtungen auf ein Abwesendes zuhält. Auf jenes, auf das sie (zurück-)referiert, mit dem sie aber nicht – und damit auch nicht der Leser – identisch werden kann, und andererseits auf ein Zukünftiges, das im Leser erwartet wird. Die Schrift ist in diesem Sinne nicht der Zeit enthoben, sondern sie transzendiert in die Zeit. Genaugenommen ist sie es, die Zeit als solche gibt, weil sie temporale Erfahrungen formt und strukturiert; entweder implizit in ihrer Syntax, die so beispielsweise jegliche Form von Narration ermöglicht, oder aber, indem sie sie eigens als Grund ihrer selbst anzeigt und derart der Anschauung und Reflexion anheim stellt. Soll die Zeit aber nicht nur thematisch aufgeführt werden, sondern in ihrer Relation zum Text zur Sprache kommen, dann bedarf es hierfür einer Textbewegung, die ihren arbiträren Zeichencharakter vorstellig macht. Denn erst dann, und das zeigt die Eigenanalyse in Autopsychographie, läßt sich erkennen und wird für das Lesen virulent, daß die Schrift und die Zeit eine miteinander verwandte Struktur aufweisen. Jenes sich selbst zugleich Hinterher- und Vorwegsein, das die Schrift gleichermaßen bedingt und bewirkt, und das damit fortwährend Uneingelöste, das sie verspricht – „Der Dichter macht uns etwas vor“ (v. 1) –, gilt ebenso für eine wie auch immer ausgebildete Zeitvorstellung. Dieses zeigt sich nicht zuletzt daran, daß das, was eine Schrift und ihre Zeit respektive eine Zeit und ihre Schrift je versprechen mögen, sich nur dann einlösen könnte, wenn sie sich selbst annihilieren würden. Sollte sich in der Zeit anderes denn Zeit ereignen, etwa das Wahre,64 dann müßte auch die Schrift und damit ihr bis dato uneinholbares Vor- und Zurückverweisen wenigstens einmal aussetzen. Um hier das Bild der dritten Strophe aufzugreifen: Die Spielzeug-Eisenbahn müßte ent-gleisen. Daß sie nicht entgleist, sondern auf ihrem Gleise weiterrollt, macht denn auch die Leserschelte aus. Ein Lesen, welches die beunruhigende Zeitlichkeit des Geschriebenen ignoriert, indem es schlicht den Text dazu gebraucht, sich die Zeit zu vertreiben (v. 9), ermöglicht es, die Graphen und jenes, was allein sie geben können, zu übergehen. Damit werden aber die möglichen Einsichten in die Bedingtheit etwa der Geist- und Herzvorstellungen ausgeschlos64

Hier sei bereits auf die Verse Hölderlins hingewiesen, auf die später (S. 129 f.) zurückzukommen sein wird: „Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“ Hölderlin, Mnemosyne, StA II, 193.

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sen, welche das Gedicht erörtert, indem es sie erst im Verhältnis zu Schmerz und Schrift analysierend problematisiert und dann in einem Bild zusammenfaßt. Nur eine Lektüre, welche die Graphen nicht als in ein vermeintliches Verstehen Übersetztes über-liest, könnte die Schrift in der Schrift selbst aussetzen lassen. Dafür müßte zuvorderst dem angeblich so ‚leeren‘ Bild von der Spielzeug-Eisenbahn nachgegangen werden, da es als Bild anzeigt, was vom Lesen gefordert wäre: Der scheinbar ins Leere gehende Lauf des Textspiels ist derart nachzuvollziehen, daß sich im wiederholten Lesen die Implikationen der Lektüre zu erkennen geben. Dem mag das entsprechen, was Friedrich Schlegel von einer Philologie erwartet: „Alles kritische Lesen […] ist cyklisch.“65 Nur im erneuten Lesen können sich die Prämissen einer Lektüre zu erkennen geben, die zu ermitteln dem kritischen Lesen aufgegeben sind. Zu lesen wäre also das, was das Lesen steuert und antreibt. Das Gedicht selbst schlägt – in dem vieldeutigen Bild von der Spielzeug-Eisenbahn versteckt – diese Rückbewegung vor: Gefordert ist die Relektüre der Lektüre.66 Damit verwandelt sich die in der dritten Strophe gegebene Metapher der Metapher – das Herz selbst ist ja nicht eigentlich die substantielle Mitte, sondern die Metapher par excellence – in eine Allegorie, die das Lesen zu einem zyklischen Verfahren animiert und es damit auf jene kritische Spur bringt, welche die Verfehlungen des ersten (naiven) und zweiten (reflektierteren) Lesens nicht nochmals wiederholt. Durch diese Allegorie (des Lesens) bekommt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Pathos und Logos respektive dem zwischen Psyche und Graphen noch einmal eine andere Bedeutung, weil die Allegorie, anders als die Metapher es vermöchte, seine mögliche Bedeutung einfordert. Hiergegen wird sich auch eine negative Gewißheit nicht immunisieren können. Paul de Man hat unter anderem in seiner Proust-Lektüre vorgeführt, daß auffälligerweise dann, wenn die Figur der Metapher problematisch wird, weil sie der Erwartung nicht gerecht werden kann, den adäquaten Ausdruck des Gemeinten geben zu können, die Allegorie als Supplement für diese eintritt. Die Allegorie nimmt nach de Man eine „superposition“67 ein, die im Unter65

Friedrich Schlegel: Zur Philologie. II, Nr. 73, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe: Bd. 16, Fragmente zur Poesie und Literatur I, hg. von Hans Eichner, Paderborn 1981, 67. Die Notiz lautet vollständig: „Alles kritische Lesen, alles Lesen mit Rücksicht auf Klassizität ist cyklisch. (So habe ich immer gelesen. Winkelmann). Studium verdient nur das Lesen genannt zu werden, was cyklisch ist.“ Wie wenig damit aber über das Lesen gesagt ist, war auch Schlegel bewußt. Er fragt sich darum weiter (Nr. 74): „Aber was ist denn überhaupt Lesen? Offenbar etwas Philologisches.“ 66 Ohne Schlegel selbst zu nennen, erinnert de Man in seinem Text Lesen (Proust) an den „Gemeinplatz“, daß zwischen „Lektüre und Kritik“ eine „enge Beziehung“ besteht; wobei die Lektüre notwendigerweise ein „Wiederlesen“ zu sein hat, vgl. ders.: Allegorien des Lesens (Anm. 59), 91. 67 De Man: Allegory (Julie) (Anm. 1), 205; vgl. auch Hamacher: Lectio (Anm. 2), 169.

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schied zur Metapher den unüberbrückbaren Abstand zwischen dictum und res voraussetzt. Die Allegorie versucht gar nicht erst, der gemeinten Sache zu entsprechen oder ihr vermittels der Mimesis ähnlich zu werden. Genau dadurch aber hebt sie den referentiellen Zug der Sprache hervor. Dieser ist durch die Allegorie nicht nur nicht beseitigt, sondern die Allegorie selbst – sonst wäre sie nicht ein solche – verlangt, daß dem, auf das sie indirekt hinweist, nachgegangen wird. Was die Metapher als schon gelungen suggeriert, fordert die Allegorie allererst noch ein. Ihre Wirkung besteht darum darin, daß sie das Unerfüllte, welches der Schrift anhaftet, vorstellt und vom Leser realisiert sehen will. Hamacher resümiert darum knapp: „Allegorische Texte sind imperativ.“68 Sie fordern nicht nur, daß die Lücke erkannt werde, die zwischen dem allegorischen Bild und seiner Bedeutung klafft, sondern auch, daß diese durch den Leser ‚geschlossen‘ werde. Vom Lesen solle also ein Wirken über den Text hinaus aus-gehen. Das heißt im Umkehrschluß, daß dann, wenn die Lücke zwischen Gleichnis und Gedankengehalt nicht kenntlich gemacht wird, der Text der Täuschung Vorschub leistet, wenn nicht gar lügt. Darum gilt – vor allem Sinn, der sich in der Allegorie zu formieren sucht, und gleichgültig gegen die epistemologischen Unsicherheiten, diesen zu eruieren –: Aus dieser Lücke lugt das Ethos einer Sprache, die zu erkennen gibt, daß ihr die Darstellung des Pathos mißlingen muß. Dieses Scheitern der Sprache und ihr Verweis an die Leser, daß sie nicht scheitern dürfe, ist ihr Imperativ. Die Allegorie bedeutet darum vor allem, weil sie Bedeutung einfordert, „a displacement from pathos to ethos.“69 Bedenklich aber bleibt, daß die Allegorie auf eine Praxis dringt, obwohl gerade sie nicht dazu in der Lage ist, ein Handeln systematisch zu begründen. Ebenso verbietet sich der allegorische Text als Grundlage für eine theoretische Untersuchung, weil jener notwendigerweise polysem ist.70 Weil genaugenommen nicht einmal sichergestellt werden kann, ob der Text überhaupt eine Allegorie ist, ist sie, wie Hamacher bemerkt, allenfalls ein „Requisit des Grüblers“.71 Wie sehr die Polysemie der Sprache wesentlich ist und wie sehr darum das Dichter-Spiel Requisiten aufbieten muß, um die semantischen Unsicherheiten in gleichen Teilen entlarven und ausnutzen zu können, offenbart die Vieldeutigkeit des Dichternamens Pessoa. Denn das portugiesische Substantiv a 68

Hamacher: Lectio (Anm. 2), 170. De Man: Allegory (Julie) (Anm. 1), 206, vgl. auch Hamacher: Lectio (Anm. 2), 170. 70 Vgl. Hamacher: Lectio (Anm. 2), 174 f. 71 Ebd., 174. Mit dieser Wortwahl referiert Hamacher unausdrücklich auf Benjamin, der den wesentlichen Konnex zwischen dem Zustand des Grübelns und der Allegorie in folgender Notiz festhält: „Der Grübler, dessen Blick, aufgeschreckt, auf das Bruchstück in seiner Hand fällt, wird zum Allegoriker.“, Zentralpark, GS I.2, 676; vgl. auch Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1, 203–430, insb. das Kap. Allegorie und Trauerspiel, 336 ff. 69

Autopsychographie

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pessoa ist nicht nur mit die Person zu übersetzen, es kann zudem die Konnotation einer Maske haben,72 die etwas fingiert und somit das Inkognito der Person, welche sich hinter ihr verbirgt, bewahrt. Darüber hinaus kann a pessoa aber auch niemand heißen. Es ist also nicht einmal gewiß, daß jemand (a pessoa) sich hinter der Maske versteckt. Wer nun trägt dieses Requisit, das uns jener Dichter vorhält, der bekanntlich in verschiedenen „Heteronymen“73 auftrat, ohne doch sich selbst hinter diesen so unterschiedlichen Identitäten verstecken zu wollen, weil er glaubhaft vormachen konnte, die jeweils neue Identität tatsächlich angenommen zu haben? – „O poeta é um fingidor“ (v. 1). Was bei der Übersetzung des portugiesischen Originaltextes verloren geht, ist, daß im Wort fingidor bereits das Wort für Schmerz, dor, enthalten ist, welcher – wie das Gedicht beklagt – durch die sprachliche Darstellung immer schon zu etwas anderem geworden ist. Dem zum Trotz ist also bereits im ersten Vers – diesseits des durch das Maskenspiel Vorgetäuschten – das ex-poniert, was eine erste Lektüre dahinter zu entdecken meint. Dieser Verwechslung tritt das Gedicht auch durch seine Graphen entgegen, die gleichsam autosemantische Silben freilegen. Wenn es zuvor hieß, die Schrift müsse in der Schrift selbst aus-gesetzt werden, damit das, was allein sie geben kann, nicht überlesen werde, dann ist damit also die Empfehlung – oder eher die Forderung – ausgesprochen, abermals anders zu lesen; das heißt diesseitiger, der Wörtlichkeit und damit auch der Kontingenz der Sprache zugewandt. Da sich diese Ebene des Gedichts nicht übersetzen läßt, kann auch Celans Text nur als Original gelesen werden. Genau diesen Zusammenhang zwischen der Bedeutung der spezifischen Wörtlichkeit literarischer Texte und der Frage, was angesichts dessen überhaupt noch Treue beim Übersetzen heißen kann, hat auch Walter Benjamin herausgestellt: „Treue in der Übersetzung des einzelnen Wortes kann fast nie den Sinn voll wiedergeben, den es im Original hat. Denn dieser erschöpft sich nach seiner dichterischen Bedeutung fürs Original nicht in dem Gemeinten, sondern gewinnt diese gerade dadurch, wie das Gemeinte an die Art des Meinens in dem bestimmten Worte gebunden ist.“74 Die Übersetzung verlangt vorzugsweise eine Treue gegenüber der Art des Meinens. Sie steht damit vor der schwierigen Aufgabe, jenes, was an bestimmte Worte gebunden ist, in der Literarizität der eigenen Sprache sprechen zu lassen. Das macht denn auch verständlich, warum Celan später nicht mehr aus 72

Vgl. den Klappentext – die Maske des Buches – von folgenden Ausgaben, die beide von Georg Rudolf Lind übersetzt und mit einem Nachwort versehen sind: Fernando Pessoa: Alberto Caeiro Dichtungen. Ricardo Reis Oden, Frankfurt a. M. 1986; ders.: Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe, Frankfurt a. M. 1992. 73 So Edouard Roditi: Schein und Sein in Leben und Dichtung des Fernando Pessoa, in: Die Neue Rundschau 67 (1956), H. 2/3, 395–400. 74 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: GS IV.1, 17, Hervorh. von mir.

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jenen Sprachen übersetzten mochte, die ihm in dieser (Un-)Mittelbarkeit nicht zugänglich waren.75 Dies versteht sich um so mehr, weil das Literarische am literarischen Text nicht zuletzt dadurch bestimmt ist, daß in ihm ein Bewußtsein zur Sprache kommt, ohne daß dieses als Gemeintes laut wird. Allein auf der formalen Ebene werden Äquivalenzen zwischen wiederaufgenommenen Wortfeldern (beispielsweise: treibt, v. 2; Zeitvertreib, v. 9) sichtbar und allein sie macht Wiederholungen (etwa die zwischen dem dritten und achten Vers) in ihrer nuancierten Differenz bedeutsam. Diese durch die Form herausgestellte Signifikanz, die sich auch aus der nicht zu domestizierenden Arbitrarität der Graphen und Silben ergibt, welche wiederum unabhängig von ihrer jeweiligen semantischen Einbindung unablässig eigene Bedeutungen provozieren und dadurch das Lesen fortwährend verunsichern, bedarf allerdings einer beim Namen genannten thematischen Tendenz des Textes. So wie der Schmerz, dor, im Wort fingidor erst dadurch sichtbar wird, weil versucht wurde, den Schmerz in der Schrift wiederzugeben, so wird auch Celans Wort von der Doppelpein erst dann in seiner vollen Valenz lesbar, wenn das Begehren nach Darstellung – und in diesem Sinne das nach aufklärender Wiederholung des Affekts – in seiner Unabweisbarkeit und Unerfüllbarkeit verdeutlicht ist. Mit der Wortschöpfung Doppelpein gelingt es Celan, Pessoas fingidor (v. 1), das nicht nur Täuschung, sondern auch sprachliche „Neuschöpfung“76 – und der Schmerz an dieser – bedeutet, ins Deutsche zu ‚übersetzen‘. Indem unter den angezeigten Bedingungen vom Lesenden vergeblich versucht wird, diese buchstäbliche und die inhaltliche Ebene des Textes zu einer widerspruchsfreien Synthese zusammenzuführen, werden die nicht zu beruhigenden Abweichungen – die Effekte von Doppelsemantik, die es eigentlich gar nicht geben dürfte und die dennoch Plausibilität beanspruchen – als das Moment des Textes lesbar, das dazu anhält, diese Nichtentsprechung durch eine erneute, das heißt zyklische Bezugnahme auszugleichen. Daraus ergibt sich eine nun nicht mehr ganz unerwartete Analogie: Wie dem Text bei der Darstellung des Schmerzes, so passiert auch dem Lesen, das die Bedeutung des Schmerzes in und für die Schrift verstehen möchte, immer ein anderes. Das Verstehen gelingt nicht als ein identisches. Während das naive Lesen diese Identität noch behauptet und während die negative Gewißheit gar nicht mehr liest, um so mit sich selbst identisch bleiben zu können, muß auch das zyklische Lesen einräumen, daß der vom Text gestellten Forderung zu verstehen nicht Genüge getan wurde. Diese Forderung bleibt vielmehr aufgeschoben. Das „Ethos“ der Sprache, „zumal im Gedicht“,77 verlangt etwas, das das 75

Vgl. oben Anm. 37. Vgl. Güntert: Das fremde Ich (Anm. 46), 107. 77 Vgl. Celan: Brief an Werner Weber, 26. März 1960: „Sprache, zumal im Gedicht, ist Ethos – Ethos als schicksalhafter Wahrheitsentwurf.“ Abgedruckt in: Celan als Übersetzer (Anm. 23), 398. 76

Engführung

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Textverstehen gar nicht zuläßt: Es ist eine Über-forderung. Ihr Resultat aber ist, daß weder das Verständnis vom Text noch die Leser lesend die gleichen bleiben können. Wer liest, transzendiert über sich und den Text hinaus und wird unwillkürlich und vielfältig mit (seiner) Zeit konfrontiert.

B. ENGFÜHRUNG Wie explizit sich das Ethos der Sprache zu erkennen geben kann, um anderes denn Lesen, zumindest aber eine andere Praxis des Lesens zu verlangen, zeigt Paul Celan in seinem zyklisch angelegten Langgedicht Engführung (I, 195– 204), welches das oben angedeutete zyklische Lesen geradezu erzwingt.78 Pessoas Gedicht Autopsicografia wurde hingegen von der Forschung zumeist so aufgefaßt, daß es mit einer mehr oder weniger treffenden Metapher enden würde. So deutet Güntert das Bild von der „Aufzieh-Eisenbahn“ als einen „Circulus vitiosus“.79 Den vergeblichen Versuchen des Sisyphos vergleichbar, sei nach Güntert in dem Bild von der niemals endenden Zirkelbewegung zum Ausdruck gebracht, daß es nicht möglich sei, einen Zugang zum Wesentlichen zu finden. Das Gedicht treffe damit die auch bei Pessoa immer wieder durchschlagende agnostische Grundeinstellung, die generell der intellektuellen Situation am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Portugal entsprochen habe. Das hieraus resultierende „metaphysische Vakuum“80 versuchte Pessoa dann in seiner Dichtung mit verschiedenen esoterischen Lehren auszufüllen. Wollte man Pessoas Gedicht auch auf diesem Wege ‚erklären‘ – womit die Beunruhigung, die von dem Gedicht Autopsicografia ausgeht, allerdings nur unzureichend beseitigt ist –, so greift dieses Verfahren nicht bei der Übersetzung von Celan. Gegen ein derartiges Leseverständnis hat Celan selbst entscheidende – wenngleich stumme – Zeichen (‚Herz‘) gesetzt. Noch deutlicher wird diese Differenz dann in Celans eigener Dichtung. Bei aller Skepsis, die Celan allerorten anbringt und zu bedenken gibt, so ist er doch weder Agnostiker noch Esoteriker. Diese wie jene Gewißheit, die das Verhältnis zwischen Text und Wirklichkeit für sich auf die eine oder andere Weise zu entscheiden meint, ist in Celans Engführung gerade deshalb nicht am Werk, weil dieses Gedicht, so weit es ihm überhaupt möglich ist, die Wirklichkeit seiner Zeit sucht. 78

Joachim Seng hat die zyklische Verfaßtheit von Celans Lyrikbänden herausgearbeitet, vgl. ders.: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis „Sprachgitter“, Heidelberg 1998. 79 Güntert: Das fremde Ich (Anm. 46), 96 f. Güntert übersetzt die letzte Strophe: „Und so dreht sich in den Wagengleisen / die Vernunft zu unterhalten, / diese Aufzieh-Eisenbahn, / die sich Herz nennt.“ 80 Vgl. Georg Rudolf Lind: Nachwort des Übersetzers, in: Fernando Pessoa: Esoterische Gedichte. Mensagem. Englische Gedichte, Frankfurt a. M. 1994, 201 ff., hier 202.

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Das Ethos der Sprache lesen

Was aber ist mit dieser Aussage nach allem zuvor zum Gedicht Autopsychographie Entwickelten jetzt noch gesagt? Nichts weniger als dies, daß ausgerechnet die Wirklichkeitssuche81 des Gedichts eingängige Gewißheiten über den sogenannten Realitätsbezug des Textes geradewegs unterläuft. Schon aus diesem Grunde ist hier die Lektüre zur Vor- und Rücksicht angehalten. Ist es auch nicht fraglich, daß Celans Engführung aus der Perspektive eines Überlebenden der Shoah geschrieben ist,82 so sagt dies vorläufig jedoch nicht mehr, als daß jenes, was denn nach diesem Geschehen83 nun das Wirkliche sei, allererst auf den Begriff – und genauer: zur Sprache – gebracht werden muß. Es ist damit vielleicht sogar unterstellt, daß dieses Unterfangen überhaupt nur von dieser Sprache, als Gedicht, geleistet werden kann. Mag man auch als Leser von einer solchen Anmaßung des Gedichts nicht ausgehen, so hat sich gleichwohl das Lesen darauf vorzubereiten, daß mit der Lektüre nicht nur die bereits sedimentierten Bilder von dem, was man für das real Gegebene hält, sondern auch die mit ihnen einhergehenden Kategorien, die diesen Bildern Struktur geben, zur Disposition stehen. Das Lesen erweist sich somit schon darum als eine Über-forderung, weil der Grund, auf dem es basiert, nicht vorausgesetzt werden kann. Das Ethos dieser Sprache besteht nicht zuletzt darin, daß ihr Grund lesend erst noch erschlossen werden muß. Celan selbst hat in einem Brief, der auf die Anfrage einer 10. Klasse des Alten Gymnasiums zu Bremen eingeht, den Zusammenhang zwischen Wirklichkeit, Gedicht und Lesenden zu bestimmen versucht. Er schrieb diesen Brief just an dem Tag, als er mit der Arbeit an der Engführung begann: „Gedichte sind […] ein Versuch, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, ein Versuch, Wirklichkeit zu gewinnen, Wirklichkeit sichtbar zu machen. Wirklichkeit ist für das Gedicht also keineswegs etwas Feststehendes, Vorgegebenes, sondern etwas in Frage Stehendes. Im Gedicht ereignet sich Wirkliches, trägt Wirklichkeit sich zu. Davon ergibt sich für den Lesenden zunächst die Bedingung, das im Gedicht zur Sprache Kommende nicht auf etwas zurückzuführen, das außerhalb des Gedichts steht. Das Gedicht selbst ist sich, sofern es ein wirkliches Gedicht ist, der Fragwürdigkeit seines Beginnens wohl be81

Vgl. Celan: Bremer Ansprache, III, 186. Daß Celans Engführung unmittelbar im Zusammenhang seiner Übersetzung von Jean Cayrols Skript zum Film Nuit et brouillard von Alain Resnais steht, welches wiederum auf der Vorlage des Buches von Olga Wormser und Henri Michel (Tragédie de la déportation 1940–1945. Témoignages de survivants des camps de consentration allemands, Paris 1954) basiert, ist rekonstruiert; vgl. IV, 75–99 und Celan als Übersetzer (Anm. 23), 223–234. Seng hat diesen Kontext in seiner Interpretation der Engführung hervorgehoben, vgl. ders.: Zyklische Komposition (Anm. 78), insb. 269–283. 83 Vgl. Celans sehr bedacht gewählte Worte während seiner Bremer Ansprache im Januar 1958, welche die deutschen Täter nicht beim Namen nennen: „[Die Sprache] ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen“, III, 186. 82

Engführung

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wußt; an ein Gedicht mit unverrückbaren Vorstellungen heranzugehen, bedeutet also zumindest eine Vorwegnahme dessen, was im Gedicht selbst Gegenstand einer – in keiner Weise süffisanten – Suche ist.“84 Weil sich Wirkliches im Gedicht ereignet, müsse der Lesende „zunächst“ davon absehen, das zur Sprache Gekommene „auf etwas zurückzuführen, das außerhalb des Gedichts steht“.85 Das Adverb „zunächst“ hat die systematische Bedeutung, daß vor allem anderen diese „Bedingung“ vom Lesenden zu akzeptieren ist. Zunächst bedeutet aber des weiteren auch, daß hiernach anderes noch gefordert ist. Was dies sei, soll im folgenden insbesondere eine Analyse der ersten der in neun „Partien“86 gefugten Engführung ergeben. Denn von Beginn an betont das Gedicht, welches Ethos in ihm ‚auseinandergeschrieben‘ ist und welche (Über-)Forderung sich hieraus für die Lesenden ergibt. Die Engführung demonstriert auf ihre durchweg paradoxale Art – Peter Szondi spricht von der rhetorischen „Bewegung der ‚Correctio‘“87 –, in welcher Relation die Möglichkeiten und Aporien der Darstellung und die Nöte der Wirklichkeit zueinander stehen. Auch Celans Engführung ist also von den Fragen bestimmt, wie diese beiden Momente der Doppelpein sich gegenseitig bedingen und ob und wie dieses Verhältnis ergründet werden könnte. Daß die schreibende Wirklichkeitssuche nicht naiv auf eine vorgegebene Realität verweist, machen schon die ersten Zeilen des Gedichts deutlich, welche unübersehbar das res-verba-Verhältnis problematisieren. Diese Verse bilden eine ‚Passage‘, durch die die Lesenden ‚zunächst‘ hindurch müssen, um überhaupt in den Zyklus des Gedichts zu gelangen (I, 197): ENGFÜHRUNG

* VERBRACHT ins Gelände mit der untrüglichen Spur: Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß, mit den Schatten der Halme:

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Celan: Brief vom 17. Februar 1958, in: Hermes. Schülerzeitung des Alten Gymnasiums, Bremen April 1958, Nr. 3/4. Vgl. auch James K. Lyon: Der Holocaust und nicht-referentielle Sprache in der Lyrik Paul Celans, in: Celan-Jahrbuch 5 (1993), 256. 85 Auch Felstiner zitiert Auszüge aus diesem Brief, übergeht aber signifikanter Weise gerade jenen Satz, der sich an den Lesenden wendet, vgl. Biographie (Anm. 7), 161. 86 Celan bezeichnet gegenüber dem Setzer die jeweils durch ein Asterisk unterschiedenen Sequenzen der Engführung als „Partien“ eines einzigen Gedichts, vgl. TCA Sprachgitter, 89. 87 Peter Szondi: Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts, in: ders.: Celan-Studien, Schriften II, Frankfurt a. M. 1978, 345–389, hier 356.

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Lies nicht mehr – schau! Schau nicht mehr – geh! Geh, deine Stunde hat keine Schwestern, du bist – bist zuhause. Ein Rad, langsam, rollt aus sich selber, die Speichen klettern, klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht braucht keine Sterne, nirgends fragt es nach dir.

Das den ersten Satz abschließende Partizip steht bereits mitten im ersten Vers der zweiten Strophe (vgl. v. 4). Von dieser Strophe könnte man erwarten, daß sie nach dem Doppelpunkt die untrügliche Spur (v. 3) genauer spezifizieren und sich näher über den oder die auslassen würde, die ins / Gelände verbracht (worden?) sind. Scheint doch das Gedicht, wie die zwei bestimmten Artikel (ins, v. 1; der, v. 3) andeuten, eine konkrete Szenerie im Sinn zu haben. Doch nur über die Spur, nicht aber über das, was sie verursachte, gibt es eine Auskunft: Gras, auseinandergeschrieben. Auseinandergeschrieben ist ein deplaciertes Wort. Gras hinterläßt dann eine Spur, wenn es etwa von einem realen Gewicht niedergedrückt wird. Es könnte also auseinandergetreten, zerstampft oder niedergefahren sein, aber wie ist es dem Schreiben möglichen, im Gras eine Spur zu hinterlassen? Das Gedicht, das in den ersten Versen von der Deportation in ein bestimmtes Gelände spricht, unterbricht seine Darstellung mit einem Wort, das offensichtlich nicht ins (Satz-)Gefüge paßt. Genau an der Stelle, wo etwas nicht stimmt, weil etwas versetzt ist und damit selbst verbracht ist, erscheint ein Wort, das dem Schreiben eine Wirkung zuerkennt: Gras, auseinandergeschrieben. Diese erste Hälfte der vierten Zeile ist jedoch kein Surrogat für das Erwartete, sondern eher Anzeichen dafür, daß überhaupt Worte fehlen, welche die angefangene Beschreibung eines Geschehens fortsetzen könnten. Statt die Erzählung fortzuführen, stellt sich die Schrift selbst als bestimmendes Aktivum vor, das gestaltend eingreift. Damit scheint angezeigt, daß die Darstellung immer schon mehr ist, als lediglich ein unselbständiger – und angeblich untrüglicher – Informationsträger von Inhalten. Weil die Schrift das Darzustellende determiniert, bleibt ihr gerade dann, wenn sie benötigt ist und dennoch scheitert,88 88

Damit ist nicht behauptet, daß jene Ereignisse, die mit den ‚Begriffen‘ Shoah und Auschwitz bezeichnet sind, schlichtweg nicht darstellbar seien. Richtig vielmehr ist, daß das durch die historischen Wissenschaften festgehaltene Wissen über die Vorgänge der Vernichtung, und wer an diesen wie beteiligt war, durch Fotos, Filmaufnahmen, schriftliche

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nur, selbst nach draußen zu treten. Allein so kann sie noch darauf hinweisen, daß sie ihren Mangel – nämlich die angedeutete Szene nicht hinreichend und wenn nicht verfälschend, allenfalls elliptisch darstellen zu können – nicht mit der verantwortungsscheuen Versicherung kaschiert, selber nicht in Erscheinung treten zu dürfen. Das Ethos dieser Sprache zeigt sich also schon daran, daß sie den Status, bloß ein passiver Vermittler des Gemeinten zu sein, nicht akzeptiert, weil sie immer schon mehr und darum aber zugleich auch weniger als das Gemeinte ist. Statt Vorgegebenes wiederzugeben, greift das Schreiben über seine vom common sense zugewiesenen Befugnisse hinaus, deplaciert sich und behauptet, selbst eine Spur im Gras bewirkt zu haben, von der einfach zu berichten, ihm nicht möglich ist. Wenn es aber überhaupt möglich ist, daß das Gras dieses Geländes auseinander-geschrieben werden kann, dann darum, weil dieses Gras sich seinerseits grundlegend in die Schrift eingeschrieben haben muß. Denn die Sprache des Gedichts ist selbst durch anderes determiniert, das mit ihr einhergeht: In diesen ersten Zeilen des Gedichts deutet sich an, was Celan das Datum des Gedichts nennt,89 welches die Sprache als abstrakt-universelle zwar von sich weist, das sie aber – als Gedicht – formt und gibt. Denn die Sprache ist selbst immer schon verbracht. Wenn dem so ist, dann muß hier wechselseitig gelten: Das Bewirkte bewirkt. Schon darum liegt die Wirklichkeit nicht einfach vor, sondern muß durch das Gedicht gesucht und erwirkt werden. Die Schrift bewirkt eine untrügliche Spur im Gras nur insofern, als zugleich gilt, daß das Gras in der Schrift eine Spur bewirkt. Die Schrift ist als bewirkte also selbst eine Spur, die allerdings nicht untrüglich ist. Denn sie ist von anderer Art. Sie kann nicht physisch erschritten und erschaut wer-

Quellen und Zeugenaussagen inzwischen umfangreich dokumentiert und rekonstruiert werden konnte. Gleichwohl gilt, daß sobald das derart Dargestellte außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses als bloßes Thema erscheint, das unzureichend zur Sprache gebracht ist, was tatsächlich so nachhaltig durch diese Ereignisse erschüttert worden ist. Wollte also auch die Dichtung die Shoah einfach darstellen und derart zum bekannten, aber darin immer noch unerkannten Fakt machen, dann würde sie sich unfreiwillig zu dem hergeben, was sie noch nie sein durfte: bloße „Begleitmusik“, die das Wirkliche übertönt, vgl. hierzu Theodor Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1970, 358; zum Darstellungs- und Realismusproblem vgl. ders.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, 475–479. 89 Vgl. Celans viel diskutierte Worte in seiner Meridian-Rede: „Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache.“ III, 196. Vgl. zu diesen Sätzen, insbesondere zu dem denkwürdigen „Gelenkstück“ eingedenk, aber – es spricht, Klaus Briegleb: Paul Celans Landkarte, in: Karol Sauerland (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung in der Literatur, Warschau 1996, 121–130; sowie: Derrida: Schibboleth (Anm. 15), 21. Auf den Begriff des Datums im Zusammenhang mit Celans Dichtung wird unten noch ausführlich eingegangen, vgl. S. 50 ff., 178 f. und 207 ff.

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den, sondern sie muß als Hinweis auf ein hier nicht zu Beschreibendes gelesen werden. Wie die Schrift als diese Spur ihre Leser in ihr Gelände versetzt, ist an den ersten fünf Versen der Engführung zu studieren, welche auf die dann folgenden Imperative (v. 6 f.) hinführen. Die jeweils genau acht Worte, die dem Verb auseinandergeschrieben vorausgehen und nachfolgen, scheinen sich bei der Beschreibung des Geländes zu ergänzen. Doch es erweist sich, daß jenes, was zunächst noch als das bestimmte Gelände mit der Spur im Gras vor dem imaginären Auge des Lesers als abgebildete Wirklichkeit Gestalt findet, sich nach der Intervention durch das Wort auseinandergeschrieben nicht mehr aufrecht erhalten läßt. Das auch die imaginierte Wirklichkeit strukturierende Gesetz der Kausalität läßt sich nicht mit diesem Verb vereinen. Das Lesen muß also dieser Gesetzesübertretung wegen stocken; erst recht, wenn es weiterliest. Denn die Buchstaben bedeuten fortan, daß sie in ihrer ‚Materialität‘ sind, was sie just beschreiben. Sie werden darum, wenn man sie nicht mehr (vgl. v. 6 f.) als mimetisches Zeichen liest, zum Kristallisationspunkt einer anderen Imagination, die das zuvor bedeutete Bild vom Gelände aufnimmt, um es transformiert vor die nun schauenden Augen zu bringen. Die Buchstaben, die soweit noch unproblematisch wirkliches Gras vorstellen lassen, fordern jetzt von der Einbildungskraft, daß sie selbst als die Schatten der Halme angesehen werden und daß das Papierblatt in dieser Vision den schauenden Augen zum weißen Stein wird. Die Buchstaben werden in unerwarteter Weise ‚an sich‘ perlokutionär; geradeso als ob sich endlich der alte (magische) Wunsch erfüllt hätte, daß die Schrift das, was sie sonst nur konstatieren kann und wodurch sich das von ihr Beschriebene immer auch von ihr entfernt, in ihrer Performanz endlich selbst ‚ist‘. Doch dieses Schattengelände ist die Schrift nur, weil sie an das, was sie nach wie vor nicht ist, gebunden bleibt. Das Bild der Schatten werfenden Buchstaben bedeutet auch: Sehr tief muß sich die Schrift auf ihren eigenen Grund niederbeugen, um von diesem Gras, das sie nicht ist, wenigstens die Schatten der Halme sichtbar machen zu können. Diese Neigung verlangt auch vom Leser einiges, der diese Buchstaben zu lesen und schließlich anzuschauen versucht, und von denen er nicht recht wissen kann, wie es sich mit ihnen verhält und wie er sich ihnen gegenüber verhalten soll. Auseinandergeschrieben. Ein einziges Wort – am rechten Platz deplaziert – bewirkt, daß eine Unsicherheit über das Verhältnis zwischen Beschriebenem und Beschreibendem und über deren jeweiligen Status entsteht, weil beide Ebenen sich für einen Lesemoment übereinandergelegt haben. Für den Leser bedeutet das, daß er selbst unversehens in ein Gelände verbracht ist. Zunächst kam es darauf an, sich nicht eine reale Spur vorzustellen, sondern die Schrift selbst als eine Spur dieser Spur zu lesen. Dann mußte dieses Lesen zu einem ‚unmittelbaren‘ Schauen werden: Die Buchstaben verschwinden als solche

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und transformieren sich zu Halmen. Die anschließend direkt an den Leser gegebenen Anweisungen vergegenwärtigen nachträglich diesen Prozeß. Lies nicht mehr – schau! Schau nicht mehr – geh!

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Noch bevor man aber den ersten Imperativ vernimmt, ist dessen Forderung bereits erfüllt. Indem dieser hervorhebt, was längst geschehen sein mußte, bestätigt er jedoch weniger die gemachte Leseerfahrung, sondern verunsichert sie erneut. Das Lesen, das doch bereits ein Schauen war, wird wieder von seinem Bilde getrennt. Denn nur so kann der vom Text angesprochene Leser vernehmen, was nun von ihm gefordert wird. Daß der erste Imperativ schließlich wieder negiert wird und sich dafür nochmals wiederholt, schau! / Schau (v. 6 f.), verdeutlicht, daß sein Ausspruch vereitelt, was er bewirken sollte. Gerade er, der einen neuen Anfang setzten will, kommt zu spät. Nun heißt es: Schau nicht mehr – geh! (v. 7). Hier wäre innezuhalten, damit dieser erneute Einsatz verstanden werden könnte. Es gilt nun aber Folge zu leisten. Auch diese zweite respektive vierte Forderung wird am Anfang der dritten Strophe wiederholt. Diesmal aber nicht, um sie zurückzunehmen, sondern um die möglichen Fragen, warum und wohin denn zu gehen sei, zu antizipieren. Endlich scheint eine grundlegende Transformation eingeleitet zu sein. Das Lesen, das ein Gehen sein soll, ist auf eine andere Spur gesetzt. Doch statt einer Zielvorgabe wird nun angezeigt, daß du (schon) zuhause bist und daß darum zu gehen sei, weil deine Stunde keine Schwestern hat. Das kann heißen, daß dieser Stunde keine weiteren folgen werden, weil es schlicht die letzte und damit, wie Szondi es deutet, die „Stunde des Todes“ ist.90 Zumindest ist sie so einzigartig, daß sie keiner anderen Zeit ähnlich beziehungsweise ‚verwandt‘ ist. Bei ihr aber, die sich schlechterdings von allen anderen Stunden unterscheidet, ist zu verweilen, weil diese Stunde der Ort ist, an dem das Text-du sein kann, was es ist. Nur hier, wo deine Stunde keine Schwestern hat, bist du – Einzelkind in der vereinzelten Stunde – zuhause. Das du ist, was es ist, durch diese Stunde. Diese ist insofern weniger die Stunde des du (deine), als daß es ihr gehört. Diese Stunde aber läßt das du nur dann zuhause sein, wenn es auf sie weiterhin ‚hört‘. Weil die Zeit aber nicht still hält, also als solche keine letzte Stunde kennt, sondern vielmehr permanent die jeweils gegenwärtige negiert, muß das du gehen, um zuhause sein zu können. Die Identität dieses singulären du, sein Dasein und Zuhause, ist durch eine spezifische Stunde und das, was sich in ihr ereignet(e) – was diese Stunde zur besonderen macht – bestimmt. Diese Zeit und jenes spezifische Dasein sind aneinander wechselseitig gebunden, wenngleich beide alles andere denn gleichberechtigt sind. Zwar ist es die Bewegung der Zeit, die diese Singula90

Szondi: Durch die Enge geführt (Anm. 87), 349.

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rität ermöglicht, aber sie ist es auch, die diese wieder aufzuheben droht. Zuhause bleiben kann also nur, wer sich fortwährend gegen den Fortgang der Zeit behauptet. So muß dieses du, wenn es das, was es ist, sein will, gehen und derart die Differenz aufrechterhalten, welche die Zeit als Kontinuum nivelliert. Das Gehen ist also dadurch eine Ankunft zuhause, daß es nicht mit der kontinuierlich fortschreitenden Zeit mitgeht. Das gehende du wird dadurch zum Kristallisationspunkt einer Differenz, die mithin die Zeit spaltet. Es ist dieser Spalt, der sein Zuhause ist und nur in dieser Teilung der Zeit ist dieses du. Das Ankommen zuhause wäre dahingehend das Erkennen der eigenen Zeitgebunden- und Kreatürlichkeit von diesem die Zeit unterscheidenden Differenzpunkt her. Markiert wird diese Differenz in der Zeit und im Sein des du durch den dritten Gedankenstrich zwischen den beiden Finita bist – / bist (v. 9 f.). Diese Differenz ist für das du – und folglich für jedes finite Dasein, das als du angesprochen werden kann – konstitutiv. Zugleich scheint damit signalisiert, daß auch die beiden Gedankenstriche zuvor, welche die Imperative (v. 6 f.) auseinanderhalten, mit diesem die Zeit unterscheidenden Differenzpunkt im Zusammenhang stehen. Denn nur für dieses die Zeit spaltende du werden diese Imperative überhaupt stimmhaft, welche schrittweise auf das zurückweisen, was allem Wissen- (lesen) und Erfahrenkönnen (sehen) vorausgeht: Auf dieses noch einzuholende Zuhause-sein soll sich das endliche du gehend zubewegen. So wenig allerdings festgestellt werden kann, woher die Imperative kommen, so offen bleibt, was sie bezwecken. Worin ihr Telos auch besteht, in der dann erhobenen Forderung zu gehen wird das Ethos dieser Schrift, die von sich bereits behauptete, eine Spur im Gras gelegt zu haben, schließlich explizit. Das Lesen, das ohnehin fortwährend dem unausgesprochenen Imperativ ausgesetzt ist, den Text verstehen zu müssen, wird durch die erste Forderung, Lies nicht mehr – schau, zusätzliche Aufmerksamkeit abverlangt. Indem es aber sogleich heißt, daß statt zu schauen vielmehr zu gehen sei, wird das ethische Moment des Textes schließlich apodiktisch. Denn nicht mehr zu lesen, ist dem Lesen dann wesentlich, wenn der Text mehr sein möchte, denn ein bloßer Zeitvertreib. Damit ist angezeigt, daß es in diesem Gelände um anderes als um ein leeres Dichter-Spiel ‚geht‘. Diese praktische Dimension unterstreicht der illokutionäre Sprechakt des Imperativs, der als solcher etwas in Aussicht stellt, das über ihn selbst und damit über den Text hinausgeht. Er ist eine Forderung, die zugleich ein Versprechen in Aussicht stellt, das allerdings nicht ausbuchstabiert ist. Die Koexistenz dieser beiden Momente ist charakteristisch für das hier waltende Ethos.91 91

Daß ein gegenwärtiger Imperativ Zukünftiges in Aussicht stellt, bestimmt nach

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Das Wesentliche an den Befehlen ist, daß dem Rezipienten zum einen nicht die Freiheit gelassen ist, ihn nicht zu vernehmen und daß dieser zum anderen nicht wissen kann, wann sich das erfüllt, was auch immer sich mit ihm anzukündigen scheint. Einmal aber auf die Empfängerposition versetzt, muß der dergestalt zum du gewordene Rezipient antworten – und zwar ohne zeitlichen Aufschub. Der Imperativ fordert augenblicklich eine Entscheidung. Durch sein Erscheinen stellt er sicher, daß sich der Gemeinte nicht der Pflicht entledigt, die ihm diese Performanz auferlegt. Der Empfänger muß nun, ganz gleich wie, dem Befehl Folge leisten. Entsprechend hat er nun allein die mitgegebenen Konsequenzen auf sich zu nehmen; er ist in die Verantwortung genommen, sich für etwas bereit zu halten, von dem er gleichwohl nicht wissen kann, was und wie es auf ihn zukommen wird. Verheißen scheint, daß im Befolgen der Anweisung (geh!) etwas möglich wird, was durch die bisherige Art und Weise des Lesens und Schauens verhindert wurde. Liegt den Imperativen also gerade daran, daß überhaupt (erstmals) ein Sehen und schließlich ein Lesen möglich werden könnte? Die Abstufung, die sich aus der zweifachen Negation (v. 6 f.) ergibt, scheint darauf hinzuweisen. Das zunächst Geforderte (schau!) muß zurückgenommen werden, weil noch Grundlegenderes zu beachten ist. Faßt man die Aufeinanderfolge der Imperative in dieser Perspektive, dann scheint ausgerechnet in der Form eines Befehls versprochen zu sein, daß das du ein geschärftes Wahrnehmungsvermögen und darin eine Subjektivität erlangen könnte, wenn es zuhause ankäme. Welche Aporien allerdings dieser Offerte inhärent sind, das erweist sich, wenn man abermals näher auf das spezifische Verhältnis zwischen den Imperativen und dem derart angesprochenem du, sowie auf die Konstitution, die das anvisierte Zuhause hat, eingeht. In seinem Die Verpflichtung überschriebenen Kapitel bezieht sich Jean-François Lyotard in seinem Hauptwerk Der Widerstreit auf Emmanuel Lévinas,92 um mit diesem das „Skandalon“ zu bedenken, das im „ethischen Satz“ geschieht. Das Unheimliche am „ethischen Satz“ ist nicht nur, daß er gleichzeitig ein Versprechen und eine Verpflichtung ist, sondern vor allem, daß er sich in Szene setzt, ohne seine Herkunft zu verraten. Die Imperative in der zweiten Strophe von Celans Engführung stellen nach diesen Kriterien eine „ethische Situation“ her. Lyotard schreibt: „Ein Sender taucht auf, dessen Empfänger ich bin und von dem ich nichts weiß, Immanuel Kant auch die moralischen Gesetze, die jedermann „als G e b o t e ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften, und also Ve r h e i ß u n g e n und D r o h u n g e n bei sich führten“; ders.: Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1993, B 839. 92 Vgl. Jean-François Lyotard: Der Widerstreit (Paris 1983), München 21989, Kap. Die Verpflichtung, 183–214, hier insb. 188–195.

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außer daß er mich auf die Empfänger-Instanz situiert. Die Gewalt der Offenbarung liegt in der Vertreibung des Ichs aus der Sender-Instanz, von der aus es sein Geschäft der Nutznießung, Machtausübung und Erkenntnis betreibt. Sie ist das Skandalon eines auf die Du-Instanz verschobenen Ichs. Durch das Begreifen dessen, wodurch es ergriffen wird, versucht das zum Du gewordene Ich wieder Herr seiner selbst zu werden. Es bildet sich ein weiterer Satz, in dem es in die Sender-Position zurückkehrt, um das Skandalon des Satzes des anderen und seiner eigenen Enteignung zu rechtfertigen oder zurückzuweisen, ganz gleich. Als unvermeidliche Versuchung ist dieser neue Satz immer möglich. Aber er kann das Ereignis nicht ungeschehen machen, sondern nur zähmen und meistern und damit die Transzendenz des anderen vergessen.“93 Als Skandalon bezeichnet Lyotard das Auftauchen eines bestimmenden Senders, der selber unbestimmt bleibt. Das angesprochene Subjekt wird auf die Du-Instanz verrückt, ohne daß es die gleichsam aus dem Nichts kommende Stimme lokalisieren oder erkennen könnte. Die sich hieraus ergebende Asymmetrie macht die „Gewalt der Offenbarung“ aus. Sie unterscheidet sich darin grundlegend von einer dialogischen Situation, in der die Ich-DuRelation idealtypisch symmetrisch und damit jederzeit austauschbar wäre. Das durch das asymmetrische Verhältnis seiner Selbstherrlichkeit beraubte Ich kann diese ihm nicht einsichtige Anmaßung durch einen fremden Anderen, die das soweit gebräuchliche Maß des Ichs als untauglich bloßstellt, nun bestenfalls regulieren, nicht aber derart ausräumen, als ob sie nie geschehen wäre. Die Meisterung dieser unübersichtlichen Gegebenheiten, das ist der Versuch einer Rettung des Selbst, bedarf einer kognitiven Anstrengung, die schließlich die alte Unversehrtheit wiederherstellen soll. Lyotard betont, daß dieser vom Du angestrebte Übergang zum (alten) Ich, durch einen „kognitiven Satz“ erfolgt, der den ethischen „vergessen“ machen muß (vgl. 190). „Die Geduld des Begriffs durchforscht die Ungeduld der Forderung“ (194). Doch der Satz, der diese Ungeduld auf den Begriff zu bringen versucht, ist ein Wissen, das „nur glauben [kann], daß es begreift“ (190). Denn der Widerstreit zwischen dem ethischen und dem kognitiven Satz ist derart, daß er spekulativ nicht aufgehoben werden kann. Auch dann, wenn das angerufene Du auf einer vermeidlich höheren Ebene wieder eine Sprache spricht, die es ihm erlaubt, sich in die Ich-Instanz zurückzubringen, bleibt die sich im ethischen Satz zu erkennen gegebene „Dissymmetrie“ (192) unüberwunden und damit wirksam. Denn das verpflichtende Versprechen wird durch den kognitiven Satz allenfalls erklärt, nicht aber auf- oder gar eingelöst. Eine mögliche Einlösung aber setzt die Fähigkeit zur „Erleidbarkeit (passibilité)“ (191) jener Differenz voraus, die der ethische Satz als unvorhersehbarer Einfall in die Welt des Ichs offenbart hat. Das hieße aber anzuerkennen, daß der ethische 93

Ebd., 188 f. Im folgenden Seitenangaben im Text.

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Satz den Möglichkeiten der Kognition und des Verstehenkönnens Grenzen setzt. Wenn dem so ist, dann muß grundsätzlich fraglich werden, in welcher Weise überhaupt noch eine autonome, sich selbst das Gesetz gebende Subjektivität möglich sein könnte? Und so konstatiert Lyotard, im Anschluß an Lévinas: „Das Ja zur Gabe der unentzifferbaren Botschaft […], die die Forderung ist, der (unmögliche) Bund mit dem anderen, der nichts ist, bedeutet die Hinnahme des Sprungs im Ich“ (192). Nur das Subjekt ist also zuhause, das nicht vergißt, daß es ein verbrachtes du ist. Zuhause ist das Subjekt nur in diesem damit einhergehenden Sprung. Dieser aber meint bezüglich Celans Gedicht nicht, daß das Zuhause der offene und durchlässige Grenzbereich zwischen dem Eigenen und dem Allgemeinen sei, der dem dort wohnenden Subjekt ermöglicht, ein Ich zu sein, das sein Zuhause in einer mit anderen gleichgestimmten Welt hat, sondern dieser Sprung verweist auf eine radikale Differenz, die allerdings durch die allgemeine Sphäre hindurchgeht. In der dritten Strophe der Engführung wird deutlich, daß das Zuhause des angerufenen du der Ort und Kristallisationspunkt einer fundamentalen Differenz gegenüber jenen Standards ist, die die allgemeine Sphäre strukturieren. Zu dieser Sphäre gehört wesentlich die Einteilung der Zeit in fortlaufende und das heißt kalendarisch wiederkehrende Stunden und Tage, damit verläßliche Koordinaten garantiert sind. Dieses Zeitverständnis aber gilt für das durch die Imperative angesprochene du, das ist, wenn es bei sich zuhause ist, nicht. Nirgends (vgl. v. 14) gibt es für dieses du einen Übergang in die allgemeine Sphäre, so daß es sich als gleichwertiges Subjekt neben anderen darstellen könnte. Wie unermeßlich vielmehr der hier gehend vollzogene Unterschied ist, zeigt der weitere Verlauf der dritten Strophe. Ihre Bilder verdeutlichen das Konturlose eines Ortes, der mit den gängigen Maßstäben nicht zu bestimmen ist. In der Mitte der Strophe ist ein Speichenrad, das nur aus sich selber rollt (v. 10 f.). Es ist im buchstäblichen Sinne absolut. Nichts ist diesem hinzuzufügen. Auf schwärzlichem Feld, auf dem es sich bewegt, werden nicht einmal mehr Schatten geworfen. Alles – also das, was sonst das Ganze umfaßt: die gesamte Zeit der anderen Stunden, der gesamte Raum bis hoch zu den Sternen und schließlich jene Stimmen, die nach allem fragen und dadurch alles miteinander in ein Verhältnis setzen – ist nirgends (v. 14). Damit wird aber auch deutlich: Was das Ganze bestimmen helfen sollte – nämlich das allgemeine Raum- und Zeitmaß –, erfaßt nicht das Ganze, weil es nichts von diesem schwärzlichen Feld weiß, auf dem sich ein Rad langsam bewegt. Dieses wiederum braucht all das nicht, was sonst zählt und Bedeutung ermißt. Selbst auf die Sterne94 im All scheint es nicht ange94

Den „Beschluß“ der zweiten Kritik von 1788 leitet Kant mit den Satz ein: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: d e r b e s t i r n t e H i m -

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wiesen zu sein. Das Speichenrad ist sich allenfalls selbst der Stern, der in dieser Nacht, die keine Sterne braucht, Orientierung gibt. Dieses Rad befindet sich an einem Ort, der von den Parametern der Ordnung des Ganzen nicht erkannt wird; – hier aber ist das du zuhause. Kann auch nicht vorausgesetzt werden, daß das Rad das Bild oder Gleichnis für das zuvor und danach genannte du (v. 6–10 und 15) ist, weil die gesamte erste Partie der Engführung auszeichnet, daß alternierend und übergangslos zwei verschiedene Modi von Sätzen aufeinander folgen, nämlich einmal solche, die eine Szene beschreiben und zum anderen jene, die sich unmittelbar an ein du wenden und von ihm berichten, so stellt sich dennoch der Effekt einer Analogie zwischen den eine Geschichte andeutenden Bildern (das Verbrachtsein ins Gelände, das Rad in der Nacht) und dem du ein, wenn auch durch die Parataxe die unvermittelte Stellung dieses radikal auf sich selbst zurückgeworfen dus um so eindringlicher wird. Die letzten Worte, nirgends / fragt es nach dir (v. 14 f.), welche die Lage dieses unerkannten und durch kein anderes Subjekt anerkannten Fürsichseins anzeigen, klingen dann – einmalig im gesamten Gedicht – noch zweimal in den Übergängen zur zweiten und dritten Partie nach, bis schließlich selbst das Reflexivpronomen, das keinen Reflex erhielt, mit dem den Übergang abschließenden Gedankenstrich verhallt: „Nirgends / fragt es –“ (I, 198). Wenn es sich in der dann folgenden Partie zum Ich zu erheben versucht und nach außen ruft: „Ich bins, ich, / ich lag zwischen euch, ich war / offen“ (ebd.), dann fällt schließlich schroff auf, daß ausgerechnet das Zuhause, das die Vorbedingung für eine gestaltete Subjektivität in einer mit anderen geteilten Welt wäre, sich als ein wortloser Abschied von einer solchen Weltkonzeption erweist. Dieses Ich bleibt gänzlich unbemerkt: „ihr / schlaft ja“ (ebd.). Keine Frage erreicht dieses einst offene und nun gespaltene Ich, dessen wiederholte Beteuerungen ein Ich zu sein, die fundamentale Differenz nur unterstreicht: Es ist kein Ich, weil es nicht an das gebunden ist, was allgemeinhin die Augen lesen oder schauen könnten: Es ist vielmehr von einem Imperativ erfaßt, der es unwiderruflich an ein Ungebundenes bindet: Geh – du. Das Gehen ist die praktizierte Aufkündigung mit jenen, die nicht einmal mehr fragen, weil sie offenbar von diesem schwärzlichen Feld und der es umgreifenden sternenlosen Nacht nichts wissen wollen. Dort, in dieser Nacht zu sein, bedeutet konsequenterweise, daß jegliche Vermittlung aussetzt. Wenn sich keine Frage um dieses du kümmert, dann ist auch die Sprache keine gemeinsame. Das betont der weitere Verlauf der Engführung. Während die einen nicht „sahn“, aber viel „von / Worten“ redeten (vgl. I, 198), wird dieses verbrachte du durch „ein Wort“ bedrängt (I, 199): m e l ü b e r m i r u n d d a s m o r a l i s c h e G e s e t z i n m i r. “, ders.: Kritik der praktischen Vernunft (1788), hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1993, A 288.

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Kam, kam. Kam ein Wort, kam, kam durch die Nacht, wollt leuchten, wollt leuchten. Asche. Asche, Asche. Nacht. Nacht-und-Nacht. – Zum Aug geh, zum feuchten.

Der zentrale fünfte Abschnitt der Engführung, der selbst wiederum aus neun Versen gebildet ist, nennt in seiner Mitte das Wort, das – wie von selbst – wieder und wieder durch die Nacht kam: Asche. / Asche, Asche. Erstmals sind an diesem Punkt die verschiedenen Ebenen des Gedichts ‚enggeführt‘; das ist insbesondere die Darlegung der Notwendigkeit, daß das adäquate Wort für die hier nötigende Wirklichkeit ankommen wollte. In schneller Folge drängen (wollt, wollt und geh, zum) die ausnahmslos einsilbigen Worte – die dergestalt noch in der Iteration ihren singulären Status (ein Wort) behaupten – auf den zweisilbigen Abschluß der Strophe zu, dessen klingende weibliche Kadenz sie förmlich aufzufangen versucht. Diese rhythmische Auffälligkeit und der für Celans späte Dichtung so ungewöhnliche Reim lassen erkennen, daß der Schluß der beiden Strophen, leuchten und feuchten, etwas repräsentiert, das erlangt werden müßte, aber jenseitig liegt. Das hier etwas überwunden werden müßte, signalisiert deutlich der Gedankenstrich vor dem abschließenden Satz. Es ist damit eine Barriere angezeigt, welche auch die Grenzen und Möglichkeiten der Sprache berührt, deren Aufgabe es wäre, das eine Wort leuchten und präsent werden zu lassen, das zum feuchten Aug zu gehen vermöchte. Asche wäre dieses Wort, weil es ein ‚letztes‘ Wort sein könnte. Es würde alles sagen und ihm müßte nichts hinzugefügt werden. Es kommt aber nicht nur einmal, sondern unaufhörlich. Das nicht nur deshalb, weil die Nacht nicht aufhört Nacht zu sein, sondern weil andere sein Erscheinen über „Jahre“ (I, 199) vereitelten, indem sie diesem ‚letzten‘ Wort fortwährend „ins Wort“ fielen (vgl. I, 201), wodurch es nicht mehr als eines unter Tausenden ist.95 Damit ist grundlegend fraglich, welches Wort sich denn noch als das ausweisen kann, das letzte Gültigkeit beanspruchen könnte? An dieser in mehrfacher Hinsicht zentralen Stelle verdeutlicht sich von neuem die ganze Not und das Dilemma der Doppelpein. Zum prinzipiellen Ungenügen, daß Worte fehlen, die zum Schmerzen gehen könnten, kommt hinzu, daß die Unterscheidung zwischen jenem Wort, das ankommen können muß, damit das Notwendige 95

Vgl. die Verse: „die Welt, ein Tausendkristall, / schoß an, schoß an.“, I, 202; siehe auch Celans Gedicht Die Schleuse, I, 222.

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gesagt ist, und der leeren Sprache derjenigen, die nur viel von Worten reden,96 nicht ‚augenfällig‘ ist. Um genau diese Unterscheidung muß darum die Engführung – und Celans Dichtung überhaupt – ringen. Es gilt eine Möglichkeit zu finden, die es erlauben würde, diesen Unterschied überhaupt noch wahrzunehmen (I, 201): […] es blieb Zeit, blieb, es beim Stein zu versuchen – er war gastlich, er fiel nicht ins Wort. […] […] –: er, es fiel nicht ins Wort, es sprach, sprach gerne zu trockenen Augen, eh es sie schloß.

Die Konsequenz dieses Versuchs ist ein fundamentaler Einschnitt: es ist der unvermeidliche qualitative Wechsel vom feuchten Aug zu den trockenen Augen; und es ist damit der unvermittelte Sprung vom Singular (Aug) einer Erfahrung, die sich nicht in freier Rede äußern kann, ohne mißverständlich zu sein, zum Plural der vielen (Lese-)Augen, die im trockenen Sitzen und als solche besser nichts sehen und verstehen – das Wort schloß die Augen – als im vermeintlichen Verstehen, erneut das Wort mißzudeuten. Das Wort beim gastlichen Stein ist das geschriebene Wort einer Dichtung, die selbst ein beharrlicher Stein sein muß,97 damit sie nicht durch auf sie applizierte Verstehens- und Verwertungsprozeduren mißbraucht wird. Um unter diesen Bedingungen dennoch von der Asche im Wort Zeugnis ablegen zu können, muß diese Dichtung anderes als bloße Worte, sie muß ein Zyklus sein, der immerzu auf eine stehende Achse verweist. Dieses im Wort Asche zu lesen mögliche Anagramm, wird durch das Bild des rollenden Rades in der Eingangspartie mit evoziert. Von diesem Anfangspunkt herkommend erhält die fünfte Partie semantisches Gewicht: Denn die Asche/Achse ist als

96

Vgl. in diesem Zusammenhang auch die grundlegende Unterscheidung, die Celan kurz nach seiner Arbeit an der Engführung in seinem Prosatext Gespräch im Gebirg (1959) zwischen reden und sagen macht: „‚Warum und wozu … Weil ich hab reden müssen vielleicht, zu mir oder zu dir, reden hab müssen mit dem Maul und mit der Zunge und nicht nur mit dem Stock. Denn zu wem redet er, der Stock? Er redet zum Stein, und der Stein – zu wem redet der?‘ ‚Zu wem, Geschwisterkind, soll er reden? Er redet nicht, er spricht, und wer spricht, Geschwisterkind, der redet zu niemand, der spricht, weil niemand ihn hört, niemand und Niemand, und dann sagt er, er und nicht sein Mund und nicht seine Zunge, sagt er und nur er: Hörst du?‘“, III, 169–173, hier 171, Hervorh. von mir. 97 Vgl. den Anfang von Engführung und siehe oben S. 38.

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unverrückbare Leerstelle die Nabe, um die auf schwärzlichem Feld ein Rad rollt. Sie ist die klaffende Wunde, die, weil sie „nicht vernarben“ will,98 lesend nur umkreist werden kann. So hermetisch das langsame Rollen des Rades um die eigene Achse auch erscheint, weil die Bedingungen für ein unmittelbares Sichmitteilen nicht gegeben sind, so ist diese Bewegung doch ein Klettern und tritt nicht nur leer auf der selben Stelle. Die kletternden und fallenden Speichen zeigen an, daß sich das Rad fortbewegt. Dieses Streben betont die dritte Strophe des ersten Abschnitts auch dadurch, daß ohne Ausnahme alle Verse mit einem Verb beginnen, wobei die Geminatio klettern, / klettern (v. 12 f.) zugleich die Haftung99 und Gebundenheit des Rades an das schwärzliche Feld pointiert. Der weitere Verlauf der Engführung in den dann folgenden Partien kann als eine Bewegung auf schwärzlichem Feld beschrieben werden, welche die hier klaffende (vgl. I, 199) Differenz wenigstens derart „aufs / neue“ „sichtbar“ (vgl. I, 203) zu machen versucht, daß es vielleicht doch zu einem „Gespräch“ (I, 204) mit jenen kommt, die nicht durch jenes „[e]twas“ hindurch „sahn“ (vgl. I, 198), das ‚Dazwischen‘ liegt und das zwiefältige das zuhause des du ausmacht, das auffälligerweise im Zentrum (Asche/Achse) des Gedichts nicht mehr erwähnt wird. Wenn dieses gelänge, dann würden die Gespräche allerdings kaum als solche in Erscheinung treten können. Am Ende der vorletzten Partie heißt es schließlich (I, 204): In der Eulenflucht, hier, die Gespräche, taggrau, der Grundwasserspuren.

Worauf die Engführung zusteuert, sind die Gespräche […] / der Grundwasserspuren. Diese sind taggrau wie die Eulenflucht genannte Abenddämmerung. Diese Gespräche befinden sich auf der Schwelle zwischen Nacht-undNacht.100 Was sie aber zu ihrer Voraussetzung haben, das zeigt sich, wenn das

98

Vgl. die Partie „Keine / Stimme“ (I, 149), die den Zyklus Stimmen abschließt. Diese Verse wurde im übrigen erst nach Fertigstellung der Engführung im November 1958 geschrieben obwohl der Zyklus Stimmen den Band Sprachgitter einleitet, vgl. TCA Sprachgitter, 136 f. 99 Etymologisch ist das Verb klettern mit der Klette sowie der Bedeutung kleben verwandt; vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1883), bearbeitet von Walther Mitzka, Berlin 181960, 376. 100 I, 199. Vgl. auch Celans Bemerkung zum Charakteristischem seiner Dichtung im Verhältnis zur französischen Lyrik. Er gab diese anläßlich einer Umfrage der Librairie Flinker (1958): Die Sprache der deutschen Lyrik „ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine ‚grauere‘ Sprache“, III, 167.

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poetologische Verfahren der gefugten Wiederholungen, welches den gesamten Zyklus auf allen Ebenen bestimmt, beachtet wird. Die auch hier praktizierte Palilalie,101 die das Ankommen der Worte begleitet und die den Text palimpsestartig schichtet, erzeugt Äquivalenzen, die in einer zyklisch strukturierten Lektüre zusammengelesen werden müssen. Denn die Wiederholung referiert stets auf ihr Pendant im Text. Mit der Deixis hier nimmt der Schluß des zitierten Abschnitts seinen eigenen Anfang beim Wort und gibt damit dem anzeigenden Lokaladverb Gehalt. Hier bedeutet (I, 203): In der Eulenflucht, beim versteinerten Aussatz, bei unsern geflohenen Händen, in der jüngsten Verwerfung, überm Kugelfang an der verschütteten Mauer:

An diesem derart bestimmten Ort müßten die Gespräche ihren Anfang nehmen; denn beim / versteinerten Aussatz, haben sie ausgesetzt, weil in / der jüngsten Verwerfung auch die Sprache verworfen wurde. Mit Hilfe von Lokalpräpositionen (In der, beim, bei, in der, überm, an der), die auf ein und den selben Ort eine sechsfach aufgesplitterte Perspektive richten, bemüht sich das Gedicht um Konkretion und Genauigkeit. Präzise aber sind diese Verweise nicht darum, weil sie anschaulich auf jene bestimmte, nun verschüttete Mauer des „Tötungsterrains“102 referieren, die sowohl die tödlichen Kugeln fangen, als auch möglichen Zeugen den Blick auf die Erschießungen verwehren sollte, sondern weil die deiktischen Indikatoren zugleich intern aufeinander verweisen und dadurch das, was sich zwischen Flucht und Fang ereignete, sich aber wissenschaftlich nicht verifizieren läßt, zu fassen versuchen. Zu dem, was schlechterdings nicht dokumentiert werden kann, gehören unsere geflohenen Hände, die sich (immer noch) überm Todesort aufhalten. Diese Hände sind den tötenden Händen entflohen und sind dennoch nicht entkommen. Im Zusammenhang dieser Textstelle ist eine Vorstufe des Gedichts bemerkenswert:103

101

Celan notiert sich bei der Ausarbeitung der Engführung: „lerne / stammeln, lerne / lallen“, in: TCA Sprachgitter, 100; vgl. unten Kap. Plural und Verdoppelung, insb. S. 207. 102 Vgl. Celans Übersetzung von Cayrols Kommentar zum Film Nuit et brouillard (Anm. 82): „Sie haben ihren Galgen, ihr Tötungsterrain. / Der den Blick verborgene, für Erschießungen eingerichtete Hof von Block elf; die Mauer mit Kugelfang“, IV, 87. 103 Celan: TCA Sprachgitter, 100.

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Hände, hinbefohlen zum Aussatz, kamen wieder, meldeten: Was sind Hände? Es kann dich nicht geben. Geh.

Drei Phasen, denen Vergangenheit (kamen; meldeten) Gegenwart (sind; geben) und Zukünftiges (Geh) entsprechen, scheinen in diesen Versen diachron aufeinander zu folgen. Berichtet wird von Händen, die der Aufforderung nachgingen, zum Aussatz zu gehen. Diese kamen von dorther wieder, wurden schließlich wieder vernehmbar, so daß es ihnen möglich wurde, etwas zu melden: Alles aber, was sie von dort herkommend noch zu sagen haben, ist die eine Frage, die sie selbst fraglich macht: – und auf diese können sie nur den widersinnigen Satz der eigenen Unmöglichkeit erwidern. Die Frage, was sind Hände?, können selbst jene, die es wissen müßten, nicht positiv beantworten. Schließlich, wie ein Appendix, ruft eine Stimme: Geh. Es ist ein Befehl, von dem man allerdings nicht weiß, ob er auffordert, neues und anderes (zukünftig) zu erkunden oder ob es genau der Imperativ ist, der von Anfang an für die Hände bestimmend war. Daß er beides in einem sein muß, daß letzteres gar Bedingung des anderem ist, das zeigt dann die ausgeschriebene Engführung. In der gedruckten Fassung klingen durch die phonetische Ähnlichkeit in den geflohenen Händen die hinbefohlenen nach. Die Parechese legt einen systematischen Zusammenhang nahe: Die Geflohenen sind die zum Ort des Aussatzes hinbefohlenen.104 Sie sind erfaßt von einem Befehl, der sie auch nach Jahrzehnten nicht losläßt. Andererseits aber ist ihr Fliehen auch als Flucht vor diesem Befehl zu verstehen. Denn wenn die Hände dem Imperativ folgen, wenn sie zum Ort des ihnen zugewiesenen Todes tatsächlich ‚zurückgehen‘, dann bleibt ihnen nur zu melden, daß sich ihnen hier die das eigene Selbst bedrohende Frage stellt, was sie – Hände, die schreiben, geben und nehmen

104

Die Notwendigkeit zum erstenmal ‚wieder‘ nach Auschwitz gehen zu müssen, kennzeichnet auch Peter Weiss’ Text Meine Ortschaft, in: Atlas. Zusammengestellt von deutschen Autoren. Mit 43 Figuren, Berlin 1965, 31–43. Wenn Weiss schreibt: „Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam“ (ebd., 32, Hervorh. von mir), dann zeigt er jenen Konnex auf, der die Geflohenen zu Befohlenen macht. Vergleichbar dem Film Nuit et brouillard (Anm. 82) beschreibt auch Weiss die verschiedenen Plätze und Gebäude des Todesgeländes. Auch ihm fällt die Mauer mit dem „Kugelfang“ (ebd., 37) auf. – Celan hat die Texte Weiss’, insbesondere jene, die sich auf Auschwitz beziehen, sehr kritisch rezipiert. Vor allem hat Celan die Darstellung der Opfer in Weiss’ Stück Die Ermittlungen, Frankfurt a. M. 1965, beanstandet. Vgl. hierzu die Andeutung von Hermann Levin Goldschmidt, in: Peter Weiss: Briefe an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk. 1938– 1980, hg. von Beat Mazenauer, Leipzig 1992, 201. Celans Skepsis gegen Weise überliefert auch Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 131.

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könnten – denn (noch) sind? Ihr Sein ist die flüchtige Existenz der Stimme eines Über-Lebenden, der von sich weiß: Es / kann dich nicht geben. Entsprechend desperat ist das anvisierte Gespräch, das ein gegenseitiges Verstehen und eine gegenseitige Anerkennung zu ‚geben‘ vermöchte. Die Minimalbedingung für dieses aber wäre, daß der Aussatz als Ab-Grund des Gesprächs anerkannt würde. Das heißt, daß das Gespräch nur dann stattfinden könnte, wenn es bereit ist, auszusetzen, um so zu einem Gespräch mit dem Befehl Geh zu werden. Denn nur wenn dieser akzeptiert und erkannt ist, könnte sich weiteres ergeben. Erkannt aber wäre er erst dann, wenn er befolgt würde. In diesem Sinne akzeptiert aber ist der Imperativ dann, wenn er ‚wieder‘ zur Sprache gefunden hat und also überhaupt Sprache geworden ist. Es hat darum den Anschein, daß die Sprache selbst dieser Imperativ ist, denn in ihr will er zuhause sein. Vorerst aber gilt, daß mit der bestimmten Mauer dieses Geländes auch das heimelige Wohnen in der Sprache verschüttet ist. Der schon in Hölderlins Nachtgesang Hälfte des Lebens festgehaltene Befund, daß allein die Mauern von der Aphasie Auskunft geben – „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“ (StA II, 117) –, wird bei Celan dahingehend konkretisiert, daß allein an der verschütteten Mauer dieses Geländes der (letzte) Satz sichtbar105 werden kann, der das Aus in seinem ganzen Ausmaß aus-spricht. Für das Subjekt, das zuhause sein will, bedeutet das, daß ausgerechnet der so existenzbedrohende Befehl, der zum Aus-Satz zu gehen auffordert, zu jenen Punkt führt, wo Gespräche über das, was ist, aufgenommen werden könnten. Mit anderen Worten: dieser Imperativ determiniert nicht nur den Grund des Realen, sondern er macht das Reale allererst vernehmbar. Daraus ergibt sich die paradoxe Aufgabe, den Befehl, der notwendigerweise über die Sprache hinaustreibt, weil er anderes denn Sprache ist, zur Sprache kommen zu lassen, damit das Reale und seine Geschichte Gestalt findet und darin (an-)erkannt wird. Einer Dichtung, die sich unter dieses Gesetz gestellt sieht – und der Imperativ setzt dieses –, gelänge das Gespräch darum nur dann, wenn sie selbst aussetzt und dadurch wenigstens punktuell ihren Ab-Grund freilegt. Sie hat zu zeigen, warum es diese Hände, die diese Sprache gestalten, nicht geben kann, und warum diese Hände gleichwohl – gerade dann, wenn sie ihre paradoxale (Nicht-)Existenz nicht verhehlen – als Gedicht ihr bestimmtes Datum ‚geben‘. Dieses Datum aber vermerkt kein Geschichtsbuch, das wirklichkeitsgetreu die Fakten des Geschehenen zusammenstellt. Der immer wieder angeführte Wirklichkeitsbezug von Celans Dichtung ist a fortiori das Hinhören 105

Vgl. die Zeilen, die der Doppelpunkt angekündigt: „an / der verschütteten Mauer: // sichtbar, aufs / neue: die / Rillen, die // Chöre, damals, die / Psalmen. Ho, ho- / sianna.“, I, 203.

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auf den Zug dieses gegebenen Imperativs, den das Gedicht an die Sprache weiterzugeben versucht. Die paradoxalen Bedingungen der allenfalls im Verborgenen stattfindenden Gespräche […] / der Grundwasserspuren unterstreicht dann nochmals der Beginn der abschließenden Partie, die genau genommen nicht die letzte ist, weil sie dem Gedicht kein neues Wort hinzufügt und als ganzes in Parenthese gesetzt ist. Der neunte Abschnitt wiederholt als Abbreviatur neuerlich das gesamte Gedicht und ist mithin die Engführung schlechthin, indem sowohl die letzten Verse, auf die das Gedicht hinführt, als auch der allererste Satz des Zyklus’ rezitiert werden. In der Übergangspassage, „(– – taggrau, / der / Grundwasserspuren –“ (I, 204), werden genau dort, wo die Gespräche abermals zu nennen wären, zwei Striche als Leerzeichen gesetzt. Es ist dies das einzige Mal,106 daß die Repetition ausdrücklich unterbleibt. Die beiden Gedankenstriche geben damit die vakanten Stellen an, die in zukünftigen Gesprächen zu besetzen wären. Schließlich wird im veränderten Zeilenumbruch der Anfang des Gedichts derart ausgeschrieben, daß er sich in dieser Doppelung nochmals verdoppelt. Aus vier Zeilen sind nun acht geworden (I, 204): Verbracht ins Gelände mit der untrüglichen Spur: Gras. Gras, auseinandergeschrieben.)

Das längste Wort der Engführung, das sich anfangs am ungewöhnlichen Orte breit machte und auf eine die Schrift bestimmende Zäsur aufmerksam machte, indem es durch eine semantische Verschiebung selbst eine bewirkte und derart die Logik der Kausalität unterbrach, ist auch das letzte. Es erweist sich als das programmatische Wort, das den Titel des Gedichts präzisiert.107 Die Engführung ist ein Auseinanderschreiben und vice versa. In dieser Spannung 106

Vergleichbar ist nur noch das Verklingen des Reflexivpronomen „dir“ im Übergang zur dritten Partie, an das eine stumme Textspur („ – “) erinnert, vgl. I, 198 und s. o. S. 44. 107 Besondere Aufmerksamkeit hat auch Jan Roelans dem Auseinandergeschriebenem gewidmet, vgl. ders.: Auseinandergeschrieben. Lesenotizen zu Celans „Engführung“ und „Muschelhaufen“, in: Luc Lambrechts / Johan Nowé (Hg.): Bild-Sprache. Texte zwischen Dichten und Denken. Festschrift für Ludo Verbeeck, Leuven 1990, 209–220 und ders.: Die untrügliche Spur. Imperative der Referenz bei Paul Celan, in: Ludo Verbeeck und Bart Philipsen (Hg.): Die Aufgabe des Lesers. On the Ethics of Reading, Leuven 1992, 209–224.

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Das Ethos der Sprache lesen

findet jene zyklische Bewegung statt, die, wie Szondi als erster bemerkte, „nicht“ zu ihrem „Ausgangspunkt zurückkehrt“.108 Wo aber kommt das Lesen an, insbesondere wenn es durch die fortwährenden Repetitionen aufgefordert wird, immer noch einmal zurückzublicken? Das Gedicht lenkt in den letzten Versen das Augenmerk zum zweiten Mal auf das Gras und damit auf die Spur, die sich ‚in ihm‘ befindet, indem es dieses Wort durch die zweifache Wiederholung erneut hervorhebt. Geht die Lektüre also noch einmal zum wieder auseinandergeschriebenen Wort Gras, dann wird sie – retrospektiv – an dieser Stelle sarG lesen. Die Inversion der Buchstaben evoziert fraglos die in diesem Gelände Getöteten.109 Doch untrüglich ist diese Text-Spur nicht. Denn der Sarg steht metonymisch für ein Sterben, das in einer Beerdigung betrauert werden kann. Die Shoah aber hat genau dieses verunmöglicht, weil in ihr die Menschen und ihr Sterben vernichtet wurden.110 Der Sarg ist darum in der Tat ein ‚verkehrtes‘ Bild für das, was in diesem Gelände geschehen ist. Liest man gleichwohl im Wort Gras das Anagramm Sarg, dann stößt die Lektüre vielmehr auf jene „black box“, die das Gedicht nicht ‚ausleuchten‘ kann, in die es aber seine „Leser hineinzieht“.111 Eben darum erfährt die Lektüre keine empirischen Fakten, die ein vergangenes Geschehen aus der historischen Distanz heraus beschreiben, sondern sie wird in den vom Gedicht indizierten Spuren und „Rillen“ (I, 203) vielmehr mit Zeichen112 konfrontiert – gerade wenn sie auf jene Textstelle achtet, welche am eindringlichsten auf 108

Szondi: Durch die Enge geführt (Anm. 87), 387. Als erster hat Kurt Oppens auf dieses Anagramm aufmerksam gemacht, vgl. ders: Gesang und Magie im Zeitalter des Steins. Zur Dichtung Ingeborg Bachmanns und Paul Celans, in: Merkur 17 (1963), 174–192, hier 185. Andere, etwa Otto Lorenz: Schweigen in der Dichtung. Hölderlin, Rilke, Celan. Studien zur Poetik deiktisch-elliptischer Schreibweisen, Göttingen 1989, 207 und Roelans: Die untrügliche Spur (Anm. 107), 210, haben sich dem angeschlossen. 110 Vgl. Adornos Satz: „Neues Grauen hat der Tod in den Lagern: seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.“, ders.: Negative Dialektik (Anm. 88), 364. Vgl. auch Heideggers Unterscheidung zwischen dem Sterbenkönnen des Menschen und dem Verenden der Tiere: „Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet.“, Heidegger: Das Ding, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 177. 111 Zum Problem, die Shoah im Bild einer black box um-schreiben zu müssen, vgl. Dan Diner: Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt a. M. 1987, 70 f. Vgl. ebenfalls Brieglebs Beobachtung, daß Celan seine Leser und Hörer derart „in die Leere“ hineinzieht, daß „die Dinge gedacht werden müssen, deren Wissen uns noch bevorsteht, obwohl sie gewesen sind.“, ders.: Celans Landkarte (Anm. 89), 127. 112 Vgl. Celans Übersetzung zum Film Nuit et brouillard (Anm. 82): „Das einzige Zeichen [von den in der Gaskammer getöteten] – aber das muß man ja wissen – ist die von Fingernägeln gepflügte Decke. Beton läßt sich erweichen“, IV, 95. 109

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den vor möglichen Zeugen abgeschirmten Ort der Erschießungen (d. i. der Kugelfang) verweisen –, die sie nachhaltig an die in der Eulenflucht geflohenen Hände (I, 203) bindet. Die Flucht dieser Hände aber zeigt das Bedrohliche einer nicht abgeschlossenen Vergangenheit an, die sich auf die gegenwärtige und damit immer zukünftige (Lese-)Zeit ausdehnt. Nochmals drängender stellen sich damit die Fragen, unter welchen Bedingungen sich die Gespräche der Grundwasserspuren ereignen, welchen Verlauf sie nehmen könnten und was in ihnen überhaupt zur Sprache kommen kann, wenn es diese geflohenen Hände sind, die hier die Dichtung formen. Findet diese dichterische Sprache auch nur darum Gestalt, um sich in der andauernden Flucht zu behaupten, und wollte sie damit insbesondere auch das damit einhergehende „Fliehen der Bedeutung“113 eindämmen, das alle ihre Aussagen und damit die hermeneutische Praxis bedroht, so kann auch diese Dichtung die die Sprache durchgehend tangierende Flucht weder domestizieren noch dies sich wünschen, steht am Ende der Flucht doch der Fang, genauer der Kugelfang, der nicht nur eine tödliche Bedeutung hat, sondern überdies den Tod des Bedeutsamen indiziert. So untrüglich diese Geschichtszeichen114 auch sind, diese Sprache kann sie nicht verbürgen. Das Gespräch und damit die mögliche Validation von Bedeutungen wird gleichwohl gesucht. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich das Rad als das Leitbild der Engführung. Nicht nur hebt es hervor, wie isoliert das angerufene Dasein auf schwärzlichem Feld ist, nicht nur repräsentiert es die zyklische Verfaßtheit des Gesamttextes und nicht nur unterstreicht es die Bedeutung der Spur, auf der sich das Rad bewegt und die seine Bewegung zugleich zurückläßt, sondern das Bild des Rades ist als Zitat selbst bereits eine Spur, die Gespräche sichtbar macht, die das Gedicht Engführung mit anderen Texten führt. Celan schrieb die Engführung als seine Pessoa-Übertragungen bereits zwei Jahre veröffentlicht waren. Dieser Hinweis ist darum bemerkenswert, weil Celan jene Zeilen nicht wortwörtlich ins Deutsche übertrug, die da heißen: „E assim nas calhas de roda / Gira, a entreter a razão“. Diese Verse der dritten Strophe von Autopsicografia könnte man aber auch, „Und so dreht sich in des Rades Speichen, / den Verstand zu unterhalten“,115 übersetzen. Die Betonung der fragilen Speichen, die in dem Bild, das die Engführung gibt, die 113

Vgl. de Man: Lesen (Proust): „Als Schriftsteller ist Proust jemand, der weiß, daß die Stunde der Wahrheit, gleich der Stunde des Todes, niemals rechtzeitig eintritt, da das, was wir Zeit nennen, eben im Unvermögen der Wahrheit besteht, mit sich selbst übereinzustimmen. A la recherche du temps perdu erzählt vom Fliehen der Bedeutung, aber dies bewahrt ihre eigene Bedeutung nicht davor, unaufhörlich auf der Flucht zu sein.“, in: ders.: Allegorien (Anm. 59), 91–117, hier 112. 114 Vgl. Lyotards Kantlektüre in: ders.: Widerstreit (Anm. 92), 267–282. 115 Übersetzung von Burghard Baltruch (unveröffentlicht).

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treibende Kraft (klettern, klettern) des Rades ausmachen, hatte Celan bei seiner Übersetzung der letzte Strophe von Pessoas Gedicht zurückgestellt und dafür hervorgehoben, daß sich Pessoas Rad auf berechenbaren Gleisen bewegt und gerade hierin dem Geiste auf angenehme Weise die Zeit vertreibt. Das Rad, von Pessoa mit Nietzsche als Symbol für die ewige Wiederkehr des Gleichen eingesetzt – „Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf ewig läuft das Jahr des Seins“116 –, wird von Celan durch einen für seine Dichtung insgesamt unverzichtbaren Begriff ergänzt. Was Celan mitdenkt, wenn er vom Rad spricht, ist das schwärzliche Feld auf dem es klettert. Zum Rad gehört die Spur, die es verfolgt und die es selbst bewirkt. Schon wenig später, im Juni 1961, bringt Celan diesen Zusammenhang im Wort „Radspur“ auf den Punkt.117 Das so runde und darin so geschlossene Bild vom Rad der Geschichte, auf dem bereits die griechische Schicksalsgöttin Tyche daherkam, mußte zu etwas gänzlich anderem werden. Denn weder die Geschichte noch ihre Philosophie läßt sich weiterhin im Bild vom Rad metaphorisch zusammenfassen. Gefordert ist dagegen eine Darstellung, die durch eine spezifische Spur präzisiert ist. Damit ist die Sprache mitsamt ihren Tropen zweifelsohne überfordert. Denn sie müßte in der Schrift eine Spur zu erkennen geben, die quasi seismographisch das Datum eines singulären Geschehens aufzeichnet, um es derart zu wiederholen. Ihre Glaubwürdigkeit gewinnt die Schrift dem gegenüber aber erst dadurch, daß sie je von neuem und je anders die Unmöglichkeit einer solchen Wiederholung des für sich Singularität Beanspruchenden zu bedenken gibt.118 Die Spuren, die Celans Gedicht auf diese Weise gibt, sind darum zunächst einmal Hinführungen auf jenes Bedenken, das das sich Entziehende zu bestimmen versuchen muß. An dieser Stelle sollte die (wissenschaftliche) Lektüre einhaken. Ihr wird dann auch auffallen, daß das Rad der Engführung, das sich solipsistisch aus sich selber bewegt, in die Auseinandersetzung mit anderen Texten führt, die sich ebenfalls mit der Darstellungsproblematik konfrontiert sahen und hieraus ihre poetologischen Konsequenzen gezogen haben. Rotiert das Rad auch langsam, was der Analyse den schnellen Ausgriff auf externe Bezüge erschwert,119 so setzt diese Drehung gleichwohl eine Zentri116

Friedrich Nietzsches: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München/Wien 1954, Bd. II, 463. Bei Nietzsche wird das Rad aber auch mit dem unschuldigen Neubeginn konnotiert. Celan, der insbesondere mit Nietzsches Zarathustra bestens vertraut war, dürfte darum eher, den Kontrast noch zuspitzend, an folgende Stelle gedacht haben: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“, ebd., 294, Hervorh. von mir. 117 Vgl. das Gedicht À la pointe acérée, I, 251 f. 118 Vgl. Derrida: Schibboleth (Anm. 15). 119 In der Meridian-Rede finden sich programmatische Äußerungen, die hervorheben,

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fugalkraft frei, welche die Lektüre derart nach draußen treibt, daß sie auf mindestens zweierlei gestoßen wird: Sie muß die Flucht der geflohenen Hände verfolgen, weil mit ihnen der immer schon problematische Sinn verflog, der den Glauben an Gespräche zwischen autonomen Subjekten oder eine naive Lektüre von Texten noch gestattet hätte, und sie sollte die verborgenen Reminiszenzen einbeziehen, in denen das Gedicht statt des nicht möglichen Gesprächs dennoch eine Art Gespräch mit anderen Literaturen aufgenommen hat, indem es u. a. deren poetologische Prämissen erkundet. Die oben herausgearbeitete Differenz zwischen dem Text-du, dem es verwehrt ist, Ich zu sein, weil es an sein Datum, wo es zuhause ist, gebunden ist, und den anderen, die nicht nachfragen, weil sie schlafen,120 hat zur Folge, daß Gespräche nur dann möglich werden, wenn es ein Bewußtsein um diese Differenz gibt. Die Literaturen, mit denen sich Celan auseinandersetzt, scheinen für dieses Bewußtsein zu stehen. Das heißt, daß sich die geforderte Präzision – die Spur in der Schrift – insbesondere dadurch ergibt, daß ein in der Geschichte der Literatur tradiertes Problembewußtsein aufgegriffen wird, um es unter dem „Akut des Heutigen“121 zu prüfen und den veränderten Erfordernissen gemäß neu zu gestalten. Auf diesem Wege werden dann andersherum auch Spuren in die (Literatur-)Geschichte hineingelegt, welche diese verändern. Bevor im folgenden die sich hieraus ergebenden Anknüpfungspunkte für eine transzendierende, das heißt gleichermaßen nach draußen und auf den Begründungszusammenhang dieser Dichtung gehende Lektüre aufgenommen werden, ist daran zu erinnern, daß die Lektüre in summa erfahren mußte, daß die hermeneutische Situation, welche das Unverständliche in ein Verstehen überführen soll, einer ethischen Situation entspricht. Insbesondere dann, wenn das Textverstehen stocken muß, weil es durch den Text auf die du-Instanz versetzt wird, ist das Lesen versucht, sich vorzugsweise als erklärende Literaturwissenschaft wieder in die Sender-Position zu bringen. Es liegt in dieser Tendenz, daß sich die kognitiven Sätze um den Preis des Vergessens ihrer eigenen Voraussetzungen genau „an Stelle der Erinnerungsspur“122 etadaß der Modus des Gedichts das Lesen zur Langsamkeit anhält, obwohl es selbst als Dichtung (der Kunst) vorauszueilen versucht, vgl. III, 194. Das Gedicht steht damit in Opposition zu einem schnell handhabbaren Sprachgebrauch, der die Möglichkeiten eines bedeutsamen Sprechens verschleißt. Celan: „Niemand kann sagen, wie lange die Atempause – das Verhoffen und der Gedanke – noch fortwährt. Das ‚Geschwinde‘, das schon immer ‚draußen‘ war, hat an Geschwindigkeit gewonnen; das Gedicht weiß das; aber es hält unentwegt auf jenes ‚Andere‘ zu“, III, 197; und: „Die Aufmerksamkeit […] ist, glaube ich, keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder miteifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration.“ III, 198. 120 Vgl. oben S. 44. 121 Celan: Meridian, III, 190. 122 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: ders.: Gesammelte Werke, chronologisch

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blieren, die Celans Engführung aufwirft. Im Wissen um diesen Widerstreit zwischen Text und Lektüre soll nun gleichwohl einigen dieser Spuren in den Gedichten Celans lesend nachgegangen werden. Von den vielen Bezügen und Allusionen, welche die Engführung zu anderen Texten knüpft, werden hier neben den oben schon gegebenen Hinweisen auf Nietzsche und Pessoa primär die zu Hölderlin und Heidegger hervorgehoben. Folgende drei Wortfügungen erhalten dadurch eine besondere Aufmerksamkeit: die Stunde, die keine Schwestern hat, die geflohenen Hände und die stehenden Tempel. Daß besonders an diesen Idiomen die poetologischen und hermeneutischen Konditionen einer Dichtung nach Auschwitz zur Sprache kommen, unterstreicht – von der Engführung her – die kontrastierende Lektüre des sogenannten Athenerbriefes am Schluß des ersten Bandes von Hölderlins Hyperion.123 In diesem Zusammenhang wird dann erstmals auch eine Spur ersichtlich, die in die Konstellation zwischen Celan und Heidegger führt. Dieser Auswahl haftet Kontingentes, ja Einseitiges an. Gibt es doch viele weitere intertextuelle Bezüge in Celans Engführung, die gerade in ihrem Zusammenwirken beachtet werden müßten.124 Das aber kann hier nicht einmal geordnet, hg. von Anna Freud et al., London / Frankfurt a. M. 1940, 51967, Bd. XIII, 1–69, hier 25. Freud hebt kursiv hervor: „das Bewußtsein entstehe an Stelle der Erinnerungsspur“; vgl. auch Benjamin: Baudelaire (Anm. 49), 612–615. 123 Mit welcher Vorsicht aber selbst diejenigen Bezüge zu lesen sind, die sich als mutmaßlich ‚empirisch‘ nachgewiesen ausgeben, offenbaren die Interpretationen von Lorenz: Schweigen (Anm. 109), welche die intertextuellen Bezüge der Engführung zu anderen Texten vollständig herauszuarbeiten versuchen. „Als intertextueller Zeichenkomplex erscheint so das Gedicht: eingeleitet vom Bezug auf Cayrols Filmskript, mit Verweisen auf die Vorsokratiker, auf Dante, Shakespeare und Jean Paul, auf Nietzsche und Franz Rosenzweig fortgesetzt und abgeschlossen von einem abermaligen Bezug auf den Text Jean Cayrols“, ebd., 243. Während ich in Celans Wendung, „deine Stunde / hat keine Schwestern“, eine Auseinandersetzung mit Hölderlin wiederfinde, erkennt Lorenz (vgl. ebd., 211) an dieser Stelle eine Anspielung auf Jean Paul. Lorenz zitiert als Beleg folgende Stelle aus dem Titan: „Wo ist denn weiter auf der Erde die Stelle als auf dem Schlachtfeld, wo alle Kräfte, alle Opfer und Tugenden eines ganzen Lebens, in eine Stunde gedrängt, in göttlicher Freiheit zusammenspielen mit tausend Schwester-Kräften und Opfern?“, Jean Paul: Werke in zwölf Bänden, hg. von Norbert Miller, München/Wien 1975, Bd. V, 584. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Passage, die tatsächlich einen intertextuellen Bezug einsichtig machen würde, bleibt Lorenz allerdings schuldig. 124 Ausgelassen sind hier beispielsweise die Vorsokratiker Heraklit und Demokrit, sowie Dante. Vgl. den Aufsatz von Maria Behre: Naturgeschichtliche Gänge mit Demokrit und Dante. Paul Celans „Engführung“, in: Christoph Jamme / Otto Pöggeler (Hg.): „Der glühende Leertext“: Annäherungen an Paul Celans Dichtung, München 1993, 165–184. Ähnlich wie bei Lorenz: Schweigen (Anm. 109) fällt auch bei Behre auf, daß das Begehren, in der Engführung eine versöhnliche Ausrichtung erkennen zu wollen, ein Interpretationsverfahren favorisiert, das sich intertextueller Bezüge derart bedient, daß Celans Gedicht selbst in diesen verschwindet. Beide Arbeiten bestätigen damit die oben (S. 3f.) angemerk-

Engführung

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annähernd geleistet werden. Für die im folgenden hinzugenommenen Texte wird darum vor allem sprechen, daß sie erstens meines Wissens von der Forschung bisher nicht beachtet wurden und zweitens, daß sich in und mit diesen Stichproben eine historische und philosophische Tiefenschärfe einstellt, mit der die poetologischen Dimensionen von Celans Dichtung präzisiert werden können.

ten Befürchtungen. So meint Behre mit Blick auf Dantes Divina Commedia in den neun Partien der Engführung einen dreistufigen Gang zu sehen, der nach „Höllennacht“ und „Läuterungswirbel“ schließlich im „Himmelstag“ seine finale Aufhebung findet. Diese Vorgabe führt dazu, daß entscheidende Textstellen in Celans Gedicht auf unhinnehmbare Weise überlesen werden. So ist beispielsweise ihr Glaube verdächtig naiv, daß sich das „Aschenfeld in der Einheit 5 […] als potentiell fruchtbarer Ort“ erweist (ebd., 169). Ungewollt zynisch wird es, wenn sie meint, daß sich die geflohenen Hände in der vorletzten Partie „in Sicherheit begeben“ hätten (ebd., 175).

III. POSITIONSBESTIMMUNGEN

Weniger zufällig ist, daß die hier ausgewählten Allusionen auf Textstellen bei Hölderlin und Heidegger treffen, in denen die Position der Dichtung und Philosophie in ihrer geschichtsphilosophischen Dimension erörtert werden. Für alle drei Autoren gilt, daß eine poetologische respektive philosophische Standortbestimmung ohne die dezidierte Ausarbeitung eines Zeit- und Geschichtsbegriffs schlechterdings nicht möglich ist. Dieser wird spätestens dann unentbehrlich, wenn die jeweiligen Zeiterfahrungen – seien sie auch noch so unvergleichlich – Antwort auf die beiden Fragen verlangen, was denn nach und trotz allem bleibet und was Dichtung und Philosophie zu leisten in der Lage sind, so daß die Hoffnung nicht gänzlich unbegründet wäre, daß noch etwas anderes als das Bekannte zukünftig ankommen könnte.

A. DIE

STEHENDEN

TEMPEL CELANS

Im Zusammenhang dieser beiden Fragen, die sich in Hölderlins von Heidegger herausgestellter selbstkritischer Grundfrage zuspitzen: „wozu Dichter in dürftiger Zeit?“,125 kann nicht unerwähnt bleiben, daß Celan in der vorletzten Partie der Engführung, unmittelbar nach der Begehung der jüngsten Verwerfung, über der die geflohenen Hände ausharren, eine Art Resümee gezogen hat, das auf das Dürftige seiner Zeit und die hieraus zu ziehenden Konsequenzen eingeht (I, 204): Also stehen noch Tempel. Ein Stern hat wohl noch Licht. Nichts, nichts ist verloren.

Was wie ein hoffnungsvoller Ausblick einsetzt, der sich auf die gewisse Aussage stützt, daß trotz allem noch Tempel stehen, erweist sich des weiteren als ein immer skeptischer werdender Abgesang. Die zweite Hälfte dieser sechs 125

Hölderlin: Brod und Wein, StA II, 94; vgl. Heidegger: Hölderlin und das Wesen der Dichtung (HWD) (1936), in: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (EHD) (1944),

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Positionsbestimmungen

Zeilen verkehrt das erste scheinbar unzerstörbare noch, in dem sich die Zäsur der Zeit zu erkennen gibt, in ein sehr fragiles und schon fragliches wohl noch. Schließlich nimmt in der zweiten Wortwiederholung dieser Strophe, durch die Geminatio Nichts / nichts, der Zweifel überhand. Was zweifach genannt werden muß, dessen eindeutiger Sinn ist bereits brüchig und wird in dieser Darstellung nochmals strittiger. Wie steht es also um das (Nicht-)Verlorene, das im letzten Wort erinnert wird? Findet hier eine dialektische Spekulation statt, die das Verlorene in ein Unverlorenes transformieren könnte? Gibt es also ein Immaterielles, das nicht zu Asche verbrannt ist? Leuchtet ein Stern, der in dieser Nacht doch noch Licht gibt? Obwohl sich diese Verse sowohl auf die zentrale mittlere als auch auf die Eingangspartie zurückbeziehen, in der es hieß, daß die Nacht keine Sterne braucht, wird nach dem Also kein abschließendes Fazit gezogen, das es erlauben würde, wie Lorenz davon zu sprechen, daß das Gedicht Engführung „in der Hoffnung auf einen eschatologischen Zustand [gipfelt], durch welchen die Gefahr eines abermaligen Holocaust gebannt wäre.“126 Das Also zeigt vielmehr die verpflichtende Konsequenz für eine Dichtung an, die im Angesicht des unvermittelbaren – und darum ungebannten – Nichts sich immer noch als Dichtung zu behaupten anschickt. In dieser Negativität gibt es nur insofern ein ‚Resultat‘ (Also), als allein die Performanz des Gedichts unverloren ist – wenn es denn gelesen wird – und es nun selbst wie einer der Tempel stehen muß,127 in dem die unerhörte Bitte an Gott, „Ho, ho- / sianna“,128 verGA, Bd. 4, Frankfurt a. M. 61996, 33–48, hier 47; sowie: ders.: Wozu Dichter? (WD) (1946), in: Holzwege, GA, Bd. 5, Frankfurt a. M. 71994, 269–320. 126 Lorenz: Schweigen (Anm. 109), 202. Lorenz glaubt, hier eine ausgerechnet durch die jüdische Mystik verbürgte „messianische Deutung“ anbringen zu können, der zufolge „gerade der Moment unfaßlichen Leids, die Düsternis der größtmöglichen Fremdheit zwischen Mensch und Gott, eine Signalfunktion für den Kairos gottmenschlicher Einheit“ sei, daß gar, wie er ausführt, „die Einheit Gottes mit sich selbst im Tod erst des – vernichteten – Menschen gegeben sei“ (ebd.). Diese für Lorenz’ Text so symptomatische Projektion, die zwanghaft die „vernichteten Menschen“ sinnstiftend in einer Einheit mit Gott aufgehoben sehen möchte, ist beispielhaft für eine ideologisch motivierte Philologie, die wohl die Schrecken der Geschichte benennt, dies aber in einer Weise, als ob diese ausgerechnet durch Celans Dichtung „gebannt“ wären. Daß das Gegenteil der Fall ist, kann gerade auch – wie die nachfolgende Lektüre zeigt – an den stehenden Tempeln nachgewiesen werden. 127 Daß Celans Engführung von mehreren Tempeln spricht, stützt die hier vorgeschlagene These, daß die Tempel für eine sich ihrer historischen Verantwortung bewußten Dichtung stehen, welche ihren poetologischen Voraussetzungen nachgeht; vgl. hierzu die Überlegungen zum Übergang des singulären feuchten Aug zum Plural der trockenen Augen oben S. 46 und die generelle Diskussion zum unumgänglichen Plural dieser Dichtung unten Anm. 268. 128 I, 203. Unmittelbar vor und nach der zitierten Strophe klingt das Hosianna, hebräisch: ‚(Gott) hilf doch!‘, an, das, so Szondi, „die deportierten Juden oft, angesichts des Endes“ beteten, ders.: Durch die Enge geführt (Anm. 87), 382. – Unerwähnt bleibt allerdings (nicht nur) bei Szondi, daß dieser traditionell entweder an den König (vgl. 2. Sam

Die stehenden Tempel Celans

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zehrt aber unverklungen wieder und wieder als immer noch unerwiderter Imperativ widerhallt. Unverloren sind also einzig diese im Gedicht gebrochen vermittelten Stimmen. Aris Fioretos hat darauf hingewiesen, daß die durch den Versbruch abgetrennten Silben Ho, ho- dem Ruf der Eule gleichen, daß mithin auf Hegels „Eule der Minerva“ angespielt sei.129 Hegel schreibt in der Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821): „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“130 Hegel räumt ein, daß die Philosophie, die als der „Gedanke der Welt“ erscheint, notwendigerweise „immer zu spät“ kommt. Erst wenn das Tagwerk 14, 4 und 2. Kön 6, 26) oder an Gott (vgl. Psalm 12, 2; 28, 9 und 118, 25) gerichtete Bittruf beim Einzug Jesu in Jerusalem von denen, die ihn begrüßten, zu einem Jubelruf modifiziert wurde (vgl. Mt 21, 9 u. 15; Mk 11, 9f.; Joh 12, 13). Dieses ist aus zwei Gründen festzuhalten. Erstens, weil unmittelbar auf die Jubelrufe Jesus in den Tempel einzieht, um diesen zur „Räuberhöhle“ verkommenen heiligen Ort zu „reinigen“; und zweitens, weil das Hosianna, das den Christen als bereits erfülltes „Messianic password“ gilt, hierdurch zum signifikanten Schibboleth wird, welches das Trennende zwischen Juden und Christen an seinem empfindlichsten Punkt trifft. Auf die auffällige semantische Umdeutung des Hosianna hat Eric Werner in seinem 1946 veröffentlichten Aufsatz ‚Hosanna‘ in the Gospels, in: Journal of Biblical Literature 65 (1946), 97–122, aufmerksam gemacht und festgestellt: „The Hosanna has changed its original meaning“, ebd., 112. Vorbereitet wurde dieser Bedeutungswandel aber bereits im Judentum selbst. Joachim Jeremias vermutet (ders.: Die Muttersprache des Evangelisten Matthäus, in: Zeitschrift für die neutestamentarische Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 50 (1959), 270–274), daß das Hosianna bereits im vorchristlichen Judentum eine Veränderung vom Bitt- zum Jubelruf erfahren hat. So ist dieser Ruf beispielsweise fester Bestandteil des siebentägigen Laubhüttenfestes Sukkot. Dessen siebter Tag wird „Hoscha’na-Tag“ genannt (vgl. ebd., 273). Allerdings war dieser Ruf „für die Menge ein unverständliches Fremdwort“ (ebd., 274) geworden, das seine ursprüngliche Bedeutung verloren hatte. Das Hosianna wurde damit zu einer semantisch unbestimmten Interjektion, die, wie auch Augustinus festhält, vornehmlich eine Affektbekundung ist, der unterschiedliche Bedeutungen einhergehen: „magis affectum iudicans, quam rem aliquam significans“, ders.: In Iohannis Evangelium Tractatus, PL 1764, m 635, in: CORPVS CHRISTIANORVM, Bd. 36, TVRNHOLTI 1954, 440. Bedeutsam an dieser Entsemantisierung aber ist: „The history of the Hosanna is a true mirror of the fate of Church and Synagogue. The ecclesia triumphans sang its hymns of praise and glory; while the pious Jews cried through the centuries: ‚We beseech Thee, O Lord, save now!‘“, Werner: ‚Hosanna‘, 122. 129 Aris Fioretos: Nothing. History and Materiality in Celan, in: ders. (ed.): Wordtraces. Reading of Paul Celan, Baltimore et al. 1994, 295–341, hier 331 f. 130 Hegel: Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, 27f.

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Positionsbestimmungen

getan ist, beginnt die Zeit der gesammelten Kontemplation. Diese vermag dann die „vollendete“ Wirklichkeit als solche zu erkennen. Celan zeigt durch die feine Modifikation vom Flug zur Flucht der Eulen an, daß sich eine solche Vollendung der Geschichte nicht einstellen will. Denn es gibt keine entsprechende Distanz zur Wirklichkeit, so daß es möglich wäre, aus der Vogelperspektive über die vergangene Epoche zu räsonieren. Wenn es aber kein abgeschlossenes Danach gibt, dann muß auch das Nach-Denken und die philosophische Reflexion eine andere werden. Die Flucht der gelehrten Eulen ist auch die Flucht vor der Einsicht, daß mit den geflohenen Händen der Imperativ der vergeblich bittenden Stimmen in die offene Zeit der Gegenwart und deren Zukunft hineingetragen ist. Bereits der erste Zyklus des Bandes Sprachgitter machte deutlich: „Es sind / nur die Münder / geborgen.“131 Das muß nun am Ende des Gedichtbandes heißen, daß nicht mehr und nicht weniger geborgen ist als dieser Imperativ der geflohenen Hände, der – als Text – all jene angeht, die in einen dieser stehenden Tempel eintreten: Ist seine Forderung aber für die Leser zu vernehmen oder bleibt er abermals unbeantwortet, weil er im doppelten Sinne unerhört ist? Denn das Unerhörte an diesem Imperativ ist, daß er an den Bund erinnert, den Salomo für das Volk Israel mit Gott geschlossen hat. Nach dem Bau des Tempels empfing Salomo Gottes Gebote: „Und es geschah des Herrn Wort zu Salomo: / So sei es mit dem Haus [d. i. der Tempel], das du baust: Wirst du in meinen Satzungen wandeln und nach meinen Rechten tun und alle meine Gebote halten und in ihnen wandeln, so will ich mein Wort an dir wahrmachen, das ich deinem Vater David gegeben habe, / und will wohnen unter Israel und will mein Volk Israel nicht verlassen“ (1. Kön 6, 11–13). Gott verspricht, daß er bei seinem Volk Israel „wohnen“ will und daß er es „nicht verlassen“ will. Dafür fordert er, daß die göttlichen „Gebote“ eingehalten werden. Dieses Gebot und jene Versprechen sollen es zusammen ermöglichen, daß das Band der Tradition geknüpft wird. Das Geheimnis dieses Bundes erhält im Tempel eine Form. Er ist fortan die Stätte, an der das göttliche Gebot eine menschliche Stimme bekommt. Mit dem Tempel ist der Grund für das Band gelegt, das in ihm mit der folgenden Generation immer wieder von neuem initiiert werden kann, indem die prägende Urszene, daß „des Herrn Wort“ geschah, im Ritual wiederholt wird. Erst mit dem Tempel manifestiert sich also eine Gemeinschaft und bekommt Geschichte gerade da-

131

„Stimmen im Innern der Arche“, I, 149. Daß die Engführung auf den Zyklus Stimmen (I, 147–149) zurückreferiert, machen noch andere Anzeichen deutlich: etwa die Gemeinsamkeit, daß unentzifferbare Sterne (*) im Raum zwischen den Partien leuchten und das Gras, das an das gemähte „Grün“ (I, 147) denken läßt. Vgl. auch oben Anm. 98. Gras und Grün haben im übrigen die gleiche sprachliche ‚Wurzel‘, vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch (Anm. 99), 267.

Die stehenden Tempel Celans

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durch, daß das durch alle Zeiten hindurch Gültige in ihm gemeinsam angerufen werden kann. Wenn Celans Gedicht nun aber mit den vergeblichen Bitten, Ho, ho- / sianna (I, 203), die Frage aufwirft, ob das von Gott gegebene Wort, „mein Volk Israel nicht [zu] verlassen“, gehalten wurde, wenn damit also auch fraglich ist, was das für ein Gott sei, zu dessen Ehren der Tempel gebaut wurde, dann stellt sich auch die andere Frage, ob das Gedicht denn selbst (noch) ein Tempel sein kann. Übernimmt es nach der jüngsten Verwerfung dessen angestammte Funktion und knüpft unter den Bedingungen, die diese unbeantworteten Fragen anzeigen, ein anderes Band? Ein Band also, das sich notwendigerweise auch anders auf die Tradition bezieht, der Celan nach Otto Pöggelers Angaben skeptisch gegenüberstand?132 Es ist also danach gefragt, wie weitgehend jenes Fundament der Identität stiftenden Tradition zerrüttet ist, auf dem mehr oder weniger bewußt jegliche Form von Geschichtsschreibung fußen muß, indem diese die Tradition – in welcher Wendung auch immer – fortschreibt. Vor diesem Hintergrund wird an den stehenden Tempeln ein poetologisches Moment von Celans Dichtung besonders deutlich: Diese Gedichte müssen und wollen sich gegenüber den im Widerstreit liegenden Diskursen, die Geschichte zu schreiben versuchen, derart positionieren, daß trotz der unvermeidlichen Aporien, in die Celans Gedichte ihre Leser hineinziehen, jenes unwiederholbare Datum tradiert werden kann, das beispielsweise in den wiederkehrenden Gedenkritualen der offiziellen Erinnerungspolitik verloren zu gehen droht, die von Jahrestag zu Jahrestag wiederholt werden.133 Daß dem unwiederbringlich Verlorenen noch der Bewußtseinsschwund einhergeht, dem gilt es vor allem dort entgegenzustehen, wo die guten Absichten wider Willen – „alle die Helfenichtse“ (III, 85) – diesen Schwund dadurch beschleunigen, daß das Unerhörte unbedacht bleibt, daß es womöglich kein Band gibt, mit dem sich Bündnisse und Traditionen schließen ließen; – was impliziert, daß auch das Band der einen Bedeutung, die aus dem Gedicht herausinterpretiert werden müßte, nicht vorausgesetzt werden kann. Das Gedicht aber steht und fordert das Unerhörte heraus. Als dieser Affront gibt es sein Datum an die Lesenden weiter, die – wodurch sich die Konfrontation potenziert – nicht mehr lesen, sondern gehen sollen. Unter gänzlich anderen Vorzeichen haben sich auch Hölderlin und Heidegger gefragt, was eine das Wesentliche stiftende Traditionsbildung ausmache. Beide haben in diesem Zuge an die von den Göttern verlassenen griechischen 132

Pöggeler berichtet: „Sein Leben, so sagte Celan, habe ihm gezeigt, daß Traditionen nichts helfen.“, ders.: Spur des Worts (Anm. 5), 407, Anm. 15. 133 Vgl. Klaus Briegleb: Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus. Arbeiten zur politischen Philologie 1978–1988, Frankfurt a. M. 1989.

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Tempel gedacht und hierbei zugleich die Metapher des Kampfes respektive Streites eingeführt. Weil sich erst im Kampf das recht verstandene Geschichtsbewußtsein und mithin die Geschichte konstituiere, habe die Dichtung ebenso wie das philosophische Denken diesen Kampf auszutragen. Können auch Dichtung und Philosophie die Geschichte weder bewirken noch gar lenken, so sollen doch beide je auf ihre Weise dafür sorgen, daß das die Geschichte Gründende freigelegt wird. Es gilt also, ad fontes, die Quellen der abendländischen Geschichte wie zum ersten Mal in den Blick zu bekommen. Diesen Ursprung hat Hölderlin unter anderem in Athen, Heidegger wiederum mit Hölderlin einzig im alten Griechenland ausfindig zu machen versucht, und das insbesondere in den Tempeln, in denen einst die Götter wohnten. Denn diese Tempel sollen für die Beantwortung der Frage, welche Möglichkeiten in den Auseinandersetzungen um die Zukunft der Länder nördlich der Alpen zur Verfügung stehen, Orientierung geben. Ihnen kommt darum für das eigene Selbstverständnis eine Schlüsselfunktion zu. Hypothetisch gilt nun, daß Celan mit den stehenden Tempeln in der Engführung auf die spezifische Position eingeht, welche die Tempel einerseits in Hölderlins Dichtung und andererseits bei Heidegger einnehmen. In welchem Zusammenhang ist also bei den beiden, die Celan aufmerksam zur Kenntnis nahm, vom Tempel die Rede? B. DIE ATHENERTEMPEL HÖLDERLINS Griechenland ist ständiger Bezugspunkt für Hölderlin gewesen. Via Athen hat sich seine Dichtung ihren Auftrag erschlossen. Drei Etappen dieses Weges sollen im folgenden skizziert werden.

1. „Ein heimathloser Sänger“. Neuorientierung um 1800 Gut ein dreiviertel Jahr nach seinem unvermeidlich gewordenen Fortgang aus Frankfurt – die Spannungen mit dem Hausherrn der Familie Gontard hatten sich im September 1798 derart zugespitzt, daß Hölderlin seine Hauslehrerstelle aufgab und zu Isaac von Sinclair nach Bad Homburg ging – schreibt Hölderlin im Sommer 1799 die Ode Der Main.134

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Hölderlin: StA I, 303 f.; FHA V, 574 f.

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Der Main. Wohl manches Land der lebenden Erde möcht’ Ich sehn und öfters über die Berg’ enteilt Das Herz mir und die Wünsche wandern Über das Meer, zu den Ufern, die mir 5

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Vor andern, so ich kenne, gepriesen sind, Doch lieb ist in der Ferne nicht Eines mir, Wie jenes, wo die Göttersöhne Schlafen, das trauernde Land der Griechen. Ach! einmal dort an Suniums Küste möcht’ Ich landen, deine Säulen, Olympion! Erfragen, dort, noch eh der Nordsturm Hin in den Schutt der Athenertempel Und ihrer Götterbilder auch dich begräbt; Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt Die nicht mehr ist! – und o ihr schönen Inseln Ioniens, wo die Lüfte Vom Meere kühl an warme Gestade wehn, Wenn unter kräft’ger Sonne die Traube reift, Ach! wo ein goldner Herbst dem armen Volk’ in Gesänge die Seufzer wandelt. Wenn die Betrübten izt ihr Limonenwald Und ihr Granatbaum, purpurner Aepfel voll Und süßer Wein und Pauk’ und Zithar Zum labyrintischen Tanze ladet –

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Zu euch vielleicht, ihr Inseln! geräth noch einst Ein heimathloser Sänger; denn wandern muß Von Fremden er zu Fremden und die Erde, die freie, sie muß ja leider! Statt Va t e r l a n d s ihm dienen, so lang er lebt, Und wenn er stirbt – doch nimmer vergeß ich dich So fern ich wandre, schöner Main! und Deine Gestade, die vielbeglükten. Gastfreundschaftlich nahmst du Stolzer! bei dir mich auf Und heitertest das Auge dem Fremdlinge, Und still hingleitende Gesänge Lehrtest du mich und geräuschlos Leben.

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O ruhig mit den Sternen, du Glüklicher! Wallst du von deinem Morgen zum Abend fort, Dem Bruder zu, dem Rhein; und dann mit Ihm in den Ocean freudig nieder!

Gleichsam von der Höhe Bad Homburgs aus, blickt das lyrische Subjekt in süd-östlicher Richtung weit über Frankfurt hinaus in eine Ferne (v. 6), die es nicht kennt (vgl. v. 5), die ihm aber als jenes Land gepriesen (v. 5) ist, in dem die umherschweifenden Wünsche (v. 3) Resonanz erwarten dürfen. Dieser Fernblick ist ein Rückblick sowohl auf den eigenen Werdegang als auch auf die Schroffheit der Epochenumbrüche, die es mit sich bringen, daß dem Herz und den Wünschen weder eine aufgeschlossene Heimat noch der Halt der alten Säulen des Olympions (vgl. v. 10 f.) gegeben sind. Das erzeugt Irritationen. Diese bezeugt das irritierende Idiom: die Wünsche wandern (v. 3). Die Ode signalisiert mit dieser Alliteration gleich in der erste Strophe, daß ihr Gesang eine ins Ungewisse gehende Wunschverschiebung darstellt, deren Ausgangspunkt allerdings weniger ungewiß sein dürfte: Denn statt zu der geliebten Susette Gontard in Frankfurt, müssen die Wünsche nun zu den Inseln Ioniens (v. 16) wandern. Das aber löst einen labyrintischen Tanz (v. 24) aus. Daß sich Hölderlin mit der Ode diskret auf die in Frankfurt zurückgelassene Geliebte bezieht, legt die befremdliche Reminiszenz auf den schönen Main! (v. 31) nahe, der unvermittelt wie ein auf immer verlorener Intimus angerufen wird, nachdem zuvor noch mit unbestimmtem Artikel Ein heimathloser Sänger (v. 26) besungen wurde. Mit dem Gedankenstrich (v. 30) wird die einsetzende Reflexion, die den Konsequenzen eines von keinem beachteten und darum unbetrauerten Sterbens im Exil nachgeht, abgebrochen und durch eine plötzlich aufkommende Erinnerung verdrängt. Auf das einleitende wenn (v. 30) folgt kein schlußfolgerndes dann mehr, sondern dem Sänger stellt sich statt dessen ein Erinnerungsbild ein, das er selbst – folgt man der Stringenz des Angedachten – bei anderen nicht auslösen wird, wenn er stirbt. Dieser Sprung im Gedanken durch das Gedenken läßt den Eindruck entstehen, daß schon im Ansatz zum Memento mori die Maske der anonymen Unbestimmtheit (Ein Sänger) ihre Wirkung verliert und dadurch die authentische Rede der ersten Person Singular wieder hervorbrechen kann. Immerhin erhalten die beiden zuletzt zitierten Verse mit dem jähen Auftauchen des Subjekts, das von sich „ich“ (v. 30 f.) sagt, besonderen Nachdruck. Doch ausgerechnet diese derart beglaubigte Rede erweist sich als eine metonymische Verschiebung, die im schönen Main! die schöne Maid!, die nicht mein135 werden 135

Man könnte anführen, daß der hier besungene Main tatsächlich auch für Hölderlin ‚austauschbar‘ gewesen ist. Immerhin hat Hölderlin die Ode 1800 für eine weitere Publikation überarbeitet und, wie ursprünglich schon einmal geplant, Der Nekar betitelt, vgl.

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kann, versteckt. Vor dem Gedankenstrich – also an anderer Stelle, in einer Verschiebung zweiten Grades, welche die dann folgende Metonymie überdecken könnte und doch erst als solche lesbar macht – bringt Hölderlins Lied offen zur Sprache, wie sehr der heimathlose Sänger daran hadert, daß die personifizierte Natur die erwünschte Beziehung zum Vaterland ersetzen muß: „die / Erde, die freie, sie muß ja leider! // Statt Va t e r l a n d s ihm dienen, so lang er lebt“.136 Wie die überlieferten Vorstufen zeigen, hat Hölderlin besonders an den Versen 25–29 lange laboriert, bevor er sich zum Enjambement – leider! // Statt – über die Strophengrenze hinweg entschloß. Es liegt damit die Emphase auf dem Mißfallen über den nur ungenügenden Ersatz.137 Geht man diesem Mißfallen nach, dann erhellt sich, daß sowohl das offen beklagte Surrogat als auch das verborgene, das die ‚authentische‘ Rede Preis gibt, einem analogen Muster folgen: Statt des Va t e r ( l a n d s) dient dem Wanderer die (Mutter-) Erde und statt der Geliebten gilt das ewige Andenken (nimmer vergeß ich dich) dem schön genannten Fluß, dem paradoxer Weise Attribute eines erhabenen ‚Halbgottes‘ – er ist der Bruder des Rheins (v. 39) – zugesprochen werden.138 Die Wünsche, die vom Vater(land) über die nur indirekt erwähnte Mutter und die verschwiegene Geliebte zum Bruder(fluß) wandern, können kaum aus ihrem Labyrinth befreit werden, geschweige denn, daß sie sich derart erfüllen.139 Doch gerade diese verwirrende Disposition, die Hölderlins Lied als solche vorführt, entfaltet ein Differenzbewußtsein, das nach der Geschichte fragen läßt. Es ist dem heimathlosen Sänger vorbehalten, der von sich FHA V, 572 u. 576 und Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe (SWB), hg. von Michael Knaupp, München/Wien 1992, Bd. I, 253 f. Auffällig an der späteren Textversion aber ist, daß die Spuren, die den schmerzhaften Trennungsaffekt von Susette Gontard preisgeben könnten, fehlen. Darum ist zu vermuten, daß im Zuge der Überarbeitung auch der Main ersetzt werden mußte, weil dieser Signifikant schmerzhaft das homophone Possessivpronomen wachruft, das wiederum die Geliebte erinnert, die nicht mein sein darf. 136 V. 27–29, Hervorh. von mir. Wie sehr das Gedicht darauf aufmerksam macht, daß die Dinge hier ‚verkehrt‘ liegen, zeigt sich auch daran, daß der Sänger wünscht, daß ihm das Vaterland dienen möge und nicht, wie sonst die sprachliche Wendung gebraucht wird, daß er dem Vaterland Dienst zu leisten wünscht. 137 Vgl. FHA V, 570–572; SWB III, 114. 138 Vgl. die nur wenige Jahre später (1801) geschriebene Hymne Der Rhein, die diesen als „Halbgott“ besingt, vgl. v. 31 u. v. 135, StA II, 143 u. 146. 139 Vgl. in diesem Zusammenhang Rainer Nägeles Studie Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung: „Uneßbarer Schrift gleich“, Stuttgart 1985, insb. das Kap. Der verstellte Eros, 33–38. Ohne die Psyche Hölderlins analysieren zu wollen, „eine Absurdität, die nur aus einem völligen Verkennen des analytischen Prozesses hervorgehen könnte“ (ebd., 243, Anm. 41), zeigt Nägele, welche Verschiebungen und Verdichtungen der Eros in Hölderlins Texten auf dem Weg von den Liebesliedern zu den „unmittelbar das Vaterland angehenden Gedichten“ (so Hölderlin im Brief an seinen Verleger Friedrich Wilmans vom 8. Dez. 1803, StA VI, 435) durchläuft.

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weiß, daß er bis zu seinem Tode wandern muß / Von Fremden […] zu Fremden (v. 26 f.), auf das die Geschichte überhaupt angehende Telos aufmerksam zu machen, das durch den Verlauf der Geschichte gänzlich verloren zu gehen droht und auf das es sich doch zu richten gelte.140 Gemeint ist der ferne (Arche-)Ort, der dem Sänger Vor andern, so ich kenne (v. 5), die Möglichkeit verspricht, die eigene Situation und das weitere Geschick Erfragen (v. 11) zu können. Denn dort könnten sich nicht nur die quasi naturhaften Seufzer in Gesänge wandeln (vgl. v. 20), sondern mehr noch könnte auf diese Weise der Grund des zukünftigen Vaterlands gelegt werden. Mit Kristeva gesprochen, könnten sich dort aus dem vorsprachlichen Seufzen, das einen „Ansturm des Semiotischen“ kundgibt, „die symbolische Ordnung neu gestalte[n].“141 Statt 140

Die kriegerischen Auseinandersetzungen des zweiten Koalitionskrieges gegen Frankreich ab März 1799 setzen bei Hölderlin weitere Reflexionen über die mögliche „Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“ (Brief an Johann Gottfried Ebel, 10. Januar 1797, StA VI, 229) in Gang. Besonders die mögliche Entwicklung und Rolle, die Deutschland hierzu einnehmen könnte und sollte, wird Hölderlin zur vordringlichen Frage. Gilt es doch, wider den Terror der republikanischen Truppen die Idee der Revolution zu realisieren. 141 Kristeva: Revolution (Anm. 25), 71. Hölderlin besteht darauf, daß jedes Gedicht „aus des Dichters eigener Welt und Seele hervorgegangen seyn muß“ (Allgemeiner Grund [zum Empedokles], FHA XIII, 869), betont aber nachdrücklich, daß die „Empfindung […] sich nicht mehr unmittelbar aus[drükt], es ist nicht mehr der Dichter und seine eigene Erfahrung, was [im Gedicht] erscheint“ (ebd., 868 f.). So hat auch der Gesang, der vom Seufzen (vgl. v. 20) spricht, sich von diesem längst separiert. Eingeschrieben aber sind in diesen seufzenden Gesang gleichwohl die Initialen der Person, die ihn initiiert haben dürfte: Susette Gontard. Beachtlich ist immerhin, daß sich in vier der vierzig Verse der Ode Der Main Wörter mit jenen Anfangsbuchstaben befinden, die an Susette Gontard erinnern (vgl. v. 8, 20, 33 u. 37). Vgl. auch die Bemerkungen zu den „sterblichen / Gedanken“ in der Hymne Andenken von Pierre Bertaux: „Sterbliche Gedanken“ – S.G., in: ders.: Hölderlin-Variationen, Frankfurt a. M. 1984, 89–93 und von Michael Franz: Hölderlins Gedicht „Andenken“, in: Text + Kritik, Sonderband VII (1996), Friedrich Hölderlin, 195–212, insb. 208–212; sowie zum gleichen Phänomen in der Ode Diotima (FHA V, 419–426) ders.: Annäherungen an Hölderlins Verrücktheit, in: Hölderlin-Jahrbuch (HJb) 22 (1980/81), 274–294, insb. 293 f. und ders. / Roman Jakobson: Die Anwesenheit Diotimas. Ein Briefwechsel, in: Le pauvre Holterling. Blätter zur FHA 4/5 (1980), 15–18. Selbstverständlich ist diese eigenwillige Buchstabencodierung nur eine Weise neben anderen, an der sich zeigt, wie sich bei Hölderlin das Pathos der Liebe in den republikanischen Patriotismus seiner späten Gesänge wandelt, ohne daß darum der damit vollzogene Schnitt unkenntlich wird, der das Subjekt des Gesangs gefährdet, weil dieses seine Biographie auf bestimmte Graphen reduzieren muß. Andererseits ist es aber eben dieser Schnitt der Sprache, der das Subjekt überhaupt konstituiert. Daß der hier markierte Übergang von „des Dichters eigener Welt und Seele“ in die symbolische Ordnung der Sprache nicht ohne Gefahr ist, unterstreichen alle drei hier genannten Gedichte Hölderlins (Der Main, Diotima, Andenken), die so kryptisch an Susette Gontard erinnern, durch die Weise, wie sie mehrdeutig vom Sterben sprechen. Denn die Transformation des Gefühls in das „sterblich Lied“ (Diotima, StA II, 28) ist selbst immer auch ein Sterben. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hölderlins Brief an Christian

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also bei der unartikulierten Wehklage zu verharren, wären von jener Stätte her vaterländische Gesänge in eine wirkmächtige Form zu bringen. Damit aber die Wünsche den Sprung, der im Enjambement (v. 28 f.) visualisiert ist, auf die Ebene der vaterländischen Ordnung vollziehen können, bedarf es jenes in der Ode besungenen Telos, das nicht schon Ziel oder Zweck der Geschichte ist, sondern das erst die Basis hergibt, die nach den Gestaltungsmöglichkeiten der Geschichte fragen läßt (vgl. v. 11). Diesen Ort gilt es im Wettlauf gegen den seinen Ursprung vergessenden Fortgang der Geschichte zu erreichen, „noch eh der Nordsturm / Hin in den Schutt der Athenertempel // Und ihrer Götterbilder auch dich begräbt“ (v. 11–13). Derart vertraulich angesprochen ist das an Suniums Küste (v. 11) gelegene Olympion, das einsam steht (v. 14), wo die Göttersöhne / Schlafen, im trauernden Land der Griechen (v. 7 f.). Ludwig Neuffer vom 16. Februar 1797, der nicht nur verschwiegen von Susette Gontard schwärmt, sondern auch festhält: „Es ist auch immer ein Tod für unsre stille Seeligkeit, wenn sie zur Sprache werden muß.“, StA VI, 236. Roland Reuß verkennt darum die Reichweite der spezifischen Buchstabenanordnung, wenn er den Hinweis Bertaux’ auf Susette Gontard (in der Hymne Andenken) „ein Aperçu“ nennt, „das dem Gehalt der Stelle jedoch äußerlich bleibt“, ders.: „…/ Die eigene Rede des andern“. Hölderlins „Andenken“ und „Mnemosyne“, Frankfurt a. M. 1990, 244, Anm. 438. So wie in der Ode Der Main der Gedankenstrich (v. 30) anzeigt, daß der Gedanke an den eigenen Tod ‚sterben‘ muß, damit statt dessen „Von Tagen der Lieb’“ (Andenken, StA II, 189, v. 35) am schönen Main erzählt werden kann, so macht auch Hölderlins Hymne Andenken auf den kategorialen Widerstreit aufmerksam, den seine Dichtung austrägt. In diesem Sinne ist der buchstäbliche Bezug auf Susette Gontard nicht nur nicht äußerlich, sondern für Hölderlins Dichtung seit seiner Frankfurter Zeit überhaupt wesentlich. Das Andenken an „die Freunde“ (ebd., v. 37), das jenes an die Freundin impliziert, ist nicht ohne die Sprache – und mithin nicht ohne sterbliche Gedanken – zu haben (vgl. hierzu Hölderlins Verhältnisbestimmung von Sprache, Erkenntnis und Erinnerung unter dem Titel Wink für die Darstellung und Sprache in: Wenn der Dichter einmal ..., FHA XIV, 319), welche die vor dem inneren Auge erscheinenden Erinnerungen irreversibel zu etwas anderem macht. Genau dieser Umschlag von der erinnerten Anschauung in ein Zeichen des Gedächtnisses wird in den berühmten Schlußversen der Hymne nochmals dargelegt: „Es nehmet aber / Und giebt Gedächtniß die See, / Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen, / Was bleibet aber, stiften die Dichter.“, v. 56–59, StA II, 189. Das meist nicht mitgelesene aber des letzten Verses hebt hervor, daß die erinnerte Lieb’ von der Dichtung nicht nur verwandelt gegeben, sondern in dieser Transformation auch genommen wird. Denn nur weil die Dichtung die Lieb’, die sich an die Augen heftet, (weg-)nimmt, indem sie sie in die See der Sprache überführt, kann die Dichtung Bleibendes stiften. Diesen Umschlag betont ebenfalls Hegel, wenn er daran erinnert, daß das „Gedächtnis, das im gemeinen Leben oft mit Erinnerung, auch Vorstellung und Einbildungskraft verwechselt wird, es überhaupt nur mit Zeichen zu tun hat“, ders.: Enzyklopädie, in: Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1970, § 458, Zusatz. – Zu den Konsequenzen dieser auch von Celans Dichtung angezeigten Differenz für eine „politische Philologie nach Auschwitz“, welche mit den Zeichen der Dichtung den unwillkürlichen, ‚subjektiven‘ Erinnerungen an das Tötungsgeschehen im allgemeinen Diskurs Anerkennung zu geben versucht, vgl. Brieglebs Exkurs zu Hegels Unterscheidungen zwischen Erinnerung und Gedächtnis, in: ders.: NS-Faschismus (Anm. 133), 95–102.

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Die Ode Der Main will anderes schon sein denn ein bloßes Liebeslied. Es stimmt bereits das „reine Frohloken vaterländischer Gesänge“ an, welche nicht mehr, wie Hölderlin 1803 vom „Liebeslied“ schreibt, ein „immer müder Flug“ sind.142 Die Gesänge, die das Vaterland erneuern wollen, sind dagegen ein gefährlicher Flug, der, weil er weiter und höher hinaus will, Wachsamkeit verlangt. Denn dieser Flug bewegt sich mit dem Nordsturm gen Süden, nicht aber, um wie dieser über die vergangenen Epochen und deren Kulturen verkennend hinweg zu stürmen, sondern um in den Ruinen jener Welt / Die nicht mehr ist! (v. 14 f.) das Gesetz auszumachen, wie die Geschichte – und damit die des heimatlichen Nordens – idealerweise ihren (Bildungs-)Gang nehmen sollte. Dieses Ideal, so ist die Hoffnung, die Hölderlin um diese Zeit noch hat, läßt sich im Schutt der Athenertempel erahnen, sofern sich einer an jenen Ort begibt, an dem einst Menschen von ihrem Dasein vielfältig Zeugnis ablegten. 2. Der Athenerbrief Hölderlin bringt mit diesem Wink auf Athen seinen Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland in Erinnerung. Denn nach Athen – mit eben dem Ziel vor Augen, das Gesetz der Geschichte zu ergründen – haben sich Hyperion und seine Mitstreiter aufgemacht. Von der „Wallfahrt“143 zu den verlassenen Tempeln in den Ruinen von Athen erzählt der letzte Brief des ersten Bandes, den Hölderlin noch in Frankfurt am Main abgeschlossen hatte und der Ostern 1797 bei Cotta erschien. Insbesondere dieser Brief hat große Beachtung gefunden. Denn im Gespräch mit seiner geliebten Diotima legt Hyperion am Beispiel der untergegangenen Welt der Athener nicht nur das Wesen der Schönheit mit all seinen anthropologischen, geschichtsphilosophischen und poetologischen Implikationen aus, sondern er kann sich schließlich mit Hilfe seiner Angebeteten zu seiner zukünftigen Aufgabe entschließen, sich zum „Erzieher unsers Volks“144 ausbilden lassen zu wollen. 142

Vgl. Hölderlin: Brief an Friedrich Wilmans, um Weihnachten 1803, StA VI, 436. Christoph Jamme sieht in der Ode Der Main den ersten Schritt Hölderlins zu seiner „vaterländischen Wendung“, vgl. ders.: „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800, Bonn 1983, 350. Gleichwohl hat diese Ode in der Hölderlin-Forschung kaum Beachtung gefunden, vgl. Paul Böckmann: Hölderlin und seine Götter, München 1935, 182 ff.; und Walter Hof: Hölderlins Stil als Ausdruck seiner geistigen Welt, Meisenheim am Glan 1954, 153 ff. 143 Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (Hyp), StA III; FHA XI; nach der Zählung der Originalausgabe, Bd. I, Tübingen 1797, 137. 144 Hyp I, 159. Die hier an Rousseau, Lessing, Kant, Herder, Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, Schelling et al. anschließende Diskussion, wie die humanitäre Erziehung des Einzelnen und des Volkes durch Religion, Philosophie und Dichtung gewährleistet werden könnte, kann hier nicht aufbereitet werden. Auf diesen Kontext bezieht sich nicht nur der

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Getragen sind Hyperions Reflexionen durch das „große Wort, das εν διαφερον εαωτ (Das Eine in sich selbst unterschiedne) des Heraklit.“145 In dieser Formel ist jenes gegenüber Immanuel Niethammer angekündigte Prinzip kondensiert, das nicht nur das Leiden an den „Trennungen, in denen wir denken und existiren, erklärt“, sondern darüber hinaus den Weg weist, „den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung“.146 Damit ist in nuce Hölderlins philosophische Ausgangslage skizziert, die ihm und seinen Zeitgenossen von Kant übergeben ist. Es gilt, einen Grund auszumachen, der die Philosophie und die Offenbarungsreligionen gleichermaßen bestimmt, ohne daß, wie bei Fichte und Schelling,147 „unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte“148 und ohne andererseits hinter Kant wieder in einen hergebrachten Dogmatismus zurückzufallen. Ermöglichen soll dieses Bravourstück nach Hölderlin der „ästhetische Sinn“.149 Mit diesem verbindet sich allerdings nicht nur der Wunsch, jenes in verschiedenen „Graden der Begeisterung“ zu präsentieren und damit erfahrbar zu machen, was die philosophische Abstraktion nur postulieren darf, sondern auch die Einsicht, daß keine Begeisterung ohne ein „nüchternes Besinnen“ auskommt.150 Dieser derart verstandene ästhetische Sinn – Hölderlin spricht in seinen noch in Frankfurt geschriebenen Maximen von dem „durch und durch organisirten Gefühl“ – soll dazu befähigen, „zu rechter Zeit und am rechten Orte“ im „schnelle[n] Begriff“, „alles Einzelne in die Stelle des Ganzen“151 zu setzen und derart den allgemeinen (Zeit-)Erfahrungen Gestalt zu geben. Hölderlin entwirft einen Begriff von der Schön-

Athenerbrief, sondern Hölderlins Briefroman überhaupt. Vgl. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Band 1. Anfänge in Klassik und Frühromantik: Transzendentale Geschichten, Stuttgart 1993. 145 Hyp I, 145. Daß Heraklits Wort nicht nur thematisch, sondern für den Roman überhaupt konstitutiv ist, hat Gunter Martens herausgearbeitet, ders: „Das Eine in sich selber unterschiedne“. Das Wesen der Schönheit als Strukturgesetz in Hölderlins „Hyperion“, in: Uwe Beyer (Hg.): Neue Wege mit Hölderlin, Würzburg 1994, 185–198. 146 Hölderlin: Brief an Immanuel Niethammer, 24. Februar 1796, StA VI, 203. 147 Vgl. Stefan Metzger: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, in: Ulrich Gaier et al.: Hölderlin Texturen 3. „Gestalten der Welt“ Frankfurt 1796–1798, Tübingen 1996, 52–64, insb. 60 ff. und Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“, Diss. Marburg 1999, 241 f. [i. E.] 148 Hölderlin: Brief an Niethammer, 24. Februar 1796, StA VI, 203. 149 Ebd. 150 „Da wo die Nüchternheit dich verläßt, da ist die Gränze deiner Begeisterung.“, Hölderlin: Sieben Maximen (1799), FHA XIV, 69; vgl. hierzu Johann Kreuzers Einleitung in: Hölderlin: Theoretische Schriften, Hamburg 1998, XVIII f. 151 Vgl. FHA XIV, 70.

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heit, wonach diese den Widerstreit des sich Entgegenstehenden – Subjekt und Objekt, Einzelnes und Allgemeines etc.– sich selbst zum Grund nimmt. Das schließt an Hölderlins früher schon formulierte erkenntnistheoretische Grundeinsicht an, daß sich ein Selbstbewußtsein nur relational zu seinem Gegenstande konstituieren kann.152 Das Subjekt kann per se kein mit sich selbst identisches sein, sondern hat sich in die Auseinandersetzung mit einem anderen zu begeben. An dieser Entäußerung wird denn auch die Zeitlichkeit des Subjekts offenkundig, weil es sich überhaupt nur dann konstituieren kann, wenn es in Sprache und Geschichte Gestalt gefunden hat. Darum gilt auch, daß ein Bewußtsein jenseits seiner Geschichtlichkeit weder darstellbar noch denkbar ist. Dieses Zusammenwirken von einem Sprache gewordenen Bewußtsein und einer bestimmten historischen Konstellation hebt auch Hyperion hervor, indem er festhält, daß das in dem „großen Wort des Heraklits“ Zusammengefaßte, das Einsicht in das „Wesen der Schönheit“ gewährt, „nur ein Grieche finden konnte“.153 Denn die Athener lebten in einer Welt, in der sich „Menschensinn und Menschengestalt“ (Hyp I, 143) noch der natürlichen Anlage gemäß ausbilden konnten. Eben das macht diese untergegangene Welt für Hyperion und die anderen so attraktiv. Die Athener verkörperten noch jene „schöne Mitte“, die nicht in die Extreme des „Übersinnlichen und des Sinnlichen ausschweifte“.154 Ihre Entwicklung, die sich sowohl als Volk als auch als je einzelne im Einklang mit der harmonischen Ordnung der Natur in den verschiedenen Ausdrucksformen vervollkommnete, ohne daß ihre Reife er152

Vgl. die hier nicht darzustellende Diskussion um Hölderlins Textfragment Seyn, Urtheil, Modalität (1795) in: Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991; ders.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992; Michael Franz: Hölderlins Logik. Zum Grundriß von „Seyn Urtheil Möglichkeit“, in: HJb 25 (1986– 87), 93–124 sowie Manfred Frank: Hölderlins philosophische Grundlagen, in: Gerhard Kurz et al. (Hg.): Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, 174–194. Vgl. auch Hölderlins Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, StA VI, 154 f. 153 Hyp I, 145. Heraklits Wort ist durch Hölderlins Lektüre von Platons Symposion und Phaidros vermittelt. Dieter Bremer weist nach: „Hölderlin zitiert Heraklit in der von ihm transformierten Wiedergabe Platons; er deutet das transformierte ‚große Wort […] des Heraklit‘ im Medium der platonischen Dialektik, die er im ‚Phaidros‘, und nur dort, im Verbund mit einem Konzept des Verhältnisses von Eros und Schönheit fand, welches das Schöne als konkrete Offenbarung einer δéα vorgab, die zugleich sinnliche Gestalt und begriffliche Form bezeichnet.“, ders.: „Versöhnung ist mitten im Streit“. Hölderlins Entdeckung Heraklits, in: HJb 30 (1996/97), 173–199, hier 189. Ulrich Gaier sieht die „Wurzel“ für Hölderlins Ästhetik der Vermittlung durch das Schöne vorzugsweise in Johann Gottfried Herders Schriften, vgl. ders.: ‚Hyperion‘: Compendium, Roman, Rede, in: HJb 21 (1978– 79), 88–143, hier 115. 154 Hyp I, 143. Zum Topos der Mitte bei Hölderlin vgl. auch Rüdiger Görner: Hölderlins Mitte. Zur Ästhetik eines Ideals, München 1993.

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zwungen wurde, unterscheidet sich darin von der anderer Völker. Während aus der „Geistesschönheit der Athener der nöthige Sinn für Freiheit folgte“ (ebd.), haben die Völker, die im Süden und im Norden von der „schönen Mitte“ abirrten, diesen Sinn preisgegeben. „Der Aegyptier trägt ohne Schmerz die Despotie der Willkür, der Sohn des Nordens ohne Widerwillen die Gesezesdespotie, die Ungerechtigkeit in Rechtsform.“155 Bei den Griechen hingegen konnte die Schönheit zu jener Quelle werden, aus der dann je nach dem Stand der Entwicklung Kunst, Religion, Philosophie und Dichtung sukzessive entsprangen. Der Dichtung kommt dabei die besondere Stellung zu, Anfang und Ende dieses idealen Prozesses zu sein, weil sie noch das Unvereinbare in ihrer Darstellung zu vereinen weiß. „Die Dichtung, sagt’ ich, meiner Sache gewiß, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft [d. i. die Philosophie]. Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnisvollen Quelle der Dichtung zusammen. / Das ist ein paradoxer Mensch, rief Diotima, jedoch ich ahn’ ihn. Aber ihr schweift mir aus. Von Athen ist die Rede“ (Hyp I, 144). Dieser Textausschnitt ist charakteristisch für den gesamten Brief. Denn während sich Hyperion auf der Überfahrt nach Athen über die systematische Stellung der Philosophie zur Dichtung ausläßt, unterläuft ihm genau jenes, was den von ihm gelobten Athenern nicht passiert wäre: Hyperion schweift zusammen mit seinen Diskutanten aus. Paradox ist also nicht allein die Formulierung, daß am End’ das Unvereinbare in der geheimnisvollen Quelle der Dichtung zusammenläuft, sondern daß diese Rede, die Anfang und Ende der Philosophie zu überschauen meint, gerade jenes über-sieht, wovon die Rede sein sollte: Athen. Diotima, die Schöne, moniert damit jene Tendenz, die Hyperions Name bereits zu erkennen gibt: denn Hyper-ion ist der „Darüberhingehende“.156 Ungeklärt bleibt aber, was Diotima an dieser Stelle ahnt: 155

Hyp I, 143. En passant markiert Hölderlin mit dem Schlüsselwort Geistesschönheit, das hier provokativ von der Gesezesdespotie abgesetzt wird, seine Differenz zu Kant. Dieser wird dahingehend uminterpretiert, daß erst aus der Geistesschönheit der Sinn für Freiheit folgt, womit also dem Wesen der Schönheit das Primat im Denken zugesprochen wird. Allerdings läßt Hölderlins Formulierung soviel Spielraum, daß Kants im § 42 der Kritik der Urteilskraft (1790, 1793, 1799) vorgenommene Differenzierungen zwischen dem „Interesse am Schönen“ und dem am „Sittlich-Guten“, das auf der Autonomie gründet, nicht nivelliert werden müssen. Folgt bei den Athenern auch der Sinn für Freiheit aus der Geistesschönheit, so kann darum die Freiheit selbst noch nicht aus dem Schönen deduziert werden. 156 „Hyperion wäre also der Darüber-hingehende, der Transzendierende und darin dem Sonnengott ähnlich.“ So faßt Wolfgang Binder die Bedeutung von Hyperions Namen zusammen, ders.: Hölderlins Namenssymbolik, in: ders.: Hölderlin-Aufsätze, Frankfurt a. M. 1970, 134–260, hier 183; vgl. auch den Kommentar in: Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a.M 1994, Bd. II, 965 f.

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Dämmert ihr allmählich, was dieser Mensch nur auf poetische Weise in paradoxen Metaphern ausdrücken kann oder spürt sie vielmehr, wie wenig Hyperion überhaupt verstanden hat? Immerhin ist dies nicht das erste, noch sollte es das letzte Mal gewesen sein, daß Diotima Hyperion durch Anregungen, Einsprüche, Erinnerungen, Fragen und gezielte Aufforderungen in Verlegenheit bringt und damit jene Weichenstellungen gibt, die seinen Horizont auf das Nächstliegende hin zu erweitern versuchen. Es ist Hyperion dann selbst, der sich bei der Ankunft „an der Küste von Attika“ „über die Art [s]einer Äußerungen“ verwundert und sich fragt: „Wie bin ich doch […] auf die troknen Berggipfel gerathen, worauf ihr mich saht?“ (Hyp I, 149). Doch kaum haben sie das Festland betreten, schweift Hyperions Imagination aufs neue umher und umschreibt in symbolträchtigen Bildern, welche das harmonische Zusammenspiel von Natur und Kunst betonen, die Fruchtbarkeit der alten Zeit, als noch „unter den zärtlichen Athener-Händen“ die „Marmorfelsen des Hymettus und Pentele“ Form gewannen (vgl. Hyp I, 150). Endlich interveniert Diotima abermals. Die Diskrepanz zwischen Hyperions Ausführungen und dem tatsächlich Gegenwärtigem scheint sie nicht mehr dulden zu können: „O siehe! rief jezt Diotima mir plötzlich zu. / Ich sah“ (Hyp I, 151). Hyperion aber sieht nicht einfach die Trümmer und Ruinen der alten Stadt, sondern er imaginiert sich erneut über das hic et nunc hinaus und faßt seinen Eindruck von dem Ort, an dem einst die Quelle der Schönheit ihre besten Früchte gebar, in drei Bildern, die den Verfall dieser Welt aufzufangen versuchen: „Ich sah, und hätte vergehen mögen vor dem allmächtigen Anblik. / Wie ein unermeßlicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nakten Stämme eines Walds, der am Abend noch grünte, und des Nachts darauf im Feuer aufgieng. / Hier, sagte Diotima, lernt man stille seyn über sein eigen Schiksaal, es seye gut oder böse. / Hier lernt man stille seyn über Alles, fuhr ich fort. Hätten die Schnitter, die diß Kornfeld gemäht, ihre Scheunen mit seinen Halmen bereichert, so wäre nichts verloren gegangen, und ich wollte mich begnügen, hier als Ährenleser zu stehn; aber wer gewann denn?“157 Durch die Lektüre von Celans Engführung sensibilisiert, kann man beim Wiederlesen dieser Passage mehrfach Anklänge vernehmen. Die hervorgehobenen Worte zeigen an, daß bestimmte Partikel dieser drei Bilder – die zusammen die Möglichkeit einer Alternative zum unwiderruflichen Verfall der einstigen Herrlichkeit andeuten, so daß bis heute (hier) nichts verloren gegangen wäre – sich im Gedicht Celans wiederfinden, welches sich, wie oben ge157

Hyp I, 151 f., Hervorh. von mir.

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zeigt, auch mit den Bedingungen eben dieser Hoffnung auseinandersetzt. Es gilt also zu prüfen, in welcher Weise die Engführung auf den Athenerbrief eingeht, um mit diskreten Verweisen auf Hölderlins Briefroman die Frage nach den Voraussetzungen und Einschränkungen einer Aufhebung des Verlorenen in ein Unverlorenes neu stellen zu können. Hyperions Bilder verdienen hier schon darum ausführlich zitiert zu werden, weil sie zusammen mit der als Bindeglied fungierenden Frage nach dem Gewinn – respektive Resultat wie Hegel sagen würde – auf jene zentrale Kategorie hinführen, der vermöge Hyperion nicht nur seine innere Fassung wiedergewinnen wird, sondern die es ihm idealiter auch erlaubt, die Geschichte Athens derart zu deuten, daß an diese so angeschlossen werden kann, als ob nichts verloren gegangen wäre. Gemeint ist der „Geist“, der in den „Häusern und Tempeln“ von Athen einst lebte, bis er aus nicht genannten Gründen unterging und dann die Stadt erst den „Zerstörern“ und danach den andere Interessen verfolgenden Nordländern überließ, als da sind die Abenteurer und Händler, aber auch die Archivare und Gelehrten, welche die zurückgebliebenen Reste der Stadt für sich zu nutzen versuchten (vgl. Hyp I, 152). Diesen Zerstörern aber entging bei allem Gewinn, den sie für sich abschöpften, der Geist, der Athen einst erschuf. Wer jenen Geist dagegen heute noch hat, so das Credo von Diotima, dem ist der „Schutt der Athenertempel“ (vgl. Der Main) ein anderes, denn „dem stehet Athen noch, wie ein blühender Fruchtbaum“.158 Wie aber ist es möglich, jenes blühend stehen zu sehen, das für Hyperion wie ein unermeßlicher Schiffbruch liegt? Diotima weiß es: „Der Künstler ergänzt den Torso sich leicht“ (Hyp I, 153). Es kommt also darauf an, auf die rechte Weise, wie ein Künstler, die Geschichte, die nur unvollständig gegeben ist, ergänzen zu können. Doch Hyperions Frage nach dem Gewinn und das im Konjunktiv formulierte dritte Bild, das den ersehnten Ährenleser beschreibt, dem nichts entgehen würde, zeigen eine Skepsis an, die auch durch Diotimas Gewißheit nicht ausgeräumt wird. Es ist also zu prüfen, ob sich im Text etwas Widerstreitendes zu erkennen gibt, das nicht einfach idealistisch aufgehoben werden kann. Denn was für eine Künstler ist Hyperion? Diese Frage weitet sich dahingehend aus, daß nicht nur die Torsi der Athenertempel, sondern ebenso Hyperions Bilder, die diese Trümmer künstlerisch umschreiben, ergänzt und hermeneutisch erschlossen werden müssen. An dieser zweifachen Vermittlung zeigt sich, daß die drei Bilder einer ästhetischen Logik folgen, die sich von der Ästhetik der alten Athener unterscheidet, die sich in ihrer Kunst noch ein einfaches Abbild schufen, um sich darin sowohl „wiederholen“ als auch „ver158

Hyp I, 153, siehe hierzu auch die Bäume in den Hymnen Andenken und Mnemosyne unten S. 164 ff. Vgl. Anselm Haverkamp: Laub voll Trauer. Hölderlins späte Allegorie, München 1991.

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jüngen“ zu können (vgl. Hyp I, 141). Hyperion hingegen bildet seinen Eindruck von Athen nicht einfach ab, sondern wählt Gleichnisse, die primär ihren allegorischen Charakter hervorheben, also selbst darauf hinweisen, daß sie einer weiteren Ergänzung bedürfen. Weil auf den Geist nicht so selbstverständlich rekurriert werden kann, wie Diotima es meint, haben diese Bilder die Aufgabe, ihn überhaupt erst wieder zu erwecken. Benjamins Beobachtungen bestätigend, daß „im Tode der Geist auf Geisterweise frei wird“,159 geschieht dies zuvörderst dadurch, daß Athen als Leichnam (Hyp I, 151) vorgestellt wird. „Denn von selbst versteht sich“, wie Benjamin ausführt: „die Allegorisierung der Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchsetzen.“160 Eben dies versucht Hyperion an Athen zu vollziehen. Als Leichnam wird der historische Ort zu einer Allegorie, die helfen soll, jenen Geist zu mobilisieren, mit dem sowohl die vergangene Geschichte gedeutet als auch die zukünftige gestaltet werden könnte. Athen ist also dadurch bedeutsam, daß es verwandelt erscheint: als Allegorie, die sich selbst dreifach anders darstellt, bis da endlich ein Leser steht, der sie wie eine liegen gebliebene Ähre aufhebt und liest. Das hieße jedoch, daß Athen nur dann unverloren bliebe, wenn es lesend abermals verbrannt würde, um in dieser letztlich vernichtenden Verwandlung durch den Leser in Geist aufzugehen. Die Semantik von Hyperions drei Bildern legt diesen Schluß zumindest nahe: Die ersten beiden Bilder gehen durch die Konjunktion (und) gekoppelt ineinander über und geben zusammen die horizontale und vertikale Koordinate vor, die beide auch das entscheidende dritte Bild bestimmen: Der Leichnam liegt, doch die Säulen stehen. Während die liegende Flotte unkenntlich ist, stehen die Säulen wie nakte Stämme bloß. Damit werden mit jeder Koordinate auch Anfang und Ziel des hermeneutischen Prozesses assoziiert: Was unkenntlich ist, soll durch die Lektüre in die Vertikale gebracht werden, damit es sodann unverhüllt dasteht. Diese Enthüllung geschieht im Feuer, das die grünen Blätter von den Stämmen solange herunterbrennt, bis diese schließlich verwaist zurückbleiben. Das helle Aufleuchten des Feuers in der dunklen Nacht läßt das unter den Blättern des Walds verborgen Liegende im wahrsten Sinne aufgehen. Doch – die Bilder versinnbildlichen es selbst – der Geistentfachung geht der Tod des derart gedeuteten Objekts einher. Der Geist kann sich nur dann konstituieren und als konstant behaupten, wenn er seine verschiedenen endlichen Objekte über-lebt, wenn er sie mithin vernichtet. Soweit eine erste Auslegung der allegorischen Bilder. Es scheint also, als ob sich Hölderlins Roman für eine sich auf den Geist berufende Rechtfertigungslogik eignen würde, die heute, angesichts des Fak159 160

Benjamin: Trauerspiel, GS I.1, 391. Ebd., Hervorh. von mir.

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tums der Ermordeten und Verbrannten der Shoah, indiskutabel ist, zumal gerade auch der ‚Begriff‘ Holocaust derartige geschichtsphilosophische Verrechnungen nahelegt, wonach die ‚Opfer‘ auf einer höheren Ebene ‚Sinn‘ machen würden respektive einer Notwendigkeit unterlägen. Doch Hölderlins Roman als eine Doktrin einer solchen Theodizee denunzieren zu wollen, der für das Erlangen des angestrebten Telos bereit sei, jedwedes Opfer zu rechtfertigen, greift zu kurz. Denn die hier visualisierten Objekte verraten – sofern sie tatsächlich auf ihren Stamm heruntergebrannt werden –, daß sie Varianten einer anderen Persistenz sind, die sich gegenüber dem seine Objekte aufzehrenden Geist als resistent erweist: So steht dem Geist sowohl in den verwaisten Säulen als auch in den nakten Stämmen, ja noch in den gemähten Halmen jeweils ein Stab entgegen. Die drei Bilder ergeben eine Signifikantenkette, deren gemeinsamer Stamm nicht nur phallisch ist, sondern die beim stehenden Leser endet, der diese Signifikanten, ungebunden wie sie sind (verwaist, nakt und gemäht), wie Ähren aufnehmen muß. Es ist vom Ährenleser kein großer Schritt, im nakten Stamm und im gemähten Halm den beständigen, aber verwandlungsfähigen Buchstaben mitzulesen, der dem Geist nicht bloß wie ein stehendes Gefäß161 dient, sondern diesem ebenso widersteht, weil er immer auch anderes ist, als das, was der Geist in ihn hineinlegt oder aus ihm herauslöst. Die Gleichung, die Torsi einfach mit Kunst zu ergänzen, damit der Geist wie Feuer aufgeht, geht genauso wenig auf, wie der Versuch, den Buchstaben in der Lektüre ihren Geist vollständig abzutrotzen. Die Frage: aber wer gewann denn?, kann jedenfalls nicht, wie Diotima es vorschlägt, damit beantwortet werden, daß letztlich immer der Geist den Sieg aus allen Verwerfungen davonträgt. Durch diese Resistenz haben Hyperions Bilder allerdings die Merkmale einer Allegorie: Sie sind ein Torso in zweiter Potenz, der sich nicht einfach für höhere Zwecke vereinnahmen läßt. Die Analyse dieser Passage verdankt sich nicht zuletzt der Nachlese,162 zu der Celans Engführung anregt. Indem – wie oben gezeigt – Celans Gedicht die Schatten der Halme mit Buchstaben in Verbindung bringt, hebt es den auch in Hyperions Bildern angelegten Zusammenhang zwischen der Ähre, die an den Halmen des Korns hängt, und dem Sinn, den der Leser den Buchstaben zu entnehmen versucht, hervor.163 Damit ist aber nicht nur auf die Kom161

Das Etymon des Wortes Stamm ist aus dem indogermanischen Wortstamm sta- gebildet, das stehen bedeutet. Dieselbe Wurzel hat das griechische στáµνος, das übersetzt stehendes Gefäß heißt und beispielsweise ein Weinkrug ist, vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch (Anm. 99), 737. 162 Der Ährenleser wird auch Nachleser genannt, weil er erst dann kommt, wenn die Schnitter ihre Arbeit getan haben, vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig/München 1854–1984, Bd. I, 199. 163 Vgl. oben S. 38 und unten zur Bedeutung des Korns in Hölderlins Hymne Patmos S. 139 f. – Kant erläutert die Notwendigkeit, einen Zweck in den mannigfaltigen Dingen der

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plexität der Allegorese aufmerksam gemacht, sondern auch auf die Gefahr, die eine das Verlorene retten wollende Spekulation auslöst. Denn Hyperions versuchte Aufhebung der untergegangenen Welt in Athen übersieht, daß mit der buchstäblich gegebenen Allegorie, die immer auch anderes bleibt, als ein geistvolles Verstehen aufnehmen kann, tatsächlich etwas unverloren widersteht, was der Geist bereitwillig verlorengibt, weil er vor allem sich selbst – als Selbst – retten will. Hyperion ist allerdings für dieses Vergessen, das die Geistgewinnung ermöglicht, beispielhaft. Das belegt der weitere Verlauf des Athenerbriefes, deren entscheidende Etappen Celan ebenfalls erinnert, indem er mit dem kurzen Nacheinander der markanten Imperative: „Lies nicht mehr – schau! / Schau nicht mehr – geh!“ (I, 197), exakt den Hyperion bestimmenden Rahmen zusammenfaßt, den Diotima in dieser Phase der Athenexkursion vorgibt. Daß dem so ist, wird im folgenden plausibel werden. Deutlich aber muß schon im vorhinein festgestellt werden, daß die Imperative, die Diotima gegenüber Hyperion ausspricht, zwar denen der Engführung gleichen, darum aber weder die gleiche Funktion haben noch auf dasselbe verweisen. Der hier besprochene Abschnitt (Hyp I, 151–154) wird nicht nur durch Diotimas Aufforderung, „O siehe!“, eingeleitet, sondern schließt genau an dem Punkt auch mit einem Imperativ ab, wo die Verwandlung der Ruinen Athens in einen neuen Geist, angesichts der „Stummheit und Ödnis“ (Hyp I, 153) dieses Ortes, zu scheitern droht. Diotima: „Guter Hyperion! […], es ist Zeit, daß du weggehst; du bist blaß und dein Auge ist müde, und du suchst dir umsonst mit Einfällen zu helfen. Komm hinaus! in’s Grüne!“164 Hyperions Auge dürfte von seinen vergeblichen Lese- und Deutungsbemühungen müde geworden sein, die den Untergang von Athen nicht sinngebend erklären könNatur annehmen zu müssen, und daß „das Prinzip einer mechanischen Anleitung zweckmäßiger Naturprodukte“ einer „teleologischen“ Anleitung nicht entbehren kann, u. a. damit, daß „schlechterdings […] keine menschliche Vernunft […] die Erzeugung auch nur eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen“ kann, Kritik der Urteilskraft, § 77, B 353, Hervorh. von mir. Liest man dem entsprechend bei Hölderlin und Celan den Grashalm als Bild für den Buchstaben, dann dürfte – analog zu Kant – gefordert werden, daß diesem ein Zweck und mithin ein Sinn zu Grunde liegt, der allerdings eine „besondere Art der Kausalität“ voraussetzt, „die sich nicht in der Natur vorfindet“ (ebd., § 78, B 355). Daß Hölderlin tatsächlich an Kants Beispiel vom Gräschen beziehungsweise Grashalm (vgl. ebd., B 299, B 338) gedacht haben wird, belegen folgende Worte Alabandas, die er zu Hyperion beim Abschied sagt: „wächst doch kein Grashalm auf, wenn nicht ein eigner Lebenskeim in ihm ist!“, Hyp II, 91. Ist der Buchstabe aber wie die Halme des grünen Grases erst einmal gemäht und damit seines Grundes und der postulierten Kausalität enthoben, dann muß dies auch Konsequenzen für seinen Sinn haben. Darum gilt schon für den Hyperion-Roman, was Celan im ersten Gedicht des Zyklus Stimmen schreibt: „Was zu dir stand / […] tritt / gemäht in ein anderes Bild.“, I, 147, Hervorh. von mir. 164 Hyp I, 154, Hervorh. von mir.

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nen. Die Versäumnisse der Schiffer und Schnitter sind nachträglich nicht auszugleichen und Hyperion ist darum kurz davor, über seinen mißmutig geäußerten „Einfall“, daß all der Verlust „wohl ein prächtig Spiel des Schiksaals“ sei (Hyp I, 153), zu resignieren. Just in diesem Moment kann Diotima ihn abermals mit der Aufforderung, endlich in’s Grüne zu gehen, retten. Während die Lesenden der Engführung durch den Imperativ geh! aufgefordert werden, dem Verlauf des Textes Folge zu leisten, der in die Geschichte verweist, gestattet die Aufforderung Diotimas an Hyperion im Gegenteil die Abwendung von der Welt und ihrer Geschichte. Dem kommt Hyperion gerne nach und vergißt sogleich jene Deutungsschwierigkeiten, mit denen sich wohl noch seine Gefährten abgeben, die zusammen mit „zwei brittischen Gelehrten“ vor Ort weiter verharren, um „unter den Altertümern in Athen ihre Erndte“ zu halten (vgl. Hyp I, 154). Während diese also noch versuchen, die gemähten Halme gelehrsam zu untersuchen, kann sich Hyperion mit Hilfe von Diotima, die – so ist sich Hyperion auf einmal sicher – „einen herrlichen Kampf“ mit dem „heiligen Chaos von Athen“ bestanden hatte (vgl. ebd.), von seinen erfolglosen Bemühungen um eine geschichtsphilosophische Theorie lösen. Dafür geht ihm jetzt auf: Nun „herrschten Diotima’s stille Gedanken über den Trümmern. Wie der Mond aus zartem Gewölke, hob sich ihr Geist aus schönem Leiden empor“ (ebd.). Das Leiden, das eben auch ein Leiden am eigenen Erklärungsnotstand ist, verschwindet mit den stillen Gedanken Diotima’s, welche die Trümmer und damit alles Fragmentarische der eigenen ausgesprochenen Gedanken vergessen lassen. Die in Athen gesuchte Schönheit tritt Hyperion nun in Anbetracht der Trümmer um so herrlicher in Diotimas Gestalt entgegen. In ihrer Gegenwart scheint sich endlich zu bewahrheiten, was der allererste Absatz des Briefes als Ouvertüre in Aussicht stellte, als diese das Thema der Wallfahrt nach Athen anstimmte: „Es giebt große Stunden im Leben. Wir schauen an ihnen hinauf, wie an der kolossalischen Gestalt der Zukunft und des Altertums, wir kämpfen einen herrlichen Kampf mit ihnen, und bestehn wir vor ihnen, so werden sie, wie Schwestern, und verlassen uns nicht.“165 Die erste Sentenz hebt die großen Stunden hervor, die im Leben bestimmend sind. Der Plural wir unterstreicht, daß hier Erfahrungen angesprochen sind, die Allgemeingültigkeit beanspruchen können sollen. Die großen Stunden sind offenbar grundlegend bestimmend. Sie sind wie ein Schicksal oder ein Datum gegeben (Es giebt). An dieser Gabe gilt es sich zu bewähren, damit diese Stunden uns nicht mehr verlassen. Sie sollen also bleiben. Dafür müssen diese, die sich geben, in ihren Empfängern erst noch werden; sie müssen, so der Vergleich, zu Schwestern werden. In diesem als Kampf verstandenen Prozeß nehmen – wenn er gelingt – die Zeit und die Subjekte, gleichsam in fami165

Hyp I, 136, Hervorh. von mir.

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liärer Bindung verwoben, Gestalt an. Daß die Zeit menschliche Gestalt ‚annimmt‘, heißt, daß die Gabe der Zeit im Kampf angenommen wird. Wie aber machen sich die großen Stunden bemerkbar? Dieser herrliche Kampf um eine eigene Identität, und das zeigt der weitere Verlauf des Briefes, wird nicht zuletzt mit der kolossalischen Gestalt der Zukunft und des Altertums ausgetragen. Die eigene Gegenwart ist, so wäre zu schließen, nur so groß, wie die Zeit, die ihr in Altertum und Zukunft entgegentritt. Es heißt aber, daß die großen Stunden im Leben so groß sind wie die Gestalt der vergangenen und zukünftigen Zeit. Dem Vergleich zum Trotz beanspruchen diese großen Stunden Eigenheit. Sie sind im Kantischen Sinne „ s c h l e c h t h i n g r o ß (absolute, non comparative magnum)“166 und darum durch kein bekanntes Maß zu bestimmen, weil sie selbst maßgebend sind. So werden auch Vergangenheit und Zukunft durch sie erst erschlossen. Für Hyperion, der in der Tat zwischen der kolossalischen Gestalt des Altertums und der Zukunft eingespannt ist, ohne daß er diese alleine bewältigen kann, sind es Diotimas stille Gedanken,167 die einer Epiphanie gleich für ihn zur großen Stunde seines Lebens werden. Das heißt, daß die vollzogene dialektische Vermittlung, die im Leiden erst der Schönheit gewahr wird, Hyperion dadurch geschieht, daß er sich – durch Diotima dazu aufgefordert – in den Garten von Angele zurückzieht, um sich von den Trümmern und damit von der Diskrepanz zwischen dem zuvor entworfenen Ideal und der dann erfahrenen Realität abwenden zu können. Durch Diotima wird Hyperion also nicht nur auf den trockenen Hochmut seiner Gedanken aufmerksam gemacht, sondern auch vor der Melancholie bewahrt, in die er angesichts der in Trümmern liegenden Tempel zu fallen drohte; und durch sie wird er schließlich von seinen hilflosen Einfällen erlöst, die die Gegensätze nicht auf den Begriff bringen konnten. Umso leichter fällt es Hyperion dann, den „Schiffbruch der Welt“168 freudig zu vergessen. Doch bevor sich Hyperion gänzlich 166

Kant: Kritik der Urteilskraft, § 25, B 81. Hyp I, 154. Dem akribischen Ährenleser, der auf die Spitzen (vgl. den griech. Präfix ακρο-) der Worte achtet, wird auch in den stillen Gedanken Diotimas das oben in Anm. 141 diskutierte Akrostichon (S.G.) lesen können. Diese ‚Spitzfindigkeit‘ gilt auch für die großen Stunden im Leben. 168 Hyp I, 156. Das Motiv der Schiffer begleitet den Athenerbrief und spiegelt jeweils Hyperions Gemütslage. Zunächst gelangen Hyperion und die anderen mit dem Schiff nach Athen. Während dieser Überfahrt imaginiert Hyperion das ideelle Athen. Die damit verbundenen Hoffnungen werden dann von dem Bild konterkariert, das Athen als zerschmetterte Flotte zeichnet. Schließlich aber scheint die Hoffnung wieder begründet, als Hyperion an Diotimas Seite ausruft: „Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von nichts, als meiner seeligen Insel“ (Hyp I, 156); vgl. auch Friedbert Aspetsberger: Welteinheit und epische Gestaltung. Studien zur Ichform von Hölderlins Roman „Hyperion“, München 1971, 74. – Die Schiffer haben in Hölderlins Dichtung generell allerlei Gemeinsamkeiten mit den Dichtern, weil sie die Übersetzung an ein anderes Ufer ermöglichen und 167

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von der Welt abwenden kann, um sein gewonnenes Glück zu genießen, ist es dann abermals Diotima – als wollte sie verhindern, daß sie von Hyperions Eros eingenommen wird –, die erneut einen Umschwung bei ihrem Freund herbeiführt, indem sie ihn wieder in die Welt hinausschickt. Sie erklärt: „Aber das Leben selber treibt uns heraus“ (Hyp I, 156). Um dem Nachdruck zu geben, setzt sie selbst zu einer Rede an, welche die zuvor zurückgelegte Entwicklung Hyperions derart zusammenfaßt, daß insbesondere den gemachten Verfehlungen und Mißerfolgen Notwendigkeit und mithin Gutes abgewonnen wird: „Aber dadurch ist nichts verloren. Wäre dein Gemüth und deine Thätigkeit so frühe reif geworden, so wäre dein Geist nicht, was er ist; du wärst der denkende Mensch nicht, wärst du nicht der leidende, der gährende Mensch gewesen. Glaube mir, du hättest nie das Gleichgewicht der schönen Menschheit so rein erkannt, hättest du es nicht so sehr verloren gehabt“ (Hyp I, 157). Erst der die schönen Trauben zersetzende Gärungsprozeß setzt den den Geist belebenden Alkohol des Weines frei.169 Hyperion mußte also erst einen solchen negativen Prozeß durchstehen, bevor sein Geist werden konnte, was er ist und er in den Stand versetzt wurde, Diotimas Einsicht in die Notwendigkeit dieser Negativität zu teilen: Ist doch das Resultat dieses Prozesses nicht einfach Nichts, sondern vielmehr jenes, das schön genannt werden kann. Diotimas Rede wiederholt damit jene Gedanken, die Hyperion zuvor über den Bildungsgang der Athener geäußert hatte. Hyperions Entwicklung solle nun wiederum beispielhaft für die mögliche Entfaltung der künftigen Geschichte sein. Entsprechend gipfelt Diotimas Rede in der Forderung, daß Hyperion in die Welt zurückgehen soll, um dort den „Bedürftigen“ zu geben, „was du in dir hast“ (Hyp I, 158). Seine Erfahrungen, die so mühsam an den Ruinen der Geschichte reiften, sollen nun nach außen treten, damit sie die Zukunft gestalten können. Ihr ultimativer Imperativ lautet: „gieb –“ (ebd.). Daß dies nicht einer jener leeren Gedanken ist, wie sie Hyperion zuvor auf seinem „troknen Berggipfel“ (Hyp I, 149) geäußert hat, ist an seiner stammelnden Abwehr ablesbar: „Kein Wort, kein Wort mehr, große Seele! rief ich, du beugst mich sonst, es ist ja sonst, als hättest du mit Gewalt mich dazu gebracht –“ (Hyp I 158). Doch Hyperion wird sich nicht lange sträuben. Denn die Gewalt der zunächst eher unmerklichen Interventionen Diotimas ist so

weil sie sich darüber hinaus dorthin aufmachen, wo zuvor noch keiner gewesen ist. Unten wird dies im Zusammenhang der Hymne Andenken (Kap. Andenken und die Kluft zwischen Dichten und Denken u. Zum Gesetz der Geschichte) aufgegriffen werden; vgl. auch Heidegger: „Andenken“ (A) (1943), in: EHD, 79–151, insb. 135 ff. 169 Vgl. Gerhard Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie und Revolution bei Hölderlin, Stuttgart 1975, 139; Gaier: ‚Hyperion‘ (Anm. 153), 123 u. Anm. 113; sowie Martens: Wesen der Schönheit (Anm. 145), 195.

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dosiert, daß Hyperion sich zuletzt selbst entschließt, es nicht beim Erreichten bewenden zu lassen.170 Daß dieser letzte Schritt von besonderer Tragweite ist, wird daran manifest, daß Diotima ihre Position, von Hyperion umschwärmt zu sein – „Mein Geist umschwebte die göttliche Gestalt des Mädchens, wie eine Blume der Schmetterling“ (Hyp I, 155) –, dahingehend neu bestimmt, daß aus ihrer Beziehung ein geschwisterliches Verhältnis wird. Diese Transformation ist Voraussetzung für den Pakt, den sie Hyperion zu schließen vorschlägt. Hyperion soll zu Diotima wie ein Zwilling sein, damit er ihr wie „Pollux dem Kastor“ „die Hälfte [s]einer Unsterblichkeit“ schenkt, die er als herrlicher Mann und Erzieher künftig erringen wird (vgl. Hyp I, 159). Damit erfüllt sich die im ersten Absatz des Briefes gewünschte Bewältigung der gegebenen großen Stunden überraschend konkret: Diotima, die ihm diese (Lehr-)Stunde beschert, wird Hyperion zur geistigen Schwester. Als diese bewirkt sie, daß Hyperion nun selbst den kämpferischen Entschluß faßt: „Es werde von Grund aus anders! Aus der Wurzel der Menschheit sprosse die neue Welt!“ (ebd.). An diesem Bekenntnis zeigt sich denn auch ganz ungetrübt der idealistische Optimismus. Für Hyperion selbst heißt das: „Aber ich muß noch ausgehn, zu lernen. Ich bin ein Künstler, aber ich bin nicht geschikt. Ich bilde im Geiste, aber ich weiß noch die Hand nicht zu führen“ (ebd.). Der Geist muß sich also noch in geschikten Händen materialisieren, damit aus ihm – so wie einst die zärtlichen Athener-Hände aus den Marmorfelsen ihre Tempel schufen – „heilige Schiklichkeit“171 werden kann, die es auch vermag, das Vaterland neu zu begeistern.172 Die große Stunde in Athen hat sich, wie es der Anfang des Briefes versprach, buchstäblich in eine Schwester verwandelt, die Hyperion nicht mehr verläßt. In Diotima steht ihm nun eine Schwester zur Seite, die ihn vorerst in den Glauben versetzt, daß es Entschlüsse gibt, „die, wie Götterworte, Gebot und Erfüllung zugleich sind“ (Hyp I, 160). Es bleibt dem zweiten Band von Hölderlins Briefroman vorbehalten, erstens aufzuzeigen, warum Diotimas Worte ein Versprechen sind, dessen 170

Es ist, als ob Diotima Hyperion auf eben jenen Wegen zur Selbständigkeit erzieht, die auch Rousseaus Émile gehen mußte, vgl. Rousseau: Émile ou de l’éducation (1762), vgl. Gaier: ‚Hyperion‘ (Anm. 153), 96 ff. 171 Vgl. Hölderlin: Brief an einen Unbekannten [nach StA an Christian Gottfried Schütz] aus Bad Homburg, im Winter 1799/1800, StA VI, 381; vgl. auch die „schikliche[n] Hände“ in Hölderlins Ode Blödigkeit, s. u. S. 214 f. 172 Daß der Athenerbrief seinen Abschluß in der künftigen Volkserziehung findet, verweist zurück auf den Grund, der bereits im ersten Satz des Romans als Ursache der beiden grundlegenden Affekte genannt wurde: „Der liebe Vaterlandsboden giebt mir wieder Freude und Laid.“ (Hyp I, 7, Hervorh. von mir); vgl. auch Ulrich Gaiers Resümee: „Schon der erste Band des Romans steht […] unter dem Zeichen des Vaterlands, in dem sich Begriffe wie Natur, Schönheit, Liebe, Geist zur Organisation seiner Sphäre sammeln.“, ders.: Hölderlin. Eine Einführung, Tübingen / Basel 1993, 181.

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Erfüllung weiterhin ausbleibt, und zweitens, daß Diotima letztlich nur dann Schwester im Geiste bleiben kann, wenn sie als begehrte Person in ihrer Individualität preisgegeben wird, damit sich an ihr die Schönheit als transzendentaler Grund des Seins bewahrheite. An Diotima vollzieht sich damit, wie Aspetsberger es nennt, die „Gottwerdung des Menschen“.173 Konsequent ist es in dieser Hinsicht und „der ganzen Anlage nach, nothwendig“, daß Diotima im zweiten Band stirbt.174 Das Beklemmende aber, das mit dem Opfer Diotimas einhergeht – welche trotz ihres Abschiedsbriefes nicht die erhabene Tragik des selbst gewählten Todes an sich hat175 – und das sich auch in Hyperions Schuldgefühlen ausspricht,176 ist besonders an der Geste Hyperions ablesbar, Diotima „verschenken“ zu wollen, wenn er dies nur könn173

Aspetsberger: Welteinheit (Anm. 168), 153–157, hier 154. Vgl. auch Friedrich Strack, der bei Hölderlin den Absolutheitsanspruch des Ästhetischen vor dem Theoretischen und Praktischen herausstellt. „Schönheit ist […] für Hölderlin in der Zeit des ‚Hyperion‘ das irdisch gewordene Absolute – seine Version der Menschwerdung Gottes. An die Stelle des christlichen Schmerzensmannes ist die antike Schönheitsgöttin getreten, die in Diotima Gestalt annimmt.“, ders.: Hölderlins ästhetische Absolutheit, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der französischen Revolution, Tübingen 1990, 175–191, hier 184. Sowohl Stracks Verweis auf den Topos von der Menschwerdung Gottes als auch Aspetsbergers umgedrehte Formel von der Gottwerdung des Menschen sind griffig. Allerdings verdecken diese Formeln den Preis, den Diotima zahlen muß, damit Hyperion an ihr die Apotheose feiern kann. Vgl. auch Marlies Janz, die bezüglich Diotimas Tod von „Mord“ spricht, dies.: Hölderlins Flamme. Zur Bildwerdung der Frau im ‚Hyperion‘, in: HJb 22 (1980/81), 122–142, hier 140. 174 Susette Gontard hatte offenbar gegen Diotimas Tod Einspruch erhoben. Hölderlin rechtfertigt sich jedenfalls ihr gegenüber. „Verzeih mirs, daß Diotima stirbt. Du erinnerst Dich, wir haben uns ehemals nicht ganz darüber vereinigen können. Ich glaubte, es wäre, der ganzen Anlage nach, nothwendig.“, Brief vom Oktober / November 1799 aus Bad Homburg, StA VI, 370. Hölderlin erweckt gegenüber Gontard durch das Präteritum Ich glaubte den Eindruck, als ob er nun, nur wenige Wochen nach der Auslieferung des zweiten Bandes, anders (in ihrem Sinne?) mit Diotima verfahren würde. Der Brief zeigt, daß Hölderlin schon in Frankfurt – ehemals – gegenüber Susette Gontard den Gedanken geäußert haben muß, Diotima sterben zu lassen. Die erzwungene räumliche Trennung von seiner Geliebten im September 1798, dürfte also allenfalls die Dringlichkeit erhöht haben, die Abwesende geistig zu vergegenwärtigen. Kann auch mit Gaier angenommen werden, „daß der gesamte Briefkomplex im Zusammenhang mit dem Tod Diotimas erst in Homburg entstanden sein muß“, ders.: Hölderlin (Anm. 172), 188, so bleibt doch festzuhalten, daß – wie die Lektüre des Athenerbrief zeigt – die Anlage der Figurenkonstellation und damit die Notwendigkeit den Geist der Schwester durch den Leichnam Diotimas zu gewinnen (vgl. oben S. 74), schon in Frankfurt gelegt wurde. 175 Vgl. Hyp II, 95–104. Hölderlin arbeitet zu diesem Zeitpunkt parallel an seinem Empedokles-Projekt. Vgl. Theresia Birkenhauer: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles, Berlin 1996. 176 „[V]erlaidet ist mir meine eigne Seele, weil ich ihrs vorwerfen muß, daß Diotima todt ist, und die Gedanken meiner Jugend, die ich groß geachtet, gelten mir nichts mehr. Haben sie doch meine Diotima mir vergiftet!“, Hyp II, 109.

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te,177 um dafür den „Bruder!“ (Hyp II, 92) Alabander zum Bleiben zu bewegen; – vermutlich hat sich Susette Gontard gerade an dieser Stelle gestoßen. Sie wird sich sicherlich gefragt haben, warum der Glaube an die „unzerstörbare Seele“, welche die „Schönheit der Welt“ sei, sich nur darüber bewahrheiten kann, daß die Stimme der toten Diotima noch einmal auf rätselhafte Weise aus dem Jenseits erscheint, um Hyperion abermals – wie zuvor in Athen – aus seinem Trübsinn mit „sanftem Schreken“ zu entrücken.178 Wenn Celans Engführung von einem du berichtet, das gehen soll, weil es zuhause ist und weil seine Stunde keine Schwestern hat (vgl. I, 197), dagegen aber Hyperions große Stunde darin besteht, daß ihn seine Schwester auffordert, in die Welt zu gehen, um dieser seinen erkämpften Geist zu geben, dann scheint sich das mehrfach konstatierte Urteil zu bestätigen, daß Celan Hölderlins Dichtung widerruft, daß er sich geradezu diametral von Hölderlin absetzt.179 Während Diotima Hyperion beiseite steht, ihm behutsam über die Klippen180 der Geschichte hinweghilft, an denen die Schiffer Athens zerschellt sind, und ihn dadurch auf das Zukünftige vorbereitet, verdeutlicht Celans Gedicht, daß derlei Gewinn an dem Ort, wohin das du der Engführung verbracht ist, nicht zu extrahieren ist. Während Hyperion mit seiner Schwester die alten Tempel Athens aufsucht, um dort, wo das Abendland seinen Anfang nahm, die Potentiale zu reaktivieren, die in Religion, Philosophie und Dichtung für die Menschheit aufbewahrt sind, gelangt der Leser der Engführung in das Gelände, in dem das Abendland mitsamt seinen humanistischen Idealen nicht nur unwiederbringlich zugrunde gegangen ist, sondern – das wird der Lektüre abverlangt – immer noch ein weiteres Mal zugrunde geht. Diese Stunde hat keine Schwestern mehr, weil in der Eulenflucht181 jene Aufhebung aussetzt, die Hyperion noch mit Diotimas Hilfe erlangte, indem sie die Erfahrung der Negativität zunächst zuließ und nachher als notwendiges Moment des Bildungsprozesses erklärte. Wenn aber eine solche Schwester nicht mehr gegenwärtig ist, dann ist die spekulative Bewegung, deren Resultat der Tod und Niederlage über-lebende Geist ist, diffundiert. 177

Vgl. Hyp II, 82; hierzu Stiening: Epistolare Subjektivität (Anm. 147), 326. Vgl. den Schluß des Romans, Hyp II, 122–124. 179 Richtungsweisend für dieses Verständnis wurde der Aufsatz von Götz Wienold mit dem programmatischen Titel: Paul Celans Hölderlin-Widerruf, in: Poetica 2 (1968), 216–228. 180 Zu Hyperions Schiksaalslied siehe auch unten S. 155. 181 Das Attribut der sowohl weisen als auch kampfbereiten Stadtgöttin Athene ist bekanntlich die Eule. Das Zusammenlesen des Athenerbriefes mit der Engführung bestätigt damit durchaus, daß sich die Eulenflucht, wie oben (S. 61) vorgeschlagenen, auf Hegels Eule der Minerva bezieht. Hat doch auch Hyperion Minerva statt Athene angeführt (siehe das Zitat S. 73), um sie mit der Philosophie zu vergleichen. 178

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Es kommt also insofern zu einem Widerruf durch die Engführung, als Celan gegenüber dem Gang Hyperions nach Athen eine Stunde anzeigt, die nicht etwa ein kolossalisches Ausmaß hat (vgl. Hyp I, 136), sondern das Aus jeglichen Maßes ist. Denn diese Stunde kann nicht im Kampf derart bestanden werden, daß sie zur Schwester werden könnte; respektive: Da ist keine Schwester (mehr), die statt dem du den Kampf mit diesem Datum bestehen könnte. Diese Differenz hat weitreichende Konsequenzen. Während sich Hyperion und Diotima im zweiten Band beim Abschied gegenseitig versichern, daß sie sich bis zum Wiedersehen am „Sternenhimmel“ erkennen wollen, der ihnen „das Zeichen“ ihrer Zugehörigkeit ist (vgl. Hyp II, 19), ist das du der Engführung auf die Nacht, die keine Sterne braucht, zurückgeworfen, ohne daß eine Schwester oder sonst jemand nach ihm fragt (vgl. I, 197). Das ‚geschwisterliche‘ Gespräch und mithin die auf höchster Ebene – der Sternenhimmel symbolisiert nicht zuletzt Spinozas Aufforderung, die Dinge sub specie aeternitatis zu erkennen – in Aussicht gestellte Vereinigung, die gemachte Fehler, erfahrene Niederlagen und erlittenes Leid versöhnt, ist damit in Abrede gestellt.182 182

Vgl. Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (1677), Hamburg 1989, V. Buch, Lehrsatz 29. An dieser Stelle sei auf die Bedeutung Spinozas für die Genese von Hölderlins Dichtung hingewiesen, vgl. Günther Mieth: Einige Thesen zu Hölderlins Spinoza-Rezeption, in: Weimarer Beiträge, 24/2 (1978), H.7, 175–180; Mark R. Ogden: Amor dei intellectualis. Hölderlin, Spinoza and St. John, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 63 (1989), 420–460 und Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des „Hyperion“, Tübingen 1990. – Bezüglich der Versöhnung vgl. den gerne zitierten Satz aus Hyperions Vision, der ihm schlußendlich „seelig“ entfährt: „‚Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.‘“, Hyp II, 124. Dieses Versprechen ist darin radikal, daß es nicht auf eine zukünftige oder jenseitige Erlösung vertröstet. Die Versöhnung folgt nicht – vielleicht – nach dem Streit, sondern ist schon in diesem selbst zu entdecken. Spinozas Philosophie der Immanenz ist damit von Hölderlin konsequent weitergedacht worden. Das aber heißt – und dies wird durch Wegenasts Darstellung von Hölderlins Spinoza-Rezeption mehr verschleiert denn kritisch diskutiert –, daß Hölderlin insbesondere mit der Heraklitischen Formel des εν διαφερον εαωτ , die in dem Streitmotiv am Schluß des Romans noch einmal zitiert ist, Spinozas Ontologie grundlegend modifiziert, welche dem Weisen, der sich durch sie als Modifikation der absoluten Substanz erkennt, ungeteilte Ruhe und Seligkeit in Aussicht stellt. Dies zeigt sich unter anderem daran, daß die in Anführungszeichen gesetzte Vision Hyperions durch die letzten beiden Sätze des Romans performativ relativiert werden: „So dacht’ ich. Nächstens mehr.“ Wo sich eben noch der Gedanke der Immanenz im Präsens entfaltete, klafft auf einmal eine Lücke, weil der versöhnende Gedanke kurzerhand in die Vergangenheit versetzt ist – So dacht’ ich. Die zum Abschluß gebrachte Erinnerungsarbeit des Erzählers – es wird in dieser letzten Geste auf den Anfang des Romans zurückverwiesen – rundet sich nicht mit Spinoza in der Gewißheit „wahrer Individualität“ harmonisch ab (vgl. Wegenast, 2 u. 202), sondern entläßt das schreibende Subjekt mitsamt seinen Lesern in eine beunruhigende Offenheit, die unbestimmter nicht sein könnte: Nächstens mehr. Es ist die Behauptung nicht aufrecht zu erhalten, daß Hölderlin Spinozas Philosophie durchweg affirmativ aufgenommen und im Hyperion ästhetisch realisiert habe. Wegenasts Versuch, diese

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Der dergestalt zum Ausdruck gebrachte Einspruch gegen den HyperionRoman sollte jedoch nicht – wie in der Forschung geschehen – leichtfertig auf Hölderlins Dichtung generell bezogen werden.183 Celan selbst macht in dem nicht publizierten Gedicht Ars Poetica 62 auf einen Umschlag in Hölderlins Entwicklung aufmerksam, den das ich in Celans Text bewirkt haben will (N, 87): […] ich brachte Hyperion die Sprache bei, auf die es uns Hymnikern ankam. Er lernte gerne und brav. […]

Was Hyperion lernte und warum er sich zum Hymniker weiterentwickelte, soll im folgenden gefragt werden. Erste Anzeichen für diese Entwicklung gibt bereits die oben besprochene Ode Der Main. Denn auch Hölderlin hat, nachdem er im September 1798 Frankfurt verläßt, keine ‚Schwester‘ mehr, die ihn, wie vordem Diotima Hyperion, in unmittelbarer Nähe begleitet. In dem der Ode eingeschriebenen Familienbild sind darum wohl Vater (v. 29) und Bruder (v. 39) genannt, und die Mutter ist immerhin in der zweifach angesprochenen Erde (v. 1 u. 28) repräsentiert. Was aber – fortan in Hölderlins Dichtung – fehlt, ist die Schwester, die gegenwärtig und weitblickend zugleich, hinter dem Rücken des Agierenden, der an das Momentane gebunden ist, alles zum These trotz der vorhandenen Differenzen zu stützen, indem sie darauf aufmerksam macht, daß Spinoza sich der Schwierigkeit bewußt gewesen sei, „das Zugleich von Identität und Selbstdifferenzierung des Alleinen logisch stringent zu entwickeln“ (ebd., 190), weicht der Tatsache aus, daß Hölderlins Hyperion tatsächlich nicht in einer auf Spinoza bezogenen Wahrheitsgewißheit zur Ruhe kommt, wie Wegenast beteuert (vgl. 215–231). Hölderlins Roman bringt vielmehr in der Auseinandersetzung mit Spinoza die „‚Schwachstelle‘“ (vgl. ebd., 191) von dessen Ethik zur Darstellung. Statt also diesen so kritischen Punkt nur kurz zu erwähnen, wäre es gut gewesen, wenn Wegenast die Tragweite der Differenz zwischen Spinoza und Hölderlins Konzeption des Hyperion tiefer ausgelotet hätte. So ist es symptomatisch für Wegenasts Lektüre, daß sie das mit Spinoza kaum zu vereinbarende εν δια Και Παν verbirgt. Anφερον εαωτυ Heraklits hinter der pantheistischen Formel des Εν schaulich wird dies etwa an ihrer Interpretation des „alten Thors“ von Athen, „wodurch man ehemals aus der alten Stadt zur neuen herauskam, wo gewiß einst tausend schöne Menschen an Einem Tage sich grüßten“, Hyp I, 153. Kann auch gesagt werden, daß sich „im Bild der an einem Tage sich grüßenden ‚tausend‘ Menschen […] das Alleinheitsmotiv [‚Eines und Alles‘] assoziiert“ sei, vgl. ebd., 206, so reduziert dieser Nachweis das Bild vom alten Thor, wenn nicht ebenfalls hervorgehoben wird, daß an ihm die Bedeutung des εν διαφερον εαωτυ zum Ausdruck kommt. Denn insbesondere durch das alte Thor ist in die Topographie Athens das „Eine in sich selbst unterschiedne“ eingeschrieben, ausgeführt hat dies Martens, Wesen der Schönheit (Anm. 145), 191 f. 183 Vgl. neben Wienold: Widerruf (Anm. 179), Klaus Manger: Die Königszäsur. Zu Hölderlins Gegenwart in Celans Gedicht, in: HJb 23 (1982–1983), 156–165 oder auch Bogumil: Celans Hölderlinlektüre (Anm. 24).

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Besseren hinführt, weil sie, den Göttern ähnlich, sowohl in als auch über allem steht.184 In der Ode Der Main kündigt sich durch das Fehlen der Schwester erstmals an, daß sich Hölderlins Geschichtsverständnis differenziert. Die Annahme, daß sich die anvisierte Erhebung über das „physisch und moralisch nothwendige“ zu den „zartern und unendlichern Verhältnisse[n]“, die „aus dem Geiste betrachtet werden“ müssen,185 kommen wird – und die Polis Athen ist das Modell dieser „höhere[n] Aufklärung“ (ebd.) –, auch wenn, wie der Athenerbrief exemplifiziert, ein „schönes Leiden“ (Hyp I, 154) zu durchlaufen sei, wird spätestens um die Jahrhundertwende dahingehend korrigiert, daß die Geschichte vielmehr ein offener Prozeß mit ungewissem Ausgang ist.186 Noch 184

Entsprechend erhalten die Frauen ab 1799 in Hölderlins Dichtung eine andere Position: aus der Geliebten Diotima ging zunächst die Schwester im Geiste hervor. Diese wird schließlich zur heiligen Frau und Mutter. Es ist dies eine Transformation, die der Verlagerung von den „Liebeslieder[n]“ in „das hohe und reine Frohloken vaterländischer Gesänge“ entspricht (vgl. oben Anm. 139 und 142). Explizit wird diese Entwicklung an der Ode, die Hölderlin Der Prinzessin Auguste von Homburg (StA I, 311 f.) widmet, und am Gesang des Deutschen (StA II, 3–5). Beide Texte wurden im Herbst 1799 geschrieben. Im Gesang des Deutschen heißt es: „Den deutschen Frauen danket! sie haben uns / Der Götterbilder freundlichen Geist bewahrt“ (StA II, 4, v. 41 f.). Diese Zeilen schrieb Hölderlin Prinzessin Auguste in den frisch gedruckten zweiten Band des Hyperions, den er ihr ebenfalls zum Geburtstag am 28. November 1799 übersandte. Die „deutschen Frauen“, denen hier der Dank gebracht wird, weisen auf das „Höher[e]“, das zu rühmen dem deutschen Sänger „Beruf“ ist (vgl. Der Prinzessin Auguste von Homburg, StA I, 312, v. 26 f.), haben sie doch wie Diotima den „hohe[n] Geist!“ (ebd., v. 9) bewahrt. Sie unterscheiden sich damit von der Schwester Diotima in Athen, welche die Höhen und Tiefen des Künstlers im Gespräch begleitete. Die „deutschen Frauen“ haben dagegen nun die Aufgabe, die Hoffnungen hochzuhalten und zu repräsentieren, die in das „Vaterland“ gesetzt sind, von dem Hölderlin wünscht, daß es „aus / Liebe geboren und gut“ wie die himmlische Muse Urania sei (vgl. StA II, 4 f., v. 49–56). In der Priesterin Germania findet die Modifikation der Diotimafigur schließlich ihre höchste Entfaltung. Ihre Sache ist es, „der heiligen Erd’ / Einmal die Mutter“ zu nennen (vgl. StA II, 152). 185 Vgl. Hölderlin: Über Religion, StA IV, 277 f.; bzw.: Fragment philosophischer Briefe, FHA XIV, 48. Die FHA datiert die Entstehung des Fragments auf den Winter 1796/97; ebenso vermutet Ulrich Gaier „mit hoher Wahrscheinlichkeit“, daß der Text Anfang Januar 1797 „in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum ‚Ältesten Systemprogramm‘“ entstanden ist, vgl. Hölderlin Texturen 3 (Anm. 147), 230. 186 Das unterstreicht schon der Schluß des zweiten Hyperion-Bandes und ist insbesondere das Ergebnis der Arbeit am Empedokles, die Hölderlin bereits 1797 in Frankfurt begann und Anfang 1800 in Bad Homburg abbricht. „Mit dem Ende dieses Projekts [Empedokles] gibt Hölderlin die Trias Einheit-Entzweiung-Vereinigung als zeitgemäß mögliche Kunstform auf. Es ist das Denken von Geschichte als eines offenen Prozesses und die (freilich gefährdete, durch keine geschichtsübergreifende Konstruktion mehr garantierte) Freisetzung von Sprache, die jene bewußtseinstheoretische Trias als tragischen Ton in der Verfahrensweise des poetischen Geistes in sich integriert.“, so Johann Kreuzer: Einleitung (Anm. 150), LX, vgl. auch XXXVI–XLVII.

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im Januar 1797, also in der Zeit, als der Abschluß des ersten Bandes des Hyperion kurz bevor stand und Hölderlin vermutlich den Athenerbrief schrieb, sieht er – obwohl die „Welt eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten“ ist – „eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“ kommen, weil „jede Gährung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zu neuer Organisation nothwendig führen muß. Aber Vernichtung giebts nicht, also muß die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wieder kehren.“187 Die Konklusion, die sich Hölderlin hier zum „Trost“ (ebd.) abtrotzt, daß es eine allgemeine Vernichtung nicht geben könne, auch wenn er als Einzelner dafür verwesen müsse, verrät, daß sich Hölderlin, der sich wie Hyperion als Erzieher des Volks begreift,188 einem sehr langen Atem verschreibt. In dem Maße aber, da Hölderlin erkennt, daß es keine Gewißheit über das Weitere gibt, wird es ihm vordringlich, erstens einen „höheren Zusammenhang“189 zu gewinnen, von dem her die Situation dieses „armen geist- u. ordnungslose[n] Jahrhundert[s]“190 erfaßt und bestimmt werden kann und zweitens durch die Dichtung fürsorglich Wege und Weisen aufzuzeigen, die das einst lebendige Ideal nicht vergessen lassen. Es muß also einer sein und bleiben, der „die Spur der entflohenen Götter / Götterlosen hinab unter das Finstere bringt“.191 Beide Anforderungen bestimmen schließlich den Gesang, den Hölderlin den „vaterländischen“ heißt.

3. Vaterländischer Gesang Damit die Widersprüche erkennbar werden, die nicht nur im Einzelnen, sondern im Jahrhundert überhaupt walten, bedarf es einer „äußeren Sphäre“, die sich der Dichter „in harmonische[r] Entgegensezung“ frei zu wählen hat.192 Nur durch das frei gewählte Heraustreten aus dem kindlichen Zustande, „wo er [der Mensch] identisch mit der Welt war“ (StA IV, 257), können die „fruchtlosen Widersprüche“ überwunden werden, die immer wieder dazu führen, daß der Einzelne als Einzelner im „Mittelzustande zwischen Kindheit 187

Hölderlin: Brief an Ebel, 10. Januar 1797, StA VI, 229. Daß die Gärung die Ankündigung des neuen Geistes sei, entspricht dem Verständnis des Athenerbriefes, vgl. oben S. 81 und Anm. 169. 188 Im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, das im Kreis mit Hegel und Schelling in Frankfurt etwa zeitgleich mit dem Athenerbrief entstanden ist, wird die „Poësie“ als „Lehrerin der Menschheit“ konzipiert, vgl. StA IV, 298. 189 Vgl. Hölderlin: Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes (1800), StA IV, 255. 190 Vgl. Hölderlin: Brief an Neuffer, 16. Februar 1797, StA VI, 235. 191 Vgl. Hölderlin: Brod und Wein, erste Fassung, ursprünglich Der Weingott / An Heinze betitelt, StA II, 94. 192 Vgl. Hölderlin: Verfahrungsweise, StA IV, 255 f.

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und reifer Humanität“ sich selber aufreibt (StA IV, 255). „Diß ist also der Unterschied zwischen dem Zustande des Alleinseyns (der Ahndung seines Wesens) und dem neuen Zustande, wo sich der Mensch mit einer äußern Sphäre, durch freie Wahl in harmonische Entgegensezung sezt, daß er, e b e n weil er mit dieser nicht so innig verbunden ist, von dieser abstrahiren und von sich, in so fern er in ihr gesezt i s t , u n d a u f s i c h r e f l e c t i r e n kann, in so fern er nicht in ihr gesezt ist, diß ist der Grund, warum er aus sich herausgeht, diß die Regel für seine Verfahrungsart in der äußeren Welt“ (StA IV, 257). Der angestrebte Zustand ist derart, daß sich der Mensch in harmonischer Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre setzt. Erst dieses frei gewählte Mitsein ermöglicht die für die gesuchte Erkenntnis unabdingbare doppelte Differenz, die den Menschen einerseits von sich und seinem Alleinseyn abstrahiren läßt, weil er in diese ihm äußerliche Sphäre gesetzt ist, als auch zweitens auf sich zu reflectiren erlaubt, weil er in dieser Sphäre nicht restlos aufgeht. Denn er ist, wie Hölderlin festhält, trotz allem nicht in ihr gesezt. Durch die harmonische Entgegensezung wird sich der Mensch bewußt, daß er weder je ganz er selbst ist und damit all-kontrollierendes Subjekt, noch einfach passives Teil eines Ganzen und damit bloß fremdbestimmtes Objekt. In der Elegie Brod und Wein findet sich dieses Verständnis dann in der Zeile wieder: „Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden“.193 Die derart verstandene Entgegensetzung wird insbesondere durch jene äußere Sphäre ermöglicht, für die das Vaterland steht, das in diesem allgemeinen Sinne nicht schon mit dem „Nationellen“ identisch ist.194 Die Entäußerung 193

Hölderlin: Brod und Wein, v. 45, StA II, 91. Dieser Gedanke ist indes nicht neu. Vgl. Diotimas ‚Testament‘: „wie sollt ich scheiden aus dem Bunde, der die Wesen alle verknüpft? […] Nein! bei dem Geiste, der uns einiget, bei dem Gottesgeiste, der jedem eigen ist und allen gemein!“, Hyp II, 102 f. und Über Religion, StA IV, 281. Dort ist auch der Begriff der „Sphäre“ als eine „gemeinschaftliche Gottheit“ (ebd., 278) vorgedacht. 194 Vgl. Ulrich Gaier: Hölderlins vaterländische Sangart, in: HJb 25 (1986/87), 12–59; zur Unterscheidung zwischen Vaterland und Nationellem siehe insb. 24–30. Der von Hölderlin gegenüber Casimir Ulrich Böhlendorff geforderte „ f r e i e Gebrauch des E i g e n e n “ (das Nationelle) wie des Fremden (Brief vom 4. Dezember 1801, StA VI, 425–428) ist allerdings Vorbedingung für den vaterländischen Gesang. Für die Konzeption dieser Gesänge hebt Gaier die Bedeutung des Begriffs der „Sphäre“ hervor, den Hölderlin 1800 in der Verfahrungsweise (StA IV, 241–265) weiterentwickelte, vgl. Gaier, 30–35 u. 44–59. Zum Begriff des Vaterlands bei Hölderlin vgl. u. a. auch Christoph Prignitz: Der Gedanke des Vaterlandes im Werk Hölderlins, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts (1976), 88–113; Adolf Beck: Hölderlins Weg zu Deutschland, 1982 und Kurz: Mittelbarkeit und Vereinigung (Anm. 169), insb. 138–143. – Daß es nach den zwei von Deutschland ausgegangenen Weltkriegen allerdings einer Erklärung bedarf, welches Verständnis vom Vaterland Hölderlins vaterländischen Gesängen zugrunde liegt, ist insofern auch als hermeneutisches Problem ernst zu nehmen, als die ‚Trübung‘ dieses Signifikanten – und Vaterland ist gleichsam der Signifikant schlechthin, der Begehrlichkeiten weckt und diesen eine Statt gibt – durch

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auf das Vaterland entspricht vielmehr dem, was Hölderlin die „zartern und unendlichern Verhältnisse“195 respektive seit seiner Zeit im Tübinger Stift mit Hegel das „Reich Gottes“ nennt.196 Der auf das Vaterland bezogene Gesang hat also keine geringere Aufgabe, als die „Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten“ vorzubereiten.197 Daß hierfür insbesondere der „deutsche Gesang“198 zuständig ist, daran läßt Hölderlin unter dem Eindruck der Koalitionskriege allerdings keinen Zweifel. Ihm kommt es zu, den Geist der griechischen Kultur unter den anderen Bedingungen, die für Hesperien gelten, neu zu erwecken. Die beunruhigende Frage aber, wie dies zu vollbringen möglich werden könnte, wird für Hölderlin nach dem Hyperion-Roman und der Arbeit am Empedokles zusehends komplexer. So ist für Hölderlins Verständnis der „vaterländischen Umkehr“199 am Anfang des neuen Jahrhunderts die Einsicht kennzeichnend, daß Athen nicht einfach wiederholt werden kann. Entsprechend betont er gegenüber Böhlendorff die Notwendigkeit, den „freien Gebrauch des Eigenen“ zu erlernen, wenn dieses auch das „schwerste“ sei.200 die im Namen des Vaterlandes begangenen Verbrechen nicht einfach ‚bereinigt‘ werden kann, vgl. zu diesem Problem Nägele: „Uneßbarer Schrift gleich“ (Anm. 139), 120 f., sowie: Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945, 2 Bde., Marbach a.N. 1983, insb. die Kap. 16 f. und 27 f. – Hölderlin selbst regt in der Hymne Patmos eine Reflexion über das Verhältnis von Vater und Buchstabe an, weil die Liebe zum unzugänglichen Signifikat auf den Signifikanten verwiesen ist, vgl. unten S. 95 f. 195 StA IV, 277; vgl. Anm. 185. 196 Vgl. Hölderlin: Brief an Hegel, 10. Juli 1794, StA VI, 126 f. 197 Hölderlin: Brief an Ebel (Anm. 187). Vgl. auch die besondere Bedeutung, die Jürgen Scharfschwerdt diesem Brief für Hölderlins Verständnis der Revolution zumißt, die in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich im stillen „zur Reife kömmt“ (ebd.). Nach der Enttäuschung über den Verlauf der französischen Revolution und unter dem enormen Einfluß von Kants kritischer Wende des Denkens, vermittelt vor allem durch Karl Leonhard Reinholds Lehrtätigkeit in Jena von 1791 bis zum Frühjahr 1794, setzt Hölderlin nach Scharfschwerdt auf zweierlei: a) auf eine philosophisch-moralisch-ästhetische Revolution in der Trägergruppe der Wenigen, die dem Bildungsbürgertum angehören und b) auf den mittelständischen Habitus einer häuslichen Lebensart, die dem Charakter des deutschen Volkes entspricht, vgl. Scharfschwerdt: Friedrich Hölderlin. Der Dichter des „deutschen Sonderweges“, Stuttgart 1994, insb. 93–99. 198 Hölderlin: Patmos, StA II, 172. 199 Vgl. Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonae: „vaterländische Umkehr ist die Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen. Eine gänzliche Umkehr in diesen ist aber, so wie überhaupt gänzliche Umkehr, ohne allen Halt, dem Menschen, als erkennendem Wesen unerlaubt.“, StA V, 271. 200 Hölderlin: Brief an Böhlendorff, 4. Dezember 1801, StA VI, 425–428, dort auch die folgenden Zitate; hierzu Peter Szondi: Hölderlins Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801. Kommentar und Forschungskritik, in: Euphorion 58 (1964), 260–275, und ders.: Überwindung des Klassizismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1967, 85–104.

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Dieser „freie Gebrauch des Eigenen“ bedeutet allerdings nicht, sich vom antiken Griechenland schlicht abzuwenden. Vielmehr hebt Hölderlin die Notwendigkeit hervor, daß es zu einer „Elastizität“ des Geistes kommen muß, so daß dieser Eigenes und Fremdes gleichermaßen zu nutzen weiß. Denn das „Pathos“, das den Griechen angeboren ist und von den „junonischen Abendländern“ besonders angeeignet werden muß, darf sich nicht ohne „Nüchternheit“ und „Präzision“ ausbilden. Das Nämliche gilt vice versa. „Die Griechen“ sind insofern weiterhin „unentbehrlich“. Daß Hölderlin die Frage der Korrelation zwischen Fremdem und Eigenem im Verlaufe des Jahres 1801 vordringlich beschäftigte – „Ich habe lange daran laborirt“ (StA VI, 426) – ist auch an den Ermahnungen ablesbar, die er in der ersten Strophe der Hymne Germanien ausspricht:201 Nicht sie, die Seeligen, die erschienen sind, Die Götterbilder in dem alten Lande, Sie darf ich ja nicht rufen mehr, wenn aber Ihr heimatlichen Wasser! jezt mit euch Des Herzens Liebe klagt, was will es anders, Das Heiligtrauernde? Denn voll Erwartungen liegt Das Land und als in heißen Tagen Herabgesenkt, umschattet heut Ihr Sehnenden! uns ahnungsvoll ein Himmel. Voll ist er von Verheißungen und scheint Mir drohend auch, doch will ich bei ihm bleiben, Und rükwärts soll die Seele mir nicht fliehn Zu euch, Vergangene! die zu lieb mir sind. Denn euer schönes Angesicht zu sehn, Als wärs, wie sonst, ich fürcht’ es, tödtlich ists, Und kaum erlaubt, Gestorbene zu weken.

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Das lyrische Subjekt sieht sich unter ein altes biblisches Gebot gestellt, nämlich nicht hinter sich zu sehen, weil andernfalls der Tod droht.202 Was für Lots Familie gilt, nämlich den Blick von Sodom und Gomorrha zu lassen, damit ihre Flucht aus den von Gott verfluchten Städten gelingen kann, das gilt mutatis mutandis auch für das Hölderlinsche ich, das nicht rükwärts zum einst so schönen Angesicht (v. 14 f.) der Götter Griechenlands blicken darf (v. 3). Denn wer annimmt, als wären die Götter schön wie sonst, statt anzuerkennen, daß sie gestorben sind (v. 15 f.), läuft Gefahr, wie einst Lots Frau, durch Erstarrung zu Tode zu kommen. Der entscheidende Unterschied aber ist hier nicht, daß 201

Hölderlin: Germanien, v. 1–16, StA II, 149. Hölderlin schrieb die Hymne vermutlich 1801, vgl. Beißners Kommentar, StA II.2, 738 und SWB III, 232. 202 Vgl. Genesis 19, 17–26.

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Sodom und Gomorrha gottverflucht sind, die griechischen Städte mit ihren Götterbildern hingegen schön, sondern daß sich das heiligtrauernde Herz (v. 5 f.) des lyrischen ichs wie von selbst entschließt, nicht zurückzublicken: was will es anders (v. 5). Nicht Gott entscheidet, sondern das Herz selbst. Wie sehr sich dieser Entschluß allerdings der Einsicht in das Notwendige verdankt, wird daran deutlich, daß er als Frage erscheint. Denn fraglich ist dieser Entschluß, weil er auf eine brenzlige (sprich fragliche) Situation zurückverweist und darüber auch fraglich macht, was denn überhaupt ein freier Entschluß sei. Die hier zugrunde liegende Situation ist dadurch bestimmt, daß der gegenwärtige Himmel, der voll von Verheißungen ist, drohend auch scheint (v. 9–11). Gegen den etymologischen Sinn hebt Hölderlin durch die Bildfolge, „voll Erwartungen liegt / Das Land und als in heißen Tagen / Herabgesenkt, umschattet heut“,203 im Wort Verheißungen die bedrohliche Hitze hervor, die, wie es in dem schon 1800 geschriebenen Entwurf Wie wenn am Feiertage lautet, das „entblößte Haupt“ zu versengen droht.204 Die Verheißung selbst ist also eine Bedrohung, die nur dadurch annehmbar wird, daß sie durch Schatten und Wasser gekühlt wird. Dies vermag die Trauer, die mehr als eine bloße Klage ist. Denn sie befähigt das klagende ich (v. 5) trotz der akuten Gefahr und trotz der Sehnsucht nach dem alten Lande der Griechen (v. 2), sich dazu zu entschließen, beim verheißungsvollen Himmel zu bleiben (v. 11), der über den heimatlichen Wassern! (v. 4) scheint. Das Befinden des ichs ist darum genauer heiligtrauernd, weil es in der Trauer mit (v. 4) den heimatlichen Wassern das Heilige ahnt (v. 9), das sich von oben aus dem Himmel herabsenkt (v. 8). Unbedingte Voraussetzung für diese Trauer aber ist, daß die Seele nicht zurück zur so anziehenden vergangenen Schönheit flieht (v. 12). Denn tödlich wäre diese Flucht (v. 15), weil sie die Einsicht verhindert, welche dann in der zweiten Strophe ausgeführt wird:205 Entflohene Götter! auch ihr, ihr gegenwärtigen, damals Wahrhaftiger, ihr hattet eure Zeiten! Nichts läugnen will ich hier und nichts erbitten. Denn wenn es aus ist, und der Tag erloschen Wohl trifts den Priester erst, doch liebend folgt Der Tempel und das Bild ihm auch und seine Sitte Zum dunkeln Land und keines mag noch scheinen.

Was Hölderlin möglichst schonungslos aufzudecken versucht, ohne die schmerzhafte Wahrheit zu leugnen und ohne sich aufs bloße Bitten um Abhilfe zu beschränken, ist, daß die Götter von einst entflohen sind. Nur wenn 203 204 205

Hölderlin: Germanien, v. 6–8, StA II, 149, Hervorh. von mir. Vgl. Hölderlin: Wie wenn am Feiertage, v. 54–63, StA II, 119 f. Hölderlin: Germanien, v. 17–23, StA II, 149.

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dieses erkannt ist, wird auch das Ausmaß dieser Flucht, daß nämlich kein Maß mehr ist, einsichtig. Denn mit ihrer Flucht hat all das seinen Grund und Bestand verloren, was einst beanspruchen durfte, die Götter zu repräsentieren: als da sind Priester, Tempel, Bild und Sitte. Was in dem dunkeln Land heute noch an die wahrhaftigere Zeit ermahnt und dadurch Licht gibt, sind allein die Grabesflammen und die Sage:206 Nur als von Grabesflammen, ziehet dann Ein goldner Rauch, die Sage drob hinüber, Und dämmert jezt uns Zweifelnden um das Haupt, Und keiner weiß, wie ihm geschieht. Er fühlt Die Schatten derer, so gewesen sind, Die Alten, so die Erde neubesuchen. Denn die da kommen sollen, drängen uns, Und länger säumt von Göttermenschen Die heilige Schaar nicht mehr im blauen Himmel.

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Die entflohenen Göttern sind nur noch ex negativo an ihren Schatten vernehmbar und indirekt daran, daß nicht einmal mehr Göttermenschen wie beispielsweise einst Dionysos, Herakles oder auch Diotima im blauen Himmel bereitstehen. Mit der zweiten Strophe bestätigt sich also, daß die Negation im jambischen Auftakt – Nicht sie (v. 1) – am Anfang der Hymne, für das Weitere tonangebend ist. Nur wenn die auf diese negative Weise markierte Differenz beachtet wird, kann das, was kommen soll, sich einstellen und eine neue Stätte finden. Für diesen Gesang bedeutet das, die Abwesenheit der Götter zu präsentieren, damit immerhin deren Schatten fühlbar werden. Fühlen aber kann diese vorzugsweise der Zweifelnde, der kaum weiß, wie ihm geschieht. Daß die Götter, welche die Erde neubesuchen wollen, überhaupt noch in dieser Abwesenheit gegenwärtig sind, macht sich allein an einem Drängen bemerkbar. Es bedeutet für die Seele, die nicht rükwärts fliehn darf: Sie soll dafür Sorge tragen, daß die Entflohenen neu kommen können. Die dafür erforderlichen Bedingungen, einschließlich der „Gaabe / Zum Opfermahl“, möchte dieser Gesang selbst bereithalten, so daß schließlich „schauen mag bis in den Orient / Der Mann und ihn von dort der Wandlungen viele bewegen.“207 Dieses Schauen bis in den Orient hat nichts mehr gemein mit dem schalen Rückblick auf die vergangene „griechische Vortrefflichkeit“, von der Hölderlin einst hoffte, die gültigen „Kunstregeln“ „abstrahiren“ zu können;208 denn es ist ein Schauen, das bereit ist, sich den nötigen Wandlungen auszusetzen. Daß dies vor allem bedeutet, nicht den Fehler zu wiederholen, 206 207 208

Ebd., v. 24–32, StA II, 149 f. Ebd., v. 34 f. u. v. 37 f. Vgl. Hölderlin: Brief an Böhlendorff (Anm. 200), StA VI, 426.

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der den Griechen damals unterlief, das bestätigt nicht nur der oft zitierte Brief an Böhlendorff, sondern ebenso folgendes Fragment aus dem Homburger Folioheft,209 das als eine Art Quintessenz Hyperions Erfahrungen in Griechenland zusammenfaßt (StA II, 228): meinest du, Es solle gehen, Wie damals? Nemlich sie wollten stiften Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber Das Vaterländische von ihnen Versäumet und erbärmlich gieng Das Griechenland, das schönste, zu Grunde. Wohl hat es andere Bewandtniß jezt.

Hölderlins Eingangsfrage stellt der möglichen eigenen Entwicklung jezt die Geschichte des alten Griechenlands gegenüber. Gerichtet ist die Anfrage, meinest du, an einen Dämon,210 der dieses gerade deshalb beurteilen können müßte, weil er für eine seherische Begabung steht, welche das Vermögen der Ratio übersteigt. Mit nicht näher gekennzeichneter Reserve – Wohl – wagt der Fragende dann selbst eine Antwort, die die Differenz zwischen dem Griechenland damals und der Bewandtniß jezt hervorhebt. Das schöne Griechenland ging zu Grunde, weil sie das Vaterländische versäumet haben. Das Reich der Kunst konnte diese Vernachlässigung nicht ausgleichen. Wie damals, so kommt es auch jezt auf das rechte Zusammenspiel von Vaterländischem und Kunst an, beziehungsweise darauf – wie sich Hölderlin gegenüber Böhlendorff ausdrückt –, daß das „lebendige Verhältniß und Geschik“ das höchste ist.211 Daß es jezt aber damit andere Bewandniß hat, bedeutet, daß eben dort, wo jezt der Versuch unternommen wird, das Vaterland in seinen lebendigen Verhältnissen neu zu konstituieren, andersherum gilt, das Reich der Kunst – wozu vornehmlich die Dichtung gehört, die „schikliche Hände“ geben212 – nicht zu versäumen. Wer seine „Rede vom Vaterland“213 nicht in den Gesang einer Dichtung hüllt, die, weil sie Schrift ist, das Wahre unausgesprochen läßt, der täuscht durch sein Reden darüber hinweg, daß die Götter nach 209

Nach Dietrich E. Sattler hat Hölderlin das Homburger Folioheft „Ende Oktober oder Anfang November 1802“ angelegt, vgl. ders.: O Insel des Lichts! Patmos und die Entstehung des Homburger Foliohefts, in: HJb 25 (1986–1987), 213–225, hier 213 u. 217. 210 Dafür spricht, daß sich auf der Höhe der ersten Zeile am rechten Rand des Manuskripts der Eintrag findet: „Zum Dämon“, vgl. StA II.2, 861 f. u. SWB I, 430. 211 Hölderlin: Brief an Böhlendorff (Anm. 200), StA VI, 426. 212 Vgl. Hölderlins Ode Blödigkeit, s.u. S. 214 f. 213 Vgl. die Verse: „Mein ist / Die Rede vom Vaterland. Das neide / Mir keiner.“, StA II, 337.

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wie vor entflohen sind. Darum heißt es am Schluß der vorletzten Strophe der Hymne Germanien vom Wahrem: „Dreifach umschreibe du es, / Doch ungesprochen auch, wie es da ist, / Unschuldige, muß es bleiben.“214 Mit diesen Versen indiziert Hölderlin die entscheidende Differenz zwischen der Schrift und der freien Rede. Denn jene ist darum nötig, weil diese sich zu viel anmaßt. Wer diese Differenz jedoch mißachtet, der macht sich nicht nur an der Kunst schuldig, sondern der wird wiederum das versäumen, wofür das Vaterländische steht.215 Eben weil die Götter entflohen sind und darum das Jahrhundert „geist- u. ordnungslos“ ist,216 bedarf es einer wandlungsfähigen Beständigkeit, die diesseits des unverfügbaren Geistes Zukünftiges eröffnet und vergangene Weisheit in Erinnerung hält. Da nach dem Priester auch die Tempel und Bilder, ja selbst die Sitte es nicht mehr vermögen, diese Aufgabe hinreichend zu erfüllen, hat der Gesang die Verantwortung, in das entstandene Vakuum hineinzugehen. Er hat dieses überhaupt als ein solches sichtbar zu machen, ohne zugleich zu suggerieren, daß er selbst diese Leere schon ausfüllen könnte. Was sich bereits im Athenerbrief andeutete – worauf auch Celans Engführung hinweist –, daß sich nämlich neben dem Geist in den Texten die eigenständige Persistenz der Buchstaben zu erkennen gibt, wird in die ab der Jahrhundertwende entstehenden „größere[n] Gedichte“217 programmatisch eingearbeitet. Denn allein das Besinnen auf das Literarische der Dichtung, das auch ein Eingehen auf den die Dichtung ermöglichenden Buchstaben (littera) ist, garantiert, daß nicht unter verkehrten Vorzeichen das Versäumnis der Griechen wiederholt wird. Die viel gedeutete Schlußsentenz der Hymne Patmos zielt besonders prägnant auf diese differente Zusammengehörigkeit von Vater(land) und Buchstäblichkeit des Gesanges (StA II, 172):

214

Hölderlin: Germanien, v. 94–96, StA II, 152. Wie sehr Hölderlin die differenten Möglichkeiten und Aufgaben von Rede und Schrift beschäftigt haben, belegen auch die Sätze, die er aus Frankfurt am 12. Februar 1798 an seinen Bruder schrieb: „Ist es Dein Ernst, als Schriftsteller auf den deutschen Karakter zu wirken und diß ungeheure Brachfeld umzuakern und anzusäen, so wollt’ ich Dir rathen, es lieber in o r a t o r i s c h e n , als poëtischen Versuchen zu thun. Du würdest schneller und sicherer zum Zweke gelangen.“ StA VI, 263. Während die Rede im politischen Felde kurzfristig Wirkung erlangen kann, vertraut die Schrift der Dichtung auf einen langen Atem, geht es ihr doch nicht nur um die Nation, sondern auch darum, die „dürstende Seele zu sättigen“ (ebd.). Darum auch betont Hölderlin in Mnemosyne: „Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.“ StA II, 193, Hervorh. von mir. 216 Vgl. Hölderlin: Brief an Neuffer, 16. Februar 1797, StA VI, 235. 217 Vgl. den Brief an Friedrich Wilmans vom 8. Dez. 1803, in dem Hölderlin „[e]inzelne lyrische größere Gedichte 3 oder 4 Bogen“ ankündigt, von denen er wünscht, „daß jedes besonders gedrukt wird weil der Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit“, StA VI, 435. 215

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[…] der Vater aber liebt, Der über allen waltet, Am meisten, daß gepflegt werde Der veste Buchstab, und bestehendes gut Gedeutet. Dem folgt deutscher Gesang.

Der Vater waltet über allen. Doch weil er über allen ist, muß anderes ihn auf Erden vertreten. Sein Geist ist auf die Buchstaben angewiesen, denen Festigkeit und Bestand zugesprochen wird und die dafür sorgen sollen, daß bestehendes bleibt. Des Vaters Liebe geht darum insbesondere an jene, die den vesten Buchstab pflegen. Doch daß dieser Buchstab gepflegt und wie das Bestehende gut gedeutet werden muß, offenbart zugleich, daß das herrliche Walten des Vaters durch diese Deutungen bedingt ist. Entsprechend exponiert der letzte Vers der Hymne das Verb Gedeutet und stellt dieses zugleich in Spannung zum Prädikat des folgenden Satzes (folgt). Dadurch wird das statischkonservativ anmutende Begehren nach der Deutung des Bestehenden, das im zeitlichen Wandel unverändert stehen zu bleiben scheint, genauer als ein Prozeß lesbar, der die verschiedenen Dimensionen der Zeit miteinander verschränkt. Denn das Deuten des Bestehenden ist nur als ein Folgen möglich. Die Deutung ist aber nicht die bloße Wiederholung bereits applizierter exegetischer Prozeduren, sondern sie muß den vesten Buchstab in das Jetzt der jeweils akuten Situation stellen. Die folgende Deutung erweist sich darin als der Versuch, eine Zeit-Spanne herzustellen. Dieser Vorgang, den der Gesang leistet, indem er sich deutend auf gegebene Buchstaben bezieht, ist damit sowohl ein Rückbezug auf Tradiertes als auch ein Antizipieren. Den alten Buchstaben folgen heißt, daß sie von neuem vorausgehen und dadurch auch das Künftige eröffnen. Die Pflege des Buchstaben in diesem umfassenden Sinne erlaubt es dann, die Geschichte zu erfragen.218 Dieser Logik folgt Hölderlins Gesang, der nicht nur darum als deutscher bestimmt ist, „um der betont deutschen Gesinnung“ des Landgrafen von Hessen-Homburg zu gefallen,219 dem Hölderlin die Hymne widmete, sondern der Gesang ist auch darum deutsch zu nennen, weil er deutet und selbst wiederum gedeutet werden will.220 Wie fragil aber das Zutrauen in den vesten Buchstab nur sein kann, unterstreicht auch der Schluß der Hymne Germanien. Dort heißt es abschließend von der Priesterin Germania: „Und wehrlos Rath giebts rings / Den Königen 218

Vgl. Hölderlin: Der Main, v. 11, StA I, 303, siehe oben S. 67 ff. Vgl. Binder: Hölderlins Patmos-Hymne, in: ders.: Aufsätze (Anm. 156), 362–402, hier 397. 220 Das Verb deuten ist nach dem Deutschen Wörterbuch (Anm. 162), Bd. II, 1038 von der Form „ze diute“ abgeleitet, was heißt: vom Lateinischen in die Volkssprache übersetzen, etwas verdeutschen und auf deutsch sagen. Vgl. auch Andrzej Warminski: Patmos. The Sense of Interpretation, in: Modern language notes 91, 1 (1976), 478–500, insb. 481–483. 219

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und den Völkern.“221 Wehrlos ist ihr Rath nicht zuletzt darum, weil dieser nicht praktisch umgesetzt werden kann, ohne daß er je von neuem auch mißdeutet wird.222 Dem kann selbst die „Priesterin“ nicht entgegenwirken, die von höchster Instanz im Auftrag des „Vaters“ durch den Adler „auserwählt“ wurde.223 Der Gesang, der sich jener Aufgabe annimmt, welche Tempel, Bild und Sitte nicht mehr erfüllen, hat darum zunächst einmal anzuerkennen, daß die Flucht der Götter grundlegend die Möglichkeiten der (Re-)Präsentation hat fraglich werden lassen. Anders aber als dem Tempel ist es der Dichtung möglich, sich auf diese sie ebenfalls bedrohende Crux zu beziehen. Denn sie kann ihrer Aufgabe, das neue Ankommen der alten Götter zu ermöglichen,224 noch dadurch nachkommen, daß sie an ihre Leser den sie belastenden Vorbehalt – je wieder gedeutet werden zu müssen, ohne daß es eine Gewähr für die rechte Deutung gäbe – vorbehaltlos weitergibt. Für die Leser bedeutet das, daß sie dieser Verschiebung der Aufgabenstellung folgen müssen. Nur dann werden die Aporien einsichtig, mit denen es der deutsche Gesang Hölderlins zu tun hat, und nur dann wird verständlich, warum den geschichtsphilosophischen Fragen notwendigerweise die sprachphilosophi221

Hölderlin: Germanien, v. 110–112, StA II, 152. Das Dilemma, daß Zeichen gedeutet werden müssen, macht nach Hölderlin auch die eigentliche Tragik des Ödipus aus, dessen „n e f a s “ darin besteht, daß er „den Orakelspruch zu u n e n d l i c h d e u t e t “ , was heißt, daß „er das allgemeine Gebot argwöhnisch ins Besondere deutet, und […] anwendet“, Anmerkungen zum Oedipus, StA V, 197; SWB II, 311. 223 Vgl. Hölderlin: Germanien, v. 42–64, StA II, 150. Vom „Adler“ heißt es nach Korrektur der Reinschrift (StA II.2, 739): „auf beiden Seiten / Den Fittig spannend, mit gespaltenem Rüken überschwingt / Die Alpen Zulezt“ (v. 46–48). Ausgerechnet derjenige, dessen Rücken gespalten ist, vermag es, jene Kulturgrenze zu überschwingen, die das gefaltete Gebirge der Alpen bildet. Denn die Gegensätze, die hier aufeinandertreffen, kann nur der neu belebend verspannen, der selbst wiederum die Gemüter spalten wird. Insofern symbolisiert der Adler nicht nur die geschichtliche Bewegung des Geistes, der aus dem SüdOsten kommend im Nord-Westen ein neues Subjekt der Geschichte sucht, sondern an ihm zeigt sich auch – gleichsam hinter dem Rücken des Bewußtseins (vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), in: Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, 80) – das kennzeichnende Merkmal der Buchstaben: d. i. die Geister zu spalten. – Hegel wiederum führt den Adler an, um den Widerstreit zwischen Glauben und Vernunft in einem Bild zu fassen: „Später sehen wir den Gegensatz von sogenannten Glauben und sogenannter Vernunft, nachdem dem Denken die Fittiche erstarkt sind; – der junge Adler fliegt für sich zur Sonne der Wahrheit auf; aber noch als Raubtier gegen die Religion gewendet, bekämpft er sie. Das Späteste ist, daß die Philosophie dem Inhalt der Religion durch den spekulativen Begriff, d. i. vor dem Gedanken selbst, Gerechtigkeit widerfahren lasse; dafür muß der Begriff sich konkret erfaßt haben, zur konkreten Geistigkeit durchgedrungen sein. Dies muß der Standpunkt der Philosophie der jetzigen Zeit sein; sie ist innerhalb des Christentums entstanden und kann keinen anderen Inhalt als der Weltgeist selber haben; wenn er sich in der Philosophie begreift, so begreift er sich auch in jener Gestalt, die vorher ihr feindselig war.“ Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1971, 99 f. 224 Vgl. Hölderlin: Germanien, v. 27–30, StA II, 149 f. 222

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schen und hermeneutischen immanieren; – Celan jedenfalls wird diesem bei Hölderlin entwickelten Problembewußtsein nachgehen. Hölderlins Trauerarbeit hat eine Transformation vollzogen, die sich vom Beklagen Hyperions über die in Ruinen zurückgebliebenen Athenertempel zum deutschen Gesang differenzierte. Diese sich von den Tempeln ablösende Entwicklung wurde ermöglicht durch die Reflexion auf den besonderen Status des Eigenen (Klarheit des Darstellungsvermögens), das nur in der Auseinandersetzung mit dem Fremden (darzustellendes Pathos) frei zu gebrauchen sei, und über die damit untrennbar einhergehende Verhältnisbestimmung zwischen der Sphäre des Vaterlands und dem Reich der Kunst. Zu prüfen ist nun, ob Celan die Tendenz von Hölderlins Entwicklung dahingehend aufgenommen hat, daß er seine Gedichte als aus stehenden Buchstaben gebaute Tempel versteht, die in die Zäsur seiner Zeit hineinstehen. Zu klären ist weiterhin, auf welche Weise Heidegger die Tempel bedenkt und wie er sich – von Hölderlin her – zu den entflohenen Göttern stellt. So mag zum einen verständlich werden, inwiefern Celans Fortschreibung der Tempel Hölderlins durch Heidegger vermittelt ist und zum anderen könnte sich so erschließen, was Celan zu denken aufgibt, wenn er in der Engführung von unsern geflohenen Händen (I, 203) spricht. Denn ohne Zweifel nimmt Celan mit diesen Händen auf die entflohenen Götter und die für Hölderlin mit dieser Flucht verbundenen erkenntnistheoretischen und poetologischen Konsequenzen für die Darstellbarkeit dessen, was ist, Bezug. Wie also bewertet Heidegger Hölderlins aus den Tempeln entflohene Götter? Die entsprechenden Passagen in Heideggers Vorlesung zur Hymne Germanien,225 sowie die Aufsätze Der Ursprung des Kunstwerkes und Wozu Dichter?,226 welche letztere Celan seit dem Sommer 1953 beide gut kannte, sollen im folgenden vorgestellt werden.

C. DAS DASTEHEN

DES

TEMPELS

BEI

HEIDEGGER

Wenigstens dreimal, in je unterschiedlicher Hinsicht und mit je anderer Absicht, kommt Heidegger auf den Tempel zu sprechen. In seiner ersten Hölderlin-Vorlesung zur Hymne Germanien (1934/35) legt er dar, warum der gottverlassene Tempel nicht mehr seiner ursprünglichen Aufgabe genügen kann und warum seine Pflege als Kulturdenkmal symptomatisch für ein unangebundenes Dasein ist. Im Kunstwerksaufsatz (1935/36) ist der Tempel dagegen das überragende Beispiel für ein Werk, das durch die Differenz, die es 225

Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (GA 39) (1934/35), GA, Bd. 39, Frankfurt a. M. 21989. 226 Beide Aufsätze in: Heidegger: Holzwege (Anm. 125), 1–74 und 269–320.

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

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als begrenzter „heiliger Bezirk“ setzt, Welt eröffnet und derart das „Sein des Seienden“ allererst zum Scheinen bringt. Und in Wozu Dichter? zieht Heidegger 1946 – angesichts des „namenlosen Leidens“ (WD, 271) – die letztmögliche Konsequenz seiner gerade auch an Hölderlin entwickelten Poetologie: Der Tempel wird als „Haus des Seins“ begriffen. Dieses aber ist die Sprache und vorzüglich die Dichtung. Heidegger zitiert zu Beginn seiner im Wintersemester 1934/35 gehaltenen Vorlesung zu Hölderlins Hymne Germanien drei Passagen aus dem Athenerbrief, ohne allerdings auf die angeführten Textstellen näher einzugehen.227 Was er seinen Zuhörern am Anfang mit dem ausführlich Zitierten auf den weiteren Weg seiner Lesung mitgibt, ist eine erste Einstimmung darauf, welche weitreichende Macht die Dichtung bei den Athenern einst hatte, die nach Hyperion „der Anfang und das Ende“ der Philosophie ist (s. o. S. 73). Heidegger suggeriert damit, was auch Hölderlins Hyperion annahm: Was damals galt, das solle auch heute möglich sein, selbst wenn die Diskrepanz zwischen dem alten Athen und dem gegenwärtigen Zustand des „deutschen Volkes“ kaum größer sein könne. Heidegger will seine Zuhörer jedenfalls mit dem im wörtlichen Sinne unheimlichen Gedanken vertraut machen, daß Dichtung es vermag, uns „aus unserer Alltäglichkeit“ derart herauszurücken, „daß wir nie mehr so in die Alltäglichkeit zurückkehren, wie wir sie verlassen haben“ (GA 39, 22). Mit diesem Satz ist die zentrale Herausforderung angezeigt, die nicht nur die Germanien-Vorlesung, sondern sämtliche Erläuterungen Heideggers zu Hölderlin beschäftigen wird: Denn diese im 19. Jahrhundert kaum beachtete Dichtung sei als die „Macht“ zu verstehen (ebd.), die das geschichtliche Dasein des deutschen Volkes von Grund aus neu zu stiften vermöge. Dieses Verständnis an der Dichtung selbst zu entfalten und seinen Zuhörern und Lesern präsent zu machen, fühlt sich Heidegger als Denker berufen. Warum das so ist und welche Schwierigkeiten Heidegger mit dieser ersten Hölderlin-Vorlesung zu überwinden versucht, die mit dem Paradox spielt, daß ausgerechnet ein „Gedicht, dünn, ohne Widerstand, verschwebend, abseitig und bestandlos,“ (GA 39, 20) die eigentliche Macht sei, der es sich unterzuordnen gälte, das soll zunächst ein Exkurs verdeutlichen, der Heideggers Denkweg228 auf Hölderlin zu in gebotener Kürze skizziert. Hierdurch mag verständlich werden, was für Heidegger mit seiner ab 1934 öffentlich dargelegten Lektüre zu Hölderlins Dichtung auf dem Spiel steht.

227

GA 39, 20–22. Vgl. Hyp I, 141 f., 144 u. 148 f. Nicht erst die Sammelbände Holzwege (Anm. 125) und Wegmarken (Anm. 233) zeigen an, daß Heidegger sein Denken als einen Weg versteht, bereits die Analyse in Sein und Zeit versteht Heidegger als einen solchen, vgl. SuZ, 437. 228

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1. Die Aporie von Sein und Zeit In Sein und Zeit fragt Heidegger nach dem Sinn von Sein. Er konzentriert seine Ausarbeitungen auf die Analyse des Daseins, weil dieses bereits ein vages Seinsverständnis (vgl. SuZ, 5 f.) hat und als Stimmung, Befinden und Verstehen „immer schon“ in einem ontologischen Bezug zum Sein steht. Darüber hinaus hat das Dasein das vorzügliche Merkmal, daß es „unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat“ (SuZ, 7). Die Frage nach dem Sinn vom Sein stellt sich nur vom Dasein her, weil es allein für sich nach dem Sinn seines Seins fragen kann und, wie unbewußt auch immer, tatsächlich fortwährend seine Welt mit Sinn belegt. Heidegger zeigt auf, daß das Dasein faktisch ein geworfenes ist, das „zunächst und zumeist“229 unverbrüchlich mit seiner Umwelt zusammengedacht werden muß. Da das Verhältnis des Daseins zur Welt nicht nach der bisherigen Terminologie der Metaphysik als Subjekt-Objekt-Relation aufgefaßt werden könne, wählt Heidegger den Terminus technicus „In-der-Welt-sein“ (SuZ, 59 ff.). Die Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein ist bestimmt durch den Modus des „Besorgens“ und „Sorgens“. Heideggers Analyse beschreibt einerseits diese Eingebundenheit des Daseins in die „Welt des Man“, zum anderen geht Heidegger der Frage nach, wie es um die Bedingung der Möglichkeit für das Ergreifenkönnen des „eigentlichen Existierens“ bestellt ist, ob also das Dasein sich als einzelnes eine „eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ (SuZ, 250) des Ganzseins geben kann, die es der Welt des Man entreißt.230 Um letztere Möglichkeit als eine im Dasein bereits existenzial angelegte hervorzuheben, führt Heidegger die in der Sorge wirksame Zeitlichkeit, nämlich das Moment des „Sichvorwegseins“ (vgl. SuZ, 191 ff., 236 passim), konsequent zum Ende hin fort. Denn erst dann, wenn das Dasein für sich die Möglichkeit seiner Unmöglichkeit, seinen Tod, erblicke, eröffne sich ihm die Wahl, die den „eigentlichen“ vom „uneigentlichen“ Seinsbezug scheidet. Heidegger verdeutlicht, daß allein dem auf seinen je eigenen Tod vorlaufenden Dasein, eine „eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ des Ganzseins vorbehalten sei (SuZ, 250).231

229

Heidegger gebraucht die Formel fortwährend, vgl. seine eigene Erläuterung, SuZ,

370. 230

Vgl. das Kap. Das mögliche Ganzsein des Dasein und das Sein zum Tode, SuZ, §§ 46–53. 231 Hamacher führt gegen Heidegger an, daß die Möglichkeit der Unmöglichkeit auch die andere Seite hat, selbst unmöglich zu sein. Was Heidegger also als die Möglichkeit des eigenen Seinskönnens anzeigt, ist gerade darum, weil der Tod das schlechthin Nichtmögliche ist, dem Eigenen überhaupt unverfügbar. Der Tod ist mithin das andere, das nicht mein eigen werden kann, vgl. Hamacher: Entferntes Verstehen (Anm. 2), 36–41.

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

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Mit dieser Aussicht geht die methodische Frage einher, wie überhaupt der unbedachte „Verfall an die Welt des Man“ ontologisch durchdrungen und auf den Begriff gebracht werden kann. Diese Frage stellt sich umso dringender, als Heideggers Befund des immer-und-je-schon Geworfenseins die Auswege einer auf das Subjekt gegründeten Philosophie verschließt. Gegen den auf einer scheinbar gesicherten Subjektivität ruhenden Standpunkt reklamiert Heidegger, daß dieser in seiner Anlage die Aisthesis der Phänomene negiert.232 Es gilt aber, von „den Sachen selbst“ her das gesuchte ontologische Verständnis zu entwickeln. Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich aus dem Befund, daß das Dasein kein weltloses Subjekt ist, sondern vielmehr weltverstehend ist und immer schon etwas als etwas „auslegt“ (vgl. SuZ, 148 ff.). Hiervon muß darum jegliche phänomenologische Philosophie ausgehen. Die Kehrseite dieses Immer-schon, in dem sich das Dasein als geworfenes befindet, ist der nie-ganz gegründete Zugang zum vollen Seinsverständnis selbst. Hier deutete sich ein methodisches Problem an, auf das Heidegger bereits in der Einleitung von Sein und Zeit aufmerksam macht, und auf das das hermeneutische Verfahren mit einer „merkwürdige[n] ‚Rück- oder Vorbezogenheit‘“ (SuZ, 8) einzugehen versucht. Das heißt: Die von Heidegger anvisierte Möglichkeit des sich selbst in seiner ontisch-ontologischen Struktur durchsichtig gewordenen Daseins, muß vornehmlich als eine Vorbereitung, wenn nicht gar als eine Prolongation (etwa im Modus des Fragens) begriffen werden, will die philosophische Auslegung des Sinns von Sein – die Hermeneutik des Daseins – nicht in die Falle des Dogmatismus tappen. Heidegger sieht am Ende seiner Fragment gebliebenen Analyse, daß ein grundsätzliches Problem noch aussteht. Er stellt die entscheidende Frage, an der nicht zuletzt hängt, ob sein nach-idealistischer Ansatz greifen kann: „läßt sich die Ontologie ontologisch begründen oder bedarf sie auch hierzu eines ontischen Fundamentes, und welches Seiende muß die Funktion der Fundierung übernehmen?“ (SuZ, 436). Hier artikuliert sich nochmals die das ganze Werk beunruhigende Einsicht, daß die geleistete Analyse nicht selbst schon die Realisierung des Anvisierten sein kann. Doch die phänomenologische Untersuchung soll nicht nur vom Dasein ihren Ausgang nehmen, sondern sie soll sich auch in diesem wieder niederschlagen. Andernfalls würde das eintreten, was Heidegger als unvermeidliche Bedrohung seiner Studie deutlich vor Augen sieht, daß nämlich die gewonnenen Begriffe ihre „Bodenständigkeit“ wieder verlieren und „zur freischwebenden These“ ‚entarten‘ (vgl. SuZ, 36). Darum wiederholt Heidegger nach dem Durchgang der Analyse jene prägnante Kurzformel, die bereits die Vorgabe für seine Anstrengungen bildete: „wor232

Phänomen ist das, was zum Erscheinen bringt und gleichwohl im Grunde verborgen bleibt. Heidegger macht eine Dialektik geltend, wonach Phänomen „das Sich-an-ihmselbst-zeigende“ (SuZ, 31 passim) genannt wird.

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aus es entspringt und wohin es zurückschlägt“.233 Nun – am Schluß der Abhandlung – muß aber ergänzt werden, wohin es zurückschlagen sollte, damit jene Möglichkeit ergriffen wird, die Heidegger sichtbar machen will: „Es gilt, einen Weg zur Aufhellung der ontologischen Fundamentalfrage zu suchen und zu gehen“ (SuZ, 437). Das heißt, und Heideggers dann folgende Texte insistieren darauf, daß nur dann, wenn der Weg auch gegangen wird, die Seinsfrage fundamental wird. Ansonsten verliert sie sich ununterscheidbar im allgemeinen Gerede. In redlicher philosophischer Vorsicht stellt Heidegger also die Frage, welches Seiende mit der Funktion der Fundierung zu betrauen wäre. Daß sich in dieser Frage aber auch eine rhetorische verbirgt, die als philosophische vorzüglich an jene ‚Antwort‘ erinnert, die Heidegger im Kapitel zuvor gegeben hat, muß skeptisch machen. Im § 74 entwirft Heidegger eine Vision, wie das Dasein als „Volk“ hellsichtig wird für die „Situation“, in der „faktisch“ entschieden wird, was „die existenziale Analyse grundsätzlich nicht zu erörtern“ vermag (SuZ, 382 f.). Der kategorial so bedenklichen Umschlag zurück ins Ontische hat folgenden Wortlaut: „Wenn das Dasein vorlaufend den Tod in sich mächtig werden läßt, versteht es sich, frei für ihn, in der eigenen Übermacht seiner endlichen Freiheit, um in dieser, die je nur ‚ist‘ im Gewählthaben der Wahl, die Ohnmacht der Überlassenheit an es selbst zu übernehmen und für die Zufälle der erschlossenen Situation hellsichtig zu werden. Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subjekte begriffen werden kann. Im Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner ‚Generation‘ [Dilthey] macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus“ (SuZ, 384 f.). Heidegger überkreuzt in diesem Absatz zwei Gedanken, die er zuvor gerade im Kontrast zueinander entwickelte. Zum einen erinnert er an die Wahlund Entscheidungsmöglichkeiten, die sich dem Dasein ergeben, sofern es auf die Möglichkeit seines Todes vorläuft, zum anderen repetiert er, daß das Dasein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert. In der Verknüpfung dieser beiden Grundgedanken scheint es Heidegger nun möglich, das „eigentliche 233

SuZ, 38 u. 436; wie bedeutsam für Heidegger diese Formel ist, welche die zirkuläre Grundbewegung seines Denken betont, macht sein eigener Rückverweis aus dem Jahre 1946 deutlich, vgl. BüH, 343.

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Geschehen des Daseins“ als das Aufgehen desselben im „schicksalhafte[n] Geschick […] in und mit seiner ‚Generation‘“ zu fassen. Das so verstandene Volk soll sich „für die Zufälle der erschlossenen Situation“ bereit machen, indem es bewußt dem folgt, was im vorhinein schon geleitet sei. Hatte Heidegger auch zuvor die Grenzen bestimmt, innerhalb derer das Dasein überhaupt auf sich selbst zurückkommen kann und diese als „die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt“ (SuZ, 383) gekennzeichnet, so gleicht der nun vollzogene Übergang vom Dasein zum Volk gleichwohl einem bemerkenswerten Kategoriensprung. In diesem Sprung wird der offene und darin philosophisch genaue Begriff des Mitseins mit Anderen, der aufweist, warum die Anderen konstitutiv für das Dasein sind, auf das Volk einschränkend zugespitzt, das als solche Identität paradoxer Weise gerade jene anderen auszugrenzen ermöglicht, die ‚Man‘ – wie dann nur wenige Jahre später ‚faktisch‘ geschehen – nicht zum eigenen Volk dazugehörig hält. Gerade diese Textstelle hat denn auch Grund zu der Frage gegeben, ob Heideggers sogenanntes Engagement für den Nationalsozialismus in Sein und Zeit bereits präfiguriert gewesen sei. So beanstandet Paul Ricoeur diesbezüglich eine „unvorsichtige Übertragung des grundlegendsten aller Themen, des Seins zum Tode, auf die Sphäre der Gemeinschaft, die trotz der ständig wiederholten Beteuerung vorgenommen wird, daß das Sein zum Tode – da unbezüglich – nicht übertragbar ist.“ Ricoeur folgert: „Diese Übertragung ist verantwortlich für den Entwurf einer tragisch-heroischen politischen Philosophie, die jedem Mißbrauch offensteht.“234 Auch Philippe Lacoue-Labarthe sieht den Verdacht, Heideggers Fundamentalontologie habe die „völkische Bewegung“ des Nationalsozialismus ermöglichen können, dadurch erhärtet, daß bei Heidegger das geschichtliche Dasein mit „dem […] unbefragten Begriff des Volks“ übereinstimmt.235 Lyotard schließlich weist zwar ausdrücklich den Gedanken zurück, aus Sein und Zeit ließe sich ein Nazismus bei Heidegger deduzieren,236 doch ist das Unvermögen Heideggers darin zu sehen, daß er der Aufgabe nicht entsprochen habe, die ihm durch die Fundamentalontologie gestellt wurde, nämlich wie in einer Anamnesis die überkommene Tradition derart um- und durchzuarbeiten, daß das immer wieder Vergessene als solches bedacht würde. Heidegger sei dem „Gebot der Dekonstruktion und Umschrift“ der Tradition nicht rückhaltlos gefolgt. Statt dessen habe er sich schließlich „auf die gewöhnlichste Weise von der Tradition verführen“ lassen.237 234

Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit (1985), München 1991, 121, Anm. 29. 235 Lacoue-Labarthe: Fiktion (Anm. 24), insb. 149–165, hier 153. 236 Lyotard: Heidegger (Anm. 24), Wien 1988, 66 u. 77. 237 Ebd., 74 f. Dieser Mangel erklärt allerdings für Lyotard nicht Heideggers spätere

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Warum aber, so ist weiter zu fragen, sah sich Heidegger veranlaßt, diese synthetisierende Übertragung vom Dasein auf das Volk zu vollziehen? Es fällt auf, daß die zitierte Passage die einzige in Sein und Zeit ist, in der Heidegger überhaupt vom Volk spricht – und das in einem Satz, der das wir der Gemeinschaft zwischen Autor und Leser in Anspruch nimmt. Das scheint dafür zu sprechen, daß hier eine Ungeduld wirksam ist, die die unauflösbare Aporie zu überspringen versucht, die sich aus der geleisteten Analyse ergibt, insbesondere was diese zur die Welt bestimmenden „Diktatur“ des Man festhielt (SuZ, 126). Denn die Welt des Man steht dem möglichen Ganzsein des Daseins nicht nur praktisch sondern existenzial entgegen. Heidegger versucht gleichwohl, die in der Daseinsanalyse hinsichtlich des Seins zum Tode anvisierte Möglichkeit auf das Ganze – und d. h. hier nun auf das Volk – zu ‚erstrecken‘ (vgl. SuZ, 375). Wie das Dasein, so soll auch das Volk durch den Vorlauf in seine „Ohnmacht“ in sich mächtig und dadurch für kommende Situationen hellsichtig werden. Diese Übertragung ist insofern berechtigt, als das Dasein nicht bloß für sich steht, sondern als Geworfenes nur mit dem es konstituierenden Ganzen ‚ganz‘ sein kann. Doch ist dieses Ganze, und das weist Heidegger zuvor vornehmlich nach, gerade wegen der nivellierenden Alltäglichkeit des Man, niemals ein einheitliches. Die sich hieraus ergebende Crux behebt Heidegger nun mit der Fiktion des einen Volkes,238 das als einheitliche Gestalt in der Lage wäre, geschichtsmächtig zu werden. Plausibel versucht Heidegger dieses „Geschehen der Gemeinschaft“ dadurch werden zu lassen, daß es etwas gibt, das dem anvisierten Kollektiv vorausgeht und dergestalt gegenübersteht. Das ist der Entwurf, der die Gemeinschaft als Einheit zusammenhält und ihr Richtung zu geben weiß. Nun braucht aber auch der Entwurf, der dem Volk Gestalt geben soll, zuvor selbst eine solche, wird doch die „Macht des Geschickes“ erst in der „Mitteilung“ und im „Kampf“ frei; also dann, wenn das Geschick Gestalt annimmt. In diesem Zusammenhang ist eine Nebenbemerkung Heideggers aussagekräftig, die im Fortgang seiner Diskussion des oben zitierten Absatzes fällt und die das Selbstverständnis zu erkennen gibt, das Heidegger dann sowohl in der

„Schweigen über die Ausrottung ‚der Juden‘“ (ebd., 86). Heideggers Schweigen nach 1945 ist nach Lyotard in Heideggers „existenzial-ontologischen ‚Ansatz‘“ begründet, der, sofern er allein eine „Dekonstruktion“ ist, ihn „von der Frage abhält“, die „(nach Adorno) ‚Auschwitz‘ heißt.“, vgl. ebd., 87. 238 Das Reale dieser Fiktion erkundet Lacoue-Labarthe: Fiktion (Anm. 24); zum Wirrespektive Volksbegriff vgl. Lyotard: Heidegger (Anm. 24), 105–110, sowie ders.: Widerstreit (Anm. 92), 168 ff., 245 f. und 262 f.; vgl. ferner: Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft (La communauté désœuvrée, Paris 1986), Stuttgart 1988, 36 ff.; Otto Pöggeler versucht Heideggers Volksbegriff dadurch plausibel zu machen, daß er ihn in die Tradition „Herders und des deutschen Idealismus“ einreiht, ders.: Es fehlen heilige Namen. Das Denken Martin Heideggers in seinem Bezug auf Hölderlin, in: Zeitwende 48 (1977), 71.

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Zeit seines Freiburger Rektorats 1933 als auch danach leitet. Bezüglich der Frage, wie überkommene Existenzmöglichkeiten gewählt werden können, wie also die eigene Geworfenheit übernommen und für die augenblickliche, eigene Zeit gewonnen werden kann, spricht Heidegger vom „Helden“. Die „Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit“, die auf der „vorlaufenden Entschlossenheit“ basiert, ist, als ob „das Dasein sich seinen Helden wählt“.239 Ohne diesen Helden, für den es sich zu entscheiden gilt, gibt es kein sich realisierendes Wir. Er ist dessen Ermöglichungsgrund. Vergleicht Heidegger auch den aus überkommenen Existenzmöglichkeiten gewählten Entwurf mit einem Helden, so versteht er weder diesen noch jenen als ein selbstherrliches Subjekt, das in der Lage wäre, Geschichte zu ‚machen‘. Heideggers Vergleich unterstreicht allerdings, daß der Entwurf, der aus einem Rückbezug zu Gewesenem gewonnen wird, wie ein Held vorangehen muß. Angedeutet ist damit, daß es tatsächlich eines tatkräftigen Heldens bedarf, damit der Entwurf als solcher für ein Volk wirksam werden kann. Denn es müssen jene sein, die den „Kampf“ aufnehmen, dem Ganzen Gestalt zu geben. Es ist folgerichtig, wenn Heidegger dann insbesondere nach seiner sogenannten Kehre auszuloten versucht, was den Helden kennzeichnet und welchen Bedingungen er unterliegt. In diesem Sinne sind dann für Heidegger die „Kämpfenden“ und „Schaffenden“ (EM, 47) Helden, womit vorzugsweise der „Staatsmann“, der „Denker“ und nach 1934 auch der „Dichter“ gemeint sind. Nach 1945 wird Heidegger nicht mehr vom Staatsmann sprechen, sondern sich auf die „Wagenden“ beschränken, die die Sprache wagen (WD, 309 ff.). 2. Die Kehre und wozu Hölderlin? Anfang der dreißiger Jahre beginnt Heidegger seinen in Sein und Zeit entworfenen fundamentalontologischen Ansatz umzukehren. Heidegger selbst spricht in der Retrospektive davon, daß bereits Sein und Zeit zu einer „Kehre“ hinzuführen versuchte, so daß es zu einem anderen, „die Subjektivität verlassenden Denken“ kommen könne.240 Dieser Gedanke erhält eine besondere Dringlichkeit, nachdem sich Heidegger 1934 aus den ersten Reihen der nationalsozialistischen Bewegung zurückzieht. Was also bedeutet die Kehre? Heidegger versucht nicht mehr vom Dasein her den Sinn des Seins freizule239

SuZ, 385; Heidegger macht in einer anderen Nebenbemerkung darauf aufmerksam, daß wir immer einen „‚Helden‘“ gewählt haben und sei es der ungewählte des Man, vgl. SuZ, 371. Daß dieser ‚Held‘ der uneigentliche ist, darauf machen dort die Anführungszeichen aufmerksam. 240 Vgl. BüH, 327 f. Heideggers 1930 ausgearbeiteter Vortrag Vom Wesen der Wahrheit, in: ders: Wegmarken (Anm. 233), 177–202, gilt als der erste Schritt der Kehre; vgl. Dieter Sinn: Heideggers Spätphilosophie, in: Philosophische Rundschau 14 (1967), 81–182, bes. 83f.

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gen, sondern er faßt das Sein vielmehr als ein Wahrheitsgeschehen auf, das die Geschichte durchzieht, sich aber vornehmlich den Schaffenden als „Wink“ oder „Ruf“ zu erkennen gibt und sich – wenn auch verborgen – im Kunstwerk, in der Sprache des Denkers und im Staatsakt manifestiert.241 Heidegger denkt das Sein also aus dessen ‚Nähe‘, auch wenn es sich unfaßbarer denn je vom einzelnen Menschen entfernt.242 Augenfälliger Ausdruck für diese notwendigerweise befremdende Nähe zum Sein – denn das Sein ist das schlechthin Fremde – ist der Tonfall seiner Sprache, den Heidegger anschlägt, weil die Kehre des Denkens „mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam.“243 Uwe Beyer meint darum, daß „Heideggers Denken nach der ‚Kehre‘ kein analysierendes mehr [ist], sondern: ein bedingungsloses Verehren des Seins.“244 Gibt es gerade auch in der deutschen Rezeption Stimmen, die Heideggers Denken nach Sein und Zeit nicht mehr als wissenschaftliche Philosophie ernst nehmen, so ist andererseits das anhaltende Interesse an Heideggers späten Denkwegen genau darin begründet, daß Heideggers Seinsverehrung tatsächlich nicht bedingungslos ist. Denn zwei Mangelerfahrungen trüben den Seinsgedanken, und beiden geht Heidegger in seinen Ausführungen nach. Erstens hat Heidegger in den Jahren 1933/34 leibhaft miterlebt, daß er als Denker keinen „geschichtlichen Zustand heraufführen“ (EM, 8) kann, wodurch er sich gezwungen sieht, das in Sein und Zeit Explizierte hinsichtlich der Relation zwischen Dasein, Zeitlichkeit, Geschichte und Sprache noch einmal anders zu fassen; und zweitens hat Heidegger erneut einsehen müssen, daß sein philosophischer Ort keinerlei Evidenz beanspruchen kann, weil er sich nach den Kriterien der logischen Wissenschaften der Vermittlung entzieht. Ende Mai 1933 scheint es Heidegger greifbar nahe, daß das bereits 1929 beklagte Problem der Fundierung der sich in Beliebigkeiten verlierenden separaten Wissenschaften behoben werden könnte.245 Sieht es doch so aus, als wenn sich die Wissenschaft unter seiner führenden Anwesenheit – Rektorat – endlich wieder auf ihren „geistigen Auftrag“ besinnt.246 „Alle Wissen241

Wiederholt nennt Heidegger diese Trias und meines Wissens immer in dieser Reihenfolge, s.u. Anm. 266. Das legt den Gedanken nahe, daß er dergestalt eine Sukzession vor Augen führt, die auf das Zukünftige verweist, wofür um 1935 noch der Staatsmann steht, der das realisieren soll, was in gegenwärtiger Zeit der Denker aus der überlieferten Dichtung auszulegen weiß. 242 Vgl. BüH, 331 f. 243 BüH, 328. 244 Uwe Beyer: Mythologie und Vernunft. Vier philosophische Studien zu Friedrich Hölderlin, Tübingen 1993, 158. 245 Vgl. Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929), in: ders.: Wegmarken (Anm. 233), 103–122. 246 Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität.(1933) Das Rektorat 1933/34 (1945), Frankfurt a. M. 1983, 9 passim; vgl. zum Auftreten des Geistes auf der po-

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schaft ist Philosophie, mag sie es wissen und wollen – oder nicht. Alle Wissenschaft bleibt jenem Anfang der Philosophie verhaftet.“247 Da der Philosoph das Wesen der Wissenschaft kennt und ihr damit einen entscheidenden Wissensschritt voraus ist, steht er im Zentrum der Wissenschaft selbst. Die sonst so marginale Position der Philosophie könnte, so Heideggers Hoffnung, durch die Gunst der Stunde, die Hitlers Machtergreifung mitzubringen scheint, überwunden werden. Die „Selbstbehauptung der Universität“ oder gar die des Volkes ist aber nur dann möglich, wenn die Philosophie in die Mitte desselben rückt. Genau dieses versucht Heidegger 1933 mit seinem Amt zu bewerkstelligen, nicht ohne dabei den Führungsanspruch seines Denkens herauszustellen, den er auf die Universität als ganze zu übertragen versucht. Entsprechend fordert er von der „Lehrerschaft“ der Universität, daß sie durch die „Kraft zum Alleingehenkönnen“, „stark zur Führerschaft“ werde,248 damit es über die „Studentenschaft“ zu einer „Bindung“ zwischen Wissenschaft und Volk komme. Heidegger spricht ferner, in Abgrenzung von der „vielbesungene[n] ‚akademische[n] Freiheit‘“, die sich durch „Beliebigkeit“ und „Ungebundenheit“ auszeichne, von einer dreifach gegliederten „Bindung“ durch Arbeits-, Wehr- und Wissensdienst.249 Diese Bindung soll es ermöglichen, daß „die Volksgemeinschaft“, das „Geschick der Nation“ und der „geistige Auftrag“ eine Einheit bilden.250 In diese Richtung, so diagnostiziert

litisch-philosophischen Bühne 1933 Jacques Derrida: Vom Geist: Heidegger und die Frage, Frankfurt a. M. 1988. Aus der Fülle der Forschungsbeiträge, die dem Komplex Heidegger 1933 in seiner Vielschichtigkeit nachgehen, seien wenige Titel hervorgehoben: Guido Schneeberger: Nachlese zu Heidegger, Bern 1962; Lyotard: Heidegger (Anm. 24); Bernd Martin (Hg.): Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium, Darmstadt 1989; Briegleb: Das Verderben einer Kategorie: Heidegger 1933, in: ders.: NS-Faschismus (Anm. 133), 179–184. Zur Debatte, die das methodisch so bedenkliche Buch von Victor Farías: Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1989, auslöste, vgl. Jürg Altwegg (Hg.): Die Heidegger Kontroverse, Frankfurt a. M. 1988. 247 Heidegger: Selbstbehauptung (Anm. 246), 11. 248 Ebd., 14; daß insbesondere diese Forderung Heideggers Eindruck hinterlassen hat, belegt die Berichterstattung der nationalsozialistischen „Kampfblätter“ zur „feierlichen Rektoratsübergabe“, vgl. Schneeberger: Nachlese (Anm. 246), 50–57. 249 Vgl. Heidegger: Selbstbehauptung (Anm. 246), 15 f. 250 Ebd., 15; die Bindung ist einer der Schlüsselbegriffe in Heideggers Denken, weil dieses nicht in sich selbst als ein Selbst ruhen will und kann, sondern an ein anderes (das Volk, die Geschichte, die Sprache und die Dichtung) gebunden sein muß, um das ganz Andere (das Sein) entbergen zu können, das sich dem Denken der Metaphysik entzieht. Die Bindung wird von Heidegger allerdings in der Stunde, wo es scheint, daß das Denken tatsächlich ins Ontische zurückschlagen könnte (vgl. oben S. 101 u. Anm. 233), so eng gefaßt, daß er die Ambivalenz ‚unterbindet‘, die diesem Begriff auszeichnet; ist doch die Bindung der Bezugspunkt von Differentem. An der Art und Weise, wie Heidegger dann in den folgenden Jahren den Begriff der Bindung gebraucht, kann nachvollzogen werden, wie und wo er seinem Denken eine Unterkunft respektive eine Wohnung zu geben versucht.

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Heidegger, weise denn auch der „Marsch“ der Studentenschaft, deren „Gefolgschaft nicht erst zu wecken“ sei.251 – Und in der Tat: Studentenschaft und Volksgemeinschaft folgen; nur folgen sie trotz der eingegangenen „Kompromisse“252 nicht dem Rektor. Auch die Wissenschaft bleibt Heideggers Denken gegenüber gleichgültig. So muß er schon 1935 in höchst zweideutiger Manier im Jargon der Zeit konstatieren, daß der Zustand an der Universität „trotz mancher Säuberungen unverändert“ (EM, 36) sei. Dafür kann Heidegger nun wieder von der „Grunderfahrung des Nichts“253 sprechen, von der die Wissenschaft nichts wissen will. Er rückt von dieser ab, im Bewußtsein um die unaufhebbare Differenz, die sein Denken von ihr trennt. „Jede wesentliche Gestalt des Geistes steht in der Zweideutigkeit“ (EM, 7). Heidegger spricht 1935 zu seinen Studenten von der Erfahrung, mißverstanden zu werden. Er begreift das Mißverständnis allerdings als Sache seines Denkens. Denn das Mißverstehen folgt nicht einfach aus einer Unaufmerksamkeit, sondern betrifft das Denken grundlegend. Schon in der „Germanien“-Vorlesung 1934/35 bestimmt Heidegger das „dichterische“ und „denkerische Sagen“ so, daß das, „was in diesem Sagen erschwiegen wird“, nicht immer gehört wird, auch wenn die Worte vernommen werden. Diesem Sagen korrespondiert darum ein unvermeidliches Mißverstehen, das Heidegger ein „wesentliche[s] Verhören“ nennt (vgl. GA 39, 41). Als „Zweideutigkeit“ hatte Heidegger in Sein und Zeit den Umstand bestimmt, wonach ein echtes Verstehen sich nicht von der bloßen „Nachrede“ unterscheiden lassen könne. Die Zweideutigkeit ist danach gerade charakteristisch für das entwurzelte Dasein, das der „Welt des Man“ unbewußt „verfallen“ ist (vgl. SuZ, §§ 35–38). Heidegger desavouiert die Zweideutigkeit nun nicht mehr, sondern nimmt sie als conditio sine qua non für die Gestalt des Geistes an. Mit der Kehre wechselt Heidegger gleichsam die Seite und macht die unvermeidliche Zweideutigkeit für sein Denken und dessen Gestalt selbst geltend. Es geht also nicht mehr allein darum, über die Zweideutigkeit als Phänomen aufzuklären, sondern es wird angezeigt, daß das Denken mit ihr auf allen Ebenen zu rechnen hat. Dem entspricht, daß Heidegger das Faktum der Seinsvergessenheit systematisch grundlegender als in Sein und Zeit bewertet. Schien doch die Auslegung des Sinns vom Sein (vgl. SuZ, § 32 f.) durch die spezifische ontisch-ontologische Struktur des Daseins in Sein und Zeit noch durchführbar. Heidegger hebt nun deutlicher noch hervor, daß der

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Heidegger: Selbstbehauptung (Anm. 246), 14. So Heidegger 1966: „Als ich das Rektorat übernahm, war ich mir darüber klar, daß ich ohne Kompromisse nicht durchkäme“, in: „Nur noch ein Gott kann uns retten“, Der Spiegel im Gespräch mit Heidegger am 23.09.1966, in: Der Spiegel, 30. Jg, Nr. 23 (31. Mai 1976), 193–219, hier 198; siehe hierzu Lyotard: Heidegger (Anm. 24), 83–85. 253 Vgl. Heidegger: Was ist Metaphysik? (Anm. 245), 109. 252

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Entzug des Seins dem Sein wesentlich angehörig ist. Lakonisch hält er fest, daß das Denken des Seins „unmittelbar immer Wenige angeht“ (EM, 8). Heideggers 1935 gehaltene Vorlesung Einführung in die Metaphysik dokumentiert diesen Neuansatz in seiner Vielschichtigkeit. Im Unterschied zur im Wintersemester 1934/35 gehalten Hölderlin-Vorlesung ist die Einführung von Heidegger selbst 1953 veröffentlicht worden. Muß auch fraglich bleiben, inwieweit der publizierte Text dem in Freiburg vorgetragenen voll entspricht,254 so ist die Intention dieses Textes – gerade auch vor dem Hintergrund seines Publikationszeitpunktes – ‚authentisch‘ zu nennen. Denn Heidegger versucht die Defensivposition, in die er zunächst 1934 und dann 1945 geraten ist, umzukehren. Es geht ihm zu beiden Zeitpunkten um die Behauptung (s)eines philosophisch und geschichtlich begründeten Mandats. Die in Sein und Zeit explorierte Zeitlichkeit des Daseins faßt Heidegger jetzt seinsgeschichtlich. Er besteht – hierin Hegel treu – auf der Verknüpfung zwischen dem aktuellen Weltzustand und dem dadurch jeweils gegebenen Seinsbezug. Weil Welt per se „immer geistige Welt“ sei (EM, 34), ist es Heidegger möglich, die Umkehr des waltenden Verhältnisses der „Weltverdüsterung“ (EM, 29 u. 34) – und der damit einhergehenden „Entmachtung“ und „Mißdeutung des Geistes“ (vgl. EM, 34–37) – denkend zu erproben. Zur Frage steht, wie die „Erweckung des Geistes“ und die mit ihm verbundene „ursprüngliche Welt geschichtlichen Daseins“ (EM, 38) vonstatten gehen kann, wenn der Geist zur „Intelligenz“ und zum „Werkzeug“ eines planenden Bewußtseins verfälscht ist (vgl. EM, 35 f.). Für Heidegger hängt die Erweckung des Geistes vom Fragen der Seinsfrage ab, die lautet: „‚Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?‘“ (EM, 1 passim). Ihr eigentliches Gewicht erhält diese Frage durch ihren „Zusatz“ (EM, 21): und nicht vielmehr Nichts. Denn will man der Seinsfrage auf den Grund gehen und also das „Seiende im Ganzen“ fassen und nicht erneut bei einem bekannten Seienden stehenbleiben, dann muß sich das Seiende „fragenderweise in die Möglichkeit des Nichtseins“ hinaushalten (ebd.). Den Effekt dieses Fragens versteht Heidegger als eine Eröffnung, sofern das Fragen ein Geschehnis ist, das „fragend verwandelt (was jedes echte Fragen leistet), und einen neuen Raum über alles und durch alles wirft“ (EM, 23). Heidegger modifiziert also die Denkbewegung des „Seins zum Tode“, die in Sein und Zeit den Umschlag ins Eigentliche bewirken sollte, und bezieht

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Vgl. Peter Kemper: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Heideggers Begriff von Freiheit im Zeitalter planetarischer Technik. Ein Diskussionsbericht, in: ders. (Hg.): Martin Heidegger – Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, Frankfurt a. M. 1990, 196–205, hier 201; Kemper gibt mit Verweis auf Hans Ebeling zu bedenken, daß nicht alle nachträglich hinzugefügten Sätze auch als solche durch eckige Klammer gekennzeichnet wurden.

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sie erneut auf das geschichtliche Ganze. Denn weil nach Heidegger zur Alternative steht, ob über Europa „auf dem Wege der Vernichtung“ oder aber „durch die Entfaltung neuer geschichtlich geistiger Kräfte aus der Mitte“ (EM, 29) entschieden wird, ist die Seinsfrage eine „durch und durch geschichtliche“ Frage (EM, 33). Für die mit weitreichenden Hoffnung besetzte Mitte, aus der die geistigen Kräfte erwachsen sollen, steht das „nachbarreichste Volk und so das gefährdetste Volk und in all dem das metaphysische Volk“ (EM, 29), von dem Heidegger wünscht, daß es schöpferisch genug sei, seine geschichtliche Bestimmung zu erkennen und seine ihm gegebene Überlieferung zu ergreifen. Besonderen Nachdruck gibt Heidegger seiner Rede, die sich gleichsam über seine Zuhörer an die deutsche Nation überhaupt wendet, dadurch, daß er wiederholt betont, daß Europa und damit Deutschland gegenwärtig dem „schärfsten Zangendruck“ (EM, 29) durch „Rußland und Amerika“ ausgesetzt sei, welche „beide, metaphysisch gesehen, dasselbe“ seien (EM, 28, vgl. auch 34). Die von Heidegger skizzierte Notsituation verlange eine Entscheidung, die allein darüber herbeigeführt werden könne, daß das deutsche Volk „in sich selbst“ einen „Widerhall“ findet, damit es sein „Schicksal erwirken“ könne (EM, 29). Damit bringt Heidegger zugleich zum Ausdruck, daß er auch 1935 noch hofft, daß seine ‚Rede‘ einen Widerhall erfährt, so daß der Geist als die eigentliche Macht „Anerkennung“ findet, was, wie er dann 1951/52 rückblickend festhält, „der gesunde Menschenverstand am wenigsten vermag“.255 Denn nur der Geist könne jenen Anfang stiften, der die Gestaltung der Geschichte ermögliche. Für Heidegger heißt das, daß es um die „Wiederholung“256 jenes Anfangs geht, der mit dem Immergleichen bricht und damit „ein ganz Anderes“ freisetzt (EM, 32), das durch die Fixierung (der Wissenschaften) auf Seiendes vergessen werde, aber gerade das sei, was überhaupt Geschichte als solche eröffne. Heidegger gibt also der alles verwandelnden Macht des Fragens eine geschichtlich konkrete Physiognomie: Die Seinsfrage hat den Status einer Schicksalsfrage, an der das „Schicksal Europas“ und das „der Erde“ überhaupt hänge, und weitergehend betont er, daß „für Europa selbst unser [d. i. deutsches] geschichtliches Dasein sich als die Mitte erweist“ (EM, 32). Im wiederholt angeführten Topos der Mitte synthetisiert sich Heideggers Geschichtsdenken: topographisch, weil Deutschland die Mitte Europas ausmacht, das von „Rußland und Amerika“ bedrängt werde; und chronologisch, weil nach einer langen Periode der Abriegelung und des Verfalls, wieder der Bogen – hinweg über die Neuzeit, das christlich bestimmte Mittelalter und 255

Martin Heidegger: Was heißt Denken? (WhD) (1954), Tübingen 41984, 72. 256 Paradox an der „Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit“ ist, daß die Geschichte dem wählenden Dasein nur aus der Zukunft entspringt, vgl. Heidegger: SuZ, 385 f.

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die verfälschenden Aneignungen der Römer – zurück zum „ursprünglichen Wesen der griechischen Philosophie“ (EM, 11) zu schlagen sei. Denn nur in diesem Rückbezug eröffne sich das Zukünftige, für das es sich bereit zu machen gelte. Heidegger selbst ist in diesem Sinne der Deuter, der das Seinsgeschick aus dieser raum-zeitlichen Mitte heraus zu vermitteln versucht. Dieses Programm, das fortan sein Denken bestimmt, umreißen auch die folgenden Zeilen, in denen Heidegger insbesondere seinen Bezug zu Hölderlin verdeutlicht: „Heraklit ist derjenige der ältesten griechischen Denker, der einerseits im Verlauf der abendländischen Geschichte am gründlichsten ins Ungriechische gedeutet wurde, andererseits in der neueren und neuesten Zeit die stärksten Anstöße zur Wiedererschließung des eigentlich Griechischen gab. So stehen die beiden Freunde Hegel und Hölderlin in ihrer Weise im großen und fruchtbaren Bann Heraklits, aber mit dem Unterschied, daß Hegel nach rückwärts blickt und abschließt, Hölderlin nach vorwärts schaut und aufschließt. Wiederum anders ist das Verhältnis Nietzsches zu Heraklit. Allerdings ist Nietzsche ein Opfer der landläufigen und unwahren Entgegensetzung von Parmenides und Heraklit geworden. Hier liegt einer der wesentlichen Gründe, warum seine Metaphysik überhaupt nicht zur entscheidenden Frage hinfand, wenngleich Nietzsche andererseits wieder die große Anfangszeit des gesamten griechischen Daseins in einer Weise begriff, die nur noch durch Hölderlin übertroffen wird“ (EM, 96 f.). Im politischen Feld aufgelaufen, nach den Kriterien der Wissenschaften ohne zureichenden Grund, hält sich Heideggers Denken an eine bestimmte Überlieferung. Das griechische Denken, die Schriften Nietzsches, sowie die Dichtung Hölderlins bilden zusammen das, was nach Heidegger die Seinsgeschichte bestimmt. Das sind: Ursprung, Genealogie und Verfall sowie der deutsche Gesang, der auf das Zukünftige hinweist. Diese Rollenverteilung macht die besondere Geltung ersichtlich, die Heidegger Hölderlin in dieser Traditionslinie beimißt. Ist doch einzig Hölderlins Rückbezug auf Heraklit und die Griechen zugleich ein Vorausblick, der selbst vorführt, wie das Überlieferte für das Kommende ‚aufgeschlossen‘ werden könne. Heidegger sieht seinen Bezug zur Dichtung zudem dadurch legitimiert, daß diese, sofern sie „echt und groß“ ist, jenes für notwendig hält, was der „Wissenschaft allezeit ein Greuel und eine Sinnlosigkeit“ bleibt: nämlich vom „Nichts zu reden“ (EM, 20). Damit unterstreicht er, daß sein Denken sich von einer Wissenschaft abhebt, die sich auf Seiendes fixiert. Statt dessen setzt Heidegger auf ein Geschehen – und zwar ein Geschehen in der Sprache –, welches das Nichts als Grund und den Entzug des Seins erfahrbar macht. Dieses Denken ist kein sich selbst setzendes System (im idealistischen Sinne), sondern es versteht sich als Auslegung (des Seins) und das ganz konkret als Textauslegung. Denn der auf das Sein hören wollende Denker hat auf die Winke der Überlieferung zu achten, die als Text überkommen sind.

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Entsprechend hat Heidegger sein Denken als „Zwiesprache“ mit anderen Denkern und insbesondere mit Hölderlins Dichtungen verstanden. Diese „Zwiesprache mit den Denkern“ verlangt, wie Heidegger 1954 ausführt, die Bereitschaft, „daß wir uns durch das Ungedachte im Gedachten der Denker die eigenen Denkversuche immer wieder umwerfen lassen“, und er führt ergänzend fort: „Einer, der es besser wußte, Kant, spricht für solche Fälle von Umkippungen. Aber umkippen kann nur, wer steht und im Stehen geht und im Gehen auf dem Weg bleibt.“257 Heidegger setzt folglich den Charakter des Zwiegesprächs so grundlegend an, daß es systematisch für den eigenen Ort des Denkens von umwerfender Qualität ist. Hat Karl Jaspers auch gegen Heideggers Zwiegespräch geargwöhnt, daß es als „Ruin der Vernunft [und] Freigabe des Bodenlosen“ an der Grenze zum „schizophrenen Wahn“ stehe – denn „der andere antwortet nicht“258 –, so ist es in seiner Anlage gerade so konzipiert, daß der in der Tat stumme andere dadurch zu Wort kommen soll, daß noch kein ‚Boden‘ gelegt ist. Denn dieser Grund soll in der Auseinandersetzung allererst erkundet werden. Mit seinen Zwiegesprächen versucht Heidegger jedenfalls das zu praktizieren, was er in Sein und Zeit die „Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit“ nennt; – entsprechend wird das Zwiegespräch nur mit „Helden“ geführt (vgl. SuZ, 385 f.). Der Dichter, der „echt und groß“ ist und darum das Zwiegespräch verlange, ist für Heidegger vor allem Hölderlin. Dessen Dichtung gibt Heidegger die Winke für seine seinsgeschichtliche Mission, die er ab 1934 reformuliert. So notiert er 1938: „Die geschichtliche Bestimmung der Philosophie gipfelt in der Erkenntnis der Notwendigkeit, Hölderlins Wort das Gehör zu verschaffen“.259 Mit Hölderlin versucht Heidegger nach seinem Rückzug von der politischen Bühne, die geschichtliche Stellung des deutschen Volkes neu zu bestimmen; und in Hölderlin sieht er einen Wesensverwandten, der der gemachten Erfahrung der immer nur vermittelten Wirkungsmöglichkeit des Geistes sowie der damit verbundenen Miß- und Unverständlichkeit dichterisch Gestalt gegeben habe. Hölderlins Dichtung gibt nach Heidegger vor allem aber eine Diagnose der dürftigen Zeit. Dies gelinge ihr nicht zuletzt deshalb, weil sie das Wesens der Dichtung selbst dichterisch neu zu bestimmen versuche und auf diesem Wege, so Heidegger, aus den Schranken des metaphysischen Denkens heraustrete. Hölderlins Dichtung sage darum nicht nur, warum die Zeit dürftig sei, sondern sie weise zugleich auf das voraus, was durch die Leser zukünftig noch einzuholen wäre. Als einen solchen Leser versteht sich Heidegger. 257

WhD, 72; vgl. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Akademie-Ausgabe, Berlin / Leipzig 1923, Bd. VIII, 24. 258 Karl Jaspers: Die grossen Philosophen, Nachlaß 2, Fragmente – Anmerkungen – Inventar, hg. von Hans Saner, München / Zürich 1981, 967. 259 Heidegger: Vom Ereignis. Beiträge zur Philosophie, GA 65, Frankfurt a. M. 1989, 422.

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Wie sehr die doppelte Mangelerfahrung den Anschluß an Hölderlin bestimmt, das zeigen die ab dem Wintersemester 1934/35 gehaltenen Vorlesungen und der 1936 in Rom gehaltene Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung (HWD). Der widerfahrenen ‚Ohnmacht‘ stellt Heidegger die an seine Zuhörer gerichtete Forderung entgegen, endlich in den „Machtbereich der Dichtung“ einzurücken, so daß „unser Dasein zum Lebensträger der Macht der Dichtung wird“ (GA 39, 19). Entsprechend dem Kalkül, daß die scheinbar harmlose Dichtung Hölderlins die eigentliche Macht sei, die das deutsche Dasein unsichtbar bestimme und leite, hat Heidegger auch die ersten beiden der „fünf Leitworte“ ausgewählt, in denen Hölderlin seine Dichtung im wesentlichen kennzeichne. Danach ist die Sprache des Dichters nicht nur das „unschuldigste aller Geschäffte“, sondern auch „der Güter Gefährlichstes“.260 Während das erste „Leitwort“ unmittelbar einzuleuchten scheint, gilt doch die Dichtung oft genug als ein leeres Spiel von Worten, weist das zweite auf das Dilemma und das Potential der Sprache überhaupt. Zum einen ist die Sprache gefährlich, weil das „Reine“ und das „Gemeine“ nicht von einander zu unterscheiden sind. „Das Wort als Wort bietet daher nie unmittelbar die Gewähr dafür, ob es ein wesentliches Wort oder ein Blendwerk ist“ (HWD, 37). Zum anderen spielt das zweite Leitwort auf die spezifische Gefährdung an, der sich der Dichter aussetzt, weil er sich in die Nähe der Götter begibt, um die „Winke“ derselben mit der „‚Stimme des Volkes‘“ vermitteln zu können (HWD, 46 f.). Der Dichter ist „ein Hinausgeworfener – hinaus in jenes Z w i s c h e n , zwischen den Göttern und den Menschen“ (HWD, 47). Diese Zwischenstellung ist ferner bestimmt durch die geltende „ d ü r f t i g e Zeit“, die einen „gedoppelten Mangel“ habe: Das ist das „Nichtmehr der entflohenen Götter“ und das „Nochnicht des Kommenden“ (ebd.). Heidegger verschiebt mit dieser Analyse den unvermeidlichen zweifachen Mangel seiner Philosophie, nämlich sowohl auf der politischen Ebene als auch im wissenschaftlichen Diskurs ohne die erhoffte Resonanz zu sein, mit Hölderlin auf den „gedoppelten Mangel“ der Zeit. Weil Hölderlins Dichtung in der Tat vom „Fehl“ Gottes261 ausgeht und eine Spur für die erneute Ankunft der Himmlischen zu legen versucht, gibt sie Heidegger Gelegenheit, die Option auf das Kommende aufrecht zu erhalten, nachdem die auch von ihm sogenannte „Revolution“262 von 1933 nichts daran änderte, daß seine Philoso260

HWD, 33, vgl. Hölderlins Brief an die Mutter, Januar 1799, StA VI, 311; Heidegger zitiert außerdem das „Bruchstück 13“ aus der Hölderlin-Ausgabe von Norbert von Hellingrath: Sämtliche Werke, Berlin 31943, IV, 262; vgl. „Bruchstück 37“, nach StA II, 325. 261 Vgl. Hölderlin: Dichterberuf, v. 64, StA II, 48 und Der Rhein, v. 44, StA II, 143; vgl. auch GA 39, 230 ff. und WD, 269 ff. 262 Vgl. EM, 8; nach dem Krieg bedenkt Heidegger das Praxisproblem, das sich gerade seiner Philosophie stellt, nicht mehr angesichts des Vorwurfs, daß „die Metaphysik an der

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phie abseitig steht. Vorzugsweise Hölderlins große Elegien und vaterländische Gesänge sind Heidegger nun die Folie, an denen er das abgründige Nichts sichtbar zu machen versucht, das als solches zu akzeptieren, die unabdingbare Bedingung einer möglichen Wandlung wäre. Die Auslegung von Hölderlins Dichtung bedeutet für Heidegger zugespitzt, daß er sich als Vermittler des Vermittlers erweisen kann, wodurch er sein legitimationsloses Denken behelfsweise legitimiert. Darüber hinaus geht es Heidegger darum, in der Auseinandersetzung mit Hölderlins Dichtung in Erfahrung zu bringen, wer „wir sind“ (vgl. GA 39, 69–71). Denn der „arbeitende Durchgang durch das Gedicht“ sei notwendigerweise ein „Kampf gegen uns“ (GA 39, 22). Auf Hölderlin zu hören, bedeutet mithin, daß sich das ‚Wir‘ allererst dann bildet, wenn man sich dieser Dichtung aussetzt und auf diese Weise jenes erfährt, was Heidegger „Ek-sistenz“ nennt: das „Stehen in der Lichtung des Seins“.263 Hierfür bedarf es der Dichtung und des Denkers, der sie in diesem Sinne aus-zulegen weiß.

3. Götterflucht und Germanien Die Notwendigkeit, die Heidegger sieht, Hölderlins Dichtung dem deutschen Dasein auslegen zu müssen, und die weitreichenden Hoffnungen, die er mit dieser Lektüre verbindet, machen sich für Heidegger unmittelbar an den in der Hymne Germanien genannten entflohenen Göttern und den verlassenen Tempeln fest. Der Anfang der zweiten Strophe sei hier nochmals erinnert (StA II, 149): Entflohene Götter! auch ihr, ihr gegenwärtigen, damals Wahrhaftiger, ihr hattet eure Zeiten! Nichts läugnen will ich hier und nichts erbitten. Denn wenn es aus ist, und der Tag erloschen Wohl trifts den Priester erst, doch liebend folgt Der Tempel und das Bild ihm auch und seine Sitte Zum dunkeln Land und keines mag noch scheinen.

Wer sich an die Auslegung dieser Zeilen macht, hat die Flucht der Götter gleichsam carte blanche als Tatsache anzuerkennen. Mit diesem Befund hat das Denken zu beginnen, das überhaupt dann einsetzt, wenn es der AnweVorbereitung der Revolution [von 1933] nicht mitgewirkt“ habe (ebd.), sondern bemerkenswerter Weise u. a. an Hand von Karl Marx’ Maxime: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“, vgl. Heidegger: Kants These über das Sein (1961), in: Wegmarken (Anm. 233), 446 f.; zu Marx äußert sich Heidegger wiederholt insbesondere im BüH, 319–339. 263 BüH, 323 f.

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senheit der Götter nicht gewiß sein kann. Auch Heidegger übernimmt Hölderlins Diagnose, hält aber sogleich fest, daß sich die „Göttlichkeit“ genau darüber habe bewahren können, daß die Götter entflohen sind: „Daß die Götter entflohen sind, heißt nicht, daß auch die Göttlichkeit aus dem Dasein des Menschen geschwunden ist, sondern heißt hier, daß sie gerade waltet, aber als eine nicht mehr erfüllte, als eine verdämmernde und dunkle, aber doch mächtige“ (GA 39, 95). Heidegger begegnet damit der voreiligen Schlußfolgerung, die da meinen könnte, daß aufgrund der Götterflucht keine Göttlichkeit mehr walten würde. Es sei vielmehr so, daß jene Flucht dieses Walten gerade ermögliche. Das Walten der Göttlichkeit wird dann präzisiert durch zwei korrigierende „aber“, die betonen, daß die Göttlichkeit zwar unerfüllt und dunkel, aber doch mächtig sei. Diese Auslegung zielt darauf, im Gewesenen das Wesende, beziehungsweise im Abwesenden das dergestalt negativ Anwesende lesen zu lernen. Die Nichtpräsenz der Götter verlange, daß sie als „nicht mehr erfüllte“ Göttlichkeit erkannt werde, wodurch sie wieder „mächtig“ würde. In eben dieser Spannung steht nach Heideggers Verständnis die heiligtrauernde Grundstimmung des lyrischen Ichs, die in der ersten Strophe der Hymne zur Sprache kommt. Das heiligtrauernde Herz (vgl. v. 5 f.) wendet sich von den entflohenen Göttern allein deshalb ab, um darüber der gegenwärtigen Göttlichkeit teilhaftig zu werden. „Das Verzichtenmüssen auf die alten Götter, das Ertragen dieses Verzichtes ist das Bewahren ihrer Göttlichkeit“ (GA 39, 95). Weitergehend sei dieser bewahrende Verzicht das Erharren der neuen Götter. Wird die Götterflucht nicht mehr geleugnet, wird also „mit den entflohenen Göttern als Entflohenen“ ernst gemacht (GA 39, 97), dann könne auch auf „der höchsten Spitze der wissend übernommenen Verlassenheit […] deren innerster Umschlag in das wissende Erharren“ geschehen (ebd.). Der anvisierte „Umschlag“, der eine neue Epoche bewirken und mithin die „ursprüngliche“ Zeitlichkeit des Daseins offenbaren würde,264 kann aber nur dann eintreten, wenn die Folgen der Götterflucht und die durch sie ausgelösten Verfallserscheinungen nicht nur als Stimmung gefühlt, sondern wenn sie auch „eigens gesagt“ (GA 39, 97) werden. Entsprechend liest Heidegger die zitierten Verse der zweiten Strophe von Germanien, die von Priester, Tempel, Bild und Sitte sagen: „und keines mag noch scheinen“ (v. 23), nicht wie oben vorgeschlagen (s. o. S. 97 f.) – und das hat weitrei264

Vgl. GA 39, 109 ff. Heidegger selbst erinnert an dieser Stelle an die §§ 65 ff. in Sein und Zeit. Die „eigentliche Zeitlichkeit“ des Daseins, die sich aus der „Sorgestruktur“ (SuZ, 323) desselben ableitet, faßt Heidegger in der Hölderlin-Vorlesung formelhaft so zusammen: „Die Schatten derer, so gewesen sind, besuchen uns neu, kommen auf uns zu, sind zu-künftig. […] In diesem Nach-vorne-walten des Gewesenen in die Zukunft, die rückweisend das schon früher sich Bereitende als solches eröffnet, waltet das Zu-kommen und Noch-wesen (Zukunft und Gewesenheit) in einem: die ursprüngliche Zeit“, GA 39, 108 f., vgl. auch oben Anm. 256.

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chende Konsequenzen – primär als Etappen des Erlöschens der Darstellungskraft („der Tag erloschen“, v. 20), sondern vielmehr als von Hölderlin dargestellte Verfallsstufen, welche die Geschichte notwendigerweise durchläuft. Was also ‚sagt‘ nach Heidegger Hölderlin: „Wenn der Dichter im Gedicht ‚Germanien‘ davon spricht, daß Tempel, Bild und Sitte dem Priester folgen, so ist das nicht gemeint als einmaliger geschichtlicher Vorgang, sondern als wesensgesetzliche Abfolge der Stufen des Verfalls eines geschichtlichen Daseins als solchen in der Not der Götterlosigkeit. Der Dichter sagt hier, d. h. er sagt es stiftend, wie das Seyn geschieht, vormals und künftig. Daher müssen wir uns diese Wesensgesetzlichkeit verdeutlichen. / Sitte und Brauch ist nur, wo Tempel und Bild als das geschichtliche Dasein der Götter das alltägliche Treiben und Hausen überragen und binden. Bild und Tempel aber sind nur, wo jene großen Einzelnen sind, die wissend-schaffend die Anwesenheit und Abwesenheit der Götter unmittelbar aushalten und im geschaffenen Werk zum Austrag bringen“ (GA 39, 98). Heidegger extrahiert aus der von Hölderlin deutlich sukzessiv angeordneten Aufzählung – „Wohl trifts den Priester erst, doch liebend folgt / Der Tempel und das Bild ihm auch und seine Sitte“265 – eine vormals und auch künftig gültige „wesensgesetzliche Abfolge“, an der zu erkennen sei, „wie das Seyn geschieht“. Danach tritt das „Seyn“ nur darüber in Erscheinung, daß es in einem das Gewöhnliche überragenden Werk zum Austrag gebracht wird. Die „großen Einzelnen“ vermitteln in Tempel und Bild dem Volk ihre unmittelbare Nähe zu den mal anwesenden, mal abwesenden Göttern. Tempel und Bild derart als Werk verstanden, bilden eine konzentrische Anordnung, von der her und auf die hin sich alles Seiende orientiere. Ist dies der Fall, dann sei das Dasein im Ganzen gebunden, denn – so kann aus dem oben Zusammengefaßten gefolgert werden – das Ganze hat dann eine Mitte, die der Tempel kreiert und einnimmt. Was Heidegger später im Kunstwerkaufsatz ausführen wird, wie nämlich im Werk die Wahrheit des Seins geschieht, ist hier schon angedeutet. Wenn das „geschaffene Werk“ die Mannigfaltigkeit des „alltägliche[n] Treiben[s] und Hausen[s] überragen und binden“ kann, dann ist auch die Sitte und der Brauch in der Göttlichkeit begründet. Ein derart geordnetes „geschichtliche[s] Dasein“ aber verfalle und mit ihm die Gestaltkraft von Tempel und Bild, sobald die „Not der Götterlosigkeit“ einsetze. Diese bestehe wesentlich darin, daß sie nicht als solche erkannt würde. Symptomatisch für dieses Nichterkennen der Not der Götterlosigkeit sei, daß der Tempel – wie andere überlieferte Werke auch – zum Bestand eines mehr oder weniger gut verwalteten Kulturbetriebs degenerieren. Der Tempel ist dann durch den geschäftigen Betrieb, an dem sich auch die Wissenschaften beteiligen, zum Kulturgut herabgesunken (vgl. GA 39, 99). So diene er beispielsweise der In265

Hölderlin: Germanien, v. 21 f., StA II, 149, Hervorh. von mir.

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stitution Kirche zur Machtsicherung ihrer partikularen Interessen und sei dem „unangebundenen“ Einzelnen zur vorübergehenden Erbauung nützlich (vgl. ebd.). Habe der Verfall erst einmal eingesetzt, dann sei die „Möglichkeit der großen Erschütterung des geschichtlichen Daseins des Volkes“ geschwunden, und auch Bild und Tempel vermögen es dann nicht mehr, „die geschichtliche Sendung eines Volkes im Ganzen von Grund aus zu übernehmen und in einen neuen Auftrag zu zwingen“ (ebd.). Diese wesensgesetzliche Abfolge bedeutet im Umkehrschluß, daß das Ganze als Ganzes nur dann noch wird erschlossen werden können, wenn es wieder einen jener großen Einzelnen gibt – „ein Priester oder eine Priesterin“ (GA 39, 100) –, der oder die durch eine besondere Begabung herausgehoben, einen Umschlag bewirken könnte. Wenn es eine Prämisse für Heideggers Lesung gibt, dann die, daß Hölderlins Dichtung auf unterschiedlichste Weise diesen Einzelnen nennt, der das besondere Merkmal hat, stellvertretend für ein Wir zu stehen. In Germanien sind es – noch bevor von der Priesterin Germania (vgl. v. 110) gesprochen wird – die „Zweifelnden“, die das „Fliehen der Götter wahrhaft durchdauern“,266 weil sie für das offen sind, was nach neuer Ankunft drängt.267 Den Zweifelnden dämmert die Sage vom Gewesenen um das Haupt und sie erfahren die Not der Götterlosigkeit von ihrem Grund her, weil sie sich nicht in einem vermeintlichen Wissen verschanzen. Ihnen widerfährt noch, daß sie sich von dem, was sie nicht wissen, umwerfen lassen. „Im wahren Zweifel ereignet sich der Zusammenstoß des Wissens und Nichtwissens und zeitigt jene ursprüngliche Not, die das Dasein in Grundstimmungen versetzt“ (GA 39, 100 f.). Die Zweifelnden sind jener Grundstimmung ausgesetzt, die ihnen den Zustand des Unangebundenseins bewußt mache. Darum wächst allein mit ihnen die Möglichkeit, diesen Status quo zu überwinden: „Im Zweifel wird die tiefste Verlassenheit ausgedauert, und in ihr gerade kommt der Einzelne als Einzelner mit seiner Sonder- und Eigennot zum Verschwinden. Je ursprünglicher die Fragwürdigkeit des Daseins erfahren und gesagt wird, um so echter ist es ein stellvertretendes Sagen für alle. Jetzt, wo auch der Einzelne in seinem bestimmten Bezug zu bestimmten Göttern verlassen ist, wo nur noch das Bewahren der Göttlichkeit der entflohenen Götter bleibt, da versinkt das ‚ich‘, und das Sagen ist ein Wort des ‚wir‘“ (GA 39, 101). In der Verlassenheit, die der Zweifelnde erfährt, löst sich dessen Identität derart auf, daß aus dem unangebundenen ich, das nur seine eigenen Sonderinteressen zu wahren sucht, ein anderes wird. Dieses an266

GA 39, 100. Daß dieser „Eine“ letztlich Hölderlin selbst ist und daß auch Heidegger einer jener „Schaffenden“ ist, der diese Dichtung so zu bedenken weiß, daß der Dritte in Bunde, nämlich der „Staatsschöpfer“, das Volk zu sich selbst als Volk bringen kann, betont Heidegger in den Jahren 1934/35 mehrfach, vgl. GA 39, 51 u. 144 f., siehe auch Kunstwerk (Anm. 226), 49. 267 Vgl. Hölderlin: Germanien, v. 26–30, StA II, 149 f.

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dere ich verwandelt sich in das „stellvertretende Sagen“, das „ein Wort des ‚wir‘“ zu sagen vermag. Hölderlins Hymne Germanien scheint diese Deutung Heideggers nahezulegen. Geht das lyrische ich der Hymne doch genau in dem Moment in den Plural uns über, als die Zweifelnden (v. 26) genannt werden. Der Umschlag vom ich zum wir antizipiert aus dieser Perspektive gleichsam die kommende Inversion des Ganzen, welche – wenn überhaupt – durch die Zweifelnden eingeleitet würde. Und die Dichtung gäbe mit diesem Umschlag in den Plural zu erkennen, daß sie selbst schon am Wendepunkt steht, der aus der Grundstimmung des heiligtrauernden Herzens (ich) ein Sagen für alle (wir) werden läßt. Nach Heidegger stehen die Zweifelnden darum auch nicht für ein vereinzeltes Privatempfinden, sondern sagen das, was das geschichtliche Dasein als Ganzes angeht. Der Umschlag vom ich zum wir, auf den Heidegger hier insistiert, ist fraglos grundlegend; und das sowohl für Hölderlins Dichtung als auch für Heideggers Auslegung. Warum aber die Schlußfolgerung, die Heidegger an dieser Stelle zieht, nicht mit der oben vorgeschlagenen Lektüre von Germanien übereinstimmt, muß noch näher erörtert werden, weil an diesem Umschlagspunkt auch die Differenz zwischen Celans und Heideggers poetologischem Verständnis ersichtlich wird. Heideggers Beobachtung, daß das ich (v. 3, 11, 15, 19) in Germanien nach dem Nennen der Zweifelnden verschwindet (vgl. dem Plural uns, v. 26, 30), reiht sich jedenfalls ein in jene Spur, auf die diese Studie wiederholt gestoßen ist: Denn der im wahrsten Sinne signifikante Umschlag vom je singulären Empfinden (Trauer) eines ichs zum Zeichen, das dann der Sprache gehört, ist unweigerlich selbst ein Übergang in den ‚Plural‘. Ist dieser doch gleichsam die Metapher – respektive die Synekdoche –, die das Wesen der Sprache offenbart. Denn noch dann, wenn ein einzelner ‚ich‘ sagt, ist dieses Sagen eine Doppelung und hierhin selbst schon wieder ein Plural. Das heißt, daß der einzelne nicht als der Singuläre, der er ist, in der Sprache angezeigt werden kann, weshalb Heidegger auch im anderen Zusammenhang betont, daß das „eigentliche Selbstsein […] als schweigendes gerade nicht ‚Ich-Ich‘“ (SuZ, 323) sagt. Der Plural, den Hölderlin mit den Zweifelnden einführt, ist darum aber auch – und das zieht Heidegger nicht in Erwägung – als Verzweiflung am unhintergehbaren Plural der Sprache zu lesen. Dieses hat wiederum Konsequenzen für das von Heidegger behauptete Sagenkönnen eines „Wort des ‚wir‘“. Daß Celan gerade wegen dieser entscheidenden Problematik anders an Hölderlin anschließt als Heidegger, wird weiter unten auch im Kontext seines bekanntesten HölderlinGedichts Tübingen, Jänner vernehmbar werden.268 268

Die Verzweiflung am Plural ist einer der Gründe dafür, daß Celan 1968 ein Gedicht mit den Zeilen beginnt: „UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt.“ (II, 338). Zum Problem vgl. auch oben S. 46, Anm. 127 u. 141, sowie ferner unten S. 204 f.

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Festzuhalten ist hier, daß Heidegger in der Hymne Germanien die Zweifelnden hervorhebt, weil sie allein die Herausforderung annehmen, die mit der Flucht der Götter entstandene Not zur Sprache zu bringen. Der Tempel dagegen, in dem die Götter einst wohnten, hat mit dem von Heidegger konstatierten Aufkommen der Kultur und dem Vergessen der Not der Götterlosigkeit seinen ursprünglichen Kontext verloren. Seine Welt ist untergegangen und er steht darum „unangebunden“ (GA 39, 99). Von ihm allein geht keine Wandlung aus. 4. Das Kunstwerk als heiliger Bezirk Der im November 1935 das erste Mal vorgetragene Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes ergänzt Heideggers Vorlesung zur Hymne Germanien und bereitet die zur Hymne Andenken vor, ohne daß Hölderlins Dichtung im einzelnen erörtert würde. Heidegger geht es nicht um die Auslegung eines bestimmten Kunstwerkes, sondern um eine Klärung dessen, was dieses generell auszeichnet. Genauer geht er der Frage nach, was es der Wahrheit erlaubt, sich gerade in der Kunst ins Werk zu setzen. Insofern knüpft sein Aufsatz nicht nur an die erste Hölderlin-Vorlesung an, sondern nimmt auch jene Überlegungen auf, die 1930 in dem Text Vom Wesen der Wahrheit269 entwickelt wurden. Zu Beginn lotet Heidegger aus, wie die Kunst und ihre Herkunft zu bestimmen seien. Er macht dabei deutlich, daß die Klärung der Frage, in welcher Weise sich Künstler, Werk und Kunst aufeinander beziehen, wer also wie durch wen bedingt ist, nur gelingen kann, wenn sich das Denken auf eine zirkuläre Struktur einläßt, wonach die Erhellung eines Moments dieser Trias bereits ein ungeklärtes Vorverständnis der beiden anderen Momente voraussetzt. „Nicht nur der Hauptschritt vom Werk zur Kunst ist als der Schritt von der Kunst zum Werk ein Zirkel, sondern jeder einzelne der Schritte, die wir versuchen, kreist in diesem Kreise.“270 Das Kreisen im Kreise aber ist, wie dieses hermeneutische Bekenntnis selbst demonstriert, genaugenommen eine chiastische Figur. Denn es ist insbesondere die im Chiasmus vollzogene Inversion des zunächst evident Erscheinenden, die es erlaubt, jeweils das zu vollbringen, was Heidegger einen „Schritt“ im Denken nennt.271 Die einzel-

269

Heidegger: Wesen der Wahrheit (Anm. 240). Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes (KW), in: Holzwege (Anm. 125), 1–74, hier 3 [8]; die Zählung der ersten Ausgabe von 1950, die auch Paul Celan besaß, wird in eckigen Klammern [ ] vermerkt. 271 Andrzej Warminski nennt in seinem Buch Readings of Interpretion. Hölderlin, Hegel, Heidegger, Minneapolis 1987, Heideggers Schritt, beispielsweise das Wesen der Sprache aus der Dichtung zu erläutern, dann aber das Wesen der Dichtung erst durch die Sprache zu er270

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nen Etappen, die von der Frage nach dem „Ursprung“ und „Wesen der Kunst“ zum „Werk“ und von dort her zum „Ding“ und zum „Zeug“ und dessen jeweiliger „Wahrheit“ zurücklegt werden, um dann nach der „Wahrheit des Wesens“ und genauer nach dem „Wesen der Wahrheit“ fragen zu können, müssen hier nicht im einzelnen nachvollzogen werden. Hervorgehoben sei nur, daß die Umkehrung der Perspektive jeweils so verläuft, daß der erneute Rückbezug zum zunächst Plausiblen durch die Frage, was dieses zu bestimmen ermöglicht, jedesmal von neuem eine tiefergehende Prüfung verlangt. Auf diese Weise versucht Heidegger nicht nur die gewohnte „Fragestellung der Ästhetik“ zu erschüttern (KW, 24 [28]), sondern er kommt so von verschiedenen Seiten immer wieder auf das Werk zurück, in dem „ein Geschehen der Wahrheit am Werk“ sei (KW, 21 [25]; 27 [30]). Heidegger versucht schließlich, den Nachweis zu erbringen, daß das Denken, dem es um das Wesen der Wahrheit geht, und das Kunstwerk, durch das Wahrheit geschieht, gleichursprünglich seien. Mit dem zweiten Abschnitt, der Das Werk und die Wahrheit überschrieben ist, gelangt Heidegger zu dem bekannten hermeneutischen Problem, auf das er bereits in der Vorlesung zur Hymne Germanien stieß: Uns sind Kunstwerke aus vergangenen Epochen überliefert, aber die Welt, die sich einst in ihnen bündelte, ist unwiederbringlich zerfallen und verloren. Auch wenn Bilder und Skulpturen in den Museen und alte Texte der Literatur durch kritische Editionen aufbereitet werden, so ist zu konstatieren: „Die Werke sind nicht mehr die, die sie waren“ (KW, 26 [30]). Mit diesem Tatbestand gelangt Heideggers Gedankengang in eine Aporie. Denn das Kunstwerk kann nicht aus seiner bloßen Dinghaftigkeit her erschlossen werden. So ist es sinnlos, beispielsweise „den Tempel in Paestum an seinem Ort und den Bamberger Dom an seinem Platz auf[zu]suchen“ (KW, 26 [30]) und zugleich davon auszugehen, dort noch die eigentliche „Welt“ dieser Werke vorzufinden. Was aber ist ein Werk, das nicht mehr in seinen ursprünglichen Bezügen steht? Heidegger, der im ersten Teil seines Aufsatzes überwiegend auf Vincent van Goghs Gemälde eingeht, „das ein Paar Bauernschuh darstellt“,272 versucht

hellen, eine „chiastische Umkehr“ (ebd., 60), die einen Übergang von der „ontischen“ zur „ontologischen Ordnung“ vollzieht. Warminski bezeichnet diese Bewegung darum auch als einen „asymmetrischen Chiasmus“ (ebd., 61). Zum Chiasmus als für Heideggers Denken eigentümliche rhetorische Bewegung, vgl. auch Jean-François Mattéi: The Heideggerian Chiasmus, in: Dominique Janicaud / ders.: Heidegger from Metaphysics to Thought, Albany 1995, 39–150. 272 KW, 3 [9]. Zur Diskussion, die der Aufsatz von Meyer Schapiro auslöste (Das Stilleben als persönlicher Gegenstand, in: Marianne L. Simmel (ed.): The Reach of Mind. Essays in memory of Kurt Goldstein, New York 1968), der Heidegger vorwirft, van Goghs Bild mißinterpretiert und funktionalisiert zu haben, vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (1978), Wien 1992, 301–442.

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dieses Problem zu umgehen, indem er nun danach fragt, ob es ein Werk gibt, das die gesuchten Bezüge aus sich selbst heraus eröffnet. Er bejaht diese Frage, indem er sich einem Werk zuwendet, „das nicht zur darstellenden Kunst gerechnet wird“ (KW, 27 [30]). Dieses Werk referiert nicht auf etwas anderes, macht dafür aber um so deutlicher „das Geschehnis der Wahrheit im Werk erneut sichtbar“ (ebd.). Das Werk, das diesen Anforderungen nach Heidegger entspricht, ist der „Tempel“ (ebd.). Wobei er allerdings nicht die Ruine im Sinn hat, über die Hölderlins Hyperion ohne Diotima verzweifelt wäre, sondern Heidegger spricht vom Tempel, als ob dieser noch in voller Pracht stehen würde. Hierauf ist ausdrücklich aufmerksam zu machen, weil mit der Einführung des Tempels der zuvor textbestimmende Modus des Fragens, der altbekannte Zugangsweisen zur Kunst erschüttern sollte, nun in einen Modus der Darstellung wechselt, der grundlegende Antworten vorbereitet. Zu diesem Zwecke entwirft Heidegger nun ein ideales Kunstwerk, das die nachfolgenden Erläuterungen zum Wesen des Werks vorwegnimmt und illustriert. „Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab“ (ebd.). Mit diesem Satz setzt der Kunstwerkaufsatz neu an. Daß sich an dieses „mit Absicht“ (ebd.) gewählte Werk grundlegende Überlegungen anschließen werden, ist bereits an den beiden unbestimmten Artikeln abzulesen. Wichtig ist es Heidegger allerdings, sich auf einen griechischen Tempel zu beziehen, will sich sein Denken doch nicht in einer ungefähren Abstraktion verlieren, sondern das Verhältnis zwischen Wahrheit und Werk dadurch grundlegend bestimmen, daß es sich an eine spezifische Überlieferung bindet. Mit diesem Bauwerk, das selbst nichts abbildet, referiert Heidegger also auf die Epoche, an der sich auch jene deutsche Tradition bei ihrer Suche nach dem Ursprung des Kunstwerkes orientierte, in der Hölderlin stand.273 Heidegger aber will nicht den historischen Ursprung der Kunst ausfindig machen, sondern vielmehr der Frage nachgehen, wie aus dem „Sprung“, den die Werke der Kunst zurücklegen, Geschichte „erspringt“ (vgl. KW, 65 f. [64 f.]). Vom Tempel heißt es weiter: „Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felsentales. Das Bauwerk umschließt die Gestalten des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk. Durch den Tempel west der Gott im Tempel an. Dieses Anwesen des Gottes ist in sich die Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes als eines heiligen“ (KW, 27 [30 f.]). Der Tempel steht. Daß dieses Stehen so „einfach“ nicht ist, deutet sich bereits in Heideggers so schlicht daherkommenden Bild vom „zerklüfteten Felsental“ an. Der Tempel steht inmitten einer unwirtlichen Landschaft. Gerade weil er dort einfach steht, steht er im Gegensatz zu seiner unüber273

Daß Heidegger mit dem griechischen Tempel an Hölderlin denkt, belegt nicht nur sein Interesse für den Athenerbrief und die Hymne Germanien, sondern auch sein Zitat aus dem Entwurf Der Mutter Erde (StA II, 123–125), vgl. GA 39, 95.

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sichtlichen Umgebung. An ihm ist es, diesen Gegensatz auszutragen. Unausdrücklich referiert Heidegger hier auf Heraklits εν διαφερον εαωτυ – und damit auch auf Hölderlins Athenerbrief. Das einfache Inmitten-stehen des Tempels markiert einen Unterschied, weil der Tempel selbst, wie die paradox angelegten Formulierungen anzeigen, in sich selbst unterschieden ist. Die offene Säulenhalle des Tempels umschließt die Gestalten des Gottes, die in dieser Verbergung gerade hinausstehen. Daß der Gott überhaupt eine Gestalt hat, kann nur so verstanden werden, daß das gleichermaßen Verbergende und Eröffnende des Tempels dem Gott Gestalt gibt. Der Tempel ist demgemäß, wie der Wortsinn des lateinischen templum bedeutet, ein heiliger Bezirk. Dieser Bezirk findet darüber seine „Ausbreitung“, daß er sich ausgrenzt. Der Tempel ist die im Kreis gezogene Grenze, die das Gewöhnliche vom Heiligen dadurch unterscheidet, daß dieses von jenem nicht abgelöst ist. Heidegger ergänzt entsprechend: „Der Tempel und sein Bezirk verschweben aber nicht in das Unbestimmte. Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen. Die waltende Weite dieser offenen Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes. Aus ihr und in ihr kommt es erst auf sich selbst zum Vollbringen seiner Bestimmung zurück“ (KW, 27 f. [31]). Anfang und Ende des Lebens („Geburt und Tod“), Schicksalsschläge („Unheil und Segen“), Ruhm und Entehrung („Sieg und Schmach“) sowie die mögliche Einsicht in die Zeitlichkeit des Daseins („Ausharren und Verfall“) werden gleichermaßen durch das „Tempelwerk“ gefügt. Auf diese Weise steht dieser heilige Bezirk der Welt nicht einfach gegenüber, sondern er umfaßt die Welt in sich. Was ihn auszeichnet, ist, daß er den Polaritäten und Koordinaten der Welt überhaupt eine Gestalt gibt, indem er diese in sich bündelt und als „offene Bezüge“ vernehmbar macht. Der Tempel ist also nur insofern einfach, als er eine Differenz bildet, die das Gegenläufige und Ungleiche in sich sammelt und dergestalt dem Volke seine Geschichte und Bestimmung offenbart. Der Tempel erweist sich folglich in zweifacher Hinsicht als eine ‚Urszene‘. Zum einen, weil er, wie es heißt, einem „geschichtlichen Volke“ die Welt formt, ja diese erst gibt, so daß es durch ihn sein „Geschick“ erfährt. Während Heidegger in Sein und Zeit von „Mitteilung und Kampf“ (SuZ, 384) als den Transformatoren spricht, die das Geschick freisetzen, nimmt nun im Kunstwerkaufsatz der Tempel jene übergeordnete ‚heldenhafte‘ Instanz ein (s. o. S. 105), die der Gemeinschaft einen sie bindenden Entwurf gibt. Zum anderen ist der Tempel aber auch Urszene bezüglich des Kunstwerkaufsatzes selbst, weil das von Heidegger gestaltete Bild vom Tempel im zerklüfteten Felsental fortan der zentrale Bezugspunkt für den weiteren Argumentationsgang ist. Das „Tempelwerk“ wird zum Werk par excellence erhoben. An ihm zeigt sich, wie für Heidegger eine Kunst sein muß, damit sie das Prädikat Werk erhalten

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könne. Denn sie ist dann ein Werk, wenn sie jene weitreichende Geltung hat, die der Denker dem intakten, von den Göttern nicht verlassene Tempel zuspricht. Wie sehr dieser das Paradigma verkörpert, das die oben angedeutete Aporie umgeht, wonach es in der Folge von „Weltentzug und Weltzerfall“ keine Werke mehr geben könne (vgl. KW 26 [30]), verdeutlicht Heidegger in den folgenden Sätzen, die auch einen Zusammenhang herstellen zwischen der Bedeutung des Tempels und der hier nur als Möglichkeit gedachten Flucht der Götter: „Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst. Diese Sicht bleibt so lange offen, als das Werk ein Werk ist, so lange als der Gott nicht aus ihm geflohen. So steht es auch mit dem Bildwerk des Gottes, das ihm der Sieger im Kampfspiel weiht. Es ist kein Abbild, damit man an ihm leichter zur Kenntnis nehme, wie der Gott aussieht, aber es ist ein Werk, das den Gott selbst anwesen läßt und so der Gott selbst ist. Dasselbe gilt vom Sprachwerk. In der Tragödie wird nichts auf- und vorgeführt, sondern der Kampf der neuen Götter gegen die alten wird gekämpft. Indem das Sprachwerk im Sagen des Volkes aufsteht, redet es nicht über diesen Kampf, sondern verwandelt das Sagen des Volkes dahin, daß jetzt jedes wesentliche Wort diesen Kampf führt und zur Entscheidung stellt, was heilig ist und was unheilig, was groß und was klein, was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und was Knecht (vgl. Heraklit, Fragm. 53).“274 Erst das „Dastehen“ des Tempels eröffne dem Menschen „die Aussicht auf sich selbst“. Heidegger betont schon im vorangegangenen Absatz, daß erst durch das Tempelwerk der Mensch und seine Welt zu dem werden, was sie sind, daß also der Tempel nicht einfach additional zum bereits „Anwesenden hinzukommt“ (KW, 28 f. [32].) Weil der Tempel es ermögliche, den Blick umzukehren (vgl. ebd.), sei der Mensch durch ihn überhaupt in der Lage, auf sich und die Dinge zu schauen. Dieses Vermögen habe das Werk generell dann, wenn es nicht nur etwas zur Anschauung stellt, sondern wenn es idealiter das „Sagen des Volkes“ verwandelt. Die Abfolge der von Heidegger gewählten Beispiele, die zwischen dem Tempel, dem Bildwerk, der Dichtung und der Sage des Volkes und damit der Sprache überhaupt eine gemeinsame Linie zieht, rechtfertige sich, wie er dann später erläutert, dadurch, daß „[a]lle Kunst […] im Wesen Dichtung“ sei (KW, 59 [59]). Der im dichterischen Werk ausgetragene „Kampf der neuen Götter gegen die alten“, zwinge das Volk sich zu entscheiden, wie die Welt sei, die es durch das Werk empfange. Dieser Kampf entscheide folglich auch darüber, ob die Götter fliehen oder nicht. Damit sie 274

KW, 29 [32], an dieser Stelle macht Heidegger den Bezug zu Heraklit explizit; vgl. Heraklits Fragment: „Der Kampf ist der Vater von allem, der König von allem; die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“, Fragment 53, in: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, 135.

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nicht fliehen, muß das Werk als ein heiliger Bezirk gewahrt bleiben. Als Bündel- und Sammelpunkt aller Bezüge ist das Werk dann qualitativ mehr als die auf es Bezogenen. So bleibt denn auch die Möglichkeit, sich entscheiden zu können, „was heilig ist und was unheilig“ et cetera, von der Voraussetzung bedingt, daß etwas als unverfügbar anerkannt wird, auf dem die Entscheidung gründet. Darum bleibt das Werk immer auch „ein Nichtbewältigtes, Verborgenes, Beirrendes“ (KW, 42 [44]). Der Tempel ist also als die anfängliche Eröffnung zu verstehen, die so lange währt, als der Kampf fortführend bestritten wird. Er ist genaugenommen selbst der entfachende Streit. Heidegger nennt ihn darum auch den Streit zwischen „Welt und Erde“ (dem der Streit zwischen Verstehen und Befinden entspricht), sofern der Streit nicht bloß als zerstörerischer „Hader“, sondern als die „Selbstbehauptung“ des Wesens der Streitenden verstanden wird (vgl. KW, 35 [37 f.]). Die sich an den Tempel anschließenden Überlegungen Heideggers demonstrieren bündig, wie das Wesen der Wahrheit zu verstehen sei und warum der Denker eine Nähe zu jener Kunst sucht, die es einer geschichtlichen Gemeinschaft ermöglichen soll, sich als solche zu konstituieren. Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, daß Heidegger einerseits nachzuweisen versucht, warum es diese Gemeinschaft zur Zeit nicht gibt, er aber andererseits über das Paradebeispiel eines Werkes einen Weg aufzeigen will, diesen Mangel so zu überwinden, daß zugleich das Wesen der Wahrheit und damit der Denker selbst ins Zentrum des (geschichtlichen) Geschehens rücken. Dieses Programm ist der Subtext des Kunstwerkaufsatz. Der Tempel aber kann in diesem Programm nicht mehr als eine Idealvorstellung sein, sind doch die Götter lange schon aus ihm entflohen. Würde der Tempel noch in der Weise stehen, wie Heidegger ihn ausmalt und erläutert, dann könnte man wohl weitergehend davon sprechen, daß in ihm der „Streit“ zwischen Erde und Welt ausgetragen wird. Der Tempel wäre unter dieser Bedingung das vorübergehende Sichtbarmachen der sich verschließenden „Erde“ durch das Aufstellen einer „Welt“, die einem „geschichtlichen Menschentum“ „Maß und Entschiedenheit“ gäbe (vgl. KW, 50 [51]). Und er könnte dann der „Riß“ sein, der nicht einfach das Verborgene („Erde“) von der offenbaren Lichtung („Welt“) scheidet, sondern der darüber hinaus „die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden“ vollziehen würde, indem er die „Gegenwendigen“ im Werk zusammenreißt (vgl. KW, 51 [51]). Daß der Tempel in dieser Form jedoch lange schon nicht mehr steht, läßt Heideggers Darstellung zuweilen vergessen, kommt es ihm doch besonders auf das Gegenwendige von Verbergendem und Offenbarendem an, weil diese Gegenwendigkeit kennzeichnend für die besondere Affinität sei, welche die Wahrheit zur Kunst habe. Denn sowohl die Kunst als auch die Wahrheit trachten gleichermaßen danach, sowohl zu erscheinen als auch im Erscheinen sich verborgen zu halten. Dem kongruent faßt Heidegger die Wahrheit vom

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griechischen Wort λθεια her als „Unverborgenheit“ auf (KW, 21 [25]). In dieser Bestimmung ist die (Un-)Möglichkeit der Darstellbarkeit der Wahrheit als ein ihr wesentlich zugehöriger Streit mitgedacht. Im Gegensatz zu dem Wahrheitsbegriff, wonach jene Aussage wahr ist, die mit ihrem Satzgegenstand adäquat übereinstimmt, denkt Heidegger das Erscheinen der Wahrheit so, daß „der Herkunftsbereich des Noch-nicht(des Un-)Entborgenen im Sinne der Verbergung“ (KW, 48 [49]) von ihr nicht abzulösen sei. Aussagen können danach wohl falsch oder richtig sein, wahr aber seien jene Sätze, die jenes zu erkennen geben, was erst noch in Erscheinung gebracht werden will. Dieses „Noch-nicht“, das sich verborgen hält und durch bloß richtige Satzaussagen ignoriert bleibt, wird allerdings allein dann sichtbar, wenn sich die Wahrheit in einem anderen anders gibt, als sie ist, und sich also im griechischen Wortsinn ‚allegorisch‘ zu erkennen gibt.275 Sie muß so hervortreten können, daß sie sich, wie Heidegger sich ausdrückt, als Un-Entborgenene in die Unverborgenheit bringen kann. Ihr Erscheinen ist darum immer auch ein „Verbergen“, von dem nicht mit Sicherheit auszumachen ist, ob dieses sich ‚versagt‘ oder ‚verstellt‘. Das Erscheinen der Wahrheit gibt folglich Anlaß, daß man sich an ihr täuscht (vgl. KW, 40 f. [42 f.]). Darum bezeichnet Heidegger das Wesen der Wahrheit auch als „Un-Wahrheit“.276 Aus diesen Überlegungen, die von Seiten des Denkers der Kunst den höchsten Rang beimessen und die zugleich eine Nähe zu dem Ansatz haben, von dem her oben die Gedichte Celans gelesen wurden, leitet Heidegger nun aber eine fragwürdige Lizenz ab: Denn weil die Kunst nicht einfach abbilde, sondern darauf warte, daß ihr Unverborgenes ent-deckt wird, und weil die Kunst darüber hinaus ein „Stoß“ sei, der alles „geheuer Scheinende“ umstoße (KW, 54 [54]), sei sie nicht nur das Geschehnis, in dem sich die Wahrheit ins Werk setzt, sondern sie sei darum auch der mögliche Anfang für „unser geschichtliche[s] Dasein“ (66 [65]). Heidegger hält also auch im Kunstwerkaufsatz am geschichtlichen ‚Wir‘ fest. Wobei er Geschichte als „die Entrückung eines 275

Es ist hier darauf hinzuweisen, daß Heidegger selbst die Kunst in diesem Sinne nicht allegorisch nennen würde. Heidegger erwähnt die „Allegorie“ und das „Symbol“ nur in einer Nebenbemerkung, vgl. KW, 4 [9 f.]. In diesem Zusammenhang weist er – gegen die allgemeinhin verbreiteten „Rahmenvorstellungen“ der Kunsttheorie, die auf einem bestimmten Allegorie- und Symbolbegriff basieren – den Gedanken zurück, daß das Kunstwerk wie ein „Unterbau“ betrachtet wird, „darein und darüber das Andere und Eigentliche gebaut“ seien (ebd.). Einem solchen statischen Allegoriebegriff ist denn auch ein anderer entgegenzuhalten, wonach das Andere, das Noch-nicht-Entborgene, in und mit der Kunst nur geschieht, sofern das Werk als das gelesen wird, was nicht Kraft von Konventionen entziffert wird, sondern im Akt des Lesens je von neuem sein Anderssein gewahr werden läßt, vgl. oben Kap. Autopsychographie. 276 KW, 41 [43] u. 48 [49]); vgl. auch: „das ‚Un-‘ des anfänglichen Un-wesens der Wahrheit als der Un-wahrheit [deutet] in den noch nicht erfahrenen Bereich der Wahrheit des Seins (nicht erst des Seienden)“, Heidegger: Wesen der Wahrheit (Anm. 240), 194.

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Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes“ versteht.277 Und eben diese „Entrückung“ würden die Werke der Kunst als Stoß befördern. „Die Kunst ist geschichtlich und ist als geschichtliche die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk. Die Kunst geschieht als Dichtung. Diese ist Stiftung in dem dreifachen Sinne der Schenkung, Gründung und des Anfanges“ (KW, 65 [64]). Heidegger spitzt seine generellen Überlegungen, die nach dem Wesen der Kunst, dem Wesen der Wahrheit und daraufhin nach dem Wesen der Dichtung fragen, so zu, daß sie gleichsam im Schlußwort von Hölderlins Hymne Andenken – „Was bleibet aber, stiften die Dichter“278 – kulminieren, ohne daß dieser Vers selbst im Kunstwerkaufsatz erwähnt wird. Danach setzt sich die Wahrheit nur deshalb in der Kunst ins Werk, um sich auf diesem Wege ‚schenken‘ zu können, so daß Geschichte im Sinne Heideggers ‚anfangen‘ könne. Worauf es dann ankomme, sei, daß diese Geschichte gebende Gabe der Kunst auch angenommen werde. So wesentlich zu einem Werk gehört, daß es geschaffen ist, so gehört zum Werk ebenso, daß es bewahrt wird. Denn „das Geschaffene“ wird erst, wie Heidegger hervorhebt, durch „die Bewahrenden seiend“ (KW, 54 [54]). So wie die Bewahrenden nicht ohne das Werk sind, so gilt auch andersherum, daß das Werk selbst dann noch auf jene bezogen ist, „wenn es auf die Bewahrenden erst nur wartet und deren Einkehr in seine Wahrheit erwirbt und erharrt. Sogar die Vergessenheit, in die das Werk fallen kann, ist nicht nichts; sie ist noch ein Bewahren“ (KW, 54[55]). Hieraus gewinnt Heidegger schließlich seine Legitimation als Denker, der das Werk allererst ‚schafft‘, indem er es bewahrt. Und selbst dann, wenn das Werk gänzlich vergessen sei, sorge es selbst noch dafür, daß es von neuem ankommen könne, solange nur einer ist, der dieses Vergessen als solches zu bedenken wisse. Denn das Werk geschieht dann, und damit die Ankunft des Gottes, wenn die Bewahrenden ihren „Standort“ (KW, 66 [65]) gefunden haben. Das philosophische Besinnen bezüglich der Kunst läuft schließlich auf die politischen Fragen zu, „ob die Kunst in unserem geschichtlichen Dasein ein Ursprung ist oder nicht, ob und unter welchen Bedingungen sie es sein kann und sein muß“ (ebd.). Heidegger zieht hieraus den Schluß, „das Werden der Kunst“ vorzubereiten (ebd.), so daß sie wieder einen geschichtlichen Anfang stiften könne. Am Tempel führt Heidegger exemplarisch vor, welche Funktion das Werk bei den Griechen einst einnahm. Getragen ist seine Darstellung von der 277

KW, 65 [64]. Celan hat an dieser Stelle wohl weniger deshalb ein Fragezeichen in seinem Buch angebracht, weil das Aufgegebene und Mitgegebene genauer spezifiziert werden müßte – Celan selbst spricht ja anläßlich einer Umfrage der Librairie Flinker (1958) von dem „Bereich des Gegebenen und des Möglichen“, den seine Dichtung „auszumessen“ versucht (III, 167) –, als darum, weil Heidegger bezüglich der Kunst in unzulässiger Weise die Ent- und Einrückung eines ganzen Volkes in Anschlag bringt. 278 StA II, 189; vgl. auch oben Anm. 141.

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Hoffnung, daß diese Möglichkeit „in unserem geschichtlichen Dasein“ wiedergewonnen werde. Der Tempel fungiert bei Heidegger damit als die Mitte, die den Philosophen gleichermaßen mit den (kommenden) Göttern, dem Wesen der Wahrheit und der Geschichte des Volkes in Beziehung setzt. In dieser Perspektive geht vom Tempel also doch, anders als die GermanienVorlesung konstatiert, alle Wandlung aus. Indem der Denker ihn restituiert, erhält er indirekt von ihm seine Bestimmung.

5. Nach 1945 – Wozu Dichter? Im Kunstwerkaufsatz ist der Tempel das positive Beispiel dafür, wie der heilige Bezirk der Kunst durch sie selbst erstritten wird. Dieser Streit wird von Heidegger als Riß und als Stoß bezeichnet, um zu verdeutlichen, daß die Kunst wesentlich einen Sprung (im Sinne eines Risses) im Gewöhnlichen markiert, der als Differenzlinie einen Sprung (im Sinne eines Anfangs) in der Geschichte stiften kann. Hier schließt dann Heideggers Vorlesung zu Hölderlins Hymne Andenken an. Etwas im Andenken zu halten, ist im weitesten Sinne ein erinnerndes Bezugnehmen auf Gewesenes und darin ein Bewahren. Daß sich das Andenken auch auf Zukünftiges beziehen kann, betont Heideggers Lektüre – darauf wird noch einzugehen sein. Der andenkende Rück- oder auch Vorbezug ist dann gesucht, wenn Wertgeschätztes abwesend ist. Insbesondere aber dann wird das Andenken notwendig und erhält einen gesellschaftlich-geschichtlichen Rang, wenn etwas stattgefunden hat, das sämtliche bis dahin gültigen Wert- und Ordnungsvorstellungen verunsichert und diese als wehr- oder gar wertlos entstellt hat. Einer Zäsur von dieser Dimension entgegenzuwirken und die zerrütteten und zerstörten Bezüge neu zu knüpfen, ist eine der Aufgaben des Andenkens. Entscheidend ist aber, daß der Einschnitt eines historischen Ereignisses dem Andenken nicht einfach im Wege steht und den Zugang zwischen dem Jetzigen und dem Einstigen beziehungsweise dem Künftigen erschwert, sondern daß eine derartige Zäsur das, woran überhaupt gedacht werden kann, grundlegend determiniert. Das Andenken gilt darum nie einfach dem Verlorenen oder Kommenden, sondern muß – paradox genug – immer auch der Zäsur selbst gelten. Deutschlands Krieg gegen Europa 1939–1945 und vor allem die schließlich planmäßig durchgeführte Verfolgung und Vernichtung der Juden, die sich zwischen Gurs und Narwa, sowie zwischen Bergen und Athen zutrug,279 ist

279

Vgl. Martin Gilbert: Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein Atlas, Reinbek bei Hamburg 1982, 4.

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die Zäsur280 in der deutsch-europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das gilt insbesondere für das jüdische Zeitbewußtsein. Auch bei Heidegger, der sich just in der Zeit mit Hölderlins Hymnen Andenken und Der Ister befaßte, als im März 1942 die ersten Deportationszüge · und Auschwitz rollten, machen aus der Slowakei und Frankreich nach Belzec sich diese Ereignisse im Nachhinein in seinen Texten bemerkbar.281 Zweifellos im Wissen durch die (Film-)Berichte aus und von den Vernichtungslagern trägt er 1946 anläßlich des „Andenkens an R. M. Rilkes zwanzigsten Todestag“ seinen Aufsatz Wozu Dichter? vor, der zunächst auf Hölderlin eingeht.282 Insbesondere auf den ersten fünf Seiten dieses Essays gibt Heidegger eine geschichtsphilosophische Diagnose, die ganz von Hölderlin her gedacht ist. Kennzeichnend für Heideggers Denken nach 1945 ist, daß die Koordinaten, in denen er nun denkt, sich gleichermaßen ausdehnen und verengen, so daß sein Hauptaugenmerk nicht mehr auf dem deutschen Dasein liegt. Die Kategorie des Volkes ist für Heidegger nach 1945 offensichtlich nicht mehr opportun. Statt dessen konzentriert er sich (wieder) auf den Menschen in seiner Endlichkeit, den er mit Hölderlin als den Sterblichen bestimmt. Andererseits erweitert Heidegger die Dimensionen, indem er nicht mehr von Deutschland in Europa, sondern global vom „Weltalter“ und „Weltaugenblick“, von der „Weltgeschichte“, von der „Weltmeinung und vom „Weltmarkt“ spricht.283 Mit dem „Weltalter“ schlägt er ausdrücklich einen Bezug zu jener lang zurückliegenden Zäsur, die in Hölderlins Worten „Gottes Fehl“284 bewirkt hat: „Seitdem die ‚einigen drei‘, Herakles, Dionysos und Christus, die Welt verlassen haben, neigt sich der Abend der Weltzeit ihrer Nacht zu. Die Weltnacht bereitet ihre Finsternis aus“ (WD, 269 [248]). Nicht die Ereignisse der jüngsten Verwerfung (I, 203), wie Celan schreibt, sondern der „Opfertod Christi“ (WD, 269 [248]) ist für Heidegger die letzte das Weltalter bestimmende 280

Der Streit darum, in welchem Maße dies auch noch nach den historischen Ereignissen im Jahre 1989 gilt, das inzwischen als Datum einer neuen Normalität (vgl. zuletzt die Debatte um Martin Walsers Sonntagsrede zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998) verstanden wird, wird gerade auch in der Literaturwissenschaft ausgetragen, vgl. Vf.: „Herbeigezerrt, stirbt ein kurzer Verdacht.“ Durs Grünbein und ‚die deutschen Dinge‘ nach 1989, in: Gideon Stiening (Hg.): Verstockte Sünder. Selbstreflexionen literarischer Autorschaft in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, 7–33. [i. E.] 281 Vgl. Heidegger: Hölderlins Hymne „Andenken“ (Winter 1941/42), GA, Bd. 52, Frankfurt a. M. 1982; ders.: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (GA 53) (Sommer 1942), GA, Bd. 53, Frankfurt a. M. 1984; sowie Heideggers erste Veröffentlichung seines Textes „Andenken“, in: Paul Kluckhohn (Hg.): Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100. Todestag. 7. Juni 1943, Tübingen 1943. 282 In: Heidegger: Holzwege (Anm. 125). 283 Vgl. u. a. WD, 269 f. [248], 277 [256], 290 [267], 292 [270]. 284 StA II, 48; vgl. oben Anm. 261.

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Zäsur. Die Finsternis der Weltnacht besteht darin, „daß kein Gott mehr sichtbar“ ist, der „die Menschen und die Dinge auf sich versammelt“ und dergestalt die „Weltgeschichte“ fügt (vgl. ebd.). Die Welt ist aus den Fugen, weil es keine geistige Macht gibt, die sie bindet. Heidegger sieht sich eben darum mit Hölderlin weiterhin der Aufgabe verpflichtet, ein Denken (und eine Sprache) zu finden, das eine „Wende“ der „dürftigen Zeit“ vorbereiten könnte (WD, 270 [248 f.]). Allerdings erkennt auch Heidegger, daß die „Weltzeit jetzt“ (1946) finsterer denn je zuvor ist: „Vielleicht geht die Weltnacht jetzt auf ihre Mitte zu. Vielleicht wird die Weltzeit jetzt vollständig zu der dürftigen Zeit. Vielleicht aber auch nicht, noch nicht, immer noch nicht, trotz der unermeßlichen Not, trotz aller Leiden, trotz des namenlosen Leidens, trotz der fortwuchernden Friedlosigkeit, trotz der steigenden Verwirrung.“285 Trotz des fünfmal Umschriebenen, das die Dringlichkeit emphatisch und hilflos zugleich unterstreicht, ist die „Mitte“ „immer noch nicht“ erreicht, auf die Heidegger sein Denken nach wie vor orientiert. Die Mitte der Weltnacht wäre die „Mitternacht“ (WD, 270 [249]) – gewissermaßen die erlösende ‚Stunde Null‘ – von der her das Geschick gewendet werden könnte. Doch „immer noch“ ist es „nicht“ so weit. Denn das „namenlose Leiden“ allein reicht nicht hin, den Wendepunkt zu erlangen, weil die „Not“ und „Friedlosigkeit“ nur die „Verwirrung“ noch steigert. Vonnöten aber wäre, daß die Menschen ihr Wesen erkennen und daß sie begreifen, was es heißt, daß der Gott ausbleibt. Gesagt ist nach Heidegger beides durch Hölderlin, der wie „wir“ dem selben „Weltalter“ angehört (vgl. WD, 269 [248]), wenn heute auch – und hier deutet Heidegger einen graduellen Unterschied zu Hölderlins Erfahrung an – nicht einmal mehr das Dürftige der Zeit erkannt wird, das im Fehl Gottes liegt, weil die „Durft nicht mehr erfahren“ und „nur noch als der Bedarf erscheint, der gedeckt sein will“ (vgl. WD, 270 f. [249]). Von Hölderlin aber wäre weiterhin zu lernen, was das Wesen der Sterblichen sei. Heidegger zitiert aus dem Entwurf Mnemosyne:286 […] Nicht vermögen Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen Die Sterblichen eh’ in den Abgrund. Also wendet es sich Mit diesen. Lang ist Die Zeit, es ereignet sich aber Das Wahre.

Die Welt hat durch den Fehl Gottes keinen festen Grund. Sie hängt in der Luft, sie „hängt im Abgrund“ (WD, 270 [248]). Eine Wende wäre dann mög285

WD, 271 [249 f.], Hervorh. von mir. Hölderlin: Mnemosyne, zit. n. WD, 270 [249], vgl. StA II, 193. In StA abweichend: „es reichen / Die Sterblichen eh’ an den Abgrund.“ 286

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lich, wenn sich die Welt von Grund auf wendet, das heißt, wenn es Sterbliche gäbe, die in den Abgrund hineinreichen, so daß dieser „erfahren und ausgestanden“ würde (WD, 270 [249]). Es ist demnach das Wesen der Sterblichen und ihre Aufgabe in oder doch mindestens an den Abgrund heranzureichen, damit sich hierdurch Wahres ereignet und den Göttern ein neuer „Aufenthalt“ (ebd.) ermöglicht wird. Nur der sei in seinem Wesen, wer bereit sei, diesen ungegründeten Ort, diesen Nicht-Ort aufzusuchen. Hölderlin nennt den „Abgrund“ an anderer Stelle den „allesmerkenden“.287 Damit ist nach Heideggers Auslegung gesagt, daß im Abgrund die „Spuren der entflohenen Götter“ vermerkt sind (WD, 271 [250]). Wenn sich also einer in den Abgrund begibt, könnte sich dann Wahres ereignen, wenn die Spur zu den abwesenden Göttern aufgenommen würde. Zu fragen aber ist, wie einer der Sterblichen in oder an den Abgrund gelangen kann? Heidegger sagt, daß von allen Sterblichen die Dichter am ehesten an den Abgrund gelangen, sofern ihnen ihr „Dichtertum“ „aus dem Dürftigen der Zeit […] zur dichterischen Frage“ geworden ist (WD, 272 [251]). Sofern sie angesichts der Not der Zeit „das Wesen der Dichtung eigens dichten“ (ebd.), reichen sie an den Abgrund, der das Weltalter bestimmt. So wäre zu schließen, daß erst die transzendentale Rückbesinnung auf die Grundlagen der Dichtung die Zeit und ihre Not offenbart. Die Not der Zeit und das Wesen der Dichtung bedingen sich demzufolge dahingehend reziprok, als sich jene Not dann gänzlich der Darstellung entzieht, wenn nicht die Bedingungen der Darstellbarkeit selbst und das je neu zu bestimmende Wesen der Dichtung als Problem erkannt sind. Wobei die Darstellungsproblematik mitnichten jenseits der Zeit zu veranschlagen ist, wenn sie auch immer schon das Denken und die Literatur beschäftigt hat. Darum sagt Heidegger, daß da, wo das Wesen der Dichtung eigens gedichtet wird, „ein Dichtertum zu vermuten [ist], das sich in das Geschick des Weltalters schickt. Wir anderen müssen auf das Sagen dieser Dichter hören lernen, gesetzt, daß wir uns nicht an der Zeit, die das Sein verbirgt, weil sie es birgt, dadurch vorbeitäuschen, daß wir die Zeit nur aus dem Seienden errechnen, indem wir dieses zergliedern“ (ebd.). Hölderlin ist für Heidegger Dichter in diesem zeitbezogenen Sinne. Wobei zu beachten ist, daß nach Heidegger die Zeit nicht „aus dem Seienden [zu] errechnen“ sei, sondern daß sie kennzeichne, das verborgene Sein zu bergen. Der Zeitbezug einer Dichtung ist hiernach also wesentlich der Bezug zum sich entziehenden Sein. In diesem Sinne versteht Heidegger Hölderlins Frage, „wozu Dichter in dürftige Zeit?“,288 denn auch nicht als Anzeichen einer transzendentalen Reflexionsbewegung, daß nämlich eine Dichtung dadurch an den Abgrund der dürftigen Zeit gelangt, daß sie die Möglichkeiten zu er287 288

Hölderlin: Die Titanen, StA II, 219. Hölderlin: Brod und Wein, erste Fassung, StA II, 94.

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schließen versucht, was überhaupt über ihre Bedingungen gesagt werden kann, sondern nach Heidegger ist erst dann „das Wesen der Dichtung eigens gedichtet“, wenn diese sagt, was ihre und des Lesers Aufgabe sei. Darum betont er auch im anderen Zusammenhang, daß das Sagen der von ihm gemeinten Dichter „sich eigens in die Sage einläßt, ohne doch über die Sprache zu reflektieren, wodurch auch diese noch zu einem Gegenstand würde“ (WD 316 [291]). Denn die Reflexion auf die Sprache an sich hätte schließlich vom Darzustellenden abzusehen, wodurch verfehlt würde, was für Heidegger gerade das Sagen ausmacht. Das theoretische Dilemma, daß nämlich erst das Sagenkönnen transzendental bestimmt werden müßte, damit eine Dichtung in der Lage wäre, überhaupt etwas sagen zu können, gilt für Heidegger in dieser aporetischen Form nicht, auch wenn das Sagen der Dichtung als „Reinentsprungenes“ rätselhaft ist.289 An dies kaum Gesagte versucht er gleichwohl so anknüpfen, als ob es gesagt sei. Denn wer dieses Sagen erst reflexiv ergründen und dergestalt als Räthsel enthüllen wollte, hätte selbst kaum noch etwas zu sagen. Heidegger begreift die Hymne Germanien und im speziellen die Verse der Elegie Brod und Wein, die vom Weingott sagen, daß dieser „die Spur der entflohenen Götter / Götterlosen hinab unter das Finstere bringt“,290 als Winke, die „zur Wende“ „spuren“ (WD, 272 [250]). Dabei zielt er wie bereits im Kunstwerkaufsatz und in seinem Text zur Hymne „Wie wenn am Feiertage…“291 auf das „Heilige“, das das Element des Äthers sei, „worin selbst die Gottheit noch west“ (WD, 272 [250]). Das Heilige ist in dieser Bestimmung das, was den entflohenen Göttern den Aufenthalt für eine mögliche „Ankunft“ geben könnte. Es ist darum „die Spur der entflohenen Götter“ (ebd.). Wo aber ist das Heilige zu verorten, wer sagt es und wie kann es vernommen werden? Denn noch immer nicht hat die „Weltnacht“ ihre „Mitte“ erreicht. In der Mitte aber stand einst der Tempel, der jenen heiligen Bezirk umgrenzte, in dem die Götter und die Welt ihre Gestalt erhielten. Fragt man also, was Heidegger nach 1945 (noch) als den heiligen Bezirk versteht, dann zeigt sich, in welcher Hinsicht er sein Denken gleichermaßen global ausdehnt und ins Unsichtbare zurückzieht, um schließlich mit Hilfe von Rainer Maria Rilkes „Weltinnenraum“ (zit. n. WD, 306 [283]) wieder zur „Spur des Heiligen“ (WD, 319 [294]) vorzudringen.

289

Vgl. Hölderlins Verse aus der Hymne Der Rhein: „Ein Räthsel ist Reinentsprungenes. Auch / Der Gesang kaum darf es enthüllen.“, StA II, 143. Mit diesem kaum gibt Hölderlin zu bedenken, was der Gesang müßte, aber nicht vermag. Celan wird genau an der Frage – die Heidegger (sich) nicht stellt –, was die Dichtung überhaupt sagen kann, bei Hölderlin nachfragen, s.u. zum Gedicht Tübingen, Jänner (I, 226) Kap. Hölderlintürme. 290 Hölderlin: Brod und Wein, StA II, 94. 291 Heidegger: „Wie wenn am Feiertage …“ (1939–41), in: EHD, 49–77.

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Obwohl Heidegger gegen Ende seiner Ausführungen per Zitat der einschlägigen Leitworte eine Verbindung zwischen Rilkes „Wagenderen […] im Heil-losen“ und Hölderlins „Spur der entflohenen Götter“ herstellt (vgl. ebd.), hat Rilke nicht den Rang, den Hölderlins Dichtung für Heidegger hat. Denn Rilke bleibt trotz seines Wunsches, das menschliche Wollen in der Weise des Sichdurchsetzens des technischen Vorstellens in ein anderes Wollen umzukehren, wodurch die Dinge der Welt in den unsichtbaren „Weltinnenraum“ (Rilke) gerettet würden, mit dieser Opposition selbst noch der Logik der Metaphysik verhaftet, die nach Heidegger gerade das Wesen der Technik bestimmt. Gleichwohl bezieht sich Heidegger auf Rilke, weil mit ihm das Dürftige unserer Zeit und damit das kaum vernommene Wesen der Technik näher bestimmt werden könne. Dies sei dann möglich, wenn man „vordenkender“ noch sei als die Kritik, welche die „Rilkesche Besinnung“ vornimmt (vgl. WD, 291 [269]). Dann nämlich könne sich ein „Wink in die Bereiche“ ergeben, „aus denen vielleicht eine ursprünglicher bildende Überwindung des Technischen kommen könnte.“ (WD, 290 [268]). Bemerkenswert aber ist, daß Heidegger trotz seiner angezeigten Differenz zu dem Dichter in seinem Rilkereferat gerade jene Leitworte hervorhebt, die an seine eigenen anknüpfen. Dadurch wird zuweilen der Abstand zwischen den beiden unscharf. Zu nennen ist hier insbesondere Heideggers Bezug auf Rilkes „unerhörte Mitte“,292 die das Seiende als solches im Ganzen einsehen lassen soll. Des weiteren ist das an Rilke erörterte Sprachverständnis zu nennen, wo Heidegger vordringlich seine eigene Position zu erkennen gibt. Schließlich ist auch die Auseinandersetzung, die zu der Frage führt, was dem sich durchsetzenden Wollen zu entgegnen sei, dem alles Seiende einschließlich des Menschen Material und bloß zu verrechnendes Mittel zum Zweck sei, Heideggers eigenes Anliegen. Um vor allem aber prüfen zu können, welchen Stellenwert Heidegger dem Tempel auch nach 1945 noch gibt und in welcher Form dieser als Paradigma Gültigkeit behält, soll nun auf eine Passage eingegangen werden, die verdeutlicht, wie nach Rilke das waltende Seinsverständnis grundlegend umzukehren wäre. Zu der anvisierten Alternative ist vorweg allerdings anzumerken, daß Heidegger unter seine Kritik am sich durchsetzenden, technisch-rechnenden Vorstellen des neuzeitlichen Subjekts – an dem sich das verborgene Wesen der Technik offenbare, das die Menschheit in ihrem Wesen bedrohe (vgl. WD,

292

Zit. n. WD, 282 [260] passim; vgl. Rilke: Die Sonette an Orpheus (1922), II. Teil, XXVIII, in: ders.: Die Gedichte, nach der von Ernst Zinn besorgten Ausgabe der Sämtlichen Werke, Frankfurt a. M. 1957, 714. Heidegger geht in seiner Rilke-Lektüre auffälligerweise besonders auf jene Stellen ein, in denen Rilke von der Mitte spricht. So auch auf das Gedicht Schwerkraft, das beginnt: „Mitte, wie du aus allen / dich ziehst, auch noch aus Fliegenden dich / wiedergewinnst, Mitte, du Stärkste.“, Rilke: Die Gedichte, 965.

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

133

289 ff. [267 ff.]) – seine ‚Auseinandersetzung‘ mit dem Nationalsozialismus subsumiert. In dieser reduzierten Sicht erscheinen ihm bekanntlich die „moderne Wissenschaft“ und der „totale Staat“ (WD, 290 [267]) sowie die „motorisierte Ernährungsindustrie“ und „die Fabrikation von Leichen in Gaskammern“ „im Wesen der Sache“ als „das Selbe“.293 Angesichts dieser von Heidegger behaupteten Selbigkeit, die die Unterscheidung zwischen dem Wesen der Technik und der Frage nach „Auschwitz“ schlicht ignoriert,294 ja diese Differenz gar nicht erst als Problem akzeptiert, bleibt zu klären, wie weit die andere Unterscheidung überhaupt trägt, die Heidegger mit Rilke zwischen den sich durchsetzenden und den wagenderen Menschen, die die Sprache wagen, macht. „Das Sein durchmißt als es selbst seinen Bezirk, der dadurch bezirkt wird (τéµνειν, tempus), daß es im Wort west. Die Sprache ist der Bezirk (templum), d. h. das Haus des Seins. Das Wesen der Sprache erschöpft sich weder im Bedeuten, noch ist sie nur etwas Zeichenhaftes und Ziffernmäßiges. Weil die Sprache das Haus des Seins ist, deshalb gelangen wir so zu Seiendem, daß wir ständig durch dieses Haus gehen. Wenn wir zum Brunnen, wenn wir durch den Wald gehen, gehen wir schon immer durch das Wort ‚Brunnen‘, durch das Wort ‚Wald‘ hindurch, auch wenn wir diese Worte nicht aussprechen und nicht an Sprachliches denken. Vom Tempel des Seins her denkend, können wir vermuten, was diejenigen, die manchmal wagender sind als das Sein des Seienden, wagen. Sie wagen den Bezirk des Seins. Sie wagen die Sprache. Jegliches Seiende, die Gegenstände des Bewußtseins und die Dinge des Herzens, die sich durchsetzenden und die wagenderen Menschen, alle Wesen sind je nach ihrer Weise als seiende im Bezirk der Sprache. Darum ist, wenn irgendwo, allein in diesem Bezirk die Umkehr aus dem Bereich der Gegenstände und ihres Vorstellens in das Innerste des Herzraumes vollziehbar“ (WD, 310 f. [286]). So wie Heidegger vom Kunstwerk sagt, daß es seinen Bezirk selbst erstreitet, so sagt er hier vom Sein, daß „es selbst seinen Bezirk“ als Sprache „bezirkt“. Die Sprache sei darum das Haus, ja der „Tempel des Seins“. Durch die Sprache erhält alles Seiende seine Bindung an das Sein. Darum gilt, daß wer die Sprache wagt und sie nicht nur als etwas „Zeichenhaftes und Ziffernmäßiges“ gebraucht, zu jenem Bezirk gelangen könne, den das Sein selbst „durchmißt“. Weil dieser Bezirk „alle Wesen“ umfaßt, ist, wenn überhaupt und wenn irgendwo, allein hier die „Umkehr“ „in das Innerste des Herzraumes vollziehbar“. 293

Vgl. das vollständige Zitat oben Anm. 8; vgl. ebenfalls: Heidegger: Die Technik und die Kehre (1949), Pfullingen 1962. 294 Vgl. hierzu Lyotard: Heidegger (Anm. 24), 87 u. 98 ff. und Michael E. Zimmerman: Heidegger’s Confrontation with Modernity. Technology, Politics, and Art, Bloomington 1990, 129 ff.

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Das Argument für den von Heidegger pointierten Umkehrpunkt stellt sich erneut in einer chiastischen Inversion dar: Brunnen gehen – gehen Wort ‚Brunnen‘. Zum Brunnen kommt nur, wer durch das Wort ‚Brunnen‘ geht. Denn weil alles noch so Dinghafte nur durch die Sprache begegnet – wobei Heidegger es vermeidet, daß er einer der extremen Positionen des Universalienstreites zugeordnet werden könnte, wonach entweder universale post rem oder aber universale ante rem gilt –, kann nur in der Sprache anderes denn Sprache vernommen werden. Schematisch heißt das: Vor dem Brunnen befindet sich schon immer das Wort ‚Brunnen‘, aber wenn irgendwo, dann erscheint allein durch das Wort ‚Brunnen‘ anderes noch als der Brunnen, nämlich gewissermaßen das ‚Sein des Brunnens im Ganzen‘.295 Diese Denkfigur soll begründen, warum Heidegger nach wie vor vom Tempel her denkt, um zum Sein des Seienden zu gelangen. Weil die Sprache der Tempel des Seins sei, müsse sie gewagt werden, damit das Wort als Wort vernommen und so überhaupt anderes denn das Wort erfahren werden könne. Indem sich Heidegger mit Rilke auf „das Innerste des Herzraumes“ als Raum der Umkehr einläßt, gibt er auch zu erkennen, daß er mit der Dichtung, die die Sprache als Tempel des Seins wagt, nicht mehr wie noch 1934/35 die Hoffnung verbindet, daß es zu einer „großen Erschütterung des geschichtlichen Daseins des Volkes“ käme, so daß dieses seine „geschichtliche Sendung“ „im Ganzen von Grund aus“ übernähme (vgl. GA 39, 99). Was Heidegger nun noch für möglich und geboten hält, ist, daß es Wagemutige gibt, die mit ihrer Sprache (Gesang) „dem ankommenden Weltalter“ entsprechen, so daß dadurch weiterhin das „Geschickliche“ bedacht werden könne (vgl. WD, 319 f. [295]).

295

Nicht zufällig ist es, daß Heidegger an Brunnen und Wald seinen Gedanken über die Bedeutung der Sprache als Tempel des Seins vorführt. Steht doch einerseits der Wald sprichwörtlich für das Ganze (Sein), das vor lauter Bäumen (Seienden) aus dem Blick gerät und andererseits steht der Brunnen für das fortwährend Quellende, das stets bleibt. Eben diese beiden Funktionen hat für Heidegger die Sprache. – Wald und Brunnen stehen im übrigen auch für die deutsche Landschaft, in die der Tempel, der seinem Ursprung im Süden hat, als Hütte Einzug gefunden hat. Sowohl Goethes Der Wandrer (1772) als auch Hölderlins Gedicht mit dem Titel Der Wanderer (1796–1801) sprechen diese Bildsprache. Goethes „Wandrer“ gelangt zu einem idyllischen Ort, in dem aus den „Trümmern“ eines alten „Tempels“ eine bewohnbare „Hütte“ nahe beim „Brunnen“ gebaut worden ist, vgl. ders.: Werke, Hamburger Ausgabe, kommentiert von Erich Trunz, München 161996, Bd. I, 38. Bei Hölderlin gelangt das wandernde „ich“ nach langer Ausfahrt zwischen dem Eis des Nordpols und der Wüste Afrikas endlich wieder in die heimatliche Landschaft der gemäßigten Breiten für die unter anderem der „Wald“ (v. 5, 55, 77), der „Brunnen“ (v. 9), „die immer geschäfftige Mühle“ (v. 59) und das „heilige Grün“ des Grases (v. 41) stehen, vgl. StA II, 80–83. – Zum Zusammenhang von Natur, Brunnen und Hütte vgl. auch Celans Gedicht Todtnauberg, s. u. Kap. Todtnauberg.

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

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D. Zwischenresümee Nach dem soweit Zusammengetragenen kann summarisch gesagt werden, daß Heidegger sein Seins-, Zeit- und Werkverständnis – ungeachtet der angezeigten Modifikationen in seinem Denken zwischen 1930 und 1946 – aus dem von Hölderlin übernommenen Bild des Tempels immer wieder herleitet und entfaltet. Das heißt nicht, daß Heidegger sein Denken erst durch Hölderlins Bild entwickeln konnte. Der griechische Tempel fungiert aber als je neu zu besetzende Leerstelle, die jene gesuchte Mitte eröffnet, an die Heidegger seine zentralen Kategorien knüpft, als da wären: die entflohenen Götter als Ausdruck für den Entzug des Seins; der heilige Bezirk und die aufzunehmende Spur; der Streit zwischen Verborgenem und Lichtung; das Erscheinen der Unverborgenheit und das Wesen der (Un-)Wahrheit; das Werk als Ursprung eines neuen Anfangs; das Aufstellen und Erstreiten der Welt, welche das Dasein (Volk) bindet; das Kunstwerk, das wesentlich Dichtung ist; das Wesen der Sprache als Tempel des Seins; der künftige Aufenthalt der Götter; das zu bewahrende Andenken und die sich hieraus ergebende Zeitlichkeit (das Gewesene, das aus der Zukunft kommt und diese stiftet); die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Schaffenden und Bewahrenden etc. Immer indessen steht der Tempel für das Ereignis einer Transformation: Abwesendes wird als Ge-wesenes gegenwärtig und was sich sonst der Darstellung entzieht, erhält durch ihn eine durchscheinende Gestalt, die das Seiende zu überragen vermag. Ähnlich wie bei Hölderlin gibt es bei Heidegger die Tendenz, daß sich die Hoffnung auf eine Revolution ganz auf die Sprache und das Denken ihrer Möglichkeiten verschiebt. Er bescheidet sich insbesondere nach 1945 auf die Sprache, um eine Umkehr von dort her einzuleiten, wo die Gefahr am größten sei: Das ist im Wesen des Menschen, das vom Wesen der Technik bedroht sei. Er selbst erinnert an die letzten Verse der Hymne Patmos, an denen oben gezeigt wurde, wie sich Hölderlins deutscher Gesang zwischen Vater(land) und schwer deutbarer Buchstäblichkeit situiert. „Es ist an der Zeit, daß man sich dessen entwöhnt, die Philosophie zu überschätzen und sie deshalb zu überfordern. Nötig ist in der jetzigen Weltnot [1946]: weniger Philosophie, aber mehr Achtsamkeit des Denkens; weniger Literatur, aber mehr Pflege des Buchstabens.“296 Diesem einvernehmlichen Bekenntnis zum Trotz bedeutet allerdings die Pflege des Buchstabens bei Hölderlin und Heidegger nicht dasselbe. Heidegger versucht, angesichts der veränderten historischen und politischen Gegebenheiten unter anderem mit der Dichtung der „einzige[n] Sache“ seines Den296

BüH, 364. Zu Hölderlins Pflege des Buchstabens vgl. oben Kap. Vaterländischer Gesang, insb. S. 95 f.

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kens die Treue zu halten, nämlich die „Ankunft des Seins je und je zur Sprache zu bringen“.297 Doch reduziert sich sein Denken, das sich auf die Kritik des verborgenen Wesens der Technik beschränkt, dabei zusehends auf bestimmte Grundformen – und der Tempel ist dessen Gestalt –, welche die konkreten eigenen Verwicklungen in die Geschichte ausspart.298 Diese Reduk297

BüH, 363. Die Tendenz, sich auf die Sprache zu besinnen, faßt Heidegger 1959 dann in der Formel: „Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen“, ders.: Der Weg zur Sprache, in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Tübingen 1959, 239–268, hier 242. Vgl. hierzu auch Stefan Grotz: Vom Umgang mit Tautologien: Martin Heidegger und Roman Jakobson, Hamburg 2000. 298 Ungewollt und doch Heidegger bei allen Unterschieden an diesem Punkt sehr ähnlich, findet man auch in der Celan-Forschung die unhinterfragte Vorstellung vor, wonach die Shoah ein Phänomen neben anderen sei, an dem sich die Unmenschlichkeit der technischen Möglichkeiten zeige, die die Menschheit im 20. Jahrhundert vollkommen von sich entfremdet hätte. Es ist darum genau zu prüfen, was sich jeweils für ein Vorverständnis zu erkennen gibt, wenn beispielsweise Marlies Janz in Celans Gedicht Engführung gleichermaßen die „faschistischen Vernichtungslager“ und „Hiroshima und Nagasaki“ evoziert sieht, dies.: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt a. M. 1976, 75, vgl. auch 83 u. 86. Dieser Zusammenschau von Shoah und Atombombe haben sich andere angeschlossen; vgl. u. a. James K. Lyon: Judentum, Antisemitismus, Verfolgungswahn: Celans „Krise“ 1960–1962, in: Celan-Jahrbuch 3 (1989), 175–204, hier 181 oder Wolfgang Emmerich: Paul Celan, Reinbek 1999, 99 f. Nun hat Celan selbst Anlaß zu diesen Deutungen gegeben. Am 10. August 1962 schreibt er an seinen in Moskau lebenden Freund Erich Einhorn: „In meinem letzten Gedichtband (‚Sprachgitter‘) findest Du ein Gedicht, ‚Engführung‘, das die Verheerungen der Atombombe evoziert. An einer zentralen Stelle steht, fragmentarisch, dieses Wort von Demokrit: ‚Es gibt nichts als die Atome und den leeren Raum; alles andere ist Meinung‘. Ich brauche nicht erst hervorzuheben, daß das Gedicht um dieser Meinung – um der Menschen willen, also gegen alle Leere und Atomisierung geschrieben ist“, in: Paul Celan – Erich Einhorn: Briefe, hg. von Marina Dmitrieva-Einhorn, in: Celan-Jahrbuch 7 (1997/98), 23–49, hier 33. Was aber heißt es, daß die Engführung gegen alle Leere und Atomisierung geschrieben ist? Wird das Gedicht nicht gerade dann ‚entleert‘ und damit bedeutungslos, wenn etwa Lorenz scheinbar unberührt von seiner spezifischen Subjektstellung zur Geschichte in der Engführung ganz allgemein die „Leidensgeschichte der Menschheit“ wiederzuerkennen meint? Nicht zufällig dürfte es sein, daß er diese undifferenzierte Diagnose mit Verweis auf Janz zu bestätigen sucht, wonach es in der Engführung zu einer Verknüpfung zwischen den Vernichtungslagern und „Hiroshima und Nagasaki“ komme, vgl. ders.: Schweigen (Anm. 109), 9, 38 u. 240 f. Von Lorenz ist es dann kein großer Sprung mehr zu der ‚Meinung‘ von Theo Buck, wonach „Stalingrad und Auschwitz“ als Ausdruck des gleichen „Zeitgeschehen[s]“ zu begreifen seien; ders.: Angstlandschaft Deutschland. Zu einem Nachkriegssyndrom und seiner Vorgeschichte in einem Gedicht Paul Celans, in: Dieter Breuer (Hg.): Deutsche Lyrik nach 1945, Frankfurt a. M. 1988, 138–165, hier 139. – Schon 1965 hat Hannah Arendt in einem Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger auf den problematischen Gedanken aufmerksam gemacht, wonach Technik und Politik per se verbrecherisch seien. Während Hiroshima als Teil einer Kriegsführung mit verbrecherischen Folgen zu verstehen sei, hatte im Unterschied dazu „Auschwitz“ nichts mit „Kriegsführung“ zu tun, vgl. Ein Briefwechsel, in: Merkur 19 (1965), 380–385, hier 385. Ausgelöst wurde die Debatte durch Enzensbergers Buch Politik und Verbrechen, Frankfurt a. M. 1964.

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

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tion ist nicht darin begründet, daß Heidegger weiterhin darauf besteht, die Zeit und das sich entziehende Sein nicht aus Seiendem zu „zergliedern“ (vgl. WD, 272 [251]). Doch weil Heidegger sich weigert, die historischen Ereignisse der jüngsten Verwerfung und die damit verbundene Verantwortung mitsamt den aufgekommenen „Antwortlosigkeiten“299 als für sein sich nach wie vor seinsgeschichtlich verstehendes Denken wesentlich anzuerkennen, abszindiert er sich von dem, was gerade die „Achtsamkeit des Denkens“ herausfordert. Denn die aus der Shoah erwachsenen Überforderungen für das Denken – und diese resultieren ja nicht aus einer Überschätzung der Philosophie – haben jene Mitte zerstreut und zersetzt, die Heidegger bei seiner Rückbesinnung auf den Tempel des Seins nach wie vor geltend macht. Heidegger widmet sich also nicht der Not, daß es womöglich keine Mitte geben kann,300 und daß es mit dieser Einsicht auch nicht mehr möglich ist, die Sprache zum templum zu erklären. Aus diesem Grunde bleiben denn auch die von ihm der Dichtung abgewonnenen Bilder formelhaft und leer. Das gilt auch für das Wort von der Pflege des Buchstabens, das ausgerechnet der Hymne entnommen ist, von der Heidegger hätte lernen sollen:301 Im Zorne sichtbar sah’ ich einmal Des Himmels Herrn, nicht, daß ich seyn sollt etwas, sondern Zu lernen.

Daß Hölderlin darauf besteht, nicht etwas zu seyn, könnte mit Heidegger dahingehend gedeutet werden, daß man sich nicht bei Seiendem aufhalten solle.302 Doch Hölderlins Verse akzentuieren indessen nicht das Sein des Seienden im Ganzen, sondern die im Zorne sichtbar gewordene Forderung des 299

Vgl. Celan: Bremer Ansprache, III, 185 f. Vgl. Hans Sedlmayrs Diagnose: „Die Kunst strebt fort von der Mitte. […] Die Kunst wird – in jedem Sinne des Wortes – exzentrisch“, ders.: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, Salzburg 1948, 150. – En passant kommentiert Heidegger den Titel dieses Buches, ohne Sedlmayr beim Namen zu nennen, indem er es in eine Reihe stellt mit Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes, vgl. WhD, 11 f. u. 14. Beiden Büchern wirft Heidegger 1951 vor, sich an der leichtgängigen Rede zu beteiligen, wonach das gegenwärtige Zeitalter im Niedergang begriffen sei. Überdies sei für sich in Anspruch genommen, das Zeitalter „abschätzen“ zu können. Gegen diese Hybris meint Heidegger gefeit zu sein, obwohl er für sich selbst in Anspruch nimmt, die ‚Verfallsgeschichte‘ des Geistes überblicken zu können, vgl. beispielsweise EM, 35 f. 301 Hölderlin: Patmos, zwölfte Strophe, v. 171–173, StA II, 170; fortan nur Versangaben. 302 Heidegger hat sich zur Hymne Patmos nur sporadisch geäußert. Auf die bekannten Verse, „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“, kommt er u. a. in seinem Band Die Technik und die Kehre (Anm. 293) zu sprechen, insb. 28, 35 u. 41; vgl. ansonsten auch EHD, 21 f. u. GA 39, 52–55. Aus welchem Grunde Heidegger einer Auseinandersetzung mit diesem großen Gedicht Hölderlins aus dem Wege ging, mögen die folgenden Überlegungen andeuten. 300

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Himmels Herrn: Zu lernen. Diese Forderung ist für das lyrische ich maßgebend, das hier die Position des Dichters und der Dichtung zu bestimmen versucht. Offen allerdings ist, was gelernt werden müsse. Insofern ist die Forderung (sollt) zugleich maßlos und ohne Referenz. Die unvollständige Infinitivkonstruktion gibt aber trotz des fehlenden ‚um‘ – wodurch der fehlende Grund und damit das Aus-maß des Zorns angedeutet wird – mit dem Zu eine Richtung an: Es gilt, sich lernend über das Etwas-seyn hinaus zu erweitern und sich dem zu öffnen, was allein der Affekt des Zorns freisetzt, weil dieser anderes einsehen (sichtbar) läßt als das, was man ‚ist‘. Ja der Zorn offenbart vielleicht Unverfügbareres und damit Grundlegenderes noch als das Sein selbst. Denn die hier ausgesprochene Erfahrung ist die, daß das Da-seyn nur dann lernend ist, wenn es nicht ist. Soweit würde Heidegger Hölderlin wohl noch folgen. Hat doch gerade er den Affekt als Befinden und Stimmung, etwa im Gefühl der Angst und in der heiligen Trauer, zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht. Aber an der Hymne Patmos läßt sich des weiteren eine Differenz zwischen Heidegger und Hölderlin vernehmen, die beachtet sein will. Denn der Grund des Einsicht gewährenden Affekts, von dem gerade auch Zu lernen wäre, daß er ohne Maß und Mitte ist, ist in der Hymne Patmos spezifischer Provenienz. Hölderlin schaut schon in der Hymne Germanien mit dem „Mann“ „in den Orient“, damit „ihn von dort der Wandlungen viele bewegen“.303 Dieser Blick gen SüdOsten erhält in der dem Landgrafen von Homburg gewidmeten Hymne dann via der Insel Patmos unverkennbar eine Konkretion: Das lyrische Ich gelangt „nach / Jerusalem“.304 Entsprechend ist auch der Affekt, von dem Zu lernen wäre. Denn Hölderlin nimmt in Patmos nicht nur auf die Ereignisse unmittelbar vor und nach Jesu Tod bezug, sondern ebenfalls auf die jüdische Tradition und Weisheit. So zitieren jene enigmatischen Verse, die vom im Zorne sichtbar Gewordenen sprechen, Salomos Spruch: „Des HErrn Furcht ist Anfang zu lernen“.305 Diesem Vers schenkte Hölderlin bereits in seinem Specimina zu Salomon und Hesiod besondere Aufmerksamkeit, weil er, so Hölderlin, den „Grund aller Tugend“ nennt.306 Welche Bedeutung hat diese Referenz? 303

Hölderlin: Germanien, v. 37 f., StA II, 150. Folgt man Hölderlins Unterscheidung zwischen Griechenland und dem Orient in seinem Specimina Versuch einer Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen (1790), StA IV, 176–188, dann meint Hölderlin auch in Germanien mit dem Orient vorzugsweise das Heilige Land Israel. 304 Vgl. die späteren Überarbeitungen von Patmos, StA II, 182. 305 Vgl. Sprüche Salomo 1, 7, zit. n.: Die Bibel das ist die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der teutschen Uebersetzung D. Martin Luthers, Tübingen 1787. 306 StA IV, 177.

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

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Die Hymne Patmos ist davon bestimmt, daß der Gott zwar nah, aber eben darum auch „schwer zu fassen“ ist (vgl. v. 1 f.). Es bedarf darum eines Vermittlers. Doch selbst die „Jünger“ und „Freunde“, die „unzertrennlich“ mit Christus, „dem Sohne des Höchsten“, gegangen sind (vgl. v. 76–90), können ihn nach seinem selbst gewählten Scheiden von der Welt (vgl. v. 106–111) nicht „Im Gedächtniß“ (v. 143) behalten. Entsprechend entwickelt Hölderlin in Patmos eine Dichtungskonzeption, die der Tatsache ins Auge sieht, daß „lang schon ist / Die Ehre der Himmlischen unsichtbar“ (v. 212 f., vgl. auch v. 149–151). Diese Nichtpräsenz der Himmlischen hat auch darin ihren Grund – und hier setzt Hölderlin auch eine Spitze gegen Platons Phaidros307 –, daß nicht zu vermeiden ist, daß „von der Rede / Verhallet der lebendige Laut“ (v. 158 f.). In dieser furchtbaren Situation, die kennzeichnet, daß „da und dort / Unendlich hin zerstreut das Lebende Gott“ (v. 121 f.),308 in der es also keine ordnende Mitte mehr gibt und nicht einmal mehr auszumachen ist, ob das Lebende Gott zerstreut oder umgekehrt Gott das Lebende, antwortet der Anfang der elften Strophe auf die sich stellende Frage, wie dieser desperate Status quo zu verstehen sei – „was ist diß?“ (v. 151) – mit zwei Bildern aus dem Matthäus-Evangelium, die zusammengezogen Hoffnung auf einen Neuanfang machen sollen:309 Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Waizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. Ihm fällt die Schaale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn,

Nach Matthäus prophezeit Johannes der Täufer, daß jener, „der nach mir kommt, eine Worfschaufel in der Hand“ haben wird und daß „er seine Tenne 307

Vgl. Platon Phaidros 276 a–b. Hölderlin dürfte mit diesen Worten nicht nur auf die Zerstreuung der Jünger Jesu, sondern ebenso auf die jüdische Diaspora anspielen, die mit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem Anno 70 einsetzt. Dieser Zusammenhang ergibt sich unmittelbar aus dem Bezug zur Apokalypse des Johannes, die vielschichtig die Zerstörung Jerusalems erinnert. So betont Herder in seinem Hölderlin möglicherweise bekannten Kommentar zum letzten Buch der Bibel wiederholt, daß Johannes seine Offenbarung auf Patmos „im Jahr Christi 94. oder 96. also ein ViertheilJahrhundert nach Jerusalems Zerstörung“ niedergeschrieben habe, vgl. Herder: Johannes Offenbahrung. Ein heiliges Gesicht. Ohn’ einzelne Zeitendeutung verständlich, in: ders.: Sämtliche Werke, historisch-kritische Ausgabe, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1893, Bd. IX, 1–98, hier 32. 309 Hölderlin: Patmos, v. 152–156; vgl. Mt 3, 11–12 u. 13, 3–23; siehe auch Mk 4, 3–20, Lk 8, 5–15 und bereits Jer 4, 3. Auch Platon erläutert sein Argument für die lebendige Rede und gegen das Schattenbild des Geschriebenen mit dem Bild vom säenden Landmann, vgl. Phaidros 276 a–b.; siehe auch oben Anm. 44. Zum Komplex Halm – Schrift im Hyperion und in Celans Engführung vgl. oben Anm. 163. 308

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fegen und seinen Weizen sammeln wird; aber die Spreu wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer“ (Mt 3, 11 f.). Der derart Angekündigte unterscheidet dann tatsächlich jene, die zwar hören, doch nicht verstehen, von den Gläubigen, die seine gesäten Worte annehmen. Wie das geschieht, erläutert Jesus in seiner Deutung des von ihm selbst zuvor (Mt 13, 3–9) gegebenen Gleichnisses vom Sämann: „Wenn jemand das Wort von dem Reich hört und nicht versteht, so kommt der Böse und reißt hinweg, was in sein Herz gesät ist“ (Mt 13, 19). Mit dieser Erläuterung gibt Jesus nicht nur zu erkennen, daß er sinnbildlich spricht, sondern droht vor allem jene, die das Gesagte nicht als Gleichnis verstehen, sondern, statt zu hören, möglicherweise im Bild selbst bleiben und sich dann fragen, ob denn dem Sämann nicht immer der Sensenmann folgt, der die Halme des Korns mäht und allegorisch an das Ende der Zeit auf Erden gemahnt? Und tatsächlich könnte ausgerechnet Hölderlins Richtung und Ziel versprechender Vers, „Ans Ende kommet das Korn“ (v. 156), dem Bild eine solche konterkarierende Wende geben, wonach das Ende nicht der Anfang des Reich Gottes, sondern buchstäblich der Tod ist. Das Ende wäre dann nicht der den chaotischen Geschichtsverlauf aufhebende geistige Sinn, sondern im Gegenteil schlicht das Ende aller Möglichkeiten, ja es wäre der Tod ohne Danach oder Auferstehung. Hölderlins Verse provozieren zumindest auch diese Deutung und machen damit auf die unumgängliche Inkonzinnität der auf Gleichnisse angewiesenen Rede überhaupt aufmerksam. Diese Unangemessenheit ist insbesondere dann virulent, wenn die das Gleichnis auflösen könnende Autorität (Mt 13, 19 ff.) nicht mehr anwesend ist, wenn also der ‚Gott entflohen‘ ist. So ist denn auch die Situation nach dem Tod von Jesus die, daß seine Jünger in großer Zerstreuung zurückbleiben, weil auch das Pfingstereignis – „Drum sandt’ er Ihnen / Den Geist“ (v. 100 f.) – die Verwirrung nicht beheben konnte. Sein Tod erscheint in keiner Weise sinnvoll, auch wenn versprochen ist, daß das Göttliche „wiederkommen“ soll „Zu rechter Zeit“ (v. 112 f.). Da der Grund aber, auf dem Neues wachsen könnte, erodiert ist, weil nicht nur Jesus gegangen, sondern zuvor schon die „Tempel“ ergriffen und zerstört wurden (vgl. v. 144 f.), steht dem Wurf des Säemanns nichts Gesammeltes, sondern allein die zerstreuende Kontingenz gegenüber. Hölderlins Wortwahl suggeriert zwar noch, daß der Säemann den Waizen faßt, daß der Wurf dem Klaren zu geht und daß sich hierbei die Schaale vom Korn scheidet. Doch schon die im Anschluß geäußerte Beschwichtigung, „Und nicht Übel ists, wenn einiges / Verloren gehet“ (v. 157 f.), rechtfertigt weniger, daß der Weg zum Klaren ein unvermeidlicher Prozeß der Auslese sei, sondern gibt vielmehr zu verstehen, in welchem Maße der Wurf des Säemanns nur blind sein kann. In den folgenden Versen der elften Strophe verdeutlicht sich dann, daß das Verstehen der Gleichnisse solange fehl gehen muß, solange man versuchte, aus ihnen „Ein Bild zu bilden, und ähnlich / Zu schaun, wie er gewesen, den

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Christ“ (v. 165 f.). Das einzige, worauf sich überhaupt noch eine Zuversicht aufbauen läßt, ist, daß das „Unsterbliche Schiksaal“ waltet und daß „höher gehet himmlischer / Triumphgang“ (v. 176–180). Dann nämlich könnte „Von Starken“ zu gegebener Zeit das „Loosungszeichen“ gegeben werden, und der Gesang könnte die „Todten“ wecken, ihnen also zur Auferstehung verhelfen (vgl. v. 181–184). Die Hoffnung beruht hierbei auf einem komplexen Zusammenwirken zwischen dem stillen „Zeichen / Am donnernden Himmel“, das der „ewige Vater“ gibt (vgl. v. 202–204) und dem Einen, der wie Christus selbst bereit wäre, nicht etwas zu seyn, „sondern / Zu lernen“. Zu ihm könnten die stillen Zeichen sprechen. So heißt es schließlich apodiktisch: „Und Einer stehet darunter / Sein Leben lang. Denn noch lebt Christus“ (v. 204 f.). Für die an sich stille Dichtung bedeutet das, daß sie dem Donner der Himmlischen sowie dem im Zorne sichtbaren Gott beiseite zu stehen versuchen muß. Auch hier fällt auf, daß letzterer bemerkenswerter Weise Züge des hebräischen Gottes hat. Dies ergibt nicht nur die Referenz auf Salomo an zentraler Stelle und der generelle Bezug auf den zornigen Gott der Apokalypse des Johannes, welcher in seinem sich auf die hebräische Bibel stützenden Buch310 das Ende der Welt und das Kommen des neuen Zeitalters ankündigt, das legt auch die Hervorhebung der Notwendigkeit, den vesten Buchstab zu pflegen nahe, womit Hölderlin unausgesprochen an die jüdische Talmud- und Midraschtradition anschließt. Dieser Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln korrespondiert, daß Hölderlin die mögliche Versöhnung nicht schon als durch Jesu Opfertod erzielt betrachtet, sondern daß das Wiederkommen des Göttlichen vielmehr noch aussteht, weshalb Hölderlin exakt in der Mitte der Hymne unvermittelt, obwohl zuvor von Jesus die Rede ist, mit den neutralen Pronomen es anschließt: „wiederkommen sollt es / Zu rechter Zeit.“311 Zusammengenommen heißt das, daß sich Hölderlin mit der Hymne Patmos nicht mehr wie noch im Hyperion und im Empedokles allein an der antiken griechischen Welt orientiert, sondern daß er sich auch (wieder) für die Weisheit aus dem Lande „Galiläa“312 öffnet, weil das griechische Denken allein offenbar nicht hinreicht, den kleinen immer noch scheibenförmig vorgestellten „Erdkreis“, den Hölderlin auch als „griechisch, kindlich gestaltet“313 bezeichnet, zu überwinden. Zu diesem Zweck schließt er sich aber nicht nur den „Tempelherren, die gefahren / Nach Jerusalem“ an (SWB I,426), sondern 310

Vgl. Apokalypse des Johannes 1, 11 u. 22, 7. Hölderlin nahm der damaligen Lehrmeinung gemäß an, daß Johannes nicht nur der engste Vertraute von Jesus (Mk 5,37 ff.) gewesen sei, der das Evangelium und die Briefe schrieb, sondern daß eben derselbe auf der Insel Patmos auch die Apokalypse niedergeschrieben habe. 311 Patmos, v. 112, Hervorh. von mir. 312 Vgl. die späteren Überarbeitungen von Patmos, StA II, 181. 313 Vgl. Hölderlins Entwurf Kolomb, SWB I, 428; zu Kolumbus s.u. auch Celans Gedicht Die Silbe Schmerz, Kap. Celan: Ausfahrt ohne Heimkehr. Die Silbe Schmerz.

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er sucht ebenso auch „Genua“ auf, wo „Kolombos“ geborenen wurde (StA II, 243, v. 30 f.). Steht dieser doch für die Seefahrer und Entdecker fremder Welten überhaupt, also für jene Helden, die – und darin sind die Schiffer den Dichtern gleich – allen Widrigkeiten zum Trotz das Offene suchen. Und eben diesen Kolombos vergleicht Hölderlin wiederum mit Moses. Hat dieser doch sein Volk unter großen Entbehrungen aus Ägypten heraus durch die Wüste in das gelobte Land geführt.314 Diese insbesondere im Homburger Folioheft unübersichtlich – und zudem durch wiederholte Schreibansätze oft unentzifferbar – miteinander verflochtenen geschichtlichen Anbindungen, in denen das dem Eigenen gegenüberstehende Fremde nicht allein griechisch ist, dürften Heidegger davon abgehalten haben, sich eingehend auch mit der Hymne Patmos auseinanderzusetzen. Der in der Hölderlin-Forschung verbreiteten These, daß sich auch an Patmos ablesen lasse, daß sich Hölderlin „vom naturmythischen Pantheismus zu einer sich in der Folge christlich begründeten Dichtung“ gewendet habe,315 hält Heidegger entgegen, daß sich Hölderlin „zwar gewandelt, aber nicht gewendet habe“ (A, 90, Anm.). Das aber bedeutet nach Heidegger, daß „sich das Wissen von der Wahrheit des Griechentums und des Christentums und d e s O s t e n s überhaupt“ mit Hölderlins Wandlung selbst wandelt, weshalb die „gewohnten Bezirke und Zeitalter der historischen Betrachtung“ hinfällig werden (ebd.). Heideggers Argument, das darauf beruht, daß Hölderlin dem Eigenen „stets zugewendet war“, wenn er es auch „in der Wandlung erst gefunden“ habe (ebd.), unterschlägt allerdings, daß das Eigene Hölderlins sich ebenfalls wandeln muß, je nachdem ob das Fremde griechisch, christlich oder auch jüdisch ist. Andernfalls wäre das Fremde selbst nichts an sich ‚eigenes‘

314

Vgl. StA II, 878, v. 60–65; SWB III, 252 und vgl. 2. Mose 16, 2 ff. Vgl. Wolfgang Binder: Patmos (Anm. 219), 396; Jochen Schmidt behauptet, daß sich Hölderlin in Patmos in bewußter Absetzung vom „mosaischen Gesetz (γρáµµα)“ zum pneumatischen Christentum hinwende, vgl. ders.: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. ‚Friedensfeier‘ – ‚Der Einzige‘ – ‚Patmos‘, Darmstadt 1990, 281. Allerdings kommt er mit dieser Behauptung u. a. in die Schwierigkeit erklären zu müssen, wie dann die letzten Verse der Hymne zu deuten seien, die so gar nicht mit dem pietistischen Leitwort des Paulus zusammenpassen, wonach „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2. Korint. 3, 6; vgl. auch Röm. 7, 6). Schmidts Konklusion, wonach die „Lösung des Problems […] nur darin liegen [kann], daß das Prinzip der pneumatisch-spekulativen Eklexis […] auch das des Schlusses ist“, zwingt ihn zu der ‚geistvollen‘ Formulierung: „Der Buchstabe der Bibel soll gepflegt werden, der dem Prinzip der bloßen Buchstäblichkeit widerspricht – also die entsprechenden Partien aus dem Johannesevangelium, den Korintherbriefen und der Apostelgeschichte“ (ebd. 286, Hervorh. von Schmidt). Schmidt macht damit gleich selbst vor, wie selektiv eine eklektische Deutung ist, die um jeden Preis die Deutung eines Textes dem Geist unterzuordnen versucht, wenn dafür auch die Buchstaben verdreht werden müssen. Kein Zufall dürfte sein, daß Schmidts Auslegung Hölderlins Anknüpfungen an die jüdische Bibel nicht diskutiert. 315

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

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und nur eine Farce. Und da gerade auch um 1800 Athen und Jerusalem je ein anderes ästhetisches und geschichtsphilosophisches Paradigma repräsentieren,316 reicht es nicht hin, wenn Heidegger gegen die „gewohnten Bezirke und Zeitalter der historischen Betrachtung“ polemisiert und das Fremde schlechthin unter den „O s t e n überhaupt“ subsumiert. Hängt doch – und das ist besonders hervorzuheben – von den verschiedenen Referenzen ab, wie einzelne Bilder und die an ihnen entwickelten Gedanken näher bestimmt werden können. Heidegger selbst unterstreicht ja an anderer Stelle, daß das Denken eine bestimmte geschichtliche Herkunft haben muß, will es sich nicht auf unbestimmte „Raum-Zeit-Vorstellungen“ „metaphysischer Art“ beschränken (vgl. GA 53, 66). Für Heidegger ist das Denken darum notwendigerweise an eine bestimmte Überlieferung und damit an eine bestimmte Fremde gebunden. Entsprechend besteht er darauf, daß dieses – eine – „Fremde des geschichtlichen Menschentums der Deutschen für Hölderlin das Griechentum“ sei (GA 53, 67). Am zentralen Bild vom Abgrund wird deutlich, wie bestimmend diese „Geophilosophie“317 Heideggers für seine Lektüre Hölderlins ist, in der Jerusalem nicht vorkommt. Heidegger betont anhand von Hölderlins Entwurf Mnemosyne, daß sich die Zeit nur dann wenden und die entflohenen Götter nur dann erneut ankommen können, wenn die Sterblichen in den Abgrund hineinreichen. Vor dem Hintergrund der Hymne Patmos zeigt sich aber, daß 316

Gerhard Kurz hebt hervor, daß insbesondere mit der französischen Revolution Athen gegenüber Jerusalem aufgewertet wurde und sich eher als „Projektionsfläche“ und Symbolspender anbot. Verband sich doch mit Griechenland die erhoffte politische Freiheit. So schien etwa die Trennung von Staat und Religion nur im Vorbild Athen angezeigt zu sein. „Gegenüber der griechischen Kultur mußte die jüdische Kultur ärmer erscheinen. Gegenständliche Kunst war in ihr verboten. Die griechische Kultur war reicher ausgebildet, sie umfaßt die Sprache, Musik, die Plastik und das Theater“, ders.: Athen oder Jerusalem. Die Konkurrenz zweier Kulturmodelle im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Braungart et al. (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. I, Paderborn et al. 1997, 83–96, hier 92. Daß sich Hölderlin mit den Vaterländischen Gesängen nun auch nach Jerusalem wendet, muß auch im Zusammenhang seiner Enttäuschung über den Verlauf der Revolution westlich des Rheins gesehen werden. Hierfür spricht, daß sich die Verse in der Schlußstrophe von Patmos – „Wir haben gedienet der Mutter Erd’ / Und haben jüngst dem Sonnenlichte gedient, / Unwissend“ (v. 220 ff.) – auf die Areopagrede des Paulus beziehen, in der dieser den unwissenden Gottesdienst der Athener (vgl. Apostelgeschichte 17, 22 f. u. 30) mit den Worten angreift: „Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“ (ebd. 17, 24). Daß Hölderlin mit Paulus gegen den Sonnenmenschen Hyperion und dessen Athen argumentiert, heißt aber nicht, daß er Paulus’ Glaubensbekenntnis einfach übernimmt, vgl. oben Anm. 315. – Zum Komplex Athen versus Jerusalem vgl. auch: Leo Strauss: Jerusalem and Athens. Some Preliminary Reflections, in: ders.: Studies in Platonic Political Philosophy, Chicago 1983, 147–173. 317 Vgl. Lyotard: Heidegger (Anm. 24), 91 f. u. 108.

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die Sterblichen im Abgrund nicht, wie Heidegger es deutet, vom „Sein“ „angegangen“ werden (vgl. WD 271 [250]), sondern daß sie in diesem vielmehr dem Zorne Gottes und einer „Gewalt“ ausgesetzt sind, die „Entreißt das Herz uns“ (v. 216). Daß Hölderlin tatsächlich den Affekt des göttlichen Zorns als für eine Wende essentiell hervorhebt,318 klingt bereits in der ersten Strophe von Patmos an, die beklagt, daß „furchtlos gehen / Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg / Auf leichtgebaueten Brüken“ (v. 6–8). Dieser den Abgrund übergehenden Furchtlosigkeit setzt dann das ich der Hymne seine im Zorne sichtbar gewordene Erfahrung entgegen, die insofern eine aus dem Abgrund kommende Wende ist, als das ich erkennt, nicht mehr etwas seyn zu können, sondern vielmehr lernen zu müssen: Denn nicht das Sein, sondern dieser Imperativ, der einer bestimmten Geschichte angehört und darum auch eine bestimmte Geschichte zum Hören bringt, ist das wendende Moment. Diese Differenzierung zeigt, daß die spezifische Provenienz des Abgrundes das in ihm zu Lernende determiniert; – nicht zuletzt deshalb nennt Hölderlin den Abgrund den „allesmerkenden“.319 Dieses gilt es primär zu lernen, um dem Sachverhalt Rechnung tragen zu können, daß sich mit dem Abgrund sowohl bei Hölderlin als auch bei Heidegger und erst recht bei Celan jeweils etwas anderes verbindet, wenn auch allen drei gemeinsam ist, daß sie vom Abgrund her und auf den Abgrund zu ihr Denken und Schreiben orientieren, weil, wenn überhaupt, nur von ihm her das noch Mögliche – möglich sein könnte. Der zu ermöglichenden Möglichkeit wegen denkt Heidegger mit Hölderlin beim Abgrund an das Wiederkommen der aus dem Tempel entflohenen Götter. Und eben der Ankunft der entflohenen Götter wegen hält Heidegger am griechisch geprägten Tempel fest, wenn diese Mitte dafür auch 1946 in die ‚unsichtbare‘ Sprache ‚verlegt‘ werden muß, damit dem abgründigen Sein weiterhin ein Aufenthaltsort zugedacht werden kann. Aber eben dieser zu ermöglichenden Möglichkeit wegen gedenkt Celan – und das ist als eine Entgegensetzung zu verstehen – im Gedicht Engführung der geflohenen Hände, die „überm / Kugelfang“ (I, 203) harren. Denn die auf diesen Abgrund weisenden Hände sind nur insofern noch die Eröffnung einer künftigen Möglichkeit, als sie hinreichend Hölderlins Bild vom Abgrund 318

Auch der Entwurf Mnemosyne, der zu Beginn konstatiert „Schmerzlos sind wir“ und dann mit dem Worten endet, „dem / Gleich fehlet die Trauer“, beklagt das Fehlen des Affekts, der, sofern er ausbleibt, die Himmlischen unwillig macht, vgl. StA II, 195f. Vgl. auch Jochen Schmidt: Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk, in: HJb 15 (1967–68), 128–157. 319 Vgl. Hölderlin: Die Titanen, StA II, 219 und Heidegger WD, 271 [250]. Die letzten Verse von Hölderlins Fragment, das im Homburger Folioheft unmittelbar an den ersten Entwurf zu Patmos anschließt, lauten: „und der Vogel des Himmels ihm / Es anzeigt. Wunderbar / Im Zorne kommet er drauf“, StA II, 219, Hervorh. von mir.

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präzisieren. Keine leichtgebaueten Brüken mehr über den Abgrund weg zu spannen, heißt für Celan nicht, daß die Sprache der Tempel ist, in dem sich das Sein entbirgt, sondern daß die Sprache durch „tausend Finsternisse todbringende Rede“ gehen mußte und daß sie „‚angereichert‘ von all dem“ darum der allesmerkende Abgrund ist, an den heranzutreten ist.320 Weil die Sprache „inmitten der Verluste“ „unverloren blieb“ (III, 185) schreibt Celan in der Engführung: „Also / stehen noch Tempel. / […] Nichts, / nichts ist verloren“ (I, 204). Damit ist zunächst einmal gesagt, daß derer mehrere noch stehen und also keiner von ihnen in der Mitte steht beziehungsweise selbst eine solche wäre. Zum anderen verweisen diese Tempel, wie der Kontext durch das gebrochene „Ho-, ho- / sianna“ (I, 203 f.) zu verstehen gibt, nicht auf den griechischen, sondern auf den jüdischen Ursprung. Celans Tempel stehen also für eine Sprache in der Diaspora, deren Heimat schon seit Jahrtausenden die Buchstaben der Heiligen Schrift sind. Bei Celan aber hat dieser Bezug eine paradoxe Konsequenz – und zwar eine, die es nicht mehr erlaubt die Dichtung weiterhin als stiftenden Grund eines geschichtlichen Daseins zu denken –: die Tempel stehen für eine dichterische Sprache, die sich selbst notwendigerweise zerstreut, weil sie nur so das noch Mögliche offen halten kann: Etwa die „Gespräche […] der Grundwasserspuren“ (I, 204), auf die das Gedicht Engführung zuläuft. In seinem Brief vom 22. November 1958 an die neuen Verleger Gottfried und Brigitte Bermann Fischer nimmt Celan, nur wenige Wochen nachdem er den Band Sprachgitter mit dem Zyklus Engführung für den Drucksatz fertigstellte, Hölderlins Bild aus der ersten Strophe der Patmos-Hymne auf: „[Das Gedicht] ist kein Brückenschlagen, gewiß; aber es versucht, indem es an die Abgründe herantritt, das hier noch Mögliche – möglich sein zu lassen. Es versucht es mit dem ihm von der durch die Zeit gegangenen Sprache an die Hand gegebenen Mitteln, unter dem besonderen Neigungswinkel seiner (also meiner) Existenz. Es versucht es, inmitten der Beschönigungen und Bemäntelungen, auf das ungeschminkteste. Es spricht ins Offene, dorthin, wo Sprache auch zur Begegnung führen kann.“321 Dem Gedicht sind durch die Sprache Mittel an die Hand gegeben. Es ist gleichsam selbst eine Hand, die sich um einer Begegnung willen ins Offene streckt. Doch die Ermöglichung der Begegnung erfolgt nicht dadurch, daß Brücken geschlagen werden. Es ist vielmehr so, daß, um an die Abgründe herantreten zu können, jene durch das Gedicht erst einmal niedergerissen werden müssen, damit auf das ungeschminkteste der besondere Neigungswinkel sichtbar werden kann, der den Druck anzeigt, welcher die Existenz des Gedichts belastet. Wenn Gedichte, wie Celan an anderer Stelle schreibt, prinzi320

Vgl. Celan: Bremer Ansprache, III, 186. In: Gottfried und Brigitte Bermann Fischer: Briefwechsel mit Autoren, hg. von Reiner Stach et al., Frankfurt a. M. 1990, 617. 321

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piell wie ein „Händedruck“322 sind, dann nicht nur darum, weil sie der Anfang einer Begegnung sein können, sondern auch deshalb, weil auf dem Gedicht der Druck eines Datums lastet. Daß der Druck beispielsweise auch aus einer einst abrupt abgebrochenen Begegnung resultiert, dürfte einer der Gründe dafür sein, daß Celan in seinem Brief für einen kurzen Moment die Existenz des Gedichts mit seiner eigenen – „(also meiner)“ – überblendet. In diesem Zusammenhang ist an ein einschneidendes Ereignis in der Biographie Celans zu erinnern, das er gegenüber Eva-Lisa Lennartsson schilderte, als sie 1960 zusammen mit Nelly Sachs Celan in Paris und Zürich traf. Am 7. Juli 1941 begannen nach dem Einmarsch des rumänischen Militärs SSTruppen ihre mörderischen Handlungen gegen die in Czernowitz lebenden Juden. Dabei kamen mehr als 3.000 Menschen zu Tode. Der Große Tempel der Stadt wurde niedergebrannt.323 Knapp ein Jahr später, im Juni 1942, wurden Juden nach Transnistrien, zum südlichen Flußlauf des Bug, verschleppt. Das Lager dort hieß Cariera de Piatr7a (dt. Steinbruch). Unter den Gefangenen waren auch Celans Eltern. Paul Celan selbst konnte sich rechtzeitig verstecken und entkam so den Häschern. Nach der Verhaftung, so gibt Lennartsson Celans Bericht wieder, ging er zum Lager am südlichen Bug, um seine Eltern zu suchen. Dort habe er „seine Hand durch den Stacheldrahtzaun hindurchgestreckt und seines Vaters Hand ergriffen. Ein Wächter hat es gesehen und Celan kräftig in die Hand gebissen [Celan]: ‚Und ich ließ Papis Hand los – denk dir, ich ließ die Hand los und lief davon.‘“324 Mag Celans Erzählung faktisch so auch nicht stattgefunden haben,325 so sagt sie gleichwohl eindringlich was Fakt ist. Denn Celans Worte setzen mit diesen ‚geflohenen Händen‘ eindringlich die ‚Schuld‘ eines Überlebenden ins Bild, der seinen dann getöteten Eltern nicht helfen konnte. Diese ge- und nicht ent-flohenen Hände konnten sich zwar der Verhaftung entziehen, doch der Fluch der Flucht verfolgt sie seitdem. Oben (S. 49 f.) wurde gezeigt, warum Celan in einer Vorstufe zur Engführung diese Hände darum auch die hinbefohlenen nennt. Sie unterstehen dem Imperativ, „zum Aussatz“ zurückgehen zu müssen.326 Sie sind auf den Ort verwiesen, an dem die Sprache aus-setzt und der Satz vor dem Aus steht. Denn zum Fluch der Flucht kommt das Dilemma, daß die Flucht wohl Bedingung dafür ist, daß diese überlebenden Hände schreiben können, doch das Schreiben erweist sich selbst abermals als eine ‚Flucht‘, weil es das Geschehene nur insofern mitzuteilen vermag, als zugleich 322

Celans Brief an Hans Bender vom 18. Mai 1960, III, 177. Vgl. Felstiner: Biographie (Anm. 7), 36 und Celan als Übersetzer (Anm. 23), 48. 324 Eva-Lisa Lennartsson: Nelly Sachs och Hennes Vänner, in: Fenix 2, Nr. 3 (Stockholm 1984), 87, hier zit. n. Lyon: Celans „Krise“ (Anm. 298), 186. 325 Felstiner schätzt Celans Bericht als unwahrscheinlich ein, weil dieser nicht mit anderen Berichten übereinstimmt, vgl. ders.: Biographie (Anm. 7), 39. 326 Vgl. Celan: TCA Sprachgitter, 100. 323

Das Dastehen des Tempels bei Heidegger

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die Bedingung der Unmöglichkeit, hiervon schreiben zu können, offengelegt werden –: „Es / kann dich nicht geben.“327 An diesen doppelten Abgrund, nämlich ‚schuldbeladen‘ überlebt zu haben und doch nicht sprechen zu können, tritt auch das Gedicht Engführung heran, um das einzuholen, was es selbst wesentlich bedroht. Denn es schreibt nicht nur auf das Klaffende zu, was verborgen und von anderen zugedeckt worden ist (vgl. I, 199), sondern vor dem es selbst fliehen muß, weil dieser Abgrund sowohl die Existenz des Schreibenden als auch die des Gedichts radikal in Frage stellt. Insofern berührt die Frage, „– wer / deckte es zu?“ (ebd.), die Dichtung selbst, welche nicht sein kann und sich dennoch von diesem Nichts her auf die Wirklichkeitssuche macht, um das noch Mögliche – möglich sein zu lassen. Celan nennt bekanntlich 1960 in seiner Meridian-Rede diese Aporie das Dazwischen zwischen dem „Schon-nicht-mehr“ und dem „Immer-noch“ (III, 197). Diese Einsicht war Celan so elementar, daß er erwog, sie als Motto dem Band Die Niemandsrose voranstellen,328 den er dann in den Jahren 1959 bis 1963 schrieb. Dieses verzweifelte Dazwischen kann keine versammelnde Mitte sein, die Anlaß zu der Hoffnung gäbe, die entflohenen Götter erneut beherbergen zu können. Der Anruf an den rettenden Gott, „Ho- / sianna“ (I, 204), ist nicht nur gebrochen, sondern klingt zugleich wie ein höhnischen Spott: „Ho, ho-“ (I, 203). Die Konsequenzen sind im wahrsten Sinne unheimlich. Denn der auch auf diese Weise sich zu erkennen gebende Aussatz betont, daß diese Dichtung dort zuhause ist, wo sich kein als Wir verstandenes Dasein mehr begründen oder stiften läßt.329 Aber indem das Gedicht Engführung dahin zurückgeht, von woher ihm sein Imperativ nachfolgt, welcher ihm damit immer auch schon vorausgeht, versucht es gleichwohl das Unmögliche, nämlich zu sagen, was das Wirkliche der Zeit ist. Das aber muß zugleich heißen, Einblick in das zu geben, was denn das Sagen konstituiert und was die Zeit überhaupt ist. Dieses wiederum gibt sich insbesondere dann zu erkennen, wenn die Bedingungen der Möglichkeit des Gesprächs erfragt werden, das die vielleicht einzig noch verbliebene Möglichkeit der Erfahrung eines aus ich und du bestehenden Wirs ist. Sofern die Dichtung sich also imperativ an einen anderen wendet und damit, wie Celan in der Me327

Ebd. Vgl. Celan: TCA Niemandsrose, 6 f. 329 Diese Aussage steht durchaus nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß gerade die Shoah das Identität stiftende Moment für den Staat Israel wurde. Dies wurde allerdings nur dadurch möglich, daß, wie Saul Friedländer rekapituliert, nach der Staatsgründung „ein offizielles Gedenken an die Shoah auf den Plan“ trat, das die Vernichtung zugleich mit Erlösung (WeGeula), Wiedergeburt (WeTekuma) und / oder Heldentum (WeGewura) verknüpfte, vgl. ders.: Die Shoah als Element in der Konstruktion israelischer Erinnerung, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1987), H. 2, 10–22, hier 11. 328

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Positionsbestimmungen

ridian-Rede formuliert, das dergestalt „Angesprochene“ „durch Nennung gleichsam zum Du“ (III, 198) wird, eröffnet das Gedicht mit diesem anmaßenden ‚Anspruch‘ dem anderen Du sein Eigenstes: „dessen Zeit“ (III, 199). Was das heißt, läßt sich vielleicht gerade darüber erfahren, daß man untersucht, wie sich Celan selbst – hier durch Hölderlin und Heidegger – hat ‚ansprechen‘ lassen.

IV. ETAPPEN DER LEKTÜRE

Celan schreibt und veröffentlicht die Engführung in der Zeit zwischen seinen Preisreden in Bremen (26. Januar 1958) und Darmstadt (22. Oktober 1960). Insbesondere in diesen öffentlichen Ansprachen gelingen Celan Formulierungen, welche die Herkunft und den Werdegang seines Dichtens erläutern und zugleich die Aporien seiner Poetologie des Datums seinen interessierten Lesern zu bedenken geben. Daß sich Celan anläßlich dieser Okkasionen eine poetologische Position erschreibt, die sich von Heideggers Denken unterscheidet, eben weil seinen Gedichten Daten eingeschrieben sind, gegen die Heidegger sein Denken immunisiert, ist darzulegen versucht worden.330 Vernachlässigt wird in diesem Zusammenhang aber zumeist, daß Celan nicht nur seit 1953 die Schriften Heideggers intensiv studiert,331 sondern daß sich diese Auseinandersetzung bereits 1954 in einzelnen Gedichten niederschlägt, also zu einem Zeitpunkt, als Celan seinen poetologischen Ort unter anderem mit Heidegger auszuarbeiten beginnt. Dies bleibt zu beachten, um sehen zu können, daß für Celan durchaus nicht im Vordergrund stand, wie das heute 330

Genannt seien u. a.: Mark M. Anderson: The ‚impossibility of poetry‘: Celan and Heidegger in France, in: New German Critique 53 (1991), 3–18; Felstiner: Biographie (Anm. 7); Véronique M. Fóti: Heidegger and the Poets, Atlantic Highlands, Humanties Press 1992, insb. 78–110; Christopher Fynsk: The Realities at Stake in a Poem. Celan’s Bremen and Darmstadt Addresses, in: Fioretos: Wordtraces (Anm. 129), 159–184; Gellhaus: Datum des Gedichts (Anm. 18); Christoph Jamme: „Unserer Daten eingedenk“. Paul Celans „Der Meridian“ in der Diskussion, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Philosophie und Poesie, Bd. 2, Stuttgart/Bad Canstatt 1988, 281–308; Philippe Lacoue-Labarthe: Dichtung als Erfahrung (La poésie comme expérience, Paris 1986), Stuttgart 1991; Anja Lemke: Dichtung als Zäsur – Zum Zusammenhang von Sprache, Tod und Geschichte in Celans Büchnerpreisrede und Heideggers Hölderlin-Deutung, in: dies. / Martin Schierbaum (Hg.): „In die Höhe fallen“. Grenzgänge zwischen Literatur und Philosophie, Würzburg 2000, 233–255; Reinhard Zbikowski: „schwimmende Hölderlintürme“. Paul Celans Gedicht „Tübingen, Jänner“ – diaphan, in: Jamme / Pöggeler (Hg.): „Der glühende Leertext“ (Anm. 124), 185–211; Krzysztof Ziarek: Semiosis of Listening: The Other in Heidegger’s Writing on Hölderlin and Celan’s „The Meridian“, in: Research in Phenomenology 24 (1994), 113–132. 331 Auf Heidegger wurde Celan vermutlich durch Ingeborg Bachmann in Wien aufmerksam gemacht. Die im Nachlaß befindlichen Bücher lassen erkennen, daß Celan 1953 zunächst in Sein und Zeit, darauf in Holzwege – insbesondere den Kunstwerkaufsatz, Wozu Dichter? und Der Spruch des Anaximander – und dann den 1947 publizierten Aufsatz Über den Humanismus las. Ebenfalls seit 1953 kannte Celan Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung.

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Etappen der Lektüre

retrospektiv erscheint, sich von Heidegger distanzieren zu wollen.332 Darüber hinaus zeigt sich schon an diesen frühen Gedichten, in welchem Grade die Celan beschäftigenden poetologischen Fragen in diesen selbst vertieft und ausgetragen werden. Eine der Voraussetzungen dafür, daß sich Celan auf Heideggers Denken einläßt, ist, daß Heidegger das Verhältnis zwischen Dichten und Denken zu bestimmen versucht und dabei deren systematisch je unterschiedliche Stellung und Aufgabe differenziert. Darüber hinaus betont Heidegger die gemeinsame Differenz von Dichten und Denken zum Gerede des Man, das sich sowohl in der öffentlichen Meinungsbildung als auch in den Wissenschaften manifestiere. Selbst die Wissenschaft (vom Seienden) ergründet ihre eigenen Prämissen nicht, geht über diese hinweg und setzt sich folglich nicht mit dem auseinander, was sich nach Heidegger entzieht und doch „das eigentlich zuDenkende“ (WhD, 4) sei. Heideggers pauschale Feststellungen, daß die Wissenschaft zwar mit dem Denken zu tun habe, nicht aber selbst denke, daß also eine „unüberbrückbare“ „Kluft“ „zwischen dem Denken und den Wissenschaften“ bestehe, die es als solche sichtbar zu machen gelte, und weiterhin daß es zwischen dem Denken und den Wissenschaften „keine Brücke, sondern nur den Sprung“ gebe (vgl. WhD, 4 f.), deuten an, welche Funktion der Dichtung im Denken Heideggers zukommt. Sie soll nicht nur den „Entzug“ des „zu-Denkenden“ anzeigen (WhD, 5), sondern sie soll auch helfen, den nötigen Sprung zum Denkenkönnen zu vollziehen. Das von Heidegger bedachte Zusammenwirken von Dichten und Denken, auf das unten näher eingegangen wird, gibt Celan jedenfalls wesentliche Anknüpfungspunkte, sein eigenes Schreiben poetologisch näher zu bestimmen und im Fortgang auch in Differenz zu Heidegger zu präzisieren, geht es doch auch Celan darum, mit seiner Dichtung eine Differenzerfahrung zur Sprache zu bringen und zu bewirken. In welcher Form die Begegnung von Text zu Text zwischen Celan und Heidegger Gestalt nimmt, das sollen im folgenden weitere Analysen ausgewählter Texte Celans verdeutlichen, die aus der Zeit der ersten Beschäftigung mit Heidegger 1953–1954, über die für Celans Dichtung insgesamt so entscheidende Entwicklungsphase in den Jahren der Entstehung der Bände Sprachgitter (1959) und Die Niemandsrose (1963), bis zum bekannten Heidegger-Gedicht Todtnauberg im Sommer 1967 führen. Auf diesem Wege wird auch deutlich werden, wie eng diese Spur mit der Dichtung Hölderlins verknüpft ist.

332

Felstiner weist in seiner Biographie (Anm. 7) wiederholt darauf hin, wo und zu welchem Zeitpunkt sich Celan mit Heidegger auseinandersetzt. Doch den Gedanken, daß sich Celan in dem, was Heidegger entfaltet, auch wiederfindet, diskutiert er nicht.

Auftakt

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A. AUFTAKT (1954) 1. Andenken und die Kluft zwischen Dichten und Denken Ende September, Anfang Oktober 1954 liest Celan die beiden je als Buch erschienenen Vorlesungen Heideggers Was heißt Denken? und Einführung in die Metaphysik. Im Kontext dieser Lektüre schreibt er im südfranzösischen Mittelmeerort La Ciotat unter anderem das Gedicht Andenken (I, 121), das im Band Von Schwelle zu Schwelle den Zyklus Mit wechselndem Schlüssel abschließt. Ebenfalls im Zusammenhang dieses Studiums, von dem nicht nur die Anstreichungen in seinem Exemplar der Einführung in die Metaphysik zeugen, sondern auch ein eigens angelegtes Notizheft,333 schreibt Celan am 18. November 1954 einen Brief an Hans Bender, der sich mit poetologischen Grundsatzfragen befaßt. Die Analyse dieser Texte erlaubt die Rekonstruktion jener Ansatzpunkte von poetologischer Reichweite, die Celan in der Auseinandersetzung mit Heidegger beschäftigen. Wie also greift Celan Heideggers in Was heißt Denken? entwickelte Differenzbestimmung zwischen dem Dichten und Denken auf und wie führt er sie auch mit Blick auf Hölderlin weiter? Erste Anworten hierauf gibt das Gedicht Andenken, in dem Celan auf bemerkenswerte Weise Heidegger, Hölderlin und die differente Herkunft seines eigenen Dichtens miteinander verknüpft. Heidegger fragt: Was heißt Denken? Die so betitelte Vorlesung entfaltet und transformiert diese Frage dahingehend, daß der Akzent auf doppelsinnige Weise auf das Verbum fällt. „Was uns denken heißt, gibt uns zu denken“ (WhD, 85). Gesucht ist also nicht eine Definition des Denkens, sondern gefragt wird nach jener fordernden Macht, die zum Denken anhält. Nur insofern man auf diesen Anfang des Denkens achthabe, könne das sichtbar werden, was das zu-Bedenkende sei, ohne das kein Denken stattfinden könne. Das gilt umso mehr, als sich das zu-Bedenkende, das Heidegger zu ermitteln sucht, nur ex negativo zu erkennen gibt. Denn jenes, was zum Denken heißt und was also das zu-Bedenkende ist, entzieht sich dem Verstehen. Das „Si333

Im Marbacher Literaturarchiv befindet sich ein unveröffentlichtes Arbeitsheft, das Celans Lektürenotizen zu Heidegger im Herbst 1954 festhält, vgl. Referenz-Nr.: D 90.1.3245. Celan notierte sich dort neben zentralen Gedanken und auffälligen sprachlichen Wendungen Heideggers auch mit der Sigle „ – i – “ versehene Stichworte für weitere Ausarbeitungen. – Das in Celans Nachlaßbibliothek befindliche Exemplar von Was heißt Denken?, Tübingen 21961, ist mit der Widmung Heideggers versehen: „Für Paul Celan zum Dank für die Lesung am 24. Juli 1967“. Gellhaus vermutet darum, daß sich die 1954 angefertigten Notizen auf Heideggers Aufsatz Was heißt Denken? in dessen Band Vorträge und Aufsätze beziehen, der 1954 bei Neske in Pfullingen erschien, vgl. Gellhaus: Datum des Gedichts (Anm. 18), 182. Da aber die Aufzeichnungen Celans genau der Seitenzählung der Buchausgabe von Was heißt Denken? (Tübingen 1954) entsprechen, muß angenommen werden, daß Celan verschiedene Exemplare von Was heißt Denken? nutzte.

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Etappen der Lektüre

chentziehen ist“ nach Heidegger aber „nicht nichts“ (WhD, 5). Heidegger bringt es auf die knappe Formel: „Entzug ist Ereignis“ (ebd.). Dieser Einsicht folgt nach Heidegger auch die Dichtung Hölderlins. Sie selbst ist ein Ereignis, das den Entzug dessen wahrnehmen läßt, was zu bedenken sei. Anhand der Hymne Mnemosyne versucht Heidegger dies darzulegen. Der Mensch ist „allererst Mensch“, wenn er dem „Sichentziehende[n]“ folgt und dadurch ein „Zeigender“ und mithin selbst zum Zeichen wird, welches den Entzug vernehmen läßt (vgl. WhD, 6). So jedenfalls deutet Heidegger Hölderlins ersten Vers des Hymnenentwurfs: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“ (StA II, 195). An dieser Stelle muß allerdings auch festgehalten werden, daß Heidegger der „metahermeneutischen“334 Dimension von Hölderlins Vers ausweicht und das Deutenkönnen gerade dieser Zeichen selbst nicht zur Sache seines Denkens macht. Worauf er vielmehr abhebt, ist der bei Hölderlin implizierte Zusammenhang zwischen Dichten und Denken: Denn beider gemeinsamer Grund ist das Gedächtnis. Um dies plausibel zu machen, geht Heidegger auf den Titel der Hymne ein. Mnemosyne ist die Mutter der Musen. Sie, die Heidegger mit „die Gedächtnis“ übersetzt (WhD, 6), gebiert neben Spiel, Tanz und Musik die Dichtung. Daß Mnemosyne „die Gedächtnis“ ist, deutet aber für Heidegger nicht nur auf ihre Fähigkeit, sich an Vergangenes erinnern zu können, sondern auch, daß das Gedächtnis „an das Gedachte“ denkt (WhD, 7). „Gedächtnis“ versammelt das Andenken, damit das bewahrt sei, „was überall im voraus schon bedacht sein möchte“ (ebd.). Darum ist der „Quellgrund des Dichtens“ nicht irgendein „Vergangenes in der Vorstellung“ (ebd.), sondern vielmehr der Grund des Denkens. Das Andenken hat diesen als solchen zu entdecken und zu bewahren. Für die Dichtung folgt nach Heidegger daraus: Geht sie dahin zurück, aus dem sie „entspringt“ (ebd.), dann wird sie das Andenken selbst als das Grundlegende bedenken müssen. Was dann wiederum die Dichtung gebiert, nämlich das Gedichtete, ist die „An-dacht des Andenkens“ (ebd.). Heideggers Unterscheidung zwischen den bloßen „Vorstellungen“, die Vergangenes erinnern, und dem „Wesende[n]“ und „Gewesende[n]“ (ebd.), das durch die Gedächtnisleistung der Kunst eigentlich zu bedenken wäre, schränkt das, was die Dichtung sei und tun solle, auf das ein, was insbesondere Aufgabe des Denkens ist. Heidegger selbst scheint diese von ihm veranschlagte Übereinstimmung als zu weitgehend empfunden zu haben. So ermahnt er (sich): „Wenn wir Hölderlins Wort eigens in den Bereich des Denkens einholen, dann müssen wir uns freilich hüten, das, was Hölderlin dichterisch sagt, unbedacht mit dem gleichzusetzen, was wir unter dem Namen ‚das Bedenk334

Diesen Begriff wählt Peter Szondi, um das Gebiet der literarischen Hermeneutik verlassen und aus einer Metahermeneutik heraus ein Verständnis ihrer selbst gewinnen zu können, vgl. ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik, Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1975, 408.

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lichste‘ zu denken uns anschicken. Das dichtend Gesagte und das denkend Gesagte sind niemals das Gleiche; aber sie sind zuweilen das Selbe, dann nämlich, wenn die Kluft zwischen Dichten und Denken rein und entschieden klafft. Dies kann geschehen, wenn das Dichten ein hohes und das Denken ein tiefes ist“ (WhD, 8 f.). Heideggers Ansatz, daß Dichten und Denken gemeinsam das Andenken dessen bewahren, was vor allem „im voraus schon bedacht sein möchte“ (WhD, 7), und daß beide gleichwohl nicht das „Gleiche“ sagen, sondern nur dann zuweilen das Selbe sind, wenn die „Kluft“ rein und entschieden klafft, greift Celan in einem Gedicht vom Oktober 1954 auf, das auf seine Weise selbst die Implikationen des Andenkens offenlegt (I, 121): ANDENKEN Feigengenährt sei das Herz, darin sich die Stunde besinnt auf das Mandelauge des Toten. Feigengenährt. Schroff, im Anhauch des Meers, die gescheiterte Stirne, die Klippenschwester.

5

Und um dein Weißhaar vermehrt das Vlies der sömmernden Wolke.

10

Schon dieses noch dem Frühwerk zuzurechnende Gedicht zeichnet aus, was Celans Dichtung späterhin immer unzugänglicher erscheinen läßt: Was hier noch den Charakter „surrealer Bildkompositionen“335 zu haben scheint, bildet bereits ein komprimiertes und artifizielles Geflecht von internen und externen Referenzen, denen wenigstens ansatzweise nachzugehen ist, will man erahnen, was in diesem Gedicht zusammenkommt. Darum werden im folgenden insbesondere die zahlreichen Allusionen auf Heidegger und Hölderlin vorgestellt werden, die verdeutlichen, vor welche Hintergrund sich dann Celans weitere Entwicklung entfaltet. Zu beachten ist schon an diesem Gedicht, daß es das Andenken an das Mandelauge des Toten (v. 3), dessen Weißhaar zur Wolke geworden ist (v. 9–11), dadurch praktiziert, daß es zugleich das Andenken als solches analysiert und hieraus seine Schlüsse zieht. Celan folgt jedenfalls, so die näher zu beleuchtende Hypothese, Heideggers Forderung, wonach gilt: „Alles Gedichtete entspringt aus der An-dacht des Andenkens“ (WhD, 7). 335

Vgl. Manger: Königszäsur (Anm. 183), 162.

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Diese An-dacht des Andenkens wird dadurch strukturiert, daß Celan Heideggers Überlegung aufgreift, wonach das Denken tief und das Dichten hoch seien (vgl. WhD, 8 f.). Um dieses Verhältnis zu erläutern, zitiert Heidegger das nur zwei Strophen kurze Lied Sokrates und Alcibiades336 von Hölderlin, worin Alkibiades den Sokrates fragt, warum er denn dem „Jünglinge“ huldigt: „kennest du Größers nicht?“ (v. 2). Darauf setzt in der zweiten Strophe Sokrates seine Antwort mit den Worten an: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste“ (v. 5). Diese Zeile ist für Heidegger von besonderem Interesse und zwar speziell die „nächste Nähe der beiden Verben ‚gedacht‘ und ‚liebt‘“, welche „die Mitte dieses Verses“ bilden (WhD, 9). Denn diese Nähe verdeutlicht, daß das „Mögen“ „im Denken“ ruht (vgl. ebd.). Was damit aber über das Denken und das Mögen gesagt sei, das, so Heidegger, „ermessen wir erst, wenn wir das Denken vermögen“ (ebd.). Und dieses wiederum „lernen wir nie durch eine Abhandlung“, sondern, dem Schwimmen vergleichbar, nur durch den „Sprung in den Strom“ (ebd.). Diese „nächste Nähe“, die Heidegger mit Hölderlin zwischen den Verben „‚gedacht‘ und ‚liebt‘“ hervorhebt und auch die Schlußfolgerung, daß jedem Denken notwendigerweise ein „Sprung“ vorausgeht, bekommen bei Celan eine eigene Gestalt. In je einer Strophe schroff gegenübergestellt sind das Herz (v. 1), das zu lieben vermag, und die Stirne (v. 7), welche sich auf das Denken verstehen sollte. Mit dieser Zueinanderstellung scheint Celan Heideggers Bild von der „Kluft“ in sein Gedicht übersetzt zu haben, welche zwischen dem hohen Dichten und dem tiefen Denken klafft. Danach sind das Hohe und das Tiefe gerade dann „das Selbe“, wenn man beide als eine Klippe versteht. Was aber sagt dies über den von Heidegger anvisierten Sprung, der das Denken ermöglichen soll? Hat man sich den Sprung ins Denken als den Sprung von der Klippe vorzustellen, deren höchster Punkt die Dichtung ist? Und ist die Stirne gerade deshalb gescheitert, weil sie diesen Sprung versuchte und statt im Strom oder Meer im Grenzbereich zwischen Land und Meer gestrandet ist, wie es ja auch vom Schiff heißt, daß es scheitert, wenn es an Fels oder Klippe zerschellt?337 Wie also ist das Verhältnis zwischen Herz und Stirne im Gedicht Celans bestimmt? Und was sagt hierüber die Apposition Klippenschwester, welche die Stirne näher kennzeichnet? Sind das Herz, das sich von Feigen zu nähren habe, und die Stirn, von der als Gescheiterter keinerlei Wachstum oder 336

Vgl. WhD, 9 und StA I, 260, Hölderlin bezieht sich auf die Lobrede des Alkibiades auf Sokrates in Platons Symposion, 215 a–222 b. 337 Zum Motiv des Schiffbruchs vgl. nicht nur oben Hyperions Fahrt nach Athen (S. 74), sondern auch Celans Interesse an Arthur Rimbauds Bateau ivre, an Mandel’štams Bild von der Dichtung als Flaschenpost, das dieser in dem Essay Über den Gesprächspartner (in: ders.: Die ägyptische Briefmarke, Frankfurt a. M. 1965, 140–149) anführt und an Giuseppe Ungarettis Allegria di naufragi (dt. Freude der Schiffbrüche), vgl. Celan als Übersetzer (Anm. 23), 255 f.

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Kraft zu erwarten ist, Geschwister, die zugleich verwandt und doch hart von einander unterschieden sind? Sind sie gar in dem Sinne Geschwister, wie sich auch Hyperion und Diotima zu solchen bekannten (s. o. S. 82)? Immerhin gibt es neben den offensichtlichen Allusionen zu Hölderlins Hymnen Andenken und Mnemosyne auch eine auf Hyperions Schiksaalslied, auf das ohnehin der Titel des Gedichtbandes Von Schwelle zu Schwelle verweist. Am „Ufer“ sitzend, sich von allen verlassen glaubend, blickt Hyperion „still, von den Schmerzen des Abschieds müd, in die See, von einer Stunde zur andern“ (Hyp II, 94). In diesem Moment der Besinnung fällt ihm das Lied ein, das er „einst in glüklicher unverständiger Jugend“ Adamas „nachgesprochen“ hatte (ebd.). Dieses Schiksaalslied ist ebenfalls von einem ‚schroffen‘ Gegensatz bestimmt. Während „droben im Licht“ „Schiksaallos“ die Himmlischen wandeln (ebd.), ist das Schicksal für die Erdenbürger weniger weich gebettet. Entsprechend heißt es in der letzten Strophe (Hyp II, 95): Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Hyperion ist von Schmerzen über den Abschied erfüllt. Doch im rückblickenden „süßen Angedenken“338 versteht er nicht nur die Bedeutung des alten Lieds, sondern mit ihm erkennt er auch den fallenden Verlauf des eigenes Schicksals. Waren in seiner Jugend einst Gefühl und Verstand (glücklich und unverständig) zweierlei, so ist Hyperion durch den fortwährenden Fall von Klippe / Zu Klippe schließlich dorthin gelangt, wo Herz und Stirn gleichsam Klippengeschwister werden konnten. Im „süßen Angedenken“ ‚fallen‘ beide zusammen. Der blind leidende Mensch wird just dann einsichtig, wenn dieser durch das Schicksal derart geworfen wird, daß er in diesem Scheitern sich selbst und das Fallgesetz der Zeit zu erkennen beginnt. Für diesen Sinnerwerb durch das Leiden hindurch, und sei es auch nur die Gewißheit des Ungewissen, steht jedenfalls Hyperion. Um nun aber sehen zu können, was sich im Gedicht Celans schroff auftut und ob die Opposition zwischen Herz und Stirn kontradiktorisch zu verstehen sei, wonach sich die unterschiedlichen Vermögen, für die Herz und Stirn halb metaphorisch, halb metonymisch stehen, gegenseitig ausschließen, oder 338

Vgl. den Schluß desselben Briefes, Hyp II, 112.

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aber ob es wie bei Hyperion zu einem Zusammenwirken von Gefühl und Verstand kommt, bedarf es zunächst einmal der Klärung, was Celans Gedicht vom Herzen sagt. In der erste Strophe sind nämlich zwei miteinander verschränkte Verkehrungen zu berücksichtigen. Denn nicht das Herz gedenkt einer vergangenen Zeit, sondern die Stunde besinnt sich im Herzen (darin, v. 2); und nicht das innere Auge der Erinnerung sieht den Toten, sondern das Mandelauge desselben ist Gegenstand der Besinnung. Die Stunde ist also nicht die gegebene Anschauungsform für das kontemplative Herz, sondern sie ist selbst das Subjekt, dem das Herz Grund und Ort des Andenkens ist. Die sich besinnende Stunde ist genaugenommen die Stunde, welche den Zeitlauf unterbricht. In ihr kommt die Zeit zum Stehen.339 So wird denn auch keine Bewegung von „Klippe / Zu Klippe“ vorgeführt, sondern das Andenken hat seinen Ort dort, wo eine Klippe schroff herausragt und die Stirne gescheitert ist. Weil die Stunde sich im Herzen stehend besinnt, dürfte sie es sein, die das Herz zweifach auffordert: sei feigengenährt. Soll sich aber das Herz deshalb von Feigen nähren, damit es sich dem Mandelauge des Toten besser nähern kann? Durch die Evokation von Feige und Mandel bekommt das Andenken jedenfalls einen Gehalt, dessen Signifikanz durch den wiederholten Imperativ unterstrichen ist. Denn eine Affinität zwischen Feige und Mandel ergibt sich nicht nur unmittelbar daraus, daß beide Bäume rund um das Mittelmeer wachsen, sondern es sind auch die sexuellen Konnotationen, die beide Früchte haben und die vermuten lassen, daß das Herz fürwahr feigengenährt sein muß, damit es an das Mandelauge des Toten denken kann. Schon bei Griechen und Römern ist die Feige Symbol der Fruchtbarkeit. In vielen Variationen geht mit ihr eine laszive Bedeutung einher.340 In der jüdischen Tradition steht der Feigenbaum auch für Schutz (1. Könige 5, 5) und die Feigenfrucht erinnert an die Väter (Hosea 9, 10). Insofern weist die Feige im doppelten Sinne auf das Geschlecht, dessen Urahnen (genus) das ihre (sexus) nach unerlaubter Erkenntnis hinter dem Feigenblatt verborgen haben (1. Mose 3, 7). Dem ließe sich noch die religiös-eschatologische Bedeutung hinzufügen, welche die Feige für die Evangelisten hat, die in ihr das das Reich Gottes ankündigende Zeichen (Mt 24, 32; Lk 21, 29–31) sehen. Bemerkenswert ist hier aber vornehmlich – denn auch in zwei anderen Gedichten Celans ‚steht‘ die Feige für ein Begehren von erotisch-körperlicher Gestalt341 – der 339

Vgl. auch die gemeinsame Etymologie von Stunde und stehen im germanischen stund- und standan, Kluge: Etymologisches Wörterbuch (Anm. 99), 761 f. 340 Vgl. Lexikon der alten Welt, hg. von Carl Andresen et al., Zürich/Stuttgart 1965, 955 und Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von Hanns Bächtold-Stäublin, Berlin/New York 1987, Bd. II, 1306. 341 Vgl. aus dem Jerusalem-Zyklus vom Oktober 1969 das Gedicht Es stand (III, 96), welches das Sexuelle geradezu überdeterminiert: „ES STAND / der Feigensplitter auf deiner

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geschlechtliche Zusammenhang zwischen dem (Toten-)Gedächtnis und einer Dichtung, die ihrer Herkunft sowohl im historischen als auch im poetologischen Sinne gedenkt. Letzteren Aspekt deckt auf seine Weise auch Heidegger auf, wenn er bezüglich Hölderlins Hymne hervorhebt, daß Mnemosyne „als Braut des Zeus in neun Nächten die Mutter der Musen“ wird und daß also die Dichtung dem „Schoß der Mnemosyne“ gehört (WhD, 7). Ein erinnerndes Gedenken gibt es danach darum nur dann, wenn dieser Schoß, der „Quellgrund des Dichtens“ (ebd.), miterinnert wird. Celan scheint mit der zweifachen Forderung, die auf die Feige weist, auch auf diesen nährenden Grund der Dichtung, das ist die weibliche Gestalt, die das Andenken überhaupt ermöglicht, Bezug genommen zu haben. Danach wäre das Herz dann feigengenährt zu nennen, wenn es seiner Mutter, „der Gedächtnis“, gedenkt. Daß Heidegger Mnemosyne mit „die Gedächtnis“ übersetzt, hat denn auch weniger seinen Grund darin, „dem griechischen Femininum“ von Μνηµσúνη genusgetreu entsprechen zu wollen (WhD, 6), denn die Genealogie hervorzuheben, wonach die Künste Mnemosyne „gehören“ (WhD, 7). Celans Forderung, Feigengenährt sei das Herz, hebt diese Genealogie ebenfalls hervor, indem das Nährende der Feigen sowohl die Mutterbrust (der Mnemosyne) als auch ihre Kinder, nämlich die selbst „kinderlose“ Kunst,342 evoziert. In diesem Sinne könnte denn auch Celans Bild von dem „Tropfen / Feigenmilch“ (N, 97) in dem Gedicht Le Périgord als die nährende Muttermilch ‚der Gedächtnis‘ verstanden werden. Zeigen auch die Imperative im Gedicht Celans die unabdingbare Vorbedingung des Gedenkenkönnens an, und wird mit ihnen gleichsam zur „An-dacht des Andenkens“ (WhD, 7) aufgerufen, so gilt das Andenken selbst dem Mandelauge des Toten. Mit diesem verbindet sich, wie auch andere Gedichte zeigen, insbesondere „das Auge des Juden“.343 Die mediterranen Früchte Lippe, // es stand / Jerusalem um uns, // es stand / der Hellkiefernduft / überm Dänenschiff, dem wir dankten, // ich stand / in dir.“ Vgl. auch das vermutlich im September 1964 entstandene und von Celan nicht veröffentlichte Gedicht Le Périgord (N, 96 f.), das ebenso wie Andenken (I, 121) zahlreiche Anspielungen auf Hölderlins Hymne Andenken aufweist und ebenfalls in Südfrankreich geschrieben wurde. Es endet mit den Zeilen: „Zum hohlen, / unten beim Brunnen vergrabnen / Leuchtzahn / tastet sie sich, deine trockne, / immer noch stern- / süchtige Seele: ein Tropfen / Feigenmilch fiel / dorthin.“ Bollack sieht in diesen Gedichten einen wesentlichen Zusammenhang zwischen der erotischen Ekstase und dem Totengedächtnis. Zur Feige vermerkt Bollack: „Die Feige notiert seit alters, auch schon in der Antike, das weibliche Geschlecht“, ders.: Herzstein. Über ein unveröffentlichtes Gedicht von Paul Celan, München 1993, 52, vgl. auch 81. 342 Vgl. den Anfang der Meridian-Rede, III, 187. 343 Vgl. Leonard M. Olschners Anmerkungen zum Gedicht Mandorla (I, 244), in: Jürgen Lehmann (Hg.): Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose“, Heidelberg 1997, 179. Das im Mai 1961 geschriebene Gedicht Mandorla bezieht sich kritisch auf das Gedicht Andenken (I, 121). Es ist gleichermaßen ergänzend und entgegensetzend. Etwa dadurch,

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Feige und Mandel geben dem Gedicht also neben der sexuell-poetologischen auch eine topographisch-historische Ausrichtung, die von der Mittelmeerküste Südfrankreichs nach Osten führt. Diese Blickrichtung wird erwidert und bestätigt durch die folgenden Strophen. Sowohl der Anhauch des Meers (v. 5) als auch der Vergleich der im spätsommerlichen Licht wohl golden glänzenden sömmernden Wolke mit dem Vlies (v. 10 f.), das an das Schwarze Meer und genauer an die fruchtbare Anschwemmungsebene Kolchis erinnert, wo Jason und die Argonauten das Goldene Vlies suchten, weisen dorthin. Damit ist allerdings nicht ausgemacht, ob der hier erinnerte Tote, wie Israel Chalfen meint, Celans gescheiterter Vater sei, der vom Aufbruch nach Zion (so deutet Chalfen feigengenährt) träumte, aber Palästina nie hat sehen können,344 oder ob vielleicht schon dieses frühe Gedicht „Dem Andenken Ossip Mandelstamms“ gilt,345 dessen Verbundenheit gerade mit der Kolchis überliefert ist.346 Muß also unbeantwortet bleiben, wem das Andenken konkret gilt, so daß es das Weißhaar betreffend von der „Judenlocke“ sagt, daß sie „nicht grau“ (v. 8) wird und insbesondere dadurch, daß die Einheit des Kompositums Mandelauge aufgebrochen wird: „Dein Aug steht der Mandel entgegen“ (v. 10). – Als „mandeläugig“ hat Celan in dem Gedicht Vor einer Kerze (I, 110 f.) auch die Gestalt des Leuchters (vgl. zur Menorah, 2. Mose 31–34) und die Flamme der Kerze bezeichnet, die zum Gedenken an die „Mutter“ aufgestellt ist. Auch in diesem zu Von Schwelle zu Schwelle gehörenden Gedicht spielt Celan auf den Zusammenhang von Gedächtnis und Geschlecht an. Die Gestalt der Flamme, die dem „klaffenden Golde“ entschwebt, ist mandeläugig wie „Mund und Geschlecht“ (I, 110). 344 Vgl. Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt a. M. 1978, 127 f. 345 Vgl. die Widmung des Bandes Die Niemandsrose (I, 207), dem zunächst als Motto Verse Hölderlins aus der Hymne Der Rhein vorausgehen sollten: „… Denn / Wie du anfingst, wirst du bleiben, / So viel auch wirket die Not …“, vgl. Celan: TCA Niemandsrose, 4. Hölderlin und Osip Mandel’štam derart in einen Zusammenhang zu stellen, erwog Celan im übrigen noch einmal für das Gedicht In eins (I, 270), vgl. die Vorarbeiten, die Verse aus Mandel’štams Band Tristia und Hölderlins Patmos beinhalten, TCA Niemandsrose, 106 f. Celans Notiz, „Am Mandelstamm zackernd, aufs neue“ (Notizbuch 15, 50, zit. n. Celan als Übersetzer (Anm. 23), 15), deutet nicht nur darauf hin, daß Celan seine Übersetzungen des russischen Dichters mit den Pindar-Übertragungen Hölderlins vergleicht, sondern auch, daß er bei allen Unterschieden eine Nähe zwischen Hölderlin und Mandel’štam vernimmt. Zum Zackern, vgl. unten S. 217. 346 Vgl. Osip Mandel’štam: Stichotworenija, Leningrad 1974, 193 f. und die Biographie seiner Frau Nedezda Mandel’štam: Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie, aus dem Russischen von Elisabeth Mahler, Frankfurt a. M. 1971, 289. Diese Hinweise sind entnommen von Christoph Perels: Zeitlose und Kolchis. Zur Entwicklung eines Motivkomplexes bei Paul Celan, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F. 29 (1979), 47–74, hier 60. Auf Perels’ Studie wird bezüglich Celans Die Silbe Schmerz zurückzukommen sein. Leider berücksichtigt Perels in seinem Aufsatz Celans Gedicht Andenken nicht. Wie bedeutsam für Celan die Kolchis war, belegt auch Ivanovi´c in ihrer Studie Geheimnis der Begegnung (Anm. 21), 103 f., die eine Celan bekannte Passage aus Leo Schestows Buch Auf Hiobs Waage. Über die Quellen der ewigen Wahrheiten, Berlin 1929, zitiert, in der Schestow zwischen der Kolchis und den Ländern der Verheißung, sowie zwischen den Argonauten und dem

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ist dennoch deutlich, daß die Bilder der ersten beiden Strophen durch die unscheinbare aber folgenschwere ‚Addition‘ der dritten Strophe – Und (v. 9) – eine Wendung nehmen, die auch auf die Bedingungen des Gedenkenkönnens zurückweist und mithin poetologisch bedeutsam ist. Denn in der dritten Strophe konkretisiert sich das Andenken auf jenen, dessen Weißhaar die Wolke vermehrt. Da nicht nur bei Celan, sondern in der sog. Postholocaustliteratur überhaupt,347 die Wolke mit dem Rauch der in den Krematorien der Vernichtungslager verbrannten Getöteten buchstäblich assoziiert ist und also die Wolken Gräber In der Luft (I, 290) sind, ist dieses mit der Wolke verbundene Wissen von ihr nicht zu subtrahieren. Diese Assoziation von Rauch und Wolke zu einem ununterscheidbaren Element und dazu noch der Vergleich der Wolken mit dem Vlies, das zunächst einmal das Fell und dahingehend das ‚Weißhaar‘ des Schafs ist, findet sich bemerkenswerter Weise bereits in den Vorstufen zu Mnemosyne bei Hölderlin. Dort bestimmt der Zusammenhang von Rauch, Wolke und Schaf allerdings ein seltsam friedsames Bild, das auf die – von Heidegger oft zitierte – Gnome folgt:348 […] Lang ist Die Zeit, es ereignet sich aber Das Wahre. Wie aber liebes? Sonnenschein Am Boden sehen wir und trokenen Staub Und tief mit Schatten die Wälder und es blühet An Dächern der Rauch, bei alter Krone Der Thürme, friedsam; und es girren Verloren in der Luft die Lerchen und unter dem Tage waiden Wohlangeführt die Schaafe des Himmels.

jüdischen Volk eine Parallele zieht. Interessanterweise nennt Schestow in diesem Zusammenhang auch Kolumbus, auf den Celan in Die Silbe Schmerz eingeht, vgl. unten Kap. Celan: Ausfahrt ohne Heimkehr. Die Silbe Schmerz. 347 Eindringlich und unzweideutig ist die Verbindung zwischen den Toten, denen das Andenken gilt, und der Wolke am Himmel auch in den Gedichten Hüttenfenster und La Contrescarpe, die das Gedicht Die Silbe Schmerz umgeben. In Hüttenfenster heißt es: „Das Aug, dunkel: / als Hüttenfenster. Es sammelt, / was Welt war, Welt bleibt: den Wander- / Osten, die / Schwebenden, die / Menschen-und-Juden, / das Volk-vom-Gewölk, magnetisch / ziehts, mit Herzfingern, an / dir, Erde:“, I, 278. In La Contrescarpe findet sich die eingeschobene Erinnerung von Celans erstem kurzen Aufenthalt am 9. November 1938 in Berlin bei seiner Reise nach Paris: „Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahnhof / floß deinen Blicken ein Rauch zu, / der war schon von morgen“, I, 283. 348 Erste und zweite Vorstufe von Mnemosyne, StA II, 193, v. 16–25, bzw. StA II, 195, v. 15–24.

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Es ist ausgerechnet der bei Celan ungenannte, aber mitzudenkende Rauch, der bei Hölderlin – noch unkontaminiert vom historischen Index der Erinnerung nach der Shoah – an Dächern aufsteigt und dergestalt eine Verbindung zwischen unten (Am Boden) und oben (Himmel) herstellt, die auch zwischen dem von oben kommenden Sonnenschein und dem Schatten der tiefen Wälder vermittelt. Neben dem Rauch sind es die weidenden Schafe, die einen Übergang zwischen der Welt des Menschen und der ihn umgebenden Natur herstellen. Die Schafe sind Metapher für die Wolken des Himmels, können aber im Kontext der hier gezeichneten Idylle auch konkret als das befriedete Vieh aufgefaßt werden, das auf der Weide zwischen Thürmen und unwirtlichen Wäldern grast. In der aus zwei semantischen Feldern verquickten sprachlichen Wendung, es blühet / An Dächern der Rauch, wird die Synthese von schöner Natur (blühen) und beschützter Menschenwelt (Dach) suggestiv vorgeführt. Das Irritierende an diesem Verfahren wird dann selbst in ein Bild gesetzt: es girren / Verloren in der Luft die Lerchen. Es ist diese Verlorenheit der Lerchen in der Luft, die darauf hinweist, daß Hölderlins Verse insgesamt hergebrachte Koordinaten grundlegend verunsichern, als da sind ‚Natur und Welt‘, ‚Licht und Schatten‘ sowie ‚oben und unten‘. Das Wahre ereignet sich offenbar als girrender Ton und das vorzugsweise dann, wenn Singende sich derart verlieren, daß vertraute Gegensätze und ihre Abgrenzungen aussetzen. Celan, ebenfalls und von neuem der Frage verbunden, wie sich denn Wahres in langer Zeit ereignen könnte, faßt Hölderlins Antwort in der Genitivverbindung das Vlies / der sömmernden Wolke zusammen. Die Schafe können jedoch keine Metapher mehr für die Wolke sein, weil diese, so wie sie ist und ohne daß sie eine Metapher oder Allegorie wäre, an anderes denken läßt als sie selbst ist. Kann also von ‚Schäfchenwolken‘ auch keine Rede mehr sein, so schließt Celan gleichwohl nicht nur durch das Vlies, sondern auch durch das Partizip sömmernde mittelbar an Hölderlins Schaafe an. Sömmern heißt nämlich, das Vieh im Sommer der Sonne auszusetzen und es auf die Weide zu schicken. Sömmern hat aber zugleich die andere Bedeutung, daß beispielsweise Bäume soviel Schatten werfen, daß kein anderes Gewächs unter ihren Schatten aufkommen kann.349 Manger sagt darum, daß das Sömmernde „als Zäsur zwischen Licht und Schatten“ liegt.350 Präzise faßbar wird die hier in der Tat angezeigte Zäsur aber vor allem durch das Prädikat der dritten Strophe. Während Hölderlins sommerliches Bild allein dem Takt der vier Jahreszeiten ausgesetzt zu sein scheint, macht bei Celan insbesondere das Verb vermehrt deutlich, daß die sömmernde Wolke, die zunächst nicht minder idyllisch anmutet, von einer anderen Zeiterfahrung bestimmt ist. Das ist insbesondere 349

Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1801, Bd. IV, 139. 350 Manger: Königszäsur (Anm. 183), 164.

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an den implizierten Rückverweisen auf die ersten Strophen abzulesen. Denn das Wort vermehrt nimmt nicht nur als Reim die Forderung feigengenährt auf und betont die Konjunktion Und (v. 9), sondern es wirkt als Homophonie (mehr/Meer) auch auf den Anhauch des Meers zurück und gibt diesem Wind damit nachträglich eine weitere Valenz. Was an die Klippe vom Meer her angehaucht wird, ist die um den entscheidenden Hauch vermehrte Wolke. Sie, die gewissermaßen vom ‚Nordostwind‘ an die südfranzösische Küste angehaucht wird – wo Celan das Gedicht schrieb –, setzt das Andenken in Gang beziehungsweise „giebt“, wie Hölderlin in seiner Hymne Andenken schreibt, das „Gedächtniß“ (vgl. StA II, 189, v. 57). Schon für Hölderlin dürfte eine implizierte Homophonie in seiner nach Südfrankreich ausgerichteten Hymne bedeutsam gewesen sein. Denn „die See“ (la mer) „giebt“ auch deshalb das „Gedächtniß“, weil Mnemosyne die Mutter (la mère) der Dichtung ist.351 Angesichts dieser Aufladung des Meers ist bei Celan auch konkret an seine leibliche Mutter zu denken, die mit der sömmernden Wolke über das Meer getragen wird und als dieses Gedächtnis das Andenken bestimmt. Bevor näher auf die hier angespielte Hymne Hölderlins eingegangen wird, die gut 150 Jahre vor Celans Gedicht 1803/04 verfaßt wurde,352 ist eine weniger auffällige Auseinandersetzung Celans mit Heidegger anzumerken. Denn auch durch die Wiederholung der Präposition An- im ersten Vers der zweiten Strophe, womit das (An-)Denken und der (An-)Hauch zusammengeführt werden, gibt sich Celan als Leser von Heideggers Texten zu erkennen. Im Juli 1953 machte sich Celan bei folgendem Absatz in Heideggers Aufsatz Wozu Dichter?, der zwei Verse Rilkes kommentiert, Anstreichungen: „Der Hauch, um den die Wagenderen wagender sind, meint nicht nur und nicht zuerst das kaum merkliche, weil flüchtige Maß eines Unterschiedes, sondern bedeutet unmittelbar das Wort und das Wesen der Sprache. Diejenigen, die um einen Hauch wagender sind, wagen es mit der Sprache. Sie sind die Sagenden, die sagender sind. Denn dieser eine Hauch, um den sie wagender sind, ist nicht nur Sagen überhaupt, sondern der eine Hauch ist ein anderer Hauch, ein anderes Sagen als sonst das menschliche Sagen ist. Der andere Hauch wirbt nicht mehr um dieses oder jenes Gegenständige, er ist ein Hauch um nichts. Das Sagen des Sängers sagt das heile Ganze des weltischen 351

Diese Verknüpfung zwischen der See, dem Gedächtnis und der Mutter der Musen (Mnemosyne) scheint weit hergeholt und darum unbegründet. Hätte Hölderlin tatsächlich auf diesen Zusammenhang anspielen wollen, warum schreibt er dann nicht giebt Gedächtniß ‚das Meer‘. Die Erklärung hierfür könnte sein, daß Hölderlin gerade an dieser Stelle die Initialen von Susette Gontard (Gedächtniß – See) ins Gedächtnis seiner Schrift eintragen wollte, vgl. oben Anm. 141. 352 Während Beißner Andenken auf das Frühjahr 1803 datiert, zieht die Ausgabe von Knaupp auch 1804 als Entstehungsjahr in Betracht, vgl. StA II, 800 u. SWB III, 289.

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Daseins, das unsichtbar im Weltinnenraum des Herzens sich einräumt. Der Gesang geht dem zu Sagenden nicht einmal erst nach. Der Gesang ist das Gehören in das Ganze des reinen Bezuges. Singen ist gezogen vom Zug des Windes der unerhörten Mitte der vollen Natur. Der Gesang ist selbst: ‚Ein Wind.‘“353 Wie oben (Kap. Nach 1945 – Wozu Dichter?, S. 127 ff.) analysiert, hebt Heidegger in Wozu Dichter? mit Verweis auf Rilke auf die Sprache ab, die, wenn man ihr Wesen beachten würde, als Tempel des Seins einen privilegierten Zugang zur Mitte und damit zum Wesen des Menschen habe (vgl. WD, 318 [294]). Wer die Sprache als solche wagt, gibt eine um einen Hauch andere Sprache zu erkennen „als sonst das menschliche Sagen ist“. Dieser Hauch verwandelt das Verhältnis zur Sprache derart, daß er selbst ein „anderer Hauch“ zu nennen ist. Er ist genauer ein Hauch um nichts. Was dieses nichts kennzeichnet, sagen dann die Rilkes Texten entnommenen Bilder, die Heidegger im abschließenden Teil seines Vortrages in seine Argumentation integriert. Ob vom „heilen Ganzen des weltischen Daseins“ die Rede ist, vom „Weltinnenraum des Herzens“, worin sich das heile Ganze „unsichtbar“ einräumt oder „das Ganze des reinen Bezuges“ betont wird, Heidegger geht es mit Rilke um die „unerhörte Mitte der vollen Natur“, auf die die Sprache heil, unsichtbar und rein bezogen sei (vgl. WD, 317 f. [293]), sofern sie nicht „zu einem bloßen, von jedermann gleichförmig benutzbaren Zeichensystem herabgesetzt“ (WhD, 168) wird. Das Wagnis der Dichter dagegen, einen anderen Hauch zu wagen, der keinen bestimmten Gegenstand repräsentiert, ermöglicht dann die „er-innernde Umkehr“, welche „im Unheilen das Heile“ erinnert (WD 318 [293]). Das entspricht der Konzeption, wonach das Andenken nicht darin besteht, Bilder vergangener Begebenheiten in der „Vorstellung“ aufzurufen, sondern vielmehr das „Gewesene“ als den Grund des Denkens freizulegen (vgl. WhD, 7). Dieser Bewegung, sich mittels der Sprache der Dichtung respektive mittels des Andenkens den heilen Grund zu erschließen – im Rilkeaufsatz formuliert Heidegger: „Unheil als Unheil spurt uns das Heile. Heiles erwinkt rufend das Heilige.“ (WD, 319 [294]) –, steht Celans Gedicht Andenken allerdings schroff (v. 5) entgegen. Celan betont zwar ebenfalls, daß die Erinnerung im Herzen (darin, v. 2) stattfindet, doch der Anhauch des Meers ist allenfalls insofern ein Hauch um nichts, als dieser dasjenige ‚wolkige Nichts‘ zu bedenken gibt, an dem die Stirn und ihr Kognitionsvermögen scheitert. Das in diesem Anhauch und damit das in dieser Sprache mitgebrachte ‚Mehr‘ des Schattens der sömmernden Wolke erinnert nicht die unerhörte Mitte der vollen Natur, sondern es stellt im Herzen die sich besinnende Stunde still und läßt in diesem 353

WD, 317 f. [293]; Heidegger zitiert Rilkes Verse: „In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. / Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.“, vgl. Rilke: Die Sonette an Orpheus (1922), I. Teil, III. Gedicht, in: ders.: Gedichte (Anm. 292), 676.

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Moment das Mandelauge des Toten aufblicken. Denn erst wenn dieses Auge aus der Geschichte zurückblickt, ist das Herz so feigengenährt, daß die Stunde des Andenkens sich auf das besinnen kann, was für Celan das Zu-Bedenkende ist. Celan folgt Heidegger wohl darin, daß er in seinem Gedicht ebenfalls die Herkunft der Dichtung aus dem Gedächtnis (Mnemosyne, la mère) hervorhebt, um so das Andenken selbst bedenken zu können. Doch führt dies schon in diesem frühen Gedicht weniger dazu, das Gedächtnis als „die Versammlung des Denkens“ (WhD, 1, vgl. auch 7) zu begreifen, als vielmehr die Herkunft des Gedächtnisses zu bedenken, das sich einer spezifischen Topographie verdankt. Diese Topographie ist zum einen historisch bestimmt, zum anderen ist sie aber auch eine Topo-graphie im poetologischen Sinne, weil die Schrift der Dichtung der Ort des Gedenkens ist. Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Aspekte, die beide das Andenken determinieren und die je ein Moment der Differenz zu Heidegger ausmachen, hat Celan insbesondere an Hölderlins Hymne Andenken studieren können. Auch Hölderlins Text zeigt an, was Celan schon um 1954 – in seiner vollen Tragweite aber erst in den folgenden Jahren – als Grundproblem seiner Dichtung ausführt: Das Gedicht hat den unumgänglichen, aber beunruhigenderweise ambivalenten Umschlag der Erinnerung in ein Gedächtnis-Zeichen zu vollziehen, weil sonst weder das Andenken eine Statt findet, noch überhaupt das Gedicht ein Gedicht und der Gesang ein Gesang ist. Das Beunruhigende an diesem Umschlag aber ist, daß die Zeichen des Gedichts Gefahr laufen, deutungslos zu werden. So entrückt und verstellt das Gedicht gerade das, was durch es erinnert werden soll. Celans sömmernde Wolke ist darum nicht einfach die unmittelbare Erinnerung an den Toten, sondern als diejenige Wolke, die sich zwischen Licht und Schatten stellt, zeigt sie an, daß sie sich auch vor das stellt, dessen das Gedicht eingedenk ist. Auf dieses Problem gehen neben Hölderlins Entwurf Mnemosyne, der die Deutungslosigkeit und Verlorenheit der dichterischen Sprache in der Fremde zu bedenken gibt (vgl. StA II, 195), auch die Schlußverse der Hymne Andenken ein (StA II, 189): 56

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[…] Es nehmet aber Und giebt Gedächtniß die See, Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen, Was bleibet aber, stiften die Dichter.

Hölderlins Verse heben wie bereits oben angemerkt wurde (s. Anm. 141) hervor, daß die Erinnerung an die Lieb’, welche die Augen fleißig heftet, vom Gedächtniß nicht nur verwandelt gegeben, sondern auch genommen wird. Dieses Zugleich von Nehmen und Geben macht darauf aufmerksam, daß das Andenken immer auch ein Vergessen ist, weil die Dichtung eine Transformation vollziehen muß. Denn die Dichter können nur dann Bleibendes stiften, wenn

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sie an Stelle der Erinnerung Zeichen setzen, in denen sich das Gedächtnis neu ausformt. Celan – der im übrigen in seiner Hölderlin-Ausgabe nicht den immer wieder zitierten letzten Vers, sondern nur die Zeilen 56 f. am Rand anstrich, die das Verhältnis zwischen Gedächtnis und See betreffen – hat in seinem Gedicht, indem er neben dem Feigenbaum auch Hölderlins Bildfeld von Meer, Küste und Wind und die Differenzierung von Herz und Stirn354 aufgreift, das visualisiert, was auch Hölderlin in seiner Hymne als zentral für den widersprüchlichen Prozeß des Andenkens herausstellt. So ist die auffällige Gemeinsamkeit beider Texte, daß sie jeweils eine Küstenlandschaft skizzieren. Denn dieser Grenzbereich gibt Wesentliches über die Künste und die Struktur des Andenkens zu erkennen. Insofern werden in den Bildern, die insbesondere bei Hölderlin sehr präzise auf die Lokalitäten von Bordeaux und den nördlich gelegenen Lauf der Garonne eingehen, auch die Prämissen und Konsequenzen des Andenkens überhaupt vorgestellt. So ist die Klippe der Ort des Andenkens, weil das Andenken nur dann ‚entspringt‘, wenn die Erinnerung auf einen herausragenden Widerstand trifft, der sich im Gedächtnis als pars pro toto einprägt. Genau in diesem pars pro toto besteht aber auch das strukturelle Vergessen, das mit dem Andenken einhergeht. Darum muß dieser Tendenz, daß sich etwas als das Ganze ausgibt, dadurch entgegengewirkt werden, daß sie als solche vorgeführt und reflektiert wird. Hölderlins Hymne beginnt (StA II, 188): Der Nordost wehet, Der liebste unter den Winden Mir, weil er feurigen Geist Und gute Fahrt verheißet den Schiffern. Geh aber nun und grüße Die schöne Garonne, Und die Gärten von Bourdeaux Dort, wo am scharfen Ufer Hingehet der Steg und in den Strom Tief fällt der Bach, darüber aber Hinschauet ein edel Paar Von Eichen und Silberpappeln; Noch denket das mir wohl und wie Die breiten Gipfel neiget Der Ulmwald, über die Mühl’, Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum.

354

Vgl. die Entgegensetzung in der Mitte von Hölderlins Hymne: hier die „sterblichen / Gedanken“, dort das Gespräch über „Des Herzens Meinung“, v. 30–36.

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Wenn im folgenden Strukturverwandtes zwischen Celans und Hölderlins Andenken markiert wird, dann muß immer mitbedacht bleiben, daß Hölderlin von seiner schwäbischen Heimat her die Küste bei Bordeaux durch den Nordost grüßen läßt, während der nämliche Wind bei Celan, der sein Gedicht in Südfrankreich schrieb, die Wolke mit dem zu Rauch Gemordeten herüberträgt. Der Wind respektive Anhauch aber ist jeweils das Element, das eine räumliche und zeitliche Distanz überwinden soll. Wo kommt er an und wie wird er empfangen? Unmittelbar am scharfen Ufer, wo der Bach tief in den Strom fällt, also auf dieser Klippe (darüber, v. 10), steht ein edel Paar / Von Eichen und Silberpappeln. Daß diese ungleichen Bäume zusammen ein Paar bilden, unterstreicht, daß sie die Grenze zweier heterogener Sphären verkörpern. Mit diesen Bäumen geht der Blick (Hinschauet, v. 11) ins Landesinnere zum Ulmwald und zum Feigenbaum, die sich nahe bei den Arbeits- und Wohnstätten der Menschen (Mühl’ und Im Hofe) befinden. Zu diesen Immobilien kontrastiert Hölderlin die mobilen Schiffer, welche die Welt bereisen und neue Länder entdecken. Mit dem Nordost gilt den Schiffern das Mitgefühl des lyrischen ichs. Wie bedeutsam aber selbst für die Seefahrer der Baum als Repräsentant und Anzeiger der jeweiligen Grundstimmung ist – wie ja auch bei Celan das Andenken erst durch Feigen- und Mandelbaum Gehalt bekommt –, unterstreicht Hölderlins Wort, daß die Schiffer „jahrlang, unter / Dem entlaubten Mast“ (v. 45 f.) unter großen Entbehrungen ausharren, um den Reichtum und „Das Schöne der Erd“ zusammenzubringen (vgl. v. 42 f.). Zwischen diesem entlaubten Mast, der zum einen bildhaft die Askese der Schiffer anzeigt, zum anderen aber auch ein Bild für die deutungslosen Zeichen und die fast in der Fremde verlorene Sprache ist,355 und den Bäumen auf dem Lande (der Ulmenwald mit seinen breiten Gipfeln und der wachsende Feigenbaum) stehen also am abgründigen scharfen Ufer Eiche und Silberpappeln. Diese Zwischensphäre ist der Ort des Andenkens. Daß die Bäume überhaupt und diese beiden auf der Klippe stehenden insbesondere für das Andenken eine herausragende Bedeutung haben, darauf insistiert auch Celan. Und das nicht nur mit dem Zitat des Feigenbaums, sondern auch dadurch, daß er sein Gedicht Andenken auf bemerkenswerte Weise durch das im Zyklus vorhergehende Gedicht vorbereitet, das ebenfalls im Kontext von Hölderlins Hymne zu lesen ist. Das Paar von Eiche und Silberpappel wird bei Celan allerdings ersetzt durch die Überblendung von Pappel und Finger. Die ersten beiden Strophen dieses Gedichts lauten (I, 120): 355

Vgl. den Anfang des Entwurfs der Hymne Mnemosyne: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“, StA II, 195. – Zum entlaubten Mast vgl. oben auf S. 74 auch die „nakten Stämme“, die Hyperion in Athen sieht.

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DIE FELDER Immer die eine, die Pappel am Saum des Gedankens. Immer der Finger, der aufragt am Rain. Weit schon davor zögert die Furche im Abend. Aber die Wolke: sie zieht.

Pappel und Finger ragen auf. Doch nicht jene steht am Rain zwischen den Feldern und nicht dieser bemerkt den Saum des Gedankens, sondern es ist gerade umgekehrt. Diese Überkreuzung der ‚Bildfelder‘ lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was zwischen ihnen passiert. Dazwischen, das ist der Rain selbst, welcher den Grenzstreifen zwischen zwei Feldern bildet, und in gewisser Weise auch der Saum, an dem als Naht oder Randbereich etwas umgeschlagen ist oder endet. Steht die Pappel also darum am Saum, weil der Gedanke dort in das Andenken umschlägt beziehungsweise dieses in jenen? Pappel und Finger ragen jedenfalls wie Schwellen an einer Grenze auf. Darin sind sie mit Hölderlins Eiche und Silberpappel vergleichbar. Mit gehörigen Abstand zu Rain und Saum (Weit schon davor) kommt das gefurchte Feld und damit die Arbeit des Landmanns zum Stehen, der ebenfalls seinen Boden wendet und umschlägt. Warum aber zögert die Furche? Droht am Ende des Feldes – und der Tageszeit (Abend) – eine Gefahr? Allein die vom Wind getragene Wolke zieht weiter. Sie zieht gleichsam statt der Furche über die Begrenzung zwischen den Feldern hinaus. Das legt das umgekehrte Bild nahe, wonach die Wolke dann selbst vom aufragenden Finger ‚gefurcht‘ wird, wenn sie über die am Saum stehende Pappel hinwegzieht. Dort, wo das Feld nicht ist und wo also die Furche noch nicht gezogen wurde, dort ragen Pappel und Finger auf, um schließlich selbst in einer anderen Sphäre eine Spur zu hinterlassen. Dort also, wo der Gedanke nicht ist, beziehungsweise dort, wo er seine eigene Begrenzung denkt, am Saum – der auch eine Last ist356 – wird das für einen Moment festgehalten, was sonst einfach weiterzieht. Damit wird der Rain zwischen den Feldern zum Kreuzpunkt, an dem die aufragende Vertikale (Pappel, Finger) mit der horizontal ziehenden Wolke aufeinandertrifft. Die Pappel, die, wie dann in den beiden Schlußzeilen deutlich gesagt wird, die Aufmerksamkeit an sich bindet – „Immer dies Aug, dessen Blick / die eine, die Pappel umspinnt.“ (I, 120) –, überträgt auf der Grenze zwischen den Feldern stehend etwas: Überträgt sie den 356

Vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch (Anm. 99), 628.

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Gedanken oder gar das Andenken? Die Wolke jedenfalls zieht über den Rand des Gedichts Die Felder zum nächsten Gedicht (Andenken) weiter und zeigt sich dort als sömmernde Wolke (I, 121). Das nachfolgende Gedicht Andenken ist durch die Kollision zwischen dem Anhauch des Meers und der Klippe gekennzeichnet. Dieses Aufeinandertreffen von amorpher Wolke und Gestalt erzwingendem vertikalen Gegenstand (Finger, Pappel beziehungsweise schroffe Klippe) weist auf eine Konstellation, die auch für den Schluß von Hölderlins Hymne bestimmend ist (StA II, 189): Nun aber sind zu Indiern Die Männer gegangen, Dort an der luftigen Spiz’ An Traubenbergen, wo herab Die Dordogne kommt, Und zusammen mit der prächt’gen Garonne meerbreit Ausgehet der Strom. Es nehmet aber Und giebt Gedächtnis die See, Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen, Was bleibet aber, stiften die Dichter.

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Erneut ist von den Schiffern die Rede, den Männern der Tat, die wie Kolumbus nach Indien aufbrachen. Genaugenommen aber geht es in der letzten Strophe um den Ort, von dem sie ihre Reise ins Ungewisse begonnen haben. Damit schlägt die Hymne einen Bogen zurück zum Anfang. Beidemal ist das gezeichnete Bild durch eine Kreuzung der Horizontalen durch die Vertikale strukturiert. Während der Nordost auf das scharfe Ufer mit seinen Bäumen trifft, die diese Bewegung auffangen, sind es nun die in die Ferne gehenden Männer, die an der luftigen Spiz’ aufbrechen. Die Gegenbewegung zum Gehen betonend, kommt an dieser Spitze die Dordogne herab, um dann mit der prächt’gen Garonne meerbreit auszugehen. Das von oben kommende und in die Breite gehende Wasser der Flüsse korrespondiert dann in den Schlußversen mit dem Geben und Nehmen der See. Das Gehen der Männer ist insofern auch als ein Nehmen und also als ein Vergessen dessen reflektiert, was an der luftigen Spitz’ herunterkommt. Ist diese Spitze auch nicht identisch mit dem scharfen Ufer (v. 8), das Eiche und Silberpappel überragen,357 so wird doch durch die semantische Anknüpfung (scharf und spitz) nochmals hervorgehoben, daß die Grenze zwischen 357

Während sich das scharfe Ufer auf die Hafenanlagen von Bordeaux bezieht, ist mit der luftigen Spiz’ vermutlich die Landspitze Bec d’Ambès gemeint, an der die Garonne und die Dordogne in die Gironde übergehen, vgl. auch Dieter Henrich: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986, 43ff.

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Land und Meer eine Gefahrenzone ist, die durch einen großen unmittelbar aufragenden Höhenunterschied (Tief fällt, v. 10; luftig, herab, v. 51 f.) bestimmt ist. So hebt sich je eine Klippe von den breiten Gipfeln (v. 14) des Ulmwalds beziehungsweise von dem meerbreiten Strom (v. 55 f.) ab. Indem Hölderlin eine solche Differenz in seinen Bildern vorführt, macht er wie Celan deutlich, was das Andenken ist: Es ist die Raum- und Zeitgrenze, auf der die Übersetzung von einer Sphäre zur anderen versucht wird. Konstitutiv für das Andenken ist, daß es „eine Art Fergendienst“358 ist. Den Schiffern vergleichbar setzt das Andenken von einem Ufer zum anderen über, mit der entscheidenden Modifikation, daß diese Übertragung ein qualitativer Sprung in eine andere Dimension ist: und das nicht nur zwischen den Zeiten, sondern eben auch von der Erinnerung in die die Zeit gleichermaßen gebenden und vergessenden Zeichen der Dichtung. Die Dichtung hat also eine aufragende Spitze zu sein, die in der ‚breiten‘ Sprache einen Unterschied markiert, an dem das Andenken Kontur gewinnen kann. Wie und auf welcher Grundlage die Dichtung dabei eine Übersetzung eines konkreten Andenkens zu leisten vermag, das über das Anzeigen eines bloß unspezifischen Unterschieds hinausgeht, das sind die Fragen, die in der hier zu rekonstruierenden Auseinandersetzung Celans mit Heidegger und Hölderlin im Mittelpunkt stehen. Das Anfang Dezember 1954 geschriebene Gedicht Von Dunkel zu Dunkel spitzt dieses Problem auf die Frage zu, ob sich denn der Grund des Dunkeln übersetzen lasse, und wie es zuweilen geschieht, „daß sich ein Ferge fand?“ (I, 97). Die Frage ist mit Bedacht im Präteritum formuliert, weil sie das Rätsel konstatiert, daß sich zuweilen tatsächlich ein Gedicht einstellt, das wie ein Ferge das Andenken von Dunkel zu Dunkel ermöglicht. Wie es aber dazu kommt, daß überhaupt ein Gedicht je das Andenken freisetzt, bleibt gleichwohl ungeklärt. Darum stellt sich das Bild der „Kluft“ (WhD, 9), das Heidegger gebraucht, um das Verhältnis zwischen Dichten und Denken zu charakterisieren, bei Celan auch als die Kluft zwischen dem Gedicht und jenen poetologischen Erklärungen dar, die es begrifflich zu fassen versuchen. Heideggers Differenzierung erhält bei Celan also einen anderen Akzent. Celan bewegt die Frage, wie das Andenken an die Toten, das im Gedicht stattfindet, auch theoretisch vermittelt werden könnte. Zur Klärung dieses Problems orientiert er sich wohl an Heidegger, doch ist schon zu diesem frühen Zeitpunkt eine Differenz zu vernehmen. Während Heidegger in Mnemosyne vorzugsweise jene sieht, die an das „Gedachte“ denkt

358

Vgl. die bereits oben (Anm. 38) im Zusammenhang des Pessoa-Gedichts zitierte Formulierung Celans im Brief an Peter Schifferli vom 1. April 1954: „der Picasso-Text will nämlich nicht nur übersetzt, sondern auch – wenn ich ein Heidegger-Wort missbrauchen darf – übergesetzt sein. / Sie sehen: es handelt sich für mich – mitunter – um eine Art Fergendienst.“ Zit. n.: Celan als Übersetzer (Anm. 23), 399.

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(WhD, 7), ist – wie die Analyse des Gedichts Andenken zeigt – die Mutter der Musen bei Celan nicht zu trennen von seiner getöteten Mutter und den anderen Ermordeten.

2. Poetologische Ansätze oder das Handwerk zum Gedicht Bei Hölderlin finden sich eingehende Überlegungen, die auf die Differenz zwischen dem Rätsel, das das einzelne poetische Werk darstellt, und der theoretischen Rekonstruktion, die jenes transparent machen könnte, dadurch eingehen, daß er das „Handwerksmäßige“ hervorhebt, das einer guten Dichtung zugrunde liegt. So fordert er mit Seitenblick auf die antiken Poetiken in den Anmerkungen zum Oedipus für die zeitgenössische Dichtung, daß man die Dichtwerke nicht einfach „nach Eindrüken beurtheilt“, sondern „nach ihrem gesezlichen Kalkul und sonstiger Verfahrungsart, wodurch das Schöne hervorgebracht wird.“359 Daß dies seitens der Rezeption meist nicht geschieht, hat seine Ursache allerdings auch in der „modernen Poësie“ selbst. Denn dieser fehlt es, so beklagt Hölderlin, „besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nemlich ihre Verfahrungsart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederhohlt werden kann.“360 Wieviel Hölderlin hieran liegt, belegen seine poetologischen Studien, beispielsweise seine Lehre vom Wechsel der Töne. Zuverlässig wiederholbar und mithin berechenbar wird durch diese theoretischen Anstrengungen aber nur die Verfahrensweise respektive das „gesezliche Kalkul“, nicht aber das, was Hölderlin den „Innhalt“ und den „lebendige[n] Sinn“ der Dichtung nennt. Denn die „Verfahrungsart“ und der darzustellende „Innhalt“ sind zwar aneinander gebunden, weil jene diesen bedingt, doch sind sie gleichwohl streng voneinander zu unterscheiden. Während man das „gesezliche“ respektive „allgemeine Kalkul“ berechnen können soll, läßt sich der „lebendige Sinn“ nicht berechnen, weil dieser sich aus dem „unendlichen aber durchgängig bestimmten Zusammenhange“ ergibt, der dann wirksam ist, wenn ein „besondere[r] Innhalt“ mit Hilfe des „allgemeinen Kalkul[s]“ zur Darstellung kommt.361 Solchen grundlegenden Überlegungen steht Celan nicht fern. Auch er macht bei verschiedenen Gelegenheiten darauf aufmerksam, daß seine Gedichte in gewisser Weise eine ‚Verfahrensart‘ haben. Doch die Hoffnungen,

359

Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus, StA V, 195. Ebd. 361 Vgl. ebd. An welche Verfahrungsart Hölderlin vorzüglich denkt, welche die im Ganzen gesehene unberechenbare Dichtung kalkulierbar machen könnte, sagt er dann am Schluß des ersten Abschnittes der Anmerkungen zum Oedipus: Es ist dies die „ C ä s u r “, genauer die „gegenrhythmische Unterbrechung“, vgl. StA V, 196. 360

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die Hölderlin an das Aufweisen des Handwerksmäßigen knüpft, teilt Celan nicht. Genau in der Zeit, als Celan neben anderen Gedichten Die Felder, Andenken und Von Dunkel zu Dunkel schreibt, geht er, aus La Ciotat nach Paris zurückgekehrt, am 18. November 1954 in einem Brief an Hans Bender auf dessen Mitte September 1954 gestellte Frage ein, ob es ein „Handwerk zum Gedicht“ gäbe. Bender mag an Hölderlins Anmerkungen zum Oedipus gedacht haben, als er Celan und andere zeitgenössische Dichter bat, für eine von ihm projektierte Anthologie aus ihrer Dichterwerkstatt vom Handwerksmäßigen Bericht zu geben.362 Sieht sich Celan auch außerstande, eine den Erwartungen Benders entsprechende Antwort zu geben, so dokumentiert sein Brief gleichwohl, welche poetologischen Fragen ihn im Herbst 1954 beschäftigen und in welcher Weise er auf diese eingeht. Der weitreichenden Bedeutung wegen sei Celans Brief hier vollständig zitiert: „Lieber Hans Bender, / wieder hab ich’s spät werden lassen, und auch diesmal gegen meinen Willen. Ursprünglich hatte ich ja gesagt; aber dann, nach altem Brauch, wollte dieses Ja mit Unzähligem konfrontiert sein, ehe es zu Ihnen gelangte. So geht es mir nun einmal mit allem, was sich neben meinen Gedichten zu behaupten versucht – neben der Fragwürdigkeit meiner Gedichte vielmehr. Denn wenn ich mich im Umkreis der Gedichte mit dem Gedanken zu vertrösten suche, daß diese Fragwürdigkeit zum Wesen des Dichterischen gehört, so bin ich jedesmal, wenn ich in einiger Entfernung vom Gedicht ein paar Gedanken zu formulieren suche, ratlos und verzweifelt: plötzlich, nachdem es eine Weile recht gut ging, merke ich, daß ich zum Sprung ansetze – übers flache Land! ‚Das Handwerk zum Gedicht‘ … Wer den Beweis erbrächte, daß es dieses Handwerk tatsächlich gibt, der bewiese ja geradezu, daß dieses Handwerk, wie jedes andere, einen goldenen Boden hat! Ein Scherz, verzeihen Sie, und kein besonders gelungener ... Nun möchte ich zwar beileibe nicht irgendeinem mysteriösen Illuminatentum das Wort reden, aber andrerseits muß ich doch einbekennen, daß ich mir noch nie ein Gedicht ‚erexperimentiert‘ habe. Die Lebensumstände, das Leben im fremden Sprachbereich haben es mit sich gebracht, daß ich mit meiner Sprache viel bewußter umgehe als früher – und doch: das Wie und Warum jenes qualitativen Wechsels, den das Wort erfährt, um zum Wort im Gedicht zu werden, weiß ich auch heute nicht näher zu bestimmen. Dichtung, sagt Paul Valéry irgendwo, sei Sprache in statu nascendi, freiwerdende Sprache ... Gewiß, an diesem Freiwerden wirkt auch unser Bewußtsein mit, ist auch unsere Erinne-

362

Vgl. Hans Bender (Hg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, Heidelberg 1955. – Jochen Meyer vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach a.N. sei an dieser Stelle für die Auskunft gedankt, daß Bender Celan am 13. September 1954 mit der Bitte anschrieb, sich mit einem Gedicht und einem Essay zum „Handwerk des Gedichts“ an seinem Buchprojekt zu beteiligen.

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rung und Erfahrung beteiligt – aber in welchem Maße? Könnte eine schärfere, methodisch vorgenommene Introspektion hier mehr Klarheit schaffen? Ich fürchte, es gehört zum Wesen des Gedichts, daß es die Mitwisserschaft dessen, der es ‚hervorbringt‘, nur so lange duldet, als es braucht, um zu entstehen ... Denn gelänge es dem Dichter, das freiwerdende Wort zu belauschen, es gleichsam auf frischer Tat zu ertappen, so wäre es damit wahrscheinlich um sein weiteres Dichtertum geschehn: ein solches Erlebnis duldet keinerlei Wiederholung und Nachbarschaft. So ephemer das einzelne Gedicht auch sein mag – und Gedichte sind, trotz allem, vergänglich: das ‚freigewordene‘ Wort kehrt zuletzt wieder in die ‚alte‘ Sprache zurück, wird Sprichwort, Wendung, Klischee –, es erhebt dennoch Anspruch auf Einmaligkeit, lebt und speist sich mitunter auch aus diesem Anspruch, ja dieser Arroganz, glaubt immer, die ganze Sprache zu repräsentieren, der ganzen Wirklichkeit Schach zu bieten ... Welch ein Spiel! So ephemer, so königlich auch. / Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Warum meines Dichtens habe ich mich auf meine erste Begegnung mit der Poesie zu besinnen versucht: ich war sechs Jahre alt und konnte Das Lied von der Glocke ‚aufsagen‘ ... Wer weiß, ob nicht der Eindruck, den das auf meine Zuhörer machte, nicht alles Weitere ausgelöst hat ... / Verzeihen Sie: nun habe ich vielzuviel Worte gemacht, um Ihnen zu sagen, warum ich Ihre Frage nicht zu beantworten weiß ... Nehmen Sie’s mir bitte nicht übel! Und seien Sie herzlich gegrüßt. / Ihr Paul Celan“363 Celan entschloß sich zunächst, auf Benders Vorschlag einzugehen. Schon der „Fragwürdigkeit“ seiner Gedichte wegen muß es ihm ein genuines Anliegen sein, den Grund seiner Dichtung eruieren zu wollen und also auch die Frage aufzugreifen, ob das Gedichteschreiben auf einem Handwerk und mithin auf einer verständlich zu machenden Methode beruhe. Doch dem ursprünglichen „ja“ folgt schließlich „Unzählige[s]“, das sich all den Erklärungen widersetzt, die sich neben den Gedichten zu behaupten versuchen. Eben weil Celan auf Benders Frage gründlich eingeht, drängt sich ihm das auf, was sich nicht unter einen Begriff bringen läßt. Statt einer Antwort kommen Celan verschiedene Scherze in den Sinn. Der eine scheint unpassend und wird sogleich als „kein besonders gelungener“ zurückgenommen: Denn würde es das „‚Handwerk zum Gedicht‘“ geben, dann hätte dieses, wie jedes andere Handwerk auch, einen „goldenen Boden“. Die Dichtung könnte dem Dichter nicht nur eine „bürgerliche Existenz“364 garantieren, sondern sie hätte vor allem einen

363

Celan: Brief an Hans Bender, 18. November 1954, in: Briefe an Hans Bender, hg. von Volker Neuhaus, München 1984, 34 f. In Auszügen zitiert wurde dieser Brief auch von Axel Gellhaus: Die Polarisierung von Poesie und Kunst bei Paul Celan, in: Celan-Jahrbuch 6 (1995), 51–91, hier 54. Vgl. auch ders.: Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung, München 1995, 301–351. 364 Eben dieses wünscht sich Hölderlin, während er in den Anmerkungen zum Oedipus

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allgemein anerkennungswürdigen Boden, von dem her sich alle stellenden Fragen hinreichend beantworten ließen. Beides ist aber nicht der Fall, ja kann, wie Celan dann im Fortgang klarstellt, auch nicht von der Dichtung erwartet werden. Warum das so ist, das deutet bereits der erste Scherz an, mit dem Celan beschreibt, wie sich die Gedanken zum Gedicht verhalten, die „in einiger Entfernung“ um es kreisen: „plötzlich, nachdem es eine Weile recht gut ging, merke ich, daß ich zum Sprung ansetze – übers flache Land!“ Bis zu einem bestimmten Punkt gelingt es, dem näher zu kommen, was denn die Dichtung sei. Doch eine „ratlos und verzweifelt“ machende Entfernung bleibt. Wollte man auch diese überwinden, dann käme man nicht umhin, – plötzlich – zum Sprung anzusetzen. Mit diesem gelangt man aber nicht zum Gedicht, sondern der Sprung springt geradewegs über es hinweg. Ausgerechnet jene Gedanken, die das Gedicht ergründen sollen, scheinen das Gedicht zu einem flachen Land, zu einem bloßen Blatt Papier zu machen. Die Kluft, die zwischen Dichten und Denken klafft, verflacht, sobald versucht wird, vom Denken her das Handwerk zum Gedicht zu ermitteln. Obwohl Celan darauf besteht, „nicht irgendeinem mysteriösen Illuminatentum das Wort“ zu reden, muß er einbekennen, daß er das „Wie und Warum jenes qualitativen Wechsels, den das Wort erfährt, um zum Wort im Gedicht zu werden“, nicht näher zu bestimmen weiß. Dieser arrogant erscheinende qualitative Unterschied zwischen der ‚breiten‘ Alltagssprache und dem punktuellen Ereignis, daß sich nämlich ein Gedicht der Sprache gegenüberstellt und diese zu „repräsentieren“ meint, um in solcher „Einmaligkeit“ „der ganzen Wirklichkeit Schach zu bieten“, dieser Unterschied, der durch das Denken anerkannt werden müßte, droht nicht nur eingeebnet zu werden, wenn das Gedicht als „Sprichwort, Wendung, Klischee“ wieder in die „‚alte‘ Sprache“ integriert wird, sondern auch durch die Nachbarschaft eines theoretischen Beobachters, der das Gedicht „gleichsam auf frischer Tat zu ertappen“ versucht. Zu dem Geschäfte der Integration und Verflachung des Gedichts scheinen sich darum auch jene Gedanken herzugeben, die meinen, das Warum des Dichtens und sein Handwerk angeben zu können. Mit dieser Einsicht ist die Frage nach dem „Warum“ des Dichtens indessen nicht abgetan. Celan hilft sich damit, daß er sich auf einen beruft, der mit der Dichtung besonders vertraut ist: „Dichtung, sagt Paul Valéry irgendwo, sei Sprache in statu nascendi, freiwerdende Sprache“. An diesem paradoxen ‚Zustand der Geburt‘, dem Moment der Werdung, hat der Dichter mit seinem Bewußtsein, seinen Erinnerungen und seinen Erfahrungen Anteil, doch ist seine Leser auf das Handwerksmäßige seiner Dichtung aufmerksam macht. Der erste Satz der Anmerkungen beginnt: „Es wird gut seyn, um den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern, wenn man die Poësie, auch bei uns, den Unterschied der Zeiten und Verfassungen abgerechnet, zur µηχανη der Alten erhebt.“ StA V, 195.

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seine „Mitwisserschaft“ selbst nur so einmalig wie die Sekunde des Gedichts. Allgemeingültige und damit zeitunabhängige Aussagen über das Handwerk zum Gedicht lassen sich mit diesem temporären Wissen nicht bilden. So „ephemer das einzelne Gedicht“ ist, und es ist vergänglich wie ein Augenblick, weil es mit seinem Erscheinen auch schon wieder in die „‚alte‘ Sprache“ zurückkehrt, so ephemer können letztlich auch nur jene Gedanken sein, die ihm nachgehen. Der Freiwerdung der Sprache im Gedicht gedanklich nachgehen zu wollen, ist indessen schon darum ein unmögliches Unterfangen, weil dieses Geschehen „keinerlei Wiederholung“ und Nachbarschaft duldet. Das Gedicht bleibt also ein Rätsel, das sich der Systematik und Methode, wofür das Handwerk im Sinne Hölderlins steht, entzieht. Daß es gleichwohl nicht nichts ist, sondern einen nachhaltigen „Eindruck“ hinterlassen kann, das scheint Celan mit der elliptischen Erinnerung am Schluß des Briefes anzudeuten. Daß er als sechsjähriges Kind ohne jeglichen ‚Nebengedanken‘ Friedrich Schillers Lied von der Glocke „‚aufsagen‘“ konnte und damit seine Zuhörer offensichtlich beeindruckte, dieses Ereignis wurde ihm selbst zu einer Erfahrung, die vermutlich „alles Weitere“ ausgelöst hat. Wie die Eintragungen in dem Arbeitsheft belegen, in das Celan sein Exzerpt aus Was heißt Denken? und Einführung in die Metaphysik zwischen dem 21. September und Mitte Oktober 1954 notierte,365 steht der Brief an Bender ebenso wie die erwähnten Gedichte im Kontext der Beschäftigung mit Heidegger. Benders Anfrage vom 13. September 1954 dürfte Celans Lektüre dieser Schriften gerade für jene Textstellen sensibilisiert haben, in denen Heidegger zwischen den Werken des Denkens und Dichtens, der Hand und dem Handwerk einen Zusammenhang herstellt. Diese Bemerkungen Heideggers seien hier darum erinnert. Schon in seinem Kunstwerkaufsatz sagt Heidegger, daß „das Denken ein Handwerk ist“ (KW 3 [8]). Das gilt auch für die Dichtung. Doch sind die Werke, die der Dichter schafft und wofür dieser selbstverständlich ein „handwerkliche[s] Können“ (KW 46 [47]) haben muß, nicht von der handwerklichen Anfertigung her zu beurteilen. Handwerk und Kunst sind im Griechischen allein deshalb unter dem einen Begriff τéχνη zusammengefaßt, weil, so betont Heidegger, die Griechen darunter das Wissen verstanden, Anwesendes entbergen und derart vernehmen lassen zu können (vgl. KW 46 f. [47 f.]; vgl. auch EM, 122). Wenn Heidegger also auf das Handwerkliche Bezug nimmt, dann deshalb, weil er es vom Wesen des Schaffens bestimmt sieht, welches wiederum aufs engste mit dem Wesen der Wahrheit (s. o. S. 124 f.) zusammenhängt. Kommt die Wahrheit doch erst im Werk hervor. In Was heißt Denken? unterscheidet Heidegger dann nochmals ausdrücklich das Handwerk, im Sinne der Anfertigung von Dingen, vom „Hand-Werk“, 365

Vgl. oben Anm. 333.

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das jenem zugrunde liegt: „Wir versuchen hier das Denken zu lernen. Vielleicht ist das Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein. Es ist jedenfalls ein Hand-Werk. Mit der Hand hat es eine eigene Bewandtnis. Die Hand gehört nach der gewöhnlichen Vorstellung zum Organismus unseres Leibes. Allein das Wesen der Hand läßt sich nie als ein leibliches Greiforgan bestimmen oder von diesem her erklären. Greiforgane besitzt z. B. der Affe, aber er hat keine Hand. Die Hand ist von allen Greiforganen: Tatzen, Krallen, Fängen, unendlich, d. h. durch einen Abgrund des Wesens verschieden. Nur ein Wesen, das spricht, d. h. denkt, kann die Hand haben und in der Handhabung Werke der Hand vollbringen. / Allein das Werk der Hand ist reicher, als wir gewöhnlich meinen. Die Hand greift und fängt nicht nur, drückt und stößt nicht nur. Die Hand reicht und empfängt und zwar nicht allein Dinge, sondern sie reicht sich und empfängt sich in der anderen. Die Hand hält. Die Hand trägt. Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist. Die Hände falten sich, wenn diese Gebärde den Menschen in die große Einfalt tragen soll. Dies alles ist die Hand und ist das eigentliche HandWerk. In ihm beruht jegliches, was wir gewöhnlich als Handwerk kennen und wobei wir es belassen. Aber die Gebärden der Hand gehen überall durch die Sprache hindurch und zwar gerade dann am reinsten, wenn der Mensch spricht, indem er schweigt. Doch nur insofern der Mensch spricht, denkt er; nicht umgekehrt, wie die Metaphysik es noch meint. Jede Bewegung der Hand in jedem ihrer Werke trägt sich durch das Element, gebärdet sich im Element des Denkens. Alles Werk der Hand beruht im Denken. Darum ist das Denken selbst das einfachste und deshalb schwerste Hand-Werk des Menschen, wenn es zu Zeiten eigens vollbracht sein möchte“ (WhD, 50 f.). Heideggers Begriff vom Hand-Werk geht weit über das hinaus, was Benders Frage nach dem Handwerk zum Dichten impliziert. Denn Heidegger geht in der ihm eigenen Weise auf das zurück, was dem Werken der Hand vorausgeht. Dafür fragt er zunächst einmal nach dem Wesen der Hand. Heidegger stellt klar, daß nur der Mensch eine Hand haben kann, und daß also über das Handwerk nicht bloß so verhandelt werden könne, als ob es eine jederzeit erlernbare und wiederholbare Methode sei, die es erlaubt, bestimmte Dinge berechenbar herzustellen. Reduziert man das Handwerk auf ein solches Schema, wird das Wesen der Hand verkannt. Denn das „Werk der Hand ist reicher, als wir gewöhnlich meinen“, weil die Hand nur ein Wesen haben kann, „das spricht, d. h. denkt“. Das Charakteristische der Hand ist zum einen, daß sie sich im „Element des Denkens gebärdet“, daß also das Denken mit ihr statt findet, ja erst geboren wird – die Gebärde der Hand ist gewissermaßen der status nascendi des Gedankens –, weshalb Heidegger auch betont, daß der Mensch nur insofern denkt als er – mit seinen Händen – spricht. Zum anderen schließt diese Bestimmung ein, daß die Hand nicht nur Dinge herstellt und diese „reicht und empfängt“, sondern „sie reicht sich und empfängt sich

Differenzierung und Entgegensetzung

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in der anderen“. Die Hand ist an sich selbst eine Gabe, sonst könnte sie keine Werke schaffen, die Gaben sind. Heidegger sieht nicht nur die Hand über die Sprache im Denken gegründet, sondern diese im Wesen des Menschen beruhende Fundierung impliziert zugleich, daß die Hand jene Gabe ist, die das Denken gibt,366 sofern sie als das, was sie wesentlich ist, ‚begriffen‘ wird und nicht bloß als ein Werkzeug, das Mittel zu einem ihr äußerlichen Zweck sei. – Celan wird fünfeinhalb Jahre später, 1960, in ähnlicher Weise die Hand und die Gabe als eine Sache begreifen. Doch genau an dem Punkt, wo sich Celan und Heidegger besonders nahe zu kommen scheinen, wird die Differenz zwischen den beiden erstmals explizit.

B. DIFFERENZIERUNG

UND

ENTGEGENSETZUNG (1960–1962)

1. Vom Handwerk zur Gabe der Hände Daß Celan 1954 Benders Frage nicht beantworten konnte, hat seinen Grund darin, daß er wie Heidegger einen anderen Begriff davon hat, was das Handwerk des Dichters sei. Celan und Heidegger kommen darin überein, daß sie es bezüglich des Dichtens bzw. des Denkens nicht dabei belassen können, vom Handwerk wie von einer Methode zu sprechen. Deutlich aber ist auch, daß Celan und Heidegger nicht die gleiche Perspektive einnehmen. Während Heidegger anzugeben weiß, daß alles Werk der Hand im Denken beruht, fällt es Celan in seinem Brief schwer, hinsichtlich des Schreibens von Gedichten überhaupt vom Handwerk zu sprechen. Dies liegt daran, daß er auf Benders metaphorischen Gebrauch des Handwerkes bezogen bleibt und diese Vorstellung noch nicht im buchstäblichen Sinne als Werk der Hände analysiert und umdeutet. Mitte Mai 1960 dann, fünf Monate vor seiner Büchnerpreisrede, wird Celan von Bender ein zweites Mal gefragt, ob er sich an einer erneuten, erweiterten Auflage des Bandes Mein Gedicht ist mein Messer beteiligen möchte.367 In seiner zweiten Antwort kommt Celan noch einmal auf einzelne Formulierungen seines Briefes vom November 1954 zu sprechen, modifiziert diese aber. Bemerkenswert ist hieran zunächst, daß sich Celan sehr genau an seine ursprüngliche Antwort erinnert, was belegt, daß in ihr Grundlegendes zur Sprache kam, wenn sie auch vorläufig blieb. Nun schreibt er:

366

Heidegger führt dann später in seiner Lesung aus: „Der Gaben empfangen wir viele und von mancherlei Art. Die höchste und eigentlich währende Gabe an uns bliebt jedoch unser Wesen, mit dem wir so begabt sind, daß wir aus dieser Gabe erst die sind, die wir sind. […] Was jedoch im Sinne dieser Mitgift an uns vergeben ist, ist das Denken“ (WhD, 94). 367 Dieser Band erschien 1961 in München.

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Etappen der Lektüre

„Paris, den 18. Mai 1960 / Lieber Hans Bender, / ich danke Ihnen für Ihren Brief vom 15. Mai und Ihre freundliche Aufforderung, an Ihrer Anthologie ‚Mein Gedicht ist mein Messer‘ mitzuarbeiten. / Ich erinnere mich, daß ich Ihnen seinerzeit sagte, der Dichter werde, sobald das Gedicht wirklich da sei, aus seiner ursprünglichen Mitwisserschaft wieder entlassen. Ich würde diese Ansicht heute wohl anders formulieren bzw. sie zu differenzieren versuchen; aber grundsätzlich bin ich noch immer dieser – alten – Ansicht. / Gewiß, es gibt auch das, was man heute so gern und so unbekümmert als Handwerk bezeichnet. Aber – erlauben Sie mir diese Raffung des Gedachten und Erfahrenen – Handwerk ist, wie Sauberkeit überhaupt, Voraussetzung aller Dichtung. Dieses Handwerk hat ganz bestimmt keinen goldenen Boden – wer weiß, ob es überhaupt einen Boden hat. Es hat seine Abgründe und Tiefen – manche (ach, ich gehöre nicht dazu) haben sogar einen Namen dafür. / Handwerk – das ist Sache der Hände. Und diese Hände wiederum gehören nur einem Menschen, d.h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht. / Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht. / Man komme uns hier nicht mit ‚poiein‘ und dergleichen. Das bedeutet, mitsamt seinen Nähen und Fernen, wohl etwas anderes als in seinem heutigen Kontext. / Gewiß, es gibt Exerzitien – im geistigen Sinne, lieber Hans Bender! Und daneben gibt es eben, an jeder lyrischen Straßenecke, das Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial. / Gedichte, lieber Hans Bender, das sind auch Geschenke – Geschenke an die Aufmerksamen. Schicksal mitführende Geschenke. / ‚Wie macht man Gedichte?‘ / Ich habe es vor Jahren eine Zeitlang mit ansehen und später aus einiger Entfernung genau beobachten können, wie das ‚Machen‘ über die Mache allmählich zur Machenschaft wird. Ja, es gibt auch das, lieber Hans Bender, Sie wissen es vielleicht. – Es kommt nicht von ungefähr. / Wir leben unter finsteren Himmeln, und – es gibt wenig Menschen. Darum gibt es wohl auch so wenig Gedichte. Die Hoffnungen, die ich noch habe, sind nicht groß; ich versuche, mir das mir Verbliebene zu erhalten. / Mit allen guten Wünschen für Sie und Ihre Arbeit / Ihr / Paul Celan // P.S. Lieber Hans Bender, Sie haben, wie ich weiß, im Vorwort zur ersten Auflage Ihres Buches eine Stelle aus meinem seinerzeit an Sie gerichteten Brief zitiert. Das bringt mich auf den Gedanken, daß es Ihr Wunsch sein könnte, auch diese Zeilen hier zu veröffentlichen. Für den Fall einer solchen Veröffentlichung möchte ich Sie hier ausdrücklich bitten, diesen Brief als das zu bringen, was er ist: als einen unter dem heutigen Datum an Sie gerichteten Brief.“368

368

Celans Brief ist bis auf das Postskriptum mit leichten Abweichungen abgedruckt in: III, 177 f.; hier zit. n.: Briefe an Hans Bender (Anm. 363), 48f.

Differenzierung und Entgegensetzung

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In seiner zweiten Antwort ist Celan nicht zu Scherzen aufgelegt. Sein Ton verrät Bestimmtheit und reifliche Überlegung. Wenn man überhaupt vom Handwerk im Hinblick auf die Dichtung sprechen möchte, dann nicht in unbekümmerter Manier, sondern nur so, daß man erkennt, daß das Handwerk „Sache der Hände“ ist, daß also diese Hände „nur einem Menschen [gehören], d. h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht“. Celan ist nach 1954 weiter seinen Weg gegangen. In dieser Zeit wird er sich darüber bewußt, was das „Gesetz“ seines Dichtens ist,369 welcher in Deutschland unbekannten Topographie sich seine Gedichte verdanken und warum er „auf einer andern Raum- und Zeitebene“ als seine Leser steht, welche ihn nur „‚entfernt‘ verstehen“ können.370 Manifest wird diese schreibend erworbene Klarheit, von der Celan weiß, daß sie notwendigerweise dunkel ist,371 in seiner Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Bremer Literaturpreises, in dem 1959 veröffentlichten Band Sprachgitter, der mit der Engführung abschließt, und nicht zuletzt dann in der Meridian-Rede, die er zu dem Zeitpunkt, als er Bender antwortet, schon intensiv vorbereitet. In wenigen Sätzen versucht Celan, Bender das inzwischen Gedachte und Erfahrene gerafft anzudeuten, um seinen neuen und zugleich alten Standpunkt begründen zu können. Die entscheidende Differenz zum ersten Brief besteht darin, daß Celan zwar einräumt, daß das Handwerk Voraussetzung aller Dichtung sei, daß er sich aber nicht mehr auf die als müßig erkannte Frage einläßt, wie man denn Gedichte ‚mache‘, worüber man dann so leicht zur „Machenschaft“ gelange, statt anzuerkennen, daß es tatsächlich Gedichte gibt, die von „wahren Hän-

369

Nachdem Celan seinen Brief vom 18. Mai 1960 für die Publikation in Benders Anthologie redigiert hat, schreibt er Bender abermals am „10. Feber 1961“. Er macht diesen auf seine Meridian-Rede und seine Übersetzungen aufmerksam und fügt dann hinzu: „Vielleicht kommt einmal auch der Tag, wo man merkt, daß auch diese Arbeiten im Zeichen des Gesetzes stehn, unter dem ich angetreten bin; all das sind Begegnungen, auch hier bin ich mit meinem Dasein zur Sprache gegangen. Aber dazu müßte es wieder Leser geben“, zit. n.: Briefe an Hans Bender (Anm. 363), 54. 370 Vgl. die Aufzeichnungen von Huppert: Ein Gespräch (Anm. 14), 319. Celans Bemerkung bezieht sich auf die Zeit, als er die Gedichte des Bandes Sprachgitter schrieb. 371 Es ist das Wissen, daß die Klarheit nur am Dunklen sich zeigen kann, die Celan insbesondere an Hölderlin, aber auch an Heidegger schätzte: In dem Konvolut zur MeridianRede findet sich der Satz: „noch das ‚exoterischste‘, offenste Gedicht ist dunkel; und, erlauben Sie mir diesen vielleicht nicht ganz überflüssigen Hinweis: wenn irgend jem ein Dichter, so war Hölderlin ein vir clarus.“, TCA Meridian, 85, Nr. 106, Manuskript A 17, 2. Noch 1970 soll Celan über Heidegger gesagt haben: „Im Unterschied zu solchen, die sich an seiner Ausdrucksweise stoßen, sehe ich in Heidegger denjenigen, der der Sprache wieder ihre ‚limpidité‘ zurückgewonnen hat.“ Zit. n. Clemens Podewils: Namen. Ein Vermächtnis Paul Celans, in: Ensemble 2 (1971), 67–70, hier 70. – Damit das Dunkle selbst am Wort für Klarheit nicht vergessen wird, bevorzugt Celan das fremde Idiom: clarus, limpidité.

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den“ kommen. Auch wenn diese Gedichte statt eines goldenen Bodens Abgründe und Tiefen haben, die mit keinem Namen benannt werden können, so ist gleichwohl unzweifelhaft, daß derartige Gedichte „wirklich da“ sind. Wie weitreichend für Celan diese andere Perspektive ist, belegt ein während der Vorbereitungen auf die Meridian-Rede mit allem Nachdruck notierter Satz: „!!Nirgends von der Entstehung des Gedichts sprechen; sondern immer nur vom entstandenen Gedicht!!“372 Nicht die produktionsästhetische Frage, wie man denn Gedichte mache, ist für Celan von Belang, sondern vielmehr die andere, ob es „Aufmerksame“ gibt, die das wie auch immer entstandene Gedicht als einen „Händedruck“ empfangen können und dabei auch das „Schicksal“ akzeptieren, das mit diesem „Geschenk“ gegeben wird. Das Datum des Gedichts ist darum nicht allein auf den Moment der Entstehung des Gedichts zu beziehen, sondern immer auch auf den erhofften Moment, da das Gegebene – das Datum, das Geschenk – empfangen wird. Nicht zuletzt darum geschieht das Gedicht nur selten.373 In seinem ersten Brief an Bender betonte Celan, daß die Gedichte es zwar sowohl mit der „ganzen Sprache“ als auch mit der „ganzen Wirklichkeit“ aufnehmen, gleichwohl aber ephemer sind. Diese vergängliche Ganzheit stellt Celan 1960 nun als das singuläre Moment seines Schreibens dar. Das Gedicht ist gerade deshalb wahr, weil es das Geschenk einer bestimmten Hand ist. Entsprechend fügt Celan seinen Zeilen die ausdrückliche Bitte hinzu, „diesen Brief als das zu bringen, was er ist: als einen unter dem heutigen Datum an Sie gerichteten Brief.“ Das Gedicht und auch das im Brief Gesagte ist ephemer, aber beide haben ein bestimmtes Datum und einen Adressaten, nämlich ein singuläres du. Das Postskriptum verdeutlicht ein grundlegendes Problem, das Celans Schreiben insgesamt betrifft. Celan rechnet damit, daß seine Zeilen veröffentlicht werden, möchte aber für diesen Fall sichergehen, daß sie gleichwohl als der „Brief“ eines bestimmten Seelenwesens an ein anderes aufgefaßt werden. Dieser Text soll in seiner Singularität dadurch bewahrt bleiben, daß er

372

Celan: TCA Meridian, 94, Nr. 165, Manuskript A 11, 5. Von solchen Momenten, in denen nach Benjamin das „wahre Bild der Vergangenheit“ vorbeihuscht (GS I.2, 695), hängt es ab, ob in einem bestimmten „Akut des Heutigen“ (III, 190) die Zeit sich in ihrer Vor- und Nachgeschichte zu erkennen gibt. Nicht nur bei Benjamin, sondern auch bei Gottfried Wilhelm Leibniz las Celan 1958–59 den Gedanken, daß jeder Körper „im Gegenwärtigen das nach Zeit und Ort Entfernte bemerkt“, Leibniz: Monadologie, § 61, in: ders.: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie, hg. von Herbert Herring, Hamburg 1956. Es ist gut möglich, daß sich auch Celans „einmalige und sterbliche Seelenwesen“ auf die Monadologie beziehen. Im § 19 bestimmt Leibniz, daß im Unterschied zu den „einfachen Substanzen oder geschaffenen Monaden“ „die Bezeichnung S e e l e […] nur den Monaden vorbehalten bleiben [mag], deren Perzeption deutlicher und von Erinnerung begleitet ist.“ 373

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auch dann noch als Brief aufgefaßt wird, der unter einem bestimmten „Datum“ steht, wenn er im Grunde keiner mehr ist, sondern in einer Anthologie neben anderen Essays erscheint. Diese Paradoxie bestimmt auch jedes Gedicht, das grundsätzlich alle anspricht und weiterhin der „ganzen Wirklichkeit Schach“ bietet, sich aber dennoch nur an den einzelnen als einen solchen wendet, um diesem Sterblichen sein Geschenk zu reichen. Was diese Gabe aber sei, die auf diesem Wege gegeben wird, das läßt sich genau dann, wenn der einzelne als singulärer beschenkt sein soll, nicht mehr argumentativ erschließen, obwohl das „Schicksal mitführende Geschenk“ gerade darin besteht, dem einzelnen Einblick in die Bedingungen der Sprache und „dessen Zeit“ zu geben (vgl. III, 199). An diesem Punkt wird die Differenz zu Heidegger bedeutsam, dessen Denken ja ebenfalls Gaben reicht. Denn Heidegger setzt auch dann, wenn er die Unbezüglichkeit des Daseins hervorhebt, die das Sein zum Tode offenbart, auf die Gemeinschaft und das Sagen, das „ein Wort des ‚wir‘“ ist.374 Hieran hält Heidegger bei allen Modifikationen auch nach 1945 fest. Dies zeigt sich auch daran, daß er die gewöhnlichen Meinungen zum Handwerk dadurch zu berichtigen versucht, daß er sie auf den ‚eigentlichen Wesensgrund‘ zurückführt, so daß deutlich werde, daß das Wesen der Hand im Wesen des Menschen ruhe. Während sich Heidegger also auf das Wesen des Menschen beruft, kann Celan sein Bestehen auf dem Singulären, das in einer bestimmten Zeit durch das Gedicht von einer zur anderen Hand gereicht wird, nicht begründen, sondern nur in apodiktisch klingenden Sätzen anzeigen, die allerdings nicht einfach ein privates Jenseits oder ein inneres Exil behaupten, sondern als „Gegenwort“ (vgl. III, 189) die Konfrontation mit dem vorherrschenden und offenbar alles umspannenden Allgemeinen, den „finsteren Himmeln“, aufnehmen. Ein derart apodiktischer Satz bestimmt auch den letzten Absatz des Briefes: „– es gibt wenig Menschen. Darum gibt es wohl auch so wenig Gedichte.“ Für Celan sind Gedichte Indikatoren, in denen sich Menschen und mithin wahre Hände trotz allem zu erkennen geben. Es dürfte kein Zufall sein, daß Celan in einem Brief, der das Handwerk zum Gedicht auf jene singulären Hände hin umdeutet, die Gedichte als Schicksal mitführende Geschenke geben, mit dieser Provokation, daß es nur wenige Menschen gebe, in die Fußstapfen Hölderlins tritt, der durch Hyperion in dessen sogenannten Schmähbrief ebenfalls Klage führt, daß man in Deutschland zwar „Handwerker“ und „Denker“ sehe, aber eben „keine Menschen“.375

374

Vgl. Heideggers Germanien-Lektüre (GA 39, 101) und s. o. S. 117 f. und Anm. 268. Vgl. Hyp II, 112 f.; Celan besaß unter anderen die von Karl Justus Obenauer herausgegebene dreibändige Ausgabe von Hölderlins Werken, Berlin/Leipzig, o. J. Dort vermerkte sich Celan Hyperions Schmähbrief, vgl. Bd. II, 175 f. 375

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2. Zum Gesetz der Geschichte Die angedeutete Differenz zwischen Heidegger und Celan darf jedoch nicht so resümiert werden, als ob Heidegger auf einen Wesensgrund ziele, der als allgemeiner Bezug alles Seiende trage, während sich Celan auf das spezifische Seelenwesen eines einzelnen zurückziehe, von dem sich schlechterdings nichts mitteilen lasse. Zu einem derartigen Schluß gelangt Baumann in seinen Erinnerungen. Er faßt die „verschiedenen Sichtweisen“ von Heidegger und Celan in dem Satz zusammen: „Heidegger pflegte alles weitsichtig zu bedenken, Vorgeschichte, Bedingungen, Wirkungen als unteilbares Ganzes zu betrachten, für Celan versammelte sich alles in einem Brennpunkt.“376 Diese Charakterisierung ist prima facie nicht falsch, zeigt aber nicht die Differenz in ihrer Konsequenz für das Denken- und Darstellenkönnen des Singulären und des Allgemeinen respektive des Allgemeinen im Singulären auf. Diese Differenz wird erst dann deutlicher, wenn noch einmal die Frage gestellt wird, wie Celan und Heidegger je zur Geschichte und mithin zur Sprache und zum Menschen stehen. Denn erkennt man, daß für beide Geschichte, Sprache und Menschsein unlösbar aneinander gebunden sind, gleichwohl aber je eine andere Systematik oder genauer ein anderes Gesetz diesen Bezug bedingt, dann wird noch von einer anderen Seite her ersichtlich, daß die beiden nicht allein der Abgrund eines anderen Schicksals und einer anderen geschichtlichen Wurzel trennt (s. o. Kap. Zwischenresümee u. Andenken und die Kluft zwischen Dichten und Denken), sondern auch ein radikal anderer Bezug zur Sprache und mithin ein anderes Verständnis von dem, was das Wirkliche sei. Nun könnte aber gerade in der von Celan angezeigten Zusammenführung von Gedicht und Mensch eine weitere Gemeinsamkeit mit Heidegger bestehen. Denn auch Heidegger wirft immer wieder die Frage auf, was der Mensch sei, und versucht sich ihr wiederholt dadurch zu nähren, daß er sie in den Zusammenhang seiner Gedanken zum Wesen der Dichtung stellt. Denn erst durch die Dichtung gelange der Mensch in das Offene seiner Ek-sistenz und erst in der Auseinandersetzung mit ihr erstreite er seinem geschichtlichen Dasein eine Gestalt. „Wer der Mensch sei, das bekommen wir nicht durch eine gelehrte Definition zu wissen, sondern nur so, daß der Mensch in die Auseinandersetzung mit dem Seienden tritt, indem er es in sein Sein zu bringen versucht, d. h. in Grenze und Gestalt stellt, d. h. ein Neues (noch nicht Anwesendes) entwirft, d.h. ursprünglich dichtet, dichterisch gründet“ (EM, 110). Das Vermögen der Dichtung, Neues zu gründen und einen Anfang setzen zu können, der eine geschichtliche Welt bestimmt und trägt, ist für Heidegger der entscheidende Grund, warum er sich als Philosoph überhaupt auf die Dichtung einläßt. Für ihn ist die Dichtung deshalb ursprünglich gründend, 376

Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 77.

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weil sie sich einen Zugang zum Wesentlichen zu eröffnen vermag, der andere hieran teilnehmen läßt. Um dieses zu belegen und um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Dichtung als wesentliche Frage vorzustellen, zitiert Heidegger wiederholt folgende Zeilen aus dem Text In lieblicher Bläue, den Hölderlin im Tübinger Turm wohl um 1807 schrieb:377 Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet Der Mensch auf dieser Erde.

In seinem 1936 publizierten Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung stellt Heidegger diese Verse als eines der „fünf Leitworte“ vor, die Hölderlins Dichtung charakterisieren (HWD, 33 u. 42). In diesem Dichterwort sei der qualitative Unterschied (doch) angezeigt, der zwischen dem „Verdienst“ und dem „Dichterischen“ besteht. Während sich die Menschen jenen durch ihr Handwerk und durch ihr tägliches Bemühen erarbeiten, wird ihnen in einem grundlegenden Sinne ein „Wohnen auf dieser Erde“ erst durch das Dichterische geschenkt. „‚Dichterisch‘ ist das Dasein in seinem Grunde – das sagt zugleich: Es ist als gestiftetes (gegründetes) kein Verdienst, sondern ein Geschenk“ (HWD, 42). Keine noch so harte Arbeit vermag jenes Wohnen im grundlegenden Sinne herzustellen, weil alle diese verdienstvollen Tätigkeiten immer schon zur Voraussetzung haben, daß der Mensch bereits wohnt. Heidegger kommt in seinem 1943 veröffentlichen Aufsatz zu Hölderlins Hymne Andenken erneut auf dieses Leitwort zu sprechen. Er fragt nun tiefergehend nach, woher das Dichterische kommt und wo es denn wohnt, bevor es selbst die Wohnstatt auf dieser Erde freilegt? Wenn das Dichterische allem Verdienst entgegengesetzt und ebenfalls kein „Gemächte der Dichter“ ist (A, 89), dann stellen sich die Fragen, was es denn sei und wie es erfahren werden könne, wenn wir Menschen immer schon wohnen, nicht aber wissen, wie das Dichterische dieses Wohnen hat einrichten können? Heidegger setzt sein Fragen fort, indem er den Blick auf jenen lenkt, der hierüber Antwort geben können müßte: „Wer anders vermag an das Wesen der Dichtung zu denken, als die Dichter? Also müssen Dichter sein, die erst das ‚Dichterische‘ selbst zeigen und als den Grund des Wohnens gründen. Um dieser Gründung willen müssen diese Dichter selbst zuvor dichtend wohnen. Wo können sie bleiben? Wie findet und wo hat der dichtende Geist seine Heimat?“ (A, 89). Indem Heidegger so fragt, führt er seinen Text Stück für Stück an jenes ‚Leitwort‘ heran, das er in seinem Aufsatz zum Wesen der Dichtung noch nicht aufnahm und das ihm Anfang der 1940er Jahre aber der Schlüssel für das Verständnis 377

Heidegger war sich bewußt, daß die Herkunft dieser Verse fraglich ist, vgl. GA 39, 36 f.; A, 88 f. u. GA 53, 171. Denn ungeklärt ist, ob nicht Friedrich Waiblinger, der In lieblicher Bläue als erster 1823 in Stuttgart herausgab, in diesen Text gestalterisch eingegriffen hat, vgl. SWB III, 354 und StA II, 372 u. 991 f.

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der Hymne Andenken ist und das darüber hinaus diese hermeneutische Funktion auch in seiner Vorlesung zur Hymne Der Ister hat. Es sind dies jene Zeilen Hölderlins, die dieser nach Friedrich Beißners Darstellung über die letzten Verse der an sich schon vollendeten Elegie Brod und Wein (v. 152–156) in „steile[r], verwirrt eilende[r] Schrift“378 ins Homburger Folioheft schrieb:379 nemlich zu Hauß ist der Geist Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath. Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist. Unsere Blumen erfreun und die Schatten unserer Wälder Den Verschmachteten. Fast wär der Beseeler verbrandt.

Diese Verse sind für Heidegger so bedeutsam, weil sich an ihnen gleichermaßen das Gesetz der Dichtung, die Grundwahrheit der Geschichte und das Wesen des Menschen erschließen lasse. Denn jeweils gelte, daß erst durch die Ausfahrt in die Fremde (Kolonie) das Eigene (die Heimath) zugänglich werde. Weil für Heidegger Hölderlins Fragment die dichterische Ausgestaltung der im Brief vom 4. Dezember 1801 an Böhlendorff geäußerten Reflexionen ist, liest er beide Texte zusammen.380 Denn mit der Ausfahrt in die Fremde verbindet sich nach Heidegger auch das Darstellungsproblem, das den deutschen Dichtern aufgegeben sei. Diesen sei nämlich, wie Hölderlin an Böhlendorff schreibt, die „Klarheit der Darstellung“ sowie „Nüchternheit“ und „Präzision“ ursprünglich mitgegeben, doch können diese Gaben erst dann frei gebraucht werden, wenn sich die Nordländer der Fremde aussetzen und sich vom „heiligen Pathos“ und vom „Feuer“ des griechischen Himmels angehen lassen. Erst wenn dieses geschieht, sei das „Klare des Sagens“, wie Heidegger zusammenfaßt, bestimmt „durch das offene Erfahren des Darzustellenden“ (A, 118). Von Bedeutung sind Hölderlins Verse hier auch deshalb, weil sich Celan – so die These – ebenfalls auf sie bezieht, um Heideggers Kommentar zur Hymne Andenken seinerseits in einem Gedicht zu kommentieren, um sodann auf diesem Wege Heidegger mit seinem differenten Welt- und Herz-bezug zu 378

Friedrich Beißner: Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 1933, 147. Beißner, auf den sich Heidegger bezieht, hat als erster dieses Fragment veröffentlicht und kommentiert. 379 StA II, 608. Auf die Debatte, wie Hölderlins Variante zu verstehen sei und ob man ihr den Wert eines Philosophems geben dürfe, welches das wesentliche Motiv seiner späten Dichtung sage, wird im folgenden nicht einzugehen sein, vgl. Szondi: Brief an Böhlendorff (Anm. 200) und den durch seine eigene Thesenbildung bestimmten Forschungsbericht von Hans Joachim Kreuzer: Kolonie und Vaterland in Hölderlins später Lyrik, in: HJb 22 (1980/81), 18–46. 380 Vgl. A, 87, zum Brief an Böhlendorff (StA VI, 425–428) s. o. S. 90 f. und Anm. 200.

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konfrontieren. Gemeint ist das Mitte September 1962 geschriebene Gedicht Die Silbe Schmerz (I, 280 f.), das neben fünf anderen Gedichten in der Neuen Rundschau veröffentlicht wurde,381 bevor es schließlich im Band Die Niemandsrose erschien. Heideggers Deutung von Hölderlins Kolonie-Fragment, welche die wesentlichen Prämissen seiner Andenken-Lektüre anzeigt, und Celans Gedicht sollen darum im folgenden vor- und gegenübergestellt werden. Hierbei wird nur der 1943 gedruckte Aufsatz Heideggers, den Celan kannte, und nicht die erst 1982 publizierte Vorlesung zu Hymne Andenken aus dem Wintersemester 1941/42 zugrunde gelegt.

a) Heidegger: Die Heimkehr des Geistes als Dichter Heidegger fragt, wo die Dichtung und die Dichter „wohnen“ und sieht in Hölderlins Kolonie-Fragment eine Antwort, die sage, wo der Geist zu Hauß ist. „Der Geist ist der wissende Wille des Ursprungs“ (A, 90). Diese Definition korrespondiert mit Heideggers Annahme, daß das Dichterische der Grund für das Wohnen auf dieser Erde sei. Denn erst durch den Geist erlange das „Wirkliche“ (im Sinne des Seienden, res extensa) sein Wesen, das Heidegger an dieser Stelle die „Wirklichkeit“ nennt: „Der Geist denkt die allem Wirklichen aus der Einheit seines Wesens zukommende Wirklichkeit“ (ebd.). Sieht auch die „Wirklichkeit“ im Sinne Heideggers vom „Wirklichen“ aus besehen unwirklich aus, so verwandelt sich dieser Eindruck mit dem Erscheinen des Geistes grundlegend. Damit dieses geschehen könne, bedürfe es des „Beseeler[s]“ (ebd.), der einer Gemeinschaft den Geist bringe. Durch diesen ‚Helden‘ könne der Geist erst „‚der Geist‘ der Geschichte eines Menschentums auf dieser Erde werden“ (A, 91). Ein solcher Beseeler sei der Dichter, der zuvor in seiner Seele die dichtenden Gedanken des Geistes in sich versammelt haben müsse. Indem der Dichter auf der Erde seiend „und doch über sie hinaus den Himmel zeigt und in diesem Zeigen erst die Erde in ihrem dichterischen Äther erscheinen läßt“, offenbare er „den dichtenden Grund des Wirklichen“ und bringe durch die „gezeigte Wirklichkeit“ das Wirkliche „zum ‚Wesen‘“ (ebd.). Der Geist des Dichters bzw. der „dichtende Geist“, der mit seinem Zeigen den Erdensöhnen das dichterische Wohnen gründe, müsse allerdings „selbst zuvor im gründenden Grund wohnen“ (ebd.). Also wird er, so wäre zu schließen, „als dieser von Hause aus zu Hauß sein“ (ebd.). Wurzle doch auch

381

Vgl. Neue Rundschau 74 (1963) H. 1, 55–60. In folgender Reihenfolge sind hier die Gedichte Eine Gauner- und Ganovenweise; Tübingen, Jänner; Mandorla; Anabasis; Die Silbe Schmerz und Was geschah? gedruckt. Celan war sehr darauf bedacht, daß „die Gedichte in dieser – und keiner anderen – Reihenfolge“ gesetzt werden, vgl. Celans Brief an Fischer vom 30. November 1962, in: Fischer: Briefwechsel mit Autoren (Anm. 321), 632.

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der Baum von Beginn an schon in seinem Grund. Und, so fügt Heidegger als weiteres Beispiel an, kommt „doch selbst das leblose Ding, das eine menschliche Hand anfertigt, bei seinem Beginn zuerst in seinem Entstehungsgrund vor, um dann aus diesem Vorkommen im bearbeiteten Stoff durch die Herstellung hervorzukommen in sein Fertiges. Lebendiges und Lebloses west, zu seinem Beginn wenigstens, wenngleich später nie mehr, an seinem Herkunftsort und hat diesen zu solcher Zeit am reinsten inne“ (ebd.). Doch aus dieser Innigkeit, die Lebendiges und Lebloses an ihrem Entstehungsgrund noch haben, die Entsprechung abzuleiten, der Geist unterliege ebenfalls dem Gesetz, daß er als Keim dort zuhause ist, wo Wirklichkeit und Wirkliches noch ungeschieden sind, ist für Heidegger eine Fehlannahme. Denn „der Geist ist Geist. Sein Dichten west nach eigenem Gesetz“ (ebd.). Dieses Gesetz nun sage Hölderlins Wort, wonach zunächst einmal anzuerkennen sei: „Der Geist ist zum Beginn im eigenen Hause nicht zuhaus“ (ebd.). Denn sobald der Geist entsprungen ist, werde er derart entlassen, daß sich der Ursprung selbst nicht mehr zeige, sondern sich hinter dem Entsprungenen „verbirgt und entzieht“ (A, 92). Halte sich der Geist auch für seine Heimat offen und versucht „am Beginn im entsprungenen Heimischen unmittelbar die Heimat zu fassen“, so gelinge ihm doch dieses nicht, weil sich die Heimat entziehe und er von ihr gar „verstoßen“ werde (ebd.). Des Geistes erste Annahme, „unmittelbar im Eigenen zu Hauß zu sein“ (ebd.), verzehre darum seine Wesenskräfte. Der Heimat derart vergeblich zugewendet, erwache in ihm schließlich der Wille, „um der Heimat willen das Unheimischsein, das ihm die sich verschließende Heimat schon nahe bringt, eigens aufzusuchen“ (A, 93). Der Geist halte sich also an die Fremde, aber eben an jene, „die zugleich an die Heimat denken läßt“ (ebd.). Das ist die „Kolonie“. Sie müsse als „das auf das Mutterland zurückweisende Tochterland“ verstanden werden. Das bedeutet: „Indem der Geist Land solchen Wesens liebt, liebt er unmittelbar und verborgen doch nur die Mutter“ (ebd.). Das erkläre auch, weshalb der Geist, der nur die Mutter liebt, tapfer Vergessen sei. Vergessen nun könne man in mehrerer Hinsicht. Etwas könne aus dem Sinn geraten, dann ist es entgangen. Zum anderen könne etwas mit Absicht vergessen werden, „dann kommt es leicht zur Flucht in anderes, was uns gefangen nimmt, so daß wir dabei ‚uns vergessen‘“ (ebd.). Neben diesen Vorkommnissen führt Heidegger „noch ein anderes Vergessen“ an, „bei dem nicht wir etwas vergessen, das vielmehr uns vergißt, so daß wir die Vergessenen sind“ (ebd.). Ein solcher Fall tritt ein, wenn uns das „Geschick“ vergesse und wir „also kein Schicksal mehr empfangen, sondern nur auf der feigen Flucht vor dem eigenen Wesensursprung im Geschehen umhertreiben“ (A, 93 f.). Eine solche feige Flucht schließt Heidegger für den Geist aber aus, weil er von Hölderlin tapfer genannt wird. Das bedeute zweierlei. Erstens hat der Geist die Auszeichnung tapfer zu sein, weil er verborgen seinen Ursprung liebe, und zum zweiten zeichne den Tapferen aus, daß er vorausblickt und im

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vornherein schon wisse, worauf es ankomme. Das unterscheide den Tapferen von jenen, die in blinder Weise bloß mutig sind. Der tapfere Geist habe also den Vorzug zu wissen, daß die Erfahrung des Fremden die Durchfahrt „um der künftigen Aneignung des Eigenen willen“ sei (A, 94). Und eben auf diese Weise gelinge es dem Geist auch, wieder zurückzukehren. Mit dieser Aussicht bricht Heidegger seine Vorüberlegungen zur Hymne Andenken unvermittelt ab und fährt fort: „Inzwischen hat die Tapferkeit des dichtenden Geistes die lange Ausfahrt in die Fremde erfahren. Der Geist ist heimgekommen, weil er Kolonie liebte.“382 Der Geist ist also als heimgekehrter zu Hauß. Heidegger rekonstruiert zu Beginn seines Aufsatzes in nuce, wie der Geist aus seinem Ursprung entlassen wurde und wie er sich über die Ausfahrt in die Fremde wieder bei seiner Mutter, der Schatten spendenden Heimat, einfindet. In der Fremde wäre der Verschmachtete unter dem Feuer des Himmels fast verbrandt. Diese Erfahrung ermöglicht ihm nun aber, seinen eigentlichen (geschichtlichen) Auftrag im Hinblick auf die „Aneignung des Eigenen“ (ebd.) auszuführen: Der Geist hat das in der Fremde erfahrene Feuer nun eigens in seine Heimat zu bringen. Dies wird ihm durch das Feuer ermöglicht, weil er durch es erst sein ursprüngliches, aber im Ursprung unzugängliches, Vermögen der klaren Darstellung gebrauchen kann. „Der dichtende Geist, der das menschliche Wohnen als ein dichterisches gründen soll, muß selbst zuvor dichtend im Gesetz seines Wesens heimisch werden. Dieses Gesetz des Dichtertums der künftigen Dichter ist das Grundgesetz der durch sie zu gründenden Geschichte. Die Geschichtlichkeit der Geschichte hat ihr Wesen in der Rückkehr zum Eigenen, welche Rückkehr erst sein kann als Ausfahrt in das Fremde. Deshalb müssen die Dichter zuvor Schiffer sein, deren Fahrt in der Gunst des Nordost die rechte Richtung hält nach dem Land des himmlischen Feuers“ (A, 95). An diesem Punkt geht Heidegger näher auf den Text der Hymne Andenken ein. Der Dichter denke mit dem Nordost an die Schiffer (v. 4), die sich – wie zuvor er selbst – in die Fremde aufmachen, um den feurigen Geist (v. 3) zu erfahren. Das unterscheide sie aber. Denn der „zurückbleibende Dichter gehört nicht mehr zu den ausfahrenden Schiffern“ (A, 95). Er schicke vielmehr seine Grüße an den Ort, von dem er selbst seine Bestimmung erfahren habe. Er grüße, weil er selbst von seinem Geschick einst gegrüßt wurde, er also kein Vergessener sei und ein solcher auch nicht werden möchte. Seine Aufgabe habe deswegen zu sein, das Andenken an den Gruß, der seine Bestimmung sei, nicht zu verlieren. Denn hiervon hänge ab, ob er die künftige Geschichte seiner Heimat stiften könne. Genau darin bestehe nun das Andenken. „Solches Andenken kann jedoch nicht die bloße Vergegenwärtigung eines Vergangenen sein. Das ‚himmlische Feuer‘ muß, soll es alle Darstellung erst ihr Gefüge finden lassen, ständig noch wesen. Das 382

A, 94, Hervorh. von mir.

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Denken an das ‚Gewesene‘, d. h. an das zu seiner Wesung Gekommene, ist ein Andenken eigener Art“ (A, 96). Die eigene Art des Andenkens ergibt sich aus der spezifischen Zeitlichkeit, die für Heideggers Denken insgesamt bestimmend ist und die er bereits zu Beginn seines Aufsatzes als das Denken „‚an‘ das Künftige“ ankündigte (A, 84). Danach ist die unter südlichem Himmel gemachte Erfahrung der Fremde als ein Gewesenes zu behalten, das „bei seiner Rückkunft im Andenken über unsere Gegenwart sich hinausschwingt und als ein Zukünftiges auf uns zukommt. Plötzlich muß das Andenken das Gewesene als ein Nochnicht-Entfaltetes denken“ (A, 100). Dem Dreischritt von Ursprung, Ausfahrt und Rückkehr – den Heidegger freilich nicht mit der dialektischen Bewegung der deutschen Idealisten verwechselt wissen möchte – habe nun ein ebenfalls dreifach Gefugtes zu folgen, so daß aus dem heimgekommenen Geist schließlich Geschichte werde. An das Gewesene solle derart gedacht werden, daß es als Zukünftiges in der Gegenwart ankommen könne. Die Darstellungen der Dichter, die den heimgekehrten Geist verkörpern, unterstehen ganz dieser Aufgabe. Sie dürfen sich also nach ihrer Ankunft zu Hauß nicht zur Ruhe setzen, sondern haben wachsam „auf das Kommende“ zu sein (A, 118). Hölderlin zeichne gegenüber allen anderen Dichtern aus, daß er dieses Gesetz den künftigen Dichtern dichterisch vorgezeichnet habe. Heideggers dann einsetzende Ausdeutungen, die im einzelnen auf Hölderlins Hymne eingehen, werden nun nur insoweit vorgestellt, als sie für die nachfolgende Lektüre von Celans Gedicht Die Silbe Schmerz von Bedeutung sind. In jedem Sinne im Mittelpunkt steht dabei die dritte Strophe der Hymne (StA II, 188 f.): Es reiche aber, Des dunkeln Lichtes voll, Mir einer den duftenden Becher, Damit ich ruhen möge; denn süß Wär’ unter Schatten der Schlummer. Nicht ist es gut, Seellos von sterblichen Gedanken zu seyn. Doch gut Ist ein Gespräch und zu sagen Des Herzens Meinung, zu hören viel Von Tagen der Lieb’, Und Thaten, welche geschehen.

Das die Mitte der Hymne bestimmende Nicht ist es gut (v. 30), das wie eine Zäsur der vorhergehenden Vorstellung eines süßen Schlummers unter Schatten Einhalt gebietet, führt über die sterblichen / Gedanken auf das Gespräch hin. Heidegger liest überraschenderweise diese beiden Optionen nicht als Alter-

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native, daß also die sterblichen / Gedanken für den Zustand der Seellosigkeit verantwortlich sind, hingegen das Gespräch für die Seele gut (v. 32) ist, sondern er versteht das Gespräch vielmehr als das Denken der sterblichen Gedanken (vgl. A, 123). Ja er faßt seine Ausführungen so zusammen, daß gerade das „gute Gespräch […] die Sprechenden denkender im Denken der sterblichen Gedanken“ mache (A, 126). Denn es seien jene Gedanken, die nach Heidegger „das Seellose“ überwinden (vgl. A, 123). Indem der Dichter an das denke, „was die Erdensöhne zuerst angeht“, nämliche ihre Sterblichkeit, könne er ihr Wohnen auf der Erde gründen und ihnen zugleich aus seiner Zwischenstellung zwischen Erde und Himmel heraus die Götter zeigen (vgl. ebd.). Binder stellt zu diesen Versen fest, daß Hölderlins sterbliche Gedanken mitnichten als Gedanken ans Sterben zu deuten seien. Denn seellos sei ein Schwäbizismus für ruchlos. Entsprechend übersetzt er Hölderlins Worte: „um meine Seele, meine Offenheit gebracht infolge von sterblichen, mich an Dingliches fesselnden Gedanken.“383 Bestätigung findet dieser Vorschlag durch eine Parallelstelle im Hyperion: „Noch rauschen die Ströme in’s Meer, und schattige Bäume säuseln im Mittag. Der Wonnegesang des Frühlings singt meine sterblichen Gedanken in Schlaf. Die Fülle der alllebendigen Welt ernährt und sättiget mit Trunkenheit mein darbend Wesen.“384 Danach wäre es auch in Andenken der Schlummer aus duftendem Becher (v. 27 ff.), der den sterblichen / Gedanken entgegenwirkt. Doch anders als der Schlummer vermag das nach der zweifachen Zäsur (Nicht ist es gut, // ... Doch gut / Ist, v. 30 ff.) angeführte Gespräch, diese Gedanken mit Bewußtsein zu überwinden. Denn im Gespräch mag sich das ergeben, was sowohl das Herz angeht als auch auf Thaten hoffen läßt, welche geschehen (v. 34 ff.). Das Gespräch vermittelt also zwischen der vita contemplativa und der vita activa. Es ist darum auch der Ort, an dem sich der Gesang ankündigt, der dann die kommende Friedensfeier anstimmt:385 Viel hat von Morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.

Das Gespräch ist die ‚Mitte‘ zwischen den Subjekten, die sich in ihm überhaupt als solche bilden. Der berühmte Vers, Seit ein Gespräch wir sind, sagt, 383

Vgl. Binder: Hölderlin: „Andenken“, in: Turm-Vorträge (1985/86), hg. von Uvo Hölscher, Tübingen 1986, 5–30, hier 16. Zur Diskussion um die sterblichen / Gedanken vgl. oben Anm. 141. 384 Hyp I, 9 f., Hervorh. von mir. 385 Hölderlin: Friedensfeier (Anm. 33), v. 91–93. Siehe auch die dritte Fassung von Versöhnender, der du nimmergeglaubt, StA II, 137, auf die sich Heidegger bezieht, HWD, 38–40.

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seit wann wir überhaupt sind.386 Heidegger, der schon in seinem Aufsatz zum Wesen der Dichtung auf die Bedeutung des Gesprächs bei Hölderlin einging, erläutert nun bezüglich der Hymne Andenken, in der Hölderlin das Gespräch in das Zusagende und das Zuhörende (vgl. v. 33 f.) zu unterteilen scheint, den Grund und Ursprung des Gesprächs: „Sagen und Hören bilden nur das gesprochene Gespräch, indem sie das ursprüngliche Gespräch entfalten und bei solcher Entfaltung selbst erst aus dem ursprünglichen Gespräch entspringen. Dies ist der stets wörterlose Zuspruch des Zugeschickten, die lautlose Stimme des Grußes, in der sich die Zumutung dessen ereignet, was zuvor Einer im Gemüt tragen muß, der durch die Stimme zum Zeigen bestimmt ist. In solcher Zumutung stehen, heißt hören können. Das gibt den Wesensgrund des echten Sagens“ (A, 124). Erneut macht Heidegger die grundlegende Unterscheidung geltend zwischen bloß „Wirklichem“, hier „das gesprochene Gespräch“, und der im verborgenen liegenden „Wirklichkeit“, dem ursprünglichen Gespräch. Letzteres sei durch den „wörterlosen Zuspruch des Zugeschickten“ beziehungsweise durch „die lautlose Stimme des Grußes“ bestimmt. Dieser wörterlose Zuspruch des ursprünglichen Gespräches wird dadurch vermittelt, daß „Einer“ ihn zuvor in seinem Gemüt trug. Daraus ergibt sich in der Tat eine zweifache ‚Zumutung‘. Zum einen die von Heidegger intendierte, nämlich daß „Einer“ die „wörterlose“ und „lautlose Stimme“ des Grußes hören könne und hieraus sein „echtes Sagen“ autorisiere, zum anderen aber, daß das gesprochene Gespräch sich allein aus diesem Zuspruch ableite, den dieser „Eine“ weitergibt. Gebe es diesen also nicht, dann bliebe folglich nur das Gerede, weil sich ohne ihn kein Gespräch entfalten könne. Entsprechend besteht für Heidegger das gute Gespräch darin, daß „das Gesagte und das Gehörte das Selbe“ seien (A, 124, vgl. auch HWD, 39). Mögen auch zwei sprechen und sich gegenseitig zuhören, so verstehen sie einander nur dann, wenn sie zusammen auf jenen „Einen“ hören, der „zuvor“ die lautlose Stimme vernommen hat.

b) Celan: Ausfahrt ohne Heimkehr. Die Silbe Schmerz An diesem Punkt der Darlegung des Zwiegesprächs Heideggers mit Hölderlin sei nun Celans Gedicht Die Silbe Schmerz hinzugenommen. Daß sich eine Intervention in dieses Zwiegespräch durch Celans Gedicht unmittelbar aus 386

In diesem Sinne schreibt Hölderlin im November 1802 an Böhlendorff: „das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig. Sonst haben wir keinen für uns selbst“, StA VI, 433. An diesem für das Subjekt konstitutiven Moment des Gesprächs läßt sich erahnen, wie nötig auch für Celan das Gespräch ist, um dessen Ermöglichung sich seine Dichtung bemüht, vgl. oben S. 13 f., 47 f. und unten Kap. Schenkend-verschenkte Hände, S. 211 ff.

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dem Text ergibt, kann nicht behauptet werden. Vermutlich darum wurde Die Silbe Schmerz nicht in diesem Kontext wahrgenommen.387 Es gibt hingegen die Versuche, Celans Gedicht in andere intertextuelle Bezüge zu stellen. So lesen Adelheid Rexheuser und Bernhard Böschenstein Die Silbe Schmerz im Kontext von Jean Paul. Insbesondere die Frage nach der Relation zwischen Sache und Zeichen bietet diesen Vergleich an.388 James Rolleston und Fioretos wiederum lesen insbesondere die Schlußstrophe im Kontext der zehnten Duineser Elegie Rilkes. Eben dieselbe Strophe deuten Cecile Cazort Zorach und Charlotte Melin als eine Antwort auf das Gedicht Und niemand weiß weiter von Nelly Sachs.389 Rolleston sieht darüber hinaus in dem Gedicht eine Anspielung auf Novalis’ Reflexion über „die Zahlen und die abstracten Ausdrücke“390 und Perels macht auf die große Nähe zur von Gershom Scholem beschriebenen „jüdische[n] Buchstabenmystik“ aufmerksam.391 Die unterschiedlichen Interpretationen machen deutlich, daß das Gedicht in der Tat selbst Leerformen (v. 4) anbietet, in die dann seitens der Leser annähend alles einzugehen scheint. Dem Begehren, diese Leerformen füllen zu wollen, ja u. a. das Wort Leerformen selbst als eine Allusion auszuweisen, kann sich auch die nachstehende Lektüre nicht entziehen, weil sich der Bezug zu Heideggers Text „Andenken“ buchstäblich aufdrängt. Gleichwohl gilt auch für das Folgende, was oben schon zur Engführung gesagt wurde: Es wird nicht darum gehen, das Gedicht Die Silbe Schmerz mehr oder weniger plausibel dadurch zu erklären, daß man den ‚eigentlichen Intertext‘ des Gedichts nachweist und gar versucht, auf diese Weise seine Entstehung zu rekonstruieren. Aber es geht sehr wohl um die Möglichkeit, dieses Gedicht in einen Problemzusammenhang zu stellen, zu dem Celan Stellung bezieht. Diesen Zusammenhang bilden die von Heidegger aufgeworfenen Thesen, daß erstens die „Geschichtlichkeit der Geschichte […] ihr Wesen in der Rückkehr zum 387

Meines Wissens hat nur Martine Broda einen Zusammenhang zwischen Die Silbe Schmerz, der „Hölderlinschen Dialektik vom Eigenem und Fremden“ und dessen Entwurf Kolomb hergestellt, vgl. dies.: Dans la main de personne. Essai sur Paul Celan, Paris 1986, 48. 388 Adelheid Brüninghaus [Rexheuser]: „Den Blick von der Sache wenden gegen ihr Zeichen hin“. Jean Pauls Streckverse und Träume und die Lyrik Paul Celans, in: Jean-Paul-Jahrbuch 2 (1967), 55–72; und Bernhard Böschenstein: Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls: Büchner, George, Celan, in: Jean-Paul-Jahrbuch 10 (1975), 187–204. 389 James Rolleston: Consuming History. An Analysis of Celan’s Die Silbe Schmerz, in: Psalm und Hawdalah. Zum Werk Paul Celans. Akten des Internationalen Paul Celan-Kolloquiums, New York 1985, hg. von Joseph P. Strelka, Bern / Frankfurt a. M. / New York / Paris 1987, 37–48; und Fioretos: Nothing (Anm. 129), 330 f. Cecile Cazort Zorach / Charlotte Melin: The Columbian Legacy in Postwar German Lyric Poetry, in: German Quarterly 65 (1992), 267–293, hier 289. Vgl. Sachs: Gedichte, hg. von Hilde Domin, Frankfurt a. M. 1977, 55 f. 390 Vgl. Rolleston: Consuming History. (Anm. 389), 43. 391 Perels: Zeitlose (Anm. 346), 56 f.

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Eigenen“ habe, „welche Rückkehr erst sein kann als Ausfahrt in das Fremde “ (A, 95), daß zweitens entsprechend „die Dichter zuvor Schiffer“ sein müssen (ebd.), damit diese drittens dann einer der „Einen“ sein können, die den „wörterlose[n] Zuspruch des Zugeschickten“ (A, 124) annehmen und schließlich das heilige Pathos in der Sprache zur Darstellung bringen. Celan nun antwortet hierauf, indem er jenen Schiffer vorstellt, der wie kein anderer den Aufbruch in eine neue geschichtliche Epoche symbolisiert und den sich darüber hinaus Hölderlin als Vorbild gewählt hätte, wenn er ein Held hätte sein wollen. Das ist Kolumbus, dem Hölderlin indirekt schon 1789 eine kurze Hymne widmete.392 Im Homburger Folioheft dann setzt er unter dem Titel Kolomb mit folgenden Versen an:393 Wünscht’ ich der Helden einer zu seyn Und dürfte frei es bekennen, So wär’ es ein Seeheld.

Celan, ohne sich in dieser Weise mit Kolomb zu identifizieren, schreibt (I, 280 f.): DIE SILBE SCHMERZ Es gab sich Dir in die Hand: ein Du, todlos, an dem alles Ich zu sich kam. Es fuhren wortfreie Stimmen rings, Leerformen, alles ging in sie ein, gemischt und entmischt und wieder gemischt. Und Zahlen waren mitverwoben in das Unzählbare. Eins und Tausend und was davor und dahinter größer war als es selbst, kleiner, ausgereift und rück- und fortverwandelt in keimendes Niemals. 392

Vgl. Hölderlins Brief an Neuffer vom Dezember 1789: „In einigen glüklichen Stunden arbeitete ich an einer Hymne auf Kolomb die bald fertig freichlich auch viel kürzer, als meine andern ist“, StA VI, 47. Vermutlich meint Hölderlin mit diesem Text das Ruhmesgedicht Gustav Adolf (StA I, 85–87), oder aber die Neuffer angekündigte Hymne ist verloren gegangen. 393 Hier nach StA II, 242, vgl. auch die Abweichung in SWB I, 425.

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Vergessenes griff nach Zu-Vergessendem, Erdteile, Herzteile schwammen, sanken und schwammen. Kolumbus, die Zeitlose im Aug, die MutterBlume, mordete Masten und Segel. Alles fuhr aus, frei, entdeckerisch, blühte die Windrose ab, blätterte ab, ein Weltmeer blühte zuhauf und zutag, im Schwarzlicht der Wildsteuerstriche. In Särgen, Urnen, Kanopen erwachten die Kindlein Jaspis, Achat, Amethyst – Völker, Stämme und Sippen, ein blindes Es sei

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knüpfte sich in die schlangenköpfigen FreiTaue –: ein Knoten (und Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tausendknoten), an dem die fastnachtsäugige Brut der Mardersterne im Abgrund buch-, buch-, buchstabierte, stabierte.

Das Gedicht Die Silbe Schmerz spricht von den Möglichkeiten und Konsequenzen der Verknüpfung. Ein Du wird an ein anderes übergeben; in Leerformen geht alles ein; Zahlen werden in das Unzählbare mitverwoben; Vergessenes greift nach Zu-Vergessendem; Edelsteine werden mit Völkern assoziiert und ein blindes E s s e i schließlich knüpft sich in schlangenköpfige Frei-Taue. Das Gedicht selbst knüpft, zunächst einmal vom Titel her, an das grundlegende Problem an, das oben im Zusammenhang der Gedichte Autopsychographie und Engführung diskutiert wurde: Das ist die Doppelpein und mithin die Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung des Schmerzes in der Sprache, im Wort oder wenigstens in der Silbe. Sofern sich Schmerz und Sprache gegenüberstehen, stehen sich immer auch Fremdes und Eigenes gegenüber,

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ganz gleich, ob der Schmerz der Sprache fremd ist oder ob vice versa der Schmerz als der eigene empfunden wird, der sich in die Sprache entäußern soll, um derart in ihr heimisch zu werden. Daß der Schmerz aber in die Sprache ‚hineingeknüpft‘ werden müßte, das ist unhintergehbar gefordert. Es ist der Schmerz selbst, der die Sprache (langue) herausfordert, ihm eine Form (parole) zu geben. Und es ist andersherum das mit Sprache begabte Subjekt, das erst dadurch zu sich selbst finden kann, daß es sich auf den Schmerz als Fremden einläßt. Denn das Subjekt und seine Sprache können neben sich nichts dulden, was sie nicht zu benennen wissen. Sie haben das Begehren, die gesamte Wirklichkeit zu repräsentieren. Die Sprache muß ‚alles‘ sein, muß selbst das ihr Fremde noch anzeigen, um es wenigstens auf diese Weise als ihr ‚eigenes‘ zu wissen. Hierfür stellt sie die Subjekte, die sich ihr verdanken, in den Dienst. Auch Celans Gedicht unterliegt diesem Auftrag, auch sein Gedicht bietet „der ganzen Wirklichkeit Schach“.394 Doch indem er den Auftrag befolgt, unterwirft er die Sprache selbst einer Verwandlung, die für sie nicht ohne Folgen bleibt. Nun spricht das Gedicht nicht unmittelbar vom Schmerz oder von der Silbe, die das Wort ‚Schmerz‘ bildet. Es gibt vielmehr mit dem zeitlichen Abstand einer Retrospektive Bericht von verschiedenen Prozessen, die zum einen die Geschichte betreffen und die zum anderen die Logik der Subjekt- und Sprachbildung angehen. Indem aber zum Ausdruck kommt, wie in diese Verwandlungen der Tod, der Mord, das Abgründige und auch der Imperativ, der das Sein fordert, einwirken, erweist sich dieser Blick aus der Distanz zugleich als ein in das Beschriebene involvierter. Die erste Strophe des Gedichts skizziert in knappster Form, wie ein Subjekt, das alles auf sich vereinigt, zu sich kam. Celans Zeilen nehmen dabei Formulierungen Heideggers auf, die dieser bei der Bestimmung des „ursprünglichen Gesprächs“ gebraucht: Es gab sich Dir in die Hand: ein Du, todlos, an dem alles Ich zu sich kam. Es fuhren wortfreie Stimmen rings, Leerformen, alles ging in sie ein, gemischt und entmischt und wieder gemischt.

Diese Strophe scheint selbst nur aus Leerformen zu bestehen. Denn wer ist das Du, von dem es heißt, es sei todlos? Wer ist der andere, dem dieses Du (v. 2) in die Hand (v. 1) gegeben wurde? Und wer oder was ist alles Ich, das 394

Vgl. Brief an Bender, 18. November 1954 (Anm. 363).

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von dieser Übergabe zu profitieren schien und durch sie bei sich ankommen konnte? Kann das todlose Du nicht sterben, obwohl es vielleicht schon um sein Leben gebracht wurde? Die Hand hingegen, der es gegeben wurde, wird einem sterblichen Menschen gehören. Doch konnte sie die Gabe annehmen? Alle genannten Subjekte unterscheiden sich von den in der Dichtung Celans sonst vorkommenden Personalpronomen der ersten und zweiten Person Singular dadurch, daß sie großgeschrieben sind. Sie sind von Abstrakta umgeben, so daß es zunächst scheint, daß ein logisch-objektiver Ton das Gedicht bestimmt. Doch mit der dritten Strophe tritt dann ein biblisch-narrativer Ton hervor, der durch das durchgängige Präteritum getragen wird. Der Negativbestimmung todlos folgt im zweiten Satz eine ebenso rätselhafte: wortfreie Stimmen. Diese fuhren rings, zogen damit einen Kreis, in dem alles hineingezogen und homogenisiert, dann entmischt und wieder gemischt wurde. Stehen diese Stimmen, die mit ihren Leerformen eine gewaltige Verwandlungskraft entfachten, im Zusammenhang mit dem impersonalen Neutrum Es (v. 1), das im erstes Satz die Subjektstelle einnimmt? Und weiter gefragt, spielt Celan mit den wort-freien Stimmen, die in irgendeiner Form auch mit dem tod-losen Du zusammenhängen müssen, auf den stets wörter-losen „Zuspruch des Zugeschickten“ und die „lautlose Stimme des Grußes“ an, also auf jene Gabe, die nach Heidegger das „ursprüngliche Gespräch“ bestimmt (vgl. A, 124)? Wenn dem so wäre, dann darf hypothetisch unterstellt werden, daß Celan in Abbreviatur eine Ich-Werdung beschreibt, die nicht nur eine Art Rückkehr zu sich vollzogen hat, sondern die auch durch den Zuspruch eines fremden Geschicks – des todlosen Du – bestimmt ist. Führt man die Analogie zu den Deutungen, die Heidegger an Hölderlins Kolonie-Fragment entwickelt, weiter, dann könnte dieses zu sich gekommene Ich, der zu Hauß angekommene Dichter sein, dem es nun obliegt in seinen Darstellungen, den Leerformen, alles hineingehen zu lassen. Was aber ist alles, und läßt es sich näher bestimmen? 10

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Und Zahlen waren mitverwoben in das Unzählbare. Eins und Tausend und was davor und dahinter größer war als es selbst, kleiner, ausgereift und rück- und fortverwandelt in keimendes Niemals.

Das Mitverwobensein der Zahlen in das Unzählbare berührt auch das oben besprochene Verhältnis der Dichtung zum Handwerk, das für Hölderlin in dem „unendlichen aber durchgängig bestimmten Zusammenhange“ zwischen

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dem berechenbaren „allgemeinen Kalkul“ einer Dichtung und dem unberechenbaren „lebendige[n] Sinn“ derselben besteht (StA V, 195). Diese Relation vermochte Celan hingegen nicht zu bestimmen, weil er sich, wie er Bender schreibt, mit „Unzähligem konfrontiert“ sah.395 In diesen Versen nun verweist Celan die Zahlen in ihre Grenze. Ihr Mitverwobensein in das Unzählbare bedeutet, daß sie dieses nicht zu durchdringen vermögen. ‚Nichts‘ aber ist damit gesagt. Es werden nämlich die unendlich vielen Zahlen und das Unzählbare zugleich als Leerformen vorgeführt, die ebensoviel (größer) und ebensowenig  (kleiner) bedeuten als die Formel Eins und Tausend, die das pantheistische Εν Και Παν erinnert.396 Diese Formeln lassen darum kaum mehr als den vergeblichen Wunsch erkennen, daß das Ganze in seiner Mikro- und Makrostruktur bestimmt werden sollte. Läßt es sich aber so bestimmen?397 Nun kann man mit Zorach und Melin in den Zahlen, die in das Unzählbare mitverwoben sind, „the fates of distinct individuals among the countless victims of the Holocaust“398 sehen und es ist auch nicht abwegig in den Zahlen Eins und Tausend eine Anspielung auf die Geschichten aus Tausend und eine Nacht und mithin „the imperative of narration – here, not to prolong life through storytelling […], but to preserve memory through recounting history“ zu lesen.399 Doch das keimende Niemals am Ende der Strophe (v. 17) gemahnt, daß eine solche Übersetzung der leeren Sprachformen in einen bestimmten (lebendigen) Sinn, und dahingehend in ein Keimendes, im Niemals endet. Die Unmöglichkeit, die Leerformen als Sätze zur Geschichte zu lesen, gilt zumindest solange, als das Gedicht keine näheren Referenzen gibt. Das ändert sich mit der dritten Strophe. In ihr können denn auch weitere Allusionen auf Heideggers Kommentar „Andenken“ gelesen werden. Zu nennen ist insbesondere die ebenfalls negative und insofern noch leere Wendung, die dann auf Kolumbus und die ausfahrenden Entdecker hinführt: Vergessenes griff nach Zu-Vergessendem, Erdteile, Herzteile schwammen, sanken und schwammen. […]

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Brief an Bender, 18. November 1954 (Anm. 363). Vgl. oben Anm. 182. 397 Wie leer die Verse der ersten beiden Strophen bleiben, wenn man sie aus dem Gedicht herausgelöst betrachtet, demonstriert unfreiwillig die nur auf die „logische Form“ blickende Analyse von Vincenzo Vitiello: Gegenwort. Paul Celan und die Sprache der Dichtung, in: Celan-Jahrbuch 5, 7–22, insb. 13 f. 398 Zorach / Melin: Columbian Legacy (Anm. 389), 287. 399 Ebd. 396

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Heidegger hatte als eine Form des Vergessens jenes „andere Vergessen“ beschrieben, bei dem das Geschick „uns vergißt, so daß wir die Vergessenen sind“ (A, 93). Wer aber „kein Schicksal mehr“ empfängt, ist nicht nur vom ursprünglichen Gespräch ausgeschlossen, sondern dem bleibt nur die „feige Flucht vor dem eigenen Wesensursprung“ (A, 93 f.). Für den Geist schließt Heidegger eine solche Flucht aus, weil seine Ausfahrt in die Fremde schon auf die Heimat projektiert sei. Er sei darum auch kein Vergessener. Nun wollte Heidegger sicher nicht, als er Hölderlins Variante zu Brod und Wein als Paradigma der „Grundwahrheit der Geschichte“ vorstellte (A, 89 ff. u. GA 53, 60 f.), mit seiner Deutung zugleich zum Ausdruck bringen, daß Kolumbus der herausragende Seeheld und Repräsentant des Weltgeistes sei, der die technischen Neuerungen seiner Zeit zu nutzen wußte, um das Mittelalter tatenreich zu überwinden. Es ist aber nicht auszuschließen, daß Hölderlin auch an Kolomb dachte, als er seine für Heidegger so zentralen Verse notierte. Denn auch Hölderlins Studienfreund Hegel verstand die „portugiesischen und spanischen Seehelden“, welche „einen neuen Weg nach Ostindien gefunden und Amerika entdeckt“ haben, ganz in diesem Sinne.400 Neben der Erfindung der Buchdruckerkunst und des Schießpulvers, hat nach Hegel „dieses Hinaus des Geistes, diese Begierde des Menschen, seine Erde kennenzulernen“ (ebd.), dazu beigetragen, daß „endlich nach der langen folgenreichen und furchtbaren Nacht des Mittelalters“ in der Geschichte wieder ein schöner Tag verkündet werden konnte (ebd., 491). Diesen preist Hegel als „Tag der Allgemeinheit“ (ebd.), wenn er auch einräumt, daß „dieser Fortschritt […] noch innerhalb der Kirche geschehen“ ist (ebd., 490). Denn der „Zweck des Kolumbus war auch besonders ein religiöser: Die Schätze der reichen noch zu entdeckenden indischen Länder sollten, seiner Ansicht nach, zu einem neuen Kreuzzuge verwendet und die heidnischen Einwohner derselben zum Christentume bekehrt werden. Der Mensch erkannte, daß die Erde rund, also ein für ihn Abgeschlossenes sei, und der Schiffahrt war das neu erfundene technische Mittel der Magnetnadel zugute gekommen, wodurch sie aufhörte, bloß Küstenschiffahrt zu sein“ (ebd. 490 f.). Hegel unterstreicht in seiner die Geschichte im Sinne des Fortschritts deutenden Art, daß Kolumbus’ Entdeckungen wohl das gehegte Weltbild der Kirche falsifizierten, daß er aber gleichwohl als Botschafter der Kirche seine Reise antrat. Nicht nur neue Erdteile, sondern eben auch die Herzen der heidnischen Einwohner sollten entdeckt und missioniert werden. Dahinter stand der sanktionierte Wahn, daß nur dann, wenn diese Kindlein mit dem Geist des Christentums beseelt würden, sie keine vom Geschick Vergessenen mehr

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Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1970, 490.

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wären. In diesem Geist sollten sie endlich erwachen (vgl. v. 33), kostete es sie auch das Leben. Diese realgeschichtlichen Implikationen von Hölderlins Kolonie-Fragment könnten selbst dann mitgelesen werden, wenn Hölderlin sie selbst nicht intendiert hätte. Heidegger aber kommt dieses nicht in den Sinn, weil er das Grundgesetz der Geschichte an diesem Fragment zu exemplifizieren versucht. Dabei spricht einiges dafür, daß Hölderlins Bewunderung für die Seefahrer und Entdecker von einer Skepsis begleitet ist und daß er gegenüber den ‚Tatenmenschen‘ Zwiespältiges empfand. Dies belegen folgende Verse, die er im Homburger Folioheft im Zusammenhang seines Kolomb schrieb (StA II, 242): Gewaltig ist die Zahl Gewaltiger aber sind sie selbst Und machen stumm die Männer.

Sicher ist der Eindruck, den Hölderlin etwa in Bordeaux von den zahllosen Seefahrern gewinnen konnte, gewaltig. Und sicher bezeugt die Stummheit auch eine Bewunderung für sie. Doch in dem Verschlagen der Sprache ob der Gewaltigkeit der Männer, die schlechthin besteht, ganz gleich wie viele es von ihnen gibt, gibt sich auch die Ahnung von der Gewalt zu erkennen, die von ihnen ausgeht, sobald sie in die Fremde ausfahren, um diese sich anzueignen. Diese Ambivalenz kommt ebenfalls in dem Kolonie-Fragment zum Vorschein. Denn daß der ausfahrende Geist tapfer Vergessen ist, macht auch auf die Gewalt und Kriegsbereitschaft (tapfer) aufmerksam, der immer auch ein Vergessen einhergeht. Heidegger bewahrt sich vor diesem Gedanken, indem er das tapfer Vergessen als „wissende[n] Mut“ (A, 94) deutet. Doch selbst in der Hymne Andenken klingt Hölderlins kritische Haltung gegenüber den Männern der See an. Denn diese scheuen nicht zuletzt auch deshalb die „Quelle“ (Andenken, StA II, 189, v. 39), weil diese im Unterschied zum Meer kein Vergessen duldet. Andersherum kann aber der „Reichtum / Im Meer“ nur dann gewonnen werden, wenn man den „geflügelten Krieg“ nicht verschmäht und die Einsamkeit „unter / Dem entlaubten Mast“ (ebd., v. 40–46). Während Heidegger den geflügelten Krieg allein metaphorisch als die Kunst die „Segel“ zu setzen und als den „Kampf mit dem Widrigen der Winde“ begreift (A, 135 f.), vergißt er den tödlichen Krieg, den die Entdecker und Kaufleute gegen die Völker, Stämme und Sippen geführt haben. Celan erinnert dieses Vergessen. Er führt in seinem Gedicht zu Heideggers Lektüre „Andenken“ Kolumbus und mithin auch die anderen ‚Kolonieliebenden‘ als Krieg führende Vergessende vor, die sich die angeblich vom Geschick Vergessenen ‚griffen‘. Entdeckt wurden dabei Erdteile. Geteilt aber wurden

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hierbei die gegriffenen Herzen, die als Folge wie die entdeckten Länder schwammen, sanken und schwammen.401 Die Mordhandlungen der freien Entdecker wenden die Verse um die Mitte von Celans Gedichts dann dahingehend, daß unüberhörbar Hölderlins Worte vom „geflügelten Krieg“ und vom „entlaubten Mast“ nachhallen. Daß sich Heidegger nicht auf die Realgeschichte der Kolonie liebenden Geister einließ und daß er dem entsprechend Kolumbus ‚vergessen‘ hat, das mahnt Celan an, indem er – fast zynisch – Heideggers Ausführungen zur Hymne Andenken gleichsam adaptiert und aus dieser Textnähe zu ‚Ende‘ denkt: ‚Wenn der „geflügelte Krieg“ sich nur gegen Wind und Wetter richtete, dann wurden folglich von Kolumbus auch bloß Masten und Segel gemordet‘. […] Kolumbus, die Zeitlose im Aug, die MutterBlume, mordete Masten und Segel. Alles fuhr aus,

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frei, entdeckerisch, blühte die Windrose ab, blätterte ab, ein Weltmeer blühte zuhauf und zutag, im Schwarzlicht der Wildsteuerstriche. In Särgen, Urnen, Kanopen erwachten die Kindlein Jaspis, Achat, Amethyst – Völker, Stämme und Sippen, […]

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Wenn das „Gesetz der Geschichte“ von der Rückkehr bestimmt ist, dann ist es die längst fällige Rückkehr des Vergessenen, welches das Zu-Bedenkende bleibt. Wie aber kann dieses zutag kommen, welche Verfahrensweise muß hierfür die Darstellung finden und was wäre schließlich an und mit ihr zu denken? Celan nutzt die Möglichkeiten der Annäherung von semantisch fern liegenden Bildfeldern, um aus den sich daraus ergebenden Überlappungen Einsichten zu gewinnen, die sich beispielsweise dann freisetzen, wenn sich aus ein und derselben Silbe unterschiedliche Morpheme bilden lassen. Möglich ist 401

Celan ging der Eroberung der Erd- und Herzteile in einem Gedicht aus dem März 1967 noch einmal nach: „WUTPILGER-STREIFZÜGE durch / meerisches Draußen und Drinnen, / Conquista / im engsten / untern Ge- / herz. / (Niemand entfärbt, was jetzt strömt.) // Das Salz einer hier / untergetauchten / Mit-Träne / müht sich die hellen / Logbüchertürme / aufwärts. // Bald / blinkt es uns an.“, II, 169.

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dies, weil die Silbe eine Zwischenstellung zwischen den semantisch noch nicht besetzten Lauten und dem Wort einnimmt. Sie muß also selbst nicht notwendigerweise mit der kleinsten morphologischen Einheit eines Wortes identisch sein. Sie ist zwar, wie ihr Etymon verrät, die ‚Zusammen-fassende‘ (gr. sýn – lambán¯o),402 weil sie die Buchstaben zu einem Laut bündelt, sie hintertreibt aber mitunter auch die semantische Einheit des Wortes und spaltet es in unterschiedliche Signifikate auf.403 Darum insistiert Celan im Titel auf der Silbe ‚Schmerz‘, obwohl diese mit dem Wort ‚Schmerz‘ identisch ist.404 Die konkreten paronomatischen und etymologischen Komponenten, die in Die Silbe Schmerz zum Tragen kommen, hat Perels zusammengestellt. Er weist insbesondere auf die indogermanische Wurzel *mer hin, die bestimmend ist für: „aufreiben, sterben, zurückzuführen [auf] russisch smert’: Tod (dazu gehört die Bildung bessmertnyi: todlos bzw. unsterblich), sowie das deutsche Wort ‚morden‘; eine fast gleichlautende indogermanische Wurzel *(s)mer: denken, sinnen, sorgen, entwickelt sich unter anderem weiter zu lateinisch memoria.“405 Des weiteren hebt Perels die Paronomasien und Homonymien zur Wurzel *mer hervor, als da sind: „französisch mère: Mutter, französisch und jiddisch mer: Meer, und jiddisch merder: Mörder, woran Marder (Vers 44 ‚Mardersterne‘) anklingt.“406 Was Perels jedoch vernachlässigt, was aber im Gedicht erst die disparaten Elemente als miteinander verbundene lesbar macht, ist das in den hier zitierten Versen zu beobachtende Verfahren der bildlichen und sprachlichen Verknüpfung historischer Ereignisse mit Termini des Nautischen und Botanischen. Dieses ist konkret in den Blick zu nehmen, will man ermessen, wie Celan fremde Sinnzusammenhänge so miteinander verknüpft, daß insbesondere jene Prämissen und immer schon unterstellten Kausalitäten zersetzt und hinterfragt werden können, die das Zeit- und Geschichtsverständnis organisieren. Nun suggeriert Celan durch diese Annäherung nicht einen quasi-organischen Prozeß für die Entwicklung der Geschichte. Denn er greift bei diesem Verfahren nicht auf eine Sinn gebende Metapher der Natur zurück, welche das Erzählte umrankt. Vielmehr geht es um die Andeutung eines verborgenen Konnex, dem sich Celan darüber anzunähern versucht, daß er bestimmte Termini technici in ihrem 402

Kluge: Etymologisches Wörterbuch (Anm. 99), 709. Hier ist an die Beobachtungen zu erinnern, die oben zum Schmerz (dor) im portugiesischen Wort fingidor gemacht wurden, s. o. S. 31. 404 Celan wollte sein Gedicht zunächst Das Wort Schmerz nennen, vgl. TCA Niemandsrose, 124. 405 Perels: Zeitlose (Anm. 346), 57; vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch (Anm. 99), Stichworte: Mord, 487 f., und Schmerz, 663 f.; sowie Hermann Menge: Langenscheidts Großwörterbuch Griechisch-Deutsch, unter Berücksichtigung der Etymologie, Berlin/München/Wien/Zürich 221973, 445. 406 Perels: Zeitlose (Anm. 346), 57. 403

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gewohnten Wortfeld entwickelt – z. B. die Windrose und die Steuerstriche als Elemente des Kompasses – zugleich aber diese mit einem anderen konfrontiert. Das Ineinandergreifen des Pflanzlichen mit dem Nautischen und der für die Geschichte so folgenreichen Entdeckung der Weltmeere begründet sich aber durch einen dem Gedicht unmittelbar gar nicht zu entnehmenden Zusammenhang, der sich an der Zeit- / losen (v. 22 f.) auftut, die Kolumbus wohl nur lose im Aug hatte, weil er auf der Höhe seiner Zeit stand. Denn die Zeitlose ist der verborgene Knotenpunkt407 zwischen Heideggers Lektüre des Kolonie-Fragments von Hölderlin, dem ausfahrenden Kolumbus und Celan selbst. Warum die Zeitlose aber die Mutter- / Blume (v. 23 f.) ist und warum diese zugleich in der Mitte des Gedichts steht, bedarf der Erläuterung. Zur Blume Herbstzeitlose hat Celan seit seinen Anfängen in Czernowitz eine spezielle Affinität.408 Perels ist der Entwicklung nachgegangen, welche die Zeitlose im Werk Celans genommen hat. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Gedicht Les colchiques (dt. Herbstzeitlose) von Guillaume Apollinaire. In diesem Gedicht stehen die Verse: „les colchiques qui sont comme des mères / Filles de leurs filles“.409 Celan hat Apollinaires Gedicht übersetzt und 1958 veröffentlicht.410 Diese Zeilen, die von den Müttern sagen, daß sie die Töchter ihrer Töchter sind, heißen bei ihm: „Die Tochter ist und Mutter, die Herbstzeitlose“ (IV, 793). Die Herbstzeitlose ist sowohl Tochter als auch Mutter, weil sie „den botanischen Kreislauf im Kalenderjahr umkehrt: im Frühjahr Früchte trägt und im Herbst blüht“.411 Die Herbstzeitlose läßt also nicht nur an die Mutter denken, sondern an ihr stellt sich auch die natürliche Zeitenfolge auf den Kopf. Derlei Verkehrungen gestaltet das Gedicht selbst. So zeigen die ersten Verse das zu sich kommen alles Ich (v. 3) an, der Moment der Ausfahrt jedoch, der dem doch vorausgehen müßte, Alles fuhr aus (v. 25), folgt erst später. Da diese Inversion genau das von Heidegger herausgestellte „Gesetz der Geschichte“ betrifft, darf angenommen werden, daß sie weit mehr als eine bloße 407

Der Knoten ist gleichsam das Paradigma des von Celan hier angezeigten Verfahrens. Denn diese zu knüpfen ist nicht nur das unerläßliche Handwerk der Seefahrer, sondern der Knoten ist auch, wie das ahd. knoto sagt, eine Knospe. 408 Vgl. Celan als Übersetzer (Anm. 23), 42–47; vgl. Das kleine Blumenbuch von Rudolf Koch und Fritz Kredel, Leipzig 1933, Insel-Bücherei Nr. 281. Diesen Band schätzte Celan sehr. Neben der Herbstzeitlosen sind in diesem Buch auch folgende im Zusammenhang des Gedichts Todtnauberg und dem Gespräch im Gebirg bedeutsamen Pflanzen in Farbzeichnungen abgebildet: Breitblättriges Knabenkraut, lat. Orchis latifolia; Arnika; Augentrost und Türkenbund. 409 Guillaume Apollinaire: Œuvres poétiques, publ. par Marcel Adéma et Michel Décaudin, Paris 1956, 60; vgl. auch IV, 792. 410 Celan: Vier Gedichte aus dem Französischen, in: Insel-Almanach auf das Jahr 1959, Frankfurt a. M. o. J. [1958] 31–33, hier 33. 411 Perels: Zeitlose (Anm. 346), 55.

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Umkehrung ist, die auf das gleiche hinausliefe. Auffällig nun ist, daß sich Celan und Heidegger an dem Punkt, bei dem das „Gesetz der Geschichte“ auf dem Spiel steht, insofern ‚nahe‘ zu sein scheinen, als sich in diesem Zusammenhang beide ausdrücklich auf die Mutter besinnen. Bei Heidegger wird dies daran offenbar, daß er sein Denken, wie oben dargestellt, auf die „Mutter der Musen“ bezieht (WhD, 7) und daß er mit dem Geist verborgen das „Mutterland“ liebt, während dieser zum „Tochterland“ ausfährt (vgl. A, 93). Es scheint gar so, daß Celan und Heidegger darin übereinkommen, daß nur über die Tochter zur Mutter zurückgekehrt werden könne. „Das Gesetz der Geschichte“ hieße dann: die Tochter-vor-der-Mutter.412 Celan spielt in Die Silbe Schmerz ohne Frage auf Heideggers in die drei Momente Ursprung, Ausfahrt und Heimkehr gegliederte „Gesetz der Geschichte“ an. Darauf deuten die wiederholten Dreierreihen: gemischt, entmischt und gemischt; schwammen, sanken und schwammen; blühte ab, blätterte ab, blühte zuhauf und zutag; Särge, Urnen, Kanopen; Jaspis, Achat, Amethyst; Völker, Stämme, Sippen. Daß er aber damit dieses Gesetz weder übernimmt noch einfach umdreht, das ergibt der Bezugspunkt zum ausfahrenden Kolumbus, der selbst eine spezielle Verbindung zur ‚Mutter‘ hat. Denn Kolumbus hat die Mutter- / Blume deshalb im Aug, weil die Caravelle, mit der er 1492 seine erste Reise ins Ungewisse antrat, den Namen Santa Maria trug.413 Die ‚heilige Mutter Maria‘ trug ihn folglich über das Meer. Santa Maria ist aber zugleich die mater dolorosa, die Schmerzensmutter. An ihr offenbart sich dergestalt nicht nur ein verborgener Zusammenhang zum Schmerz, sondern im Wort dolorosa überdies die Silbe ‚rosa‘.414 Für welchen Schmerz und für welchen Niemand diese kaum zu erkennende Rose jedoch steht, klärt sich erst, wenn man Hegels Darstellung erinnert, wonach Kolumbus im christlichen Auftrag unterwegs war. Denn gerade im Jahr 1492 hat man in Spanien die christliche Mission dahingehend verstanden, daß alle schon im 14. Jahrhundert zur Konversion gezwungen Juden abermals als Scheinchristen verfolgt wurden. Den als Marranos beschimpften Juden warf man vor, hinter der Maske des Christentums am jüdischen Glauben und seinen Gesetzen abseits der öffentlichen Sphäre festzuhalten. Die einsetzenden Verfolgungen bedeuteten, daß zeitgleich mit Kolumbus mehr als hunderttausend Juden ‚ausfahren‘ mußten: – Alles fuhr aus (v. 25). Alles heißt hier: der Eine und zum anderen Tausende 412

Peter Mayer berichtet, daß in der jüdischen Tradition die Blume Herbstzeitlose „Sohn-vor-dem-Vater“ genannt wird, vgl. ders.: Paul Celan als jüdischer Dichter, Diss. Heidelberg 1968, Landau 1969, 62; vgl. auch Perels: Zeitlose (Anm. 346), 55. 413 Zur Zeitlosen heißt es im Deutschen Wörterbuch (Anm. 162), Bd. XXXI, 566, daß diese Blume „auf die jungfrau Maria wie auch auf junge mädchen als die früh blühenden bezogen“ sei. 414 Ebd. wird auch Achim von Arnim mit den Versen zitiert: „die blume heiszt nicht rose, ... / sie heiszt die zeitenlose, / weil ihr die zeit nichts thut“.

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(vgl. v. 11) mußten sich auf denkbar unterschiedliche Wege machen. Während jener aber mit seinen Männern wieder heimfuhr, bedeutete die Ausfahrt für die vertriebenen Juden zunächst die Flucht nach Portugal, später dann die Diaspora in alle Welt: – ohne Rückkehr. An dieser Stelle wird die Differenz zu Heidegger offensichtlich. Celan spricht zwar in der Meridian-Rede davon, daß die „Umwege“, die er mit seinen Gedichten geht, ein „Sichvorausschicken zu sich selbst“ seien und damit eine „Art Heimkehr“ (III, 201), doch sind die auf diesen Umwegen freigelegten Einsichten grundlegend von dem zu unterscheiden, was Heidegger die „Grundwahrheit der Geschichte“ (GA 53, 61) nennt. Denn das „Heimischwerden im Eigenen“ (ebd., 60) kann für Celan nur heißen, illusionslos anzuerkennen, exiliert zu sein und mit seiner Mutter- / Blume „zeltlos“ und „auf das unheimlichste im Freien“ (III, 186) zu stehen. In diesem Sinne ‚frei‘ dürften dann auch die Frei- / Taue sein, von denen in der letzten Strophe die Rede ist (I, 281): […], ein blindes

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Es sei knüpfte sich in die schlangenköpfigen FreiTaue –: ein Knoten (und Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tausendknoten), an dem die fastnachtsäugige Brut der Mardersterne im Abgrund buch-, buch-, buchstabierte, stabierte.

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Dem Verstehen entgegen steht der Schluß des Gedichts. Was als blind gekennzeichnet ist, bleibt auch seiner Herkunft dunkel. Weder ein Schwarzlicht (v. 30), das ja die weißen Flächen – zwischen den Buchstaben – hervorhebt noch ein Navigationsgerät mit den Kurs angebenden Steuerstrichen (vgl. v. 31) stehen als Verstehenshilfe zur Verfügung. Fioretos meint darum, daß der gesperrt gedruckte Befehl E s s e i ‚gesperrt‘ sei und also als solcher seine Unzugänglichkeit anzeige.415 Zorach und Melin versuchen sich dadurch zu helfen, daß sie in den schlangenköpfigen Frei- / Tauen, in die der unvermittelt auftauchende Imperativ sich knüpfte, ein Selbstzitat der Todesfuge wiederzuerkennen glauben.416 Denn diese spricht von dem schreibenden Mann, der im Hause wohnt, „mit den Schlangen“ spielt und davon „träumet der Tod ist ein 415 416

Vgl. Fioretos: Nothing (Anm. 129), 330. Zorach / Melin: Columbian Legacy (Anm. 389), 289.

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Meister aus Deutschland“ (vgl. I, 41 f.). Analog hierzu wäre auch das Bild von der fastnachtsäugigen Brut / der Mardersterne im Abgrund (v. 43 f.) zu verstehen. All das scheint dafür zu sprechen, daß Celan abschließend ein „sarcastically apocalyptic scenario“ entwirft.417 Zu fragen aber bleibt, wie sich dieses abgründige Szenario zur indizierten Buchstäblichkeit der Schrift und zum Lesen derselben verhält. Schließt sich doch hier die Frage an, ob Celan in diesen Versen auch auf die von Heidegger vertretene Annahme eingeht, wonach der Dichter als der durch die „lautlose Stimme“ des Geschicks gegrüßte „zum Zeigen bestimmt“ sei, so daß unter Menschen das einander verstehende Gespräch einsetze (vgl. A, 124). Heidegger jedenfalls sah in Hölderlin diesen einen, der in diesem Sinne „Zeigen“ könne. Wollte man also den soweit vorgeschlagenen textnahen Bezug zu Heideggers „Andenken“-Lektüre auch bezüglich der letzten Verse des Gedichts weitertreiben, dann ist zu prüfen, ob die schlangenköpfigen Frei- / Taue nicht auf jene Überlegungen Heideggers anspielen, die von den „Dichtern“ sagen, daß sie den „Schlangen gleich“ seien. Heidegger greift damit ein Wort von Hölderlin auf, welches dieser am Anfang seines dritten Entwurfs zur Hymne Mnemosyne sagt: „und ein Gesez ist / Daß alles hineingeht, Schlangen gleich“ (StA II, 197). Da Hölderlin seinen ersten Entwurf zu Mnemosyne zuerst mit Die Schlange und dann mit Das Zeichen überschrieb (StA II, 817), werde ersichtlich, so Heidegger, daß die Dichter so „zweideutigen Wesens“ wie die Schlange seien. Denn die Dichter sind „Zeichen, die als zeigende zugleich entbergen und verbergen“ (A, 115). Daß im Kontext des Gedichts Die Silbe Schmerz die Frei-Taue in der Tat auch deshalb schlangenköpfig sind, weil sie nicht nur ‚zweideutig‘, sondern selbst ‚Zeichen‘ sind, das legt ein weiterer hier anzuführender Sachverhalt nahe, der im unmittelbaren Zusammenhang der Entdeckung Südamerikas durch Kolumbus und die anderen Seefahrer steht. Denn die Hochkultur der Inkas hatte eine spezielle Form der ‚Schrift‘ entwickelt, auf die sich Celans Taue beziehen könnten: den Quipu. Der Quipu ist eine Knotenschnur, die den Inkas als Hilfsmittel zur Registrierung etwa von Steuereingängen und auch zur Weitergabe von geschichtlichen Ereignissen diente. Er bestand aus vielen mit Knoten versehenen Schnüren, die an einem Stock oder an einer Querschnur befestigt waren. Die Zahl der Knoten im Zusammenhang mit bestimmten Farben, die die Gegenstände oder Landschaften bezeichneten, ergaben die Mitteilung. Im Verlaufe der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Spaniern ist diese Knotenschrift im 16. Jahrhundert verloren gegangen. An diese vergessene Schrift scheint Celan im wahrsten Sinne mit den Frei- / Tauen anzuknüpfen, die dahingehend als Zeichen verstanden werden können. Doch ein Zeigen im Sinne eines „echten Sagens“, das im „Wesens417

Fioretos: Nothing (Anm. 129), 330.

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grund“ (vgl. A, 124) gegründet sei, ermöglichen diese Zeichen gleichwohl nicht. Der durch Gedankenstrich und Doppelpunkt (vgl. v. 39) abgesetzte Zusatz, der den Knoten näher bestimmt, den der Imperativ E s s e i in den Frei-Tauen bewirkt, verdeutlicht warum: Dieser Knoten ist ein Wider- und Gegen- und Aber- und Zwillings- und Tau- / sendknoten (v. 41 f.). Das Gedicht selbst ist ein solcher Knoten, der einzelne Silben so verknüpft, daß sich abermals tau-send Rückbezüge erschließen ließen. Er ist nicht in ein ‚echtes‘ Sagen aufzulösen, schon gar nicht in eins, bei dem das Gesagte und das Verstandene im Sinne Heideggers „das Selbe“ wären (vgl. A, 124). Celan führt also nicht nur an, warum Heideggers an Hölderlin entwickeltes Gesetz der Rückkehr in die Heimat für seine Dichtung nicht gilt – weil das Exil ohne Rückkehrmöglichkeit der Grund seines Schreibens ist –, sondern er gibt auch zu erkennen, daß diese Dichtung als exilierte von den Möglichkeiten abgeschnitten ist, problemlos sprechen zu können. Was bleibt, ist die Dichtung derart mit Verweisen anzureichern, die in die (Literatur- und Geistes-)Geschichte referieren, daß das Komprimierende dieser Sprache nur dann analysiert werden könnte – die dieser Verdichtung wegen so wider- und gegen- und aber- und zwillingsständig ist –, wenn man sich zu der fastnachtsäugigen Brut / der Mardersterne in den Abgrund gesellen würde, die das Sylleptische dieses Gedichts mühsam syllabieren, ohne daß aus der wiederholten Silbe ein Wort wird: buch-, buch-, buch- / stabierte, stabierte. So bleibt der unabgeschlossene Versuch, einzelne der Fäden, die aus diesem Knoten frei herausgehen, aufzugreifen und ihnen je von neuem nachzugehen, auch wenn man sich dabei unwillkürlich in tausenderlei verstrickt, obwohl nicht einmal die anderen Bezüge berücksichtigt wurden, die sich aus dem Kontext der umgebenden Gedichte des Zyklus’ ergeben. Auf eines dieser Gedichte muß hier aber eingegangen werden, gilt es doch als ‚das Hölderlin-Gedicht‘ Celans. 3. Hölderlintürme Gut zwanzig Monate vor Die Silbe Schmerz schrieb Celan Ende Januar 1961 das Gedicht Tübingen, Jänner (I, 226). Beide Gedichte wurden zusammen in dem kleinen Zyklus, den Celan für die Neue Rundschau konzipierte, zuerst veröffentlicht.418 TÜBINGEN, JÄNNER Zur Blindheit überredete Augen. Ihre – „ein 418

Vgl. oben Anm. 381.

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Rätsel ist Reinentsprungenes“ –, ihre Erinnerung an schwimmende Hölderlintürme, möwenumschwirrt. Besuche ertrunkener Schreiner bei diesen tauchenden Worten: Käme, käme ein Mensch, käme ein Mensch zur Welt, heute, mit dem Lichtbart der Patriarchen: er dürfte, spräch er von dieser Zeit, er dürfte nur lallen und lallen, immer-, immerzuzu. („Pallaksch. Pallaksch.“)

a) Plural und Verdoppelung Insbesondere die Schlußverse gleichen denen des Gedichtes Die Silbe Schmerz wie ‚Zwillinge‘. Auch in Tübingen, Jänner erhält die Einsicht eine Form, wonach das Schreiben keine Verdoppelung von Welt ist, bei der dem Wort eine Sache eins-zu-eins entspricht. Verdoppelt wird statt dessen das Wort selbst, so daß seine Einheit entstellt und es in Silben aufgebrochen wird, die sich von ihm abzulösen scheinen. Was aber hat dies mit der Erinnerung an Hölderlin zu tun? In Tübingen, Jänner ergründet Celan an zwei Hölderlinzitaten,419 die gleich zwei Polen das Gedicht verspannen und umschwirren, die Möglichkeiten des Sprechens unter dem die Dichtung bestimmenden Gesetz, daß das Ursprüngliche und das Gesetzte beziehungsweise das Gemeinte und das Ge-

419

Die Verse 3–5 zitieren den ersten Vers der zweiten Triade in Hölderlins Hymne Der Rhein (StA II, 143). Pallaksch (v. 23) ist der von Christoph Theodor Schwab (1846) überlieferte „Lieblingsausdruck“ des kranken Hölderlins, der nach Schwab sowohl Ablehnung als auch Zustimmung bedeuten konnte, vgl. Der kranke Hölderlin. Urkunden und Dichtungen aus der Zeit seiner Umnachtung, hg. von Erich Trummler, München 1921, 109.

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sagte so auseinanderfallen, daß ein vermeintlicher Rückbezug von diesem auf jenes sich versieht. Dieses gilt auch für die Erinnerung (v. 6), die sich vor dem inneren Auge einstellt. Sie ist ebenfalls durch die Sprache bedingt und ist mithin der folgenreichen Verdoppelung ausgesetzt, wie sich an der „Pluralisierung“420 des an sich nur einmal vorhandenen Turms am Neckarufer in viele Hölderlintürme zeigt (v. 7). Mögen die Augen sich auch deshalb zur Blindheit über- / redet haben (lassen), damit sie sich überhaupt erinnern können,421 so ist doch auch ihre Erinnerung blind, weil sie nicht sehen können, wie es ‚ursprünglich‘ gewesen ist. Die Augen sind über- / redet in dem zweifachen Sinn, daß sie sich überzeugen ließen, aber auch, daß sie von der Sprache determiniert sind und sie gleichsam durch ein Reden überfahren wurden.422 Welche Augen auch immer aus welchem Grunde sich blind erinnern, sie ‚sehen‘ mindestens alles doppelt. Die Hölderlintürme sind überdies von vielen Möwen umschwirrt. An diese Türme gedenkt keine ruhige Kontemplation, sondern diese dürfte durch jene schwirrenden Vögel vielmehr verwirrt sein. Das zweifach genannte Possessivpronomen (Ihre, ihre, v. 3 u. 5) – auch dies eine Doppelung – deutet letztlich auf das, was den Augen als eigenes nie gehörte. Weder der durch einen zweifachen Zeilenbruch verfremdete Text Hölderlins noch das Bild von seinem letzten Lebensort sind, was sie vielleicht einmal waren. Denn sie sind Code und Ikone eines Diskurses, der jeden (neuen) Zugang zu Hölderlin immer schon gelenkt hat.423 Darum müssen Text und Bild als Zitat aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen und als solche vorgeführt werden, damit man vielleicht (wieder) von dieser Dichtung und von diesem Schicksal etwas hören, lesen oder erfahren könnte. Auch die zweite Strophe untersteht ganz dem Plural. Selbst die eindeutig scheinende Referenz auf den Schreinermeister Ernst Friedrich Zimmer, der Hölderlin 1807 zur Pflege in seinen Turm aufnahm, ist pluralisiert. Mit der Einschränkung, daß in den Worten, Besuche ertrunkener Schreiner, nicht die „biographische[n] Daten wiedererkannt“, sondern diese als „neue Gestalt“ er420

Vgl. Axel Gellhaus: Erinnerung an schwimmende Hölderlintürme. Paul Celan Tübingen, Jänner, Marbach a.N. 1993, 6. 421 So deutet Bernhard Böschenstein die ersten Verse, ders.: Paul Celan: „Tübingen, Jänner“, in: ders.: Studien zur Dichtung des Absoluten, Zürich / Freiburg i. B. 1968, 177–180, hier 177 f. 422 Vgl. Zbikowski: diaphan (Anm. 330), 192 f. 423 Vgl. Foucault: Was ist ein Autor? (Anm. 6). An der Rezeptions- und Editionsgeschichte Hölderlins läßt sich beispielhaft studieren, wie ein Autor überhaupt zu einen solchen wird, vgl. u. a. Gunter Martens: Hölderlin-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches. Stationen in der Aneignung eines Dichters, in: HJb 23 (1982/83), 54–78; Henning Bothe: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992 und Heinrich Kaulen: Rationale Exegese und nationale Mythologie. Die Hölderlin-Rezeption zwischen 1870 und 1945, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), 554–577.

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kannt werden müßte, ergänzt Zbikowski, daß Hölderlin in seinem Turm 1823 und 1825 auch von dem Zeichner und Lithographen Johann Georg Schreiner besucht wurde.424 Nun befestigt Zbikowski durch diesen Hinweis die biographische Referenz und der Plural im Gedicht scheint damit begründet. Es bedarf vielleicht noch einer weiteren Ergänzung bezüglich der ertrunkenen Schreiner, um dann tatsächlich über das sogenannte Biographische hinaus die poetologischen Implikationen dieses Plurals ermessen zu können. Es ist im Zusammenhang der Frage, wie das Werden beziehungsweise das Entspringen der Dichtung zu erklären sei, auf das „Handwerksmäßige“ eingegangen worden. Hölderlin hatte auf seine Weise hierzu Stellung bezogen. Der Schreiner nun ist jener ausgezeichnete Handwerker, der Schreine baut. Heidegger hatte beiläufig die Vermutung ausgesprochen: „Vielleicht ist das Denken auch nur dergleichen wie das Bauen an einem Schrein“, um dann festzustellen, daß das Denken „jedenfalls ein Hand-Werk“ sei (WhD, 50 f., s. o. S. 174 f.). Aber auch unmittelbar auf Hölderlin bezogen, spricht Heidegger vom Schrein. So konnte Celan im Vorwort zur zweiten Auflage der Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1951) diese Vorüberlegung lesen: „Was die Gedichte Hölderlins in Wahrheit sind, wissen wir trotz der Namen ‚Elegie‘ und ‚Hymne‘ bis zur Stunde nicht. Die Gedichte erscheinen wie ein tempelloser Schrein, worin das Gedichtete aufbewahrt ist.“425 Celan notierte sich 1954 in seinem Arbeitsheft, das er während der Lektüre von Was heißt Denken? anlegte: „– i – Gedichte: ‚tem p e l l o s e r S c h r e i n‘“.426 Zieht man also in Betracht, daß bei den Besuchen ertrunkener Schreiner nicht nur an Hölderlins Besucher, sondern auch an die tempellosen Schreine zu denken ist, welche das Heiligste, gewissermaßen das Rein-entsprungene, bewahren, dann stellt sich auch ein unmittelbarer Bezug zu dem Menschen mit / dem Lichtbart der / Patriarchen her, der als diese geistige und weltliche Autorität berechtigt scheint, von dieser Zeit – heute – sprechen zu können. Und es würde sich in dieser Konjunktion noch einmal das von Celan gegenüber Bender Ausgesprochene als bedeutsam erweisen, wonach zwischen dem seltenen Gedicht, das als tempelloser Schrein ertrunken ist, und der Feststellung, daß es „wenig Menschen“ gibt (vgl. Kap. Vom Handwerk zur Gabe der Hände, S. 176 f.), ein Zusammenhang besteht. Der Schrein aber, der keinem Tempel mehr zugehört, ist exiliert. Eben dieses ist auch das Gedicht, das auf diese Tatsache 424

Vgl. Zbikowski: diaphan (Anm. 330), 198; siehe auch die Zeichnungen in: SWB III, 855 u. 857 und in: Adolf Beck / Paul Raabe (Hg.): Hölderlin. Eine Chronik in Text und Bild, Frankfurt a. M. 1970, 319 u. 415; sowie: Bernhard Zeller: Ein unbekanntes Hölderlinbildnis, in: HJb 8 (1954), 128–132. 425 EHD, 7 u. 194, Hervorh. von mir. 426 Arbeitsheft (Anm. 333), dort S. 6. Daß diese Quelle hier zitiert werden kann, ist der freundlichen Genehmigung von Eric Celan und dem Suhrkamp Verlag in Frankfurt a. M. zu danken.

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nicht zuletzt dadurch aufmerksam macht, daß es selbst die zunächst naheliegende Referenz auf Hölderlins Schreiner Zimmer durch den Plural potenziert. Was aber versprechen sich diese Schreiner beziehungsweise die tempellosen Schreine von den wiederholten Besuchen bei jenen Worten, die dorthin tauchen, wo sie selbst ertrunken sind? Diese tauchenden Worte sprechen in der nachfolgenden zweiten Hälfte des Gedichts im Modus des Irrealis von einer Möglichkeit, die selbst nicht in Worte gefaßt werden kann. Sie simulieren, daß das erst noch Kommende schon möglich sei, nämlich zu sprechen. Sie sprechen folglich vom Bedingungsgrund des Sprechens, der ihnen selbst nicht zur Verfügung steht. Es sind also auch darum tauchende Worte, weil sie keinen festen Grund haben. Ebenso wie jener durch den Lichtbart ausgewiesene Mensch, der heute von dieser Zeit nur sprechen könnte, wenn er lallen würde, ebenso können diese Worte selbst allenfalls als Palilalie von diesem kommenden Menschen sprechen, der nicht ankommt, weil selbst dann, wenn er schon gekommen wäre, er nicht vernommen würde. Denn welchen Bedingungen sein Ankommen unterliegt, das sagt die dritte Strophe, indem sie Zeile für Zeile mit jeder Ergänzung eine weitere Einschränkung anzeigt. Je mehr diese Verse sich stotternd wiederholen, desto deutlicher wird die Unmöglichkeit dessen, was sie sagen und was sie selbst sind. Schließlich wird nichts mehr gesagt, sondern nur noch ‚gedoppelt‘. Diese Sprechbewegung zum Sprechen eines möglicherweise Kommenden kulminiert in den eingeklammerten Silben („Pallaksch. Pallaksch.“). Selbst noch der von Hölderlin gemeinte Sinn dieser Worte, nämlich ‚Ja‘ oder ‚Nein‘, müßte zugunsten einer bloßen Lautmalerei aufgegeben werden, damit man in diesen Silben nicht allein die wirre Onomatomanie Hölderlins wiederzuerkennen meint, sondern statt dessen ins Wasser eintauchende Sprünge hören könnte, die damit eine Gegenbewegung zum Rein-entsprungenen wären. In dieser Weise versucht das selbst lallende Gedicht doch noch die Palimnese des nicht zu Erinnernden. Wollte man Hölderlin also erneut aufsuchen, dann müßte man springen und vielleicht gerade zu jenen Ertrunkenen tauchen, die Hölderlin zu Lebzeiten besuchten. Wie oft aber wäre dieser Sprung zu springen, um auch in dieser Zeit zum im tempellosen Schrein verwahrten Gedichteten zu gelangen: immer-, immer- / zuzu.

b) Das Datum des Gedichts Die zahlreichen von der Forschung bereits angemerkten intertextuellen Bezüge von Tübingen, Jänner zu den verschiedenen Textstellen im Werk Hölderlins, aber auch zu Georg Büchner, müssen hier nicht diskutiert werden.427 427

Die möglichen Allusionen auf Büchner weist nach: Zbikowski: diaphan (Anm. 330), 203 f. Siehe außerdem: Martin Anderle: Sprachbildungen Hölderlins in modernen Gedichten

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Etappen der Lektüre

Hervorzuheben ist vielmehr die sowohl hier als auch in Die Silbe Schmerz und in anderen Gedichten Celans zu beobachtende Praxis der ‚Verdoppelung‘ der Silben und die Pluralisierung der Referenzen, die im Falle von Tübingen, Jänner gerade auch den Blick auf Hölderlin verstellen. Dieses Verfahren ist näher zu hinterfragen, weil es nicht gut mit der Forderung zusammenzugehen scheint, daß dem Gedicht jener singuläre Mensch mitgegeben sei, dessen Hand es geschrieben hat und daß, wie Celan am 22. Oktober 1960 in Darmstadt sagt, „jedem Gedicht sein ‚20. Jänner‘ eingeschrieben bleibt“ (III, 196, vgl. auch 194 u. 201). Es müßte also gezeigt werden, warum überhaupt nur in solcher, die Sprache an den Rand treibenden Bewegung, bei der diese ihre semantische und referentielle Funktion einzubüßen droht, es geschehen könnte, daß des eingeschriebenen Datums gedacht werden kann, und warum gerade im Lallen und im Knüpfen nicht aufzulösender Knoten das Gespräch und die „Begegnung“ (III, 198) gesucht wird; – freilich mit dem Vorbehalt, daß das Gedicht wohl ein ‚Gespräch‘ (mit Hölderlin u. a.) führt, aber ein solches mit seinen Lesern allererst vorbereitet. Denn: „Das Gedicht ist einsam“. Aber: „Es ist einsam und unterwegs“ (ebd.). Wie also tritt Celan in die Auseinandersetzung mit Hölderlin? Und wohin führt das Gedicht seine Leser? Ein Wink gibt die Titelzeile, die wie ein Datum aus einer Orts- und Zeitangabe zusammengesetzt ist. Nun steht der Jänner für das Datum, unter dem Celans Dichtung schlechthin steht. Janz hat darauf aufmerksam gemacht, daß Celans Zitat aus Georg Büchners Lenz, „der ‚den 20. Jänner durchs Gebirg ging‘“ (III, 194), deshalb so bedeutsam ist, weil am 20. Januar 1942 am Wannsee bei Berlin Vertreter der höchsten Reichs- und Parteibehörden zusammenkamen, um den Mord an den Juden Europas zu organisieren.428 Mit dem Wort Jänner ist also die nur wenige Monate zuvor ge-

(Celans ‚Tübingen, Jänner‘ und Bobrowskis ‚Hölderlin in Tübingen‘), in: Seminar 8/2 (Juni 1972), 100–107; Jochen Börner: Zweierlei Blindheit – Hölderlin. Celan und die entstellte Sprache. Zu Celans Gedicht „Tübingen, Jänner“, in: Die Drei 56, Nr. 3 (1986), 180–187; Manfred Geier: „Zur Blindheit überredete Augen“. Paul Celan / Friedrich Hölderlin: Ein lyrischer Intertext, in: ders.: Die Schrift und die Tradition. Studien zur Intertextualität, München 1985, 17–33; Joel David Golb: Celan and Hölderlin. An essay in the problem of tradition, Diss., Princeton 1986, 104 ff.; Hans Mayer: Sprechen und Verstummen der Dichter, in: ders.: Das Geschehen und das Schweigen, Frankfurt a. M. 1969, 11 ff.; Mayer: jüdischer Dichter (Anm. 412), 161–167; Rolf Selbmann: „Zur Blindheit über-redete Augen“. Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘ mit Celans ‚Tübingen, Jänner‘ als poetologisches Gedicht gelesen, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), 219–228. 428 Vgl. Janz: Engagement (Anm. 298), 105 f. Eberhard Jäckel erinnert daran, daß der Mord am europäischen Judentum in Berlin nicht – wie es immer wieder heißt – beschlossen wurde. Die Tötungen hatten bereits im Juni 1941 in der Sowjetunion begonnen. Ab Oktober 1941 wurden Juden aus Deutschland deportiert. Nach Jäckel lud Reinhard Heydrich insbesondere darum zur Konferenz nach Berlin ein, um seine Machtstellung zu sichern

Differenzierung und Entgegensetzung

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haltene Meridian-Rede zitiert. Der damit aufgerufenen Bezug zur Shoah ist darum auch bestimmend für diese Zeit (v. 17 f.). Doch ein Datum kann man nicht zitieren, wenn man die Absicht hätte, das gerade singuläre Datum des Gedichts angeben zu wollen. Inwiefern steht also das in Tübingen, Jänner angezeigte Verhältnis zu Hölderlin unter einem singulären Datum? Oder muß davon ausgegangen werden, daß Celan den Jänner hier als Chiffre für das Datum seiner Dichtung überhaupt anführt, um zu unterstreichen, was seine Hölderlin-Lektüre generell bestimmt? Es ist also noch einmal zu fragen: Was ist ein Datum? und wie ist es dem Gedicht „eingeschrieben“ (vgl. III, 196)? Fraglos ist, daß die Auseinandersetzung mit Hölderlin unter der Chiffre Jänner steht, von der her diese Zeit (v. 17 f.) zu verstehen wäre. Doch am Wort Jänner selbst läßt sich ‚ablesen‘, was Celan mit Hölderlin verbindet und warum der Zugang, den Celan zu Hölderlin wählt, nicht blind für das ist, was gerade dessen Spracharbeit auszeichnete. Heidegger hat gerne daran erinnert, daß Hölderlin der Dichter des deutschen Gesanges sei, der den vesten Buchstab pflegt und deutet.429 Celan nun liegt insbesondere daran, daß das Achten und Deuten des Buchstabens nicht zu einem bloßen Bekenntnis verkommt. Wollte er also an Hölderlin anknüpfen, dann hieße das, von der Sorgfalt gegenüber dem Buchstaben auch heute nicht abzulassen. In welcher Form diese Sorgfalt in die Verse des Gedichts Tübingen, Jänner eingegangen ist, das verdeutlicht die ungewöhnliche Häufung der für die deutsche Sprache eigentümlichen drei Umlaute (ä, ö, ü),430 die sich jeweils als zweiter Buchstabe auf die für das Gedicht zentralen Worte Tübingen, Jänner und Hölderlin verteilen. Der Umlaut tritt zwar nicht notwendigerweise, aber doch besonders häufig dann auf, wenn der zweite Konjunktiv und wenn von Substantiven der Plural gebildet wird, wenn beispielsweise aus dem Turm Türme werden (vgl. v. 7). Der Umlaut mit seinem diakritischen Zeichen, das wie zwei Augen über den Buchstaben hinaussieht, hat also eine Affinität zu jenen beiden Modi, die auch das Gedicht prägen und die zusammen auf erst noch zu erschließende Möglichkeiten hinweisen. Denn nicht nur der Konjunktiv, sondern auch die Pluralisierung zunächst eindeutig scheinender Referenzen, auf die das Gedicht anspielt, ist als eine Ermöglichung zu verstehen. Dieses im HölderlinGedicht Tübingen, Jänner praktizierte Verfahren – das sich gleichsam expressis verbis auf die Chiffre Jänner bezieht und damit auf die in der Meridianund um sich – wie es im Protokoll heißt – als „Beauftragter für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“ zu etablieren. Vgl. Jäckel: Die Konferenz am Wannsee. „Wo Heydrich seine Ermächtigung bekanntgab“ – Der Holocaust war längst im Gange, in: Die Zeit, 17. Januar 1992, 33 f. 429 Vgl. BüH, 364, s. o. S. 135. 430 Fioretos hat hierauf ebenfalls aufmerksam gemacht, zieht aber andere Schlüsse aus dem Sachverhalt, daß in den 24 Zeilen des Gedichts immerhin dreizehn Worte einen Umlaut haben, vgl. ders.: Nothing (Anm. 129), 312.

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Etappen der Lektüre

Rede dargelegte Poetologie des Datums – gibt zu erkennen, daß das Gedicht samt der empirischen Daten, zu denen es sich verhält, dann ein Datum wird, wenn sich die Lektüre auf die verschiedenen Ebenen der Buchstaben und Wörter des Gedichts einläßt. Denn das Gedicht ist allein dann ein Datum und im vollen Wortsinn eine Gabe, wenn es wahrhaftig als in den Text „eingeschrieben“ wahrgenommen wird. Für die Lektüre bedeutet das, nah am Text eine analysierende Einbildungskraft zu entwickeln, um die im Gedicht aufgerufenen „Interferenz[en]“ wahrzunehmen, die durch „Begriffsüberschneidung[en]“ und „Überlappung[en] der Bezüge“ entstehen.431 Im speziellen Fall ergab sich, wie oben ausgeführt, eine solche Interferenz hinsichtlich der ertrunkenen Schreiner. Andere Überlappungen, die etwa zu Büchner oder Mandel’štam hinführen, sind für Tübingen, Jänner angedeutet worden.432 Das, was sich einer Lektüre auf diese Weise ergibt, gehört wesentlich zum Datum des Gedichts, das darum ‚singulär‘ ist, weil die Deutung des Gedichts einen in die Geschichte eingebundenen Leser verlangt, der nur von seinem heute her den Text besuchen kann. Es ist darum nochmals zu betonen, daß die eingeschriebenen Daten, derer das Gedicht gedenkt (vgl. III, 196), nicht Daten in Sinne der empirischen Wissenschaften sind, die Tatsachen notieren. Die Gedichte sind vielmehr „Schicksal mitführende Geschenke“ (III, 178), die sich paradoxerweise nur dann zu erkennen geben, wenn sie nicht als eindeutig bestimmter Gegenstand ‚wiedererkannt‘, sondern wenn sie als Gedichte im Coniunctivus potentialis erkannt werden, welche auf dem „Weg der Kunst“ (vgl. III, 193) dadurch Geschichte schreiben, daß sie an die namenlosen Abgründe heranführen. Was dort gelesen werden muß, kann das Gedicht aber nicht sagen. Hier obliegt es dann den Aufmerksamen, die Fakten der Geschichte zu überdenken, um die sie allerdings wissen sollten.433 Das Ankommen im Sinne des Gelesen- und Gehörtwerdens des Gedichts beim Lesenden ist darum ebenso bedeutsam wie das Ankommen jenes Menschen, der von dieser Zeit nur lallend sprechen könnte. Beide Momente gehören zusammen. Die Sorge um die Möglichkeit des Ankommens des Wortes, von der das Gedicht ‚spricht‘, ist eine, die Celan mit Hölderlins späten Gesängen teilt. Nicht zuletzt durch Heideggers Deutungen, welche die Möglichkeit des Ankommens der entflohenen Götter vorzubereiten versuchen, dürfte Celan hierauf aufmerksam geworden sein. Doch es ist nicht Heideggers Ansatz, der Celans Sorge bestimmt, wonach Hölderlins Dichtung als das Andenken an das Gewesene zu verstehen sei, so daß dieses aus der Zukunft 431

Vgl. Celans Aussagen, die Huppert aufgezeichnet hat, ders.: Ein Gespräch (Anm. 14), 321. 432 Vgl. insb. Zbikowski: diaphan (Anm. 330). 433 Vgl. Briegleb: Celans Landkarte (Anm. 89), 127, zitiert oben Anm. 111.

Hoffen auf ein Gespräch

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in der Gegenwart ankommen könne. Celans Frage ist demgegenüber, wie auf dem Wege der Kunst überhaupt etwas mitgegeben werden könne. Die Meridian-Rede und die oben angeführten Reflexionen zur Bedeutung der Lesenden zeugen hiervon.434 Gerade an diesem Punkt, der die in Tübingen, Jänner aufgeworfene und von Heidegger ausgelassene Frage einschließt, was denn eine Dichtung, die Kunst sein muß, überhaupt sagen könne, hat Celan auf Hölderlin zurückblicken können (s. o. S. 117 f. u. 131). Denn nur, wenn die Gaben der Dichterhände ankommen würden, ließe sich vielleicht einmal das erhoffte Gespräch führen, dessentwegen der Weg der Kunst beschritten wird. An einem Gedicht, das schon im Vorfeld von Celans Besuch bei Heidegger in Todtnauberg steht, wird dieser Zusammenhang zwischen den Gaben der Hände und den Bedingungen des Gesprächs in Anlehnung an Hölderlin herausgehoben.

C. HOFFEN

AUF EIN

GESPRÄCH (1967)

1. Schenkend-verschenkte Hände Celan suchte die Auseinandersetzung mit Heidegger und hoffte seinerseits, daß in einem Gespräch das „Ungedachte“ (vgl. WhD, 72) in Heideggers Denken zu Wort kommen könnte. Am 16. Juni 1967 – wahrscheinlich in den Tagen, als er Baumann die Zusage gab, Ende Juli 1967 in Freiburg eine Lesung zu halten und sich am darauffolgenden Tag mit Heidegger zu treffen435 – hat er ein Gedicht geschrieben, das abermals darauf eingeht, was die Gabe des Gedichts ist und was das Gespräch bestimmt, das einerseits noch aussteht und das anderseits trotz aller Einschränkungen schon mit Texten geführt wird (II, 237): MIT MIKROLITHEN gespickte schenkend-verschenkte Hände. Das Gespräch, das sich spinnt von Spitze zu Spitze, angesengt von sprühender Brandluft.

5

Ein Zeichen kämmt es zusammen 434

Vgl. Celan Brief an eine 10. Klasse des Alten Gymnasiums zu Bremen (s. o. S. 34 f.) und seine Briefe von 1960 und 1961 an Bender, s. o. S. 177 und Anm. 369. 435 Vgl. Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 59.

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Etappen der Lektüre

zur Antwort auf eine grübelnde Felskunst.

Eingefädelt in eine paläolithische Szenerie, auf die insbesondere die Felskunst (v. 11) hindeutet, sind vier Grundworte, an denen Celan seit Jahren nun schon seine poetologischen Reflexionen knüpft: Hände, Gespräch, Zeichen und Kunst. Ebenso wesentlich für seine auf den Status seiner Gedichte bezogenen Überlegungen sind die Mikrolithen. Denn diese verweisen nicht nur wie die Felskunst auf die Steinzeit, weil sie kleine Feuersteingeräte, Spitzen und Schneiden an Waffen und Werkzeugen sind, sondern Mikrolithen sind auch sehr kleine mikroskopisch nicht identifizierbare Mineralindividuen in Gesteinen. Große Mikrolithen mit sogenannten Polarisationserscheinungen nennt man Kristallite. Das sind immer noch sehr kleine einzelne Kristallkörner.436 Wie der Zyklus Atemkristall zum Ausdruck bringt, hat Celan seine Gedichte als „Kristalle“ verstanden, an denen sich die erfahrene Zeit zur Sprache verdichtet und an denen sich dergestalt Einsichten bündeln. Auch seine Lesung wenige Wochen später in Freiburg, die auch Heidegger hörte, spricht abschließend von einem „Atemkristall“, der „dein unumstößliches / Zeugnis“ ist (II, 31; s. o. Anm. 13). Bevor näher auf Celans Gedicht eingegangen wird, seien zwei Texte Hölderlins erwähnt, zu denen hier möglicherweise von Spitze zu Spitze Fäden gesponnen sind. Da ist zum einen das Fragment Vom Abgrund nemlich, das sich auf der Seite 75 des Homburger Foliohefts befindet und zu dem größeren Entwurf Das Nächste Beste gehört. Nun sind diese und die nachfolgende Seite „die mit Abstand am schwersten zu deutenden Handschriften, die Hölderlin hinterlassen hat“ (SWB III, 244). Entsprechend unsicher sind die Entzifferungen durch die verschiedenen Herausgeber dieses Textes, sofern überhaupt noch von einem ‚Text‘ gesprochen werden kann.437 Zitiert sei von diesem in mehreren Anläufen hingeschriebenen Entwurf der Anfang und der Schluß, so wie ihn Friedrich Beißner herstellte. Auf diese Edition wird zurückgegriffen, weil Celan dieses Fragment in der Kleinen Stuttgarter Ausgabe zur Kenntnis nahm. Dort strich er sich die Schlußverse an, welche er sich bereit 1957 auf einem losen Blatt abschrieb (vgl. N, 359). Diese Verse sollten ursprünglich als Motto dem dann wieder zurückgezogenen Gedicht Wolfsbohne vorstehen (vgl. N, 45). Die Stuttgarter Ausgabe liest (StA II, 250 f.): Vom Abgrund nemlich haben Wir angefangen und gegangen Dem Leuen gleich, in Zweifel und Ärgerniß, 436

Vgl. Brockhaus. Enzyklopädie, Wiesbaden 1971, Bd.12, 535. Davon geht gleichwohl Dietrich Uffhausen aus, vgl. dessen Edition: „Bevestigter Gesang“. Die neu zu entdeckende hymnische Spätdichtung bis 1806, Stuttgart 1989, 249ff. 437

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Hoffen auf ein Gespräch

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Denn sinnlicher sind Menschen In dem Brand Der Wüste Lichttrunken und der Thiergeist ruhet Mit ihnen. […]

5

und mich leset o Ihr Blüthen von Deutschland, o mein Herz wird Untrügbarer Krystall an dem Das Licht sich prüfet wenn Deutschland

35

Martin Anderle beschreibt Hölderlins Fragment als eine Entwicklungsbewegung von den Uranfängen der Menschheit zur Bildung des Geistigen, die „durch verschiedene Landschaften mit dem Ziel einer Erfüllung in der Dichtkunst“ geht.438 Beim Sinnlichen (vgl. v. 4), das ist beim Brand, bei wilden Tieren (Leuen) sowie bei Zweifel und Ärgerniß (v. 3), beginnt der Dichter seinen Weg, bis sein Herz schließlich ein Untrügbarer Krystall (v. 36) wird,439 an dem nicht nur alles Sichtbare sich prüfet, sondern das Licht selbst (v. 37). Dieser Krystall fordert die Blüthen von Deutschland (v. 35) auf – worunter Anderle „die intellektuell Dynamischen unten den Zeitgenossen“440 versteht –, daß sie ihn lesen. Diese Entwicklung zum Krystall, die im besten Fall die „Neue Bildung aus der Stadt“ (v. 27) sein würde, erfolgt aber nicht notwendigerweise. Binder betont, daß es wohl das Ziel sei, daß das Herz des Dichters ein Kristall werde, doch hebt er hervor, daß diese Hymne eine Abkehr vom idealistischen, von Rousseau und Schiller geprägten Geschichtsbild sei, wonach der Anfang der menschlichen Entwicklung rein und integer gewesen sei, dann aber durch die Kultur in „den status corruptionis“ gezogen wurde.441 Wenn vom Abgrund alles seinen Anfang genommen hat, dann kann nicht mehr vorausgesetzt werden, daß der geschichtlichen Entwicklung von Beginn an ein Telos eingeschrieben ist. Celans Gedicht Mit Mikrolithen scheint im Titelwort den Anfang der menschlichen Entwicklung mit dem Untrügbaren Krystall, der am Ende eines

438

Martin Anderle: Die Landschaft in den Gedichten Hölderlins. Die Funktion des Konkreten im idealistischen Weltbild, Bonn 1986, 87. 439 Zur Erinnerung: Die Anfang 1958 geschriebene Engführung spricht von der untrüglichen Spur, I, 197. 440 Anderle: Die Landschaft (Anm. 438), 89. 441 Vgl. Wolfgang Binder: Äther und Abgrund in Hölderlins Dichtung, in: Christoph Jamme und Otto Pöggeler (Hg.): Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde, Stuttgart 1983, 349–369, hier 360. – Zur weiteren Diskussion in der Hölderlin-Forschung um dieses Textstück sei auf den Beitrag von Annette Hornbacher verwiesen: Wie ein Hund. Zum „mythischen Vortrag“ in Hölderlins Entwurf ‚Das nächste Beste‘, in: HJb 31 (1998–1999), 222–246.

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Etappen der Lektüre

langen Bildungsganges stehen könnte, in eins zu setzen. Damit könnte angedeutet sein, daß der Abgrund eine immerwährende Möglichkeit ist, die durch keine Bildung überwunden wird. Doch was ist in diesem Kristall, in diesem Mineralindividuum zu lesen? Sollen diesen Kristall heute wieder die Blüthen von Deutschland lesen oder ist es gerade andersherum, daß in ihm die abgründigen Blüten von Deutschland lesbar werden? Womit also sind die Hände gespickt, von denen es heißt, daß sie schenken und zugleich verschenkt sind? Ein weiterer Text Hölderlins sei hier in die Konstellation gestellt. Das ist der Schluß der Ode Blödigkeit, die Hölderlin wie das Fragment Vom Abgrund nemlich nach der Rückkehr aus Frankreich schrieb. Blödigkeit ging aus der Überarbeitung der Ode Dichtermuth hervor und bedenkt das Dichteramt, das zur „Wende der Zeit“ von Nöten sei (StA II, 66): Gut auch sind und geschikt einem zu etwas wir, Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen Einen bringen. Doch selber Bringen schikliche Hände wir.

Hölderlins zu dem Zyklus Nachtgesänge gehörende Ode, die als erster Benjamin kommentiert hat, kann an dieser Stelle ebenfalls nicht eingehend erörtert werden.442 Auf diese vier Verse ist aber dennoch zu verweisen, weil Celan an sie so anschließt, daß die Mehrdeutigkeit des Wortes schiklich, die Hölderlin hier zur Geltung bringt, eine andere Wendung nimmt. Hölderlins Dichterhände sind zweierlei. Sie sind geschickt in dem Sinne, daß sie fingerfertig und behend sind, zum anderen sind sie aber geschickt, weil sie einen Auftrag haben. Dieser ist, einen (v. 23) von den Himmlischen einem (v. 21) zu bringen. Das heißt, daß sie einem Sterblichen eine himmlische Gabe bringen sollen und wollen. Damit dieses gelinge, bringen die Hände sich selbst. Dafür sind sie gut. Doch wie gelingt die Übergabe? Hölderlin sagt: Wenn wir kommen, mit Kunst (v. 22); dann, so wäre zu ergänzen, könnte die Gabe gebracht werden. Was das in diesem Zusammenhang meint, läßt sich an den Zeilen selbst ablesen. Ein für einen Moment ausgesetzter Chiasmus organisiert diese vier Verse: geschickt / [...] / bringen / Bringen schickliche. In die sich durch die Unterbrechung öffnende Zwischenzeile (v. 22) treten die Dichter, die mit der Kunst kommen. Die so eintretende Unregelmäßigkeit, welche den rhetorischen Kunstgriff beeinträchtigt, wird noch dadurch verstärkt, daß sich von den die Strophe dominierenden i-Vokalen die zwei

442

Vgl. Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. „Dichtermut“ – „Blödigkeit“, GS II.1, 105–126. Spätestens durch Benjamin ist Celan auf Blödigkeit aufmerksam geworden. Dessen Aufsatz studierte er im September 1959. – Zu Hölderlins Ode Blödigkeit vgl. auch Vf.: Hölderlins Auf-Gabe und die Ode ‚Blödigkeit‘, in: Stephan Jaeger / Stefan Willer (Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen, Würzburg 2000, 55–73.

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Hoffen auf ein Gespräch

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k-Konsonanten, kommen [...] Kunst, scharf abheben. In dem Moment, da die Dichter mit der Kunst kommen, wird die Kunst selbst, ihre rhetorische Figur (der Chiasmus) und der Gleichklang der Vokale, ausgesetzt. Durch das Verfahren der „Cäsur“443 können die Dichterhände bringen, wozu sie geschikt sind. Ihre Gabe ereignet sich dann, wenn die Kunst unterbrochen wird. Während Hölderlins schikliche Hände geschikt sind, sind die schenkend-verschenkten Hände in Celans Gedicht gespickt. Diese Lautverschiebung vom Zisch- zum Verschlußlaut macht auf die mittlere Strophe des Gedichts aufmerksam, in der die Grapheme sp überwiegen: „Das Gespräch, das sich spinnt / von Spitze zu Spitze, / angesengt von / sprühender Brandluft.“ Damit wird ein Zusammenhang zwischen den Händen und dem Gespräch angedeutet. Er könnte darin bestehen, daß die gespickten Hände als die ge-speak-ten auch die ‚sprechenden‘ (to speak) Hände sind, die mit Paronomasien bestückt sind. Sind doch die Mikrolithen selbst mehrdeutig. Was aber auch immer diese Hände zu geben und mithin zu sagen haben, als verschenkte haben sie vergeblich ihre Gabe geschenkt und scheinen bei keinem Empfänger angekommen zu sein. Gleichwohl wird ein Gespräch von Spitze zu Spitze geführt. Das legt den oben angedeuteten Gedanken nahe, daß es wohl das einsame Gespräch mit jenen gibt, die wie Hölderlins Hymne Patmos sagt, „Nah wohnen, ermattend auf / Getrenntesten Bergen“ (StA II, 165). Das sind die Fäden, die zu den anderen Dichtungen gesponnen werden. Gesucht aber wird die Begegnung mit den Lesern, die das, was diese Hände schenken, auch annehmen. Doch eben dieses scheint nicht stattzufinden. Der Grund dafür, warum es zu keiner Übergabe kommt, könnte sein, daß diese mit spitzen Mikrolithen gespickten Hände in luftigen Höhen beziehungsweise in abgründigen Tiefen ein Gespräch führen, das von sprühender Brandluft angesengt wird. Wer aber möchte sich dieser aussetzen, um an diesem Gespräch teilzunehmen? Denn dieses sengende Feuer ergänzt nicht das Bild einer prähistorischen Zeit, als die Vorgänger des Homo sapiens, noch nicht mit Vernunft begabt, ihre Mikrolithen wetzten, um Feuer zu erzeugen, sondern diese Brandluft ist nicht alt. Das Gespräch wird jetzt (Präsens) geführt. Aber in ihm wird nicht die das Gespräch gefährdende sprühende Brandluft erörtert, sondern Gegenstand des Gespräches ist eine / grübelnde Felskunst, die eine Antwort verlangt. Das Gespräch nimmt also den Umweg über eine Kunst, die vermutlich selbst unzugänglich wie ein Fels ist und darum wiederum zum Grübeln Anlaß gibt. Der „Grübler“ aber hat, wie Benjamin sagt, eine Affinität zum „Allegoriker“, der in dem was er sieht, anderes zu lesen vermag. Schon darum wird der Umweg über diese Kunst auf das zurückführen, was jetzt das Denken bewegt. Benjamin sagt genau: „Der Grübler, dessen Blick, aufgeschreckt, auf das Bruchstück in seiner Hand fällt, wird 443

Vgl. Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus, StA V, 196.

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Etappen der Lektüre

zum Allegoriker“ (GS I.2, 676, s. o. Anm. 71). Ein solches Bruchstück in der Hand könnten auch die Mikrolithen sein, die als ein solcher Untrügbarer Krystall das Licht, das dieser nicht erloschene Brand erzeugt, prüft. Sind diese Mikrolithen also auch jenes Zeichen, das in der Lage ist, das gesponnene Gespräch, das gleichsam auf dem Kamm eines Gebirges geführt wird, so zusammenzukämmen, daß aus den ungeordneten Fäden, die von Punkt zu Punkt gezogen sind, eine Antwort wird? Die Überlegungen zu diesem Gedicht können mutmaßlich selbst nicht mehr als eine unsystematische Grübelei sein, die das Eigentümliche der Mikrolithen nicht zu erkennen vermögen. Deutlich herauszuheben ist aber: Diese Hände sind mit etwas gespickt, was sie vermutlich verletzt und wovon sie sprechen müßten. Keiner aber ist in Sicht, der ihre Gabe annimmt. Zum andern ist vom Gespräch gesagt, daß es erst dann Form erhält und über ein bloßes ‚Spinnen‘ hinausgeht, wenn es in einem Zeichen manifest wird, das dergestalt eine Antwort ist, die auf den anderen eingeht. Ein Zeichen dieser Art müßte es geben, damit das Gespräch auch auf breiter Ebene geführt werden könnte und nicht nur verborgen von Spitze zu Spitze. Vielleicht hat sich Celan ein solches Gespräch, das ein Zeichen setzt, erhofft, als er Heidegger dann wenig später in Todtnauberg besuchte und diesem ins Gästebuch schrieb: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen. Am 25. Juli 1967 / Paul Celan.“444 2. Todtnauberg Abschließend sei wie oben angekündigt auf das Gedicht zum Besuch Celans bei Heidegger eingegangen. Dieses Treffen, aber mehr noch das Gedicht selbst, das Celan in der nachfolgenden Woche in Frankfurt a.M. schrieb, hat überhaupt auf die alles andere denn selbstverständliche Tatsache aufmerksam gemacht, daß die beiden ein gegenseitiges Interesse verband, auch wenn das mitnichten heißt, daß sie darunter je ‚das Selbe‘ verstanden.445 Doch was kann über die möglichen Motivationen und Intentionen, die Celan und Heidegger beim Zusammenkommen gehabt haben mögen, noch geschrieben werden, was nicht schon an anderer Stelle gesagt worden wäre? Wie könnte 444

Zit. n. Pöggeler: Spur des Worts (Anm. 5), 259; vgl. Stefan Krass: „Mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort“. Paul Celan hilft Martin Heidegger, in: Die Neue Gesellschaft (1997), H. 10, 914. 445 Daß auch Heidegger Celan zu treffen wünschte, sagt er in seinem Brief vom 23. Juni 1967 an Baumann: „Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen. Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von der schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch vermag.“ Zit. n.: Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 59f.

Hoffen auf ein Gespräch

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es vermieden werden, hierüber nur weitere Mutmaßungen anzustellen, die als mögliche Erklärung vielleicht gerade das vergessen lassen, was an diesem Orte auf dem Spiel stand? Was bleibt hier zu bedenken? Die im Zuge dieser Studie bereits entwickelten Thesen sollen nochmals dadurch überprüfbar gemacht werden, daß eine Lektüre des Gedichts Todtnauberg vorgeschlagen wird, die berücksichtigt, daß es vor dem Hintergrund der Erfahrungen gelesen werden sollte, die Celan mit seiner Hölderlin-Lektüre gemacht hat und die er 1969 in dem Wort zusammenfaßt, daß er „zackere an / der Königszäsur / wie Jener / am Pindar“.446 Der Umweg über Hölderlin bietet sich nicht nur deshalb an, weil dessen Dichtung für Celan und Heidegger einen gemeinsamen Bezugspunkt darstellt, sondern weil insbesondere durch die Hinzunahme des Gedichts Tübingen, Jänner, das auffallend viele Parallelen zum Gedicht Todtnauberg aufweist, nochmals die je anderen Implikationen bei Heidegger und Celan bedacht werden können, wenn vom Wesen der Dichtung die Rede ist und wenn gefordert wird, daß der Buchstab zu pflegen und zu deuten sei. In diesem Zusammenhang soll folgender These nachgedacht werden: Das Gedicht Todtnauberg bewahrt zwar, wie Heidegger schreibt, „das Andenken an einen vielfältig gestimmten Tag im Schwarzwald“,447 darüber hinaus aber ‚spricht‘ sich in einer versteckten Buchstäblichkeit das ambivalente Verhältnis zu Heidegger so ‚aus‘, daß die zu bedenkende Differenz zwischen den beiden an der Wurzel dieser Sprache selbst hör- und lesbar wird. So wie in Tübingen, Jänner die häufigen Umlaute Anlaß gaben, über die Bedeutung des Datums im Gedicht nachzudenken, so ist vergleichsweise in Todtnauberg eine bestimmte Buchstäblichkeit hervorgehoben,

446

Vgl. das andere bekannt gewordene Hölderlin-Gedicht Ich trink Wein, III, 108. Die Anspielungen in diesem Gedicht auf Hölderlins Pindarübertragungen und Scholems Arbeiten über die Sefiroth der jüdischen Mystik (vgl. ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Frankfurt a. M. 1977, 44 ff. u. 88) und Die 36 verborgenen Gerechten in der jüdischen Tradition (in: ders.: Judaica I, Frankfurt a. M. 1981, 216–225) sind hinreichend dargestellt worden und müssen hier nicht wiederholt werden. Vgl. Böschenstein: Hölderlin und Celan (Anm. 24); Manger: Königszäsur (Anm. 183); Otto Pöggeler: Einleitung, in: ders. / Christoph Jamme (Hg.): Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin, Stuttgart 1981, 19 f. sowie ders.: Hölderlin und Celan. Homburg in ihrer Lyrik, in: Bad Homburger Hölderlin-Vorträge 1988/89, 65–77 und Richard Reschika: Ein letztes Mal Hölderlin („Ich trink Wein“), in: ders.: Poesie und Apokalypse. Paul Celans „Jerusalem-Gedichte“ aus dem Nachlaßband „Zeitgehöft“, Pfaffenweiler 1991, 167–175. – Im folgenden soll auch an dem Gedicht Todtnauberg nachgewiesen werden, wie sich dieses Zackern an der Königszäsur als Umpflügen der Sprache bemerkbar macht. 447 Heidegger: Brief an Celan vom 30. Januar 1968, der Brief antwortet auf die Übersendung des Gedichts Todtnauberg, in: Stephan Krass: „Wir haben Vieles einander zugeschwiegen“. Ein unveröffentlichter Brief von Martin Heidegger an Paul Celan, in: Neue Zürcher Zeitung, 3./4. Januar 1998, 61.

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Etappen der Lektüre

welche Grund gibt, den Charakter der Nähe und der nicht einzuebnenden Zwieheit zwischen Celan und Heidegger näher zu befragen (II, 255 f.): TODTNAUBERG Arnika, Augentrost, der Trunk aus dem Brunnen mit dem Sternwürfel drauf, in der Hütte, die in das Buch – wessen Namen nahms auf vor dem meinen? –, die in dies Buch geschriebene Zeile von einer Hoffnung, heute, auf eines Denkenden kommendes Wort im Herzen,

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Waldwasen, uneingeebnet, Orchis und Orchis, einzeln, Krudes, später, im Fahren, deutlich, der uns fährt, der Mensch, der’s mit anhört,

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die halbbeschrittenen Knüppelpfade im Hochmoor, Feuchtes, viel.

Auffällige Querverbindungen zwischen den beiden Gedichten Tübingen, Jänner und Todtnauberg lassen sich ganz unmittelbar vom Anfang bis zum Schluß verfolgen. Schon der Titel, der jeweils den Ort nennt, der sich mit dem Namen Hölderlin beziehungsweise Heidegger verbindet, ist bemerkenswert, weil Celan ab dem Band Atemwende seinen Gedichten nur noch selten eine Titelzeile voranstellt. Die ersten Verse sprechen jeweils von den Augen, die dort zur Blindheit über- / redet sind, hier Trost und Linderung durch

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Hoffen auf ein Gespräch

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die Augenheilpflanze Arnika bedürfen (v. 1). Wo in Tübingen, Jänner das Rein- / entsprungene genannt ist, geht der Blick in Todtnauberg auf den Brunnen (v. 2), aus dem Wasser für den Trunk ‚entspringt‘. Die dann genannte Hütte (v. 5) korrespondiert mit den Hölderlintürmen, die überdies beide gleichsam die leeren ‚Tempel‘ einer heute mitunter hagiographischen Lesergemeinde sind.448 Der Sternwürfel hebt als unausdeutbares Symbol diesen Charakter eines heiligen Ortes noch hervor. Er korrespondiert vielleicht sogar mit dem Lichtbart der / Patriarchen in Tübingen, Jänner, nennt man doch den Kometen auch einen „Bartstern“.449 Die nur leicht abgewandelte Wiederholung in der dritten Strophe von Todtnauberg – die in das Buch (v. 6); die in dies Buch (v. 9) – hat in Tübingen, Jänner ihr Pendant in dem zweifachen Ansatz Ihre – […], ihre / Erinnerung an. Selbst das Buch und der dann genannte Denkende (v. 12), von dem ein kommendes Wort erhofft wird, sind in Tübingen, Jänner durch die Schreiner und die tauchenden Worte vorweggenommen, ist doch, wie oben ausgeführt, nach Heidegger die Überlegung nicht abwegig, daß das Denken „dergleichen wie das Bauen an einem Schrein“ ist (WhD, 50). Mit Nachdruck zu betonen ist die in beiden Gedichten – je heute (v. 11) – angezeigte Hoffnung auf ein Kommendes. Was kommen soll, ist das Wort von dieser Zeit, das im Hölderlin-Gedicht freilich als ein unmögliches Wort dargestellt ist. Der Mensch, wenn er denn käme und von dieser Zeit spräche, hätte in Todtnauberg der Denkende (v. 12) sein sollen. Doch da von diesem offenbar nur Krudes (v. 18) kommt, ist man auf jenen Menschen (v. 20) verwiesen, der allerdings nicht kommt, sondern fährt (v. 20) und der auch nicht spricht, sondern der’s mit anhört (v. 21). Nun ist das Gespräch dann ein solches, wenn sich Sprechen und Hören die Waage halten. Hier scheint durch das Auseinanderfallen von Sprechen (Tübingen, Jänner) und Hören (Todtnauberg) auf je eines der beiden Gedichte angedeutet zu sein, daß es auch in Todtnauberg kein Gespräch gegeben hat. Das unterstreichen auch die nur halb- / beschrittenen Knüppel- / pfade (v. 22–24) und die für sich stehende Zeile, Orchis und Orchis, einzeln (v. 17), die das Unvermittelbare andeutet zwischen dem, der im Herzen hofft, und dem Denkenden, der vermutlich auf ein später Kommendes verwiesen hat.450 Die Zeile, Orchis und Orchis, einzeln, hat im übrigen im Vers, lallen und lallen, in Tübingen, Jänner ihr Gegenstück. Schließlich scheint der Schluß in Todtnauberg zu bestätigen, daß die Worte 448

Zum Zusammenhang zwischen Tempel und Hütte s. o. Anm. 295. Vgl. Zbikowski: diaphan (Anm. 330), 201. 450 So Heidegger in seinem Brief an Celan (Anm. 447): „Ich denke, dass einiges noch eines Tages im Gespräch aus dem Ungesprochenen gelöst wird.“ Heidegger antwortet mit diesem Brief auf Celans Gedicht, das in der ihm übersandten Fassung noch deutlicher die Hoffnung „auf eines Denkenden / kommendes (un- / gesäumt kommendes) / Wort / im Herzen“, zum Ausdruck brachte, vgl. Celan: Lichtzwang, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9,2, hg. von Rolf Bücher et al., Frankfurt a.M. 1997, 108f. 449

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Etappen der Lektüre

„Pallaksch. Pallaksch.“ onomatopoetisch das Eintauchen der Worte ins Wasser ‚sagen‘. Feuchtes, / viel (v. 25 f.) spricht darum nicht nur vom Regen, der den gemeinsamen Gang durch das Horbacher Moor zum Abbrechen zwang,451 sondern Feuchtes erinnert vielfältig sowohl an den Brunnen und die ungetrösteten (feuchten) Augen,452 als auch an die Bedeutung des Wassers in Tübingen, Jänner. Das unbestimmte Zahlwort viel hebt nochmals das Verfahren der Pluralisierung hervor, das beide Gedichte bestimmt. Der Vergleich mit dem Hölderlin-Gedicht macht evident, daß Todtnauberg nur insofern den Ablauf des Treffens mit Heidegger protokolliert, als das Heidegger-Gedicht eine auf Tübingen, Jänner bezogene Form ist, die die Daten der Begegnung so fügt, daß diese mit der für Celans Dichtung spezifischen Präzision vieldeutig werden. Insofern ist das unbestimmte viel sehr wohl bestimmt. So verweisen die Waldwasen (v. 16) und die Knüppel-pfade (v. 23 f.) nicht nur wie Arnika, Augentrost und Orchis auf die Eigenheiten der Hochmoorlandschaft,453 sondern ebenso auf Heideggers Wort von der Lichtung und auf sein Holzwege genanntes Buch. Diese Überlappungen der Bezüge nehmen schlagartig eine weitere Wendung, wenn bedacht wird, daß die Waldwasen als die Plätze, an denen der Abdecker seine Tierkadaver vergräbt, auch die uneingeebneten Massengräber evozieren, in denen jene Unzähligen verschüttet sind, die den Knüppelpfad nicht nur halb beschritten, sondern tatsächlich ‚zu Ende‘ gehen mußten. Dieser mitzulesenden Vieldeutigkeit im Abgesang des Gedichts (v. 16–26) entspricht die Ambivalenz, die den Aufgesang (v. 1–15) bestimmt. Denn die Hoffnung auf ein kommendes Wort jenes Denkenden, der ja das Andenken so versteht, daß es auf das Kommende vorbereitet, ist von der skeptischen Frage begleitet, wer zuvor schon seinen Namen (v. 7) in das Hüttenbuch eintrug. Die Frage, wessen Namen nahms auf, zielt auf die Vorgeschichte Heideggers, seine Stellung als Rektor 1933 in Freiburg und seine eingegangenen Verbindungen zur Elite des Nationalsozialismus. Daß Heidegger sich hierzu nur sporadisch geäußert hat, daß er seine Verantwortung gleichsam im Denken der Lichtung verbirgt, das ist die nur indirekt genannte Vorbedingung dieses Aufeinandertreffens. Explizit genannt ist hingegen die Hoffnung, heute, im Herzen, mit der Celan (vgl. mein [Name], v. 8) zu dieser Hütte gegangen ist. Diese Ambivalenz von gesagter Hoffnung und nur angedeuteter Skepsis kann – sofern man das so weit Festgehaltene berücksichtigt – auch an der Art und Weise abgelesen werden, wie die Frage, wessen Namen nahms auf (v. 7), gestellt wird. Denn diese Art und Weise weist auf einen verborgenen Aspekt 451

Vgl. Baumann: Erinnerungen (Anm. 5), 70. Vgl. das ‚feuchte Aug‘ in der Engführung (I, 199), s. o. S. 45 ff. 453 Selbst Arnika, Augentrost und Orchis können als Zitat eines Buches gelesen werden, vgl. Das kleine Blumenbuch (Anm. 408). 452

Hoffen auf ein Gespräch

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des Gedichtes hin. Zunächst wird der Name durch die Homophonie mit dem nachfolgenden Wort nahms hervorgehoben. Dieses Wort wiederum fällt auf, weil es durch eine Synkope Verb und Objekt des Fragesatzes zusammenfaßt. Beides, die Betonung des Namens und die einen Vokal fallen lassende Synkope – bereits im dritten Vers im Adverb drauf und dann im Vers 21 (der’s) wird derart ein Vokal ausgespart –, kann zusammen als eine eigens hervorgehobene Spur in der Schrift gelesen werden, die einen weiteren Zusammenhang zum Gedicht Tübingen, Jänner anzeigt. Denn auch im Gedicht Todtnauberg ist der erste Vokal jenes Namens von Bedeutung, von dem (und zu dem) das Gedicht spricht. Bezüglich Heidegger ist dies ein Doppelvokal beziehungsweise Diphthong. Das könnte der Grund dafür sein, daß das Gedicht tatsächlich ungewöhnlich viele Diphthonge hat. So sind die ersten acht Zeilen einschließlich des Titels durch den Diphthong au und die Vokale u / ü geprägt. Die Silbe au ist in einem ganz basalen Sinne der Laut für den Schmerz. Bollack sieht durch das au im Namen Todtn-au-berg sogar „das Vernichtungslager Auschwitz in die Gegenwart des Gedichts“ einbezogen.454 Hier sollen die möglicherweise anzustellenden Spekulationen über den Sinn der Häufung der Diphthonge auf die Überlegung beschränkt werden, daß – weil der Diphthong auch Doppel- und Zwielaut heißt – gerade in ihm das Verhältnis Celans zu Heidegger noch einmal bedacht werden könnte. Denn der Diphthong wird als ein Laut ausgesprochen, bleibt aber unausgesprochen ein ungleiches Buchstabenpaar. Ausgesprochen hat das Gedicht die Hoffnung, unausgesprochen mitzulesen ist in ihm aber auch das Vergrabene, das uneingeebnet (v. 16) bleibt. Könnte es also sein, daß Celan mit der Häufung der Zwielaute einen Weg gefunden hat, seine Nähe und Differenz zu Heidegger in eine Darstellung zu bringen, und zwar in eine, welche das Zwiespältige seiner Auseinandersetzung mit Heidegger ausschreibt, ohne zugleich Heideggers unhinterfragte Prämisse zu bestätigen, daß der Dichtung ein Sagen möglich sei, das alle gleichermaßen angehe und zu einem Wir zusammenführe? Wenn Celan am 30. Januar 1968 in einem Brief schreibt, daß es ihm schwer fällt, „von diesem Gedicht [Todtnauberg] zu sprechen“,455 dann ist dies vielleicht auch darum der Fall, weil dieses Gedicht mehr zu lesen gibt, als ihm zu sagen möglich ist. Denn auch sieben Jahre nach dem Gedicht Tübingen, Jänner deutet sich keine Möglichkeit zu sprechen an. Genau an diesem Punkt liegt der Dissens zu Heidegger mit den geschichtsphilosophischen Implikationen und poetologischen Konsequenzen. Denn Celan befragt die Möglich-

454

Bollack: Vor dem Gericht der Toten (Anm. 3), 127. Bianca Rosenthal zitiert diese Worte aus einem Brief Celans vom 30. Januar 1968, ohne jedoch anzugeben, an wen dieser Brief adressiert ist und ob dieser Brief anderswo veröffentlicht ist, vgl. dies.: Pathways to Paul Celan. A History of Critical Responses as a Chorus of Discordant Voices, New York/Frankfurt a. M. 1995, 169. 455

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Etappen der Lektüre

keitsbedingungen der Dichtung nicht, um das Wesen der Dichtung zu sagen, sondern um das nicht-zu-sagende Andenken an die Toten je und je von neuem unter den jeweils gegebenen Umständen in eine gleichsam gezackerte Schrift zu bringen, die sich selbst zerlegt, die stottert und zum Stottern bringt, um überhaupt noch ‚sprechen‘ und ‚sein‘ zu können. Dieses grundlegende Mißtrauen gegen die Darstellungsmöglichkeiten der Dichtung und der sich in ihr immer wieder anders anzeigende Schmerz dürfte Heidegger kaum wahrgenommen haben. Vielleicht darum, weil er glaubte, Hölderlins Überlegungen gegenüber Böhlendorff zur Korrelation zwischen dem Darstellungsvermögen (Eigenes) und dem Pathos (Fremdes) (s. o. S. 90 f.) würden nach wie vor zureichend das Problem der Dichtung heute bestimmen. Vermutlich hat Heidegger nur gesehen, daß es auch Celan auf das ankomme, was erst noch im Kommen sei. Entsprechend sind die Wünsche, die Heidegger mit seinem Antwortbrief übersandte: „Und meine Wünsche? / Dass Sie zur gegebenen Stunde die Sprache hören, in der sich Ihnen das zu Dichtende zusagt.“456 Doch diese Gemeinsamkeit ist ein Trug. Denn das Kommende würde sich bezüglich der Gedichte Celans erst dann zeigen, wenn die dem Gedicht eingeschrieben Daten (III, 196) ‚auseinander-gelesen‘ würden, wenn also auch das, was die Dichtung ungesagt läßt, gelesen würde. Dabei hat sich die Lektüre nicht nur um das zu bemühen, was zuvor in das Gedicht ‚hineingelegt‘ wurde, denn das wird sie unvermeidlich verfehlen, sondern sie hat vordringlich sich und ihre Zeit an diesem Untrügbaren Krystall selbst zu prüfen (vgl. StA II, 251). Läßt sich das Lesen aber in dieser Weise in das Gedicht verbringen, dann könnte es vielleicht geschehen, daß es die untrügliche Spur (I, 197) der dergestalt auseinandergeschriebenen Geschichte zu lesen beginnt.

456

Vgl. Heideggers Brief an Celan (Anm. 447).

V. RÜCKBLICK – ZWEI BRIEFENTWÜRFE

Daß sich Celan mit Hölderlins Dichtung und Heideggers Denken auseinandergesetzt hat, ist lange schon bekannt. In dieser Studie wurden zusätzlich zu den prominenten Texten bislang unberücksichtigte Gedichte Celans in die Debatte einbezogen, so daß es möglich wurde, die zwiefältige Spannung, die Celan zu Hölderlins und Heideggers Texten hat, nicht durch vorschnelle Urteile aufzulösen. Es galt, den vielschichtigen Weg einer jahrelangen Bezugnahme mitzugehen, so daß Celans Textnähe zu Hölderlin und Heidegger an den Gedichten selbst evident werden konnte, ohne daß darum die methodischen Fragen ausgeklammert wurden, die ein solches hermeneutisches Vorhaben mit Recht skeptisch begleiten. Gleichwohl dürfte deutlich geworden sein, daß nur dann, wenn man sich auf die Bezüge einläßt, welche die Gedichte bei allen Vorbehalten doch von sich aus knüpfen, sich allererst der schon oft behauptete Satz rechtfertigt, daß Celan und Heidegger ein Abgrund trennt. Zu bedenken aber bleibt, daß in solch einem Urteil – zumal dann, wenn es an Stelle einer eingehenden Lektüre gefällt wird – nolens volens gerade jene Metapher blind angeführt wird, die eben auch Heidegger, nicht aber Celan, verwendet. Der ‚Abgrund‘ zwischen Celan und Heidegger aber ist, daß beide je etwas anderes mit dem zugleich geschichtsphilosophisch und poetologisch überdeterminierten Wort Abgrund evozieren. Aus diesem Grunde versteht sich nicht von selbst, was denn der Abgrund zwischen dem jüdischen Dichter und dem deutschen Denker eigentlich ist. Es wurde darum unumgänglich, auf die metahermeneutische Perspektive einzugehen, die Celans Gedichte einfordern, indem sie die Grenze des Sagenkönnens auf je spezifische Weise und je von neuem zu bedenken geben. Denn erst dann, wenn man in Erwägung zieht, daß Celan die Nähe zu Heidegger suchte, weil ihm dessen Denken die Gelegenheit bot, seine eigene Poetologie im Angesicht abgründiger Geschichte zu entfalten, kann man beginnen, die Differenz denken zu lernen, die zwischen der Metapher Abgrund in dem geschichtsphilosophischen Argumentationsgang Heideggers (vgl. WD, 271 [250]) und jenem besteht, was selbst diese Metapher nicht mehr sagen kann. Weil diese Differenz jedoch die Denkmöglichkeiten übersteigt, ist das Eingeständnis angebracht, daß eine literaturwissenschaftliche Studie in dieser Hinsicht per se – ganz gleich wie sie argumentiert – der Sprache und dem Denken Heideggers näher steht als der Dichtung Celans. Denn das Abgründige dieser Dichtung ist weder in einer historischen noch in einer poetologischen Kategorie zu fassen. Celans

224

Rückblick – Zwei Briefentwürfe

Gedichte sind eben darum imperativ. Und sie binden eben darum ihre Leser an sich, um sie eben darum zugleich aus der Immanenz des Textes in die Wirklichkeitssuche (vgl. III, 186) herauszustoßen. Daß man dergestalt wiederum auf andere Texte trifft, verwundert nicht. Denn Celans Dichtung hofft – nicht zuletzt, um die Wirklichkeitssuche zu ermöglichen – Gespräch zu werden. Ein Rückblick auf die Entwicklung, die Celan während seiner Beschäftigung mit Heideggers Denken nahm, soll hier abschließend noch einmal dadurch versucht werden, daß zwei unveröffentlichte Briefentwürfe vorgestellt werden, die Celan einmal im Herbst 1954 und das andere Mal wohl in seinen letzten Lebensmonaten schrieb. Ob diese Entwürfe jemals realisiert wurden, läßt sich nicht ermitteln. Deutlich wird aus diesen im Vorläufigen gebliebenen Briefen, in welcher Weise Celan auf Heidegger zugegangen ist und wie er nach vielen Jahren des Studiums eine Position gefunden hat, die klar zu benennen weiß, auf welcher Ebene eine Kritik an Heidegger zu führen ist, die nicht pauschal, aber gleichwohl grundlegend ist. Diese Quellen sollen hier nicht darum angeführt werden, um die oben entwickelten Lektüren im Nachhinein zu verifizieren. Aber sie können noch einmal nachhaltig unterstreichen, welchen Rang für Celan die Auseinandersetzung mit Heidegger hatte. Der erste Entwurf wurde in den Tagen geschrieben, als Celan im Herbst 1954 unter anderem in La Ciotat Heideggers Schriften Was heißt Denken?, die Einführung in die Metaphysik und vermutlich auch die Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung las. In dem schon angeführten Arbeitsheft machte er sich hierzu Notizen. In diesem Heft stehen nach den Eintragungen zu Was heißt Denken? folgende Zeilen:457 An Martin Heidegger dieser schüchterne Gruß aus einer wunschdurchklungenen, wunschbeseelten Nachbarschaft vom Meer her diesers Gruß Zeichen der Verehrung aus einer kleinen fernen wunschdurchklungnen Nachbarschaft Herrn Martin Heidegger dem Denk-Herrn auf dem Weg über die Engelsbucht 457

Vgl. Anm. 333. Hier sei nochmals besonders Eric Celan und auch dem Suhrkamp Verlag in Frankfurt a. M. für die freundliche Genehmigung gedankt, diesen und den folgenden Briefentwurf abdrucken zu dürfen.

Rückblick – Zwei Briefentwürfe

225

Dreimal setzt Celan an, einen Gruß an Heidegger zu formulieren. Daß er ihn grüßen will, ist als der Wunsch zu verstehen, eine Antwort auf das Gelesene geben zu wollen. Hat sich Celan von Heideggers Überlegungen gerade zum Verhältnis zwischen Dichten und Denken so angesprochen gefühlt, daß er erwägt, dieses dem Denker persönlich anzuzeigen? Wenn dem so ist, dann vielleicht auch mit der Absicht, diesem mitzuteilen, daß es einen gibt, der auch heute mit der Dichtung geht und dabei ihre Bedingungen hinterfragt. Celan versucht jedenfalls die empfundene „Nachbarschaft“ zu beschreiben, aus der heraus er seinen „schüchterne[n] Gruß“ schicken möchte. Doch dieser Gruß findet keine Form. Zunächst wird aus dem Gruß ein „Zeichen der Verehrung“, schließlich wird nur noch der „Denk-Herr“ adressiert und der „Weg“ angedeutet, den dieses Zeichen nehmen müßte, wenn es abgeschickt würde. Dabei bleibt es. Es fällt offensichtlich schwer, die „Nachbarschaft“ zu dem Denker näher zu bestimmen und es ist darum auch folgerichtig, daß Celan in dem oben zitierten ersten Brief an Hans Bender, der etwa zur gleichen Zeit geschrieben wurde, davon spricht, daß das freiwerdende Wort der Dichtung keine „Nachbarschaft“ duldet.458 Um so wertvoller wäre es, wenn es dennoch eine Nachbarschaft zu dem Denker geben könnte, der sich der Dichtung angenommen hat. So ist denn auch im zweiten Schreibtansatz von einer „kleinen fernen / wunschdurchklungnen / Nachbarschaft“ die Rede. Klein ist wohlgemerkt nicht der Grüßende, sondern die (ferne) Nähe. Das Wünschen geht dahin, daß diese Nachbarschaft überhaupt eine solche werde, so daß sie tatsächlich beseelt und durchklungen sei. Deshalb vielleicht muß der Gruß „auf dem Weg über die Engelsbucht“ gehen, damit sich durch einen Engel der Wunsch erfüllen könnte. Es sind diese Zeilen darum im wahrsten Sinne der Entwurf einer möglichen Nachbarschaft. Dieser entworfene Gruß „vom Meer her“ – das kann auch als eine Allusion auf Hölderlins Hymne Andenken gelesen werden (s. o. Kap. Andenken und die Kluft zwischen Dichten und Denken, insb. S. 161 f.) – ist wahrscheinlich nicht abgeschickt worden. Er läßt aber erkennen, mit welchen Hoffnungen Celans Lektüre von Heideggers Schriften begleitet ist. Die hier angezeigte Zuneigung zu einem Denken, das 458

Vgl. oben S. 171. Heidegger selbst hat ja die Nachbarschaft von Dichten und Denken wiederholt betont, vgl. etwa WhD, 4 f. 1957, also drei Jahre nach Celans Briefentwurf, schreibt Heidegger: „Nachbar ist, was das Wort selber uns sagt, wer in der Nähe wohnt zu einem und mit einem anderen. Dieser andere wird dadurch selbst zum Nachbarn des einen. Die Nachbarschaft ist somit eine Beziehung, die sich daraus ergibt, daß einer in die Nähe des anderen zieht. Die Nachbarschaft ist das Ereignis, d. h. die Folge und Wirkung dessen, daß einer gegenüber dem anderen sich ansiedelt. Die Rede von der Nachbarschaft des Dichtens und Denkens meint demnach, daß beide einander gegenüber wohnen, eines gegenüber dem anderen sich angesiedelt hat, eines in die Nähe des anderen gezogen ist“. Heidegger: Das Wesen der Sprache (1957/58), in: Unterwegs zur Sprache (Anm. 297), 157–216, hier 186 f.

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Rückblick – Zwei Briefentwürfe

das „Mögen“ fordert, damit man das Denken „vermöge“ (s. o. S. 154), dürfte Celan jedenfalls in die Lage versetzt haben, Heideggers Wirken einer Kritik zu unterziehen, die wohl aus einer Ferne kommt, darum aber nicht von außen dieses Denken aburteilt. Gut fünfzehn Jahre später zog Celan am 6. November 1969 innerhalb Paris um in die Avenue Émile Zola. Dort hat man nach seinem Tod auf einem einzelnen undatierten Blatt abermals einen an Heidegger gerichteten Briefentwurf gefunden. Da Celan nur sehr wenige Dinge mit in seine neue und letzte Wohnung genommen hat,459 ist anzunehmen, daß er diese Zeilen Ende 1969 oder Anfang 1970 schrieb:460 Heidegger durch Ihre Haltung ... daß Sie das Dichterische und, so wage ich zu vermuten, das Denkerische, in beider ernstem Verantwortungswillen, entscheidend schwächen Celan konstatiert die Einbuße jener Möglichkeit, die gerade dem Denken und dem Dichten gegeben sind. Denn beiden steht es offen, einen ernsten Verantwortungswillen zu entwickeln. Je weiter ein Denken oder eine Dichtung sich vorwagt, je mehr Willen sie zeigt, die ganze Wirklichkeit repräsentieren und gestalten zu wollen, desto größer wird die Verantwortung, die ihr zukommt. Für Celan dürfte die Verantwortung des Dichterischen insbesondere darin bestehen, den Imperativ zur Sprache zu bringen, von dem die hinbefohlenen und geflohenen Hände zeugen. Diese Hände reichen das weiter, was sie empfangen und was doch nicht zu sehen ist; auch dann, wenn keiner ihre Gabe annimmt. Heidegger hat ebenfalls den Willen, den verborgenen Grund des Ganzen zu denken. Aber indem er gerade jenes nicht in das Ganze einbezieht, wofür Celans Dichtung die Verantwortung übernimmt, schwächt er die Möglichkeiten des Denkerischen überhaupt. Nach 1945 noch die ‚ganze‘ Wirklichkeit denken zu wollen, kann nicht heißen, die Shoah und den Nationalsozia-

459

Vgl. Franz Wurms Erinnerung: „Die Regale avenue Zola waren leer: drei, vier Bücher, kaum mehr: ein Band Hölderlin, ein Band Rilke, ein französisches Hand- oder Lehrbuch der Mineralogie, das zu lesen er [Celan] mir [Wurm] dringend empfahl, sein Exemplar von ‚Schwarzmaut‘, das er mir zuletzt mit einer wort- und fast hilflosen Gebärde zum Abschied in die Arme gedrückt hat.“, in: Celan / Wurm: Briefwechsel (Anm. 20), 248. 460 Vgl. Literaturarchiv Marbach a.N., Celan: Briefentwurf an Martin Heidegger, ohne Datum, Zugangsnummer D 90.1.289.

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lismus unisono unter das „Wesen der Technik“ zu subsumieren.461 Daß Heidegger glaubte, dieses Geschehen derart nivellieren zu können, ist als sein eigentlicher Fehl zu bezeichnen. Dem Seinsgedanken erwies er damit keinen Dienst. Haltung hätte er gezeigt, wenn er sich tatsächlich durch ein erstmals möglich gewesenes Zwiegespräch – mit Celan – hätte umkippen lassen (vgl. WhD 72, s. o. S. 112): Nicht um sich schuldig zu bekennen, sondern um anzuerkennen, daß das, was ‚ist‘, anderes als das Sein ist.

461

Vgl. oben Anm. 8 u. 294, sowie S. 133.

VI. SIGLEN UND ABKÜRZUNGEN

ohne Sigle Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a. M. 1986. A Martin Heidegger: „Andenken“ (1943), in. ders: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944), Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a.M. 61996, 79–151. BüH Martin Heidegger: Brief über den „Humanismus“ (1946), in: Wegmarken (1967) Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 31996, 313–364. EHD Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944), Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 61996. EM Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik (1935), Tübingen 1953. FHA Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe‘, hg. von D. E. Sattler et al., Frankfurt a. M. 1975 ff. GA 39 Martin Heidegger: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (1934/35), Gesamtausgabe, Bd. 39, Frankfurt a. M. 21989. GA 53 Martin Heidegger: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (Sommer 1942), Gesamtausgabe, Bd. 53, Frankfurt a. M. 1984. GS Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974 ff. HJb Hölderlin-Jahrbuch Hyp Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland, nach der Zählung der Originalausgabe, Bd.I, Tübingen 1797 u. Bd.II, Tübingen 1799. HWD Martin Heidegger: Hölderlin und das Wesen der Dichtung (1936), in: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944), Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 61996, 33–48. KW Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes (1936), in: ders.: Holzwege (1950), Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 71994, 1–74. N Paul Celan: Die Gedichte aus dem Nachlass, hg. von Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1997 StA Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Große Stuttgarter Ausgabe, hg. Friedrich Beißner, Stuttgart 1943–1985. SuZ Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), Tübingen 171993. SWB Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, drei Bände, hg. von Michael Knaupp, München / Wien 1992. TCA Paul Celan: Tübinger Ausgabe, Vorstufen, Textgenese, Endfassung, hg. von Jürgen Wertheimer, Frankfurt a. M. Bislang sind, bearbeitet von Heiko Schmidt et al., erschienen: Sprachgitter (1996), Die Niemandsrose (1996), Der Meridian (1999) und Atemwende (2000). V. Verszeile WhD Martin Heidegger: Was heißt Denken? (1954), Tübingen 41984. WD Martin Heidegger: Wozu Dichter?, in: ders.: Holzwege (1950), Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 71994, 269–320.

VII. LITERATURVERZEICHNIS

A. PRIMÄRLITERATUR Augustinus: In Iohannis Evangelium Tractatus, PL 1764, m 635, in: CORPVS CHRISTIANORVM, Bd. 36, TVRNHOLTI 1954. Apollinaire, Guillaume: Œuvres poétiques, publ. par Marcel Adéma et Michel Décaudin, Paris 1956. Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke / Briefe, in acht Bänden, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien 1975. Bender, Hans (Hg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, Heidelberg 1955, 2. veränderte Aufl. München 1961. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften(GS), hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974ff. Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1990. Die Bibel, das ist die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der teutschen Uebersetzung Martin Luthers, Tübingen 1787. Celan, Paul: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a. M. 1986. –: Das Frühwerk, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1989. –: Sprachgitter, Vorstufen, Textgenese, Endfassung, Tübinger Ausgabe (TCA), hg. von Jürgen Wertheimer, Frankfurt a. M. 1996. –: Die Niemandsrose, Vorstufen, Textgenese, Endfassung, Tübinger Ausgabe (TCA), hg. von Jürgen Wertheimer, Frankfurt a. M. 1996. –: Der Meridian, Vorstufen, Textgenese, Endfassung, Tübinger Ausgabe (TCA), hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmüll, Frankfurt a. M. 1999. –: Atemwende, Vorstufen, Textgenese, Endfassung, Tübinger Ausgabe (TCA), hg. von Jürgen Wertheimer, Frankfurt a. M. 2000. –: Atemwende, Text und Apparat, historisch-kritische Ausgabe, Bd. 7, hg. von Rolf Büchner, Frankfurt a. M. 1990. –: Fadensonnen, Text und Apparat, historisch-kritische Ausgabe, Bd. 8, hg. von Rolf Bücher, Frankfurt a. M. 1991. –: Schneepart, Text und Apparat, historisch-kritische Ausgabe, Bd. 10, hg. von Rolf Bücher, unter Mitarbeit von Axel Gellhaus und Andreas Lohr-Jasperneite, Frankfurt a. M. 1994. –: Lichtzwang, Text und Apparat, historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9, hg. von Rolf Bücher, unter Mitarbeit von Axel Gellhaus und Andreas Lohr-Jasperneite, Frankfurt a. M. 1997. –: Die Niemandsrose, Text und Apparat, historisch-kritische Ausgabe, Bd. 6, hg. von Rolf Bücher, unter Mitarbeit von Axel Gellhaus und Andreas Lohr-Jasperneite, Frankfurt a. M. 1998.

Primärliteratur

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–: Die Gedichte aus dem Nachlass (N), hg. von Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach und Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1997. –: Briefwechsel mit den Bermann Fischers, in: Gottfried und Brigitte Bermann Fischer: Briefwechsel mit Autoren, hg. von Reiner Stach et al., Frankfurt a. M. 1990. – / Sachs, Nelly: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 1993. – / Wurm, Franz: Briefwechsel, hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm, Frankfurt a. M. 1995. –: Briefe an Hans Bender vom 18. 11. 1954 und 18. 5. 1960, in: Briefe an Hans Bender, hg. von Volker Neuhaus, unter redaktioneller Mitarbeit von Ute Heimbüchel, München 1984, 34 f. und 48f. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, hg. von Anna Freud et al., London/Frankfurt a. M. 1940, 51967. Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Hamburger Ausgabe, kommentiert von Erich Trunz, München 161996. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik (1818–1828), hg. von Friedrich Bassenge, 2. Bde., Berlin/Weimar 1955. –: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970. Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, München/Wien 1981. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927) (SuZ), Tübingen 171993. –: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (1933) / Das Rektorat 1933/34 (1945), Frankfurt a. M. 1983. –: Einführung in die Metaphysik (1935) (EM), Tübingen 1953. –: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (1934/35) (GA 39), Gesamtausgabe, Bd. 39, Frankfurt a. M. 21989. –: Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (1938), Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989. –: Hölderlins Hymne „Andenken“ (1941/42), Gesamtausgabe, Bd. 52, Frankfurt a. M. 1982. –: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (Sommer 1942), Gesamtausgabe, Bd. 53, Frankfurt a. M. 1984. –: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944) (EHD), Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 61996. –: Holzwege (1950), Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 71994. –: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954. –: Was heißt Denken? (1954) (WhD), Tübingen 41984. –: Unterwegs zur Sprache, Tübingen 1959. –: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962. –: Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, historisch-kritische Ausgabe in 6 Bänden, begonnen durch Norbert v. Hellingrath, fortgeführt durch Friedrich Seebaß und Ludwig v. Pigenot, Berlin 31943. –: Sämtliche Werke, Große Stuttgarter Ausgabe (StA), hg. Friedrich Beißner, Stuttgart 1943–1985. –: Sämtliche Werke, Kleine Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beißner, 2. Bd., Stuttgart 1953.

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VIII. GLOSSAR DER GEDICHTE UND TEXTE Kursiv sind jene Seiten hervorgehoben, die den Text ganz oder ausführlich zitieren.

A. PAUL CELAN À la pointe acérée 54 Anabasis 183 Andenken 151, 153–170 Ars Poetica 62 86 Autopsychographie nach Autopsicografia von Fernando Pessoa 17-18-34, 53, 191 Die Felder 165–166–167, 170 Die Schleuse 45 Die Silbe Schmerz 141, 158f., 183, 186, 188-190-204, 208 Eine Gauner- und Ganovenweise 183 Engführung 14, 33–64, 74 f., 77–79, 84f., 95, 98, 128, 136f., 139, 144– 147, 149, 177, 189, 191, 213, 220, 222, 226 Es stand 156 f. Herbstzeitlose nach Les colchiques von Guillaume Apollinaire 199 Hüttenfenster 159 Ich trink Wein 217 In der Luft 159 In eins 158 Kleine Nacht 63 La Contrescarpe 159 Le Périgord 157 Mandorla 157f., 183 Mit Mikrolithen 211-216 Nuit et brouillard Übersetzung des Filmskripts von Jean Cayrols 34, 48 f., 52 Stimmen 47, 62, 78 Todesfuge 201f. Todtnauberg 6 f., 134, 150, 199, 216218-222 Tübingen, Jänner 118, 131, 183, 203211, 217-221 Unlesbarkeit 118

Von Dunkel zu Dunkel 168, 170 Vor einer Kerze 158 Was geschah? 183 Weggebeizt 6, 212 Wolfsbohne 212 Wutpilger-Streifzüge 197 Zuversicht 15 Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker (1958) 47, 126 Bremer Ansprache 8, 34, 137, 145, 149, 177, 201, 224 Der Meridian. Georg-Büchner-Preiserede 8, 14, 26, 37, 54f., 147–149, 157, 175, 177–179, 201, 208-211, 222 Gespräch im Gebirg 14, 46, 199 Brief an Peter Schifferli, 1. April 1954 17, 168 Briefentwurf an Martin Heidegger, Herbst 1954 224–226 Brief an Hans Bender, 18. November 1954 151, 170-173, 175, 192, 194, 225 Brief an die 10. Klasse des Alten Gymnasiums zu Bremen, 17. Februar 1958 34 f., 211 Brief an Gottfried und Brigitte Bermann Fischer, 22. November 1958 145–147 Brief an Werner Weber, 26. März 1960 19, 32 Brief an Hans Bender, 18. Mai 1960 145 f., 176-179, 206, 210f. Brief an Hans Bender, 10. Februar 1961 177, 211 Brief an Fritz Arnold, 16. April 1961 17

248

Glossar der Gedichte und Texte

Brief an Erich Einhorn, 10. August 1962 136 Brief an Gottfried Fischer, 30. November 1962 183

Brief an einen Unbekannten, 30. Januar 1968 221 Briefentwurf an Martin Heidegger, vermutlich 1969/70 226 f.

B. MARTIN HEIDEGGER „Andenken“ 81, 142 f., 181-190, 193197, 199f., 202f. Brief über den „Humanismus“ 5, 102, 105 f., 114, 135 f., 149, 209 Das Ding 52 Das Ge-Stell 5, 133 Das Wesen der Sprache 225 Der Spruch des Anaximander 149 Der Ursprung des Kunstwerkes 98f., 116 f., 119-127, 131, 149,173 Der Weg zur Sprache 136 Die Selbstbehauptung der deutschen Universität 106-108 Die Technik und die Kehre 133, 137 Einführung in die Metaphysik 5, 105 f., 108–111, 113 f., 137, 151, 173, 180, 224 Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung 149, 206, 224 „Heimkunft / An die Verwandten …“ 137 Hölderlins Hymne „Andenken“ 119, 127 f., 183 Hölderlins Hymne „Der Ister“ 128, 143, 181 f., 195, 201 Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ 98f., 108f.,

113-119, 121, 127, 134, 137, 179, 181 Hölderlin und das Wesen der Dichtung 59, 113, 181, 187 Kants These über das Sein 114 Sein und Zeit 5, 99–106, 108-110, 112, 115, 118, 122, 149 Vom Ereignis. Beiträge zur Philosophie 112 Vom Wesen der Wahrheit 105, 119, 125 Was heißt Denken? 110, 112, 137, 150–154, 157, 162f., 168f., 173–175, 200, 206, 211, 219, 224–227 Was ist Metaphysik? 106, 108 „Wie wenn am Feiertage…“ 131 Wozu Dichter? 60, 98f., 105, 113, 128–134, 137, 143f., 149, 161f., 223 Spiegel-Interview mit Heidegger am 23. September 1966 108 Brief an Gerhart Baumann, 23. Juni 1967 216 Brief an Paul Celan, 30. Januar 1968 217, 219, 222

C. FRIEDRICH HÖLDERLIN Andenken 22, 68f., 75, 81, 126f., 155, 157, 161, 163-168, 183, 185188, 196 f., 225 Blödigkeit 82, 94, 214 Brod und Wein 59, 88f., 130f., 182 Kolonie-Fragment 182–186, 193, 195–197, 199

Der Main 65–70, 86f., 96 Der Mutter Erde 121 Der Nekar 66 Der Prinzessin Auguste von Homburg 87 Der Rhein 67, 113, 131, 158, 204 Der Wanderer 134

Glossar der Gedichte und Texte Dichterberuf 113, 128 Dichtermuth 214 Die Titanen 130, 144 f. Diotima 68 Empedokles 83, 87, 90, 141 Friedensfeier 15, 187 Germanien 87, 91-93, 95–98, 114-119, 121, 131, 138 Gesang des Deutschen 87 Gustav Adolf 190 Hälfte des Lebens 50 Hyperion oder der Eremit in Griechenland 1, 78, 82–90, 139, 141, 143, 187 Athenerbrief 56, 70–88, 95, 98f., 121 f., 154 f., 165 Schiksaalslied 155 Schmähbrief an die Deutschen 179 In lieblicher Bläue 181 Kolomb 141 f., 189 f., 195 f. meinst du, / Es solle gehen 94f., 98 Mnemosyne 28, 75, 95, 129f., 143f., 152, 155, 159–161, 163, 202 Patmos 15, 77, 90, 95f., 135, 137–145, 158, 209, 215, 217 Sokrates und Alcibiades 154 Vom Abgrund nemlich 212–214, 216, 222 Wie wenn am Feiertage 92 Allgemeiner Grund [zum Empedokles] 68 Anmerkungen zum Oedipus 12, 97, 169–172, 193 f., 215 Anmerkungen zur Antigonae 12, 90 Ältestes Systemprogramm (Hegel, Hölderlin, Schelling) 87f.

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Seyn, Urtheil, Modalität 72 Sieben Maximen 71 Specimina zu Salomon und Hesiod 138 Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes 69, 88f. Über Religion 87, 89f. Wechsel der Töne 169 Brief an Christian Ludwig Neuffer, Dezember 1789 190 Brief an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 10. Juli 1794 90 Brief an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 26. Januar 1795 72 Brief an Immanuel Niethammer, 24. Februar 1796 71 Brief an Johann Gottfried Ebel, 10. Januar 1797 68, 88, 90 Brief an Christian Ludwig Neuffer, 16. Februar 1797 69, 88, 95 Brief an den Bruder, 12. Februar 1798 95 Brief an die Mutter, Januar 1799 113 Brief an Susette Gontard, Oktober/November 1799 83 Brief an einen Unbekannten [Christian Gottfreid Schütz], Winter 1799/ 1800 82 Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff, 4. Dezember 1801 89–91, 93f., 98, 182, 222 Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff, November 1802 188 Brief an Friedrich Wilmans, 8. Dezember 1803 67, 95 Brief an Friedrich Wilmans, um Weihnachten 1803 70, 87

meiner

topos poietikos Claus-Artur Scheier

Ästhetik der Simulation Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert. Topos poietikos 1 2000. VIII, 218 S. 3-7873-1532-2. Kartoniert. Mit der industriellen Revolution wird im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert der Begriff der Produktion zum zentralen Problem nicht nur des ökonomischen Denkens. Zusammen mit ihr kommt, unter verschiedenen Namen, die Simulation als eine neue Produktions- und Existenzform in den Blick, die sich der traditionellen Begrifflichkeit der Metaphysik entzieht. An Texten von Schopenhauer, Feuerbach, Kierkegaard, Marx und Nietzsche, von Poe, Baudelaire und Richard Wagner vollzieht Claus-Artur Scheier in seinem Buch die Entstehung des modernen Denkens aus der Konstellation seiner ästhetisch-existenziellen Begrifflichkeit in der Polarität von Produktion und Simulation nach und zeigt, wie die das 20. Jahrhundert bestimmenden Ideologien einer Tendenz des frühen Gedankens der technischen Produktion selbst entspringen. Im Zentrum der konzis und subtil aufgefächerten Analysen steht die Bedeutung Richard Wagners: Es ist das paradoxe Ereignis der „Erlösung“, das von Wagner auf nicht länger metaphysische Weise vorgestellt, d. h. technisch reproduziert wird. Das Produkt ist das Ding als Kunstwerk. Dies prekäre Ding, das, zuletzt als „Bühnenweihfestspiel“, wie jedes authentische moderne Kunstwerk die Bestimmung hat, zugleich Ware zu sein und sich als Ware zu negieren, ist „despotisch“ auch darin, daß es in dieser Negation seinen Warencharakter gleichsam potenziert wiederherstellt, insofern es wohl vom Welt-Schmerz „erlöst“, aber eben dinghaft, d. h. so vergessenmachend wie die unmittelbare Ware selbst, die sich nur den Umweg über den Schmerz erspart. Insofern ist es richtig zu sagen, daß mit dem Wagnerschen Kunstwerk die Kunstreligion der Moderne, die von Anfang an die Sucht und Suche nach der „Schönheit“, dem „Sublimen“ usw. war, absolut wird, und das meint hier: das Wagnerische Kunstwerk ist die sublimierte Utopie.

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topos poietikos Stephan Grotz

Vom Umgang mit Tautologien: Martin Heidegger und Roman Jakobson Topos poietikos 2 2000. X, 293 S. 3-7873-1531-4. Kartoniert Einem Vergleich, der wie der vorliegende Martin Heideggers Seinsdenken und Roman Jakobsons strukturalistische Poetik engführt, fehlt das Tertium comparationis, das sich unmittelbar aus der Sachhaltigkeit von Heideggers und Jakobsons Schriften ergeben könnte. Er rückt daher ein Moment in den Mittelpunkt, das nur indirekt an den Texten der beiden Autoren zum Vorschein kommt: den Umgang mit Tautologien, wie er sich einerseits im eigenwilligen Sprachstil Heideggers und andererseits in Jakobsons Gedichtinterpretationen abzeichnet. Wenngleich sich dieser Umgang in den denkbar verschiedensten Ergebnissen, in Gestalt einer jeweiligen Theorie, äußert, so hat er doch für diese Ergebnisse und für ihren sprachlichen Vollzugsmodus einen vergleichbaren systematischen Stellenwert. Für die Verdeutlichung der Verfahrensweisen der beiden Autoren exponiert die Arbeit ein typologisches Spektrum an Mustern für ein Sprechen in und über Tautologien, d. h. die beiden wohl grundsätzlichen ‚Verwendungsmöglichkeiten‘ der Tautologie: einerseits als ein sprachpraktisch relevanter Terminus technicus, wie er sich innerhalb der antiken Ars grammatica und Ars rhetorica herausbildet; andererseits als eine in ihrer philosophischen Sachhaltigkeit problematische Satzform. Auf der Folie von traditionellen Verwendungsmöglichkeiten der Tautologie bei Platon, Aristoteles, Boethius, Wilhem von Ockham und Meister Eckhard werden Heideggers Texte einer Lektüre unterzogen, die sich weniger auf Heideggers Thematisierung des Sprachproblems als auf seine Verfahrensweise bei der – tautologischen – Darstellung dieses Problems konzentriert. Ziel ist dabei, die Art der Bedeutungskonstitution in solchen Wendungen wie „Die Sprache spricht“ zu erhellen. Die Chancen und Grenzen eines solchen Umgangs mit Heideggers Tautologien werden dann verdeutlicht mit einem Blick auf Jakobson, dessen Interpretationspraxis ihrerseits von einem spezifischen Umgang mit Tautologien geprägt ist. www.meiner.de

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