Gesellschaftsstruktur und Rolle der Frau: Das Beispiel der Irokesen [1 ed.] 9783428427963, 9783428027965

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Gesellschaftsstruktur und Rolle der Frau: Das Beispiel der Irokesen [1 ed.]
 9783428427963, 9783428027965

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IRENE SCHUMACHER

Gesellschaftsstruktur und Rolle der Frau Das Beispiel der Irokesen

Soziologische Schriften

Band 10

Gesellschaftsstruktur und Rolle der Frau Das Beispiel der Irokesen

Von

lrene Sehnmacher

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

\C) 1972 Dunelter & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1972 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 02796 5

Vorwort Zwei Weltkriege und d.ie fortschreitende Industrialisierung haben die soziale Stellung der Frau in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend verändert. Die Diskussion der wichtigen Frage, welche gesellschaftlichen Strukturen die Rolle der Frau bestimmen, ist bisher ziemlich ergebnislos - oder zumindest unbefriedigend - verlaufen. Traditionelle Erklärungsansätze in der Soziologie und Ethnologie lassen sich meist nur schwer mit den empirischen Daten vereinbaren. Sie vermitteln allenfalls begrenzte Einsichten, die aber weit davon entfernt sind, ein umfassendes Bild zu liefern. Im Hinblick auf diese Lage ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung bescheiden. Am Beispiel eines Naturvolkes wird zu zeigen versucht, welche Interdependenzen zwischen gesellschaftlicher Organisation und sozialer Rolle der Frau bestehen. Die strikte Begrenzung auf die geschlossene Gesellschaft der Irokesenstämme hat den Vorteil, daß relativ einfache Beziehungen untersucht und wesentliche Einflußfaktoren aufgezeigt werden können. Dafür müssen Aussagen in Kauf genommen werden, die sich nicht unbesehen für die Lösung der Probleme komplexer Gesellschaften verwenden lassen. Wenn die Arbeit dazu einen Beitrag leistet, wäre er allenfalls indirekter Natur. Die soziale Organisation der Irokesen bietet in verschiedener Hinsicht einen Kontrast zu den Institutionen heutiger Gesellschaften. Bei einem Vergleich werden Aussagen fragwürdig, die auf eine biologisch vorgegebene, gleichsam naturgesetzliche soziale Stellung und Rolle der Frau zielen. In welchem Ausmaß auf die gesellschaftlichen Einflußfaktoren zu achten und ihr Wechselspiel zu berücksichtigen ist, wird durch die Gegenüberstellung der beiden Gesellschaftstypen offensichtlich. Die entscheidenden Beziehungen zwischen Sozialstruktur und Rolle der Frau lassen sich aber nur in einfach organisierten Gesellschaften eindeutig transparent machen. Ein methodelogischer Hinweis scheint angezeigt. Die Untersuchung möchte die Einseitigkeiten monokausaler Theorien vermeiden und rückt deshalb die struktural-funktionale Gesellschaftsanalyse in den Vordergrund. Damit wirft sie - zum wiederholten Mal - die Frage nach der adäquaten Untersuchungsmethode auf. Wenn sich die Verfasserin für den angegebenen Weg entschieden hat, so vor allem aus der Überlegung, daß die Aussagen der theoretischen Analyse und die beobachte-

Vorwort

6

ten Fakten möglichst wenig divergieren sollten. Ob sie dieses Ziel erreicht hat, mag dem Urteil des Lesers überlassen bleiben. Die Untersuchung wurde im Wintersemester 1971/72 vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Justus Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenonunen. Ich habe Frau Prof. Dr. Helge Pross, die die Arbeit angeregt und tatkräftig gefördert hat, viel zu danken. Verpflichtet bin ich auch den Herren Prof. Dr. Wolfgang Lindig, der zahlreiche Hinweise zu den ethnologischen Partien gab, und Prof. Dr. Artur Woll, der die ökonomischen Ausführungen überprüfte. Dank schulde ich nicht zuletzt meinen Eltern, die nicht nur unendliche Geduld bei meinen Studien aufbrachten, sondern auch die Mühen einer kritischen Lektüre auf sich nahmen. Zürich, im September 1972

Irene Schumacher

Inhaltsverzeichnis Erster Teil: Problemstellung und Untersucllungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I. Die Frage nach der gesellschaftlichen Dominanz eines Geschlechts . .

9

Il. Kausaltheoretische Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1. Evolutionistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

2. Sozialistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

3. Die Kulturkreislehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

III. Der funktional-strukturale Erklärungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

1. Die funktional-strukturale Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

2. Die Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

IV. Die Irokesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

1. Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

2. Die irokesische Sprachgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Zweiter Tell: Gesellschaftsstruktur und Rolle der Frau bei den Irokesen 37 I. Die Bedeutung der Frau in der sozialen Organisation . . . . . . . . . . . . . .

37

1. Die Elemente der Sozialstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

2. Die Großfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

3. Der Klan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

4. Dorf und Stamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

5. Die Liga

59

II. Die Bedeutung der Frau in der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

1. Die Grundlagen der irokesischen Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

2. Die geschlechtliche Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

3. Die Organisation der Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

4. Das Distributionssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

JII. Die Bedeutung der Frau in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

1. Charakteristika der politischen Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

8

Inhaltsverzeichnis 2. Großfamilie und Klan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

3. Dorf und Stamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Die Liga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 IV. Die Bedeutung der Frau im Wertsystem ........ . ......... . .... ... .. llO 1. Zur Funktion von Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . llO

2. Die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Die Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4. Die Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Dritter Teil: Zusammenfassung und Synthese . . ... . .......... . ... .... .. 130 I. Die soziale Stellung der Irokesin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

II. Die von Männem verwaltete weibliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 132 III. Der Machtkampf zwischen den Geschlechtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Literaturverzeichnis ......... . . . ........... . ......................... . . 141

Erster Teil

Problemstellung und Untersuchungsmethode I. Die Frage nach der gesellschaftlichen Dominanz eines Geschlechts

Die menschliche Gesellschaft wird zu einem wesentlichen Teil vom Unterschied der Geschlechter geprägt, von der Verschiedenheit der sozialen Rollen des Mannes und der Frau. Die Differenzierung der Geschlechter durchdringt alle Lebensbereiche und strahlt bis in die sublimsten seelischen und geistigen Bezirke aus. Es scheint deshalb plausibel, die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in biologischen, psychologischen oder gar metaphysischen Eigentümlichkeiten des Wesens der Geschlechter zu suchen: "das Männliche" und "das Weibliche" erhalten den Rang absolut gesetzter, inhaltlich eindeutiger Merkmale1 • Nicht selten sieht man im Mann die Kraft, das Draufgängerische und den Intellekt verkörpert, in der Frau das Dulden, Arterhaltende und die Liebe - zwei komplementäre Teile vollen Menschseins, das erst aus der nicht nur biologisch gemeinten Verbindung beider Seiten entsteht. Diese Auffassung gehört zum Wesensgehalt der abendländischen, vor allem christlichen Lehre vom Menschen. Von ihr bis zur Forderung nach einer Rollenverteilung, die den Mann zum ausschlaggebenden Entscheidungsträ•ger und zur dominierenden Figur der Gesellschaft erhebt, ist nur ein kleiner Schritt. Ein umfassendes ethnographisches Material zeigt, daß die Geschlechterrollen in den verschiedenen Kulturen divergieren2 • Die geschlechtsdifferenzierte Physis des menschlichen Körpers und die schlichte Tatsache, daß die Frau Kinder zur Welt bringt, haben allerdings in einem gewissen Umfang zu ähnlichen Verhaltensmustern und Rollen bei der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau geführt. Eine Vergleichsstudie über die ökonomische Arbeitsteilung in 224 außereuropäischen Gesellschaften weist nach3 : Männer mit ihrer überlegenen Kraft übernehmen

Schelsky 1956: 231. Mead 1936; Goldenweiser 1937. a Murdock 1937: 551 ff.; 1949: 7. 1

2

10

1. Teil: Problemstellung und Untersuchungsmethode

meist die schweren Arbeiten, wie Hausbau, Baumfällen, Landrodung und Erlegen von Tieren; da sie nicht wie die Frau durch Schwangerschaft und Kindesaufzucht an einen Ort gebunden sind, können sie sich bei der Jagd, dem Fischen, der Viehhaltung und dem Handel längere Zeit vom Heim entfernen. Frauen dagegen führen in der Regelleichtere Tätigkeiten im Haus oder dessen näherer Umgebung aus, wie Wasserholen, Früchtesammeln und -ernten, Zubereitung der Mahlzeiten und Anfertigung der Kleidung sowie des Hausrats. In primitiven Gesellschaften 4 ist- mehr als in industriellen- durch ihre stärkere Abhängigkeit von Naturbedingungen der Weg zu einer geschlechtlichen Rollenverteilung gewiesen. Doch innerhalb der durch Anatomie und Physiologie gesteckten Grenzen kennen alle Gesellschaften unterschiedliche Formen der Arbeitsteilung und effizienten Leistungsaustausch zwischen beiden Geschlechtern. Die Aufgaben von Mann und Frau können von Fall zu Fall recht unterschiedlich sein. " ... a comparative study of the statuses ascribed to women and men in different cultures seem to show that while such factors (physiological differences between the sexes) may have served as a starting point for the development of a division the actual prescriptions are almost entirely determined by culture. Even the psychological characteristics ascribed to men and to women in different societies vary so much that they can have little physiological basis5." Der Umfang der Rollen, den die Geschlechter in verschiedenen Gesellschaften übernehmen, variiert somit beträchtlich. Unter dem Eindruck des ethnographischen Materials kann die Ansicht von typisch männlichen und weiblichen Rollen, von "natürlichen" Wesensunterschieden der Geschlechter, soziologisch nur in einem eingeschränkten Sinn aufrecht erhalten werden. Das Studium der Verhaltensmuster und Arbeitsteilung legt vielmehr den Schluß nahe: Geschlechterrollen stellen eine Variable der jeweiligen Gesellschaft dar, auf die sie ihrerseits zurückwirken. "This division (the sexual division of labor) is very largely conventional, i. e., in no way connected with the physiological characteristics of the sexes as may often be proved by contrasting the regulations of different and even neighboring tribes6 .'' Die Begriffe "männlich" und "weiblich" erweisen sich angesichts der unterschiedlichen Rollenverteilung mehr als sozial-gebundene Akzidentien, deren Inhalt beim Vergleich von Gesellschaften Verschiedenes, wenn nicht Gegensätzliches bedeuten kann. In einfach organisierten Gesellschaften - bei Naturvölkern - sind die Rollen des Mannes und der Frau komplementäre Teile einer Ein4 Die Begriffe "primitive Gesellschaft" oder "Naturvolk" werden in der vorliegenden Arbeit als Termini technici, d. h. ohne Wertung gebraucht. s Linton 1936: 116. 6 Lowie 1920: 74.

I.

Die Frage nach der gesellschaftlichen Dominanz eines Geschlechts

11

heit. Das äußert sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt und bei der von harten Notwendigkeiten bestimmten Sicherstellung eines relativ minimalen Lebensunterhalts. Mit der Rollenabgrenzung des einen Geschlechts wird zugleich die. des anderen festgelegt. Diese abstrakte Regel bedarf indessen der inhaltlichen Konkretisierung, weil die von beiden Geschlechtern angestrebten Ziele im Hinblick auf die subjektiven Bedürfnisse und objektiven Möglichkeiten in den einzelnen Gesellschaften voneinander abweichen. Wenn bekannt ist, welcher Art diese Ziele sind, läßt sich nicht nur der Rollenumfang, sondern auch deren geschlechtsspezifische Differenzienmg verdeutlichen. Bei einer Beschreibung der Rollen ist es deshalb möglich, allein die Aufgaben der Frau zu umreißen, während die dem Mann zukommenden Funktionen lediglich im Bedarfsfall aufgezeigt zu werden brauchen. Rückschlüsse auf die relativen Positionen der Frau und des Mannes innerhalb der Gesellschaft sind dann leicht durch eine Gegenüberstellung der Geschlechterrollen möglich. Eine Prüfung der ethnographischen Daten ergibt, daß Gesellschaften mit eindeutiger Präponderanz eines Geschlechts vergleichsweise selten sind. Gleiches gilt für Gesellschaften mit ausgewogener Machtverteilung zwischen Mann und Frau. Im Normalfall überwiegt die Position des Mannes, ohne daß jedoch die Frau völlig einflußlos ist. Die wenigen Fälle, in denen die gesellschaftliche Organisation auf die Frau bezogen ist ("Mutterrecht") oder die Frau gar sozial dominiert ("Matriarchat"), haben deshalb seit langem das Interesse auf sich gezogen und zur Frage geführt, welches die Gründe für die beherrschende Stellung der Frau sind. Diese Frage entsprang nicht bloßem wissenschaftlichen Forschungsdrang, sondern häufig der politischen Absicht, die untergeordnete Rolle der Frau in unserer vom Mann dominierten Gesellschaft zu verbessern oder zu beseitigen. Klassisches Beispiel einer matrilinear organisierten Gesellschaft mit starker sozialer Stellung der Frau sind die nordamerikanischen Stämme der Irokesen. Unter Irokesen wird eine Gruppe sprachverwandter Indianerstämme verstanden, die während der Entdeckung Amerikas im heutigen Bundesstaat New York ansässig waren, insbesondere im Grenzgebiet zwischen den USA und Kanada, am Eriesee und oberen St. Lorenzstrom. Berichte von Forschungsreisenden und missionierenden Jesuiten bilden den Fundus eines in diesem Umfang seltenen ethnographischen Quellenmaterials aus einer Zeit, als noch keine verbreiteten Kontakte mit Europäern bestanden. Der französische Jesuit J osephFran