Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2006 9783504382797

Die Gesellschaftsrechtliche Vereinigung – Wissenschaftliche Vereinigung für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (VGR) –

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Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2006
 9783504382797

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Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.) Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2006 Jahrestagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung

Schriftenreihe der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung (Hrsg.)

Band 12

Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2006 Jahrestagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung (VGR) herausgegeben von der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung mit Beiträgen von

Prof. Dr. Holger Altrneppen UniversiTätsprofessor; Passau

Prof. Dr. WUif Goette Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe

Prof. Dr. Heribert Hirte, LLM. (Berkeley) UniVersltatsprofessor, Harnburg

Dr. Rainer Krause Rechtsanwalt, Düsseldorf

Dr. Andreas Pentt Rechtsanwalt, Fachanwalt fflr Handels- und Gesellscha:ltsrecht, Mannheim

Dlpi.-Kfin. Prof. Dr. Ulrlch Prinz WlrtschaltsprGfer, Steuerberater, Bonn

Prof. Rolf Rattunde Rechtsanwalt und Notar, Pachanwalt für Steuenrecht und lnsolvenzrecht, lnsolvenzverwalter, Berlin

2007

Verlag

Dr.OttoSchmidt Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek veneichnot diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografic; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ht1p:/ldnb.d-nb.de abrufbar. VorlagDr. Otto SchmidtKG Gustav-Heinerrumn-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 2119 37 38-01, Fax 022119 3738-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-62712-6

©2007 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschütlt. Jede Verwertung, die nicht ausdriicklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustinnnung des Verlages. Das gilt insbesondere fiir Vervielfiiltigungen, Bearbeitungen, Übmetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung nnd Verarbeitung in clckrronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und mnweltfreundlich.

Einbandgestaltung nach einem Enrnrurfvon: Jan P. Lichtenford Satz: Hain-Team, Weimar Druck und Verarbeitung: Grosch, Eppellreim Printed in Germany

Vorwort Die 9. Jahrestagung der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung hat am 3. November 2006 in Frankfurt stattgefunden und war wie stets aktuellen Themen aus dem gesamten Spektrum von Gesetzgebung, Wissenschaft und Praxis des Unternehmens- und Gesellschaftsrechts gewidmet. Der Rechtsprechungsbericht des Vorsitzenden des II. Zivilsenats des BGH spiegelte wider, dass ein besonderer Schwerpunkt der Senatsrechtsprechung im Jahre 2006 das Aktienrecht war, dem sieben der insgesamt zwölf besprochenen Fälle entstammten. In der zweiten Abteilung wandte sich die Tagung den grenzüberschreitenden Verschmelzungen zu, die noch vor wenigen Jahren nach deutschem Gesellschaftsrecht eigentlich nicht gangbar waren, inzwischen aber aufgrund verschiedener Rechtsentwicklungen (SE, SEVIC, Verschmelzungsrichtlinie, §§ 122a ff. UmwG, SEStEG) möglich geworden sind. Von den beiden Referaten war eines der gesellschaftsrechtlichen, das andere der steuerlichen Problematik grenzüberschreitender Verschmelzungen gewidmet. Die dritte Abteilung der Tagung, die traditionell den Rechtsfragen kleinerer und mittlerer Unternehmen gewidmet ist, befasste sich auf der Basis des Referentenentwurfs des MoMiG mit den Vorschlägen zur Änderung des GmbH-Rechts, die manchem zu weit und vielen längst nicht weit genug gehen. Am Ende der Tagung stand ein Blick auf die vielfältigen Rechtsprobleme, die sich an der Schnittstelle von Insolvenz- und Gesellschaftsrecht ergeben und trotz ihrer hohen praktischen Bedeutung in Wissenschaft und Rechtspolitik bislang nicht die Aufmerksamkeit finden, die sie verdienen. Vorstand und Beirat der VGR danken den Referenten, den Diskussionsteilnehmern und Verfassern der Diskussionsberichte sowie allen, die sonst zum Gelingen der 9. Jahrestagung beigetragen haben. Düsseldorf, im April 2007 Für Vorstand und Beirat der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung Gerd Krieger

V

VI VI

Inhalt* Seite

Vorwort ..............................................................................................

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Prof. Dr. Wulf Goette, Karlsruhe Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht I. Einleitung ..................................................................................

1

II. Aktienrechtliche Fälle ................................................................

4

III. GmbH-rechtliche Fälle ...............................................................

25

IV. Personengesellschaftsrecht ........................................................

31

Silke Warmer, Hamburg Bericht über die Diskussion des Referats Goette ...........................

35

Dr. Rainer Krause, Düsseldorf Grenzüberschreitende Verschmelzungen – Gesellschaftsrechtliche Aspekte I. Ausgangslage ..............................................................................

39

II. SEVIC ........................................................................................

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III. Verschmelzungs-RL ...................................................................

44

IV. Europäische Gesellschaft ...........................................................

51

V. Grenzüberschreitender Zusammenschluss durch ein öffentliches Übernahmeangebot ................................................

53

* Ausführliche Inhaltsverzeichnisse jeweils zu Beginn der Beiträge.

VII

Inhalt

Dipl.-Kfm. Prof. Dr. Ulrich Prinz, Bonn Grenzüberschreitende Verschmelzungen – Steuerliche Aspekte I. Zum Thema ...............................................................................

58

II. Ausgangspunkt im „alten“ UmwStG: Inlandsbeschränkte buchwertverknüpfte Verschmelzungen ......................................

60

III. Das neue Grundkonzept für grenzüberschreitende Verschmelzungen nach dem SEStEG v. 7. 12. 2006 ....................

61

IV. Einzelfragen zur grenzüberschreitenden Verschmelzung nach dem SEStEG vom 7. 12. 2006 .............................................

75

V. Zusammenfassende Wertung ....................................................

86

Arne von Freeden, LL. M. (Int’l Tax), Bonn Bericht über die Diskussion der Referate Krause und Prinz ..........

87

Prof. Dr. Holger Altmeppen, Passau Die zentralen Änderungen des GmbH-Rechts nach dem Referentenentwurf des MoMiG I. Vorbemerkung ...........................................................................

93

II. Zur Beibehaltung eines Mindeststammkapitals ........................

95

III. Brauchen wir zusätzlich einen solvency test? ............................

99

IV. Eigenkapitalersatz ...................................................................... 100 V. Cash Pooling .............................................................................. 106 VI. Erweiterung des „Zahlungsverbots“ im Sinne der §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG ............................. 109 VII. Ergebnisse .................................................................................. 113

VIII

Inhalt

Dr. Andreas Pentz, Mannheim Zu den GmbH-rechtlichen Änderungsvorschlägen des MoMiG aus Sicht eines Praktikers A. Einleitung .................................................................................. 116 B. Vorbemerkungen zum „Wettbewerb der Rechtsreformen“ ......... 118 I. Regelungsabsichten des MoMiG-Entwurfs ................................ 118 II. Stellungnahme ........................................................................... 118 C. Zur geplanten Herabsenkung des Mindestkapitals, der Änderung des § 30 GmbHG und der Abschaffung des Kapitalersatzrechts ..................................................................... 121 I. Herabsenkung des Mindestkapitals ........................................... 121 II. Die Regelung zum Cash Pooling ................................................ 126 III. Die Änderungen zum Kapitalersatzrecht ................................... 131 D. Zusammenfassung .................................................................... 138 Maik Olberg, Heidelberg Bericht über die Diskussion der Referate Altmeppen und Pentz ... 139 Prof. Dr. Heribert Hirte, LL.M. (Berkeley), Hamburg Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht – Zuständigkeitsabgrenzung, Kapitalmarktrecht, Insolvenzantragspflicht I. Einleitung .................................................................................. 148 II. Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gesellschaftsorganen und Insolvenzverwalter ............................................................. 149 III. Kapitalmarktrechtliche Pflichten ............................................... 164 IV. Die Insolvenzantragspflicht zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht ...................................................................... 183 V. Zusammenfassung .................................................................... 189

IX

Inhalt

Prof. Rolf Rattunde, Berlin Praxisprobleme bei der Sanierung einer börsennotierten AG I. Problemaufriss ........................................................................... 193 II. Die Sanierung einer Kapitalgesellschaft – Der Fall SENATOR . 196 III. Das Gesellschaftsrecht im Insolvenzverfahren ......................... 204 IV. Ausblick ..................................................................................... 209 Dipl.-Kaufmann, Dipl.-Volkswirt Martin Lambrecht, Berlin Bericht über die Diskussion der Referate Hirte und Rattunde ...... 211 Stichwortverzeichnis ........................................................................ 213

X

Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht Prof. Dr. Wulf Goette Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe I. Einleitung ................................

1

II. Aktienrechtliche Fälle ............. 1. Jenoptik .............................. 2. Nullausgleich ..................... 3. T-Online/TeleCom............. 4. Beratungsvertrag und Aufsichtsrat ........................ 5. Squeeze Out ....................... a) Im Liquidationsverfahren b) Fortsetzung des Beschlussmängelverfahrens nach zwischenzeitlich durchgeführtem Squeeze Out .................. 6. Stimmloser Beschluss .......

4 4 9 10 12 15 15

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7. WMF – Acting in Concert.............................

20

III. GmbH-rechtliche Fälle ........... 1. Cash Pool und Kapitalaufbringung ...................... 2. Unterbilanzhaftung ......... 3. Aufrechnung mit Verlustausgleichsanspruch im GmbH-Vertragskonzern ..................................

25

IV. Personengesellschaftsrecht .... 1. Vertrauensschutz bei Altschulden ........................... 2. Abfi ndung.........................

31

25 27

28

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I. Einleitung Der II. Zivilsenat hat seit der letzten Jahrestagung weit mehr als 60 Entscheidungen erlassen, in denen er zu den durch den Fall aufgeworfenen Fragen – sei es in Urteils-, sei es in Beschlussform – näher Stellung genommen hat. Schon dieser Umfang zwingt zur Auswahl, so dass der eine oder andere von Ihnen vielleicht eine ihm wichtige Entscheidung in meinem folgenden Bericht vermissen wird. Nimmt man die aus meiner Sicht besonders hervorhebenswert erscheinenden Erkenntnisse in den Blick, dann wird offenbar, dass ein besonderer Schwerpunkt unserer rechtsprechenden Tätigkeit im zurückliegenden Jahr das Aktienrecht war; im GmbH-Recht, das natürlich von der Zahl der Fälle her nach wie vor einen ganz wesentlichen Teil unserer Arbeitkraft in Anspruch nimmt, ist dagegen weniger Spektakuläres zu berichten, und Entsprechendes gilt auch für das Personengesellschaftsrecht. Ehe ich zu den Einzelheiten komme, gestatten Sie mir einen zusammenfassenden Rückblick und ein paar Worte zu dem, was in den kommenden Monaten zu entscheiden sein wird.

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Goette – Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung

Im vergangenen Jahr1 hatte ich von der Notwendigkeit berichtet, gemeinsam mit den Kollegen unseres für das Darlehens- und Verbraucherkreditrecht geschäftsplanmäßig zuständigen XI. Zivilsenats für die Praxis tragfähige, auch der jüngsten EuGH-Rechtsprechung Rechnung tragende Lösungen hinsichtlich der künftigen Behandlung der sog. „Schrottimmobilien“-Fälle zu finden. Diese sehr intensiven – und wie wir glauben: fruchtbaren2 – Gespräche haben Ende des letzten und zu Anfang dieses Jahres stattgefunden, und zwar nicht – wie manche Kritiker in Unkenntnis der einschlägigen Bestimmungen des GVG gemeint haben3 – im rechtsfreien Raum, sondern in Anwendung des § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG, der vor einer Anrufung des Großen Senats für Zivilsachen das von uns eingeschlagene Anfrageverfahren vorschreibt. Das Ergebnis – Einigkeit über die Frage, dass gesellschaftsrechtliche Probleme nicht mehr zu klären sind und Erweiterung der Aufklärungspflicht der Kreditinstitute für bestimmte typische Fallgestaltungen – ist bekannt, ich kann hier auf die eingehenden Darstellungen von Habersack und Schäfer verweisen4. Zur Ruhe gekommen ist der Strom der neuen Verfahren aus dem Komplex der sog. Göttinger Gruppe5, was seinen Grund wohl nicht allein darin hat, dass wir mittlerweile durch eine Vielzahl von Urteilen eine Linie in die stark divergierende Rechtsprechung der Instanzgerichte gebracht und einen Großteil der Fragen entschieden haben, sondern wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass vielen Anlegern im Hinblick auf die Presseberichte über die Schwierigkeiten, ein obsiegendes Urteil zu vollstrecken, der Mut abhanden gekommen ist, ihre Klagen weiter zu verfolgen. Die von uns erwartete Welle der Schadenersatzklagen aus dem comRoadKomplex6 hat uns bislang nicht erreicht, weil im Laufe des Jahres intensive – zunächst als sehr aussichtsreich geschilderte – Vergleichsgespräche geführt worden sind. Nach den jüngst erhaltenen Mitteilungen der Prozessbevollmächtigten ist nun jedoch mit einer Einigung nicht zu rechnen, so dass nicht nur wir, sondern auch die Kollegen in den Tatsacheninstanzen die bislang zurückgestellten Sachen werden angehen müssen. Mancher Interessierte erwartet – gerade im Hinblick auf die derzeit geführte Diskussion um den RefE zum MoMiG – ein Wort des Senats zu der 1 2 3 4 5 6

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In: VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2005, 2006, S. 3. Vgl. Goette, DStR 2006, 1099 f. Paradigmatisch Derleder, NZM 2006, 449 ff. Vgl. näher Habersack, BKR 2006, 305 ff.; Schäfer, DStR 2006, 1753 ff. Vgl. in: VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2005, 2006, S. 3 ff. In: VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2005, 2006, S. 3 ff.

Goette – Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung

durch das sog. „Novemberurteil“7 geführten Diskussion um die Cash Pool-Problematik bei der Kapitalerhaltung. Dazu wird es wohl in überschaubarer Zeit schon deswegen nicht kommen, weil das bei uns anhängige Revisionsverfahren8 dadurch seine Erledigung gefunden hat, dass sich die Parteien verglichen haben. Ohne Arbeit wird der Senat aber auch dann natürlich nicht sein. In einer Reihe von verhandelten Sachen werden im Augenblick die Entscheidungsgründe abgesetzt: Das betrifft im Personengesellschaftsrecht die Frage, ob der für eine Anwaltssozietät für die Dauer von dreißig Jahren vereinbarte Ausschluss der ordentlichen Kündigung hingenommen werden muss9; diese Entscheidung wird sicher auch Ausstrahlungswirkung auf andere anhängige Verfahren haben, in denen ebenfalls die vereinbarte Vertragsdauer der Erfüllung von langfristigen Pensionsverpflichtungen dient. Im GmbHRecht ging es erneut um das Problem der Voreinzahlung auf künftige Kapitalerhöhung unter Berücksichtigung des Bestehens eines Sanierungslage10 oder um Umgehungsstrategien beim Eigenkapitalersatz11. Zum Aktienrecht haben wir jüngst die Frage entschieden, dass im Stadium der Vor-AG eine Kündigung der Vorgesellschaft aus wichtigem Grund möglich ist und in wesen Händen die anschließende Abwicklung liegt12 . Zuwenden werden wir uns in den kommenden Monaten dem Problem der bisher nicht befriedigend gelösten Existenzvernichtungshaftung; erneut ist über Fragen zu befinden, die ein Schutzgemeinschaftsvertrag13 aufwirft; ferner wird abermals zu der Problematik Stellung zu nehmen sein, wann Beratungsverträge, die die Aktiengesellschaft mit einer Gesellschaft geschlossen hat, an der ein Aufsichtsratsmitglied beteiligt ist, den restringierenden Regeln der §§ 113, 114 AktG unterliegen14, es wird um die Reichweite und die Begrenzung von Mehrheitsklauseln in Personengesellschaftsverträgen, also um Bestimmtheitsgrundsatz und Kernbereichslehre gehen15, ergän7 8 9 10 11 12 13

14 15

Urt. v. 24. 11. 2003 – II ZR 171/01, ZIP 2004, 263 = BGHZ 157, 72. II ZR 5/06, OLG München, ZIP 2006, 25. Urt. v. 18. 9. 2006 – II ZR 137/04, DB 2006, 2739. Urt. v. 26. 6. 2006 – II ZR 43/05, ZIP 2006, 2214. Urt. v. 26. 6. 2006 – II ZR 133/05, ZIP 2006, 2272 und v. 17. 7. 2006 – II ZR 106/05, ZIP 2006, 2130. Urt. v. 23. 10. 2006 – II ZR 162/05, ZIP 2006, 2267. II ZR 96/95 – die Sache ist am 27. 11. 2006 eingehend erörtert worden, auf Antrag der Parteien ist die Sache nicht abschließend verhandelt worden, um – dem Vorschlag des Senats folgend – die Möglichkeiten der Herbeiführung einer vergleichsweisen Regelung des jahrelangen Streits zu prüfen. II ZR 279/05, DStR 2007, 122; dazu Peltzer, ZIP 2007, 305. II ZR 245/05, Urt. v. 15. 1. 2007, z. V. b. in BGHZ („OTTO“).

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Goette – Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung

zende Fragen der Insolvenzverschleppungshaftung16 werden uns ebenso beschäftigen, wie das ungeklärte Problem, ob die Zwangseinziehung erst mit der Zahlung der geschuldeten Abfindung wirksam wird17. In zwei Verfahren wird wieder über das Problem der Umgehung der Sacheinlagevorschriften zu befinden sein18. Nun zu dem angekündigten Rückblick:

II. Aktienrechtliche Fälle Ich beginne mit den aktienrechtlichen Fällen und hier mit einem der beiden Verfahren, die uns das OLG Jena beschert hat und dessen Entscheidungen unruhiges Grummeln bei den Gesellschaften und ihren Beratern ausgelöst hat.

1. Jenoptik19 Die beklagte Jenoptik AG ist durch Verschmelzung Rechtsnachfolgerin der V GmbH geworden und damit in die Rolle als herrschendes Unternehmen der Deutschen Effecten- und Wechsel-Beteiligungs AG (DEWB) gelangt. Unstreitig ist der Unternehmensvertrag zum 31. 12. 1999 beendet worden und unstreitig ist die Beklagte gegenüber seinerzeit außenstehenden Aktionären abfindungspflichtig nach § 305 AktG. Das insoweit schwebende Spruchverfahren war zur Zeit der Beendigung des Unternehmensvertrags noch nicht, ist inzwischen aber abgeschlossen. Die Beklagte hat seit 2000 eine erhebliche Zahl von Aktien der DEWB über die Börse oder Makler veräußert. Die DEWB hat außerdem in der Folgezeit zweimal ihr Kapital erhöht, wodurch weitere Aktien in den Börsenumlauf gelangt sind. Nach einer ad-hoc-Mitteilung der Beklagten befanden sich im Zeitpunkt der Beendigung des Unternehmensvertrags etwa 70 000 Aktien in den Händen außenstehender Aktionäre, während sich nach Beendigung des Spruchverfahrens bei der Beklagten Aktionäre für 5,9 Mio. Aktien mit der Behauptung gemeldet haben, sie seien abfindungs16 II ZR 295/05. 17 II ZR 76/06. 18 Urt. v. 20. 11. 2006 – II ZR 176/05, DStR 2007, 263, und Urt. v. 12. 2. 2007 – II ZR 272/05, z. V. b. 19 Urt. v. 8. 5. 2006 – II ZR 27/05, ZIP 2006, 1392 m. Anm. Braun/Krämer, ZIP 2006, 1396; Koppensteiner, DStR 2006, 1603; Bungert, BB 2006, 1865; Bormann, BGHReport 2006, 1183; Streit/Lenz, EWiR 2006, 581; Luttermann, ZIP 2006, 816 ff.

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Goette – Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung

berechtigt. Den Aktien kann man nicht ansehen, ob sie vor oder nach dem Ende des Unternehmensvertrages erworben worden sind. Der allein noch am Revisionsverfahren beteiligte Kläger zu 3 macht für 11 025 Aktien den im Unternehmensvertrag ausgeworfenen Betrag von 50,– DM = 26,51 Euro geltend, verlangt also die Zahlung einer Abfindung i. H. v. 292 272,75 Euro zzgl. Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung der genannten mehr als 11 000 Stückaktien der DEWB. Er hat sich in den Tatsacheninstanzen geweigert mitzuteilen, wann er diese Aktien erworben hat. Da der Aktienkurs, der Mitte 2000 bei 60,– Euro lag, im selben Jahr auf 100,– Euro anstieg, ab Anfang 2001 und danach rapide verfallen ist – er betrug im Dezember 2002 7,38 Euro und erreichte 2005 einen Tiefstand von 1,75 Euro – besteht eine evidente Differenz zur vertraglich versprochenen Abfindung, wenn die Aktien einige Zeit nach dem Ende des Unternehmensvertrages erworben worden sind. Das OLG Jena20 hat die Beklagte verurteilt und angenommen: der Abfindungsanspruch hänge an der Aktie und gehe mit ihr über; zu Lasten der Beklagten – insofern stützt es sich auf ein im Prozess vorgelegtes Gutachten, das auch Eingang in die Festschriftliteratur21 gefunden hat – kehre sich die Beweislast bezüglich des Erwerbs der Aktie um, wenn sie nach dem Ende des Unternehmensvertrages Aktien am Markt veräußere und diese nicht besonders – nämlich durch die Vergabe von Wertpapierkennnummern – kennzeichne. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, der Senat hat die Klage unter Aufhebung des angefochtenen Urteils abgewiesen. Es entspricht der allgemein konsentierten Rechtsprechung des Senats22, dass ein im Zeitpunkt der Beendigung des Unternehmensvertrages noch schwebendes Spruchverfahren, in dem außenstehende Aktionäre die Höhe der nach § 305 Abs. 1 AktG geschuldeten Abfindung feststellen lassen wollen, fortzuführen ist und den Aktionären – gleichviel, ob sie sich an dem genannten Verfahren beteiligen oder nicht – bis zur Beendigung des von dem Senat so bezeichneten „vertragsüberdauernden“ Spruchverfahrens die Option verbleibt, dem herrschenden Unternehmen die Aktien zu dem im Spruchverfahren festgelegten bzw. dem im Unternehmensvertrag gfs. genannten höheren Wert anzudienen. Bezogen auf den „Jenoptik“-Fall hat das zur Folge, dass die Gesellschaft Aktionären, die ihr nach dem Ende des Spruchverfahrens die Aktien andienen, nicht entgegenhalten kann, 20 ZIP 2005, 525. 21 Hirte, in: FS Hadding, 2004, S. 427 ff. 22 BGHZ 135, 374 ff.

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Goette – Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung

nun sei es für Übernahme der Aktien gegen Zahlung der Abfindung zu spät. Dass diese mit Rücksicht auf das grundrechtlich geschützte Aktieneigentum unausweichliche Handhabung für das herrschende Unternehmen – schon wegen der Dauer derartiger Spruchverfahren – erheblich belastend sein kann, liegt auf der Hand. Diese Misshelligkeiten steigern sich, wenn vor der Beendigung des vertragsüberdauernden Spruchverfahrens neue Aktien der ehemals abhängigen Gesellschaft ausgegeben oder – wie im „Jenoptik“-Fall außerdem geschehen – nicht abfindungsberechtigte Aktien aus dem Besitz des herrschenden Unternehmens in den Umlauf gelangen. Die wundersame Vermehrung der Zahl der „außenstehenden“ Aktionäre von rund 70 000 bei Beendigung des Unternehmensvertrages auf etwa 5,9 Mio. bei Abschluss des Spruchverfahrens macht dies evident. Bewegungen des Aktienkurses des abhängigen Unternehmens nach unten eröffnen Gewinnerwartungen, die schon nicht mehr spekulativ genannt werden können, sondern eine „sichere Bank“ sind, weil jeder Aktienkauf zu einem Preis unter dem vertraglich festgesetzten Abfindungsbetrag – im entschiedenen Fall waren dies 26,51 Euro, der Aktienkurs lag zeitweise bei gut sieben Euro – einen Gewinn mindestens in Höhe der Differenz zum versprochenen Abfindungswert, u. U. aber zu dem etwa im Spruchverfahren festgesetzten höheren Wert nach sich zieht. Vor diesem Hintergrund war zu entscheiden, ob prinzipiell jeder Inhaber einer Aktie schlechthin als „außenstehender“ Aktionär anzusehen ist, weil das Andienungsrecht gegen Abfindung in der Aktie verkörpert ist23, oder ob das Recht, Abfindung gegen Übertragung des Papier fordern zu dürfen, zusätzlich davon abhängt, dass die Eigenschaft des Außenstehens dargelegt und notfalls bewiesen wird. Das OLG Jena hat bekanntlich den erstgenannten Standpunkt eingenommen und ihn noch dadurch verschärft, dass es der Jenoptik AG vorgeworfen hat, sie habe nach den Regeln der Beweislastumkehr die Folgen dafür zu tragen, dass der klagende Aktionär nicht anhand des Aktienpapiers den Nachweis führen könne, „abfindungsberechtigte“ Aktien in Händen zu haben. Die zuletzt skizzierte, auf ein von dem Kläger im Rechtsstreit vorgelegtes und von dem Berufungsgericht bereitwillig aufgenommenes Rechtsgutachten24 zurückgehende Ansicht hat der Senat mit wenigen Worten verworfen, sich mit dem Hinweis auf die zutreffenden Ausführungen in einem anderen, von der Gegenseite vorgelegten und von dem OLG Jena fehlinterpretierten Gut23 So z. B. Streit/Lenz, EWiR 2006, 581 f. mit dem Argument, die ehemals beherrschten Altaktionäre würden in der AG „eingemauert“ und könnten den etwaigen höheren Abfi ndungswert nicht sofort am Markt realisieren. 24 S. Hirte, in: FS Hadding, 2004, S. 427 ff.

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Goette – Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung

achten25, beschränkt und mit dieser schneidenden Kürze deutlich gemacht, was von der in Jena erfundenen Pflicht zu halten ist, ein ehemals herrschendes Unternehmen müsse die in seinem Besitz befindlichen Aktien der beherrschten Gesellschaft besonders kennzeichnen, ehe es dieselben in den Umlauf gibt. Der II. Zivilsenat hat anders angesetzt und in den Mittelpunkt seiner Erwägungen gestellt, welchen Sinn das gesetzliche Abfindungsrecht nach § 305 AktG hat: Mit dem Abschluss des Unternehmensvertrages ist für den Aktionär eine Beeinträchtigung seiner aus der Mitgliedschaft abgeleiteten Herrschaftsrechte verbunden. Er soll, wenn ihm der angebotene Ausgleich nach § 304 AktG nicht ausreichend erscheint, diese Beeinträchtigung auszugleichen, das Recht haben, sich von seiner Beteiligung in der Weise zu trennen, dass sie von dem herrschenden Unternehmen gegen Zahlung der – notfalls im Spruchverfahren festzusetzenden – „angemessenen“ Abfindung zu übernehmen ist. Der Sache nach handelt es sich also um ein durch die Beherrschungssituation gerechtfertigtes individuelles Sonderaustrittsrecht. Dieses steht jedem außenstehenden Aktionär zu und zwar auch demjenigen, der diese Stellung nicht bereits bei Abschluss des Vertrages besessen, sondern sie erst in der Folgezeit während der Dauer der Beherrschung erworben hat. Da die individuelle Stellung als außenstehender Aktionär maßgeblich ist, kann es nach der Überzeugung unseres Senats nicht darauf ankommen, ob auch der Rechtsvorgänger des Erwerbers bereits „außenstehender“ Aktionär gewesen ist; das Abfindungsoptionsrecht entsteht vielmehr originär und „ad personam“ des der Beherrschung unterworfenen Inhabers der Aktie, und es ist auch deswegen kein in der Aktie wertpapiermäßig verkörpertes Mitgliedschaftsrecht, weil es seine Grundlage gerade nicht in dem mitgliedschaftlichen Verhältnis zur eigenen Gesellschaft, sondern in einem schuldrechtlichen Anspruch gegen das herrschende Unternehmen findet26. Notwendige Folge ist, dass die Tatsache des „Außenstehens“ ein Element des den Anspruch begründenden Tatbestandes ist, m. a. W. dass der Aktionär darlegen und beweisen muss, dass seine Aktie „abfindungsberechtigt“ ist. Die Darlegung und gfs. Beweisführung macht keinerlei Schwierigkeiten, weil es allein um den Zeitpunkt des Erwerbs geht und dieser leicht mittels der beim Kauf ohnehin ausgestellten Urkunden geführt werden kann. Wird das Papier dagegen erst nach der Beendigung des Unternehmensvertrages erworben, kann ein solches Abfindungsoptionsrecht in der Person 25 Vgl. Altmeppen, ZIP 2005, 1055. 26 Das verkennen Streit/Lenz, EWiR 2006, 581 f.

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Goette – Aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung

des Erwerbers nicht mehr entstehen: Er bedarf ja keiner Kompensation für das Duldenmüssen des Einflusses des herrschenden Unternehmens. Und es gibt auch keinen Grund, ihm die zum Schutz ehemals außenstehender Aktionäre entwickelte Fiktion zugute kommen zu lassen, sie blieben bis zum Abschluss des Spruchverfahrens abfindungsberechtigte Aktionäre. Denn diese Fiktion dient allein dem Schutz dieser Gruppe von Mitgliedern der ehemals beherrschten Gesellschaft, die unter der langen Dauer des Spruchverfahrens nicht sollen leiden müssen, sondern denen die Austrittsoption erhalten bleiben muss. Veräußert ein solcher ehemals außenstehender Aktionär sein Papier nach Beendigung des Unternehmensvertrages, aber vor Abschluss des vertragsüberdauernden Spruchverfahrens an einen Dritten, dann offenbart er, dass ihm der gesetzlich eingeräumte Dispositionsschutz nicht mehr wichtig ist. Im Zweifel wird er so nur deswegen verfahren, weil er ein höheres Entgelt erzielt, als er es von dem herrschenden Unternehmen als Abfindungsbetrag erhalten würde; anderenfalls würde er die Aktien nach § 305 AktG übertragen und abwarten, ob im Spruchverfahren ein höherer Betrag festgesetzt wird, der ihm dann nachzuzahlen ist. Verfassungsrechtliche Prinzipien – hier die Erzielung einer dem Verkehrswert entsprechenden Abfindung (Art. 14 GG) – erfordern also nach Ansicht des Senats nicht, den Abfindungsoptionsanspruch auch nach Beendigung des Unternehmensvertrages und bei vertragsüberdauernden Spruchverfahren in der Aktie verkörpert zu sehen27.

27 Zustimmend z. B. Braun/Krämer, ZIP 2006, 1396 ff.; weitgehend auch Koppensteiner, DStR 2006, 1603 ff.; anders Streit/Lenz, EWiR 2006, 581, die das „Einmauern“ des ehemals beherrschten Minderheitsaktionärs beklagen und es für geboten erachten, ihm schon vor Abschluss des Spruchverfahrens die Möglichkeit zu eröffnen, den (etwaigen) Zuschlag auf die Abfi ndung aus dem Spruchverfahren durch Veräußerung der Aktie an Dritte zu realisieren; dass ihre Lösung dazu führt, dass das ehemals herrschende Unternehmen die eigenen Aktien nicht veräußern kann, also seinerseits „eingemauert“ ist, bis das Spruchverfahren beendet ist, und dass es u. U. nicht einmal verhindern kann, dass das ehemals beherrschte Unternehmen neue – nach Ansicht der Verf. abfi ndungsberechtigte – Aktien in Umlauf gibt, wird nicht problematisiert.

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2. Nullausgleich28 Die Beklagte ist eine seit längerer Zeit nur Verluste erwirtschaftende Straßenbahn-AG. Die Klägerin ist Aktionärin der Beklagten, deren Mehrheitsaktionärin ist die Holding für Versorgung und Verkehr GmbH Bochum. Am 17. 4. 2002 schloss die Mehrheitsaktionärin einen Gewinnabführungsvertrag mit dem Ziel, die von ihr getragenen Verluste der Beklagten steuerlich im Rahmen einer Organschaft geltend machen zu können. Für außenstehende Aktionäre wie für die Klägerin sah der Vertrag eine Abfindung von 180,– Euro je Stückaktie und einen Ausgleich von „0“ vor; beide Beträge hatte der gerichtlich bestellte Vertragsprüfer für angemessen erachtet. die Hauptversammlung der Beklagten stimmte diesem Vertrag – bei einer Gegenstimme – zu, die Klägerin legte Widerspruch zu notariellem Protokoll ein. Sie will die Nichtigerklärung des Zustimmungsbeschlusses erreichen und vertritt die Auffassung, ein Ausgleich „0“ sei keine zulässige Festlegung im Rahmen des § 304 Abs. 1 Satz 1 AktG. Damit hat sie weder bei dem Landgericht noch bei dem Oberlandesgericht Zustimmung gefunden. Der Senat hat die Revision zugelassen und dies – ungewöhnlicherweise – näher erläutert, indem er ausgeführt hat, die Sache werde, zu ergänzen ist: „nur“, wegen Grundsätzlichkeit – „Zulässigkeit eines ‚Nullausgleichs‘ im Rahmen des § 304 AktG“ – zugelassen. Dementsprechend ist die Revision zurückgewiesen worden. Jeder Gewinnabführungsvertrag muss eine Entscheidung über den Ausgleich nach § 304 AktG für die außenstehenden Aktionäre enthalten. Denn diese wiederkehrenden Ausgleichszahlungen sind der Ersatz für die infolge eines solchen Unternehmensvertrages ausfallende Dividende. Dem gesetzlichen Formerfordernis ist durch die Festsetzung des entsprechenden Betrages mit „0“ genügt. Die entscheidende Frage geht deswegen dahin, ob bei nicht nur formaler Betrachtung „Ausgleich“ im Sinne des Gesetzes immer nur ein positiver Wert sein kann. Das hat die Klägerin für sich reklamiert und sich darauf berufen, ihr müsse eine attraktive Alternative zur Abfindung gegen Übertragung der Aktien geboten werden, deswegen müsse sich der Mindestausgleich an der marktüblichen Verzinsung des Liquidationswertes der Gesellschaft orientieren. Der II. Zivilsenat hat dies anders beurteilt: Der Ausgleich soll einen Ersatz für die ausfallende Dividende29 geben, den außenstehenden Aktionär also 28 Urt. v. 13. 2. 2006 – II ZR 392/03, ZIP 2006, 663; vgl. dazu die Anm. v. Bungert, BB 2006, 1129; Hirte, EWiR 2006, 291; Terlau, BGHReport 2006, 717. 29 Begr.RegE, in: Kropff, Aktiengesetz, 1965, S. 394 f.

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so stellen, als sei es nicht zu einem Unternehmensvertrag gekommen. Bei einer dauerhaft defi zitären Gesellschaft ist die Dividendenerwartung aber „0“, so dass der Aktionär durch den Vertrag nicht schlechter gestellt wird, also keinen Nachteil erleidet. Einen Vorteil gegenüber dem status quo ante soll er aber nicht erzielen, darauf läuft jedoch das petitum der Klägerin hinaus. Dieses Verständnis der Bedeutung des Ausgleichs bedingt zugleich, dass bei einem dauerhaft defi zitären Unternehmen die angebotene Abfindung für den außenstehenden Aktionär interessanter sein kann, als der Ausgleich. Ob dessen Bemessung mit „0“ sachlich zutreffend ist, muss im Spruchverfahren geklärt werden; dasselbe gilt auch für die in dem Anfechtungsverfahren problematisierte Frage der Ertraglosigkeit der Gesellschaft. Die interessante Frage30, ob es – das muss dann natürlich generell für jede Ausgleichsfestsetzung und nicht nur beim Nullausgleich gelten – eine Pflicht zu regelmäßiger Überprüfung der Angemessenheit und – bei günstigerer Ertragsentwicklung als ursprünglich angenommen – zur Anpassung des Ausgleichsbetrages gibt, hatte der II. Zivilsenat mangels entsprechender Tatsachengrundlage nicht zu entscheiden,

3. T-Online/TeleCom31 Am 8. 3. 2005 haben die T-Online AG und die Deutsche Telekom AG, die mehr als 90 % von deren Grundkapital hielt, einen Verschmelzungsvertrag geschlossen, durch den – plakativ gesagt – die frühere Verselbständigung der erstgenannten Gesellschaft rückgängig gemacht werden sollte. Die Hauptversammlung der T-Online stimmte dem Vertrag mit einer Stimmenmehrheit von 99,46 % zu. 37 Aktionäre der T-Online haben gegen diesen Hauptversammlungsbeschluss Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage erhoben. Daraufhin hat T-Online das Freigabeverfahren nach § 16 Abs. 3 UmwG eingeleitet und in zweiter Instanz auch die Freigabe erreicht; das OLG als Beschwerdegericht hat „wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Fortbildung des Rechts“ die Rechtsbeschwerde zugelassen. Diese Möglichkeit haben mehr als 30 der Kläger ergriffen und – wie dies bei Rechtsmitteleinlegungen beim Bundesgerichtshof üblich ist – schon 30 S. dazu Bilda, in: MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2000, § 304 Rn. 91; Emmerich, in: Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 4. Aufl. 2005, § 304 Rn. 35; Lutter/Drygala, AG 1995, 49. 31 Beschl. v. 29. 5. 2006 – II ZB 5/06, ZIP 2006, 1151; die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung angenommen worden; vgl. dazu ferner Waclawik, ZIP 2006, 1428; Neye, WuB II P § 16 UmwG 1.06.

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bei der Einlegung der Rechtsbeschwerden die Verlängerung der nach der ZPO hier einen Monat betragenden Begründungsfrist um zwei Monate beantragt. Diesem Antrag – und damit bin ich gleich bei den vordergründigen im Prozessrecht angesiedelten Problemen dieses Rechtsbeschwerdeverfahrens – konnte nicht entsprochen werden, wenn man nicht die Ziele gänzlich aus den Augen verlieren wollte, die der Gesetzgeber mit der Schaffung des Freigabeverfahrens verfolgt hat. Unsere BGH-Anwälte haben denn auch binnen kürzester Frist ihre Begründungen eingereicht, so dass der Senat bereits am 29. 5. 2006 über diese Rechtsmittel entscheiden und den Schwebezustand, dass zwar freigegeben war, die Eintragung aber gleichwohl nicht vorgenommen wurde, beenden konnte. Wenn ich davon gesprochen habe, dass im Vordergrund des Falles prozessuale Fragen gestanden haben, dann beruht dies darauf, dass das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerden zugelassen hatte und der Wortlaut des vor einigen Jahren neugefassten § 574 Abs. 1 ZPO die von den Beschwerdeführern natürlich vehement verfochtene Annahme nahe legen könnte, der II. Zivilsenat sei an diese Zulassung gebunden. Der Senat hat das entscheidend auf den Wortlaut abstellende Verständnis für nicht richtig gehalten, dabei aber nicht etwa – wie dies in einer Stellungnahme zu unserem Beschluss interpretiert worden ist32 – dem Gesetzgeber der neugefassten ZPO ein Redaktionsversehen angelastet. Vielmehr ergibt die Analyse des Normengefüges unter Einbeziehung der Entstehungsgeschichte den Befund, dass es neben den beiden in § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 ZPO geregelten Tatbeständen einen unbenannten dritten Bereich gibt, in dem das Gesetz die Frage der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde im negativen Sinn entschieden hat. Das bedeutet allerdings nicht, dass nur bei einer ausdrücklichen Anordnung – wie jetzt in § 148 Abs. 2 Satz 6 AktG – die Rechtsbeschwerde nicht stattfi ndet; vielmehr gibt es einen weiteren Bereich, in dem der Gesetzgeber eine Rechtsbeschwerde selbstverständlich, weil aus der Natur der Sache geboten, nicht zulässt. Ein solches Verfahren, bei dem nach dem Willen des Gesetzgebers ein Rechtsbeschwerdeverfahren aus der Natur der Sache ausscheiden muss, ist auch das Freigabeverfahren nach § 16 Abs. 3 UmwG. Es dient dazu, einen Ausgleich zwischen den Interessen der überstimmten Aktionäre, überprüfen zu lassen, ob die Mehrheit Gesetz und Satzung beachtet hat, einerseits und der Mehrheit an der möglichst unverzögerten Durchführung der beschlossenen Maßnahme andererseits herzustellen; gleichzeitig soll der Gefahr begegnet werden, dass einzelne Anteilsinhaber mit Hilfe der durch 32 Unzutreffend Gehrlein, BB 2006, 1587.

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das Beschlussmängelverfahren zwangsläufig eintretenden Verzögerung der Umsetzung der beschlossenen Maßnahme eine Verhinderungsmacht aufbauen und diese zweckwidrig zur Durchsetzung eigener, verfahrensfremder Belange auszunutzen versuchen. Zur Erreichung dieser Ziele erschien es dem Gesetzgeber im Anschluss an die am 2. 7. 1990 ergangene Entscheidung33 des Senats sachgerecht, ein an die Regeln des einstweiligen Verfügungsverfahrens angelehntes Verfahren zu schaffen, bei dem eine mündliche Verhandlung nicht vorgeschrieben ist, Erleichterungen bei der Beweisführung vorgesehen und für das vor allem bewusst angeordnet worden war, dass mit der zweitinstanzlichen Entscheidung über die Freigabe dieses besondere Verfahren bestandkräftig abgeschlossen ist. Der Senat hat keinerlei Anhaltspunkte dafür finden können, dass an dieser bewährten und sachgerechten Regelung durch die ZPO-Reform etwas hat geändert werden sollen. Die Annahme, dass das Freigabeverfahren in die Kategorie der Gestaltungen fällt, in denen aus der Natur der Sache die Eröffnung einer dritten Instanz ausscheiden muss, wird bestätigt durch die jüngsten Bestrebungen des Gesetzgebers auf gesellschaftsrechtlichem Gebiet, die gerade darauf abzielen, bestimmten Auswüchsen der Verfolgung von Minderheitenrechten einen Riegel vorzuschieben34. Wenn das Berufungsgericht demgegenüber mit § 148 Abs. 2 Satz 6 AktG – dort ist die Rechtsbeschwerde ausdrücklich ausgeschlossen – gegenüber § 16 Abs. 3 UmwG und § 246a AktG im Sinne eines Gegenschlusses argumentieren will, legt es Maßstäbe an Konsequenz und Konsistenz der verschiedenen Regelungen an, die für die klassischen Kodifikationen am Ende des 19. Jahrhunderts selbstverständlich gelten, den völlig veränderten Bedingungen aber nicht gerecht werden, unter denen heute Gesetze geschaffen werden.

4. Beratungsvertrag und Aufsichtsrat 35 Aufsichtsratsmitglieder tragen – das ist in den zurückliegenden Jahren immer stärker in das Bewusstsein gedrungen – für die Entwicklung einer Gesellschaft hohe Verantwortung. Es geht nicht allein um die reaktive Prüfung, sondern auch um die vorausschauende, auch die Beratung einschließende Begleitung der Entscheidungen der Leitungsorgane. Dieser 33 BGHZ 112, 9. 34 Vgl. § 246a Abs. 3 Satz 5 AktG und die Reformbestrebungen in dem Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des UmwG; s. dazu auch Waclawik, DStR 2006, 2177 m. w. N. 35 Urt. v. 3. 7. 2006 – II ZR 151/04, ZIP 2006, 1529.

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Verantwortung werden die Mitglieder das Aufsichtsrats nicht allein durch ihre besonderen Kenntnisse und Erfahrungen, sondern vor allem dadurch gerecht, dass sie ihre Aufgaben weisungsfrei und in Unabhängigkeit wahrnehmen. In diesem Kontext fi nden sich die – einen sensiblen Bereich der Unternehmensführung betreffenden – §§ 113–115 AktG. Der Gesetzgeber sieht, dass die den Mitgliedern des Kontrollgremiums zu gewährende Vergütung – will man Interessenkonflikte schon im Ansatz vermeiden – nicht von dem Vorstand, sondern von der Hauptversammlung festzulegen ist, und er trifft Vorkehrungen dagegen, dass die Unabhängigkeit der Wahrnehmung der Kontrollaufgabe negativ auf verschwiegenen Nebenkriegsschauplätzen beeinflusst wird, indem er Publizität und die Einschaltung des Aufsichtsrats als Ganzem beim Abschluss von Verträgen betreffend die Leistung höherer Dienste mit einen Aufsichtsratsmitglied oder bei der Kreditvergabe fordert. Flankiert wird dies durch die Pflicht der Erstattung von Honoraren, die an ein Mitglied des Aufsichtsrats gezahlt worden sind, ohne dass der Aufsichtsrat dem Vertrag zugestimmt hat. Zustimmungsfähig sind aber nur solche Vertragsgestaltungen, bei denen die höheren Dienste – wie es im Gesetz heißt – „außerhalb seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat“ zu erbringen sind, was zu der Frage führen muss, wie denn diese „außerhalb“ stattfindende Tätigkeit beschrieben sein muss. Diese Fragen spielten in dem folgenden Fall eine Rolle; über ein weiteres, etwa anders gelagertes Revisionsverfahren wird der Senat im November zu verhandeln und zu entscheiden haben. Der Beklagte zu 2), Herr N, war von 1987 bis zum 1. 9. 2000 Mitglied und Vorsitzender des Aufsichtsrates der klagenden AG. Die Beklagte zu 1), eine Steuerberatungs-GmbH, deren sämtliche Anteile er hält, ist wegen insolvenzbedingter Verfahrensunterbrechung am Revisionsverfahren nicht beteiligt gewesen. Sie war schon vor der Aufnahme der Aufsichtsrats-Tätigkeit ihres Alleingesellschafters für die Klägerin tätig gewesen, ohne dass ein schriftlicher Beratungsvertrag existiert hätte. Der Aufsichtsrat fasste am 15. 5. 1987 einen Beschluss über die „Genehmigung und Erweiterung des Beratervertrages“; ob er formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist, ist zwischen den Parteien umstritten. Am folgenden Tag wurde zwischen der Steuerberatungs-GmbH und der Klägerin ein Beratungsvertrag geschlossen, nach dem die Beklagte zu 1) „im bisherigen Umfang in betriebswirtschaftlichen und steuerrechtlichen Fragen in der BRD“ beraten und das Honorar dafür „wie bisher nach vereinbarten Tagessätzen und nachgewiesenen Kosten“ abrechnen sollte. Vorgesehen war ferner die Einschaltung der Beratungsgesellschaft in die Beratung der ausländischen

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Töchter der Klin. und die Vorbereitung der Konzernbilanz. 1992 wurde das Honorar auf Pauschalleistungen (250 000 DM zzgl. MWSt.) umgestellt. Diese Änderung sollte durch Aufsichtsratsbeschluss vom 28. 4. 2000 genehmigt werden; der gefasste Beschluss wurde indessen für nichtig erklärt. Die Klägerin fordert von beiden Beklagten Rückzahlung der der Höhe nach unstreitigen Honorare und beruft sich dabei auf § 114 Abs. 2 Satz 1 AktG. Vor dem LG hat der Beklagte obsiegt, das Berufungsgericht hat ihn dagegen verurteilt und die Revision zugelassen. Der II. Zivilsenat hat die Revision des Beklagten N zurückgewiesen. Dass ein Vertrag, nach dem das Aufsichtsratsmitglied einer Aktiengesellschaft die Gesellschaft „in betriebswirtschaftlichen und steuerrechtlichen Fragen beraten“ soll, mangels Abgrenzung gegenüber der Organtätigkeit des Aufsichtsrats gegen § 113 AktG verstößt und einer Zustimmung durch den Aufsichtsrat als Gesamtorgan gemäß § 114 Abs. 1 AktG nicht zugänglich ist, hat der Senat sinngemäß schon früher ausgesprochen36. Davon kann der Beklagte zu 2) schwerlich überrascht worden sein. Schwerpunktmäßig verteidigte er sich deswegen gegen die Verurteilung damit, anders als es in § 115 Abs. 2 AktG ausdrücklich bestimmt ist, fehle eine entsprechende Anordnung in § 114 AktG, so dass der zwischen der Aktiengesellschaft und der ihm als Alleingesellschafter gehörenden Steuerberatungsgesellschaft geschlossene Beratungsvertrag von § 114 AktG nicht erfasst werde. Dieses bei einer Wortlautinterpretation stehen bleibende Verständnis ist wie bei der Interpretation des § 574 ZPO (s. oben II. 3), so auch in diesem Zusammenhang nicht überzeugend. Vielmehr ist ein Umgehungsschutz auch bei einem Vertragsschluss der hier gegebenen Art unerlässlich. Folge ist, dass der Beklagte N nicht etwa nur nach Bereicherungsrecht, sondern nach der Spezialnorm des § 114 Abs. 2 AktG erstattungspflichtig ist. Und diese Erstattungspflicht erfasst auch die Zeitabschnitte, in denen N nicht wirksam zum Aufsichtsratsmitglied gewählt worden war, aber das Amt so wahrgenommen hat, als sei der Fehler bei der Wahl nicht geschehen. Nach unserem Urteil greift der Umgehungsschutz jedenfalls zu Lasten eines Gesellschafters ein, der sämtliche Anteile an der beratenden Gesellschaft hält; in den Entscheidungsgründen ist auch davon die Rede, der beherrschende Gesellschafter sei der Erstattungspflicht ausgesetzt. Ob man daraus herleiten kann, ein Aufsichtsratsmitglied, das mit weniger als der Hälfte der 36 BGHZ 114, 127.

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Stimmrechte der beratenden Gesellschaft ausgestattet ist, müsse mit einer Inanspruchnahme nach § 114 Abs. 2 AktG nicht rechnen, wird man nur vor dem Hintergrund des Zwecks der §§ 113 ff. AktG beantworten können37.

5. Squeeze Out a) Im Liquidationsverfahren38 Fragen des vor einiger Zeit neu in das Gesetz eingeführten Squeeze OutVerfahrens beschäftigen den Senat bis in die jüngste Zeit, wobei wir die Beobachtung machen, dass die uns in der Regel schon früher als Kläger begegneten Aktionäre nach Art eines Rundumschlags immer wieder eine Vielzahl von angeblichen Fehlern auflisten. Dass die §§ 327a ff. AktG nicht verfassungswidrig sind, haben wir schon vor einiger Zeit ausgesprochen39; bis nicht auch das Bundesverfassungsgericht dazu Stellung genommen hat, wird uns dieser Einwand – schon um die Frage in den jeweiligen Prozessen offen zu halten – weiter begegnen. Ferner wird bemängelt, die Prüferbestellung durch das Landgericht auf Vorschlag der Hauptaktionärin sei nicht ordnungsgemäß und die übliche Parallelprüfung im Rahmen des § 327c Abs. 2 Satz 1 und 2 AktG sei ein Verstoß gegen § 327c Abs. 2 Satz 4 AktG, weil es sich dabei um eine unzulässige Mitwirkung am Bericht der Hauptaktionärin handele. Ähnlich wird öfter beanstandet, die Hauptaktionärin habe gar kein Stimmrecht besessen, weil sie die nach § 20 AktG erforderlichen Mitteilungen nicht erstattet habe. Zu einigen dieser Fragen hat sich der Senat in der am 18. 9. 2006 ergangenen DSL-Entscheidung geäußert. Es würde zu weit führen, hier zu den Einzelheiten Stellung zu nehmen. Wesentlich erscheint mir, dass unser Senat in diesem Urteil als Fazit der Abwägung der verschiedenen Argumente ausgesprochen hat, dass auch bei einer Gesellschaft – wie der beklagten DSL Holding AG –, die sich im Liquidationsverfahren befindet, der herrschende Gesellschafter das Squeeze Out-Verfahren einleiten kann.

37 Vgl. dazu jetzt das Urt. v. 20. 11. 2006 – II ZR 279/05, ZIP 2007, 22 (dazu Peltzer, ZIP 2007, 305), in welchem der Senat entscheidend nicht auf die Höhe der Beteiligung, sondern dem Zweck der §§ 113, 114 AktG entsprechend auf die Gefährdung der Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds durch parallel geschlossene Beratungsverträge mit der von dem Vorstand vertretenen AG abgestellt hat; über ein weiteres Revisionsverfahren aus dem Anwendungsbereich der §§ 113, 114 AktG (II ZR 325/05) wird der Senat im April 2007 verhandeln und entscheiden. 38 Urt. v. 18. 9. 2006 – II ZR 225/04, ZIP 2006, 2080 („DSL“); vgl. dazu Wilsing, DB 2006, 2509; Goslar, EWiR 2006, 673. 39 Beschl. v. 25. 7. 2005 und v. 25. 10. 2005 – II ZR 327/03, ZIP 2005, 2107.

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b) Fortsetzung des Beschlussmängelverfahrens nach zwischenzeitlich durchgeführtem Squeeze Out 40 Am 9. Oktober hat der Senat über die Frage entschieden, ob ein schwebendes Verfahren, in dem Aktionäre gegen einen Hauptversammlungsbeschluss vorgehen, durch einen späteren – wirksam durchgeführten – Squeeze Out überholt wird. Die MASSA AG, deren Hauptaktionärin damals mit rund 96 % des Grundkapitals die METRO AG war, gliederte ihre 15 SB-Warenhäuser nebst allen Aktiven in eine GmbH & Co. KG aus und verkaufte anschließend die Kommanditbeteiligung und die Geschäftsanteile der Komplementär-GmbH an die Hauptaktionärin zum Preis von 295 Mio. DM. Die Hauptversammlung vom 23. 5. 1997 erteilte zur Ausgliederung, zur Einbringung und zur Veräußerung der Gesellschaften ihre Zustimmung. Minderheitsaktionäre, u. a. die Kläger, erhoben Widerspruch zu Protokoll des Notars und sodann Klage gegen diese Beschlüsse, die sie auf verschiedene Verstöße gegen Gesetz und Satzung gestützt haben; ein wesentlicher Punkt ist der Preis für die Veräußerung der Märkte: Die Kläger meinen, die Hauptaktionärin habe mit der Zustimmung in der Hauptversammlung Sondervorteile41 verfolgt, da sie die Unternehmen zu einem aus der Sicht der Verkäuferin zu geringen Preis übernommen habe. Während des Beschlussmängelverfahrens ist ein Squeeze Out durchgeführt worden, der durch Eintragung in das Handelsregister bestandskräftig geworden ist. Danach ist – ich vereinfache ein wenig – von der Hauptversammlung ein Bestätigungsbeschluss bezüglich der von den Minderheitsaktionären angegriffenen Beschlüsse vom 23. 5. 1997 gefasst worden. Das haben die Kläger, die parallel nach dem Squeeze Out-Beschluss ein Spruchverfahren betreiben, zum Anlass genommen, ihre bisherigen Anträge auf den Zeitraum bis zur Fassung des Bestätigungsbeschlusses zu beschränken. Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klagen abgewiesen. Das Landgericht hat dies in erster Linie mit dem Entfallen der Anfechtungsbefugnis durch das wirksame Ausschließungsverfahren, hilfsweise aber auch damit begründet, dass die Klagen unbegründet seien. Das Oberlandesgericht42, das die Revision zugelassen hat, ist auf diese – von den Klägern im Berufungsverfahren angegriffenen – Hilfserwägungen nicht eingegangen, sondern hat maßgeblich darauf abgestellt, dass die Kläger nicht mehr an40 Urt. v. 9. 10. 2006 – II ZR 46/05, ZIP 2006, 2167 („MASSA“); vgl. dazu Dreier, DB 2006, 2569; Baukelmann, jurisPR-BGHZivilR 50/2006 Anm. 3. 41 § 243 Abs. 2 AktG. 42 ZIP 2005, 714.

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fechtungsbefugt seien und ihnen für etwaige Feststellungsklagen des Feststellungsinteresse fehle. Auf die Revision der Kläger hat unser Senat das Berufungsurteil bis auf einen Punkt, in dem das Rechtsmittel zweier Kläger keinen Erfolg hatte, aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Er hat zunächst zu der Frage Stellung genommen, ob und gfs. unter welchen Voraussetzungen auch nach einem wirksamen Zwangsausschluss die früheren Minderheitsaktionäre ihre gegen die Hauptversammlungsbeschlüsse gerichteten Klagen weiter verfolgen dürfen. Zum GmbH-Recht hat er vor vielen Jahren – dabei einer vom RG zum Genossenschaftsrecht entwickelten Linie folgend – entschieden, dass ein Gesellschafter, der seinen Anteil veräußert, eine vorher angestrengte Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage in entsprechender Anwendung von § 265 Abs. 2 ZPO fortführen kann, wenn und soweit er daran noch ein rechtliches Interesse hat43. In dieser Entscheidung hat der Senat die damals noch herrschende Ansicht referiert, dass dies für das Aktienrecht nicht gelten könne. Das Berufungsgericht hat – der mittlerweile herrschenden Ansicht im Aktienrecht44 folgend – angenommen, auch für das Aktienrecht seien dieselben Grundsätze heranzuziehen. Dagegen haben sich die Revisionskläger natürlich nicht gewandt, der Senat hält diesen Ausgangspunkt auch für richtig, weil es keinen vernünftigen Grund gibt, für das Beschlussmängelrecht des GmbH-Rechts, das bekanntlich aus der analogen Anwendung der aktienrechtlichen Bestimmungen entwickelt worden ist45, andere Regeln anzuwenden als für die Aktiengesellschaft. Was für eine freiwillige Veräußerung des Geschäftsanteils oder der Aktie gilt, muss erst recht dann Platz greifen, wenn der Gesellschafter sich – wie im Rahmen des Squeeze Out – nicht freiwillig von seiner Beteiligung trennt, sondern dazu gezwungen wird. Die entscheidende Frage ging deswegen dahin, ob der ehemalige Aktionär ein berechtigtes Interesse an der Fortführung des Beschlussmängelstreits besitzt. Das kann nach unserer Überzeugung nicht generell-abstrakt, sondern nur nach den Verhältnissen des Einzelfalls bestimmt werden. In dem MASSA-Fall hat unser Senat gemeint, dass dieses Fortführungsinteresse 43 BGHZ 43, 261, 266 ff. 44 Vgl. Hüffer, AktG, 7. Aufl. 2006, § 245 Rn. 8; K. Schmidt, in: Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1996, § 245 Rn. 17; Zöllner, in: KölnKomm.AktG, 1. Aufl. 1970 ff., § 245 Rn. 23; Heise/Dreier, BB 2004, 1126. 45 Vgl. Goette, Die GmbH, 2. Aufl. 2002, § 7 Rn. 78 ff. m. w. N.

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insoweit zu bejahen ist, als ein positiver Ausgang des Rechtsstreits geeignet ist, das nun noch allein relevante Interesse der Kläger an einer möglichst hohen Abfindung nach dem Squeeze Out zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Dies trifft für den Nichtigkeitsgrund des § 243 Abs. 2 AktG – die Stimmabgabe zur Erzielung von Sondervorteilen –, auf den sich die Kläger berufen haben, zu. Denn bezogen auf den für die Bemessung ihrer Barabfindung nach dem Squeeze Out-Verfahren maßgeblichen Stichtag würde ein klagestattgebendes Urteil erhebliche Auswirkungen auf die Bemessung der Abfi ndung haben. Zu den Aktiva zählten dann nämlich die Bereicherungsansprüche auf Rückabwicklung der Vermögensübertragungen, wobei nicht von dem Kaufpreis von 295 Mio. DM, sondern von dem wirklichen Wert – der Gutachter hatte eine Zahl von 374 Mio. DM in den Raum gestellt – auszugehen wäre. Wollte man das Berufungsurteil rechtskräftig werden lassen, wäre von dem empfangenen – nach dem Vortrag der Kläger zu niedrigen – Kaufpreis auszugehen mit Folgen für die Wahrung des Eigentumsrechts der Aktionäre. Nun hat das Berufungsgericht gemeint, diese Frage könne ohne weiteres auch im Spruchverfahren geklärt werden. Dem kann man schon deswegen nicht zustimmen, weil ein etwa zugunsten der klagenden Minderheitsaktionäre ergehendes Urteil des Prozessgerichts auch vom Spruchgericht zu beachten wäre. Schließlich können die Aktionäre auch schwerlich auf Ansprüche gegen die Hauptaktionärin nach §§ 311 AktG verwiesen werden: Dies würde einen neuen Prozess erfordern, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der negative Ausgang des Anfechtungsprozesses Ausstrahlungswirkung auf den Schadenersatzprozess hat. Schließlich zum Bestätigungsbeschluss nach § 244 AktG: Unterstellt man, wie für die revisionsgerichtliche Entscheidung geboten, dass die METRO AG bei der Stimmabgabe Sondervorteile verfolgt hat, liegt ein Inhaltsmangel vor, der durch Bestätigung nicht geheilt werden kann. Unter dem Gesichtspunkt eines Fortführungsinteresses ist dagegen die Klage gegen TOP 7 durch den wirksamen Squeeze Out-Beschluss unzulässig geworden. Es handelt sich bei den hier gegebenen Beschlussgegenständen – Änderung des Geschäftsjahres und des Unternehmensgegenstandes – um rein formale Satzungsänderungen, für die eine Auswirkung auf das allein noch in Rede stehende Barabfi ndungsrecht der Kläger nicht ersichtlich ist.

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6. Stimmloser Beschluss46 Die Beklagte ist von zwei Aktionärinnen, der Klägerin, welche 49 %, und der Landesbank Sachsen-Girozentrale, welche 51 % des Grundkapitals hält, gegründet worden. In zwei Hauptversammlungen vom 20. 8. 2003 und 30. 9. 2003 sind Beschlüsse gegen die Stimmen der Klägerin gefasst worden (Entlastungsverweigerung und Entlastung bzw. Kapitalerhöhung). Hiergegen hat die Klägerin jeweils Widerspruch zur Niederschrift erhoben und am 19. 9. 2003 bzw. 28. 10. 2003 Klage eingereicht. Unstreitig hatte die Klägerin die Mitteilung nach § 20 Abs. 1 AktG nicht abgegeben. Das hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 9. 12. 2003 gerügt, woraufhin die Klägerin das Versäumte am 12. 2. 2004 „vorsorglich“ nachgeholt hat. Mit Schriftsatz vom 17. 5. 2004 hat sie ihrerseits geltend gemacht, auch die andere Aktionärin habe die Mitteilung nicht gemacht. Das Berufungsgericht hat nach Beweisaufnahme die Beklagte für beweisfällig gehalten, dass sie die Mitteilung der Landesbank vor den maßgeblichen Hauptversammlungen erhalten habe, und ist dementsprechend davon ausgegangen, dass beide Aktionärinnen nicht stimmberechtigt waren, also ein sog. „stimmloser“ Beschluss gefasst worden ist. Es hat den hilfsweise gestellten Anfechtungsanträgen entsprochen und die Revision zugelassen. Auf das Rechtsmittel der Beklagten hat der II. Zivilsenat das landgerichtliche Urteil wieder hergestellt. Was die Erfüllung der Mitteilungspflichten anbetrifft, waren beide Aktionärinnen mitteilungspflichtig. Diese Mitteilungspflicht entfällt weder deswegen, weil es um Mitteilungen von Gründungsgesellschaftern geht, noch im Hinblick darauf, dass für börsennotierte Gesellschaften die Mitteilungspflichten durch § 20 Abs. 8 AktG suspendiert sind und exklusiv im WpHG geregelt sind: Die Beklagte war keine börsennotierte Gesellschaft. Dass auch Gründungsgesellschafter mitteilungspflichtig sind, obwohl sich ihre Beteiligung aus dem notariellen Gründungsprotokoll ergibt, hat der Senat aus dem Zweck der zwingend ausgestalteten Mitteilungspflicht – Aktionäre, Gläubiger und die Öffentlichkeit sollen über bestehende oder entstehende Konzernbildungen unterrichtet werden – und daraus hergeleitet, dass die der Befriedigung dieses Informationsbedürfnisses dienende

46 Urt. v. 24. 4. 2006 – II ZR 30/05, ZIP 2006, 1134, s. dazu die Anm. v. Theusinger, BB 2006, 1408; Wilsing, EWiR 2006, 449; Lenenbach, WuB II A § 20 AktG 1.06 und Riehmer, BGHReport 2006, 1033.

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Veröffentlichungspflicht in den Gesellschaftsblättern nach § 20 Abs. 6 AktG die vorherige schriftliche Mitteilung voraussetzt. Die Verletzung der Mitteilungspflichten zieht als Rechtsfolge nach § 20 Abs. 7 AktG den Verlust sämtlicher aus der Aktie hergeleiteten Befugnisse nach sich, das bedeutet: kein Stimmrecht, aber auch kein Anfechtungsrecht. Das hat auch das Berufungsgericht ebenso beurteilt, dann aber gemeint, der Mangel der Stimmlosigkeit erfordere besondere Reaktionen, deswegen müsse die Anfechtungsbefugnis ausnahmsweise anerkannt werden. Der Senat hat Zweifel daran geäußert, ob für eine solche, den Normbefehl suspendierende Ausnahme überhaupt Raum ist, hat die Frage aber unentschieden lassen können, weil das Berufungsurteil schon unabhängig davon keinen Bestand haben kann. Ein stimmlos gefasster Beschluss ist nicht nichtig. Er leidet an einem Mangel, wie wir ihn bei fehlerhafter Stimmauszählung – etwa in Form der Missachtung von Stimmverboten – kennen. Hier entspricht es allgemeiner Ansicht und gefestigter Rechtsprechung, dass ein derartiger Fehler nur die Anfechtbarkeit des Beschlusses zur Folge hat. Stimmlosigkeit ist kein – ungeschriebener – Nichtigkeitsgrund. Dementsprechend hätte die Anfechtungsklage nur Erfolg haben können, wenn sie fristgerecht erhoben worden wäre, wenn also binnen der Monatsfrist der Anfechtungsgrund in seinem wesentlichen tatsächlichen Kern in den Rechtsstreit eingeführt worden wäre. Da es hieran fehlt – es sind sechs Monate seit der Klageerhebung vergangen, ehe dieser Sachverhalt in den Prozess eingeführt worden ist –, ist die Klage in jedem Fall abzuweisen.

7. WMF – Acting in Concert 47 Zur Zuständigkeit des II. Zivilsenat gehören neben den eigentlichen gesellschaftsrechtlichen Materien auch die Verfahren, in denen über Schadenersatzansprüche aufgrund von Verstößen gegen gesetzliche Vorschriften zum Schutz von Kapitalanlegern – soweit sie gesellschaftsrechtlich48 fundiert sind – zu befi nden ist. Unter diese Kategorie fällt auch § 38 WpÜG, eine Vorschrift, nach welcher u. a. derjenige, der nach dem Gesetz verpflichtet ist, den Aktionären der Zielgesellschaft ein Übernahmeangebot zu unterbreiten, dieser Verpflichtung aber nicht nachkommt, Zinsen auf die lege artis geschuldete Gegenleistung zu zahlen hat. Mit dieser Bestimmung und – da es um die Klärung geht, ob überhaupt eine Angebotspflicht 47 Urt. v. 18. 9. 2006 – II ZR 137/05, ZIP 2006, 2197 („WMF“); dazu Kocher, BB 2006, 2436; Uwe H. Schneider, ZGR 2007, Heft 3. 48 Im Übrigen liegt sie beim XI. Zivilsenat.

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bestand – um das Problem des sog. Acting in Concert war der II. Zivilsenat erstmals in seinem am 18. 9. 2006 ergangenen Urteil befasst. Die Klägerin, die Beklagte und ihre beiden Streithelferinnen sind unmittelbare oder mittelbare Aktionäre der dem MitbestimmungsG unterliegenden WMF AG. Die Klägerin hält dabei gut 33 %, die drei anderen Beteiligten je 17 % oder etwas mehr als 17 % des Grundkapitals. Die übrige Beteiligung von weniger als 15 % befindet sich im Streubesitz. Die Beklagte und ihre beiden Streithelferinnen – im folgenden bezeichne ich sie als Finanzinvestoren – haben ihre Aktienpakete im Jahr 1993 von der Unternehmensgruppe Dr. Schuppli erworben; diese steht hinter der Klägerin. Man traf gleichzeitig eine Abrede betreffend die wechselseitige Einräumung von Vorkaufsrechten und kam überein, bei den Aufsichtsratswahlen gemeinsam abzustimmen; gleichzeitig wurden „Entsendungsrechte“ für die Vertreter der Anteilseignerseite verabredet und eine Regelung für die Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und seines zweiten Vertreters getroffen. 2002 versuchten die beiden Streithelferinnen und die Klägerin, – damals vergeblich – ihre Beteiligungen zu veräußern. Im Hinblick auf die bestehenden vertraglichen Verflechtungen liegt es nahe, dass daraus Differenzen entstanden sind, die auch auf die Mitte Juni 2003 anstehenden Aufsichtsrats-Wahlen ausgestrahlt haben. Die Vereinbarung aus dem Jahr 1993 wurde aufgehoben, gleichzeitig aber erneut verabredet, welche Personen von der Anteilseignerseite in den Aufsichtsrat gewählt werden sollten; über die Besetzung der Position des Aufsichtsrats-Vorsitzenden kam dagegen keine Übereinkunft zustande, weil jede Gruppe verhindern wollte, dass eine der anderen Seite nahestehende Person diese Position erhalten sollte. Die Finanzinvestoren einigten sich deswegen auf einen Kompromisskandidaten und verlangten von der anderen Seite, es müsse seitens der Anteilseignerseite einstimmig abgestimmt werden, anderenfalls man die Besetzung des Postens des zweiten stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden durch den vorgesehenen Vertreter der Seite der Klägerin nicht nur nicht hinnehmen, sondern diese Position überhaupt abschaffen lassen werde. Dem beugte sich die Schuppli-Gruppe letztlich, die Aufsichtsratsmitglieder wurden der Abrede gemäß von der Hauptversammlung gewählt. Der Aufsichtsrat bestimmte den Kompromisskandidaten A zum Vorsitzenden und – wie vorgesehen – die Vertrauensperson der Klägerin zu seinem 2. Stellvertreter – hierbei stimmten auch die von der Klägerin „entsandten“ Mitglieder des Aufsichtsrats mit den anderen Vertretern der Anteilseignerseite. Die Klägerin sieht in dem Verhalten der Beklagten und der beiden anderen Finanzinvestoren ein Verhalten, das als Übernahme der Kontrolle über die

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WMF AG im Sinne der Bestimmungen des WpÜG anzusehen ist. Sie meint, die Beklagte habe deswegen eine Anzeige machen und nach § 35 Abs. 2 Satz 1 WpÜG ein Übernahmeangebot den anderen Aktionären, also auch ihr unterbreiten müssen. Da die Beklagte hiergegen verstoßen habe, sei sie nach § 38 WpÜG zur Zahlung von Zinsen auf die anzubietende angemessene Gegenleistung für deren Aktien verpflichtet. Dementsprechend hat sie Zahlung von 200 000 Euro gefordert. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht hat ihr entsprochen und die Revision zugelassen. Der II. Zivilsenat hat das klageabweisende erstinstanzliche Urteil wieder hergestellt, weil ein Anspruch auf Zahlung von Zinsen nach der genannten Vorschrift aus mehreren – voneinander unabhängigen – Gründen nicht besteht. Zunächst hat der Senat die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung § 38 WpÜG eigentlich hat. In Teilen des Schrifttums49 wird die Ansicht vertreten, die Bestimmung räume einen selbständig durchsetzbaren Anspruch der Aktionäre gegen den zur Abgabe eine Übernahmeangebots Verpflichteten ein. Der Text der Vorschrift zwingt nicht unbedingt zu dieser Interpretation und in der Gesetzesbegründung50 finden sich durchaus Anhaltspunkte dafür, dass es sich nur um eine unselbständige Nebenforderung für die zu erbringende Gegenleistung handelt. M. a. W. würde bei dieser – in der Literatur51 ebenfalls vertretenen – Interpretation die Anwendung der Zinsvorschrift voraussetzen, dass überhaupt ein Angebot unterbreitet und von den betroffenen Aktionären angenommen worden ist. Wollte man § 38 WpÜG in diesem Sinn verstehen, wäre das Berufungsurteil schon wegen des fehlenden Hauptanspruchs der Klägerin unbegründet. Das Berufungsgericht hat, ohne die Frage zu problematisieren als selbstverständlich die erste Ansicht zugrunde gelegt. Wir haben geglaubt, die Streitfrage in dem WMF-Fall nicht entscheiden zu müssen52 . Denn auch bei Zugrundelegen des Verständnisses, mit § 38 WpÜG solle eine Sanktion in Gestalt der Zinszahlungspflicht für das Unterlassen eines

49 Ihrig, ZHR 167 (2003), 315, 347 f.; Hecker, in: Baums/Thoma, WpÜG, Loseblatt, § 38 Rn. 10; Kremer/Oesterhaus, in: KölnKomm.WpÜG, 2002, § 38 Rn. 25; Ekkenga, in: Ehricke/Ekkenga/Oechsler, WpÜG, 2003, § 38 Rn. 3. 50 BR-Drucks. 574/01, S. 152. 51 Z. B. Hommelhoff/Witt, in: Haarmann/Riehmer/Schüppen, Öffentliche Übernahmeangebote, 2. Aufl. 2005, § 38 Rn. 22; Noack, in: Schwark, Kapitalmarktrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2004, § 38 WpÜG Rn. 9; noch anders der Ansatz bei Simon, NZG 2005, 541, 543. 52 Dies ausdrücklich begrüßend Uwe H. Schneider (Fn. 47).

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gebotenen Übernahmeangebots geschaffen werden, fehlen andere wesentliche Voraussetzungen dafür, der Klage stattzugeben. In dem WMF-Fall handelt es sich nicht um einem Kontrollerwerb durch einen Bieter in dem klassischen Sinn des Gesetzes, vielmehr gelangt man zum Kontrollerwerb nur, wenn man den Anteilen der Beklagten die derjenigen Aktionäre hinzurechnet, die mit ihr abgestimmt vorgegangen sind, die also an dem sog. Acting in Concert beteiligt waren. An den Absprachen – das gilt vor allem für diejenigen betreffend die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder durch die Hauptversammlung – war aber auch die Klägerin selbst beteiligt, die sich im Widerspruch dazu nun sozusagen als „Opfer“ jener Abreden darstellen und daraus, dem Zweck der Vorschrift zuwider, Vorteile für sich gewinnen will53. Von außen scheint es ein wenig so, als solle von der Seite der Klägerin der Verkauf ihres Aktienpakets, der bisher an den widerstreitenden Interessen der Finanzinvestoren gescheitert war, nun mit den Zwangsmitteln des WpÜG betrieben werden. Da es bei der Zurechnungsvorschrift des § 30 Abs. 2 Satz 1 WpÜG grundsätzlich nicht darauf ankommt, aus welchen Motiven die Koordinierung stattfindet, sondern das Ergebnis – die Störung der freien Meinungsbildung in der Hauptversammlung – entscheidend ist, kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, sie habe sich an dem gemeinsamen Vorgehen nicht aus freien Stücken beteiligt. Ob für eine Drohung mit der Qualität des § 123 BGB etwa anders gelten kann, wie im Schrifttum vertreten wird, hatte unser Senat nicht zu entscheiden; die festgestellten Tatsachen gaben dafür nichts her, vielmehr haben im innergesellschaftlichen Machtkampf um Einfluss und Aufbau von Gegenmacht die Klägerin und die Finanzinvestoren der jeweiligen Gegenseite lediglich bedeutet, dass sie sich mit ihren Maximalforderungen nicht werden durchsetzen können. Das Ergebnis des abgestimmten Verhaltens ist danach eben auch ein Kompromiss, der die „Entsenderechte“ und die Schaffung der Position eines zweiten, von der Anteilseignerseite zu besetzenden und hier von der Schuppli-Gruppe zu benennenden stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden unangetastet lässt, sowohl der Seite der Klägerin wie der der Finanzinvestoren aber versagt, die ihnen am geeignetsten erscheinende Person als Vorsitzenden des Aufsichtsrats durchzusetzen. Ein weiterer – hiervon unabhängiger – Grund, warum das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft ist, liegt darin, dass dem Berufungsgericht – und wie das temperamentvolle Plädoyer des Vertreters der Klägerin in der 53 Zustimmend Uwe H. Schneider (Fn. 47).

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mündlichen Vorhandlung vor dem Senat gezeigt hat, auch der Klägerin – offenbar nicht bewusst gewesen ist, dass Aufsichtsratsmitglieder nach dem Gesetz unabhängig entscheiden, rechtlich nicht aber der verlängerte Arm derjenigen sind, die sie gewählt haben. Nur aus diesem Fehlverständnis54 her ist erklärlich, dass das Berufungsgericht den Zurechnungstatbestand des § 30 Abs. 2 Satz 1 WpÜG auch auf die Wahlen im Aufsichtsrat, um die allein es hier geht, anwenden will. Die genannte Bestimmung betrifft aber nach der zutreffenden h. M.55, die sich nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf den Sinn des Gesetzes stützen kann, allein die Stimmausübung in der Hauptversammlung, so dass – allenfalls – die Vorabsprache zu den Wahlen der Mitglieder des Aufsichtsrates als Fall des Acting in Concert eingeordnet werden kann. Dies war indessen nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens. Und schließlich: Selbst wenn man alles das, was bisher kritisch erörtert worden ist, so beurteilen wollte, wie das Berufungsgericht, dann unterläge dessen Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter § 30 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz WpÜG einem weiteren durchgreifenden Bedenken: Denn die Zurechnungsvorschrift soll nach dem Gesetz dann nicht eingreifen, wenn das abgestimmte Verhalten lediglich „in Einzelfällen“ stattfindet. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit ist „Einzelfall“ aber formell und nicht – wie die Klägerin mit Verve56 vertreten hat – nach dem Gewicht der beschlossenen Maßnahme zu bestimmen. Ein einmaliges Verabreden bezüglich der Abstimmung, um die es hier geht, reicht also nicht aus, ganz abgesehen davon, dass nicht einmal diejenigen Stimmen im Schrifttum, die für eine an dem materiellen Gewicht des Beschlussgegenstandes orientierte Betrachtung eintreten57, in der schlichten Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden eine weitreichende, konkret gefasste unternehmerische Absichten verfolgende Zielvereinbarung58 sehen würden, die ja nach ihrer Ansicht die Voraussetzung für die Zurechnung sein soll.

54 S. nur Lutter/Krieger, Rechte und Pfl ichten des Aufsichtsrats, 4. Aufl. 2002, Rn. 692 m. w. N.; Siebel, in: Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 2. Aufl. 2004, § 5 Rn. 7 ff. 55 Vgl. Hecker, in: Baums/Thoma (Fn. 49), § 38 Rn. 72, 79; Kuthe/Brockhaus, DB 2005, 1266 f.; Louven, BB 2005, 1414 f.; Weiler/Meyer, NZG 2003, 909 f. 56 Ähnlich Uwe H. Schneider (Fn. 47). 57 Zur Bedeutung einer standstill-Abrede vgl. beispielhaft v. Bülow, in: KölnKomm. WpÜG (Fn. 49), § 30 Rn. 124. 58 Einen derartigen „Gesamtplan“ fordert auch Uwe H. Schneider (Fn. 47).

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III. GmbH-rechtliche Fälle 1. Cash Pool und Kapitalaufbringung59 Am 16. 1. 2006 hat der Senat die im vergangenen Jahr bereits angekündigten60 Urteile über die Ordnungsgemäßheit der Kapitalaufbringung bei Vereinbarung eines Cash Pool-Systems zwischen Gesellschafter und Gesellschaft erlassen. Der Gesamtvollstreckungsverwalter der A GmbH forderte von deren beiden Gesellschaftern die Leistung der im Rahmen einer Kapitalerhöhung übernommenen Einlagen von je 750 000 DM. Die A war in ein Cash Pool-System eingebunden und hatte gegenüber der dasselbe steuernden Zentralgesellschaft einen erheblichen Negativsaldo aufgebaut. Dieser sollte auf dem Wege einer Kapitalerhöhung beseitigt werden. Auf Rat der Rechtsabteilung der Muttergesellschaft zahlten die beiden – letztlich die ganze Gruppe beherrschenden – Gesellschafter, die die neuen Einlagen übernommen hatten, die geschuldete Einlage nicht sogleich auf das Geschäftskonto der Schuldnerin – die Problematik des Hin- und Herzahlens, das nicht zur Tilgung der Einlageschuld führt, hatte man sehr wohl gesehen61 –, sondern auf ein 30-Tage-Festgeldkonto ein. Dort sollte der Betrag bis zur Handelsregistereintragung der Erhöhung liegen bleiben und dann erst, samt Zinsen, auf das Gesellschaftskonto überwiesen werden. So wurde dann verfahren mit dem Ergebnis, dass am Abend desselben Tages alle in das Cash Pool-Verfahren einbezogenen Konten saldiert, der von den Einlegern gezahlte Betrag also bei der Zentralgesellschaft, wirtschaftlich bei ihnen selbst landete. Der II. Zivilsenat hat in Übereinstimmung mit dem Oberlandesgericht dem klagenden Insolvenzverwalter Recht gegeben. Der von der Rechtsabteilung der Muttergesellschaft erteilte Rat, den Einlagebetrag nicht sofort in den Cash Pool einzubeziehen, war zwar richtig; fehlgegriffen haben die Ratgeber aber, soweit sie vorgeschlagen haben, den Betrag für eine Schamfrist von 30 Tagen auf einem Festgeldkonto „zu parken“, um ihn dann in den Cash Pool zu transferieren. Das war – ungeach59 Urt. v. 16. 1. 2006 – II ZR 76/04, ZIP 2006, 665; vgl. dazu z. B. Priester, ZIP 2006, 1557; Altmeppen, ZIP 2006, 1025; Bayer/Lieder, GmbHR 2006, 449; Hentzen, DStR 2006, 948; J. Vetter, Der Konzern 2006, 407; Mülbert, WM 2006, 1977, 1984; ablehnend, getragen von seinem der h.L. und Rechtsprechung diametral entgegengesetzten Verständnis der Sacheinlagevorschriften Wilhelm, DB 2006, 2729 ff. 60 VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2005, 2006, S. 4. 61 Vgl. Urt. v. 21. 11. 2005 – II ZR 140/04, ZIP 2005, 2203 = BGHZ 165, 113 und v. 9. 1. 2006 – II ZR 72/05, ZIP 2006, 331 = BGHZ 165, 352; zur umgekehrten Reihenfolge des Her- und Hinzahlens s. Urt. v. 12. 6. 2006 – II ZR 334/04, ZIP 2006, 1663 m. Anm. Bormann, GmbHR 2006, 984.

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tet der Frist – in dem konkreten Fall schon eine misslungene Kapitalaufbringungsmaßnahme, weil ein verbotenes Hin- und Herzahlen62 vorlag, das per se nicht zu einer Tilgung der Einlageschuld führen kann, weil die Geschäftsführung nicht endgültig frei über den Betrag verfügen kann. Außerdem verletzt der Vorgang auch die Vorschriften über die Kapitalaufbringung in Form einer Sacheinlage, so dass obendrein eine verdeckte Sacheinlage gegeben ist, weil der Betrag zur Tilgung einer Altverbindlichkeit der Gesellschaft gegenüber den Inferenten verwandt wurde. Von den bewegten Klagen deutscher Anwälte, die ausländische Gesellschaften vertreten, ihre Mandantinnen hätten für die Restriktionen dieser Finanzierungsform in Deutschland kein Verständnis, hat sich der II. Zivilsenat ebenso wenig beirren lassen, wie von den inzwischen in den RefE zum MoMiG eingegangenen Initiativen, eine Art „Nichtanwendungsgesetz“ zu erlassen63. Denn es kann nach dem geltenden Recht kein Sonderrecht für die Kapitalaufbringung unter Verwendung eines Cash Pool-Systems geben, soll nicht der Schutz der meist nicht anderweit gesicherten kleinen und mittleren Gläubiger einer GmbH völlig auf der Strecke bleiben. Unklar bleibt mir deswegen auch, wie in einem solchen Fall gegenüber den durch die Kapitalaufbringungsvorschriften bestimmungsgemäß geschützten, nicht anderweitig gesicherten Gesellschaftsgläubigern soll begründet werden können, dass eine solche Vorgehensweise „im Interesse der Gesellschaft,“ hier also der A liege64. In Wahrheit wird dem Rechtsverkehr, der sich an den Eintragungen im Handelsregister orientiert, doch nur die Fehlvorstellung vermittelt, die Gesellschaft sei mit 1,5 Mio. DM frischem haftenden Kapital ausgestattet worden, während in Wahrheit nur deren Schulden gegenüber den Gesellschaftern mit deren eigenen Einlagemitteln zurückgeführt worden sind. Wenn man – wie dies auch in der Literatur vertreten wird65 – selbst für die Kapitalaufbringung66 den Vorstellungen der großen Unter62 So zutreffend auch Mülbert, WM 2006, 1977, 1984 gegen eine anderslautende, die konzerndimensionale Bedeutung der Zahlungsvorgänge zu Unrecht ausblendende Interpretation des Urteils durch Gehrlein, MDR 2006, 789 f. 63 Vgl. § 30 des Entwurfs und die zugehörigen Begründungen S. 54–56. 64 So aber die Begründung zum RefE MoMiG a. a. O. (Fn. 64). 65 C. Schäfer in einem am 12. 10. 2006 bei der Veranstaltung „Brennpunkt AG und GmbH“ des FORUM Management Heidelberg gehaltenen Vortrags, s. dazu jetzt DStR 2006, 2085, 2089; vorsichtiger wohl Mülbert, WM 2006, 1977, 1984 f. 66 Für die Kapitalerhaltung ließen sich die Irritationen durch das sog. „Novemberurteil“ (Urt. v. 24. 11. 2003 – II ZR 171/01, ZIP 2004, 263 = BGHZ 157, 72) unschwer – wenn man dies denn überhaupt für erforderlich hält – durch folgenden Text in § 30 GmbHG ausräumen: „Satz 1 ist bei einer Leistung an den Gesellschafter nicht berührt, solange vor Auszahlung an den Gesellschafter das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen gedeckt und der Anspruch auf

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nehmen folgen will, dann führt dies zu eben jenem, vom Senat abgelehnten „Sonderrecht“, dass auch außerhalb des Vertragskonzerns zum Zwecke der Kapitaleinzahlung geleistete Gelder an den Einzahlenden zurückfließen und auch alle anderen in den Cash Pool einbezogenen Gesellschaften Zugriff auf diese Mittel nehmen dürfen. Das ist nichts anderes als eine partielle Abschaffung unseres Kapitalschutzsystems. Das für die Inferenten natürlich harte Ergebnis lässt sich auf sichere Weise vermeiden, wenn der Einzahlungsvorgang außerhalb des Cash Pool-Systems, also auf einem gesonderten Konto bei einem anderen Kreditinstitut stattfindet. „Verloren“ für die Gesellschaft ist der Einlagebetrag entgegen verbreiteten Fehlvorstellungen dann natürlich nicht, weil das Geld nicht etwa thesauriert werden muss, sondern selbstverständlich für Zwecke der Gesellschaft eingesetzt werden darf; lediglich ein Rückfluss an die Inferenten muss ausgeschlossen und ein gewisser Zinsverlust in Kauf genommen werden.

2. Unterbilanzhaftung67 Die Unterbilanzhaftung, die mit der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister einsetzt und die von dem Geschäftsführer autonom geltend zu machen ist, endet – sofern die fehlenden Beträge nicht sogleich eingefordert, sondern statt dessen werthaltige Ansprüche in die Vorbelastungsbilanz eingestellt werden, nicht automatisch, wenn die Gesellschaft hernach reüssiert und ihr Stammkapital nachhaltig durch Gesellschaftsvermögen gedeckt ist. Diese Haftung ist ein Mosaikstein unseres Kapitalschutzsystems und der entsprechende Anspruch – nachdem einmal gegenüber dem früheren Thesaurierungsgedanken der Paradigmenwechsel zur bilanziellen Betrachtung stattgefunden hat – wird als Bilanzposten auch in die bessere Zukunft mitgenommen. Soweit dagegen im Schrifttum eingewandt wird68, der Senat orientiere sich Unrecht an seiner Rechtspre-

die Gegenleistung oder auf Rückzahlung vollwertig ist“; vgl. zu der Problematik im Übrigen Goette, ZIP 2005, 1481, 1486 f. und KTS 2006, 217, 226 f.; Altmeppen, ZIP 2006, 1025 ff.; Hentzen, DStR 2006, 948. 67 Urt. v. 16. 1. 2006 – II ZR 65/04, ZIP 2006, 668 = BGHZ 165, 391, vgl. VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2005, 2006, S. 4 und Paul, ZInsO 2006, 589; Luttermann, NZG 2006, 454; Weitemeyer, NZG 2006, 648; Naraschewski, EWiR 2006, 565; die Unterbilanzhaftung ist auch bei einer vermögenslosen Einpersonengesellschaft als Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft ausgestaltet, die Ausnahmen der sog. „Verlustdeckungshaftung“ sind nicht übertragbar, vgl. Urt. v. 24. 10. 2005 – II ZR 129/04, ZIP 2005, 2257 und dazu Hennrichs, WuB II C § 11 GmbHG 1.06; Bräuer, DZWIR 2006, 118. 68 Bayer/Lieder, ZGR 2006, 875 ff., 884.

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chung zu §§ 30, 3169, weil es dabei um die Sanktionierung rechtswidrigen Verhaltens gehe, so scheint mir dies nicht überzeugend: Der die fortdauernde Haftung rechtfertigende Grund ist in beiden Fällen die Sicherstellung der im Interesse der Gesellschaftsgläubiger erlassenen Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsregeln. Das Urteil enthält eine weitere, die Rechtsprechung des Senats klarstellende70 Aussage: Eine Abkehr von der bei der Unterbilanzhaftung im Interesse eines effektiven Gläubigerschutzes heranzuziehenden handelsbilanziellen Betrachtung und eine Einbeziehung des selbst geschaffenen Firmenwerts in die Vermögensaufstellung kann nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht kommen, wenn nämlich schon bei der Eintragung eine als Unternehmen selbständig lebensfähige Organisationseinheit geschaffen ist und diese sich am Markt bewährt hat.

3. Aufrechnung mit Verlustausgleichsanspruch im GmbHVertragskonzern71 Zum Abschluss ein Fall aus dem Überschneidungsgebiet von Aktien- und GmbH-Recht: Der Kläger ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der H GmbH. Die Beklagte ist die alleinige Gesellschafterin der Schuldnerin. Zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft ist am 27. 2. 1996 ein als „Organschaftsvertrag“ bezeichneter Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag geschlossen worden. Dieser wurde am 14. 3. 1997 in das Handelsregister eingetragen. Die Tochtergesellschaft sollte auf Beschluss ihrer Gesellschafterversammlung vom 9. 7. 1998 still liquidiert werden. Mit Schreiben vom 10. 8. 1998 kündigte die Beklagte den Unternehmensvertrag aus wichtigem Grund – rückwirkend – zum 1. 1. 1998. Zum 31. 12. 1997 wies die Bilanz der Tochtergesellschaft einen Jahresfehlbetrag in Höhe der Klagesumme aus, der durch die Einbuchung eines entsprechend hohen Anspruchs auf Verlustausgleich nach § 302 AktG (entspr.) gegen die Beklagte egalisiert wurde. Gegenstand der Klage war dieser Anspruch auf Verlustausgleich. Die Parteien haben weder über dessen Höhe noch darüber gestritten, dass der An69 BGHZ 144, 336 ff. („Balsam/Procedo“). 70 Vgl. BGHZ 140, 35. 71 Urt. v. 10. 7. 2006 – II ZR 238/04, ZIP 2006, 1488; s. dazu Sinewe, DB 2006, 1781; Rodewald, BB 2006, 1877; Theiselmann, GmbHR 2006, 931; Lenz, EWiR 2006, 577; Witt, NZG 2006, 735; Petersen, GmbHR 2006, 1246.

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spruch nicht bar erfüllt worden ist. Vielmehr dreht sich der Streit im wesentlichen um die Frage, ob die Beklagte – wie sie meint – den Anspruch durch Aufrechnung wirksam getilgt hat. Insofern hat sich die Beklagte darauf berufen, mit einer höheren Forderung gegen die Schuldnerin aufgerechnet zu haben, sie hat die Ansicht vertreten, zur Aufrechnung berechtigt gewesen zu sein. Das hat das Oberlandesgericht Jena72 – insofern diese Entscheidung am Ende meiner Ausführungen steht, schließt sich der Kreis – in seiner das klagezusprechende erstinstanzliche Urteil bestätigenden Entscheidung anders beurteilt. Es hat gemeint, eine Aufrechnung gegen einen Anspruch nach § 302 AktG sei schlechthin unzulässig. Der II. Zivilsenat hat die Revision der Beklagten zugelassen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Dass § 302 AktG auch in dem hier vorliegenden GmbH-Vertragskonzern entsprechend anzuwenden ist, ist keine neue Erkenntnis.73 Hiervon hat auch das Berufungsgericht sich leiten lassen. Es hat aber aus der ebenfalls allgemein konsentierten Ansicht74, dass der Verlustausgleichsanspruch auf eine Geldleistung gerichtet sei, den verfehlten Schluss gezogen, er könne nur bar und nicht etwa auch auf dem Wege der Aufrechnung erfüllt werden. Nach den allgemeinen schuldrechtlichen Regeln ist diese Einschränkung nicht gegeben, und nach Meinung des Senats75 zwingen auch gesellschaftsrechtliche Prinzipien nicht zu der genannten Restriktion. In diesem Zusammenhang hat unser Senat eine Bemerkung aus seiner Judikatur zur – inzwischen hinter uns liegenden76 – qualifi ziert faktischen Konzernhaftung klargestellt. Wenn es in „Video“77 und „Tiefbau“78 heißt, die Verlustübernahmepflicht diene „zumindest auch dazu, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Kapitalsicherungsvorschriften im Vertragskonzern … außer Kraft gesetzt sind“, dann bedeutet dies nicht, dass der Anspruch aus § 302 Abs. 1 AktG denselben Regeln unterliegen muss, 72 GmbHR 2005, 1058, ebenso Hirte, in: Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 302 Rn. 63; zustimmend Petersen, GmbHR 2005, 1031; ablehnend aber: Priester, BB 2005, 2483; Hentzen, AG 2006, 133; Liebscher, ZIP 2006, 1221; Reuter, DB 2005, 2339; Sinewe, EWiR 2005, 331. 73 Vgl. BGHZ 142, 382. 74 Altmeppen, in: MünchKommAktG (Fn. 30), § 302 Rn. 67; Hüffer (Fn. 44), § 302 Rn. 15; Koppensteiner, in: KölnKomm.AktG, 3. Aufl. 2004, § 302 Rn. 50. 75 S. auch Altmeppen, in: MünchKomm.AktG (Fn. 30), § 302 Rn. 67. 76 BGHZ 149, 10 („Bremer Vulkan“). 77 BGHZ 115, 187, 197. 78 BGHZ 107, 7, 18.

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wie sie in §§ 30, 31 GmbHG niedergelegt und von der Rechtsprechung ausgeformt sind. Vor allem ein Aufrechnungsverbot kann daraus nicht hergeleitet werden. Das ergibt sich auch daraus, dass die Anwendungsbereiche von § 302 AktG und § 31 GmbHG nicht deckungsgleich sind. Denn § 31 GmbHG schützt nur davor, dass das zur Deckung des Stammkapitals erforderliche Gesellschaftsvermögen nicht an den Gesellschafter ausgezahlt wird, während der Verlustausgleich auch dann zu gewährleisten ist, wenn keine Unterbilanz besteht und er ohnehin aus ganz anderen Gründen geschuldet sein kann, als auf Grund einer Auszahlung an den Gesellschafter. Die scharfe Vorschrift aus dem Kapitalaufbringungsrecht über das Aufrechnungsverbot, die der Senat auch auf die Kapitalerhaltung ausgedehnt hat, hat bei § 302 AktG eine überschießende Tendenz. Der Zielrichtung der letztgenannten, den Kapitalschutz im Vertragskonzern gewährleistenden Bestimmung ist – auch unter Berücksichtigung des oben zitierten dictums aus „Video“ und „Tiefbau“ – Genüge getan, wenn die konzernierte Gesellschaft über hinreichende Mittel verfügt, um sämtliche Forderungen ihrer Gläubiger – einschließlich derjenigen, die in den Aufrechnungsvorgang einbezogen worden ist – zu erfüllen. Dann nämlich ist die zur Aufrechnung gestellte Forderung vollwertig und den Kapitalsicherungserfordernissen Rechnung getragen. Der Kapitalsicherungsaspekt erlaubt allerdings nicht, wie dies in Teilen des Schrifttums vorgeschlagen worden ist79, sich auf die schlichte bilanzrechtliche Betrachtung zurückzuziehen, nach der die von der Muttergesellschaft zur Aufrechnung gestellte Forderung in der Bilanz der Tochtergesellschaft mit dem Nennwert zu passivieren ist, und die Werthaltigkeitsfrage auszublenden. Denn auf diesem Wege verlöre die Tochtergesellschaft den mit 100 % zu bewertenden Verlustausgleichsanspruch durch Befriedigung einer gegen sie gerichteten Forderung zum Nennwert, obwohl der dritte Gläubiger gegen sie nur einen Teil der Forderung realisieren könnte; in Höhe der Differenz zwischen den beiden Werten entgehen allen anderen Gläubigern der Tochtergesellschaft auf diesem Wege Mittel zur Befriedigung ihrer Forderungen. Andererseits bestehen nach dem besprochenen Urteil keine Bedenken dagegen, dass die herrschende Gesellschafterin der Tochtergesellschaft bereits während des Jahres Mittel zur Verfügung stellt, mit denen sie ihren laufenden Verbindlichkeiten nachkommen kann, so dass zum Ende des Jahres gar kein auszugleichender Verlust mehr entsteht. Gezahlt werden kann natürlich auch auf einen bereits im vergangenen Geschäftsjahr ent79 Vgl. Hentzen, AG 2006, 133 ff.

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standenen Verlustausgleichsanspruch und zwar auch in der Weise, dass werthaltige Forderungen dritter Gläubiger befriedigt werden. Voraussetzung ist dazu aber, dass entsprechend klare Anrechnungsabreden getroffen werden, um nachträgliche Zuordnungen nach Belieben der ausgleichspflichtigen Gesellschaft auszuschließen. Von seinem Standpunkt aus musste das Oberlandesgericht Jena nicht prüfen, ob die zur Aufrechnung gestellten Forderungen werthaltig waren. Das nachzuholen – vor allem die Frage der Einordnung der Ansprüche als eigenkapitalersetzende Leistung zu klären –, ist die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen worden.

IV. Personengesellschaftsrecht 1. Vertrauensschutz bei Altschulden80 Im Zuge der Neustrukturierung der Gesellschafterhaftung in der BGBGesellschaft81 hatte der II. Zivilsenat u. a. entschieden, dass prinzipiell ein neu in eine bestehende Gesellschaft eintretendes Mitglied auch für die zu dieser Zeit bestehenden Altschulden haftet, dass ihm für die vor dem genannten Paradigmenwechsel liegenden sog. Altfälle aber Vertrauensschutz zu gewähren ist82 . Die Grenzen dieses Vertrauensschutzes hat er nunmehr näher abgesteckt: In dem am 12. 12. 2005 entschiedenen Fall stritten die Parteien um die Bezahlung von Gaslieferungen aus der Zeit von Dezember 2000 bis April 2001. Geliefert worden ist an zwei Mietshäuser, die im Eigentum einer BGB-Gesellschaft stehen, an welcher der Beklagte unstreitig bis zum 15. 12. 1998 und dann wieder ab 1. 1. 2000 beteiligt war. Der Beklagte berief sich darauf, die Lieferverträge mit den ausdrücklich so genannten Sonderabnehmern seien in der Zeit geschlossen worden, in der er nicht der Gesellschaft angehört hat; aus seiner Sicht handelte es sich also um sog. „Altverbindlichkeiten“, für deren Erfüllung er nach dem erwähnten Vertrauensschutzgedanken nicht einstehen müsse. In Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht ist der II. Zivilsenat dem nicht gefolgt, sondern hat maßgeblich auf die die Einräumung von Vertrauensschutz rechtfertigenden 80 Urt. v. 12. 12. 2005 – II ZR 283/03, ZIP 2006, 82; vgl. dazu Keil, BGHReport 2006, 306; Abram, DZWIR 2006, 168; Wunderlich, WuB II J § 705 BGB 1.06; Segna, NJW 2006, 1566; Thole, AnwBl. 2006, 209. 81 BGHZ 142, 315; BGHZ 146, 341. 82 BGHZ 154, 370.

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Erwägungen abgestellt: Wer beim Eintritt in eine bestehende BGB-Gesellschaft die Altverbindlichkeit kennt oder – was dem gleichsteht – nicht einmal die geringe Aufmerksamkeit aufwendet, die erforderlich ist, das Bestehen einer solchen Belastung zu erkennen, der verdient nicht, in seinem Vertrauen geschützt zu werden. Es besteht zwar keine Erkundigungs- und Prüfungspflicht, aber sozusagen „in die Augen Springendes“ darf man nicht ignorieren. Für die hier zu beurteilenden Verpflichtungen aus Daseinsversorgungsverträgen für das von der Gesellschaft vermietete Haus ist zumindest die Variante erfüllt, dass es nur geringer Aufmerksamkeit bedarf, das Vorhandensein derartiger von der Gesellschaft früher eingegangener Verpflichtungen erkennen zu können.

2. Abfindung83 Abfindungsfragen beschäftigen die Gerichte immer wieder84. Dabei geht es mitunter auch darum, dass das von den Beteiligten privatautonom Verabredete später von den Gerichten nicht akzeptiert werden kann. Um einen solchen Fall handelt es sich bei der Entscheidung des Senats vom 13. 3. 2006. Die Parteien sind Brüder und haben nach dem Tod des Vaters das von diesem gegründete Feriendorf in der Form einer BGB-Gesellschaft fortgeführt. Bei Kündigung eines Gesellschafters hat nach dem Gesellschaftsvertrag der andere ein Übernahmerecht, abzufinden ist der ausscheidende Gesellschafter nach dem „gemeinen Wert“. Darum, wie dieser zu ermitteln ist, haben die Parteien gestritten. Das Oberlandesgericht hat nach Beweisaufnahme – wie das Landgericht – angenommen, dass dieser Wert nach der Ertragswertmethode zu ermitteln ist. Dieser liegt deutlich unter dem bei der Veräußerung des Unternehmens erzielbaren Liquidationswert, der nach den bisher nicht ordnungsgemäß festgestellten Zahlen das Doppelte bis Dreieinhalbfache des Ertragswerts ausmachen soll. Der Kläger wollte eine Abfindung auf der Grundlage des Liquidationswerts erhalten, während der Beklagte ihn nur zum Ertragswert entschädigen will, weil das so vereinbart und die Liquidation ausdrücklich ausgeschlossen worden sei, dieses letzte Ziel aber bei einer Abfindung, wie sie dem Kläger vorschwebe, nicht erreichbar sei. Der Senat hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Er hat angenommen, der Kläger müsse 83 Urt. v. 13. 3. 2006 – II ZR 295/04, ZIP 2006, 851. 84 Vgl. Goette, in: StBJb 1996/97, S. 221 ff.

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sich an der seinerzeit getroffenen Abrede nicht festhalten lassen, weil die vereinbarte Berechnung der Abfindung auf ihn einen unzumutbaren Druck ausüben kann, in der Gesellschaft zu bleiben und von dem ihm zustehenden Kündigungsrecht keinen Gebrauch zu machen. Dieses Recht wird indessen durch § 723 Abs. 3 BGB besonders geschützt, und an den in dieser Vorschrift niedergelegten Prinzipien muss sich die Abfindungsvereinbarung messen lassen. Es besteht eine Parallele zu jenen Fällen, in denen eine Buchwertklausel – ursprünglich wirksam – vereinbart wird, sich Buchwert und wahrer Wert der Beteiligung aber so sehr auseinander entwickelt haben, dass dem Ausscheidenden nicht zugemutet werden kann, sich an der getroffenen Abrede festhalten zu lassen; auch dabei spielt der in § 723 Abs. 3 BGB niedergelegte Gedanke, einen Gesellschafter nicht in eine „babylonische Gefangenschaft“ zu zwingen, eine wichtige Rolle.

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Bericht über die Diskussion des Referats Goette Silke Warmer Rechtsanwältin, Hamburg Während der von Krieger geleiteten Diskussion wurde auf Fälle aus allen Bereichen des Referats von Goette Bezug genommen; Fragen und Anmerkungen gab es sowohl zu den von Goette vorgestellten Urteilen, als auch zu den Entscheidungen, die aus Zeitgründen im Referat nicht angesprochen worden, auf der Entscheidungsliste jedoch zu finden waren1.

I. Aktienrecht Zunächst wies Götz auf die seiner Ansicht nach immense Bedeutung der Jenoptik-Entscheidung2 hin. Diese Entscheidung habe große Auswirkungen auf das Wertpapier- und Kapitalmarktrecht, insbesondere weil das Wertpapierrecht dem Urteil zufolge durch schuldrechtliche Beziehungen überlagert werde. Dies sei eine Neuheit. Im Ergebnis gelte es, die Rechtsnatur von Unternehmensverträgen zu überdenken, die bisher als Satzungsänderung der AG angesehen worden seien; die Ansprüche auf Abfindung seien bislang als satzungsrechtliche Ansprüche angesehen worden. Wer an der Börse kaufe, könne sich nun nicht mehr darauf verlassen, dass die in der Aktie verkörperten Rechte auch tatsächlich so beständen. Dies habe gravierende Auswirkungen auf das Wertpapierrecht. Götz verglich das Urteil in seiner Bedeutung für das Aktien-, das Wertpapier- und das Kapitalmarktrecht mit der Bedeutung, die § 246a AktG für das Recht der Kapitalmaßnahmen und des Unternehmensvertrages hat. Aufgrund von § 246a AktG müsse sich niemand mehr an die §§ 182 ff., 291 ff. AktG halten, solange er jemanden habe, der durch eidesstattliche Versicherung bezeuge, dass der Gesellschaft immenser Schaden drohe, wenn nicht die Eintragung der Maßnahme im Handelsregister vor Ab1 Nicht vorgetragen wurden im aktienrechtlichen Teil die Entscheidung v. 24. 4. 2006 – II ZR 30/05, DStR 2006, 1289 = ZIP 2006, 1134, im GmbH-rechtlichen Teil die Entscheidungen v. 16. 1. 2006 – II ZR 65/04, NJW 2006, 1594 = ZIP 2006, 668 und v. 10. 7. 2006 – II ZR 238/04, NZG 2006, 664 = ZIP 2006, 1488. 2 8. 5. 2006 – II ZR 27/05, NZG 2006, 623 = ZIP 2006, 1392.

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schluss des Klageverfahrens herbeigeführt werde. Mit der Jenoptik-Entscheidung sei in eine neue Ära der Behandlung von Abfindungsfragen im Rechtssystem eingetreten worden. Goette gab zu verstehen, dass er die Entscheidung ebenfalls als eine wichtige Entscheidung des letzten Jahres ansehe, ihr aber nicht die von Götz geschilderte Bedeutung beimesse. Im vorhergehenden Urteil des OLG Jena3 seien einige Punkte nicht bedacht worden, die der Senat habe klarstellen müssen. Inhaltlich ging Goette auf die Anmerkungen von Götz nicht ein. Ein Diskussionsteilnehmer sprach die WMF-Entscheidung4 an. Diese enthalte die Aussage, ob ein Einzelfall im Sinne von § 30 Abs. 2 Satz 1 WpÜG vorliege, sei formal anhand der Anzahl, nicht anhand des Gewichts der zur Abstimmung gestellten Maßnahmen zu beurteilen5. Er stellte die Frage an Goette, wie diese Aussage konkret zu verstehen sei. Es stelle sich die Frage, ob es auf die Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts oder die Anzahl der rechtlichen Maßnahmen ankomme, wenn mehrere miteinander in Zusammenhang stehende Maßnahmen umgesetzt würden. Goette betonte, die Aussage sei allein vor dem Hintergrund der verschiedenen Ansichten, die zu dieser Frage vertreten würden, zu verstehen. Es gebe zum einen die Ansicht, die zur Beurteilung, ob ein Einzelfall vorliege, auf das Gewicht der Maßnahme abstellen wolle6, zum anderen die Ansicht, die den Begriff „Einzelfall“ formal verstehe und die Häufigkeit des Abstimmungsverhaltens betrachte7. Dieser letzten Ansicht sei der Senat in dem vorgestellten Urteil – schon aus Gründen der Rechtssicherheit – gefolgt. Aus seiner – Goettes – Sicht sei dabei die Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts ausschlaggebend8.

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22. 12. 2004 – 7 U 391/03, NZG 2005, 400. 18. 9. 2006 – II ZR 137/05, DStR 2006, 2042 = ZIP 2006, 2077. 18. 9. 2006 – II ZR 137/05, DStR 2006, 2042, 2044. So beispielsweise OLG München v. 27. 4. 2005 – 7 U 2792/04, NZG 2005, 848, 849; Casper/Bracht, NZG 2005, 839 f.; Louven, BB 2005, 1414, 1415. 7 So die h. M.; vgl. OLG Stuttgart v. 10. 11. 2004 – 20 U 16/03, ZIP 2004, 2232, 2236 f.; OLG Frankfurt am Main v. 25. 6. 2004 – WpÜG 5/03, 6/03, 8/03a, ZIP 2004, 1309, 1314 = NJW 2004, 3716, 3720; von Bülow, in: KölnKomm.WpÜG, 2003, § 30 Rn. 137 f.; von Bülow/Bücker, ZGR 2004, 669, 700, 714; Diekmann, in: Baums/Thoma, WpÜG, Loseblatt Stand: Mai 2004, § 30 Rn. 75; Lange, ZBB 2004, 22, 27. 8 So auch von Bülow/Bücker, ZGR 2004, 669, 700 f.

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Warmer – Bericht über die Diskussion

II. GmbH-Recht Vor dem Hintergrund des Urteils zur Aufrechnung des herrschenden Unternehmens gegen einen Verlustausgleichsanspruch der abhängigen Gesellschaft9, das im Referat nicht angesprochen worden war, stellte Wagner die Frage, wie die Aufrechnung mit einer teilwerthaltigen Forderung zu beurteilen sei. Goette erwiderte, dass der Senat über diesen Fall nicht befunden habe, dass aber nach seiner persönlichen Ansicht eine Aufrechnung möglich sein müsse, soweit die Forderung werthaltig sei. Ein Diskussionsteilnehmer stellte die Frage, ob die in dem Urteil aufgestellten Grundsätze auch auf Sachleistungen anwendbar seien. Goette bemerkte, dass Sachleistungen nicht gemeint gewesen seien, sondern ausdrücklich nur auf Geldleistungen abgestellt worden sei. Ebenfalls zu dem o. g. Urteil bemerkte Winter, dass es in seinem Umfeld unterschiedliche Auffassungen darüber gebe, ob § 30 GmbHG im Vertragskonzern überlagert werde oder noch zu Geltung gelange. Es stelle sich deshalb die Frage, ob es im Vertragskonzern die Möglichkeit eines Cash Pool gebe. Goette antwortete, es sei eindeutig, dass die §§ 30, 31 GmbHG im Vertragskonzern nicht gelten. Dies ergebe sich aus dem Urteil, welches im übrigen eine Reihe von Hinweisen für die Behandlung von Cash Pool-Lagen enthalte.

III. Personengesellschaftsrecht Zum Personengesellschaftsrecht gab es allein eine Wortmeldung von von Mettenheim. Unter Bezugnahme auf das Urteil zum Vertrauensschutz bei Altverbindlichkeiten10 bemerkte er, dass im ersten Urteil des Senats zur Haftung eines eintretenden GbR-Gesellschafters für Altverbindlichkeiten11 als Grundlage des Vertrauensschutzes die Erwägung herangezo9 10. 7. 2006 – II ZR 238/04, NZG 2006, 664 = ZIP 2006, 1488. 10 12. 12. 2005 – II ZR 283/03, NJW 2006, 765 = ZIP 2006, 82. 11 7. 4. 2003 – II ZR 56/02, BGHZ 154, 370 = NJW 2003, 1803.

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gen worden sei, dass die Änderung der Rechtsprechung noch nicht bekannt gewesen sei und die neue Rechtsprechung deshalb nur für die Zukunft gelten könne12 . Im nun vorgestellten Urteil ziehe der Senat jedoch eine andere Begründung heran, die auf das Bestehen eines allgemeinen Vertrauensschutzes hindeute. Goette entgegnete, die grundlegende Entscheidung enthalte die Aussage, dass die neuen Haftungsregeln nur für die Zukunft gelten, während dieses Mal die Frage, ob denn der eintretende Gesellschafter auch hier Vertrauensschutz für sich beanspruchen dürfe, Gegenstand der Entscheidung gewesen sei; methodisch gesehen habe der Senat eine teleologische Reduktion des Vertrauensschutzes vorgenommen.

12 7. 4. 2003 – II ZR 56/02, BGHZ 154, 370, 372, 377 f. = NJW 2003, 1803, 1804, 1805.

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Grenzüberschreitende Verschmelzungen – Gesellschaftsrechtliche Aspekte – Dr. Rainer Krause Rechtsanwalt, Düsseldorf I. Ausgangslage ..........................

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II. SEVIC .....................................

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4. Typische Probleme bei der Verschmelzung von Publikumsgesellschaften .........

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III. Verschmelzungs-RL................ 1. Einleitung.......................... 2. IPR der Verschmelzungs-RL ........................... 3. Umsetzung durch §§ 122a ff. UmwG .............

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IV. Europäische Gesellschaft .......

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V. Grenzüberschreitender Zusammenschluss durch ein öffentliches Übernahmeangebot ...................................

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I. Ausgangslage Fragte man noch vor wenigen Jahren, ob eine grenzüberschreitende Verschmelzung nach deutschem Gesellschaftsrecht möglich sei, war die Antwort so eindeutig wie sie unter Juristen eindeutig sein konnte: Eigentlich – oder „grundsätzlich“ – gibt es die grenzüberschreitende Verschmelzung nicht. Gemeint ist damit ein Vorgang, der durch die folgenden drei Merkmale gekennzeichnet ist: – Der übertragende Rechtsträger wird aufgelöst (vgl. § 2 UmwG: „Auflösung ohne Abwicklung“; § 20 Abs. 1 Nr. 2 UmwG); – Übergang des Vermögens des übertragenden Rechtsträgers auf den übernehmenden Rechtsträger (vgl. § 2 UmwG: „Übertragung des Vermögens […] als Ganzes“; § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG) und – die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers werden Anteilsinhaber des aufnehmenden Rechtsträgers (vgl. § 2 UmwG: „Gewährung von Anteil […] an die Anteilsinhaber […] des übertragenden Rechtsträgers“; § 20 Abs. 1 Nr. 3 UmwG). § 1 Abs. 1 UmwG gab dieser Auffassung Recht: Danach können nur „Rechtsträger mit Sitz im Inland“ umgewandelt werden. Nach der Begründung des Regierungsentwurfs zum UmwG sollte angesichts der Bemühungen der europäischen Gemeinschaft um eine Regelung grenzüberschreitender Vorgän-

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ge, insbesondere der internationalen Fusion, eine Regelung dieses Komplexes zurückgestellt werden. Überdies, so die Begründung, würde die Ausdehnung des Gesetzes auf internationale Fälle politisch wie rechtstechnisch erhebliche Probleme aufwerfen1. Der Gesetzgeber hat sich also bewusst zurückgehalten und die grenzüberschreitende Verschmelzung aus dem Anwendungsbereich des UmwG ausgeklammert. § 1 Abs. 1 UmwG macht das gesamte Umwandlungsgesetz damit zu selbstbeschränkten – andere sagen: selbstgerechten2 – Sachnormen3: Diese Normen wollen die grenzüberschreitende Verschmelzung nicht adressieren4. Kollisionsrechtlich fände auf eine grenzüberschreitende Verschmelzung für jede beteiligte Gesellschaft grundsätzlich ihr Personalstatut Anwendung, also das Gesellschaftsstatut. Das Gesellschaftsstatut bestimmt, unter welchen Voraussetzungen die Gesellschaft „entsteht, lebt und vergeht“5. Sieht man von den Implikationen der EU-rechtlichen Niederlassungsfreiheit ab, ist Gesellschaftsstatut nach deutschem Kollisionsrecht immer noch das Recht des Sitzstaates6. Maßgeblich ist der effektive Verwaltungssitz7. Das so nach dem Gesellschaftsstatut des einen Verschmelzungspartners berufene Sachrecht muss dann mit dem nach dem Gesellschaftsstatut des anderen Verschmelzungspartners berufenen Sachrecht in Einklang gebracht werden8. Gelangt man nach dieser Regel z. B. bei der Frage, ob und in welchem Verfahren die Gesellschafterversammlung der deutschen Gesellschaft zustimmen muss, kollisionsrechtlich zum deutschen Umwandlungsgesetz, sagen unsere selbstbeschränkten Sachnormen: „Nein, ich will nicht“ oder „Nein, ich kann nicht“9. Dieses Vakuum war der Grund, weshalb grenz überschreitende Verschmelzungen kaum Aussicht auf Eintragung im Handelsregister hatten.

1 BT-Drucks. 12/6699, S. 80. 2 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, S. 308 f. 3 Kronke, ZGR 1994, 26, 35; Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht, 4. Aufl. 2006, IntGesR Rn. 840. 4 Kallmeyer, UmwG, 3. Aufl. 2006, § 1 Rn. 10. 5 BGHZ 25, 134, 144. 6 Vgl. Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (Fn. 2), S. 575; Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 400; Palandt/Heldrich, 66. Aufl. 2007, Anh. zu EGBGB 12 (IPR) Rn. 1 f. 7 Vgl. Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 400. 8 So die Vereinigungstheorie, vgl. Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 848 ff. 9 Anders noch Kallmeyer, UmwG, 2. Aufl. 2001, § 1 Rn. 12–15 mit ausführlicher Darstellung der kollisionsrechtlichen Folgen.

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Trotz dieses Vakuums hat es Fälle erfolgreicher grenzüberschreitender Verschmelzungen in der Praxis vereinzelt gegeben. Dies gilt sowohl für die Hineinverschmelzung (also die Verschmelzung auf einen inländischen Rechtsträger)10 als auch für die Herausverschmelzung (also die Verschmelzung einer inländischen Gesellschaft auf einen ausländischen übernehmenden Rechtsträger)11. Man musste das Registergericht in diesen Fällen allerdings davon überzeugen, dass die Selbstbeschränkung des UmwG nicht gelten solle oder zumindest eine entsprechende Anwendung des UmwG – trotz des Analogieverbots in § 1 Abs. 2 UmwG – angezeigt ist.

II. SEVIC Eine Trendwende kam Ende 2005. In der SEVIC-Entscheidung vom 13. 12. 200512 hat der EuGH festgestellt, dass eine Verschmelzung von Gesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten möglich sein muss. Die Begründung des EuGH ist kurz und bündig: – Grenzüberschreitende Verschmelzungen sind wichtige Modalitäten der Ausübung der Niederlassungsfreiheit; – es liegt eine Ungleichbehandlung vor, weil das deutsche Recht Vorschriften nur für innerstaatliche Verschmelzungen, nicht aber für grenzüberschreitende Verschmelzungen kennt und Anträge auf Eintragung grenzüberschreitender Verschmelzungen deshalb allgemein zurückgewiesen werden; – diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, wie der Schutz der Interessen von Gläubigern, Minderheitsgesellschaftern und Arbeitnehmern sowie die Wahrung der Wirksamkeit der Steueraufsicht und der Lauterkeit des Handelsverkehrs. Zudem gehe die Regelung im deutschen Recht über das hinaus, was zur Erreichung der verfolgten Ziele, nämlich zum Schutz der genannten Interessen, erforderlich ist.

10 Dazu Rixen/Böttcher, GmbHR 1993, 572 (Frankreich/Deutschland); Dorr/Stukenborg, DB 2003, 647 (Frankreich/Deutschland und Italien/Deutschland). 11 Dazu Wenglorz, BB 2004, 1061 (Deutschland/Österreich). 12 ZIP 2005, 2311; Vorlagebeschluss des LG Koblenz v. 16. 9. 2003, ZIP 2003, 2210; Schlussanträge von Generalanwalt Tizzano v. 7. 7. 2000, ZIP 2005, 1227.

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Der Entscheidung lag eine Verschmelzung einer französischen Gesellschaft auf eine deutsche Gesellschaft zugrunde. Diese Hineinverschmelzung, sagt der EuGH, muss der aufnehmende Staat ermöglichen. Insoweit liegt die SEVIC-Entscheidung auf einer Linie mit den Entscheidungen Centros (1999)13, Überseering (2002)14 und Inspire Art (2003)15. Diese betrafen verschiedene Erscheinungsformen einer „Sitzverlegung“ – direkt (Überseering), indirekt über die Errichtung einer Zweigniederlassung (Centros) oder durch Entfaltung von Geschäftstätigkeit im Ausland (Inspire Art) – und sagten, dass beschränkende Regelungen im Zuzugsstaat gegen die Niederlassungsfreiheit verstoßen. Bereits in diesen Entscheidungen wurde ein weiter Begriff der „Beschränkung“ zugrunde gelegt. Danach haben Maßnahmen schon dann einen beschränkenden Charakter, wenn sie die Ausübung der durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten „behindern oder weniger attraktiv machen können“16. Möglich muss nach der Logik der SEVIC-Entscheidung auch die Herausverschmelzung sein. Sie betrifft in gleicher Weise die Niederlassungsfreiheit, schon deshalb, weil es um das Recht der ausländischen Gesellschaft geht, eine deutsche Zweigniederlassung zu gründen17. Aus anderer Perspektive geht es bei der Herausverschmelzung um einen Wegzug ins Ausland; beschränkende Regelungen im Wegzugsstaat hat der EuGH aber in der jüngeren Hughes de Lasteyrie du Saillant-Entscheidung vom 11. 3. 200418 – anders als noch in der Daily-Mail-Entscheidung von 198819 – als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gewertet. Auch die Verschmelzung einer EU-ausländischen Gesellschaft mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland (also einer „Überseering- oder Inspire Art-Gesellschaft“) mit einer inländischen Gesellschaft ist von der Logik der SEVIC-Entscheidung erfasst20.

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EuGHE 1999, I-1459 = NJW 1999, 2027. EuGHE 2002, I-9919 = NJW 2002, 3614. EuGHE 2003, I-10155 = NJW 2003, 3331. Vgl. nur EuGHE 1999, I-1459 Nr. 32 („Centros“). Drygala, ZIP 2005, 1995, 1997; Spahlinger/Wegen, NZG 2006, 721, 724; i. E. ebenso N. Krause/Kulpa, ZHR 171 (2007), 38, 45. Vorsichtiger Bungert, BB 2006, 53, 56. 18 ZIP 2004, 662 Nr. 42; ebenso schon die Entscheidung Baars, EuGHE 2000, I2787 Nr. 28 = ZIP 2000, 697 und Schlussanträge von Generalanwalt Tizzano v. 7. 7. 2000, ZIP 2005, 1227, 1230 Nr. 45. 19 EuGHE 1988, 5505 = NJW 1989, 2186 (Verlegung des Verwaltungssitzes einer Gesellschaft von England in die Niederlande). 20 Vgl. Spahlinger/Wegen, NZG 2006, 721, 724 f.

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Die Frage ist nur, wie geht‘s? Die SEVIC-Entscheidung enthält dazu keine Handlungsanleitung. Die entscheidenden Weichen werden im Kollisionsrecht gestellt. Nach den allgemeinen kollisionsrechtlichen Regeln ist für jede Sachfrage oder Gattung von Sachfragen das jeweilige anwendbare nationale Recht zu bestimmen. Das ist, wie unter I. dargelegt, bei der Verschmelzung von Gesellschaften das Gesellschaftsstatut, also grundsätzlich das Recht des Sitzstaates. Nach der herrschenden Vereinigungstheorie wird die Verschmelzung aber zunächst in verschiedene Teilfragen21 zerschnitten: Die Voraussetzungen, das Verfahren und die Wirkungen der Verschmelzung22 . Die Voraussetzungen, also insbesondere die aktive und passive Verschmelzungsfähigkeit, beurteilen sich für jeden Rechtsträger nach dessen Gesellschaftsstatut23. Gleiches gilt für Verfahrensfragen, die jeweils nur einen Rechtsträger betreffen, etwa die Zustimmung der Gesellschafterversammlung zur Verschmelzung. Für Verfahrensfragen, die beide Rechtsträger betreffen oder ein gemeinsames Tätigwerden der beteiligten Gesellschaften verlangen (etwa den Abschluss und die Form des Verschmelzungsvertrages), sollen beide Sachrechte kumuliert werden; entscheidend ist dann das jeweils strengere Sachrecht24. Hinsichtlich der Wirkungen der Verschmelzung schließlich ist zu unterscheiden: Der Vermögensübergang beurteilt sich nach dem Recht des übertragenden Rechtsträgers, wenn sich nicht aus dem Belegenheitsrecht außerhalb des Geltungsbereichs des Gesellschaftsstatuts etwas anderes ergibt25; die Gewährung der Anteile am übernehmenden Rechtsträger nach dessen Sachrecht26. Wenn im Verhältnis der Sachrechte zueinander Ungereimtheiten oder Disharmonien verbleiben, hilft international-privatrechtlich die Angleichung27, also die Modifi zierung der einschlägigen Sachnorm. Dass diese Operation anspruchsvoll ist und im konkreten Fall zu Zweifelsfragen führen kann, steht außer Zweifel. Ein Beispiel dafür liefert die Ent21 Hierzu allgemein Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, § 18 I. 22 Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 850. 23 Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 853. 24 Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 856 f. 25 Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 860. 26 Spahlinger/Wegen, NZG 2006, 721, 722. 27 Allgemein Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (Fn. 2), § 8; Sonnenberger, in: MünchKomm. IPR, 4. Aufl. 2006, Einl. IPR Rn. 601 ff.

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scheidung des österreichischen OGH vom 20. 3. 200328: Eine österreichische GmbH sollte durch Übertragung ihres Vermögens auf ihre deutsche 100 %ige GmbH-Mutter umgewandelt werden. Nach österreichischem Recht tritt die mit dieser Umwandlung verbundene Gesamtrechtsnachfolge bereits mit Eintragung im Register der übertragenden Gesellschaft ein. Das beißt sich mit dem Grundsatz des deutschen Rechts, wonach eine Verschmelzung erst dann wirksam wird, wenn sie im Register des übernehmenden Rechtsträgers eingetragen ist (§ 20 Abs. 1 UmwG). Die Eintragung im Register des übernehmenden Rechtsträgers setzt nach deutschem Recht wiederum voraus, dass die Verschmelzung zuvor beim übertragenden Rechtsträger eingetragen ist (§ 19 Abs. Satz 1 UmwG). Die Wirksamkeitszeitpunkte der Verschmelzung fallen damit auseinander und verlangten an sich nach einer Angleichung, um den Widerspruch aufzulösen. Der österreichische OGH löste das Problem allerdings nicht materiellrechtlich durch Angleichung, sondern kollisionsrechtlich, indem er allein das österreichische Umwandlungsrecht für anwendbar erklärte. Denn die Umwandlung auf die deutsche Alleingesellschafterin habe zwar die gleiche Funktion wie eine Verschmelzung (nämlich eine Gesamtrechtsnachfolge der deutschen Muttergesellschaft bei gleichzeitiger Löschung der österreichischen Tochter herbeizuführen); die Umwandlung greife jedoch „nicht in die gesellschaftsrechtliche Organisation des übernehmenden Haupt(oder Allein-)Gesellschafters ein“29.

III. Verschmelzungs-RL 1. Einleitung Noch vor der SEVIC-Entscheidung, die im Dezember 2005 erging, wurde die Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 10. 2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten („Verschmelzungs-RL“) veröffentlicht. Sie ist bis Dezember 2007 in nationales Recht umzusetzen. Am 1. 2. 2007 hat der Bundestag das Zweite Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes verabschiedet30, das der Umsetzung der gesellschaftsrechtlichen Vorschriften der Verschmelzungs-RL dient. Zu diesem Zweck wird ein eigener Abschnitt zur grenzüberschreitenden Verschmelzung von Kapitalgesell-

28 ZIP 2003, 1086. 29 ZIP 2003, 1086, 1088. 30 BR-Drucks. 95/07 v. 16. 2. 2007.

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schaften in das Umwandlungsgesetz eingefügt: die neuen §§ 122a ff. UmwG. Damit werden echte internationale Unternehmenszusammenschlüsse zu einem Rechtsträger ermöglicht. Ob das neue Recht diesem Anspruch auch bei der börsennotierten Gesellschaft gerecht wird, ist fraglich (dazu unten 4.). Für die kleine Münze des Corporate Housekeeping wird das neue Recht eine tragfähige Grundlage werden können. Historisch gewachsene länderbezogene Konzernstrukturen können dann länderübergreifend vereinfacht werden.

2. IPR der Verschmelzungs-RL Wie hat die Richtlinie, wie hat das Zweite Gesetz zur Änderung des UmwG die grenzüberschreitende Verschmelzung regelungstechnisch angepackt? Die Richtlinie ist einem international-privatrechtlich verbreiteten Muster gefolgt, indem sie einerseits eine einheitliche Kollisionsregel aufstellt und andererseits das anwendbare Sachrecht harmonisiert. a) Zur Kollisionsregel: Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) der Verschmelzungs-RL bestimmt, dass für jede Gesellschaft „die Vorschriften und Formalitäten des für sie geltenden innerstaatlichen Rechts eingehalten“ werden müssen. Dies gilt insbesondere für das Verfahren zur Beschlussfassung, für den Schutz der Gläubiger, Anleihegläubiger und Inhaber von Aktien, den Schutz der Arbeitnehmer sowie den Schutz der Minderheitsgesellschafter. Kollisionsrechtlich wird also für jede Gesellschaft deren Gesellschaftsstatut berufen, das man auf dieser Grundlage auch das jeweilige „Verschmelzungsstatut“ nennen kann. Das entspricht der kollisionsrechtlichen Vereinigungstheorie31. Sie wird in der Verschmelzungs-RL aber punktuell durchbrochen, so für die Teilfrage des Wirksamwerdens der Verschmelzung: Um den Zeitpunkt des Wirksamwerdens eindeutig bestimmen zu können, beruft Art. 12 der Verschmelzungs-RL nur ein Sachrecht zur Anwendung: „Der Zeitpunkt, an dem die grenzüberschreitende Verschmelzung wirksam wird, bestimmt sich nach dem Recht des Mitgliedstaats, dem die aus der grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorgehende Gesellschaft unterliegt.“ Die Vereinigungslehre hat zwei Schwächen. Sie kann zu Überschneidungen der beiden anwendbaren Sachrechte führen, und es kann zum Nebeneinander von Regelungen kommen, die nicht aufeinander abgestimmt

31 Zutreffend Teichmann, ZIP 2006, 355, 361.

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sind. Kollisionsrechtlich spricht man vom Problem der Normenhäufungen32 . b) Dem entgegenzuwirken dient das zweite Element der VerschmelzungsRL, die Rechtsvereinheitlichung. Wie sie wirkt, kann man am Beispiel des Verschmelzungsplans zeigen: Die Verschmelzungs-RL enthält in Art. 5 einen zwingenden Mindestkatalog zum Inhalt des Verschmelzungsplans, der in diesem Mindestbestand inhaltsgleich in allen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden wird. Damit gibt es faktisch ein einheitliches europäisches Muster für den Verschmelzungsplan bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen. Weniger geglückt ist die Rechtsvereinheitlichung hinsichtlich der Form des Verschmelzungsplanes. Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten insoweit freie Hand. Das Zweite Gesetz zur Änderung des UmwG verlangt die notarielle Beurkundung (§ 122c Abs. 4 UmwG). Das ist im Grundsatz die Beurkundung durch einen deutschen Notar. In der Begründung des Regierungsentwurfs wird zwar auch eine Substitution durch Beurkundung im Ausland nach allgemeinen Regeln angesprochen33. Voraussetzung dafür ist, dass die ausländische Beurkundung der inländischen gleichwertig ist. Nach der Formel des BGH ist Gleichwertigkeit gegeben, wenn die ausländische Urkundsperson „nach Vorbildung und Stellung im Rechtsleben eine der Tätigkeiten des deutschen Notars entsprechende Funktion ausübt und für die Errichtung der Urkunde ein Verfahrensrecht zu beachten hat, das den tragenden Grundsätzen des deutschen Beurkundungsrechts entspricht“34. Allerdings gibt es gewichtige Stimmen, die eine deutsche Urkundsperson für solche Beurkundungen verlangen, die die Verfassung der Gesellschaft betreffen35. Das dürfte für die Verschmelzung unzweifelhaft der Fall sein. Die Praxis wird sich daher auf Doppelbeurkundungen einstellen müssen36.

3. Umsetzung durch §§ 122a ff. UmwG Innerhalb des UmwG passen sich die neuen §§ 122a ff. UmwG nicht nahtlos in das allgemeine deutsche Verschmelzungsrecht ein. Dadurch kommt zu Brüchen im Gesetz. Einige Beispiele: 32 Kindler, in: MünchKomm. Internationales Wirtschaftsrecht (Fn. 3), IntGesR Rn. 866. 33 BT-Drucks. 548/06, S. 31. 34 BGHZ 80, 76, 78. 35 Goette, DStR 1996, 709, 713 f.; OLG Hamm, NJW 1974, 1057; OLG Karlsruhe, RIW 1979, 567, 568. 36 J. Vetter, AG 2006, 613, 617.

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a) Nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 UmwG müssen die „Folgen der Verschmelzung für die Arbeitnehmer und ihre Vertretungen“ im Verschmelzungsvertrag beschrieben werden. Die seitenlangen Beschreibungen in den inländischen Verschmelzungsverträgen sind bekannt; jede Verschmelzung führt zu einer weiteren Verlängerung der üblichen Texte. Bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung soll der Verschmelzungsplan demgegenüber die voraussichtlichen „Auswirkungen der grenzüberschreitenden Verschmelzung auf die Beschäftigung“ beschreiben (Art. 5 Buchst. d Verschmelzungs-RL; § 122c Abs. 2 Nr. 4 UmwG). Sind die „Folgen für die Arbeitnehmer“ und die „Auswirkungen auf die Beschäftigung“ ein- und dasselbe? Dazu muss man wissen, dass bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung auch im Verschmelzungsbericht die „Auswirkungen auf die Arbeitnehmer“ zu erläutern sind (Art. 7 Satz 1 Verschmelzungs-RL; § 122e Satz 1 UmwG). Dies wiederum steht im Zusammenhang damit, dass bei der grenz überschreitenden Verschmelzung, anders als bei der innerstaatlichen Verschmelzung, nur der Verschmelzungsbericht, nicht aber der Verschmelzungsplan den Arbeitnehmern oder ihren Vertretungen zugänglich zu machen ist (Art. 7 Satz 2 Verschmelzungs-RL; § 122e Satz 2 UmwG). Daraus wird man folgern können: Die Erläuterungen im grenzüberschreitenden Verschmelzungsbericht zu den „Auswirkungen auf die Arbeitnehmer“ werden tendenziell dem entsprechen, was bei der inländischen Verschmelzung beschreibend im Verschmelzungsvertrag enthalten sein muss. Im grenzüberschreitenden Verschmelzungsplan werden sich die Angaben zu den „Auswirkungen auf die Beschäftigung“ dagegen auf solche beschränken können, die aus Sicht der Gesellschafter von Interesse sind, etwa die Gesamtzahl der Arbeitnehmer nach der Verschmelzung und etwaige Personalmaßnahmen, die sich auf das zukünftige Ergebnis auswirken können37. b) Nach dem allgemeinen Baukastensystem des UmwG gelten die allgemeinen Vorschriften der §§ 2 ff. UmwG ergänzend neben den besonderen Vorschriften der §§ 39 ff. UmwG, wenn in den besonderen Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Dieses Baukastenprinzip kommt auch bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung zum Tragen. Dies folgt aus der Verweisung des § 122a Abs. 2 UmwG und findet seinen Ausdruck etwa in den positiven Regelungen des 37 J. Vetter, AG 2006, 613, 619 f.

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§ 122d Satz 1 und 2 UmwG, die die Anwendbarkeit der §§ 10 und 13 UmwG voraussetzen, oder der Ausschlussregelung des § 122e Satz 3 UmwG. Fehlende Regelungen im Abschnitt zur grenzüberschreitenden Verschmelzung sind daher durch die Allgemeinen Vorschriften aufzufüllen. Dies gilt z. B. für die Frage, ob der Verschmelzungsbericht auch gemeinsam erstellt werden kann. Das ist durch Rückgriff auf § 8 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz UmwG zu bejahen, setzt aber voraus, dass auch das parallel anzuwendende ausländische Verschmelzungsrecht den gemeinsamen Verschmelzungsbericht akzeptiert.

4. Typische Probleme bei der Verschmelzung von Publikumsgesellschaften Taugt das neue Recht auch für den grenzüberschreitenden merger of equals von europäischen Publikumsgesellschaften? Die theoretische Antwort ist ja; praktisch gilt dieses Attest aber nur mit erheblichen Einschränkungen: a) Zunächst zur Herausverschmelzung: Widersprechende Aktionäre haben gemäß § 122i UmwG ein Austrittsrecht gegen angemessene Barabfindung. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass kein Anteilsinhaber gezwungen werden soll, die mit dem Wechsel in eine ausländische Rechtsform verbundene Änderung seiner Rechte und Pflichten hinzunehmen38. Gesellschaftsrechtlich ist das die reine Lehre, führt aber praktisch zu einer erheblichen finanziellen Belastung der Fusion. Würde man die Dinge etwas stärker aus Kapitalmarktsicht sehen – also annehmen, dass bei der börsennotierten AG nicht die mitgliedschaftliche Komponente, sondern die Vermögenskomponente im Vordergrund steht – hätte es näher gelegen, auf die Börsennotierung abzustellen. Ein Austrittsrecht würde es dann nicht geben, wenn die inländische börsennotierte Gesellschaft auf eine gleichwertig börsen notierte ausländische Gesellschaft verschmolzen wird. Was Gleichwertigkeit bedeutet, könnte aus dem Standard des § 3 Abs. 2 AktG („börsennotiert“) oder des § 2 Abs. 7 WpÜG („organisierter Markt“) abgeleitet werden. Dies ist aber nicht die Auffassung des Gesetzgebers, der ausschließlich gesellschaftsrechtlich denkt. Die gesellschaftsrechtliche Sicht des Gesetzgebers in § 122i UmwG steht allerdings in Widerspruch zur Wertung des § 305 Abs. 2 Nr. 1 AktG. Danach kann beim Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag die Ab38 Begr RegE, BT-Drucks. 548/06, S. 34.

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findung auch dann in Aktien gezahlt werden, wenn es sich um Aktien einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum handelt. Zur wirtschaftlichen Bedeutung des Austrittsrechts: Das Austrittsrecht besteht – wie in § 29 UmwG – gegen angemessene Barabfindung. Das ist nach herrschender Lehre und Praxis der Ertragswert, mindestens der Marktwert der Aktien. Folgender Fall veranschaulicht die Tragweite dieser Lehre: Die Unternehmen A und B seien echte „equals“ mit in etwa gleichem Ertragswert und gleicher Kapitalstruktur auf beiden Seiten. Das Umtauschverhältnis auf der Grundlage der Ertragswerte betrage daher 1 : 1. Der Börsenkurs je Aktie sei bei beiden Gesellschaften etwa 15 Euro, die Ertragswerte bei beiden etwa 20 Euro. Der Unterschied zwischen Börsenkurs und Ertragswert ist durchaus kein pathologischer Fall, sondern auch in der derzeitigen Börsenverfassung ein (noch) plausibles Beispiel. Bei der Bestimmung des Umtauschverhältnisses egalisiert sich der Unterschied zwischen Börsenkurs und Ertragswert, ohne dass die Diskussion geführt werden müsste, ob und inwieweit der Börsenkurs bei der Verschmelzung überhaupt zu berücksichtigen ist. Vergleicht man Äpfel mit Äpfel und Birnen mit Birnen, ergibt sich in jedem Fall ein Umtauschverhältnis von 1 : 1. Jeder Aktionär erhält in der Verschmelzung also ein Wertpapier, das am Markt 15 Euro wert ist. Aber jeder Aktionär der deutschen Gesellschaft hat auch das Recht, gegen Zahlung von 20 Euro auszusteigen. Vernünftigerweise wird davon jeder Aktionär Gebrauch machen – und sei es nur deshalb, um mit den 20 Euro am Markt 1 1/3 Aktien des übernehmenden Rechtsträgers zu kaufen. Dieses Ergebnis kann nicht richtig sein, ist aber mit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des UmwG geltendes Recht. Bei der Herausverschmelzung gibt es darüber hinaus Abstriche bei der Transaktionssicherheit. Die Anfechtung mit der Bewertungsrüge auf der Ebene der übertragenden inländischen Gesellschaft gemäß § 14 Abs. 2 UmwG ist nur ausgeschlossen, wenn den Aktionären dieser übertragenden Gesellschaft das Spruchverfahren eröffnet ist39. Das setzt bei der grenzüberschreitenden Verschmelzung aber gemäß § 122h Abs. 1 UmwG Reziprozität oder Zustimmung der Hauptversammlung des Verschmelzungspartners voraus. Mit dieser Vorschrift wird der Spielraum genutzt, der den Mitgliedsstaaten gemäß Art. 4 Abs. 2 Satz 2 der Verschmelzungs-RL eröffnet ist, „um einen angemessenen Schutz der Minderheitsgesellschafter, die die grenzüberschreitende Verschmelzung abgelehnt haben, zu gewähr39 Vgl. BT-Drucks. 548/06, S. 33.

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leisten.“ An der Gegenseitigkeit, die § 122h Abs. 1 UmwG voraussetzt, fehlt es aber in Europa weitgehend. Eine Ausnahme ist z. B. Österreich. Und wer möchte auf die Zustimmung der Hauptversammlung wetten, neben der Belastung durch die Barabfindung für austrittswillige Aktionäre auch noch eine in bar zu erfüllende Nachbesserung des Umtauschverhältnisses für alle Aktionäre der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren? Nur durch ein vorgeschaltetes freiwilliges Umtauschangebot, bei dem die Aktionäre der inländischen Gesellschaft freiwillig – nach den Regeln des Kapitalmarkts – ihre Aktien eintauschen, kann das Risiko des Spruchverfahrens volumenmäßig begrenzt werden; so begrenzt mag das Risiko dann für die Hauptversammlung des ausländischen Verschmelzungspartners akzeptabel sein. b) Man könnte versucht sein, diese Schwierigkeiten bei der Herausverschmelzung mit einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers zu erklären, inländische Gesellschaften im Lande zu halten. Aber auch die Hineinverschmelzung ins Inland ist mit erheblichen Problemen verbunden, die von den ausländischen Gesprächs- und Fusionspartnern oft nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen werden. Gemeint ist insbesondere das Anfechtungsrecht der Aktionäre des übernehmenden Rechtsträgers, das auf Bewertungsrügen gestützt werden kann. Das UMAG hatte bekanntlich keine Erleichterung gebracht. Die das Anfechtungsrecht zurück schneidende Regelung des neuen § 243 Abs. 4 Satz 2 AktG – keine Anfechtung wegen Informationspflichtverletzung im Zusammen hang mit Bewertungsfragen, wenn ein Spruchverfahren vorgesehen ist – hilft hier gerade nicht, weil es beim übernehmenden Rechtsträger kein Spruchverfahren gibt40. Auch das bei einer inländischen Verschmelzung probate Mittel einer Verschmelzung zur Neugründung oder auf eine NewCo führt nicht weiter. Denn auch diese Dreiecksverschmelzung mit zwei übertragenden Rechtsträgern ist nach richtiger Auffassung eine grenzüberschreitende Verschmelzung – für sie bleibt es bei dem Grundsatz, dass das Spruchverfahren auf der Ebene der übertragenden inländischen Gesellschaft nur dann zur Anwendung kommt, wenn die Hauptversammlung der anderen – ausländischen – Gesellschaft dem zustimmt oder wenn Gegenseitigkeit gegeben ist41. 40 Hierzu Hoffmann-Becking, ZGR 1990, 482, 484. 41 In diesem Fall besteht allerdings kein Austrittsrecht, wenn die übernehmende oder neue Gesellschaft dem deutschen Recht unterliegt, § 122i Abs. 1 UmwG.

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Schließlich nützt es nichts, die im Rahmen der Verschmelzung auszugebenden Aktien durch ein genehmigtes Kapital zur Verfügung zu stellen, das anfechtungsfrei ausgenutzt werden kann. Die Anfechtung mit der Bewertungsrüge setzt nämlich nach herrschender Auffassung nicht am Kapitalerhöhungsbeschluss an, sondern am Verschmelzungsbeschluss selbst. Alle Bewertungsfragen schlagen daher unmittelbar auf den Verschmelzungsbeschluss durch42 . Der einzig sichere Weg der Hineinverschmelzung ist somit die Verschmelzung ohne Verschmelzungsbeschluss beim übernehmenden Rechtsträger und ohne Kapitalerhöhungsbeschluss der Hauptversammlung dieser Gesellschaft. Das setzt voraus, dass die übernehmende inländische Gesellschaft mindestens 90 % der Grundkapitals der ausländischen übertragenden Gesellschaft hält. § 62 UmwG, der diese Art der Konzernverschmelzung regelt, ist auch im Rahmen der §§ 122a ff. UmwG ergänzend anzuwenden. Auch bei der Hineinverschmelzung hätte also ein vorgeschaltetes Angebot – insbesondere ein Barangebot ohne Kapitalerhöhung – Vorteile. Ob ein solches Barangebot Erfolg hat, hängt neben anderen Faktoren von der Höhe des Angebotspreises ab, dessen Attraktivität wiederum im Lichte der erwarteten Verschmelzungs-Umtauschrelation und dem aktuellen Börsenwert der Aktien v. a. des übernehmenden Rechtsträgers zu beurteilen ist.

IV. Europäische Gesellschaft Eine weitere Möglichkeit, zwei europäische Aktiengesellschaften grenzüberschreitend zu verschmelzen, ergibt sich aus der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. 10. 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft („SE-Verordnung“). Nach Art. 2 der SE-Verordnung können die im Anhang zur Verordnung genannten Aktiengesellschaften43 eine SE durch Verschmelzung gründen, sofern mindestens zwei von ihnen dem Recht verschiedener Mitgliedstaaten unterliegen. Möglich ist die Ver42 BGHZ 112, 9, 19; Bork, in: Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 14 Rn. 14; a. A. OLG Hamm, WM 1988, 1164, 1169: „Einwendungen gegen das Umtauschverhältnis müssen, wie sich aus § 255 Abs. 2 AktG ergibt, im Rahmen der Anfechtung des Kapitalerhöhungsbeschlusses nach § 255 Abs. 1 AktG erfolgen.“; ebenso LG Frankfurt, WM 1990, 592, 594 f. 43 Z. B. in Frankreich die societé anonyme, in Großbritannien die public companies limited by shares und die public companies limited by guarantee having a share capital.

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schmelzung zur Aufnahme und zur Neugründung einer SE. Bekanntlich gibt es keine einheitliche SE, sondern immer nur eine SE bestimmter nationaler Prägung (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) SE-Verordnung), die entweder über ein dualistisches oder über ein monistisches Verwaltungssystem verfügt (vgl. Art. 38 Buchst. b) SE-Verordnung). Auch bei der SE-Verschmelzung hat der deutsche Gesetzgeber das beschriebene Programm zum Minderheitenschutz bei der Herausverschmelzung, also der Verschmelzung auf eine SE ausländischer Prägung, umgesetzt: Es besteht ein Austrittsrecht gegen angemessene Barabfi ndung (§ 7 Abs. 1 SEEG) sowie ein Anfechtungsrecht, das auf die Bewertungsrüge gestützt werden kann. Dieses Anfechtungsrecht wird beim übertragenden Rechtsträger nur dann durch ein Spruchverfahren verdrängt, wenn der Verschmelzungspartner, nach dessen Recht ein derartiges Verfahren nicht vorgesehen ist, das deutsche Spruchverfahren ausdrücklich akzeptiert (§ 6 Abs. 1 SEEG i. V. m. Art. 23 Abs. 3 Satz 1 SE-Verordnung). Möglich ist auch die Fusion unter eigenem Fortbestand zu einer Holding-SE (Art. 32 SE-Verordnung). Hat diese Holding-SE ihren Sitz im Ausland, greift wiederum der soeben beschriebene Minderheitenschutz ein (§ 9 und § 11 Abs. 2 SEEG). Das Austrittsrecht gegen angemessene Barabfi ndung stellt sich in diesem Zusammenhang als eine Ausprägung des Konzerneingangsschutzes dar, konzeptionell am ehesten der Situation beim Pfl ichtangebot gemäß § 35 WpÜG vergleichbar. Dem widersprechenden Minderheitsaktionär ist es bei der Bildung einer SE-Holding unbenommen, in „seiner“ Ausgangsgesellschaft, die zur Tochtergesellschaft der SE-Holding wird, zu verbleiben; dafür genügt gemäß Art. 33 Abs. 1 SE-Verordnung schlichtes Nicht-Handeln, nämlich es zu unterlassen, die gehaltenen Aktien in die SE-Holding einzubringen. Gleichwohl wird der Minderheitsgesellschafter, der der Verschmelzung widersprochen hat und Aktionär der deutschen Aktiengesellschaft bleiben könnte, nicht auf den allgemeinen konzernrechtlichen Schutz – der sich bei seiner Gesellschaft weiterhin nach Maßgabe des AktG verwirklicht – verwiesen, sondern bekommt zusätzlich das Recht, die Gesellschaft gegen Barabfi ndung zu verlassen. Komfortabler kann es für die Minderheit kaum sein.

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V. Grenzüberschreitender Zusammenschluss durch ein öffentliches Übernahmeangebot Ganz andere Fragen stellen sich, wenn der Unternehmenszusammenschluss nicht durch echte Verschmelzung, sondern durch ein öffentliches Übernahmeangebot, wenn möglich kombiniert mit einem nachfolgenden Squeeze Out, vollzogen werden soll. Das ist der Bereich des Übernahmeund Prospektrechts. Bietet der Übernehmer als Gegenleistung – verschmelzungsähnlich – auch Aktien an, liegt ein öffentliches Angebot von Wertpapieren vor, das grundsätzlich die Veröffentlichung eines Prospekts verlangt (§ 3 Abs. 1 WpPG, beruhend auf Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. 11. 2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG – „Prospekt-RL“). Ideal wäre eine Regelung, wonach die den Aktionären der Zielgesellschaft vorzulegende Dokumentation von der Behörde eines Staates zu billigen wäre und das so gebilligte Dokument dann in allen Mitgliedstaaten, in denen Aktionäre der Zielgesellschaft angesprochen werden sollen, ohne weitere Prüfung als maßgebliches Dokument anerkannt wird. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Zuständig für die Billigung des Prospekts ist grundsätzlich die Aufsichtsbehörde des Bieters. Das ist das „Country of Origin“-Prinzip (Art. 13 Abs. 1 Prospekt-RL). Übernahmerechtlich liegt die Beaufsichtigung des Übernahmeangebots demgegenüber grundsätzlich bei der Aufsichtsstelle, in dem die Zielgesellschaft ihren Sitz hat, wenn die Wertpapiere der Zielgesellschaft auf einem geregelten Markt dieses Mitgliedsstaats zum Handel zugelassen sind – und dies ist immer noch der Regelfall. Die Zuständigkeiten fallen also auseinander. Die Öffnungsklausel in Art. 13 Abs. 5 der Prospekt-RL ermöglicht zwar eine Konzentration auf die Behörde eines Landes: Die zuständige Behörde des Herkunftsmitgliedstaates (Country of Origin) kann die Billigung des Prospekts der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaates übertragen, sofern diese Behörde damit einverstanden ist. Aufgrund des damit verbundenen freiwilligen Kompetenzverzichts wird sich dieser Weg in der Praxis aber kaum durchsetzen. Übernahmerechtlich muss auch die Angebotsunterlage sämtliche Prospektangaben enthalten, wenn als Gegenleistung Aktien angeboten werden und nicht auf einen gültigen Prospekt verwiesen werden soll oder kann (vgl. § 2

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Nr. 2 der Verordnung über den Inhalt der Angebotsunterlage, die Gegenleistung bei Übernahmeangeboten und Pflichtangeboten und die Befreiung von der Verpflichtung zur Veröffentlichung und zur Abgabe eines Angebots). Enthält die Angebotsunterlage diese Prospektangaben, kann dies wiederum eine Ausnahme von der Pflicht zur Veröffentlichung eines Prospekts begründen, wenn nämlich mit der Angebotsunterlage ein „Dokument verfügbar ist, dessen Angaben nach Ansicht der zuständigen Behörde denen des Prospekts gleichwertig sind“ (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) ProspektRL; § 4 Abs. 2 Nr. 3 WpPG). Aber welche Behörde ist zuständig, die Gleichwertigkeit zu beurteilen? Über die Gleichwertigkeit entscheidet weder zentral die übernahmerechtlich zuständige Aufsichtsbehörde noch die Aufsichtsbehörde des Bieters nach dem „Country of Origin“-Prinzip, sondern jede Behörde jeden Mitgliedsstaats, in dem das Angebot veröffentlicht werden soll. Das ist das „Territorial Jurisdiction“-Prinzip. Das kann im Einzelfall ein bunter Teppich verschiedener Meinungen und Anforderungen werden, den man tunlichst vermeiden möchte. Praktisch wird man bei grenzüberschreitenden Angeboten mit einer Aktienkomponente daher stets einen Prospekt veröffentlichen, der von der Aufsichtsbehörde des Bieters gebilligt wird und dann in die in Betracht kommenden Mitgliedstaaten „gepassportet“ werden kann. Das Passporting des Prospekts ist relativ einfach – es ist ein Notifi zierungsvorgang, bei dem die inländische Behörde den ausländischen Behörden eine Bescheinigung über die Billigung übermittelt (Art. 17, 18 Prospekt-RL; §§ 17, 18 WpPG). Beizufügen ist nach dem Recht der meisten Adressat-Mitgliedstaaten eine Übersetzung der Zusammenfassung des Prospekts in die Landessprache. Das Passporting der Angebotsunterlage ist davon zu trennen. Die Rechtsgrundlagen für das Passporting der Angebotsunterlage sind nicht so eindeutig geregelt. Die Formulierung in Artikel 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. 4. 2004 betreffend Übernahmeangebote („Übernahme-RL“) ist missverständlich. Danach ist die gebilligte Angebotsunterlage, „vorbehaltlich einer gegebenenfalls erforderlichen Übersetzung, in allen anderen Mitgliedstaaten, an deren Märkten die Wertpapiere der Zielgesellschaft zum Handel zugelassen sind, anzuerkennen, ohne dass eine Billigung durch die Aufsichtsstellen der betreffenden Mitgliedstaaten erforderlich wäre.“ Weiter heißt es: „Die Mitgliedstaaten können die Aufnahme zusätzlicher Angaben in die Angebotsunterlage nur verlangen, wenn diese Angaben für den Markt des

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Mitgliedsstaates […], auf dem die Wertpapiere der Zielgesellschaft zum Handel zugelassen sind, spezifisch sind und wenn sie sich auf Förmlichkeiten beziehen, die bei der Annahme des Angebots und dem Erhalt der […] Gegenleistung zu beachten sind …“ Das klingt nach einem europäischen Pass in all die Länder, in denen die Aktien zum Handel zugelassen sind. Aber ist die Angebotsunterlage auch dort ohne weiteres anzuerkennen, wo die Aktien der Zielgesellschaft nicht zum Handel zugelassen sind? Das ist die einzige vernünftige Auslegung („erst recht“). In Mitgliedstaaten, in denen die Aktien nicht zugelassen sind, können auch keine zusätzlichen Angaben verlangt werden. Dieses Ergebnis wird mit dem kollisionsrechtlichen Anwendungsbereich der nationalen Übernahmerechte abgebildet. Nach § 11a WpÜG wird eine im europäischen Ausland gebilligte Angebotsunterlage „nur“ dann ohne zusätzliches Billigungsverfahren im Inland anerkannt, wenn die Aktien der Zielgesellschaft auch im Inland zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind. Hintergrund dieser engen Fassung ist, dass das WpÜG, soweit es um den Inhalt der Angebotsunterlage geht, gemäß § 1 Abs. 3 WpÜG (im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Übernahme-RL) schon nicht anwendbar ist, wenn die Aktien der Zielgesellschaft nicht im Inland zum Handel zugelassen sind. In diesen Fällen ergibt sich der Passport nach Deutschland also nicht aus der Verfahrensvorschrift des § 11a WpÜG, sondern aus dem (fehlenden) Anwendungsbereich des WpÜG. Dass der durch § 1 Abs. 3 WpÜG festgelegte Anwendungsbereich trotzdem „vorbehaltlich des § 11a WpÜG“ gilt, erklärt sich daraus, dass es nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 b) WpÜG Fälle gibt, in denen die Aktien der Zielgesellschaft zwar zum Handel an einem organisierten Markt in Deutschland zugelassen sind, aber das WpÜG durch ein vorrangig geltendes ausländisches Übernahmerecht verdrängt wird. In diesen Fällen folgt aus dem isoliert anzuwendenden § 11a WpÜG, dass die ausländische Angebotsunterlage ohne weiteres auch in Deutschland anzuerkennen ist.

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Grenzüberschreitende Verschmelzungen* – Steuerliche Aspekte – Dipl.-Kfm. Prof. Dr. Ulrich Prinz Wirtschaftsprüfer/Steuerberater, Bonn I. Zum Thema .......................... II. Ausgangspunkt im „alten“ UmwStG: Inlandsbeschränkte buchwertverknüpfte Verschmelzungen ..... III. Das neue Grundkonzept für grenzüberschreitende Verschmelzungen nach dem SEStEG v. 7. 12. 2006 ...... 1. Ziele und Rahmenbedingungen des SEStEG .............................. 2. Konzeptioneller Paradigmenwechsel bei der Bewertung: Entstrickung zum gemeinen Wert, nur antragsgebundene Buchwertverknüpfung ...................... 3. Europäisierung statt Globalisierung ................... 4. Beseitigung des umwandlungssteuerlichen Maßgeblichkeitsprinzips ............................. 5. Zur Veranschaulichung: Europäische Hinausverschmelzung sowie Drittstaatenverschmelzung mit Inlandsbezug ..............

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a) Grundfall: Europäische Hinausverschmelzung ................ aa) Anwendbarkeit des „neuen“ UmwStG ............. bb) Steuerliche Folgen bei der T-GmbH (= übertragender Rechtsträger) ....... cc) Steuerliche Folgen bei der F-SA (= übernehmender Rechtsträger) ....................... dd) Steuerliche Folgen bei der D-GmbH als Anteilseigner ....................... b) Sonderfälle: Drittstaatenverschmelzung mit Inlandsbezug .............. IV. Einzelfragen zur grenzüberschreitenden Verschmelzung nach dem SEStEG v. 7. 12. 2006 .............. 1. Neues Verbot des Übergangs von Verlustvorträgen auf den übernehmenden Rechtsträger (Streichung von § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG a. F.) ........

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* Dem Referat lag der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum SEStEG v. 25. 9. 2006 zu Grunde (BT-Drucks. 16/2710). Der Beitrag wurde inhaltlich angepasst an die vom Gesetzgeber verabschiedete Fassung des SEStEG v. 7. 12. 2006, die vom Entwurf zwar nicht in Grundsatzfragen, aber in diversen Einzelpunkten abweicht.

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Prinz – Grenzüberschreitende Verschmelzungen (Steuerrecht) a) Verbot eines verschmelzungsbedingten Verlusttransfers ............................. b) Grund und Folgen der Rechtsverschärfung ........... 2. Besonderheiten beim verschmelzungsbedingten Übertragungsund Übernahmeergebnis sowie bei Umwandlungskosten ... a) Nachversteuerungsregelungen beim Beteiligungsansatz im Fall der Buchwertverknüpfung ............... b) Behandlung von Umwandlungskosten beim Übernahmeergebnis .................. c) Erstreckung der Fiktion 5 % nicht abziehbarer Betriebsausgaben auf den Übernahmegewinn ............ 3. Grenzüberschreitende Verschmelzung mit unterschiedlichen Stichtagsregelungen .......

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4. Besonderheiten beim Einlagekonto, Körperschaftsteuerguthaben sowie bei der EK 02Nachversteuerung ............. a) Einlagekonto gem. § 27 KStG .................... b) Systemwechsel beim Kör perschaftsteuerguthaben gem. § 37 KStG .................... c) Keine Rechtsveränderung bei Körperschaftsteuererhöhungen gem. § 38 KStG ..... 5. Verzicht auf die geplante allgemeine Missbrauchsregelung gem. § 26 UmwStG-E ................

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V. Zusammenfassende Wertung ..................................

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I. Zum Thema Das „Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG)“ datiert auf den 7. 12. 2006 und wurde nach gut einjähriger Diskussion – ein erster interner Referentenentwurf stammt aus September 2005 – am 12. 12. 2006 im BGBl. veröffentlicht1. Das UmwStG ist in Art. 6 des SEStEG insgesamt neu gefasst worden. Die Änderungsmo1 Das Gesetzgebungsverfahren ist vereinfacht wie folgt abgelaufen: Regierungsentwurf v. 12. 7. 2006 (BT-Drucks. 542/06), Stellungnahme des Bundesrats v. 22. 9. 2006 und Gegenäußerung der Bundesregierung v. 12. 10. 2006 (BT-Drucks. 542/06 sowie BT-Drucks. 16/2934). Der Bundestag hat das SEStEG am 9. 11. 2006 auf Grund der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses angenommen (Plenarprotokoll 16/63); die Zustimmung des Bundesrats ist am 24. 11. 2006 erfolgt (BR-Drucks. 836/06). Im Finanzausschuss des Deutschen Bundestags hat am 18. 10. 2006 eine Expertenanhörung stattgefunden, bei der viel Kritik am seinerzeitigen Gesetzesentwurf geübt wurde. Insgesamt hat das SEStEG im Gesetzgebungsverfahren zahlreiche Veränderungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetzesentwurf der Bundesregierung erfahren. Zu einem Kurzüberblick vgl. Eicker/Orth, IWB 23/2006, 1141; Benecke, NWB 50/2006, 4253; Benecke, StuB 2007, 3.

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tive sind vielgestaltig und rühren vor allem aus europäischem Recht, einem vereinheitlichten Entstrickungs- und Verstrickungskonzept sowie einer vermeintlichen „Missbrauchsabwehr“ zur Sicherung deutschen Besteuerungssubstrats. Konzeptionell neu gefasst wurde vor allem der Einbringungsteil (§§ 20 – 23 UmwStG). Gemäß § 27 Abs. 1 UmwStG ist die Neufassung des Umwandlungssteuerrechts erstmals auf Umwandlungen und Einbringungen anzuwenden, bei denen die Anmeldung zur Eintragung in das für die Wirksamkeit des jeweiligen Vorganges maßgebende öffentliche Register nach dem 12. 12. 2006 erfolgt ist2 . Bis zu diesem Stichtag gilt (vereinfacht) das alte UmwStG. Wegen der achtmonatigen Rückwirkungsmöglichkeit bei bestimmten Umwandlungen mit steuerlicher Wirkung können auch bereits unterjährige Übertragungsstichtage im Jahr 2006 vom „neuen“ Recht betroffen sein; dies kann im Einzelfall wegen auftretender „Rechtssprünge“ zu Verwerfungen führen (etwa bei Gewinnausschüttungen im Rückwirkungszeitraum wegen § 37 KStG). Wegen verspäteter Anpassung an die entsprechenden Vorgaben der Fusionsrichtlinie soll das „neue“ Recht auf die SE bereits ab 1. 1. 2006 anwendbar sein. Vor allem für bereits vorhandene einbringungsgeborene Altanteile gilt allerdings das alte Recht ohne zeitliche Begrenzung weiter (§ 27 Abs. 3 Nr. 3 UmwStG); mitunter sind daher zwei Rechtslagen langfristig alternativ zu beachten. Die Ingangsetzung des neuen UmwStG in der Fassung des SEStEG zum 12. 12. 2006 hat hohen Gestaltungsdruck für betroffene Unternehmen und ihre Berater im vierten Quartal 2006 gebracht; stets mussten die Vor- und Nachteile des alten gegenüber dem neuen Recht abgewogen werden. Der Beitrag konzentriert sich auf die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften, wobei grenzüberschreitende Vorgänge im Mittelpunkt stehen. Dies setzt allerdings zunächst Verständnis für die steuerlichen Funktionsmechanismen rein innerstaatlicher Verschmelzungsvorgänge voraus. Dabei kommen verschiedene Varianten grenzüberschreitender Verschmelzungen in Betracht. Neben den Inlandsvorgängen sind üblicherweise die Hereinverschmelzung, die Hinausverschmelzung sowie die Auslandsverschmelzung mit Inlandsbezug zu unterscheiden. Insoweit bestehen unterschiedliche steuerliche Problemlagen. Ähnliches gilt für grenzüberschreitende Spaltungsfälle. Es kann sich dabei jeweils um Upstream-, Downstream- oder Sidestream-Verschmelzungen handeln. 2 Bei Einbringungen, deren Wirksamkeit keine Eintragung in ein öffentliches Register voraussetzt, wird auf den wirtschaftlichen Eigentumsübergang nach dem 12. 12. 2006 abgestellt.

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Außer Betracht bleiben im Weiteren grenzüberschreitende Verschmelzungen unter Beteiligung einer oder mehrerer Personengesellschaften. Entsprechendes gilt für die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften.

II. Ausgangspunkt im „alten“ UmwStG: Inlandsbeschränkte buchwertverknüpfte Verschmelzungen An dem bis zum 12. 12. 2006 geltenden „alten“ UmwStG wurde in der Fachwelt lange Jahre seine fehlende oder nur begrenzte grenzüberschreitende Öffnung bemängelt 3. Steuerneutrale Umstrukturierungen nach Maßgabe des Umwandlungssteuerrechts waren seinerzeit im Wesentlichen auf das Inland beschränkt, wobei aus dem EU-Bereich Sonderregelungen aus der Umsetzung der europäischen Fusionsrichtlinie resultierten (insbes. § 23 Abs. 4 UmwStG für den EU-Anteilstausch mit einer grenzüberschreitenden Buchwertverknüpfung). Der Grund für die weitgehende Inlandsbeschränkung des „alten“ UmwStG war: Die für die Verschmelzung von Körperschaften geltenden §§ 11–13 UmwStG a. F. haben über § 1 Abs. 1 UmwStG an die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben des Umwandlungsgesetzes angeknüpft, die sich nur auf bestimmte Rechtsträger mit Sitz im Inland erstreckten (§ 1 Abs. 1 UmwG). Internationale Umstrukturierungen mit Inlandsbezug führten daher häufig zu zwangsweisen Gewinnrealisierungen in Deutschland. Vor allem bei Verschmelzungen mit Auslandsberührung mussten zur Vermeidung von Ertragsteuerbelastungen Umwegkonstruktionen beschritten werden. Dabei wurde in der Praxis häufig die Beteiligungsertragsbefreiung des § 8b Abs. 2 KStG genutzt, die deutlich internationaler als das Umwandlungssteuerrecht ausgestaltet ist, da sowohl inländische wie auch ausländische Kapitalgesellschaftsanteile ohne Mindestbeteiligungsquote und Mindesthaltedauer ursprünglich gänzlich steuerfrei veräußert werden konnten. Diese Rechtsnorm wurde deshalb nicht nur für die Fremdveräußerung von Beteiligungen, sondern auch für interne anteilsbezogene Umstrukturierungsvorgänge genutzt. Erst die Fiktion von 5 % nicht abziehbarer Betriebsausgaben gem. § 8b Abs. 3 KStG auch anlässlich von Beteiligungsveräußerungen mit Wirkung ab dem Jahre 2004 3 Vgl. etwa Prinz, in: Noack/Spindler (Hrsg.), Unternehmensrecht und Internet, 2001, S. 233–250, 237 f.; Schmitt/Hörtnagl/Stratz, UmwG/UmwStG, 4. Aufl. 2006, § 1 UmwStG Rn. 39 f.

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hat die Nutzung des § 8b Abs. 2 KStG als Umstrukturierungsinstrument „gebremst“. Hinzu kommt, dass das Umwandlungssteuerrecht in seinen Tatbestandserfordernissen teilweise deutlich enger als das Umwandlungsrecht ist, bspw. im Bereich des Teilbetriebserfordernisses bei Spaltungen (einschl. Ausgliederungen). Zentrales Anliegen des „neuen“ ab 13. 12. 2006 geltenden UmwStG ist seine europäische Öffnung, wobei § 1 Abs. 1 UmwStG noch immer (abgesehen von den Einbringungsvorgängen im Wege der Einzelrechtsnachfolge) an die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben im UmwG anknüpft, die derzeit durch das „Zweite Gesetz zur Änderung des Umwandlungsgesetzes“ an die Vorgaben der Verschmelzungsrichtlinie angepasst werden. Daneben wird im „neuen“ UmwStG angeknüpft an zum Umwandlungsgesetz vergleichbare ausländische Vorgänge nach Maßgabe verschiedener europäischer Verordnungen und Richtlinien Die Gesetzgebungstechnik des UmwStG bei Verschmelzungen ist im Übrigen unverändert geblieben. Nach wie vor gilt: § 11 UmwStG befasst sich mit dem übertragenden Rechtsträger, § 12 UmwStG betrifft den übernehmenden Rechtsträger, § 13 UmwStG widmet sich der Besteuerung des Gesellschafters des übertragenden Rechtsträgers. Abhängig vom Typus der grenzüberschreitenden Verschmelzung können alle drei Vorschriften betroffen sein.

III. Das neue Grundkonzept für grenzüberschreitende Verschmelzungen nach dem SEStEG v. 7. 12. 2006 1. Ziele und Rahmenbedingungen des SEStEG Das am Tag nach seiner Verkündung (12. 12. 2006) in Kraft getretene SEStEG verfolgt eine doppelte Zielsetzung und ist deshalb in seiner Wirkung ambivalent4; im Vergleich zum „alten“ Recht gibt es teils Erleichterungen, teils Verschärfungen. Dies betrifft auch inländische und grenzüberschreitende Verschmelzungen von Kapitalgesellschaften: – Beseitigung steuerlicher Hemmnisse: Einerseits sollen die nationalen steuerlichen Vorschriften zur Umstrukturierung von Unternehmen an die jüngsten gesellschaftsrechtlichen und steuerlichen Entwicklungen und Vorgaben des europäischen Rechts angepasst werden (geänderte Fusionsrichtlinie, SE- und SCE-Verordnung, Verschmelzungsrichtlinie,

4 S. auch Kinzl, AG 2006, 580.

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SEVIC-Entscheidung des EuGH v. 13. 12. 20055, Lasteyrie du SaillantUrteil des EuGH v. 11. 3. 20046). Dadurch sollen steuerliche Hemmnisse für die als Folge der zunehmenden internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen immer wichtiger werdenden grenzüberschreitenden Umstrukturierungen von Unternehmen in Europa beseitigt werden. – Sicherung deutschen Besteuerungssubstrats: Andererseits werden mit dem Gesetz im Rahmen der Vorgaben des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts konsequent deutsche Besteuerungsrechte gesichert7. Dadurch sollen steuermindernde Gestaltungen verhindert werden, die vor dem Hintergrund des derzeitigen Standes der fehlenden Harmonisierung der direkten Besteuerung ansonsten innerhalb der EU sowie bei der Zusammenarbeit zwischen den EWR-Mitgliedsstaaten nicht ausgeschlossen werden können. Insoweit enthält das SEStEG eine Vielzahl von Regelungen zur Sicherung des Steueraufkommens, die teils zu einer Schlechterstellung gegenüber dem „alten“ Recht führen. Das konzeptionelle Ziel ist ambitioniert: Es soll ein systematisches, in sich geschlossenes und zukunftsfähiges steuerliches Umstrukturierungsrecht auf Basis eines allgemeinen Entstrickungs- und Verstrickungstatbestands geschaffen werden, dass sich auch für die künftige Weiterentwicklung des Gesellschaftsrechts öffnet. Im Hinblick auf die bestehenden europarechtlichen Diskriminierungsverbote sollen dabei europaweit die gleichen steuerlichen Grundsätze für inländische und grenzüberschreitende Umstrukturierungen von Unternehmen gelten. Im Weiteren soll, bezogen auf grenzüberschreitende Verschmelzungen, geprüft werden, ob diese gesetzgeberischen Zielsetzungen tatsächlich im „neuen“ UmwStG erfüllt werden8. 5 IStR 2006, 32; die Entscheidung betrifft den Fall der Hereinverschmelzung nach Deutschland. S. ergänzend auch Gesell/Krömker, DB 2006, 2558; Spahlinger/Wegen, NZG 2006, 721; Simon/Rubner, Der Konzern 2006, 835. 6 DB 2004, 686, das Judikat betrifft den Fall der französischen Wegzugsbesteuerung. Vgl. ergänzend auch EuGH v. 7. 9. 2006 – C-470/04, DStR 2006, 702 (sog. Rechtssache N); Köhler/Eicker, DStR 2006, 1871, 1874. 7 Zum Bild der „Trutzburg Deutschland“ vgl. Raupach, JbFStR 2005/2006, S. 432, 435. 8 Vgl. aus der Literatur weiterführend Werra/Teiche, DB 2006, 1455; Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1525 und DStR 2007, 369; Körner, IStR 2006, 469; Winkeljohann/Fuhrmann, DB 2006, 1862; Kessler/Huck, IStR 2006, 433; Dörfler/Rautenstrauch/Adrian, DB 2006, 1657; Dötsch/Pung, DB 2006, 2648, 2704, 2763; Hahn, IStR 2006, 797; Förster/Felchner, DStR 2006, 1725; Blumenberg/Lechner, BB-Spezial 8/2006, 25; Schafl itzl/Widmayer, BB-Spezial 8/2006, 36; Benecke/Schnitger, IStR 2006, 765; Hagemann/Jacob/Ropohl/Viebrock, NWB-Sonderheft 1/2007, 10 ff. Aus der Outbound-Sicht einer deutschen Muttergesellschaft ist schließlich die Er-

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2. Konzeptioneller Paradigmenwechsel bei der Bewertung: Entstrickung zum gemeinen Wert, nur antragsgebundene Buchwertverknüpfung Im Grundkonzept sieht das neue Umwandlungssteuerrecht nach Maßgabe des allgemein eingeführten Entstrickungsgrundsatzes für In- und Auslandsfälle stets eine Aufdeckung vorhandener stiller Reserven zum gemeinen Wert vor. Man wird insoweit auf die Definition des gemeinen Wertes in § 9 BewG zurückgreifen müssen; bei der Bewertung von Sachgesamtheiten dürfte dabei auf den Gesamtwert als Veräußerungspreis (einschl. Gewinnmarge) abzustellen sein9. Dies gilt auch im Verschmelzungsfall für die übertragende Körperschaft (§ 11 UmwStG) sowie deren Anteilseigner (§ 13 UmwStG). Bei der übernehmenden Körperschaft wird gem. § 12 UmwStG „automatisch“ an den Wert bei der übertragenden Körperschaft angeknüpft. Für Pensionsrückstellungen besteht allerdings eine Besonderheit: Ansatz stets mit den § 6a EStG-Werten, was ggf. zu stillen Lasten führt. Die erst am Ende des Gesetzgebungsverfahrens auf Initiative des Bundesrates eingeführte Stundungsregelung gem. § 4g EStG mit der Möglichkeit zur Bildung eines Ausgleichspostens für Anlagevermögen mit fünfjähriger Auflösungsdauer bei Überführung eines Wirtschaftsguts in eine EU-Betriebsstätte (typisierend gestreckte Besteuerung in Anlehnung an den sog. Betriebsstättenerlass) gilt nicht für Umwandlungsfälle. Die Vorschrift setzt von ihrem Wortlaut her eine Entnahme gem. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG voraus, die bei einer Verschmelzung nicht erfolgt. Im Übrigen lässt § 4g Abs. 1 Satz 5 EStG die Vorschriften des UmwStG ausdrücklich unberührt. Im Einzelfall können sich Anwendungskonkurrenzen ergeben, die gestalterisch nutzbar sind. Weiterhin gilt die in § 6 AStG auf Grund der Lasteyrie du Saillant-Entscheidung des EuGH eingeführte Stundungsregelung für Wegzugsfälle (= Beendigung der unbeschränkten deutschen Steuerpflicht) nur für § 17 EStG-Beteiligungen, strahlt also ebenfalls nicht auf das UmwStG aus. Die fehlende Stundungsmöglichkeit im UmwStG dürfte europarechtsproblematisch vor allem dort sein, wo bei vergleichbaren Inlandstransaktionen keine stillen Reserven aufgedeckt werden müssen. Auch das „Gebot zur Anwendung des mildesten Mittels“ lässt die fehlende Stundungsmöglichkeit europarechtsproblematisch erscheinen. weiterung des Aktivitätskatalogs in der Hinzurechnungsbesteuerung gem. § 8 Abs. 1 Nr. 10 AStG für niedrig besteuerte Entstrickungseinkünfte im Zusammenhang mit Umwandlungen sowie der neu gefasste § 10 Abs. 3 Satz 4 AStG zu erwähnen; eingehender dazu Grotherr, IWB 4/2007, 179 (v. 28. 2. 2007). 9 Vgl. Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1527; Dötsch/Pung, DB 2006, 2705.

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Nur auf Antrag kann beim übertragenden Rechtsträger eine Buchwertverknüpfung initiiert oder ein Zwischenwertansatz gewählt werden (§ 11 Abs. 2 UmwStG). Damit wird als Konzeptionswechsel das im „alten“ UmwStG geltende Regel-Ausnahmeverhältnis umgekehrt; im „alten“ UmwStG bestand ein Wahlrecht zur Teilwertaufstockung. Beim Anteilseigner der übertragenden Körperschaft ist ebenfalls eine antragsgebundene Buchwertverknüpfung, allerdings kein Zwischenwertansatz möglich (§ 13 Abs. 2 UmwStG). Der „Buchwert“ ist neuerdings defi niert in § 1 Abs. 5 Nr. 4 UmwStG als „der Wert, der sich nach den steuerrechtlichen Vorschriften über die Gewinnermittlung in einer für den steuerlichen Übertragungsstichtag aufzustellenden Steuerbilanz ergibt oder ergäbe“. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Antragstellung verweist § 11 Abs. 3 UmwStG auf § 3 Abs. 2 UmwStG. Danach ist der Antrag spätestens bis zur erstmaligen Abgabe der steuerlichen Schlussbilanz bei dem für die Besteuerung der übertragenden Körperschaft zuständigen Finanzamt zu stellen. Eine bestimmte Form des Antrags ist nicht vorgesehen. Ein entsprechender Rechtsverweis für die Antragstellung des Anteilseigners in § 13 UmwStG fehlt. Die Buchwertverknüpfung in § 11 Abs. 2 UmwStG setzt voraus, dass sichergestellt ist, dass die später bei der übernehmenden Körperschaft zu erfassenden stillen Reserven dort der Besteuerung mit Körperschaftsteuer unterliegen, das Recht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Besteuerung der übertragenen Wirtschaftsgüter (einschl. selbstgeschaffener immaterieller Wirtschaftsgüter, etwa Patente, Geschäftswert) bei der übernehmenden Körperschaft nicht beschränkt und zudem eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder nur in Gesellschaftsrechten besteht. Wie der ausländische Staat im Hinausverschmelzungsfall das übertragene Vermögen für steuerliche Zwecke ansetzt, ist unerheblich. Eine (umgekehrte) Bindung an den steuerlichen Wertansatz nach ausländischem Recht besteht nicht. Dadurch nimmt das SEStEG etwaige Doppelbesteuerungen „bewusst in Kauf“10. Im Hereinverschmelzungsfall wird gem. § 12 UmwStG an die der ausländischen Besteuerung in deren steuerlicher Übertragungsbilanz zu Grunde gelegten Werte angeknüpft, ein Buchwertansatz im Ausland führt daher zu später im Inland steuerpflichtigen stillen Reserven. Das allgemeine Verstrickungskonzept des § 4 Abs. 1 Satz 7 i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 5a EStG gilt insoweit ausdrücklich nicht. Die antragsgebundene Buchwertverknüpfung auf Anteilseignerebene erfordert gem. § 13 Abs. 2 Nr. 1 UmwStG im Grundfall ebenfalls, dass das deutsche Besteuerungsrecht hinsichtlich der Anteile an der übernehmenden Körperschaft nicht beschränkt wird. Dies ist üblicher10 So zutreffend Werra/Teiche, DB 2006, 1455, 1459.

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weise nach den von Deutschland abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen der Fall (Besteuerungsrecht für Ansässigkeitsstaat des Anteilseigners; Art. 13 Abs. 5 OECD-MA). Im Übrigen findet sich in § 13 Abs. 2 Nr. 2 UmwStG ein allgemeines treaty-override mit Verweis auf Art. 8 Fusionsrichtlinie, das die steuerliche Erfassung einer Anteilsveräußerung in Deutschland unabhängig von etwaigen DBA’s sicherstellt. Entsprechendes gilt für den Fall der (zunächst steuerneutralen) Sitzverlegung einer SE/SCE in das europäische Ausland bei späterer Anteilsveräußerung (§ 13 Abs. 2 Nr. 2 UmwStG i. V. m. § 15 Abs. 1a Satz 2 EStG, Art. 10d Abs. 1 Fusionsrichtlinie). Das Erfordernis einer fehlenden Beschränkung des inländischen Besteuerungsrechts vor allem bei der übertragenden Körperschaft ist Kernproblem der Neuregelung. Dafür ist stets eine verbleibende inländische Betriebsstätte erforderlich, der die von der Verschmelzung betroffenen Wirtschaftsgüter funktional und tatsächlich zugeordnet werden müssen. Problem ist dabei in der Praxis die sog. Zentralfunktion des Stammhauses, wonach bei immateriellen Wirtschaftsgütern, Finanzbeteiligungen sowie gemeinsam durch Betriebsstätte und Stammhaus genutzten Wirtschaftsgütern formell typisierend eine Zuordnung zum Stammhaus erfolgen soll. Bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen kann dies eine ungewollte Entstrickung nach sich ziehen11. Hinweis: Einen Sonderfall der (Hinaus-) Verschmelzung mit bestehender EU-/EWRBetriebsstätte, für die Deutschland sein Besteuerungsrecht nicht durch Freistellung verliert, regelt § 11 Abs. 3 i. V. m. § 3 Abs. 3 UmwStG: Einerseits Ansatz der entstrickten Wirtschaftsgüter mit dem gemeinen Wert in der Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft, andererseits ist entsprechend Art. 10 Abs. 2 Fusionsrichtlinie eine fi ktive Steueranrechnung im Zusammenhang mit dem betriebsstättenspezifischen Übertragungsgewinn vorgesehen.

3. Europäisierung statt Globalisierung Das „neue“ Umwandlungssteuerrecht (i. d. F. des SEStEG v. 7. 12. 2006) behält im Grundsatz in den Teilen 2–5 seine Anknüpfung an gesellschaftsrechtliche Umwandlungsvorgänge. Dies gilt auch für die Verschmelzungsregelungen der §§ 11–13 UmwStG (3. Teil). Darüber hinaus ist das Umwandlungssteuergesetz europäisiert worden. Dies bedeutet: Der Anwendungsbereich des UmwStG erstreckt sich künftig nicht mehr nur auf inländische Umwandlungen, sondern erfasst auch grenzüberschreitende Ver-

11 Zu weiteren Details s. Kessler/Huck, IStR 2006, 433; Blumers, DB 2007, 312 und DB 2006, 856; zur SE-Besteuerung Piltz, JbFSt 2005/2006, S. 149–179; Frotscher, Gedächtnisschrift Krüger, 2006, S. 95.

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schmelzungen von Körperschaften sowie Verschmelzungen ausländischer Körperschaften, soweit an der Umstrukturierung Gesellschaften mit Sitz und Ort der Geschäftsleitung innerhalb der EU oder des EWR beteiligt sind. Abgestellt wird dabei auf im Verhältnis zur Inlandsumwandlung vergleichbare ausländische Vorgänge. Dies bedeutet: Der grenzüberschreitende bzw. ausländische Vorgang muss seinem Wesen nach einer im deutschen Umwandlungsteuergesetz geregelten Umwandlungsform entsprechen. Dabei ist zum einen ein Typenvergleich hinsichtlich der beteiligten Rechtsträger durchzuführen, zum anderen müssen die nach ausländischem Recht eintretenden Rechtsfolgen denen einer deutschen Verschmelzung entsprechen. Ausnahmsweise wird im Anwendungsbereich des § 13 UmwStG auch der Fall einer Auslandsverschmelzung in Drittstaaten mit inländischem Gesellschafter erfasst; § 12 Abs. 2 Satz 2 KStG verweist insoweit auf eine entsprechende Anwendung des § 13 UmwStG. Insoweit wirkt § 13 UmwStG global, nicht nur europäisch12 . Für die SE und SCE fingiert § 1 Abs. 2 Satz 2 UmwStG stets die Gründung in einem EU-/EWR-Staat. Schließlich sind besondere Regelungen zur Sitzverlegung im UmwStG nicht enthalten, insoweit gelten die allgemeinen Entstrickungstatbestände des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG (mit der Ausnahmebestimmung für die SE/SCE in § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG i. V. m. § 15 Abs. 1a EStG). Hinweis: Die steuerlichen Spaltungsregelungen in § 15 UmwStG sind inhaltlich weitgehend identisch geblieben, allerdings hat sich die Regelungstechnik geändert. Es wird nunmehr in § 15 Abs. 1 Satz 2 UmwStG die Nichtanwendbarkeit von § 11 Abs. 2 und § 13 Abs. 2 UmwStG bei fehlenden Teilbetriebsvoraussetzungen angeordnet, insoweit erfolgt keine Buchwertfortführung. Anstelle einer Sachausschüttung an den Gesellschafter fi ndet dann nach „neuem“ Recht eine Anteilsveräußerung zum gemeinen Wert statt. Im Übrigen ist die geänderte Fusionsrichtlinie gem. Art. 1 Buchst. a auch auf EU-grenzüberschreitende Ab- und Aufspaltungen anwendbar, obwohl dies gesellschaftsrechtlich derzeit noch nicht kodifi ziert ist13.

Man kann sicherlich vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten Verständnis für eine europäische Beschränkung des neuen Umwandlungssteuerrechts haben (harmonisiertes Recht mit ähnlichen Strukturen, Amtshilferichtlinie der EU und EG-Amtshilfegesetz, § 117 AO). Ob sie letztlich „klug“ ist, muss sich noch erweisen. Denn möglicherweise könnte die Beschränkung auf europäische Gesellschaften erneut eine Diskrimi12 Darüber hinaus ist das UmwStG im Bereich der Einbringung in EU-/EWR-Kapitalgesellschaften und in Personengesellschaften globalisiert worden. Denn insoweit ist gem. § 1 Abs. 4 UmwStG die Ansässigkeit des Anteilseigners unbeachtlich. Darüber hinaus können auch Drittstaatenbeteiligungen weiterhin durch Anteilstausch steuerneutral in eine EU-/EWR-Kapitalgesellschaft eingebracht werden. 13 Zu Details s. Dötsch/Pung, DB 2006, 2714; Benecke, NWB 50/2006, 4258.

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nierung bewirken, und zwar vor allem bei Anwendung des Art. 56 EG-Vertrag (Kapitalverkehrsfreiheit) mit der Drittstaatenwirkung sowie eventueller doppelbesteuerungsrechtlicher Diskriminierungsverbote (Art. 24 OECD-MA)14. Insoweit könnte auch ein Risiko für den Fiskus entstehen. Ursprünglich war in einem ersten Referentenentwurf noch aus dem Jahre 2005 ein globales Umwandlungssteuerkonzept angestrebt worden, was dann aber örtlich auf EU-/EWR-Staaten eingegrenzt wurde.

4. Beseitigung des umwandlungssteuerlichen Maßgeblichkeitsprinzips Im Zuge der Neufassung und Europäisierung des UmwStG ist das von der Finanzverwaltung bislang behauptete generelle umwandlungssteuerliche Maßgeblichkeitsprinzip15 der Handelsbilanz für die Steuerbilanz beseitigt worden, da ansonsten die (nunmehr als Regelrechtsfolge vorgesehene) Aufdeckung der gemeinen Werte u. U. gar nicht realisiert werden könnte. In der Gesetzesbegründung zum SEStEG wird klargestellt: „Die strikte Anknüpfung der Umwandlungsvorgänge an die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz wird aufgegeben.“

Eine ausdrückliche Kodifi zierung der Nichtgeltung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes bei der Ausübung umwandlungssteuerlicher Bewertungs14 Vgl. weiterführend Hageböke/Käbisch, IStR 2006, 849–855, die vor allem auf die absoluten Diskriminierungsverbote des Art. 24 Abs. 3 u. 5 OECD-MA hinweisen. 15 Seinem rechtlichen Ursprung nach ist der Maßgeblichkeitsgrundsatz kodifi ziert in § 5 Abs. 1 EStG; er verpflichtet dort für steuerliche Gewinnermittlungszwecke vor allem die Vollkaufleute zum Vergleich desjenigen Betriebsvermögens, „das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist“. Man spricht ungenau von der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz. Genauer betrachtet sind jedoch nur die handelsrechtlichen GoB als deduktiv ermitteltes, offenes und rechtsformunabhängiges Regelungssystem maßgeblich (vgl. zu Details Stobbe, in: Herrmann/Heuer/Raupach, Loseblatt, § 5 EStG Anm. 200, Stand 2002). Die Rede ist von der sog. materiellen Maßgeblichkeit. § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG ergänzt die Grundaussage in Satz 1: „Steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung sind in Übereinstimmung mit der handelsrechtlichen Jahresbilanz auszuüben“. Insoweit spricht man von einer „formellen Maßgeblichkeit“, d. h. einer konkreten formellen Anknüpfung der steuerlichen Gewinnermittlung an die tatsächlichen Wahlrechtsausübungen der Handelsbilanz, sofern es sich um sog. korrespondierende Wahlrechte handelt. Die Finanzverwaltung stützt ihr „umwandlungssteuerliches Maßgeblichkeitsprinzip“ wohl auf den formellen Maßgeblichkeitsaspekt in § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG. Insgesamt ist der Maßgeblichkeitsgrundsatz somit durchaus heterogen und vielschichtig.

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wahlrechte findet sich allerdings im „neuen“ UmwStG nicht. Ob die von der Gesetzesbegründung genannte „strikte Anknüpfung“ in der Vergangenheit überhaupt bestand, ist im Hinblick vor allem auf das BFH-Urteil vom 19. 10. 200516 durchaus streitig. Der BFH hat in diesem Judikat für den Fall des Formwechsels einer Personengesellschaft in eine Kapitalgesellschaft entschieden, das dass in § 25 Satz 1 i. V. m. § 20 Abs. 2 Satz 1 UmwStG 1995 gewährte Wahlrecht zur Buchwertfortführung oder Teilwertaufstockung unabhängig von handelsrechtlichen Überlegungen ausgeübt werden kann (wegen identitätswahrenden Formwechsels ist zum steuerlichen Übertragungsstichtag keine Handelsbilanz zu erstellen). Damit weicht der BFH ausdrücklich von Tz. 20.30 des Umwandlungssteuererlasses v. 25. 3. 1998 ab. Im Übrigen macht der BFH in seinem Judikat deutlich, dass ein anderes Regelungsverständnis der steuerlichen Formwechselvorschriften auch deswegen sinnwidrig wäre, weil das steuerlich explizit eröffnete Wahlrecht in § 20 Abs. 2 UmwStG 1995 ansonsten „leer liefe“. Die Finanzverwaltung hat zwischenzeitlich mit Schreiben v. 4. 7. 200617 klargestellt, dass die Grundsätze des BFH-Urteils v. 19. 10. 2005 in allen noch offenen Fällen anzuwenden sind und damit Tz. 20.30 des Umwandlungssteuererlasses v. 25. 3. 1998 überholt ist. Für andere Umwandlungsfälle hält die Finanzverwaltung allerdings ihre These vom umwandlungssteuerlichen Maßgeblichkeitsprinzip aufrecht. Eine solche Weiterung des BFH-Urteils v. 19. 10. 2005 wird bislang nicht akzeptiert18. Unseres Erachtens ist dies nicht sachgerecht. Auch im Falle einer Verschmelzung von Kapitalgesellschaften sowie einer Spaltung kommt m. E. auch im „alten“ UmwStG gestützt auf die Argumentation des BFH eine eigenständige steuerliche Wahlrechtsausübung in Betracht. Denn auch insoweit fehlt es an gleichlaufenden handelsrechtlichen Wahlrechten, so dass § 5 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht eingreifen kann. Im Übrigen ist festzuhalten, dass die Revision gegen das Urteil des FG Baden-Württemberg v. 4. 3. 200419, das ebenfalls von einem autonomen steuerlichen Wahlrecht in einem Verschmelzungsfall nach § 11 UmwStG a. F. ausgegangen ist, die

16 I R 38/04, BStBl. II 2006, 568. Zu weiterführender Literatur vgl. Breuninger, GmbHR 2006, 325; van Lishaut/Klingberg, Der Konzern 2005, 698; Haritz, DStR 2006, 977; Kilger, DB 2003, 2677; Schumacher, WPg 2006, 518; Trossen, FR 2006, 617; Blumers, NWB 18/2006, 4327; Ott, INF 2006, 426; Prinz, StuB 2007, 125. 17 BStBl. I 2006, 445. 18 Vgl. OFD Frankfurt v. 16. 8. 2006, OFD Münster v. 28. 8. 2006, BB 2006, 2130 sowie OFD Rheinland v. 15. 1. 2007, DB 2007, 491. 19 EFG 2004, 858; neuerdings auch FG Köln v. 20. 9. 2006, EFG 2007, 309 (nrkr., AZ beim BFH: I R 97/06).

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erwünschte Klarheit in der Frage nicht gebracht hat, da der BFH der Revision des Finanzamtes aus anderen Gründen stattgegeben hat20. Mit der Aufgabe des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im Rahmen des „neuen“ UmwStG nimmt der Gesetzgeber eine sinnvolle Anpassung vor. Sicherlich hätte eine Beibehaltung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes die schon bei nationalen Umwandlungen auftretenden Streitfragen verschärft und zudem das neue Entstrickungskonzept möglicherweise „vereitelt“. Im „neuen“ UmwStG entstehen bei Erfüllung der entsprechenden umwandlungssteuerlichen Tatbestandsvoraussetzungen „echte“ steuerliche Wahlrechte beim übertragenden bzw. übernehmenden Rechtsträger. Die Gestaltungsspielräume (vor allem auch in Inlandsfällen unter Verlustnutzungsaspekten) zur optimierten „Abkopplung“ von Handels- und Steuerbilanz steigen. Insgesamt ist dies steuersystematisch sowie praktisch zutreffend und zu begrüßen. Mit der ausdrücklichen Aufgabe des Maßgeblichkeitsgrundsatzes und der damit einhergehenden Möglichkeit echter steuerlicher Wahlrechte bei Umwandlungen entspricht der Gesetzgeber der seit langem vorherrschenden Auffassung im Schrifttum und auch der jüngeren BFHRechtsprechung. Ob die Abschaffung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im UmwStG auch der „Wegbereiter“ für ein neues eigenständiges und von handelsbilanziellen Überlegungen losgelöstes Steuerbilanzrecht sein wird, muss man abwarten. Hinweis: Schließlich ist auch zu beachten, dass der gemeine Wert wegen der darin eingeschlossenen Gewinnmarge möglicherweise über dem früheren Teilwert liegt. Folge der steuerlichen Auflösung stiller Reserven bis zur Höhe des gemeinen Wertes anlässlich einer Umwandlung ist ein Auseinanderfallen von Handels- und Steuerbilanz. Die steuerbilanziellen Abschreibungen sind dann u. U. höher als die handelsbilanziellen. Spätere Gewinnausschüttungen könnten dann möglicherweise mehr als sonst aus dem steuerlichen Einlagekonto gem. § 27 KStG „gespeist“ werden.

5. Zur Veranschaulichung: Europäische Hinausverschmelzung sowie Drittstaatenverschmelzung mit Inlandsbezug Um die steuerliche Wirkungsweise einer grenzüberschreitenden Verschmelzung zu veranschaulichen, werden im Folgenden zwei Fallgruppen dargestellt.

20 S. weiterführend Kempermann, FR 2006, 476 mit Hinweis auf das unveröffentlichte Urteil v. 19. 10. 2005 – I R 34/04.

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a) Grundfall: Europäische Hinausverschmelzung Die inländische D-GmbH ist 100 %ige Muttergesellschaft einer deutschen sowie einer französischen Kapitalgesellschaft (T-GmbH, F-SA). T-GmbH ist ein Produktionsunternehmen mit Beteiligungen, Patenten usw. und soll grenzüberschreitend zum 1. 1. 2007 auf die F-SA verschmolzen werden. Die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit der europäischen Hinausverschmelzung wird unterstellt. Welche steuerlichen Konsequenzen ergeben sich für die betroffenen Rechtsträger?

aa) Anwendbarkeit des „neuen“ UmwStG § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 UmwStG verlangt für Verschmelzungen, die nach dem 12. 12. 2006 zur Eintragung in das Handelsregister angemeldet werden21: Die beteiligten Rechtsträger müssen in der EU/EWR ansässig sein (personelle Voraussetzung) und die Verschmelzung erfolgt nach deutschem UmwG oder auf Grund vergleichbarer ausländischer Vorgänge

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21 Das „alte“ UmwStG war auf EU-grenzüberschreitende Verschmelzungen nicht anwendbar mit der Folge einer gewinnrealisierenden Schlussbesteuerung bei der T-GmbH. Zur Vermeidung einer Gewinnrealisierung wurden üblicherweise in der Praxis „Umweggestaltungen“ durchgeführt, im vorliegenden Fall entweder ein Verkauf der T-GmbH-Anteile durch die Muttergesellschaft an die französische F-SA bei Anwendung des § 8b Abs. 2 KStG mit der 5 %-Fiktion nicht abziehbarer Betriebsausgaben oder ein buchwertverknüpfter Anteilstausch gem. § 23 Abs. 4 UmwStG, so dass die T-GmbH Tochtergesellschaft der F-SA wurde. Die Buchwertverknüpfung über die Grenze war allerdings stets problembehaftet und zudem rechtlich streitig. S. ergänzend Breuninger, JbFSt 2005/2006, S. 457–470.

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(sachliche Voraussetzung)22 . Dies ist bei der geplanten Verschmelzung einer deutschen GmbH auf eine französische Kapitalgesellschaft der Fall (vgl. § 122a UmwG nach Umsetzung der Verschmelzungsrichtlinie).

bb) Steuerliche Folgen bei der T-GmbH (= übertragender Rechtsträger) Es liegt ein Anwendungsfall des § 11 UmwStG vor. Ein einheitlicher Buchwert – ggf. auch Zwischenwertansatz – ist antragsabhängig nur möglich, soweit – sichergestellt ist, dass die stillen Reserven später beim übernehmenden Rechtsträger der Besteuerung mit Körperschaftsteuer unterliegen. Davon kann bei einer voll steuerpflichtigten französischen SA ausgegangen werden; – das deutsche Besteuerungsrecht an den übertragenen Wirtschaftsgütern bei der übernehmenden Körperschaft nicht ausgeschlossen oder beschränkt wird. Dies erfordert im Ergebnis eine inländische Betriebsstätte der F-SA, der die rechtlich übergehenden Wirtschaftsgüter zugeordnet sind. Ein bestehendes DBA muss dann dem Betriebsstättenprinzip folgen. Auch diese Voraussetzung liegt im Grundsatz vor, so dass die französische SA mit ihrer deutschen Betriebsstätte der beschränkten inländischen Steuerpflicht gem. § 49 Abs. 1 Nr. 2a EStG unterliegt. Das DBA Frankreich weist insoweit das Besteuerungsrecht dem Betriebsstättenstaat zu (also Deutschland mit Steueranrechnung in Frankreich); – eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder in Gesellschaftsrechten besteht. Barzuzahlungen führen damit zu anteiliger Gewinnrealisation. Die Kriterien müssen kumulativ erfüllt sein. Vor allem das zweite Kriterium bereitet praktische Probleme, da die F-SA neues Stammhaus wird und die bisherige Aktivität der T-GmbH zu einer Betriebsstättenfunktion „abschmilzt“. Fraglich ist insbesondere, ob Patente, Beteiligungen und anderweitige immaterielle Wirtschaftsgüter der Betriebsstätte oder dem Stammhaus zuzuordnen sind. Nach herrschender Meinung verfügt das Stammhaus über die Zentralfunktion, die typischerweise nicht eindeutig der Betriebsstätte zuzuordnende Wirtschaftsgüter „anzieht“ und damit in 22 In den Entwurfsfassungen des SEStEG war von „vergleichbaren ausländischen Vorschriften“ die Rede. Dies war zu eng und wurde durch den Gesetzgeber angepasst. Der „vergleichbare ausländische Vorgang“ stellt auf die Vergleichbarkeit des Umwandlungsaktes selbst ab; soweit Vorschriften betroffen sind, werden diese ausdrücklich genannt.

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Deutschland eine Zwangsrealisation auslöst. Wird der Antrag auf Buchoder Zwischenwertansatz nicht gestellt oder sind die erforderlichen Kriterien nicht erfüllt, müssen die übergehenden Wirtschaftsgüter in der Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft steuerlich mit ihrem gemeinen Wert angesetzt werden; eine Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz besteht nicht23.

cc) Steuerliche Folgen bei der F-SA (= übernehmender Rechtsträger) Aus innerstaatlicher Sicht sind die Rechtsfolgen bei einer Verschmelzung für den übernehmenden Rechtsträger in § 12 UmwStG geregelt. Da es sich um eine französische SA handelt, gilt insoweit französisches Steuerrecht. Aus französischer Sicht handelt es sich um eine „Hereinverschmelzung“. Eine Bindung an die Werte in Deutschland besteht nicht, möglicherweise kann demzufolge eine Doppelbesteuerung entstehen.

dd) Steuerliche Folgen bei der D-GmbH als Anteilseigner Es liegt ein Anwendungsfall des § 13 UmwStG vor. Aus Sicht der D-GmbH werden Anteile der Tochtergesellschaft T-GmbH eingetauscht in Anteile der ausländischen Tochtergesellschaft F-SA. Dies löst als Regelrechtsfolge die Veräußerung und Anschaffung der Anteile zum gemeinen Wert aus, mit der Folge einer Gewinnrealisation gem. § 8b Abs. 2, 3 KStG auf der einen Seite, neuen Anschaffungskosten für die F-SA-Anteile auf der anderen Seite. Antragsabhängig ist auch insoweit ein Buchwerttausch möglich, wenn das deutsche Besteuerungsrecht an den Anteilen der übernehmenden Körperschaft nicht beschränkt wird. Dies ist wegen Art. 7 Abs. 1 DBA Frankreich der Fall, damit treten die Anteile an der übernehmenden Körperschaft steuerlich an die Stelle der Anteile an der übertragenden Körperschaft. Ein Zwischenwertansatz ist bei § 13 UmwStG nicht möglich. Im Übrigen ist das Wahlrecht auf Buchwertverknüpfung beim Anteilseigner unabhängig vom Wahlrecht auf Buch- oder Zwischenwertansatz beim übertragenden Rechtsträger. Hinweis: Alternativ sieht § 13 Abs. 2 Nr. 2 UmwStG einen Buchwerttausch bei Anwendung von Art. 8 der Fusionsrichtlinie vor. Dies löst dann im Gefolge einen treaty-override für spätere Veräußerungsgewinne aus (etwa bei Art. 23 Abs. 1b i. V. m. Art. 13 Abs. 3 DBA Tschechien).

23 Zu den Sonderfragen hinsichtlich Einlagekonto, Körperschaftsteuerguthaben und § 38 KStG s. Gliederungspunkt IV. 4.

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b) Sonderfälle: Drittstaatenverschmelzung mit Inlandsbezug Bei Auslandsverschmelzungen mit Inlandsbezug besteht nach der Ertragsteuerrechtslage nach Maßgabe des SEStEG v. 7. 12. 2006 in Teilen eine globale, nicht nur europäische Wirkungsweise. Zwei Fallgruppen dazu:

Fallgruppe 1: Inländische Betriebsstätte

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Wird eine Drittstaaten-Kapitalgesellschaft mit inländischer Betriebsstätte auf eine andere, im gleichen Staat ansässige Drittstaatenkapitalgesellschaft verschmolzen (hier: eine US-amerikanische oder kanadische Kapitalgesellschaft), so sieht § 12 Abs. 2 Satz 1 KStG – also außerhalb des UmwStG – trotz Rechtsträgerwechsels eine inländische Buchwertfortführung vor. Für den (zwangsweisen, kein Wahlrecht) Verzicht auf die Aufdeckung der in einer inländischen Betriebsstätte ruhenden stillen Reserven wird im Wesentlichen vorausgesetzt: Der Übertragungsakt nach ausländischem Recht ist vom Typus her mit einer inländischen Verschmelzung vergleichbar; das deutsche Besteuerungsrecht wird hinsichtlich der Betriebsstätte nicht beschränkt; es wird keine Gegenleistung, außer Gesellschaftsrechten gewährt. Vom Wortlaut her gilt die Regelung nur für Verschmelzungen innerhalb desselben ausländischen Staates. Eine Buchwertverknüpfung bei grenzüberschreitender Verschmelzung zwischen unterschiedlichen Drittstaaten ist daher ebenso wenig zulässig wie eine Drittstaatenspaltung. Unter steuersystematischen Aspekten erscheint dies unbefriedigend.

Fallgruppe 2: Inlandsgesellschafter Wird eine Drittstaatenkapitalgesellschaft nach dem Typus einer Inlandsverschmelzung auf eine andere Drittstaatenkapitalgesellschaft verschmolzen, so verweist § 12 Abs. 2 Satz 2 KStG hinsichtlich der Rechtsfolgen beim Anteilseigner auf die Anwendung des „neuen“ § 13

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UmwStG. Bei Sicherstellung des Besteuerungsrechts in Deutschland für die neu entstehenden Anteile an der übernehmenden Kapitalgesellschaft ist damit eine antragsgebundene Buchwertfortführung möglich. Von ihrem Wortlaut her gilt § 12 Abs. 2 Satz 2 KStG mit dem Verweis auf Satz 1 der Rechtsnorm nur für Auslandsverschmelzungen in demselben Staat; nach der Gesetzesbegründung soll es darauf allerdings nicht angekommen, so dass auch eine Verschmelzung zwischen unterschiedlichen Drittstaatenkapitalgesellschaften beim Anteilseigner eine entsprechende Anwendung des § 13 UmwStG erlaubt. Dies ist systematisch zutreffend und im Wege der erweiternden Auslegung des § 12 Abs. 2 Satz 2 KStG zu erreichen. Das gleiche Ergebnis dürfte sich bei einer Auslandsverschmelzung zwischen EU-Kapitalgesellschaften aus einer direkten Anwendbarkeit des § 13 UmwStG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 UmwStG ergeben. Vom Wortlaut her ist diese Fallgruppe ebenfalls durch § 12 Abs. 2 Satz 2 KStG abgedeckt.

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IV. Einzelfragen zur grenzüberschreitenden Verschmelzung nach dem SEStEG v. 7. 12. 2006 1. Neues Verbot des Übergangs von Verlustvorträgen auf den übernehmenden Rechtsträger (Streichung von § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG a. F.) Bei einer antragsgemäß buchwertverknüpften Verschmelzung tritt die übernehmende Körperschaft in die steuerliche Rechtstellung der übertragenden Körperschaft ein (§ 12 Abs. 3 Satz 1 UmwStG, sog. Fußstapfentheorie). An diesem Grundsatz hat sich durch die Neufassung des UmwStG nichts geändert.

a) Verbot eines verschmelzungsbedingten Verlusttransfers Allerdings wurde – und dies ist eine Rechtsverschärfung mit erheblichen wirtschaftlichen Konsequenzen – die Vorschrift des § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG a. F. ersatzlos gestrichen, die einen (inländischen) Verlusttransfer der bei der übertragenden Körperschaft nicht verbrauchten Verlustvorträge (= VV) auf den übernehmenden Rechtsträger bei qualifizierter Fortführung des verlustverursachenden Betriebs (-Teils) über einen Fünfjahreszeitraum vorsah24. Entsprechendes gilt für die meist abweichenden nicht verbrauchten Verlustvorträge bei der Gewerbesteuer gem. § 19 Abs. 2 UmwStG a. F. Die Finanzverwaltung hat im Schreiben v. 16. 4. 199925 Anwendungsgrundsätze für die Möglichkeit zum interpersonellen Verlusttransfer veröffentlicht, die zwar in der Praxis zu erheblichen gestalterischen Beschränkungen führten, aber die Vorschrift (jedenfalls in gewissen Grenzen) handhabbar gemacht haben. Entsprechend der allgemeinen zeitlichen Anwendungsbestimmung des § 27 Abs. 1 UmwStG ist ein Übergang nicht verbrauchter Verlustabzüge letztmals für Verschmelzungen zulässig, deren Anmeldung zum Handelsregister bis spätestens 12. 12. 2006 erfolgt ist. Unabhängig davon ist für eigene Verluste einer Körperschaft weiterhin die sog. Mantelkaufvorschrift des § 8 Abs. 4 KStG (mindestens 50 %iger Gesellschafterwechsel, überwiegend neue Betriebsvermögenszuführung) anzuwenden, die dem Vernehmen nach allerdings im Zuge der geplanten Unternehmenssteuerreform 2008 zielgenauer gefasst (Wegfall des Kriteriums der Betriebsvermögenszuführung) und vor allem im Bereich mittelbarer Gesellschafterwechsel mit typisiertem Miss24 Für die Spaltung von Körperschaften gilt gem. § 15 Abs. 1 u. 4 UmwStG a. F. die Besonderheit einer Aufteilung des nicht verbrauchten Verlustvortrages entspr. dem vorgesehenen Umtauschverhältnis. 25 BStBl. I 1999, 455.

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brauchspotenzial verschärft werden soll. § 12 Abs. 3 UmwStG und § 8 Abs. 4 KStG ergänzen sich konzeptionell. Die Abschaffung des § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG bei Beibehaltung des § 8 Abs. 4 KStG ist deshalb systemwidrig.

b) Grund und Folgen der Rechtsverschärfung Die Abschaffung des § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG a. F. ist geprägt von einem Misstrauen des deutschen Gesetzgebers hinsichtlich der fiskalischen Auswirkung von Verlustvortragsnutzungen. Gemäß der Begründung zum SEStEG soll der Steuerstandort Deutschland vor dem „Import von Verlusten“ durch grenzüberschreitende Umwandlungen geschützt werden. Diese Begründung ist jedenfalls in ihrer Allgemeinheit sehr fraglich, und zwar sowohl unter europarechtlichen wie auch verfassungsrechtlichen Aspekten. Im Übrigen betrifft die Abschaffung des Verlusttransfers nicht nur ausländische, sondern vor allem auch inländische Fälle. Im Einzelnen: Art. 6 der geänderten Fusionsrichtlinie v. 17. 2. 2006 sieht eine Berücksichtigung von bei einer übertragenden Körperschaft vorhandenen Verlustvorträgen zunächst nur im Rahmen der dort weiterhin bestehenden Betriebsstätte vor, was üblicherweise im Zuzugsstaat wegen der Anwendung der Freistellungsmethode für Betriebsstätten keine weiteren wesentlichen Wirkungen entfaltet. Nur ein letztlich in der verbleibenden ausländischen Betriebsstätte nicht nutzbarer Verlustvortrag kann über die Systemerwägungen der Marks & Spencer-Entscheidung des EuGH v. 13. 12. 2005 sowie die europarechtlichen Diskriminierungsverbote bei der übernehmenden inländischen Körperschaft berücksichtigt werden. Das „Verlustimportrisiko“ für Deutschland besteht damit trotz Streichung des § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG a. F. begrenzt weiter. Auch kann weiterhin ein Import ausländischer Verluste durch Sitzverlegung einer EU-ausländischen Körperschaft nach Deutschland erfolgen26. Hinzu kommt vor allem für innerstaatliche Verschmelzungsfälle: Der Wegfall eines nicht verbrauchten Verlustvortrags könnte gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip verstoßen (Art. 3 GG) und einen Eingriff in eine verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsposition darstellen (Art. 14 GG). Betroffene Steuerpflichtige werden unter Umständen entsprechende Rechtsbehelfsverfahren führen müssen.

26 Vgl. dazu eingehender Werra/Teiche, DB 2006, 1455, 1460; Dötsch/Pung, DB 2006, 2713; Dörfler/Rautenbach/Adrian, BB 2006, 1657; Maiterth/Müller, DStR 2006, 1861; Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1533; Kessler/Saavedra-Olarte, DB 2006, 2364; s. ergänzend auch IdW-Stellungnahme v. 26. 9. 2006. Zu einem Spezialaspekt s. auch FG München v. 2. 5. 2006, AZ beim BFH: I R 41/06: kein verschmelzungsbedingter Verlustrücktrag beim übernehmenden Rechtsträger.

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Aus gestalterischer Sicht ist eine „Rettung“ der inländischen Verlustvorträge allenfalls im Rahmen einer auf den gemeinen Wert als Höchstgrenze beschränkten Buchwertaufstockung in der steuerlichen Schlussbilanz des übertragenden Rechtsträgers denkbar, um dadurch ein erhöhtes Abschreibungspotenzial bei der übernehmenden Körperschaft zu schaffen. Dies ist allerdings nur im Rahmen der Grundsätze der sog. Mindestbesteuerung gem. § 10d EStG möglich, was eine Vollverrechnung der Verlustvorträge nur bis zur Höhe von 1,0 Mio. Euro, darüber hinausgehend nur in Höhe von 60 % der entstandenen Gewinne erlaubt. Gegebenenfalls kann in der Praxis ein Zwischenwertansatz bei der übertragenden Körperschaft helfen. Schließlich ist unter konzernbilanziellen Aspekten zu beachten, dass der Wegfall der Verlustvorträge beim übertragenden Rechtsträger ggf. im Hinblick auf aktive latente Steuern im Zusammenhang mit einem Verlustnutzungspotenzial berücksichtigt werden muss. Beispiel: Die deutsche M-AG hat in ihrem Beteiligungsbesitz zwei „Verlusttöchter“, die T2-GmbH sowie die britische UK-Ltd. Beide „Verlusttöchter“ sollen sidestream auf die deutsche T1-GmbH verschmolzen werden; bei der UK-Ltd. erfolgt demnach eine grenzüberschreitende Hereinverschmelzung. Was passiert mit den bestehenden steuerlichen Verlustabzügen?

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Ein Verlusttransfer auf die T1-GmbH als übernehmender Rechtsträger ist weder bei den inländischen noch bei den ausländischen Verlustvorträgen möglich. Die T2GmbH kann ihre Verlustvorträge allenfalls durch eine Buchwertaufstockung im Rahmen der Mindestbesteuerungsgrundsätze nutzen; ein Zwischenwertansatz wäre möglich, Höchstgrenze ist der gemeine Wert der übergehenden Wirtschaftsgüter. Bei der UK-Ltd. wird eine Verlustvortragsnutzung im Rahmen ihrer späteren britischen

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Prinz – Grenzüberschreitende Verschmelzungen (Steuerrecht) Betriebsstättengewinne möglich sein. Nur bei einem endgültigen Verlustausfall kommt eine Geltendmachung der ausländischen Verluste nach den Grundsätzen der Marks & Spencer-Entscheidung des EuGH in Betracht.

2. Besonderheiten beim verschmelzungsbedingten Übertragungsund Übernahmeergebnis sowie bei Umwandlungskosten Es sind eine Reihe von Detailänderungen durch das „neue“ UmwStG im Zusammenhang mit der steuerlichen Behandlung von Verschmelzungen vorgenommen worden.

a) Nachversteuerungsregelungen beim Beteiligungsansatz im Fall der Buchwertverknüpfung An verschiedenen Stellen im „neuen“ UmwStG sind in Bezug auf den von der Verschmelzung berührten Beteiligungsansatz Änderungen vorgesehen, die die bisherige in Teilen streitige Rechtslage systematisieren, harmonisieren und teils steuerverschärfend ausweiten sollen. Im Einzelnen betrifft dies: – Übertragungsgewinn und Downstream-Merger: In § 11 Abs. 2 Satz 2 UmwStG findet sich erstmalig eine gesetzliche Teilregelung für den Downstream-Merger. Die bislang in Tz. 11.24 des Umwandlungssteuererlasses v. 25. 3. 1998 zu findende antragsgebundene Billigkeitsregelung aller an der Umwandlung Beteiligten dürfte damit überholt sein. Die Vorschrift betrifft den Wertansatz der Beteiligung in der Bilanz der Überträgerin und besagt, dass bei der Muttergesellschaft auf die Anteile an der übernehmenden Tochtergesellschaft geltend gemachten Teilwertabschreibungen und Übertragungen von stillen Reserven gem. § 6b EStG (u. ä. Abzügen) bis zur Höhe ihres gemeinen Wertes steuerpflichtig rückgängig gemacht werden müssen. Gegenüber dem „alten“ UmwStG bedeutet dies eine Verschärfung. – Übernahmegewinn und Upstream-Merger: § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG betrifft den Wertansatz der Beteiligung in der Bilanz der Übernehmerin, zielt also auf den Fall einer Upstream-Verschmelzung der Tochter- auf die Muttergesellschaft. Durch Rechtsverweis auf § 4 Abs. 1 Satz 2 und 3 UmwStG erfolgt die steuerpflichtige Rückgängigmachung vorangegangener Teilwertabschreibungen und § 6b EStG-Übertragungen (einsch. ähnlicher Abzüge), die die übernehmende Muttergesellschaft auf den Beteiligungansatz ihrer Tochter geltend gemacht hat. Der gemeine Wert der Beteiligung an der Überträgerin bildet die Obergrenze der Nachversteuerung. Die Altfassung des § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG wur-

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de vom I. Senat des BFH mit Beschluss v. 18. 7. 2001 wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip in Gestalt des Parlamentvorbehalts (Art. 20 Abs. 3, Art. 76 Abs. 1 GG) dem BVerfG vorgelegt27. – „Fußstapfentheorie“ beim Anteilseigner: Schließlich kodifi ziert § 13 Abs. 2 Satz 2 UmwStG den Grundsatz, dass bei einer Buchwertverknüpfung beim Anteilseigner die Anteile an der übernehmenden Körperschaft steuerlich an die Stelle der Anteile an der übertragenden Körperschaft treten. Man kann insoweit von einer „Fußstapfen-“ oder „Infi zierungstheorie“ sprechen, die tendenziell steuerverschärfend wirkt28.

b) Behandlung von Umwandlungskosten beim Übernahmeergebnis Das sog. Übernahmeergebnis ist in § 12 Abs. 2 Satz 1 UmwStG definiert als „ein Gewinn oder ein Verlust in Höhe des Unterschieds zwischen dem Buchwert der Anteile an der übertragenden Körperschaft und dem Wert, mit dem die übergegangenen Wirtschaftsgüter zu übernehmen sind, abzgl. der Kosten für den Vermögensübergang…“. Die Kürzung der Umwandlungskosten beim Übernahmeergebnis wurde durch das SEStEG v. 7. 12. 2006 in die Definition eingefügt. Als Rechtsfolge regelt § 12 Abs. 2 Satz 1 UmwStG, dass das Übernahmeergebnis bei der übernehmenden Körperschaft steuerlich „außer Ansatz“ bleibt. Wirtschaftlich bedeutet dies die Nichtabziehbarkeit der Umwandlungskosten im Verschmelzungsfall. Was im Einzelnen durch die Verschmelzung nachweisbar veranlasste Aufwendungen sind, kann im Einzelnen durchaus streitig sein.

c) Erstreckung der Fiktion 5 % nicht abziehbarer Betriebsausgaben auf den Übernahmegewinn Die bis 12. 12. 2006 nur in § 8b Abs. 3 u. 5 KStG zu findende und in Teilen nach wie vor europarechtsproblematische Fiktion 5 % nicht abziehbarer Betriebsausgaben bei Beteiligungsveräußerungsgewinn und Dividendenbezügen wird durch das SEStEG auf Umwandlungsvorgänge ausgedehnt. Dies gilt gem. § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG auch bei Verschmelzungen be27 BFH v. 18. 7. 2001 – I R 38/99, BStBl. II 2002, 27. Das Az. beim BVerfG lautet: 2 BvL 12/01. S. auch den ergänzenden Vorlagebeschluss zur möglichen Verfassungswidrigkeit des § 8 Abs. 4 KStG 1996/1999 durch BFH v. 22. 8. 2006 – I R 25/06, GmbHR 2006, 1277. Eingehender dazu Prinz/Hick, NWB 5/2007, 357 (v. 29. 1. 2007). 28 Vgl. Dötsch/Pung, DB 2006, 2713.

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zogen auf den Übernahmegewinn. Dieser bleibt zwar im Grundsatz nach § 12 Abs. 2 Satz 1 UmwStG steuerlich „außer Ansatz“, löst dann allerdings nach Satz 2 der Norm i. H. v. 5 % des Übernahmegewinnes, beschränkt auf die Beteiligungsquote der übernehmenden an der übertragenden Körperschaft, die Fiktion von 5 % nicht abziehbaren Betriebsausgaben aus. Wirtschaftlich bedeutet dies: Nur 95 % eines Übernahmegewinnes bleiben steuerfrei. Dies stellt eine klare Verschärfung gegenüber der „alten“ Rechtslage im UmwStG dar und könnte ein Verstoß gegen die Vorgaben der geänderten Fusionsrichtlinie sein, da insoweit keine parzielle Steuerpflicht für einen Übernahmegewinn angeordnet ist. Im Übrigen wird in § 12 Abs. 2 Satz 2 UmwStG auf § 8b KStG insgesamt verwiesen; u. U. könnten daher auch § 8b Abs. 7 oder 8 KStG mit der Rechtsfolge einer vollen Steuerpflicht des Übernahmegewinns zur Anwendung kommen.

3. Grenzüberschreitende Verschmelzung mit unterschiedlichen Stichtagsregelungen Die für die Praxis wichtige Möglichkeit einer steuerlichen Rückwirkung der Verschmelzung von bis zu acht Monaten nach Maßgabe des steuerlichen Übertragungsstichtages (Anmeldung zum Handelsregister ist entscheidend, § 17 Abs. 2 UmwG) ist im Grundsatz unverändert geblieben (§ 2 Abs. 1 UmwStG). Lediglich für Einbringungsfälle im Wege des Anteilstausches wurde die Rückwirkung beseitigt. Wegen der grenzüberschreitenden Öffnung des „neuen“ UmwStG wurde allerdings eine Neuregelung in § 2 Abs. 3 UmwStG eingeführt, wonach eine Rückwirkung nicht möglich ist, „soweit Einkünfte auf Grund abweichender Regelungen zur Rückbeziehung eines in § 1 Abs. 1 bezeichneten Vorganges in einem anderen Staat der Besteuerung entzogen werden“.

Die Norm ist zwar von ihrem Wortlauf her nicht ganz klar, hat aber eindeutig die Verhinderung des Entstehens sog. weißer Einkünfte vor allem durch kürzere Rückbezugszeiträume nach ausländischem Umwandlungsrecht zum Ziel29. Betroffen sind vor allem Fälle der Hinausverschmelzung einer Kapitalgesellschaft aus Deutschland, wobei durch das Fehlen einer ausländischen Rückbeziehungsmöglichkeit oder einer unter acht Monaten liegenden Frist bei innerhalb der Interimszeit anfallenden Einkünften eine Besteuerungslücke in beiden Staaten entstehen könnten. Dies dürfte in 29 Vgl. eingehender Dötsch/Pung, DB 2006, 2706; Schafl itzl/Widmayer, BB-Spezial 8/2006, 39.

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der Praxis vor allem im Rückbeziehungszeitraum stattfindende Gewinnausschüttungen und Wirtschaftsgutveräußerungen betreffen. Der Fall der Hereinverschmelzung einer ausländischen Körperschaft nach Deutschland dürfte dagegen aus deutscher Sicht wegen der Verstrickung stiller Reserven unproblematisch sein. Im Übrigen: Korrespondierende Regelungen zur Beseitigung von ebenfalls denkbaren Mehrfachbelastungen auf Grund unterschiedlicher Rückbeziehungszeiträume enthält das „neue“ UmwStG nicht; insoweit wird man wohl auf das allgemeine Instrumentarium zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen im DBA-Recht zurückgreifen müssen (Verständigungsverfahren, Schiedsverfahren).

4. Besonderheiten beim Einlagekonto, Körperschaftsteuerguthaben sowie bei der EK 02-Nachversteuerung Verschmelzungen von Kapitalgesellschaften – vor allem im grenzüberschreitenden Bereich – können neben den Ertragsteuerfragen der Realisierung stiller Reserven Folgewirkungen im Hinblick auf spezielle, dem deutschen Körperschaftsteuersystem immanente „Eigenkapitaltöpfe“ bewirken. Eine europarechtlich diskriminierungsfreie Behandlung erfordert auch insoweit die Gleichbehandlung von Inlands- und Auslandsfällen. Gemeint ist zum einen das Einlagekonto gem. § 27 KStG, das beim Anteilseigner zu einer Einlagenrückgewähr, nicht dagegen zu einer Gewinnausschüttung führt; Rechtsfolge der Einlagenrückgewähr ist (vereinfacht): keine steuerpflichtige Erfassung im Privatvermögen einer natürlichen Person gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG, Verrechnung gegen den Beteiligungsbuchwert im Betriebsvermögen, keine Kapitalertragsteuereinbehaltungspflicht. Eine Einlagenrückgewähr kann im Interesse des Anteilseigners liegen, ist bescheinigungsabhängig und muss von einer Gewinnausschüttung abgegrenzt werden. Zum anderen sind angesprochen das Körperschaftsteuerguthaben gem. § 37 KStG sowie die Körperschaftsteuererhöhung wegen EK 02-Nachversteuerung gem. § 38 KStG; beide Vorschriften resultieren aus dem bis zum Jahre 2000 geltenden körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahren und sind in ihrer praktischen Handhabung in der achtzehnjährigen Übergangszeit bis Ende 2018 hochkomplex. Die vermutlich europarechtswidrige Inlandsbeschränkung des „alten“ Anrechnungsverfahrens mit der fehlenden grenzüberschreitenden Komponente wirkt hier weiter. Alle drei Regelungsbereiche sind durch das SEStEG konzeptionell und in zahlreichen Details geändert worden. Im Zusammenhang mit Verschmelzungen ist wichtig:

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a) Einlagekonto gem. § 27 KStG Grundsätzlich ist ein Direktzugriff auf das steuerliche Einlagekonto (etwa durch Rückzahlung von Nachschüssen) nicht mehr zulässig (Ausnahmen: Nennkapitalrückzahlung gem. § 28 Abs. 2 Satz 2 KStG, organschaftliche Mehrabführungen gem. § 27 Abs. 6 KStG). Dies gilt bereits für das gesamte Wirtschaftsjahr 2006 (§ 34 Abs. 1 KStG). Es ist vielmehr stets nach Maßgabe einer steuerspezifischen Differenzrechnung zunächst der „ausschüttbare Gewinn“ zum Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres zu verrechnen, wobei die „steuerliche Verwendung“ ausdrücklich vollständig von der handelsrechtlichen Handhabung abgekoppelt wird (§ 27 Abs. 1 Satz 3 KStG). Ein negatives Einlagekonto darf dabei nicht entstehen. Die streitig diskutierte Frage, ob nach ausländischem Handelsrecht eine Leistung an den Gesellschafter eine Einlagenrückgewähr der ausländischen Kapitalgesellschaft darstellt, spielt für die steuerliche Behandlung demzufolge keine Rolle mehr30. Diese Gesetzesänderung kann als weiterer Schritt zur Loslösung von Maßgeblichkeitsüberlegungen verstanden werden. Tritt bei einer Sitz- oder Geschäftsleitungsverlagerung die ausländische Kapitalgesellschaft erstmals in die unbeschränkte deutsche Steuerpflicht ein (dies gilt nicht nur für EU-/EWR-Fälle), bilden die im Ausland nicht in das Nennkapital geleisteten Gesellschaftereinlagen (also sämtliche offenen und verdeckten Einlagen der Gesellschafter) – soweit noch vorhanden – den Bestand des Einlagekontos und werden gesondert festgestellt (§ 27 Abs. 2 KStG). Entsprechendes gilt für die grenzüberschreitende Hereinverschmelzung einer ausländischen Kapitalgesellschaft, wonach die im Ausland geleisteten Gesellschaftereinlagen das (inländische) Einlagekonto beim übernehmenden Rechtsträger erhöhen. Die Verwendung des Einlagekontos wird den Anteilseignern von der ausschüttenden Körperschaft bescheinigt, wobei § 27 Abs. 5 KStG die Verwendungsfestschreibung in differenzierter Form neu regelt (keine Korrektur bei zu niedriger Bescheinigung, Berichtigungsmöglichkeit bei zu hoher Bescheinigung mit etwaigen Haftungsfolgen). Im Übrigen kann auch für EU-/EWR-Körperschaften gem. § 27 Abs. 8 KStG eine Feststellung des steuerlichen Einlagekontos erfolgen. Es ist eine fristgebundene Antragstellung erforderlich. Im Ergebnis muss dabei die Entwicklung der verdeckten und offenen Gesellschaftereinlagen bis zur Gründung der Auslandskörperschaft zurückverfolgt werden, was auf erhebliche praktische Schwierigkeiten stoßen dürfte. Ob dies letztlich eine europarechtlich diskriminierungsfreie Handhabung beim Einlagekonto sicherstellt, ist zweifelhaft. Vor allem beim Hinausverschmelzungsfall können 30 Zu weiteren Details vgl. Dötsch/Pung, DB 2006, 2652.

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sich für inländische Anteilseigner auf Grund fehlender Feststellbarkeit der historisch geleisteten Gesellschaftereinlagen Nachteile ergeben.

b) Systemwechsel beim Körperschaftsteuerguthaben gem. § 37 KStG Insbesondere beim Hinausverschmelzungsfall einer inländischen Kapitalgesellschaft stellt sich die Frage, was mit dem aus dem alten Anrechnungsverfahren stammenden potenziellen Körperschaftsteuerguthaben passiert. Die „Geschichte“ des § 37 KStG ist dabei sehr wechselhaft und von fiskalischen Zwängen geprägt (knapp dreijähriges Moratorium bis Ende 2005 mit anschließender „Deckelung“ der ausschüttungsabhängigen Nutzung, § 37 Abs. 2a KStG). Der Gesetzgeber hat nunmehr eine Systemumstellung vorgenommen, die eine ausschüttungsunabhängige, gleichmäßig ratierliche Auszahlung der zum 31. 12. 2006 bestehenden Körperschaftsteuerguthaben (ohne Solidaritätszuschlag) in einem Zehnjahreszeitraum an die betroffene Gesellschaft vorsieht (§ 37 Abs. 4–7 KStG i. d. F. v. 7. 12. 2006). Das Guthaben selbst ist bei der anspruchsberechtigten Körperschaft steuerfrei, steuerrelevante Ausschüttungsfolgen beim Anteilseigner entstehen nicht. Der Auszahlungsanspruch entsteht nach der neuen Anweisung des Gesetzgebers mit Ablauf des 31. 12. 2006 und ist unverzinslich. Damit ist das zum 31. 12. 2006 bestehende Körperschaftsteuerguthaben bilanziell realisiert und mit seinem Barwert (abhängig vom Marktzinssatz) bei der Gesellschaft (auch bei einer Organgesellschaft) zu aktivieren. Die fehlende Fälligkeit des Guthabens steht der Aktivierung nicht entgegen. Erstmals ausgezahlt wird der erste Jahresbetrag in 2008, aus wirtschaftlicher Sicht entsteht dadurch ein erneutes Moratorium für das Jahr 2007. Eine jährliche Antragstellung für die Auszahlung ist – entgegen den früheren Entwürfen des SEStEG – nicht erforderlich. Bei Umwandlungen nach dem 12. 12. 2006 gem. § 1 Abs. 1 UmwStG mit Rückwirkung erfolgt eine vorgezogene letztmalige Feststellung des Körperschaftsteuerguthabens, um ansonsten eventuell auftretende Erfassungslücken zu vermeiden, § 37 Abs. 4 Satz 2 KStG. Das realisierte Körperschaftsteuerguthaben geht als Anspruch bei einer Verschmelzung (auch grenzüberschreitend) auf den Rechtsnachfolger über; ggf. wird man im Hinausverschmelzungsfall die Auszahlung an die inländische Betriebsstätte des übertragenden Rechtsträgers vornehmen. Aus dem Regelungsbereich des § 40 KStG ist die Vorschrift des § 37 KStG, systematisch zutreffend, deshalb herausgenommen worden. Bei einer Liquidation der Gesellschaft wird der noch nicht abgewickelte Auszahlungsanspruch zur normalen Liquidationsmasse gehören;

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Abtretungen des Anspruchs gem. § 46 AO sind möglich. Bei einer gegenüber dem Feststellungszeitpunkt (31. 12. 2006) eintretenden Änderung des Auszahlungsbetrages (etwa wegen Betriebsprüfung) sieht § 37 Abs. 6 KStG verfahrensrechtliche Folgeänderungsmöglichkeiten vor.31

c) Keine Rechtsveränderung bei Körperschaftsteuererhöhungen gem. § 38 KStG Das SEStEG enthält im Hinblick auf § 38 KStG keine Änderungen. Es bleibt damit im Grundsatz bei der ausschüttungsabhängigen Nachversteuerung von früheren EK 02-Beständen bis zum Ende des achtzehnjährigen Übergangszeitraumes (31. 12. 2018). Ob diese EK 02-Nachversteuerung europarechtskonform ist, bleibt damit offen32 . Bei einer Verschmelzung oder Spaltung auf einen steuerpflichtigen inländischen Rechtsträger geht das zum Übertragungsstichtag noch nicht nachversteuerte EK 02 auf den Rechtsnachfolger über. Bei einer Verschmelzung auf eine Körperschaft in einem Drittstaat erfolgt gem. § 40 Abs. 5 KStG eine Ausschüttungsfiktion zum Übertragungsstichtag. Bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung auf einen EU-/EWR-Rechtsträger sieht § 40 Abs. 6 KStG dagegen eine zinslose Stundungsregelung vor, die eine Gleichbehandlung mit Inlandssachverhalten sicherstellen soll. Nur insoweit, als die übernehmende Körperschaft nach Maßgabe der in § 38 KStG geregelten Verwendungsfiktion EK 02 „ausschüttet“, erfolgt die Nachversteuerung; der verbleibende Restbetrag bleibt nachweisgebunden gestundet, wobei die gesetzliche Regelung verschiedene Widerrufsmöglichkeiten vorsieht. Es bestehen Zweifel, ob dieser Nachweis praktisch in Herausverschmelzungsfällen geführt werden kann, was wegen faktischer Diskriminierung dann möglicherweise die Europarechtswidrigkeit des § 40 Abs. 6 KStG nach sich ziehen könnte33.

5. Verzicht auf die geplante allgemeine Missbrauchsregelung gem. § 26 UmwStG-E In Anlehnung an Art. 11 Abs. 1 Buchst. a) der Fusionsrichtlinie (Ermächtigungsgrundlage, keine Pflicht zum Missbrauchsvorbehalt) wollte der Gesetzgeber ursprünglich einen neuen § 26 UmwStG einführen, der für die Ertragsteuerneutralität von Umstrukturierungsmaßnahmen „vernünftige 31 Zu Details s. Ernsting, DB 2007, 180; Förster/Felchner, DStR 2007, 280; Ott, StuB 2007, 87; zur Rechtsauffassung des HFA s. FN IdW 1–2/2007, 107. 32 Vgl. dazu Winkeljohann/Fuhrmann, DB 2006, 1862, 1864 mit Hinweis auf Frotscher, BB 2006, 861. 33 Kritisch Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1491.

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wirtschaftliche Gründe“ verlangt34. Dadurch sollte ein „genereller Missbrauchsvorbehalt“ insbesondere für die steuerliche Buchwertverknüpfung geschaffen werden, der neben die zahlreichen bereits bestehenden speziellen (meist zeitlich typisierenden) und allgemeinen Missbrauchsnormen treten sollte (etwa § 15 Abs. 2 UmwStG, § 42 AO). Die geplante Vorschrift enthielt eine Vielzahl unbestimmter und nur schwer handhabbarer Rechtsbegriffe, was eine große Rechtsunsicherheit in der Umstrukturierungspraxis ausgelöst hätte, ggf. ohne die Möglichkeit zur „Entschärfung“ durch eine verbindliche Auskunft (§ 89 Abs. 2–5 AO mit neuer Gebührenpflicht). Es ist daher sowohl aus steuersystematischer als auch aus praktischer Sicht zu begrüßen, dass der Gesetzgeber letztlich auf die Einführung der allgemeinen Missbrauchsvorschrift in § 26 UmwStG verzichtet hat. Dies war wohl nicht zuletzt auch Folge der erheblichen Kritik an der geplanten Norm bei der Expertenanhörung im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages am 18. 10. 2006 sowie durchweg in der Literatur.35 Sinnvollerweise ist damit auf eine „unnötige Umwandlungsbremse“ verzichtet worden. Ob dadurch die Anwendung des § 42 AO in der BFH-Rechtsprechung „gefördert“ wird, bleibt abzuwarten, ist m. E. aber wohl nicht zu erwarten. Bestehen bleibt allerdings die auf Grund der Leur-Bloem-Entscheidung des EuGH v. 17. 7. 199736 zu konstatierende Europarechtsproblematik grob schematisierter Missbrauchsklauseln. Möglicherweise ist der durch die zurückwirkende Siebtelungsregelung erfolgte Konzeptwechsel in den Einbringungsfällen der §§ 20 – 23 UmwStG nicht zuletzt auch auf die europarechtsproblematische Einschätzung starrer Sieben-Jahres-Regeln zurückzuführen37. Im Übrigen ist auf Grund der Europäisierung des UmwStG auch die im „alten“ Recht zu findende Missbrauchsregelung beim grenzüberschreitenden Anteilstausches (§ 26 Abs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 4 UmwStG a. F.) weggefallen.

34 Die geplante Norm hatte folgenden Wortlaut: „Ungeachtet weiterer Vorschriften nach diesem Gesetz oder in anderen Gesetzen sind steuerliche Vergünstigungen nach diesem Gesetz ganz oder teilweise zu versagen oder rückgängig zu machen, wenn ein vom Anwendungsbereich des § 1 erfasster Vorgang als hauptsächlicher Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung hat; vom Vorliegen eines solchen Beweggrundes kann ausgegangen werden, wenn einer dieser Vorgänge nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen – insbesondere der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften – beruht“. 35 Vgl. insbes. Werra/Teiche, DB 2006, 1455; Drüen, DStZ 2006, 539; Bödefeld, BBspezial 8/2006, 77; Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1529. 36 Rs. C-28/95, DB 1997, 1851. 37 Skeptisch allerdings Dötsch/Pung, DB 2006, 2707.

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V. Zusammenfassende Wertung Das „neue“ europäisierte Umwandlungssteuergesetz (einschl. seiner Bezüge zur allgemeinen Unternehmensbesteuerung) hat im Gesetzgebungsprozess eine Reihe von Rechtssprüngen durchgemacht. Der Planungssicherheit der Unternehmen war dies sicherlich abträglich und hat vor allem im Hinblick auf denkbare Rechtsverschärfungen gegenüber dem „alten“ Rechtszustand zu einem erheblichen Gestaltungsdruck in der Praxis Ende des Jahres 2006 geführt. Aus Praktikersicht ist mit Blick auf die grenzüberschreitende Verschmelzung von Körperschaften festzustellen: Die Preisgabe der Globalisierung für eine Europäisierung ist zwar verständlich, aber rechtlich problematisch und im Ergebnis m. E. zu „mutlos“. Die Anwendung des Entstrickungsgrundsatzes bei Verschmelzungen (und auch Spaltungen) ist zu rigoros, wenigstens das Ausgleichspostenkonzept des § 4g EStG hätte auch in das UmwStG Eingang finden sollen. Zahlreiche Detailänderungen in der Endphase des SEStEG-Entstehungsprozesses sind dagegen zu begrüßen. Dies gilt vor allem für den Wegfall der allgemeinen umwandlungssteuerlichen Missbrauchsklausel und den Konzeptwechsel bei der Geltendmachung des Körperschaftsteuerguthabens mit Wirkung auch für grenzüberschreitende Fälle38. Höchst bedauerlich ist allerdings der Wegfall des Verlusttransfers bei Körperschaften, der bei der Einführung des UmwStG 1995 als bedeutsame Erleichterung für Verschmelzungsvorgänge „gepriesen“ wurde. Die Begründung des Gesetzgebers zur Verhinderung von ausländischen Verlustimporten trägt diese Streichung im Ergebnis nicht und behindert m. E. ungerechtfertigt sämtliche innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Umstrukturierungen. Wenigstens auf die Anwendung der Mindestbesteuerung hätte man insoweit verzichten müssen, um letztlich zumindest eine parzielle Wertaufstockung zur Nutzung ansonsten wegfallender Verlustabzüge zu erlauben. Es ist zu erwarten, dass vor allem die Streichung des § 12 Abs. 3 Satz 2 UmwStG auch die Steuergerichte im Hinblick auf eine sachgerechte Leistungsfähigkeitsbesteuerung befassen wird. Schließlich wird das „neue“ UmwStG seine praktische Bewährungsprobe erst noch erleben. Dies gilt auch für die zahlreich zu erwartenden „Europarechtsteste“. 38 Unabhängig von der Verschmelzungsthematik ist die Öffnung der Einbringungsvorschriften auf in Drittstaaten ansässige Personen und um Anteile an Drittstaatengesellschaften positiv zu vermerken. Auch die Siebtelungsregelung hinsichtlich der rückwirkenden Besteuerung zum Einbringungszeitpunkt ist im Vergleich zur alten Rechtslage positiv, wird allerdings im Einzelfall schwer zu handhaben sein.

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Bericht über die Diskussion der Referate Krause und Prinz Arne von Freeden, LL. M. (Int’l Tax) Rechtsanwalt/Steuerberater, Bonn

I. Die Diskussion im Anschluss an die Referate von Krause und Prinz stand unter der Leitung von Hopt. Gegenstand der Diskussion der gesellschaftsrechtlichen Fragen war neben dem Austausch von praktischen Erfahrungen bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen der Schutz der Minderheit bei der übertragenden Gesellschaft und die rechtliche Reichweite der SEVIC-Entscheidung (II.). Die Diskussion zu den steuerrechtlichen Auswirkungen und Problemen von grenzüberschreitenden Verschmelzungen konzentrierte sich auf den Inhalt eines europäischen Missbrauchsbegriffs, die steuerlichen Folgen eines Abfi ndungsanspruchs, die Wertfindung und auf Fragen im Zusammenhang mit einem Buchwertansatz in der Schlussbilanz der übertragenden Gesellschaft (III.).

II. Nach der SEVIC-Entscheidung des EuGH vom 13. 12. 2005 ist – gestützt auf die europäische Niederlassungsfreiheit – die (Hinein-) Verschmelzung einer Kapitalgesellschaft eines anderen Mitgliedstaates nach Deutschland auf eine deutsche Kapitalgesellschaft bereits möglich. Auf die Änderung des UmwG zur Umsetzung der Verschmelzungsrichtlinie kommt es insoweit nicht an. Hopt fragte nach den praktischen Auswirkungen der Entscheidung für die gegenwärtige Transaktionspraxis. Krause erklärte, die praktische Durchführung grenzüberschreitender Verschmelzungen habe sich nicht spürbar geändert. In Folge der SEVIC-Entscheidung des EuGH sei zwar die Zulässigkeit einer grenzüberschreitenden Verschmelzung klargestellt worden, wie eine „SEVIC-Verschmelzung“ praktisch durchzuführen sei, habe der EuGH aber nicht geklärt. Insoweit habe die Entscheidung keine praktischen Erleichterungen für die Transaktionspraxis gebracht. Eine grenzüberschreitende Verschmelzung erfolge nach wie vor unter Anwendung der Vereinigungstheorie, d. h. bei einer Transaktion

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Grenzüberschreitende Verschmelzungen

seien die rechtlichen Voraussetzungen der beiden betroffenen Rechtsordnungen grundsätzlich kumulativ zu erfüllen. Diskutiert wurde die Frage, welche grenzüberschreitenden Umwandlungsvorgänge neben der Hineinverschmelzung unmittelbar von der Entscheidung erfasst werden. Kersting merkte an, die SEVIC-Entscheidung erfasse nur den Fall der Hineinverschmelzung, der Fall der Herausverschmelzung sei nicht entschieden. Der Fall der Herausverschmelzung könne mit dem Fall des Wegzugs einer Kapitalgesellschaft (Sitzverlegung ins Ausland) verglichen werden, dieser sei nach der Daily Mail-Entscheidung des EuGH nicht geschützt. Die Frage der Zulässigkeit einer Herausverschmelzung werde erst im Rahmen des Cartesio-Falles behandelt1. Nach Auffassung von Krause müsste auch der Vorgang der Herausverschmelzung von der SEVIC-Entscheidung erfasst sein. Der Fall der Herausverschmelzung stelle – wie auch die Hineinverschmelzung – ein Problem der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Der EuGH differenziere in seiner Entscheidung nicht zwischen Hinein- und Herausverschmelzung. Im Übrigen gelte dies nicht nur für Verschmelzungen, auch andere Umwandlungsformen dürften einen von der SEVIC-Entscheidung erfassten Vorgang darstellen. Ausländische Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten dürften bei Unternehmenszusammenschlüssen nicht benachteiligt werden. Zwar habe der EuGH im Rahmen der Entscheidung keine unmittelbare Aussage zu grenzüberschreitenden Spaltungen getroffen. Jedoch ist Krause auch bezüglich einer solchen Transaktion „verhalten optimistisch“. Die SEVICEntscheidung lasse erkennen, dass nach Auffassung des EuGH auch eine grenzüberschreitende Spaltung möglich sein müsse. Im Rahmen seines Referats wies Krause kritisch auf den vom Gesetzgeber vorgesehenen Abfindungsanspruch für widersprechende Gesellschafter der übertragenden Gesellschaft hin (Art. 4 Abs. 2 Satz 2 VerschmelzungsRichtlinie, § 122i Abs. 1 Satz 1 UmwG-E). Ein genereller Abfindungsanspruch, jedenfalls wenn er zum Ertragswert erfolgen müsse, könne faktisch ein Verschmelzungshindernis darstellen. Niemeier merkte hierzu an, die geplante Regelung sei keinesfalls als „Fessel für deutsche Gesellschaften“ gedacht. Vielmehr sei der Minderheitenschutz in der Richtlinie vorgesehen; mit dem Abfindungsanspruch werde der Minderheitenschutz lediglich in das deutsche Recht umgesetzt. Allerdings stelle sich die Frage, ob ein Abfindungsanspruch allein schon deshalb vorgesehen werden solle, weil auf eine Rechtsform des Auslands verschmolzen wird, selbst wenn

1 Az. des EuGH: C-210/06 („Cartesio“).

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von Freeden – Bericht über die Diskussion

sich konkret die Position des Minderheitsgesellschafters in dieser Rechtsform nicht verschlechtere. Im Zusammenhang mit der Diskussion über den Abfindungsanspruch von Minderheitsaktionären fragte Welf Müller nach der Bewertung der Aktien zur Bestimmung der Höhe des Anspruchs. Fraglich sei aus seiner Sicht, ob bei Vorliegen eines Börsenkurses der auf eine Aktie entfallende (durchgerechnete) Ertragswert oder der Börsenkurs anzusetzen ist. Der Wert einer Aktie werde schließlich im Börsenkurs dokumentiert. Nach Krause ist eine grenzüberschreitende Verschmelzung lediglich Anlass, den Wert der Aktie zu ermitteln. Eine Änderung der Bewertungsmethode sei nicht das Ziel des Gesetzgebers und den Materialien auch nicht zu entnehmen. Insoweit führe die Gesetzesänderung nicht zu einem neuen Bewertungsverfahren.

III. Im Zusammenhang mit einem im Entwurf der Bundesregierung zum SEStEG enthaltenen allgemeinen umwandlungssteuerrechtlichen Missbrauchsvorbehalt wies Prinz auf den „europäischen Steuerumgehungsbegriff“ hin. Eine Frage von Hopt bezog sich auf die Auswirkungen der Missbrauchsklausel und des europäischen Steuerumgehungsbegriffs für grenzüberschreitende Verschmelzungen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht einen generellen Missbrauchsvorbehalt im UmwStG vor (§ 26 UmwStG-E), dessen Sinn Prinz in seinem Referat in Frage stellte2 . Eine solche Missbrauchsvorschrift führe – neben den bereits bestehenden speziellen Missbrauchsvorschriften (z. B. § 15 Abs. 2 UmwStG, § 42 AO) – zu erheblichen Auslegungs- und Abgrenzungsfragen. Die Frage, ob eine grenzüberschreitende Verschmelzung „nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen beruht“ (§ 26 UmwStG-E) und damit rechtsmissbräuchlich im Sinne der Vorschrift ist, sei praktisch nicht rechtssicher zu beantworten. Die Vorschrift führe deshalb zu erheblicher Planungs- und Rechtsunsicherheit, der auch nicht mit einem Antrag auf verbindliche Auskunft begegnet werden könne. Eine verbindliche Auskunft über das

2 Der Finanzausschuss (7. Ausschuss) hat nach Abschluss seiner Beratungen am 8. 11. 2006 empfohlen, die im Gesetzentwurf enthaltene allgemeine umwandlungssteuerrechtliche Missbrauchsregelung aufzuheben, BT-Drucks. 16/3315. Die Missbrauchsregelung ist deshalb nicht Bestandteil des am 13. 12. 2006 in Kraft getretenen Gesetzes geworden.

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Grenzüberschreitende Verschmelzungen

Vorliegen eines Gestaltungsmissbrauchs erteile die Finanzverwaltung nämlich nicht. Bei Beantwortung der Frage, ob eine grenzüberschreitende Transaktion einen steuerlichen Gestaltungsmissbrauch darstelle, sei der europäische Steuerumgehungsbegriff heranzuziehen. Prinz wies auf die Ausführungen des EuGH in der Cadbury Schweppes-Entscheidung hin3, der die Frage der Vereinbarkeit der britischen Hinzurechnungsbesteuerung mit der europäischen Niederlassungsfreiheit zu Grunde lag. Im Rahmen der Entscheidung hat der EuGH – vereinfacht dargestellt – hervorgehoben: Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nur mit Gründen der Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken zu rechtfertigen, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielten Gewinn geschuldet wird. Diese Gedanken sind nach Auffassung von Prinz auf die Prüfung der Rechtsmissbräuchlichkeit einer grenzüberschreitenden Verschmelzung zu übertragen. Danach könne eine grenzüberschreitende Verschmelzung lediglich dann einen Gestaltungsmissbrauch darstellen, wenn es sich um einen rein künstlichen Vorgang handelt, dessen Ziel eine Steuervermeidung ist. Die steuerliche Problematik von Abfindungszahlungen an Minderheitsaktionäre hatte eine Frage von Welf Müller zum Gegenstand. Der Entwurf des UmwG sehe einen Abfindungsanspruch von Minderheitsaktionären vor (§ 122i Abs. 1 Satz 1 UmwG-E). Eine Voraussetzung für eine steuerneutrale grenzüberschreitende Verschmelzung (Ansatz der Buchwerte) sei dagegen, dass eine Gegenleistung nicht gewährt werde (§ 11 Abs. 2 Nr. 3 UmwStG-E). Insoweit stelle sich die Frage, ob die Zahlung einer Abfindung einen „Deal Breaker“ darstellen könne. Nach Auffassung von Prinz dürfte dies nicht der Fall sein. Eine gesetzlich vorgesehene Abfindungszahlung der übertragenden Gesellschaft an Minderheitsgesellschafter könne im Grundsatz keine steuerlich schädliche Gegenleistung darstellen. Bei der steuerlich schädlichen Gegenleistung müsse es sich um eine Zahlung der übernehmenden Gesellschaft handeln (§ 11 Abs. 2 Nr. 3 UmwStG-E), nicht um eine Abfindungszahlung der übertragenden Gesellschaft (§ 122i Abs. 1 Satz 1 UmwG-E). Im Übrigen käme nur eine partielle Realisierung von stillen Reserven in Betracht, d. h. stille Reserven dürften nur in Höhe der abgefundenen Anteile realisiert werden. 3 EuGH, Urt. v. 12. 9. 2006 – C-196/04.

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von Freeden – Bericht über die Diskussion

Weiterhin wurde die Frage der Bewertung von Wirtschaftsgütern bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen erörtert. In seinem Referat wies Prinz auf die Problematik der Zuordnung von immateriellen Wirtschaftsgütern und Finanzbeteiligungen hin. Denkbar sei z. B., dass in Folge einer (Heraus-) Verschmelzung einer deutschen auf eine ausländische Gesellschaft eine strategische Finanzbeteiligung nicht der zurückbleibenden deutschen Betriebsstätte, sondern dem ausländischen Stammhaus zuzurechnen ist. Dies führe zu einer Gewinnrealisierung in Höhe der in der Beteiligung vorhandenen stillen Reserven. Gleichfalls könne es zu einem ungewollten Übergang von betrieblichen Funktionen kommen (z. B. auch Know-how, Geschäftschancen). Der auf diese betrieblichen Funktionen entfallende Gewinnanteil falle nach der Verschmelzung im Ausland an. Diese Funktionsverlagerung könne gleichfalls zur Realisierung von stillen Reserven führen, ein steuerpflichtiger Gewinn könne trotz deutscher Betriebsstätte entstehen. Welf Müller stellte die Frage der Bewertung einer solchen Funktionsverlagerung. Nach Auffassung von Prinz hat die Bewertung unter Anwendung der Ertragswertmethode zu erfolgen, der Ansatz des gemeinen Werts komme nicht in Betracht. § 11 Abs. 1 UmwStG-E finde insoweit keine Anwendung. In diesem Zusammenhang stellte Prinz der vorstehenden Problematik eine gezielte Funktionsverlagerung – außerhalb einer Verschmelzung – gegenüber. In diesem Zusammenhang wies er auf einen Erlass der Finanzverwaltung hin, der gegenwärtig von der Verwaltung verfasst wird (Verwaltungsgrundsätze Funktionsverlagerung). Im Gegensatz zu einer gezielten Funktionsverlagerung sei eine Funktionsverlagerung im Rahmen einer grenzüberschreitenden Verschmelzung problematischer. Selbst wenn der Betrieb der übertragenden deutschen Gesellschaft in Form einer Betriebsstätte in Deutschland bestehen bliebe, könnten Funktionen auf das ausländische Stammhaus übergehen. Schwierig dürfte in diesem Fall z. B. die Zuordnung der Funktionen zur Betriebsstätte oder zum Stammhaus und die Bestimmung des Zeitpunktes des Funktionsübergangs sein. Abschließend wurden Probleme im Zusammenhang mit dem Ansatz der Wirtschaftsgüter in der Schlussbilanz der übertragenden Kapitalgesellschaft und dem damit im Zusammenhang stehenden Wahlrecht des Steuerpflichtigen erörtert. Zwar hat die übertragende Kapitalgesellschaft nach § 11 Abs. 1 UmwStG-E die im Rahmen der Verschmelzung auf die aufnehmende Kapitalgesellschaft übergehenden Wirtschaftsgüter in ihrer Schlussbilanz mit dem gemeinen Wert anzusetzen. Im Grundsatz ergibt sich somit in Höhe des Unterschieds zwischen den Buchwerten der Wirtschaftsgüter und ihren gemeinen Werten ein Verschmelzungsgewinn.

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Grenzüberschreitende Verschmelzungen

Nach § 11 Abs. 2 i. V. m. § 3 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 UmwStG-E kann die übertragende Kapitalgesellschaft bei Vorhandensein einer deutschen Betriebsstätte jedoch auch den Buchwert (oder einen Zwischenwert) ansetzen, so dass die Entstehung eines Verschmelzungsgewinns vermieden wird. Erforderlich hierfür ist ein Antrag, der beim zuständigen Finanzamt spätesten bis zur erstmaligen Einreichung der Schlussbilanz der übertragenden Kapitalgesellschaft zu stellen ist. Auf Nachfrage skizzierte Prinz Probleme, die sich nach seiner Auffassung in diesem Zusammenhang stellen werden: Es sei nicht klar, zu welchem Zeitpunkt die Schlussbilanz als eingereicht gelte. Im Übrigen stelle sich die Frage nach einer Einreichungsfrist und den Möglichkeiten einer Änderung nach Einreichung. Problematisch sei auch hier die funktionale Zuordnung der einzelnen Wirtschaftsgüter. Ein Antrag scheide z. B. dann aus, wenn einzelne Wirtschaftsgüter nicht der deutschen Betriebsstätte, sondern dem ausländischen Stammhaus zuzuordnen sind. Der Steuerpflichtige müsse deshalb bei Antragstellung die funktionale Zuordnung der Wirtschaftsgüter zur deutschen Betriebsstätte bzw. zum ausländischen Stammhaus vornehmen. Stelle sich später z. B. heraus, dass Wirtschaftsgüter – entgegen der Rechtsauffassung des Steuerpflichtigen – nicht dem ausländischen Stammhaus, sondern der deutschen Betriebsstätte zuzuordnen sind, müsse der Steuerpflichtige seinen Antrag insoweit ändern bzw. rückwirkend erweitern. Insgesamt führe die antragsabhängige Ausnahme vom Grundsatz des Ansatzes des gemeinen Wertes aus gegenwärtiger Sicht zu praktischen Problemen und zu einer Einschränkung der Flexibilität der Unternehmen.

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Die zentralen Änderungen des GmbH-Rechts nach dem Referentenentwurf des MoMiG Prof. Dr. Holger Altmeppen Universität Passau I. Vorbemerkung ........................

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V. Cash Pooling ......................... 106

II. Zur Beibehaltung eines Mindeststammkapitals ..........

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III. Brauchen wir zusätzlich einen solvency test? ................

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VI. Erweiterung des „Zahlungsverbots“ im Sinne der §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG ............ 109

IV. Eigenkapitalersatz .................. 100

VII. Ergebnisse ............................. 113

I. Vorbemerkung Seit „Inspire Art“1 sind die deutschen Gesellschaftsrechtler in drei Gruppen gespalten: Die erste hält die deutsche GmbH für eine hässliche Greisin, den modernen kosmopolitischen Investor abschreckend und für die Gläubiger sogar zum Fürchten. Der deutsche Gesetzgeber soll diese in das Zeitalter von rauchenden Schornsteinschloten gehörende Unternehmensträgerin nicht nur verschönern, sondern möglichst so vielen Operationen an Haupt und Gliedern unterziehen, bis aus ihr eine Zwillingsschwester der jugendlichmodern-attraktiven englischen Limited werde. Manche konsequenten Mitglieder dieser fundamentale Änderungen fordernden Gruppe treten vehement dafür ein, die zum Wesen des deutschen Kapitalgesellschaftsrechts gehörenden Gläubigerschutzinstrumente des Mindestkapitalschutzes einschließlich seiner Ausprägung in Gestalt des Kapitalersatzes ebenso wie die Insolvenzantragspflicht bei Verlust dieses gebundenen Kapitals zugunsten der Übernahme anglo-amerikanischer Modelle aufzugeben2 . 1 EuGHE 2003, I-10155 = NJW 2003, 3331. 2 Für die Abschaffung des Mindeststammkapitals Hirte, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, Stuttgart 2006, Bd. II/1, P 19 f.; Blaurock, in: FS Raiser, 2005, S. 3, 13 f.; Lutter, in: Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 1, 7; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189 f.; Schön, ZHR 166 (2002), 1, 3 f.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151, 154 f.; Haas, DStR 2006, 993 ff., 1000; Triebel/Otte, ZIP 2006, 311 f.; Bayer/Lieder, GmbHR 2006, 1121, 1128 f.; Barta, GmbHR 2005, 657 ff., 662; weitere Nachw. etwa bei Seibert, ZIP 2006, 1157, 1158 Fn. 21 und Kleindiek, ZGR 2005, 335, 337 m. Fn. 11; für die Abschaffung

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Altmeppen – Zentrale Änderungen des GmbH-Rechts durch das MoMiG

Dem steht das Lager der konservativen Wissenschaftler des Gesellschaftsrechts gegenüber, die keine Abschaffung, sondern eher die Heraufsetzung des Stammkapitals auf das Niveau von 1892 – das wären für die GmbH heute weit mehr als 100 000 Euro – und im Übrigen nur behutsame systemimmanente Verbesserungen etwa des Kapitalersatz- und des Insolvenzrechts der GmbH verlangen.3 In der Mitte stehen die Gesellschaftsrechtler, welche die alte Dame GmbH zwar dank zu gut gemeinter Rechtsfortbildungen inzwischen als unerträglich aufgebläht und unbeweglich empfinden, sie deshalb radikal verschlanken und liften, ihr aber wegen ihres an sich guten Wesens noch die Treue halten wollen. Zu diesen gehören die Väter des Referentenentwurfes zum MoMiG4. Sehen wir uns im Folgenden genauer an, ob der deutsche Mitteldes Eigenkapitalersatzrechts namentlich Triebel/Otte, ZIP 2006, 311, 314. Die Einführung eines Solvenztests befürworten Haas, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, Stuttgart 2006, Bd. I, E 131 ff.; Hirte, in: Verhandlungen des 66. DJT (a. a. O.), P 21 ff.; Pellens/Jödicke/Richard, DB 2005, 1393 ff.; Pellens/Sellhorn, in: Lutter (a. a. O.), S. 451 ff.; Engert, ZHR 170 (2006), 296 ff.; Jungmann, ZGR 2006, 638, 648; BDI/HengelerMueller (Hrsg.), Die GmbH im Wettbewerb der Rechtsformen, S. 28 ff. (im Internet abrufbar unter http://www.bdi-online.de/Dokumente/Recht-Wettbewerb-Versicherungen/DieGmbHimWettbewerbderRechtsformen.pdf). 3 Gegen die Herabsetzung des Mindeststammkapitals Priester, in: VGR (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 1, 5 ff.; ders., DB 2005, 1315, 1319; ders., ZIP 2005, 921 f.; Heckschen, NotBZ 2006, 381, 382; Wicke ZNotP 2006, 322, 323 f.; Zöllner, GmbHR 2006, 1, 11 f.; Leuering, ZRP 2006, 201, 203; Bormann, GmbHR 2006, 1021, 1022; mit überwältigender Mehrheit hat sich auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. DJT für die Beibehaltung des Mindestkapitals und gegen eine Herabsetzung ausgesprochen (Nr. 2 und 3 der Beschlüsse; die Beschlüsse sind im Internet abrufbar unter www.djt.de); s. ebenso Altmeppen, NJW 2005, 1911; Kleindiek, ZGR 2006, 335, 341 ff.; ders., in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, Stuttgart 2006, Bd. II/1, P 50; ders., DStR 2005, 1366, 1369; Wilhelmi, GmbHR 2006, 13 ff.; Assmann, in: Großkomm. zum AktG, 4. Aufl. 1992, Einl. Rn. 481 ff., 486 f. Im Ergebnis ähnlich Kallmeyer, GmbHR 2004, 377, 379 (Mindesteigenkapital von 25000 Euro, das aber erst in der Insolvenz aufzubringen ist); Eidenmüller/Engert, GmbHR 2005, 433, 437 f.; vgl. auch Vossius/Wachter, BB 2005, 2539. Kritisch zur Einführung eines Solvenztests Dierksmeier/Scharbert, BB 2006, 1517, 1520; Joost, in: VGR (a. a. O.), S. 31, 46 ff.; K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 4; Kleindiek, in: Verhandlungen des DJT (a. a. O.), P 58 ff., 61; ausführlich Vetter, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, Stuttgart 2006, Bd. II/1, P 96 ff.; Teichmann, NJW 2006, 2444, 2446 f. m. w. N. Auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. DJT hat die Einführung eines Solvenztests mit überwältigender Mehrheit abgelehnt (Nr. 10 und 11 der Beschlüsse, a. a. O.). 4 Der Entwurf ist abrufbar auf der Homepage des Bundesjustizministeriums (Stand: 29. 5. 2006).

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Altmeppen – Zentrale Änderungen des GmbH-Rechts durch das MoMiG

weg, wie er im Entwurf durchschimmert, Zustimmung verdient und welche Verbesserungsvorschläge erwägenswert sind.

II. Zur Beibehaltung eines Mindeststammkapitals Der Entwurf will das deutsche Prinzip des Mindeststammkapitals beibehalten, Letzteres nur auf 10 000 Euro herabsetzen5. Dagegen wird eingewandt, der Gesetzgeber könne keine betriebswirtschaftlich angemessene Kapitalausstattung für die zu ganz unterschiedlichen unternehmerischen Zwecken verwendete GmbH vorschreiben6. 25 000 oder 10 000 Euro seien in aller Regel viel zu wenig7, manchmal aber gar nicht nötig8. Man kann, soviel ist richtig, selbstverständlich nicht bestreiten, dass 25 000 oder gar 10 000 Euro Kapitalausstattung heute keinen Gläubigerschutz mehr gewährleisten können9. Die sehr berechtigte, aber unpopuläre Forderung einer nennenswerten Kapitalausstattung der GmbH mit 5 Vgl. § 5 Abs. 1 GmbHG-E (Art. 1 Nr. 3a RefE-MoMiG [o. Fn. 4]). Die Herabsetzung befürwortend Breitenstein/Meyding, BB 2006, 1457, 1458; Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2006, 978, 979; Karsten, GmbHR 2006, 57, 59 f. (bei gleichzeitiger Abschaffung der Möglichkeit der Halbeinzahlung, § 7 Abs. 2 Satz 2 GmbHG); im Ergebnis auch Thiessen, ZIP 2006, 1892 ff. (Freigabe des Mindeststammkapitals, aber Einführung eines sog. „Insolvenzeröffnungskapitals“ i. H. v. bis zu 10 000 Euro); zurückhaltender Schäfer, DStR 2006, 2085 f. S. zur Gegenansicht einerseits die Nachw. in Fn. 2 (komplette Abschaffung des Mindeststammkapitalerfordernisses bzw. Herabsetzung auf einen Euro) und andererseits die Nachw. in Fn. 3 (Erhaltung eines Mindeststammkapitals von mindestens 25 000 Euro). 6 S. Blaurock (Fn. 2), S. 3, 13 f.; Lutter, in: Lutter (Fn. 2), S. 1, 7; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189 f.; Schön, ZHR 166 (2002), 1, 3 f.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151, 154 f. Vgl. für die Abschaffung des Mindeststammkapitalerfordernisses bzw. seine Absenkung auf den symbolischen Wert von einem Euro auch bereits die Nachw. in Fn. 2. Zur Gegenansicht s. die Nachw. in Fn. 3. 7 Triebel/Otte, ZIP 2006, 311 f.; Drygala, ZGR 2006, 587, 590 f.; Blaurock (Fn. 2), S. 3, 16; Goette, ZGR 2006, 261, 265; Mülbert, Der Konzern 2004, 151, 155; s. auch Eidenmüller/Engert, GmbHR 2005, 433, 435; Hirte, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), P 17. 8 Hirte, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), P 17; s. auch Eidenmüller/Engert, GmbHR 2005, 433, 434. 9 So auch Blaurock (Fn. 2), S. 3, 10, 15 ff.; Goette, ZGR 2006, 261, 266; GesmannNuissl, WM 2006, 1756, 1757. Ausführliche Untersuchungen zur Gläubigerschutzfunktion des Mindeststammkapitalprinzips zuletzt bei Haas, DStR 2006, 993 ff.; Drygala, ZGR 2006, 587 ff.; Kleindiek, ZGR 2006, 335, 337 ff.; vgl. zudem BDI/ HengelerMueller (Fn. 2), S. 16 ff.

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100 000 Euro oder mehr wird andererseits auf absehbarer Zeit politisch nicht durchsetzbar sein. Abwegig ist endlich die Annahme, dass sich ein ernst zu nehmender Geschäftsmann deswegen für die GmbH – und gegen die Limited – entscheiden würde, weil er bei Gründung künftig statt 12 500 nur noch 5000 Euro anzahlen muss. Betrachten wir die Herabsetzung des Stammkapitals von 25 000 auf 10 000 Euro – wenn sie überhaupt kommt – deshalb als das, was sie ist: eine politisch motivierte Petitesse aus der Schröder-Ära10, deren eigentliche Bedeutung in der – sehr zu begrüßenden11 – Beibehaltung des Mindeststammkapitalprinzips liegt. Den Kritikern ist entgegenzuhalten, dass Unternehmer, die noch nicht einmal 10 000 Euro aufbringen können oder wollen, keine Kapitalgesellschaft zu errichten wünschen. Dies gilt vor allem auch dann, wenn ihr Unternehmen – z. B. als kleiner Dienstleistungsanbieter – gar keinen entsprechenden Kapitalbedarf hat: Was soll dann überhaupt die Haftungsbeschränkung12? Erinnern wir uns: Die Kapitalgesellschaft ist deswegen als juristische Person verselbständigt worden, weil ihre Gründer – was volks- und betriebswirtschaftlich erwünscht ist – Haftungsrisiken bei solchen Unternehmen mit den Gläubigern teilen wollen, die eine gewisse Dimension erreichen und deshalb bei schuldlosem Scheitern die begrenzte Finanzkraft einer natürlichen Person oder Personengruppe sprengen13. Dieser Gedanke der Risikoverteilung zwischen dem Investor und den Gläubigern ist zwar auch bei mittelständischen Unternehmen angemessen, wie der Gesetzgeber des GmbHG von 1892 zu Recht entschieden hat14. Die anglo-amerikanische Limited, die nur ein 10 S. bereits Art. 1 Nr. 2 des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Mindeskapitals der GmbH (MindeskapG) vom 15. 4. 2005 (abrufbar im Internet unter http://www.bmj.de/media/archive/908.pdf). 11 So auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. Deutschen Juristentags, Beschluss Nr. 2 (Fn. 3); vgl. zudem die Nachw. in Fn. 3 sowie Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 80 ff. 12 Zutr. Wicke, ZNotP 2006, 322, 323 f. Vgl. auch Wilhelmi, GmbHR 2006, 13, 21; Eidenmüller/Engert, GmbHR 2005, 433, 434 f., 437. 13 Vgl. hierzu Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 13; Drygala, ZGR 2006, 587, 599 ff.; Vetter, ZGR 2005, 788, 789; Kleindiek, ZGR 2006, 335, 338 f. m. w. N. 14 Vgl. die Begründung zum Entwurf des GmbHG 1892, abgedr. in den Stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Reichstags, VIII. Legislaturperiode, I. Session 1890/1892, 5. Anlageband, Aktenstück Nr. 660, S. 3724, 3725; s. auch den Bericht der XXV. Kommission über die Vorberatung des Entwurfs, a. a. O., 6. Anlageband, Aktenstück Nr. 744, S. 4005, 4007. Vgl. auch BGHZ 142, 315, 322 = NJW 1999, 3483 mit Verweisen auf Lutter, in: FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 49, 50 sowie die Materialien zur GmbH-Novelle 1980, BT-Drucks. 8/3908, S. 68.

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Taxi oder einen Würstchenstand betreibt, entspricht deutscher Unternehmenskultur aber an sich nicht. Mit dem viel zu gering gewordenen Stammkapital von 25 000 oder gar 10 000 Euro wird sie – welch ein Fortschritt – auch hierzulande ermöglicht. Eine Kapitalgesellschaft ganz ohne Kapital ist jedoch eine contradictio in adiecto15. Null Kapital kann man nicht rechtlich verselbständigen, und wer den Einzelkaufmann mbH16, eine „Personengesellschaft mbH“17 oder eine sog. „Unternehmensgründungsgesellschaft (UGG)“18 einführen will, betritt Neuland: Zum Wesen des Bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts gehört nach unserem bisherigen Verständnis die unbeschränkte persönliche Haftung19, und was rechtfertigt eine Haftungsbeschränkung, wenn es statt der natürlichen Person des Kaufmanns noch nicht einmal einen Investor gibt, der Risikokapital zur Verfügung stellen will20, zumal wenn dieses angeblich auch gar nicht benötigt wird21? Die Befürworter einer Kapitalgesellschaft ohne Kapital wollen im Grunde eine neue Unternehmensträgerin zur Verfügung stellen 22, und darü15 Instruktiv Wiedemann, Gesellschaftsrecht Band I, 1980, § 2 I 3a (S. 101 f.), § 4 I 2a (S. 196 f.), § 4 I 3b (S. 203), § 10 IV 1b (S. 556 ff.); vgl. auch Weick, in: Staudinger, BGB, Bearb. 2005, Einl. §§ 21-79 Rn. 17. 16 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Kaufmanns mit beschränkter Haftung, abrufbar auf der Homepage des bayerischen Staatsministeriums der Justiz, http://www.justiz.bayern.de/imperia/md/content/stmj_internet/ministerium/ ministerium/gesetzgebung/kmbh_gesetzentwurf.pdf. Kritisch hierzu Priester, in VGR (Fn. 3), S. 1, 10 f.; K. Schmidt, DB 2006, 1096 f.; vgl. auch die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer, abrufbar im Internet unter http://www.brak.de/ seiten/pdf/Stellungnahmen/2006/Stn24.pdf; positivere Beurteilung bei Wicke, ZNotP 2006, 322, 324. 17 Vgl. das „Eckpunktepapier“ von Bündnis 90/Die Grünen, abrufbar im Internet unter http://www.dihk.de/inhalt/download/gesellschaftsformeckpunkte.pdf; s. auch Drygala, ZIP 2006, 1797, 1800 ff. (Einführung einer „Kommanditgesellschaft mit beschränkter Haftung“ – „KmbH“). 18 S. dazu die Anregungen des rechtspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gehb und seiner Mitarbeiter Drange und Heckelmann, NZG 2006, 88, 91 ff.; s. auch Gehb/Heckelmann, GmbHR 2006, R 349. Vgl. hierzu Priester, in: VGR (Fn. 3), S. 1, 11; K. Schmidt, DB 2006, 1096, 1097 f. 19 S. nur BGHZ 142, 315, 319 = NJW 1999, 3483. S. auch die Materialien zur GmbH-Novelle 1980, BT-Drucks. 8/3908, S. 69. 20 Deutlich insofern auch Kleindiek, ZGR 2006, 335, 343 f.; s. auch dens., in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 48 f. 21 Vgl. dazu bereits Fn. 12. 22 Etwas anders verhält es sich bei der von Nordrhein-Westfalen vorgeschlagenen sog. „Basis-GmbH“ (häufig als „GmbH light“ bezeichnet, s. beispielsweise Seibert, ZIP 2006, 1157, 1168): Diese soll zwar im Vergleich zur GmbH einfacher zu gründen sein, ein Mindeststammkapital von 2500 Euro ist aber dennoch vorge-

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ber kann man reden23. Die neueste Hoffnung lautet: Kein Kapital und keine persönliche Haftung, keine Angst vor der verschleierten Sacheinlage oder den Risiken einer Mantelgründung: Diese Anreize für den geneigten Unternehmensgründer klingen verlockend. Aber auch wenn sich für eine solche neue Unternehmensform, der schon in der Geburtsstunde die Insolvenz droht, politische Mehrheiten fi nden, wird sie am vorsichtigen deutschen Markt keinen garantierten Erfolg haben. Es geht dabei jedenfalls um keine Kapitalgesellschaft mehr24. Selbstverständlich sollte andererseits sein, dass nicht das Prinzip der Kapitalgesellschaft aufzugeben ist, weil sich gewisse Lehren zur Kapitalaufbringung trotz guter Absicht ihrer Lehrer zu Zauberlehrlingen entwickeln konnten25. Diese zwar gut gemeinten, aber die Rechtsform der GmbH inzwischen geradezu diskreditierenden Irrlehren muss vielmehr die Rechtsprechung für erledigt erklären26. So ist die verdeckte Sacheinlage nur ein Problem der Differenzhaftung27, und die Verwendung vermotteter GmbH-

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sehen; vgl. den „Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GVGG)“, abrufbar auf der Homepage des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, http://www.justiz.nrw.de/ JM/justizpolitik/gesetzgebung/gesetzgebungsvorhaben/gmbh_recht/inhalt_gesetzentwurf/gesetzentwurf.pdf. Die Schaffung einer neuen Rechtsform befürworten neben den bereits Genannten Schall/Westhoff, GmbHR 2004, R 381 (Einführung einer „flexiblen Kapitalgesellschaft“ – „FlexCap“); Lutter, BB-Special 7/2006, 2, 4 (Einführung einer „Unternehmergesellschaft“ – „UG“); ders., in: VGR (Fn. 3), S. 211, 221 f.; s. auch Priester, ZIP 2006, 161 f.; ders., in: VGR (Fn. 3), S. 1, 12 f.; Leuering, ZRP 2006, 201, 203. A. A. K. Schmidt, DB 2006, 1096 ff., 1099; Hirte, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), P 41 f.; Seibert, GmbHR 2006, R 241 f.; grundsätzlich auch Wicke, ZNotP 2006, 322, 324. Auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. Deutschen Juristentags 2006 hat die Einführung einer neuen Rechtsform mit überwältigender Mehrheit abgelehnt, s. Nr. 1 der Beschlüsse (Fn. 3). Lutter, in: VGR (Fn. 3), S. 211, 219 (zum Entwurf des „Kaufmanns mbH“, näher dazu Fn. 16). In diese Richtung aber Blaurock (Fn. 2), S. 3, 16; vgl. auch Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189, 193; Haas, DStR 2006, 993, 996 f.; Kallmeyer, GmbHR 2004, 377, 379; Eidenmüller/Engert, GmbHR 2005, 433, 437 f. Andeutungsweise auch die Begründung zum RefE-MoMiG (Fn. 4), S. 34. Wie hier dagegen Kleindiek, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 51 ff. Zu Recht wird endlich betont, dass sich die Auswüchse im Recht der Kapitalaufbringung nicht schon dann erledigen, wenn der Gesetzgeber die Wahl der Stammkapitalziffer alleine den Gesellschaftern überlässt, s. nur Lutter, in: Lutter (Fn. 2), S. 1, 7; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 83. Vorschläge für gesetzliche „Abhilferegelungen“ in der Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2006, 978, 979. Treffend Heidenhain, GmbHR 2006, 455, 457 f.; vgl. auch Kleindiek, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 53 f.; Mülbert, WM 2006, 1977, 1985; Triebel/Otte, ZIP

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Mäntel gehört zum Komplex der Durchgriffshaftung wegen Missbrauchs der Rechtsform GmbH28. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber gut beraten ist, das Mindeststammkapital beizubehalten; die Herabsetzung auf 10 000 Euro wäre demgegenüber timider politischer Aktionismus29.

III. Brauchen wir zusätzlich einen solvency test? Die Forderung nach einem Solvenztest anglo-amerikanischen Charakters besagt, es sei weniger eine stammkapitalbezogene, sondern eher eine prognostisch zu kalkulierende Vermögensmasse vor Ausschüttungen zu schützen, die zu erhalten das künftige Befriedigungsinteresse der Gläubiger gebiete30. Die Väter des Referentenentwurfs haben aber kaum Anstalten gemacht, ein derartiges Element des anglo-amerikanischen Systems in das deutsche GmbH-Recht zu übernehmen31. Die dagegen gerichtete Kritik lautet, der unzureichende Stammkapitalschutz lasse

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2006, 1321, 1323; Fastrich, DStR 2006, 656, 660; s. auch bereits Grunewald, in: FS Rowedder, 1994, S. 111, 114 ff., 117 f.; Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005, § 19 Rn. 61 f.; ähnlich Einsele, NJW 1996, 2681, 2688 ff.; Brandner, in: FS Boujong, 1996, S. 44 ff. jew. m. w. N.; s. zudem Beschluss Nr. 8b der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 66. DJT (Fn. 3). Ablehnend gegenüber einer Differenzhaftung dagegen Lutter/Bayer, in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 5 Rn. 47 ff.; Hüffer, AktG, 7. Aufl. 2006, § 27 Rn. 9a m. w. N. Zur h.L. (Bareinlagepfl icht bleibt mangels wirksamer Erfüllung bestehen) s. nur BGHZ 28, 317; 113, 345; BGH, NJW 1998, 1953. S. bereits Altmeppen, NZG 2003, 145, 148 ff.; ders., DB 2003, 2050, 2054. Dagegen sind nach der h. M. in Rspr. und Lit. auch bei Verwendung eines „gebrauchten“ GmbH-Mantels die Gründungsvorschriften entsprechend anzuwenden, vgl. BGHZ 155, 318 = NJW 2003, 3198; Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 3 Rn. 13, mit zahlreichen Nachw. zum Streitstand. Zutr. die in Fn. 3 Genannten. S. zur Gegenansicht die Nachw. in Fn. 5 (Herabsetzung des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro) bzw. in Fn. 2 (komplette Abschaffung des Mindeststammkapitalerfordernisses bzw. Herabsetzung auf einen Euro). Vgl. Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 131 ff.; Pellens/Jödicke/Richard, DB 2005, 1393 ff.; Pellens/Sellhorn, in: Lutter (Fn. 2), S. 451 ff.; Engert, ZHR 170 (2006), 296 ff.; Jungmann, ZGR 2006, 638, 648; BDI/HengelerMueller (Fn. 2), S. 28 ff. Einen Vergleich des traditionellen Kapitalerhaltungssystems mit situativen Ausschüttungssperren unternimmt auch Veil, in: Lutter (Fn. 2), S. 91 ff. Ausführlich zum Solvenztest im US-amerikanischen Recht Marx, DZWIR 2006, 401 ff. Lediglich in § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG-E (näher dazu unter VI.) sollen Elemente eines Solvenztests verwirklicht werden, s. Seibert, ZIP 2006, 1157, 1167; vgl. auch die Begründung zum RefE-MoMiG (Fn. 4), S. 64.

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bilanzneutrale Schädigungen der GmbH im Gesellschafterinteresse zu, und Entsprechendes gelte für Schädigungen jenseits des geschützten Kapitals32 . In beiden Varianten könne gleichwohl Insolvenz die Folge der Schädigung sein. Die um sich greifende Begeisterung für den solvency test hat aber vor allem mit dem Phänomen der Kirschen in Nachbars Garten zu tun. Rechtsvergleichende Untersuchungen der angeblichen Vorzüge und Unterschiede des solvency tests zu unserem System lassen uns zunehmend erkennen, dass es sich bei der euphorisch gefeierten anglo-amerikanischen Mode des solvency test um des Kaisers neue Kleider handelt. Zudem gibt es bis heute noch überhaupt keine verlässlichen Kriterien für einen Solvenztest im Sinne einer prognosebasierten Bestimmung ausschüttungsfähiger Beträge33. So fehlen sämtliche Maßstäbe hinsichtlich des relevanten Prognosezeitraumes, des Prognoseinstrumentariums, schlüssige Kriterien für eine Culpa-Haftung der Geschäftsleiter bei sich später herausstellender Unrichtigkeit der Prognoseentscheidung etc. Unter diesen Umständen sollte uns nicht übermäßig interessieren, welche Bedeutung der anglo-amerikanische Rechtskreis seinem solvency test beimisst. Für unsere Kapitalgesellschaften eignet sich dieses Instrument jedenfalls nicht als Ersatz für die bilanzielle Ausschüttungssperre und schon gar nicht für die Insolvenzantragspflicht34.

IV. Eigenkapitalersatz Hinsichtlich der Novelle des Eigenkapitalersatzrechts folgt der Entwurf im Wesentlichen den Vorarbeiten von Huber und Habersack35. Danach sind die so genannten Rechtsprechungsregeln, die kapitalersetzende Darlehen den Kapitalbindungsregeln der §§ 30, 31 GmbHG unterwerfen, durch ei32 Vgl. Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 131 m. w. N. 33 Zutr. Kleindiek, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 59 ff.; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 100 ff.; Teichmann, NJW 2006, 2444, 2447; Jungmann, ZGR 2006, 638, 681; K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 4; Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681, 685. 34 Ebenso die in Fn. 3 Genannten. 35 Huber/Habersack, in: Lutter (Fn. 2), S. 370 ff.; dies., BB 2006, 1 ff. Vgl. auch Immenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft, 1970, S. 421 f.; Lutter, in: Centrale für GmbH, Probleme der GmbH-Reform, 1970, S. 63, 76 f.; T. Bezzenberger, in: FS Bezzenberger, 2000, S. 23, 44; Fischer, ZIP 2004, 1477, 1483; Röhricht, ZIP 2005, 505, 512 f.; Cahn, AG 2005, 217, 225; Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 69, 75.

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nen Federstrich des Gesetzgebers abzuschaffen36. Künftig soll es keine „eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen“ mehr geben, sondern lediglich Gesellschafterforderungen, die im Insolvenzverfahren den Nachrang haben37 und deren Tilgung binnen Jahresfrist vor dem Insolvenzantrag der Anfechtung unterliegt38. Immerhin verlangt der Entwurf noch, dass es sich um Darlehens- oder wirtschaftlich vergleichbare Forderungen handelt39, während Huber und Habersack – was konsequenter ist – jede Gesellschafterforderung in der bezeichneten Weise im Vergleich zu den gewöhnlichen Forderungen Dritter benachteiligen wollen40. Beide Varianten sind aber ohne dogmatisches Fundament und auch wertungsmäßig nicht unbedenklich. Insbesondere ist eine Vereinfachung der Rechtslage41 zwar ein vernünftiges Ziel. Basis auch für den Gesetzgeber muss jedoch immer eine klare dogmatische Verankerung sein, die in der Praxis zu wertungsmäßig überzeugenden Lösungen führt42 . Doch lässt sich nicht begründen, weshalb etwa der Gesellschafter den ihm binnen Jahresfrist vor Insolvenzantrag geleisteten Kaufpreis für die seiner GmbH gelieferten Waren soll erstatten müssen, nicht aber den jenseits dieser Frist geleisteten Kaufpreis, und ebenso ungereimt sind beide Ergebnisse für die Tilgung von Darlehen des Gesellschafters, wenn diese mit einer Krise seiner GmbH gar nichts zu tun haben. Es ist schon mehrfach gesagt worden43, dass wir die Legitimation der Benachteiligung von Gesellschafterforderungen, die auf eine überzeugende Rechtsfortbildung des Reichsgerichts 36 S. § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG-E (Art. 1 Nr. 11 RefE-MoMiG [Fn. 4]) (für die AG § 57 Abs. 1 Satz 4 AktG-E [Art. 5 Nr. 4 RefE-MoMiG (Fn. 4)]). Huber/Habersack, in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 414 ff.; dies., BB 2006, 1, 3. 37 § 39 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 4, 5 InsO-E (Art. 9 Nr. 4a, b RefE-MoMiG [Fn. 4]). 38 § 135 InsO-E (Art. 9 Nr. 7 RefE-MoMiG [Fn. 4]) bzw. §§ 6, 6a AnfG-E (Art. 11 Nr. 1 RefE-MoMiG [Fn. 4]). 39 S. die Nachw. in Fn. 37, 38. 40 Huber/Habersack, BB 2006, 1, 2 f.; dies., in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 405 ff. Die im Entwurf vorgesehene Beschränkung befürworten dagegen Bayer/Graff, DStR 2006, 1654, 1657; Schiffer, BB-Special 7/2006, 14, 17. 41 S. die Begründung zum RefE-MoMiG (Fn. 4), S. 35, 56; Huber/Habersack, in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 407 f.; dies., BB 2006, 1, 2 f.; Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 75; s. auch Schäfer, DStR 2006, 2085, 2087; Röhricht, ZIP 2005, 505, 513. 42 Zutr. K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1931 f.; Kleindiek, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 64 f.; ders., ZGR 2006, 335, 358; Bayer/Graff, DStR 2006, 1654, 1657; Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2006, 978, 982. 43 Hommelhoff, in: VGR (Fn. 3), S. 115, 124 ff., 141 (Diskussionsbeitrag); Kleindiek, ZGR 2006, 335, 357 ff.; ders., in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 64 f.; K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1931 f., 1934; ders., GmbHR 2007, 1, 8.

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zurückgeht44, keinesfalls ganz aus dem Auge verlieren dürfen: Die societatis causa gewährte Fremdfinanzierung trotz Krise soll – wegen ihrer die übrigen Gläubiger erfahrungsgemäß gefährdenden Tendenz – mit insolvenzrechtlichem Nachrang belegt werden45. Insbesondere der Gedanke, der Gesellschafter sei irgendwie „näher dran“46, trägt doch nur unter dem Aspekt, dass er sich nicht marktkonform verhält, indem er nämlich trotz Krise noch finanziert47. Die insolvenzrechtliche Qualifikation des Kapitalersatzrechts ist andererseits nicht zu beanstanden48, zumal die von der Rechtsprechung begründete Analogie zu §§ 30, 31 GmbHG nur eine plausible dogmatische Begründung für das wertungsmäßig überzeugende Ergebnis war. Der Gesetzgeber der InsO hat aber schon erkannt, dass der Gesellschafter-Kreditgeber im Rang vor dem Eigenkapitalgeber steht49, und deswegen hat der II. Zivilsenat des BGH im Jahre 2001 sehr zu Recht die Passivierung eigenkapitalersetzender Gesellschafterdarlehen im Insolvenzstatus gefordert, solange die Rangrücktrittserklärung des Gesellschafters fehlt50. Sind gesetzlich angeordneter Nachrang im Insolvenzverfahren und Anfechtung von Tilgungsleistungen binnen eines bestimmten Zeitraums vor Insolvenzantrag also die sachlich vollauf gerechtfertigten Sanktionen, ist aber unbedingt an der entscheidenden Voraussetzung festzuhalten, dass sie an eine Krisenfinanzierung aus Gesellschafterhand anknüpfen müssen51. Der Verzicht auf die Krisenfinanzierung lässt die damit beabsichtigte Vereinfachung in die unlösbare Schwierigkeit umschlagen, einen dogmatisch und wertungsmäßig überzeugenden Grund für ein zu simpel gewordenes Konzept zu finden.

44 S. RG, JW 1938, 862, 864 f.; JW 1939, 229, 231; JW 1939, 355 f.; JW 1941, 1080, 1082. 45 S. Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 32a Rn. 11, 43; Altmeppen, NJW 2005, 1911, 1913 f.; ders., ZIP 1993, 1677, 1682; ebenso Hommelhoff, in: VGR (Fn. 3), S. 115, 128. 46 Vgl. K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1934. 47 Kritik an der geplanten Neuregelung insofern auch bei K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1934; Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1759 f. 48 Vgl. dazu Huber/Habersack, in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 410 f.; dies., BB 2006, 1, 7. Zustimmend insofern auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. DJT (Beschluss Nr. 17; o. Fn. 3); Bayer/Graff, DStR 2006, 1654, 1656; Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 64 f.; Heckschen, NotBZ 2006, 381, 387 f.; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 119; s. bereits Ulmer, NJW 2004, 1201, 1207; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189, 194; Röhricht, ZIP 2005, 505, 512 f.; zurückhaltender K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1932. 49 S. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. 50 BGHZ 146, 264, 272 ff. = NJW 2001, 1280. 51 So deutlich auch Kleindiek, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 64.

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Die Erleichterungen, welche die Praxis benötigt, ergeben sich – auch wenn der 66. DJT ihren Wert nicht gesehen hat52 – aus klaren Beweislastregeln. Dazu sei ein Vorschlag aus dem Jahr 200553 wiederholt: Die noch bestehenden und die bis zur zeitlichen Grenze von einem Jahr vor Insolvenzantrag getilgten Gesellschafterforderungen gelten – Rechtfertigung dafür ist die Erfahrung – als kapitalersetzend. Insoweit mag der Gesetzgeber die Vermutung aus Vereinfachungsgründen als praesumtio iuris et de iure – also unwiderlegbar – gestalten. Auf den Einzelfall bezogen gerechter wäre das Verständnis dieser gesetzlichen Vermutung als praesumtio facti, die der Gesellschafter durch Nachweis entkräften kann, bei Tilgungsleistung sei die Gesellschaft nicht in der Krise gewesen54. Solche Fälle gibt es nämlich in der Praxis auch dann, wenn die Gesellschaft binnen Jahresfrist nach der Tilgung Insolvenzantrag stellen muss. Hinsichtlich der bis zur zeitlichen Grenze von zwei Jahren vor Insolvenzantrag getilgten Gesellschafterforderungen gilt das Umgekehrte: Insolvenzverwalter und Gläubiger müssen beweisen, dass diesen Forderungen krisenbezogene Leistungen societatis causa zugrunde gelegen haben. Jenseits der Zweijahresfrist mag man, wenn die Insolvenzverschleppungshaftung verbessert wird (dazu unter VI.), auf Kapitalersatzrecht verzichten können. Doch sollte der Entwurf abgeändert werden, soweit er die Gesellschafterforderungen binnen der ersten Jahresfrist pauschal ohne sachlichen Grund benachteiligt, ihre Tilgung innerhalb der zweiten Jahresfrist aber – wiederum ohne sachlichen Grund – auch dann nicht mit Anfechtbarkeit zugunsten unbefriedigter Gläubiger belegen will, wenn nachweislich eine Krisenfi nanzierung aus Gesellschafterhand trotz Fortbestandes der Krise an den Gesellschafter zurückgeflossen ist55.

52 Vgl. insofern den Beschluss Nr. 21a der wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 66. DJT (Fn. 3); gegen die Einführung von Vermutungsregeln auch Schäfer, DStR 2006, 2085, 2088. 53 Altmeppen, NJW 2005, 1911, 1913 f. 54 Ebenso Kleindiek, ZGR 2006, 335, 358; ders., in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 64; Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 81. 55 Für eine Verlängerung der Anfechtungsfrist auf zwei Jahre auch Bayer/Graff, DStR 2006, 1654, 1657 f.; Bormann, DB 2006, 2616, 2617; vgl. auch Fischer, ZIP 2004, 1477, 1483 (vier Jahre); Hommelhoff, in: VGR (Fn. 3), S. 115, 122 f. A. A. Huber/Habersack, BB 2006, 1, 5 f.; dies., in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 418 f.; Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2006, 978, 982 (Halbierung der Jahresfrist); Cahn, AG 2005, 217, 225; Röhricht, ZIP 2005, 505, 512.

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Bestand haben sollte – entgegen der Entwurfsregelung zu § 19 Abs. 2 Satz 3 InsO56 – auch die Rechtsprechung des BGH, nach welcher die hier interessierenden Gesellschafterforderungen im Insolvenzstatus zu passivieren sind57. Mit Recht wurde hervorgehoben, dass dies nach der neuen Konzeption sogar zwingend ist, weil der Gesellschafter – nachdem die analoge Anwendung des § 30 GmbHG abgeschafft wird – trotz Krise einen Auszahlungsanspruch hat58. Die Insolvenzantragspfl icht besteht zudem, wie anderweitig dargelegt wurde, auch im Interesse solcher Gesellschafter-Kreditgeber, die eine Rangrücktrittserklärung verweigern und deshalb den Vorrang vor solchen Gesellschafter-Kreditgebern haben, die den Rangrücktritt zur Abwendung der Insolvenzantragspfl icht erklären59. Auch diese Einsicht ist keineswegs kompliziert, wenn man den Kerngedanken des Kapitalersatzrechts konsequent als ein Problem des insolvenzrechtlichen Ranges begreift. Auszahlungsverbot und entsprechende Haftung analog §§ 30, 31, 43 Abs. 3 GmbHG sind damit in Abkehr von 70-jähriger Rechtsprechungstradition60 freilich nicht mehr zu vereinbaren. Das aber ist gut erträglich, zumal wenn man bedenkt, dass der Gesellschafter nach dem Kapitalersatzgedanken seine Forderung in der Krise der Gesellschaft gerade realisieren soll, um eine fällige Liquidation der Gesellschaft nicht länger aufzuhalten. Auch daran wird erkennbar, dass die Rechtsprechungsregeln im Sinne der Analogie zu §§ 30, 31 GmbHG nur eine inzwischen nicht mehr benötigte Stufe auf dem Weg zur Erklärung dafür waren, warum Krisenfi nanzierungen aus Gesellschafterhand bei Insolvenz der Gesellschaft nur eine nachrangige Befriedigung erfahren dürfen61. Eine sinnvolle Regelung dieses Gedankens in der Insolvenzordnung macht die Rechtsprechungsregeln in der 56 S. Art. 9 Nr. 3 RefE-MoMiG (Fn. 4). 57 BGHZ 146, 264, 269 ff. = NJW 2001, 1280. Für die Beibehaltung der Passivierungspfl icht auch K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 10; ders., ZIP 2006, 1925, 1931; Bormann, DB 2006, 2616, 2618 ff.; Mülbert, WM 2006, 1977, 1979; ausführlich Haas, NZI 2006, Heft 10, VII f.; ders./Oechsler, NZG 2006, 806, 807 f.; ebenso die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. DJT (Beschluss Nr. 23, o. Fn. 3). A. A. Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2006, 978, 981 f.; Noack, DB 2006, 1475, 1481; Huber/Habersack, BB 2006, 1, 6 f.; dies., in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 413 f. 58 K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1931; in diesem Sinne auch Haas, NZI 2006, Heft 10, VII, VIII. 59 Altmeppen, ZHR 164 (2000), 349, 352, 366 ff.; ders., ZIP 1997, 1173, 1176; Roth/ Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 28 ff., 30, 34 ff., 38. 60 S. die Nachw. in Fn. 44; zuletzt BGH, BB 2006, 1759, 1762 = ZIP 2006, 1488. 61 So auch Röhricht, ZIP 2005, 505, 512; vgl. ferner Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 54. Dagegen Kleindiek, ZGR 2006, 335, 355.

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Tat überflüssig62 . Dies sollte man freilich schon aus Respekt vor der dritten Staatsgewalt nicht in das Gesetz selbst hineinschreiben63. Karsten Schmidt hat treffend von einer „redaktionellen Absonderlichkeit“ gesprochen64, hinzuzufügen wäre: die methodischen und womöglich verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt. Die Rechtsprechung entscheidet hierzulande immer noch, wie sie ein Gesetz im praktischen Fall anzuwenden hat! Zur Dokumentation des gesetzgeberischen Willens als eines unter mehreren Auslegungskriterien genügt wohl ein entsprechender Hinweis in der Regierungsbegründung. Hinsichtlich des vom Entwurf beibehaltenen Kleinbeteiligungs-65 und Sanierungsprivilegs66 sei auf einen Systembruch hingewiesen67. Beide Privilegien stellen sich als Ausnahme und zugleich Konkretisierung der Finanzierungsfolgenverantwortung dar, die der Entwurf aber gerade nicht mehr für relevant hält: Auf Krisenfinanzierung und aus ihr resultierende Folgenverantwortung soll es doch angeblich gar nicht mehr ankommen68. Weil das aber – wie gesagt – die unrichtige Prämisse ist, muss diese geändert werden. Hinsichtlich des Sanierungsprivilegs sollte der Gesetzgeber die im Schrifttum dargelegten Bedenken aufgreifen. Es ist nicht schlüssig, Altgesellschafter von diesem Privileg auszunehmen, obwohl sie für die Krise 62 Vgl. Altmeppen, NJW 2005, 1911, 1914; Huber/Habersack, BB 2006, 1, 3; dies., in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 415 ff.; Bayer/Graff, DStR 2006, 1654, 1656 f.; Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 60 ff., 64; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189, 194; Schiffer, BB-Special 7/2006, 14, 15 f.; wohl auch Noack, DB 2006, 1475, 1481; Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1761; Schäfer, DStR 2006, 2085, 2087 f.; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 117. Auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. DJT hat sich für die „Abschaffung“ der Rechtsprechungsregeln ausgesprochen (Beschluss Nr. 17, o. Fn. 3); ebenso BDI/HengelerMueller (Fn. 2), S. 33. Zurückhaltender Kleindiek, ZGR 2006, 335, 352 ff.; Hommelhoff, in: VGR (Fn. 3), S. 115, 132 ff. Unklarheit besteht teilweise offenbar über die Folgen der „Abschaffung“, vgl. Bormann, DB 2006, 2616 m. w. N. 63 So aber Huber/Habersack, in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 422; Grunewald/Noack, GmbHR 2005, 189, 194; vgl. auch Schiffer, BB-Special 7/2006, 14, 16. 64 K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1930, 1933; vgl. dens., GmbHR 2007, 1, 9. „Verblüfft“ über die Regelungstechnik Römermann, GmbHR 2006, 673, 677. 65 Bisher § 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG, vgl. jetzt § 39 Abs. 5 InsO-E (Art. 9 Nr. 4b RefE-MoMiG [Fn. 4]). 66 Bisher § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG, vgl. jetzt § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO-E (Art. 9 Nr. 4b RefE-MoMiG [Fn. 4]). 67 Für die unveränderte Fortgeltung des Kleinbeteiligungs- bzw. des Sanierungsprivilegs Huber/Habersack, BB 2006, 1, 3 f.; dies., in: Lutter (Fn. 2), S. 370, 399 ff., 411; Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1760; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 119 f., 122; Schiffer, BB-Special 7/2006, 14, 17. 68 S. hierzu nur die Begründung zum RefE-MoMiG (Fn. 4), S. 83.

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nicht verantwortlich gemacht werden können, wie überhaupt die Konzeption nicht schlüssig ist, die Privilegierung von einem Beteiligungserwerb abhängig zu machen69.

V. Cash Pooling Der Entwurf will das betriebswirtschaftlich sinnvolle Cash Pooling durch Ausnahmebestimmungen in § 30 GmbHG70 und § 57 AktG71 den Kapitalerhaltungsregeln entziehen72 . Die vorgeschlagene Gesetzesformulierung übernimmt insoweit ein obiter dictum aus der berühmten „November-Entscheidung“ des BGH vom 24. 11. 2003, nach welchem die grundsätzlich verbotene Darlehensgewährung an Gesellschafter aus gebundenem Gesellschaftsvermögen höchst ausnahmsweise zulässig sein soll, wenn sie (unter anderem) im Interesse der Gesellschaft erfolgt73. Dem Gesetzgeber ist aber nicht zu empfehlen, die Problematik des Cash Pooling in Gestalt einer Ausnahmeregelung zu den Kapitalbindungsregeln zu erfassen74. Im gegenwärtigen Stadium der Diskussion müsste man dies sogar für einen Kunstfehler halten. Das obiter dictum im „November-Urteil“ 69 Ausführlich bereits Altmeppen, ZGR 1999, 291, 296 ff.; ders., in: FS Sigle, 2000, S. 211, 220 ff.; Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 32a Rn. 64 ff.; s. auch Haas, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 2), E 78 m. w. N. Dafür, dass das Sanierungsprivileg nicht an den Beteiligungserwerb gebunden sein sollte, hat sich auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. DJT ausgesprochen (Beschluss Nr. 19, o. Fn. 3). A. A. Huber/Habersack, BB 2006, 1, 4; K. Schmidt, GmbHR 2005, 797, 804. Kritik an der geplanten Formulierung des Sanierungsprivilegs bei Bormann, DB 2006, 2616, 2618; Bayer/Graff, DStR 2006, 1654, 1658; Noack, DB 2006, 1475, 1481; Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1760. 70 S. § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG-E (Art. 1 Nr. 11 RefE-MoMiG [Fn. 4]). 71 S. § 57 Abs. 1 Satz 2 AktG-E (Art. 5 Nr. 4 RefE-MoMiG [Fn. 4]). 72 So ausdrücklich die Begründung zum RefE-MoMiG (Fn. 4), S. 53 ff. 73 BGHZ 157, 72, 77 = NJW 2004, 1111. 74 Ablehnend gegenüber der im Entwurf vorgeschlagenen Regelung auch Bayer/Lieder, GmbHR 2006, 1121, 1126 ff.; Wilhelm, DB 2006, 2729, 2733; K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 5; Burgard, AG 2006, 527, 533; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 113 ff.; Bormann, DB 2006, 2616, 2620 f. (im Hinblick auf die Kapitalerhaltung); ders., GmbHR 2006, 1021, 1024 f. (im Hinblick auf die Kapitalaufbringung); Wessels, ZIP 2006, 1701, 1705 f.; Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2006, 978, 980 f. Zustimmend hingegen Schäfer, BB-Special 7/2006, 5, 6 (linke Spalte), 8 f.; ders., DStR 2006, 2085, 2089 f.; Mülbert, WM 2006, 1977, 1983; Breitenbach/Meyding, BB 2006, 1457, 1461; zurückhaltender Priester, ZIP 2006, 1557, 1558 f. (vornehmlich in Bezug auf die Kapitalaufbringung); Heckschen, NotBZ 2006, 381, 386 f.; Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1761 f.; Noack, DB 2006, 1475, 1482. Auch die wirtschaftsrechtliche Abteilung des 66. DJT hat die

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war ersichtlich eine Konzession des Senates dahin, nicht jeder denkbare Ausnahmefall sei abschließend bedacht und beraten worden75. Zwischen den Senatsmitgliedern bestand in der Folgezeit denn auch keine Einigkeit, ob Cash Pooling überhaupt vom „November-Urteil“ erfasst sei76. Im Jahr 2006 hat der Senat aber erklärt, es solle gerade kein Sonderrecht für Cash Pooling geben77. Damit verträgt sich kaum eine gesetzliche Ausnahmeregelung für das Cash Pooling78. Der Gesetzgeber sollte dem II. Senat die nötige Zeit geben, seine Rechtsprechung zu festigen. Mit dem Merkmal des „Interesses der Gesellschaft“ ist ohnehin an Präzision so gut wie gar nichts gewonnen79. Was das „Interesse der Gesellschaft“ im Zusammenhang mit Cash Pooling trotz Unterdeckung sein soll, ja ob es überhaupt angeht, die Kapitalbindungsregeln außer Kraft zu setzen, wenn dies „im Interesse der Gesellschaft“ liegt80, sollte in Ruhe abgewogen werden, wenn die Praxis Fallmaterial dazu liefert. Gänzlich unbehelflich sind redundante Versicherungen dazu, dass die Werthaltigkeit der Rückzahlungsforderungen gegen den Gesellschafter jedenfalls außer Zweifel zu stehen habe: Anderenfalls läge nach der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH sogar Untreue vor81. Das Thema probandum lautet, ob trotz unzweifelhafter Werthaltigkeit der Rückforderungsansprüche von einem Verstoß gegen § 30 GmbHG auszugehen ist, wenn die Darlehensvaluta aus gebundenem Vermögen stammt.

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„Anerkennung des Cash-Pools“ grundsätzlich begrüßt (Beschluss Nr. 14, o. Fn. 3). Eigene Vorschläge bei Haas/Oechsler, NZG 2006, 806, 809 ff. S. bereits Altmeppen, ZIP 2006, 1025, 1031 (mit Fn. 62). Vgl. beispielsweise die Stellungnahme des damaligen Vorsitzenden des II. Zivilsenats des BGH, Volker Röhricht, im Rahmen des Vortrags auf der VGR-Jahrestagung 2004 (s. den Diskussionsbericht von Löbbe, in: VGR [Hrsg.], Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2004, 2005, S. 29); vgl. auch die Stellungnahmen von Röhricht und dem aktuellen Vorsitzenden des II. Zivilsenats, Wulf Goette, im Rahmen der VGR-Jahrestagung 2005 (s. den Diskussionsbericht von Seulen, in: VGR [Hrsg.], Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2005, 2006, S. 159 f.). BGHZ 166, 8, 15 f. = NJW 2006, 1736. S. bereits Altmeppen, ZIP 2006, 1025, 1031 (mit Fn. 62). Dagegen explizit Bayer/ Lieder, GmbHR 2006, 1121, 1124; ebenso Wessels, ZIP 2006, 1701, 1705. Ebenso Bayer/Lieder, GmbHR 2006, 1121, 1125, 1126 f.; K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 5; Bormann, DB 2006, 2616, 2620; Teichmann, NJW 2006, 2444, 2450; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 116 („Fremdkörper im Recht der Kapitalerhaltung“); skeptisch auch Noack, DB 2006, 1475, 1482. Keine durchschlagenden Bedenken dagegen bei Schäfer, BB-Special 7/2006, 5, 8; Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1762. Bedenken bei Joost, in: VGR (Fn. 3), S. 31, 38. S. BGHSt 49, 147 = NJW 2004, 2248; BGH, NJW 2003, 2296, 2298 = wistra 2003, 385; BGH, NJW 2000, 154, 155 = wistra 2000, 18; BGHSt 35, 333, 335 ff. = NJW 1989, 112; BGH, NJW 1997, 66, 68 f. = wistra 1996, 344.

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Zu beachten ist dabei, dass sich die Problematik des Cash Pooling ohnehin nur im faktischen Konzern stellt. Im Vertragskonzern ist alles erlaubt, solange die Mutter solvent ist und damit zugleich die Solvenz ihrer Töchter garantiert82 . Im faktischen Konzern genügt Solvenz des herrschenden Unternehmens aber nicht als Rechtfertigung für den Griff in gebundenes Vermögen der abhängigen Unternehmen83. Der von Goette am 31. 3. 2006 auf dem Insolvenzrechtstag erstmals vorgetragene84, inzwischen vertiefte Ansatz ist der, dass es aus dem Aspekt der Kapitalbindung heraus betrachtet zwar unproblematisch ist, wenn Gesellschaften am Cash Pooling teilnehmen, deren gebundenes Kapital gedeckt ist, dass aber umgekehrt keine Gesellschaft teilnehmen darf, bei welcher es an dieser Voraussetzung fehlt85. Die dagegen im Schrifttum erhobene Kritik86 bestätigt, dass dieser Ansatz von den Kritikern nicht verstanden worden ist. Es ist weder „ökonomischer Unsinn“87, noch stellt es eine Zumutung für Konzerngeschäftsleiter dar, tagtäglich im Auge zu behalten, ob das Stammkapital der am Cash Pooling beteiligten Gesellschaften gedeckt ist88. Denn diese Pflicht besteht ohnehin89. In allen unbedenklichen Fällen des Cash Pooling liegt denn auch gar keine Unterdeckung bei den beteiligten Gesellschaften vor, zumal dann, wenn die Konzerntöchter nur das Mindeststammkapital aufweisen. Wenn es aber an der Kapitaldeckung fehlt, und dies haben die Geschäftsleiter tagtäglich zu wissen, sei erst einmal plausibel begründet, weshalb es eine Zumutung darstellen soll, wenn solche Gesellschaften aus dem Cash Pooling herausgehalten werden müssen. Keine plausible Begründung liefert die ebenfalls erwogene Annahme, man könne das Tatbestandsmerkmal des „Interesses“ der Gesellschaft vielleicht durch dasjenige der „Vollwertigkeit“ ihres Rückzahlungsanspruchs ersetzen90. Denn auch dann, wenn diese Vollwertigkeit außer Frage steht, 82 Ausführlich Altmeppen, ZIP 2006, 1025, 1032 f. m. w. N. 83 S. Altmeppen, ZIP 2006, 1025, 1030 ff. m. w. N. zum Streitstand. 84 Goette, KTS 2006, 217, 226 f.; s. dens., DStR 2006, 768, 769; vgl. ansatzweise auch bereits dens., ZIP 2005, 1481, 1484. 85 Altmeppen, ZIP 2006, 1025, 1030 f. 86 S. zuletzt Bayer/Lieder, GmbHR 2006, 1121, 1122 ff.; vgl. auch Burgard, AG 2006, 527, 529; Schäfer, BB-Special 7/2006, 5, 8; ders., DStR 2006, 2085, 2089; Seibert, ZIP 2006, 1157, 1163; Noack, DB 2006, 1475, 1482. Wohl zust. Wessels, ZIP 2006, 1701, 1704 f. 87 So aber Burgard, AG 2006, 527, 529. 88 Vgl. insofern aber Schäfer, BB-Special 7/2006, 5, 8; Seibert, ZIP 2006, 1157, 1163; s. auch Noack, DB 2006, 1475, 1482; Mülbert, WM 2006, 1977, 1983. 89 S. nur Joost, in: VGR (Fn. 3), S. 31, 40; Haarmann, WPg-Sonderheft 2003, 75, 79. 90 Vgl. Seibert, ZIP 2006, 1157, 1163; s. auch Schäfer, DStR 2006, 2085, 2089; Mülbert, WM 2006, 1977, 1983 („laufende Beobachtung der Schuldnerbonität“).

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ist die vorherige Entnahme nach § 30 GmbHG zu Recht verboten91. Das Vollwertigkeitskriterium ist schon deswegen nicht hilfreich, weil es in letzter Konsequenz auf die Perplexität hinausläuft, dass der Anspruch aus §§ 30, 31 GmbHG dann und deswegen nicht besteht, weil der Gesellschafter den Rückgewähranspruch erfüllen kann92 . Soll das künftig wirklich erheblich werden? Soll der Gesellschafter, der sich im Zuge der Kapitalaufbringung seine Einlage sogleich zurückzahlen lässt, einer erneuten Inanspruchnahme womöglich entgegenhalten können, er sei schließlich solvent?! Mit dem Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsgrundsatz hat die Frage der Solvenz des Gesellschafters nichts zu tun. Dem Gesetzgeber ist nach allem dringend zu empfehlen, in der gegenwärtigen Diskussion über das Cash Pooling, die der II. Zivilsenat des BGH durch eine Entscheidung aus dem Jahre 2006 in die richtigen Bahnen gelenkt hat, nicht durch einen ganz blassen, bei Licht besehen belanglos anmutenden Federstrich einzugreifen93. Die Aufwertung eines obsoleten obiter dictum im „November-Urteil“ von 2003 auf Gesetzesniveau würde jetzt nur Verwirrung stiften, und das neuestens erwogene Vollwertigkeitskriterium geht schon im Ansatz fehl.

VI. Erweiterung des „Zahlungsverbots“ im Sinne der §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG Der Referentenentwurf sieht eine Culpa-Haftung der Geschäftsleiter vor, soweit sie durch Zahlungen an Gesellschafter die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft herbeigeführt haben94. Die seit dem 19. Jahrhundert misslungenen Regelungen in §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, die mit dem Begriff „Zahlungen“ bei Insolvenzreife kein taugliches Konzept einer Insolvenzverschleppungshaftung, sondern nur Rätsel aufgegeben haben95, sollen also nicht im Kern reformiert werden. Es soll also weiterhin im Dunkeln bleiben, ob auch Austauschgeschäfte ge-

91 Zutr. Stimpel, in: FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 335, 351 ff.; Schön, ZHR 159 (1995), 351, 352, 361. 92 S. bereits Altmeppen, ZIP 2006, 1025, 1030 f. 93 Vgl. zur Kritik an der vorgeschlagenen Regelung auch die Nachw. o. Fn. 74, 79. 94 S. § 64 Abs. 2 Satz 3 GmbHG-E (Art. 1 Nr. 27b RefE-MoMiG [Fn. 4]) bzw. §§ 92 Abs. 3, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG-E (Art. 5 Nr. 9, 10 RefE-MoMiG [Fn. 4]). 95 Eingehend Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 95 f.; Altmeppen, ZIP 2001, 2201, 2206 f. jew. m. w. N.

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meint sind, wie die Gegenleistung zu bewerten ist etc.96. Im Fall der AG dürfen zudem an Aktionäre überhaupt keine Zahlungen erfolgen, soweit es nicht um Bilanzgewinn geht (s. § 57 Abs. 3 AktG). Was also könnte hier mit dem Begriff „Zahlungen“ gemeint sein97? Der Gesetzgeber sollte die im 19. Jahrhundert misslungenen Regelungen zur Insolvenzverschleppungshaftung nicht um eine weitere Marginalie ergänzen98, sondern im Sinne einer historischen gesetzgeberischen Leistung das eigentliche Problem bei der Wurzel fassen, nämlich den Schutz aller Gläubiger vor der praktisch leider zum Alltag gehörenden Verschleppung eines Insolvenzverfahrens über die Kapitalgesellschaft99. Die insoweit zu präzisierenden Voraussetzungen und Folgen einer Haftung sollten, da gesellschaftsrechtlich zu qualifi zieren und anzuknüpfen, übrigens nicht in der InsO geregelt werden100, zumal dies mit Rücksicht auf Art. 3, 4 EuInsVO keinerlei Vorteile hinsichtlich der Limited brächte: Deren Organwalter werden vom deutschen Insolvenzrecht erst ab dem Zeitpunkt eines Insolvenzantrages bei einem deutschen Gericht betroffen, nicht aber von Verhaltenspfl ichten des deutschen Rechts, die vor diesem Zeitpunkt angesiedelt sind101. Eine sinnvolle Neuregelung der Insolvenzverschleppung muss die Lehre aus folgenden Einsichten berücksichtigen: Mit Hilfe des auf § 823 Abs. 2 BGB aufbauenden Konzeptes, welches in der Insolvenzantragspflicht ein

96 S. zum Meinungsstand insofern Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 81 f., 95 ff. Kritik am Entwurf insofern auch bei Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1763. 97 Noack, DB 2006, 1475, 1479 bezweifelt sogar, dass die Verfasser des Entwurfs die unterschiedliche Kapitalbindung bei AG und GmbH bedacht haben. 98 Ablehnend auch Noack, DB 2006, 1475, 1479; K. Schmidt, GmbHR 2007, 1, 6 f.; Poertzgen, NZI 2007, 15 ff.; Greulich/Bunnemann, NZG 2006, 681 ff.; Stellungnahme der Centrale für GmbH Dr. Otto Schmidt, GmbHR 2006, 978, 981; Vetter, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 3), P 107 f. Tendenziell positive Bewertung dagegen bei Triebel/Otte, ZIP 2006, 1321, 1324. 99 Statistische Angaben zur Quote der masselosen GmbH-Insolvenzen bei Roth/ Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 3. 100 Ausführlich hierzu Ego, Europäische Niederlassungsfreiheit der Kapitalgesellschaft und deutsches Gläubigerschutzrecht, 2006, 3. Teil § 8 B III (S. 315, 316 ff.); zurückhaltend insofern auch K. Schmidt, in: VGR (Fn. 3), S. 143, 161 f.; vgl. dens., ZHR 168 (2004), 493, 503. Wohl a. A. Wachter, DB 2006, 1463, 1465. 101 S. bereits Altmeppen, NJW 2005, 1911, 1912 f.; ausführlich Huber, in: Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland, 2005, S. 307, 322 ff. (mit reichen Nachw. zur Gegenansicht auf S. 313 mit Fn. 16).

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Schutzgesetz für alle Gläubiger erkennt102, lässt sich ein überzeugendes Haftungssystem nicht erreichen, zumal die gesetzlichen Haftungsnormen der §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG darin keine schlüssige Rolle mehr spielen. Die Heranziehung der Blankettnorm des § 823 Abs. 2 BGB war ein beachtlicher, aber keineswegs ausreichender Versuch der Rechtsprechung, die missglückten gesetzlichen Bestimmungen zur Insolvenzverschleppung aus dem 19. Jahrhundert sinnvoll zu ergänzen. Besinnen wir uns darauf, was die Insolvenzantragspflicht vernünftigerweise leisten soll, so kann es nur um den Schutz drei ganz verschiedener Personengruppen gehen. Zunächst soll die Allgemeinheit davor geschützt werden, mit insolventen Gesellschaften überhaupt noch in Kontakt zu geraten. Darüber hinaus gibt es die bereits vorhandenen Gläubiger, die unglücklicherweise eine schon insolvente Schuldnerin haben. Ihr Schutz ist dahin zu konzipieren, ihre insuffi zienten Befriedigungsaussichten nicht noch weiter zu verringern. Die dritte Gruppe bilden Neugläubiger, soweit es nur um ihren Individualschaden geht. Das Spezifikum der Insolvenzverschleppungshaftung ist der Ausgleich des Kollektivschadens der Gläubigergesamtheit, der sich aus einer Reduzierung der Befriedigungsaussichten aller als Folge der Insolvenzverschleppung ergibt103. Die Lösung dieses Problems kann und sollte der Gesetzgeber jetzt in Gestalt einer Neuregelung der missglückten §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG in Angriff nehmen, anstatt diesen Bestimmungen eine marginale und kryptische Erweiterung anzufügen. Fest steht, dass eine relevante Schädigung der Gläubigergesamtheit ausscheidet, wenn ab dem Zeitpunkt der Insolvenzreife trotzdem erfolgreich gewirtschaftet wurde104. Solche Fälle gibt es, wir erfahren nur nichts von ihnen! Außer Frage steht dann aber, dass Haftungsgrund für Geschäftsleiter und beherrschende Gesellschafter nicht „Zahlungen“ sein können, sondern nur die Massereduzierung in Gestalt von Verlusten, die abzuwenden ein Ziel der Insolvenzantragspflicht ist. Letztlich geht es nur um eine praktikable Feststellung des Erfolges der verbotenen Insolvenzverschleppung in Zahlen: Der auf Insolvenzverschleppung beruhende Kollektivschaden aller Gläubiger, seien es vertragliche, gesetzliche, alte oder neue, muss 102 So die ganz h. M. in Rspr. und Lit., s. nur BGHZ 75, 96, 106; 100, 19, 21; 126, 181, 190; 138, 211, 214; Schulze-Osterloh, in: Baumbach/Hueck (Fn. 28), § 64 Rn. 90; weitere Nachw. bei Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 61. A. A. offenbar nur Altmeppen/Wilhelm, NJW 1999, 673, 678 ff.; Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 94 ff.; eingehend Altmeppen, ZIP 2001, 2201 ff. 103 Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 100; Altmeppen, ZIP 2001, 2201, 2208 f. 104 Vgl. Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 97 ff.

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durch die richtig zu bemessende Ersatzleistung vollständig ausgeglichen werden. Eine Beweislastregelung, die Geschäftsleiter und beherrschende Gesellschafter trifft, führt zur Lösung: Nach dem Rechtsgedanken des § 666 BGB ist es Sache des Geschäftsleiters und des beherrschenden Gesellschafters, darzulegen und zu beweisen, dass rechtzeitig Insolvenzantrag gestellt wurde bzw. bei Verletzung dieser Pflicht keine oder doch nur Verluste in bestimmter Höhe eingetreten sind, die zu ersetzen wären105. Eine solche Insolvenzverschleppungshaftung ist ein effektiver Gläubigerschutz, sie macht jeden solvency test106 zu einer Selbstverständlichkeit, übertrifft jedes anglo-amerikanische System einer wrongful trading-Haftung etc.107. Warum sollte der deutsche Gesetzgeber die misslungenen gesetzgeberischen Ansätze einer Insolvenzverschleppungshaftung aus dem 19. Jahrhundert nicht heute durch eine taugliche Regelung ersetzen? Ein Wort noch zu den Individualschäden von Neugläubigern: Sie haben mit einer Insolvenzverschleppungshaftung gar nichts zu tun und sind auch nicht zu regeln, da sie ausschließlich von den klassischen Anspruchsgrundlagen der culpa in contrahendo und des Deliktes erfasst werden108. Dies gilt namentlich für den Kontrahierungsschaden von Neugläubigern, dessen Ersatz nicht schon mit dem bloßen Kausalitätsargument zugesprochen werden darf, dass der rechtzeitige Insolvenzantrag den Kontrahierungsschaden verhindert hätte109. Dasselbe Kausalitätsargument müsste nämlich – und insoweit hat es der II. Senat vor kurzem zu Recht verworfen110 – für das Deliktsopfer gelten, welches nach Insolvenzreife hinzugekommen ist: Der Postbote etwa, der auf der eisglatten Treppe der insolventen GmbH ausrutscht, erhält natürlich nicht Schadensersatz vom 105 Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 101, 26 f.; Altmeppen, ZIP 1997, 1173, 1176; ders., ZIP 2001, 2201, 2209. 106 S. dazu oben unter III. 107 Gegen die Einführung einer Haftung für „wrongful trading“ (vgl. Sec. 214 Insolvency Act 1986 [UK]) auch Noack, DB 2006, 1475, 1479 („Fremdkörper im deutschen Recht“); ihm folgend Heckschen, NotBZ 2006, 381, 389; ebenso Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174, 213 f.; Dierksmeier/Scharbert, BB 2006, 1517, 1520; Fastrich, DStR 2006, 656, 661 f.; kritisch auch Wilhelmi, GmbHR 2006, 13, 17 ff.; Vetter, ZGR 2005, 788, 829 f. Für die Einführung hingegen Triebel/Otte, ZIP 2006, 1321, 1323 f.; dies., ZIP 2006, 311, 314; Nachw. zu Befürwortern einer europaweiten Einführung bei Vetter, ZGR 2005, 788, 829 mit Fn. 139. 108 Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 68 ff., 103 ff. 109 Roth/Altmeppen (Fn. 27), § 64 Rn. 103 ff. A. A. insofern die h. M. in Rspr. und Lit., s. BGHZ 126, 181, 194 ff. = NJW 1994, 2220; BGHZ 138, 211 = NJW 1998, 2667; BGH, ZIP 1003, 1713 = NZG 2003, 923; Lutter/Kleindiek, in: Lutter/Hommelhoff (Fn. 27), § 64 Rn. 48 m. w. N. 110 BGH, NJW 2005, 3137, 3140 = NZG 2005, 886.

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Insolvenzverschlepper, der die Gesellschaft vor Einbruch des Winters hätte stilllegen müssen, sondern bei richtiger Würdigung vom Täter – das kann auch ein Geschäftsleiter sein, der etwa für die Verkehrssicherheit der Treppe zuständig war –, und die insolvente Gesellschaft haftet nach § 31 BGB nur zusätzlich111. Die insoweit bisher nicht überzeugende Rechtsprechung ist gefordert, die Individualschäden der Neugläubiger mit Hilfe der klassischen Culpa-Haftungstatbestände befriedigend zu lösen.

VII. Ergebnisse 1. Der Referentenentwurf hält zu Recht an unserem System des Mindestkapitalschutzes mit Insolvenzantragspflicht bei Verlust dieses Kapitals fest. Die Herabsetzung des Mindeststammkapitals ist aber das falsche Signal. Eher eine Erhöhung macht Sinn. 2. Zu Recht will der Entwurf das Kapitalersatzrecht vereinfachen, doch schüttet er das Kind mit dem Bade aus, indem das entscheidende Kriterium der Krisenfinanzierung aufgegeben werden soll. Eine auf zwei Jahre vor Insolvenzantrag angelegte Frist mit differenzierender Beweislast hinsichtlich der Krisenfinanzierung wäre angemessen. 3. Eine Stellungnahme des Gesetzgebers zum Cash Pooling wäre im Moment falsch. Der Gesetzgeber sollte die Problematik vorläufig der Rechtsprechung und Lehre überlassen. 4. Die Ergänzung der §§ 64 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG im Hinblick auf insolvenzbegründende Zahlungen an Gesellschafter ist im Ansatz nicht zu empfehlen. Diese Bestimmungen aus dem 19. Jahrhundert haben das Problem der Insolvenzverschleppung von Anfang an nicht erreicht und sollten jetzt durch eine gelungene Regelung der Insolvenzverschleppungshaftung ersetzt werden, die historische Bedeutung gewinnen könnte. Sie ist zudem überfällig, weil die Rechtsprechung die missglückten gesetzlichen Bestimmungen aus den Jahren 1861 und 1892 auch mit Hilfe der Blankettnorm des § 823 Abs. 2 BGB von 1896 nicht überzeugend zu ergänzen vermochte.

111 BGH, NJW 2005, 3137, 3140 = NZG 2005, 886; Roth/Altmeppen (Fn. 27, § 64 Rn. 71; Altmeppen, ZIP 2001, 2201, 2205; ders., ZIP 1997, 1173, 1179 f. m. w. N.

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Zu den GmbH-rechtlichen Änderungsvorschlägen des MoMiG aus Sicht eines Praktikers* Dr. Andreas Pentz Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Mannheim A. Einleitung ................................ 116 B. Vorbemerkungen zum „Wettbewerb der Rechtsformen“ ...... 118 I. Regelungsabsichten des MoMiG-Entwurfs.................... 118 II. Stellungnahme ........................ 1. Fehlende Feststellungen zum Wettbewerb der Gesellschaftsformen .......... 2. Unterscheidung nach internationalem und nationalem Bereich .................... 3. Zur rechtstatsächlichen Bedeutung der Limited in Deutschland ....................... 4. Derzeitiger Befund: Faktische (nicht rechtliche) Haftungsabschottung der Limited .........................

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C. Zur geplanten Herabsenkung des Mindestkapitals, der Änderung des § 30 GmbHG und der Abschaffung des Kapitalersatzrechts.... 121 I. Herabsenkung des Mindestkapitals ................................... 1. Herabsenkung des Mindestkapitals auf 10 000 Euro ........................ 2. Stellungnahme ................... a) Begrüßenswert: Keine Aufgabe des Festkapitalsystems .................. b) Notwendigkeit eines angemessenen Kapitalstocks ...........................

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c) Zu hohe Kapitalausstattung für Dienstleister? .......................... 123 d) Steigerung von Unternehmensgründungen als Rechtfertigung?....... 123 e) Die derzeitige Rechtsform der GmbH als aus Sicht der Wirtschaft notwendiger safe haven ........................... 124 aa) Einführung einer UGG gegenüber Änderungen des GmbHG vorzugswürdig ................... 124 bb) Wirtschaftlich notwendige Rechtssicherheit durch die GmbH für Gesellschafter und Geschäftsführer, Verhaltenshaftung keine taugliche Alternative ............ 125 cc) Drohende Haftungsausweitungen und neue Rechtsunsicherheiten durch das MoMiG ................. 126 II. Die Regelung zum Cash Pooling ................................... 1. Änderungsvorhaben .......... 2. Stellungnahme .................. a) Anlass einer Regelung .. b) Änderungsvorschläge ...

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* Die Vortragsform ist beibehalten.

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Pentz – Änderungen durch das MoMiG aus Sicht eines Praktikers aa) Anpassung der Formulierungen..... 127 bb) „Betriebliche Veranlassung“ statt „Interesse der Gesellschaft“ ................... 127 cc) Keine Auswirkungen auf die Kapitalaufbringung ........... 131 III. Die Änderungen zum Kapitalersatzrecht .................. 1. Änderungsvorhaben .......... 2. Stellungnahme .................. a) Möglicher Vorteil der geplanten Regelung: Erfassung ausländischer Rechtsformen ...... b) Bedenken gegen die geplante Regelung ........ aa) Nicht empfehlenswerter Verzicht auf die Vorwirkungen der Rechtsprechungsregeln .........

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bb) Auswirkungen eines Streichens der Rechtsprechungsregeln.............. 133 cc) Abhängigkeit der GmbHGeschäftsführer kein Gegenargument .............. 134 dd) Systematische Unstimmigkeiten ........... 134 ee) Stärkere Inpfl ichtnahme der Geschäftsführer kein Lösungsansatz ................ 135 ff) Sachlich nicht gerechtfertigte Gleichstellung der Gesellschafterleistungen .. 136 gg) Zur (angeblichen) Unübersichtlichkeit des Kapitalersatzrechts ......... 136 hh) Auflösung der Parallelität der Kapitalersatzregelungen durch Streichen der §§ 32a, 32b GmbHG ........ 137 ii) Für den Fall der Beibehaltung der geplanten Regelung: Krise als Abgrenzungsmerkmal ................ 137 D. Zusammenfassung ................. 138

A. Einleitung Der RefE des MoMiG enthält allein zum GmbHG 33 Änderungsvorschläge mit jeweils verschiedenen Unterpunkten und aus Sicht der Praxis eine Fülle interessanter Bereiche. So ist beispielsweise vorgesehen – eine aus Sicht der Praxis sicher zu begrüßende Änderung von § 8 GmbHG, wonach notwendige Genehmigungen nachgereicht werden können und nicht mehr zu Verzögerungen des Gründungsvorgangs führen, – der Wegfall der europarechtlich nicht geforderten Sicherheitsleistung bei der Einpersonen-Gründung (§ 7 Abs. 2 Satz 3 GmbHG), die gerade Existenzgründungen mutmaßlich erleichtern wird, auch wenn man sich hier die Frage stellen muss, ob bei einem Stammkapital von künftig 10 000 Euro nicht besser die Volleinzahlung vorgeschrieben werden sollte1, 1 Kritisch hierzu Bormann, GmbHR 2006, 1021, 1024; Karsten, GmbHR 2006, 57, 60; s. auch die zutr. Bemerkung des Vorsitzenden des BDI-Rechtsausschusses Sün-

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– die Änderung von § 4a Abs. 1 GmbHG, die es einer deutschen GmbH ermöglicht, einen Verwaltungssitz im Ausland zu wählen und damit gleichsam im Vorbeigehen eine international-privatrechtliche Streitfrage mit erledigt (bekanntlich ist in der Literatur streitig, ob die Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit auch dann eingreifen, wenn der effektive Verwaltungssitz bereits im Zeitpunkt der Gesellschaftsgründung im Ausland belegen war; Hintergrund ist in diesen Fällen fehlende Mobilitätskomponente2), – die Ermöglichung eines gutgläubigen Erwerbs von Geschäftsanteilen und die Regeln zur Gesellschafterliste in diesem Zusammenhang, die wohl noch einmal durchdacht werden sollten3 – ich weise hier nur auf die Fragen hin, ab wann die vorgesehene Dreijahresfrist gelten soll, ob durch diese Regelung auch nicht (so) existierende Geschäftsanteile entstehen könnten und den Bruch mit den sonst geltenden Grundsätzen zum gutgläubigen Erwerb, nachdem im Recht des gutgläubiger Erwerbs an sich nicht geschützt wird, was nicht existiert; hinzu kommen Fragen mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz bei Übertragungen, die Eigentumsgarantie sowie das zur Eröffnung eines gutgläubigen Erwerbs notwendige Setzen eines zurechenbaren Rechtsscheins, – die vielleicht nicht unbedingt empfehlenswerte Änderung der Vorschriften zur Stückelung der Geschäftsanteile4, sowie – die Erleichterungen bei der Zustellung von Schriftstücken und die Pflichten der Gesellschafter im Falle der Führungslosigkeit der Gesellschaft, die sich möglicherweise kontraproduktiv auf die mit dem MoMiG bezweckte Internationalisierung unseres GmbH-Rechts auswirken könnte. Mit Blick auf die mir zur Verfügung stehenden Zeit möchte ich mich allerdings auf die auch schon von Herrn Altmeppen angesprochenen Punkte, – die Herabsenkung des Mindestkapitals, – die vorgesehene Regelung zum Cash Pooling und schließlich ner in der FAZ v. 24. 10. 2006, S. 14: „Wer keine 10 000 Euro zusammenbekommt, soll es lieber gleich lassen“. 2 Eingehend Kindler, in: MünchKomm.BGB, IntGesR, 2006, Rn. 407. 3 Nachdrückliche Kritik hierzu bei Ziemons, BB-Special 7/2006, 9 ff.; Bormann, GmbHR 2006, 1021; s. auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten Zöllner, in: VGR (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 175 ff.; Müller, GmbHR 2006, 953, 955 ff.; Schockenhoff, ZIP 2006, 1841, 1842 ff. 4 Kritisch hierzu Ulmer, in: Liber amicorum Wilhelm Happ, 2006, S. 325, 328 ff., 333 ff.

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– die vorgesehene Änderungen zum Kapitalersatzrecht beschränken, da mir hier besondere Weichenstellungen des MoMiG-Vorhabens zu liegen scheinen. Bevor ich auf die vorgesehenen Regelungen zu diesen drei Punkten eingehe jedoch noch verschiedene Bemerkungen zum Anlass der vorgesehenen Reform.

B. Vorbemerkungen zum „Wettbewerb der Rechtsformen“ I. Regelungsabsichten des MoMiG-Entwurfs Das MoMiG verfolgt nach der Begründung des Referentenentwurfs zwei Richtungen: Zum einen soll die Rechtsform der GmbH besser gegen Missbräuche geschützt werden; auf diesen Bereich werde ich, wie bemerkt, nicht eingehen. Zum anderen, und hierauf zielen die noch zu behandelnden Aspekte ab, soll die Attraktivität der deutschen GmbH gegenüber konkurrierenden ausländischen Rechtsformen gesteigert werden. Angesprochen ist damit der viel zitierte „Wettbewerb der Gesellschaftsformen“.

II. Stellungnahme 1. Fehlende Feststellungen zum Wettbewerb der Gesellschaftsformen Ob es diesen Wettbewerb in der verbreitet gesehenen Heftigkeit tatsächlich gibt, erscheint mir zweifelhaft. Der zuständige Referent, Herr Seibert, hat auf dem Deutschen Juristentag in Stuttgart dahin gestellt sein lassen, ob dieser Wettbewerb tatsächlich existiert oder ob es sich insoweit nur um einen „gefühlten Wettbewerb“ handelt5. Diese Frage sollte man jedoch, wenn man sie denn zum Aufhänger für Gesetzesänderungen nimmt, wohl nicht offen lassen.

2. Unterscheidung nach internationalem und nationalem Bereich Im Übrigen dürfte insoweit zu unterscheiden sein: Soweit mit dem Wettbewerb der Gesellschaftsformen ein internationaler Wettbewerb gemeint sein sollte, wird die deutsche GmbH – abgesehen von deutschen Unternehmens5 Seibert, Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006, Bd. II/1, P 263.

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gruppen – gegenüber einer englischen Rechtsform wie der Limited jedenfalls solange keine Chance haben, wie nicht mindestens genauso viele Menschen ebenso gut Deutsch wie Englisch sprechen. Ernsthaft gemeint sein kann deshalb nur ein Wettbewerb im Inland, also auf nationaler Ebene. Hier erscheint es mir allerdings zweifelhaft, ob es diesen vielfach behaupteten Wettbewerbsdruck der Limited tatsächlich gibt. Eigene Umfragen unter Kollegen, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern bestätigen den Eindruck eines wirklichen Wettbewerbs keineswegs, und auch auf dem DJT in Stuttgart ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die Verbreitung der Limited keineswegs so hoch wie vielfach behauptet sein dürfte.

3. Zur rechtstatsächlichen Bedeutung der Limited in Deutschland Unter den verschiedenen Untersuchungen zur Verbreitung und Bedeutung der Limited dürfte die genaueste Untersuchung diejenige von Herrn Niemeier sein, die demnächst6 veröffentlicht werden wird. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es von 2002 bis 20057 statt der behaupteten 30 000 LimitedGründungen wohl nur 20 000 Gründungen gab, von denen sich allerdings nur etwa 10 000 in Gewerbeanmeldungen niederschlugen. Dies stellt bei angenommenen GmbH-Gründungen von etwa 60 000 jährlich zwar eine bemerkenswerte, aber keineswegs beängstigende Zahl dar. Interessanter sind allerdings die Feststellungen zur Sterblichkeitsrate dieser Gesellschaften: Bei Zugrundelegung eines 12-Monatsabstands heben die Abmeldungen durchweg 50 % der früheren Anmeldungen auf, bei einem 18-Monatsabstand werden mit einer Tilgungsquote fast 90 % die früheren Anmeldungen nahezu vollständig ausradiert8. Wer deshalb an 20 000 wirtschaftlich erfolgreiche Geschäftsetablierungen glaubt, müsste die These vertreten, die erfolgreichen Limiteds seien diejenigen, die sich nicht gewerblich anmelden, was indessen kaum wahrscheinlich ist. Interessant in diesem Zusammenhang übrigens auch die Feststellung, dass rund 50 % des britischen Gesamtbestandes nur 5 Jahre alt sind und es in manchen Jahren mehr Abgänge als Neugründungen gibt9; bei unserer GmbH sieht das, was für ihre Seriosität spricht, durchaus anders aus.

6 Der Beitrag ist zwischenzeitlich veröffentlicht in ZIP 2006, 2237. 7 Der Untersuchungszeitraum erklärt sich aus den EuGH-Entscheidungen v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97, NJW 1999, 2027 („Centros“); v. 5. 11. 2002 – Rs. C208/00, NJW 2002, 3614 („Überseering“) und v. 30. 9. 2003 – C-167/01, NJW 2003, 3331 („Inspire Art“). 8 Niemeier, ZIP 2006, 2237, 2242. 9 Niemeier, ZIP 2006, 2237, 2242 mit Fn. 47.

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4. Derzeitiger Befund: Faktische (nicht rechtliche) Haftungsabschottung der Limited Will man trotz der vorstehenden Zweifel gleichwohl von einem Wettbewerb zwischen der GmbH und der Limited ausgehen, handelt es sich insoweit von Seiten der Limited jedenfalls nicht um einen lauteren Wettbewerb. Denn die Attraktivität der Limited beruht zum großen Teil darauf, dass in Deutschland nach wie vor erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der Haftungsverhältnisse bei dieser Gesellschaftsform bestehen. Nach den mir von Insolvenzverwaltern erteilten Auskünften lohnt sich regelmäßig die Rechtsverfolgung nicht, weil die Insolvenzverwalter selbst nicht über die erforderlichen Kenntnisse des englischen Rechts verfügen und die Kosten der von den Gerichten geforderten Gutachten im Rahmen eines Prozesses nicht aufgebracht werden können. Während also auf der einen Seite die deutsche GmbH steht, deren Rechts- und Haftungsverhältnisse bereits eingehend untersucht worden und den deutschen Gerichten und Rechtsanwendern ohne weiteres zugänglich sind, steht auf der anderen Seite eine Limited, die nicht unbedingt zu einer rechtlichen, derzeit aber in der Praxis zu einer faktischen Haftungsabschottung führt. Nach den Bemerkungen von Herrn Goette auf unserer letzten Tagung steht zwar zu erwarten, dass dieser vermeintlich sichere Hafen fallen wird, sobald der II. Zivilsenat Gelegenheit hat, sich mit den Haftungsfragen einmal zu beschäftigen; derzeit ist die rechtstatsächliche Situation jedoch eine andere. Dass die Limited in Deutschland derzeit überhaupt ein Thema ist, beruht nach meiner Einschätzung, die durch eine Umfrage im Kollegenkreis und bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern bestätigt wird, darauf, dass sich Kleinstunternehmer von dieser Rechtsform eine Haftungsbeschränkung ohne Kapitaleinsatz erwarten; insoweit gibt es offensichtliche Parallelen zur früheren „GbR mbH“. Der Vorteil der deutschen GmbH gegenüber der Limited – bei der GmbH eine gerichtlich überprüfte Aufbringung eines Mindestkapitals mit anschließender Haftungsfreistellung und gegenüber der Limited mit einer erleichterten Gründung, aber teilweise drakonischen Haftungs- und persönlichen Folgen10 – wird entweder nicht erkannt oder aber, und dies dürfte die hauptsächliche Motivation für die Wahl der Limited sein, das für die Gründung einer GmbH aufzubringende Kapital ist nicht vorhanden. Wie jedoch ohne Kapitaleinsatz ein Unternehmen aufgebaut beziehungs10 Näher hierzu etwa Ebert/Levedag, in: Süß/Wachter, Handbuch des internationalen GmbH-Rechts, 2006, S. 657 f., 688 ff.

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weise geführt werden soll, ist nicht nachvollziehbar, und auch die bei Herrn Niemeier11 nachgewiesenen, erheblichen Zusammenbrüche bei Limiteds sprechen insoweit eine deutliche Sprache. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn in Großbritannien angesichts ihrer Verwendung durch deutsche Unternehmer bereits die Sorge um den guten Ruf der Limited laut wird (diese Meldung hat Frau Maul von einer Veranstaltung mit englischen Juristen in Bristol mitgebracht) und auch die Financial Times v. 4. 10. 2006 sich bereits mit dem Problem befasst, dass 30 bis 50 % der „deutschen“ Limiteds ihre Offenlegungspfl ichten missachten. Ein weiteres Problem ist die Frage, ob es ein gerechtes Verteilungsprinzip darstellen kann, die Chancen einer Gesellschaft ihren Gesellschaftern zuzuweisen, das Risiko jedoch zu sozialisieren12 . Nach der Wortmeldung eines Teilnehmers auf dem Deutschen Juristentag betragen die Forderungsausfälle, und damit die Umlage der Verluste auf die Allgemeinheit, bei jeder Insolvenz immerhin 800 000 Euro im Schnitt.

C. Zur geplanten Herabsenkung des Mindestkapitals, der Änderung des § 30 GmbHG und der Abschaffung des Kapitalersatzrechts Damit bin ich bei meinem ersten Punkt der im Referentenentwurf des MoMiG vorgesehenen Änderungen, der Herabsenkung des Mindestkapitals.

I. Herabsenkung des Mindestkapitals 1. Herabsenkung des Mindestkapitals auf 10 000 Euro Nach der vorgesehenen Änderungen zu § 5 GmbHG soll das Mindestkapital von derzeit 25 000 Euro auf 10 000 Euro herabgesetzt werden.

11 Vgl. bei Fn. 8 und 9. 12 Zu diesem Aspekt bereits Pentz/Priester/Schwanna, in: Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, ZGR-Sonderheft Nr. 17, S. 42, 51.

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2. Stellungnahme a) Begrüßenswert: Keine Aufgabe des Festkapitalsystems An diesem Vorhaben ist zunächst zu begrüßen, dass – wie in der Begründung des Referentenentwurfs auch hervorgehoben wird13 – das bewährte Haftkapitalsystem der GmbH, also das Festkapitalsystem, nicht aufgegeben worden ist und auch die noch im „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Missbräuchen, zur Neuregelung der Kapitalaufbringung und zur Förderung der Transparenz im GmbH-Recht (MiKaTraG)“ vorgesehene Herabsenkung des Mindestkapitals auf einen Euro nicht weiterverfolgt worden ist.

b) Notwendigkeit eines angemessenen Kapitalstocks Aus praktischer Sicht erscheint die Herabsetzung des Mindestkapitals auf 10 000 Euro jedoch bedenklich. Die Anhebung des Mindestkapitals von seinerzeit 20 000 DM auf 50 000 DM ist in der GmbH-Novelle 1980 damit begründet worden, dass ein Betrag von 20 000 DM in der Regel keine Gewähr für eine ausreichende wirtschaftliche Basis der Gesellschaft biete und die Gesellschaftsgläubiger auch mehr als bisher vor unsoliden Gründungen geschützt werden sollten14. An der Richtigkeit dieser Überlegung, dass das Gesetz bei einer die Haftung der Gesellschafter ausschließenden Kapitalgesellschaft eine ausreichende wirtschaftliche Basis der Gesellschaft sicherstellen muss (die Gesellschafter sind schließlich nicht verpfl ichtet, die Gesellschaft zu unterstützen), hat sich nach meinem Dafürhalten nichts geändert. Die Herabsetzung auf 10 000 Euro, im Ergebnis also im Wesentlichen auf die seinerzeitigen 20 000 DM, wird bei den hiervon angesprochenen Verkehrskreisen (den geschäftlich eher weniger erfahrenen Kleinstunternehmen) aller Voraussicht nach die unberechtigte Erwartung wecken, eine unternehmerische Tätigkeit lasse sich mit einem Startkapital in dieser Höhe, von dem zu Beginn nach § 7 Abs. 2 Satz 2 GmbHG sogar lediglich die Hälfte aufgebracht werden muss, erfolgreich bewerkstelligen. Die in der bereits erwähnten Untersuchung von Herrn Niemeier dargelegten Zahlen der Zusammenbrüche der „deutschen“ Limited-Gründungen – mindestens jede zweite

13 RefE, S. 34; hierzu auch Seibert, Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 5), S. P 281 mit Hinweis auf gegenläufige Strömungen insbes. in England und Holland. 14 Begr. RegE, abgedr. bei Deutler, Das neue GmbH-Recht, 2. Aufl. 1981, S. 21.

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Limited ist hiernach binnen kürzester Zeit gescheitert – sprechen insoweit eine deutliche Sprache15.

c) Zu hohe Kapitalausstattung für Dienstleister? Der im Referentenentwurf in diesem Zusammenhang zu findende Hinweis auf ausländische Rechtsordnungen sowie die dort ebenfalls zu findende Überlegung, das Stammkapital von 25 000 Euro sei bei Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor überhöht, überzeugen aus praktischer Sicht nicht. Auch insoweit ist auf die Situation bei den „deutschen“ Limiteds zu verweisen, und der nach geltendem Recht bei einer Gründung aufzubringende Mindestbetrag von 12 500 Euro ist niedrig genug, um auch Dienstleistern mit kleineren Unternehmen den Marktzutritt mit Haftungsbeschränkung zu ermöglichen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass auch die vorgesehene neue Haftung der Geschäftsführer nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG wegen Zahlungen an Gesellschafter, die zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen, mit der Herabsenkung des Mindestkapitals begründet wird16. Warum man es dann aber nicht lieber bei der bisherigen Situation belässt, sondern die Geschäftsführer mit weiteren Haftungsrisiken belastet, ist nicht recht nachzuvollziehen17.

d) Steigerung von Unternehmensgründungen als Rechtfertigung? Erwägenswert erscheint mir lediglich die Überlegung, mit der Herabsetzung des Mindestkapitals die in Deutschland bedenklich niedrige Zahl von Unternehmensgründungen zu erhöhen. Ob die Herabsetzung des 15 Zur weiteren Kritik zutr. etwa Bormann, GmbHR 2006, 1021, 1022 f., der mit Recht auf die im internationalen Vergleich sehr niedrige Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen hinweist, den hiermit verbundenen Widerspruch zum Steuerrecht, den in Frankreich mit der Abschaffung des Mindestkapitals verbundenen Ansehensverlust der s. a. r. l., den alsbaldigen Verbrauch eines derart geringen Mindestkapitals durch Gründungs- und Anlaufkosten, den Verlust der Krisenwarnfunktion des § 43 Abs. 3 GmbHG und sein Eingreifen erst unmittelbar vor der Insolvenz, die Reduzierung des Zeitraums zwischen dem Eingreifen der Ausschüttungssperre nach § 30 Abs. 1 GmbHG und der Überschuldung nach § 19 InsO. 16 RefE, S. 64. 17 In dieser Verlagerung liegt ein bisher in der Diskussion nicht hinreichend berücksichtigter Übergang zu einem der Rechtslage bei der Limited angenäherten System; vgl. in diesem Zusammenhang auch Seibert, Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen des DJT (Fn. 5), S. P 263: „Die Strategie wird sein, dass wir die Gründung der GmbH beschleunigen, Erleichterungen während ihres Lebens einführen und dann am Ende, in der Insolvenz, etwas härter zugreifen“.

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Mindestkapitals indessen wirklich zu der gewünschten höheren Zahl von Existenzgründungen führen wird, ist nicht zweifelsfrei und müsste – wenn man denn von einem solchen Effekt ausgeht – ins Verhältnis gesetzt werden zu der volkswirtschaftlich unerwünschten Insolvenzanfälligkeit solcher Gesellschaften. Für mich geht die in diesem Zusammenhang zu stellende Frage dahin, ob man mit der vagen Aussicht, dass aus einigen wenigen dieser Gründungen tatsächlich überlebensfähige Marktteilnehmer werden, es wirklich rechtfertigen kann, dass die Großzahl der fehlgeschlagenen Unternehmungen der Sache nach von anderen Marktteilnehmern bzw. der Allgemeinheit alimentiert werden müssen. Staatliche Förderprogramme für Unternehmensgründungen, von denen es bereits eine Vielzahl gibt, scheinen mir insoweit der bessere Ansatz.

e) Die derzeitige Rechtsform der GmbH als aus Sicht der Wirtschaft notwendiger safe haven aa) Einführung einer UGG gegenüber Änderungen des GmbHG vorzugswürdig Wenn man es jedoch für rechtspolitisch wünschenswert hält, Gesellschaften mit Haftungsbeschränkungen auch mit geringerem Kapitaleinsatz zu ermöglichen, sollte dies nicht im Rahmen des GmbHG geschehen, sondern im Rahmen der auf dem Deutschen Juristentag mehrfach angesprochenen Unternehmensgründungsgesellschaft (UGG)18. Innerhalb einer solchen Rechtsform könnte eine Zwischenlösung gefunden werden zwischen der Eröffnung einer Haftungsbeschränkung mit niedrigem Kapitaleinsatz und einer strengeren persönlichen Haftung für den Fall des Fehlschlagens dieser unternehmerischen Veranstaltung. Die Einzelheiten wären dann noch festzulegen. Auf die Rechtsform Limited sollte man diejenigen, die zu dem Risiko der Beteiligung an einer solchen Gesellschaft bereit sind, allerdings nicht verweisen. Hierzu sind zumindest derzeit die Probleme bei der Handhabung dieser Gesellschaftsform im Inland noch zu groß.

18 So auch Priester, ZIP 2006, 161 ff.; näher zur UGG Gehb/Drange/Heckelmann, NZG 2006, 88 ff.; für eine KG mit beschränkter Haftung Drygala, ZIP 2006, 1797 ff.

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bb) Wirtschaftlich notwendige Rechtssicherheit durch die GmbH für Gesellschafter und Geschäftsführer, Verhaltenshaftung keine taugliche Alternative Die GmbH mit ihrem bisherigen System, der präventiven Kapitalaufbringungskontrolle und der anschließenden Sicherheit der Gesellschafter und Geschäftsführer, bis auf gewisse, steuerbare Ausnahmefälle von jeder Haftungssanktion freigehalten zu werden, sollte angesichts der für die Praxis hiermit verbundenen Rechtssicherheit jedoch unbedingt beibehalten werden. Erwägenswert wären allerdings die Streichung der Ausfallhaftung nach §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG, da diese vielleicht als rudimentärer Rest einer an sich unbeschränkten Gesamthaftung zu verstehende Mithaftung durch das GmbH-rechtliche System nicht unbedingt geboten ist und in der Praxis auch zu hart erscheinen. Man denke zu § 24 GmbHG an die Haftungsrisiken bei Kapitalerhöhungen19 bzw. zu § 31 Abs. 3 GmbHG an treuwidriges Handeln eines Gesellschafter-Geschäftsführers. Außerdem tragen diese Bestimmungen – neben den kündigungsschutzrechtlichen Regelungen – auch eine erhebliche Verantwortung dafür, dass Unternehmen in der Krise häufig nur aus einer Insolvenz, nicht aber über den Kauf der Geschäftsanteile erworben werden. Mit der Rechtsform der GmbH ist – was in der Diskussion (vor allem im Zusammenhang mit der Frage der Einführung eines Insolvenztests an Stelle der Kapitalerhaltung) nach wie vor häufig übersehen wird – für die betroffenen Gesellschafter und Geschäftsführer eine Planungssicherheit verbunden, die notwendige Voraussetzung für jedes wirtschaftliche Handeln ist und aus Sicht der Wirtschaft keinesfalls aufgegeben werden darf. Eine Verhaltenssteuerung über unbestimmte Rechtsbegriffe, für die ich bei der geplanten Regelung in § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG vorgesehenen Geschäftsführerhaftung einen gewissen Ansatz sehe, ist den hiervon Betroffenen nicht zumutbar und unserem derzeit geltenden System auch keinesfalls überlegen.

19 Näher zu dieser bislang nicht befriedigend gelösten Problematik etwa Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Aufl. 2006, § 24 Rn. 5; Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005, § 24 Rn. 16 f.; Lutter/Bayer, in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. 2004, § 24 Rn. 9; Welf Müller, in: Ulmer, GmbHG, 2005, § 24 Rn. 19 ff.; Pentz, in: Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 4. Aufl. 2002, § 24 Rn. 30 f.; Emmerich, in: Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2006, § 24 Rn. 16 f.

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cc) Drohende Haftungsausweitungen und neue Rechtsunsicherheiten durch das MoMiG Zudem wird sich bei gering kapitalisierten Gesellschaften über kurz oder lang die Frage von Haftungsfolgen stellen, auch wenn im Referentenentwurf davon die Rede ist, dass einer Unterkapitalisierungshaftung nicht das Wort geredet werden solle. Selbst wenn man – worauf noch zurückzukommen sein wird – kapitalersatzrechtliche Tatbestände künftig (und dies auch nicht vollständig) allein noch dem Insolvenzrecht zuordnen wollte, wird man hier vor allem an den Ausbau des Rechts des Finanzplankredits denken müssen. Rechtssicherheit wäre hierdurch für die Praxis keinesfalls gewonnen.

II. Die Regelung zum Cash Pooling Das Stichwort Rechtssicherheit leitet über zu der vorgesehenen Regelung bei § 30 GmbHG, die vor allem Cash Pool-Verhältnisse erfassen und vor dem Hintergrund der sog. November-Entscheidung20 rechtssicher regeln soll21.

1. Änderungsvorhaben Die als neuer S. 2 von § 30 Abs. 1 geplante Bestimmung sieht vor, das Auszahlungsverbot des § 30 Abs. 1 GmbHG dann nicht anzuwenden, wenn „das Stammkapital durch eine Vorleistung aufgrund eines Vertrages mit einem Gesellschafter angegriffen“ wird, die Leistung aber „im Interesse der Gesellschaft liegt“.

2. Stellungnahme a) Anlass einer Regelung Sofern der II. Zivilsenat nicht noch vor Abschluss der Gesetzgebungsarbeiten Gelegenheit hat, für den Fall des Cash Poolings die in ihrer Reichweite wohl etwas zu weit geratenen Aussagen der Entscheidung v. 24. 11. 200322 zu konkretisieren (das aus München kommende Revisionsverfahren23 hätte hierzu vielleicht Gelegenheit dazu geben, zumindest obi20 21 22 23

Urt. v. 24. 11. 2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72 = NJW 2004, 1111. RefE, S. 53 f. BGHZ 157, 72 = NJW 2004, 1111. II ZR 5/06; Vorinstanz OLG München, ZIP 2006, 25; hierzu und zu weiteren das Cash Pooling betreffenden Fragen auch Pentz, ZIP 2006, 781 ff.

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ter hierzu einige klarstellende24 Bemerkungen zu machen, scheidet aber aufgrund des hier zwischenzeitlich geschlossenen Vergleichs25 jetzt leider aus), dürfte es sich mit Blick auf die derzeit herrschende Rechtsunsicherheit26 bei dem wirtschaftlich sinnvollen Cash Pooling in der Tat empfehlen, Kreditleistungen der GmbH an ihre Gesellschafter einer Regelung zuzuführen, auch wenn man generell mit Einzelfallregelungen bzw. Bereichsausnahmen vorsichtig sein sollte27.

b) Änderungsvorschläge aa) Anpassung der Formulierungen Ob mit der derzeit vorgeschlagenen Formulierung das gewünschte Ziel erreicht wird, erscheint mir nicht zweifelsfrei. Sprachlich sollte jedenfalls der erste Teil der Regelung („Wird das Stammkapital … angegriffen“) an den Wortlaut von § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG angepasst werden, also die Rede sein von dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen. Der Begriff der „Vorleistung“, der auf kreditierende Leistungen der GmbH abzielt, sollte ebenfalls nicht beibehalten werden, da er neue Defi nitionsfragen aufwirft und auch auf Darlehensverhältnisse wohl nicht unbedingt passt28. Stattdessen sollte der Begriff des Kredits gewählt werden, den das Gesetz auch an anderer Stelle verwendet (vgl. etwa §§ 32a Abs. 3 Satz 3, 43a Satz 1 und 2 GmbHG; §§ 89, 93 Abs. 3 Nr. 8, 115, 288 AktG).

bb) „Betriebliche Veranlassung“ statt „Interesse der Gesellschaft“ (1) Rechtsunsicherheiten beim „Interesse der Gesellschaft“

Dies sind im Wesentlichen allerdings nur sprachliche Glättungen. Das Hauptproblem liegt jedoch darin, wann die Leistung der Gesellschaft eigent24 Das Urteil BGHZ 157, 72 betrifft GmbH-rechtlich nur Darlehensgewährungen zu Lasten des gebundenen Kapitals, vgl. Goette, ZIP 2005, 1481, 1484; ders., DStR 2006, 767, 768. 25 Hierauf hat Goette in seinem vorangegangenen Rechtsprechungsüberblick hingewiesen. 26 Zu den unterschiedlichen Auffassungen s. zuletzt Habersack, in: Ulmer (Fn. 19), § 30 Rn. 48 ff.; Westermann, in: Scholz (Fn. 19), § 30 Rn. 19. 27 Für Zurückhaltung gegenüber Einzelfallregelungen und Bereichsausnahmen auch Habersack, ZHR 170 (2006), 607, 609 f. (mit zutr. europarechtlichen Bedenken gegen die geplante aktienrechtliche Parallelbestimmung); Schäfer, BB-Special 7/2006, 5, 8; Noack, DB 2006, 1475, 1482. 28 Für die Einordnung der Darlehensgewährung als Vorleistung allerdings Chr. Berger, in: Jauernig, BGB, 11. Aufl. 2004, § 488 Rn. 3.

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lich „im Interesse der Gesellschaft“ liegt. Herr Noack hat bereits darauf hingewiesen, dass über den Begriff des Gesellschaftsinteresses literarisch schon außerordentlich umfangreich räsoniert worden ist, ohne dass hierbei handhabbare Ergebnisse erzielt worden wären29. Die Fortsetzung dieser Diskussion ausgerechnet in dem sensiblen Bereich der Konzernfinanzierung wäre aus Sicht der Praxis nicht hilfreich, zumal man sich durchaus die Frage stellen kann, wie dieses „Interesse der Gesellschaft“ inhaltlich bestimmt werden soll – subjektiv durch das Interesse der Gesellschafter oder (was wohl näher liegt) unter Aspekten des Gläubigerschutzes überindividuell. (2) Keine Klärung anhand der Begründung des RefE

Die Begründung des Referentenentwurfs30 führt insoweit nicht weiter. Dort werden als – nicht kumulativ zu verstehende – Indizien für ein solches „Interesse der Gesellschaft“ angesprochen, dass – der Kredit einem Drittvergleich standhält, also angemessen verzinst ist und auch hinsichtlich der sonstigen Bedingungen im üblichen Rahmen liegt, – eine Stundung im Rahmen kaufmännisch üblicher Zahlungsziele vorliegt, – der Anspruch auf die Gegenleistung oder die Darlehensrückzahlung bilanziell vollwertig ist (§ 253 HGB) – der Kredit kurzfristig kündbar ist beziehungsweise – Vorkehrungen getroffen sind, die es dem Geschäftsführer der Tochtergesellschaft möglich machen, eine wesentliche Verschlechterung der Bonität des Schuldners frühzeitig zu erkennen. Die damit angesprochene Frage der ohnehin selbstverständlichen Sicherung gegen Verluste betrifft indessen schwerpunktmäßig das „Wie“ einer Darlehensvergabe, hat jedoch nichts mit der dem vorgelagerten Frage zu tun, ob die Weggabe von Liquidität (und ihre Höhe) überhaupt im Interesse der Gesellschaft liegt. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ob jemand für seinen Pkw einen angemessenen Kaufpreis erhält, hat noch nichts damit zu tun, ob die Veräußerung des Pkw als solche überhaupt in seinem Interesse liegt. Denn wenn der Verkäufer auf den Pkw angewiesen ist und er für den Kaufpreis auf dem Markt kein Ersatzfahrzeug erhalten

29 Noack, DB 2006, 1475, 1482. 30 RefE, S. 54 f.

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kann, entspricht die Veräußerung des Pkw auch bei einem angemessenen Kaufpreis keineswegs seinem Interesse. (3) Abstellen auf allein bilanzielle Sichtweise unzureichend

Keine Lösung wäre es, hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit der Darlehensvergabe allein auf eine strikt bilanzielle Sichtweise31 abzustellen. Dies stünde wertungsmäßig bereits im Widerspruch dazu, dass eine verbotene Kapitalauszahlung nicht schon dadurch zulässig wird, dass sie einen werthaltigen Erstattungsanspruch nach § 31 Abs. 1 GmbHG auslöst. Denn der aus einem Verstoß gegen § 30 Abs. 1 GmbHG resultierende Rückzahlungsanspruch aus § 31 Abs. 1 GmbHG muss sofort geltend gemacht und erfüllt werden, und zwar unabhängig von der Frage seiner Werthaltigkeit und seiner bilanziellen Berücksichtigung. Bei der bilanziellen Auswirkung kann man sonach nicht stehen bleiben. (4) Abstellen auf „Marktkonditionen“ unzureichend

Auch die teilweise vorgeschlagene Abgrenzung danach, ob die Leistung an den Gesellschafter „zu Marktkonditionen“ erfolgt, hilft insoweit nicht weiter, weil sie ebenfalls nicht hinreichend die im Zusammenhang mit Leistungen aus dem gebundenen Vermögen zu beachtenden gesellschaftsrechtlichen Wertungsvorgaben berücksichtigt. (5) „Betriebliche Veranlassung“ als systemkonforme Lösung

Der Hinweis auf die gesellschaftsrechtlichen Wertungsvorgaben zeigt aber, dass der Ansatz zur Lösung bei einer Rückbesinnung auf die zu § 30 GmbHG allgemein geltenden Grundsätze liegen muss. § 30 Abs. 1 GmbHG verbietet auch im Rahmen des gebundenen Vermögens bekanntlich nicht jeden Leistungsaustausch zwischen Gesellschaft und Gesellschafter. Die Vorschrift verlangt jedoch die Beachtung der Zuordnung des Gesellschaftsvermögens an die GmbH, der Gesellschafter darf deshalb das gebundene Vermögen nicht gleichsam wie sein eigenes, lediglich in einer anderen Schatulle befindliches Vermögen behandeln und sich hieraus bedienen. Maßgeblich ist vielmehr – und hierauf dürfte der Referentenentwurf auch abzielen –, ob die Leistung causa societatis erfolgt, also lediglich im Hinblick auf das Näheverhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschafter, oder aus einem anderen Grund. Die Abgrenzung zwischen unzulässiger Leistung causa societatis und zulässigem Leistungsaustausch erfolgt übli31 Hierzu zuletzt Grunewald, WM 2006, 2333, 2334 m. w. N.

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cherweise im Wege des Drittvergleichs, also danach, ob die Gesellschaft dieses Geschäft auch so mit einem gesellschaftsfremden Dritten abgeschlossen hätte. Wenn es – wie dies beim Cash Pooling der Fall ist – um Geschäfte geht, die mit einem Dritten so nicht abgeschlossen werden, passt diese Abgrenzung nicht. Stattdessen kann jedoch darauf abgestellt werden, ob die Leistung der Gesellschaft „betrieblich veranlasst“32 ist, ob also – bezogen auf das Cash Pooling – zwischen der Teilnahme der Gesellschaft an diesem Cash Managementsystem und ihrer unternehmerischen Tätigkeit ein Kausalzusammenhang besteht. Aus Sicht der Gesellschaft auslösende Ursache der Teilnahme am Cash Pooling muss bei Zugrundelegung des Merkmals der betrieblichen Veranlassung also sein, dass sich die Gesellschaft eigene Vorteile aus dem Cash Pool verspricht, sei es mit Blick auf eine günstige Verzinsung von ihr nicht benötigter Liquiditätsüberschüsse, sei es mit Blick auf die Möglichkeit, hierüber zinsgünstige Kredite zu beziehen, wobei es insoweit auf eine Gesamtbetrachtung ankommt (eine niedrigere Verzinsung in den Cash Pool eingelegter Mittel könnte im Einzelfall etwa durch den zinsgünstigen Bezug benötigter Kredite aus dem Cash Pool ausgeglichen werden, wenn sich die Gesellschaft überwiegend aus dem Cash Pool bedient). Dass das Bedürfnis des herrschenden Unternehmens nach der Liquidität des abhängigen Unternehmens zur Verwendung im eigenen Interesse keine betriebliche Veranlassung aus Sicht des Tochterunternehmens wäre, versteht sich von selbst, ebenso, dass die Frage der angemessenen Sicherung der ausgereichten Mittel und ihr Umfang je nach Unternehmen und im Einzelfall zu entscheiden ist. Das Abstellen auf eine solche betriebliche Veranlassung an Stelle des Begriffs „Interesse der Gesellschaft“ erscheint aus meiner Sicht deshalb vorzugswürdig. Ob man dieses Ergebnis dann als Rechtsänderung oder – was mir richtiger erscheint – lediglich als Klarstellung einzuordnen hat, sei hier dahingestellt. Der Tendenz nach dürfte der hier unterbreitete Vorschlag allerdings deutlich großzügiger sein, als die aus der Entscheidung des BGH v. 24. 11. 2003 zu entnehmenden Maßstäbe. Aber dass der Gesetzgeber die ihm bekannte Kreditvergabe zwischen verbundenen Unternehmen grundsätzlich akzeptiert, und zwar auch im Bereich des gebundenen Vermögens, ergibt sich aus § 84 Abs. 4 AktG (Kreditvergaben an Unternehmen mit Personenidentität unter den Geschäftsführungsor-

32 Vgl. hierzu bereits Pentz, in: Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 30 Rn. 34.

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ganen) und den Materialen hierzu33. Und was im tendenziell strengeren Aktienrecht akzeptiert wird, kann wohl im GmbH-Recht kapitalerhaltungsrechtlich nicht härter gehandhabt werden.

cc) Keine Auswirkungen auf die Kapitalaufbringung Im Übrigen ist im Zusammenhang mit der zu § 30 vorgesehenen Bestimmung der Vollständigkeit halber anzumerken, dass diese auf die Kapitalerhaltung ausgerichteten Regeln keine Auswirkung auf die Kapitalaufbringung haben würden; soweit sich in der Begründung des Referentenentwurfs Abweichendes findet, steht dies in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur „endgültigen freien Verfügung“ über die Einlagemittel. Dies aber nur am Rande, hierzu gibt es ja bereits schon mehrere Veröffentlichungen34.

III. Die Änderungen zum Kapitalersatzrecht Ich komme damit zum dritten Abschnitt, den Änderungen zum Kapitalersatzrecht, zu dem ich mich auf die gesellschaftsrechtlichen Regelungen beschränken will; zu den den Überschuldungsstatus betreffenden Fragen hat sich schon Herr Haas in der NZI vor kurzem zutreffend geäußert35.

1. Änderungsvorhaben Nach dem Entwurf des MoMiG ist vorgesehen, die Parallelität zwischen den so genannten Rechtsprechungsregeln und §§ 32a, 32b GmbHG aufzuheben. Stattdessen soll es – vorbehaltlich der Kleinbeteiligtenschwelle und 33 Kropff, Aktiengesetz mit Begründung des Regierungsentwurfs und des Berichts des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, 1965, S. 115: „Für Kreditgeschäfte zwischen verbundenen Unternehmen würde die Einwilligung des Aufsichtsrats eine zu starke Behinderung bedeuten, weil wegen der engen Verbindung zwischen den Unternehmen häufig Kredite gewährt werden“. 34 S. nur Priester, ZIP 2006, 1557 ff.; Bayer/Lieder, GmbHR 2006, 1121, 1127; offener wohl Schäfer, BB- Special 7/2006, 5, 9. 35 Haas, NZI 2006, Heft 10 S. VII f.: Der Vorschlag des § 19 Abs. 2 Satz 3 InsO-E, nachrangig zu bedienende Gesellschafterdarlehen und gleichgestellte Forderungen im Überschuldungsstatus nicht mehr zu passivieren, führt zur späteren Insolvenzeröffnung und erhöht damit die Zahl masselose Verfahren; es besteht zudem ein Widerspruch zum Stichtagsprinzip, da erst durch die Insolvenzeröffnung entstehende Folgen nicht abgebildet werden dürfen; die Gefahrenlage wird nicht wirklichkeitsgerecht abgebildet, da Forderung vor Insolvenzeröffnung eingetrieben werden kann und die Gesellschaft für Gläubigerbefriedigung benötigte Mittel einbüßt; abw. hierzu Habersack, ZHR 170 (2006), 607, 612.

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des Sanierungsprivilegs – zu einem Rangrücktritt aller Rückzahlungsansprüche aus Gesellschafterdarlehen und Forderungen aus wirtschaftlich entsprechenden Handlungen in der Insolvenz kommen. Soweit das Darlehen im Jahr vor dem Insolvenzantrag zurückgezahlt worden ist, soll die Rückzahlung künftig unterschiedslos anfechtbar sein (§ 135 Nr. 2 InsO, § 6 Nr. 2 AnfG). Der Referentenentwurf greift damit – in etwas modifizierter Form – Überlegungen auf, die Huber und Habersack Anfang des Jahres im Betriebsberater36 und auch in der Studie der Lutter-Gruppe „Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa“37 veröffentlicht haben.

2. Stellungnahme a) Möglicher Vorteil der geplanten Regelung: Erfassung ausländischer Rechtsformen Die – wenn auch nicht vollständige – Verortung der Tatbestände des Kapitalersatzrechts in der Insolvenzordnung hat insoweit Charme, als man hierüber zu einer insolvenzrechtlichen Qualifi zierung dieser Tatbestände und damit auch zu einer Anwendung auf die Limited kommen könnte. Ob eine solche Maßnahme genügt, nachdem es für die gesellschaftsrechtliche oder insolvenzrechtliche Einordnung auf den materiellen Normencharakter ankommt – insoweit verweise ich auf die Diskussion hierzu auf unserer letzten Tagung –, sei hier dahingestellt38.

b) Bedenken gegen die geplante Regelung Auf die GmbH bezogen halte ich dieses Vorhaben jedoch aus praktischer Sicht für außerordentlich problematisch und aus systematischer Sicht für nicht überzeugend:

aa) Nicht empfehlenswerter Verzicht auf die Vorwirkungen der Rechtsprechungsregeln Ein System, das die heute als Kapitalersatz einzuordnenden Leistungen von Gesellschaftern zur Rückzahlung an die Gesellschafter grundsätzlich freigibt, um sie dann, wenn das Kind gleichsam in den Brunnen gefallen ist und hierüber nicht mehr gerettet werden kann, doch wieder

36 Huber/Habersack, BB 2006, 1 ff. 37 Huber/Habersack, in: Lutter (Fn. 12), 370 ff. 38 Zu diesem Fragenkreis s. den Diskussionsbeitrag von Westermann, in: VGR (Fn. 3), S. 138 sowie den ebenfalls dort wiedergegebenen Beitrag von Behrens.

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zurückfordert, leuchtet mir aus praktischer Sicht nicht im Ansatz ein. Unabhängig davon, dass die Erfahrung – auf der auch die Ausgestaltung unseres Kapitalgesellschaftsrechts beruht – zeigt, dass es besser ist, Mittel zu binden und nicht darauf zu setzen, dass man sie später (hoffentlich, meist aber eben doch nicht) zurück erhält, sollte man sich insoweit auch vor Augen halten, dass das Kapitalersatzrecht in der Praxis durchaus auch außerhalb von Insolvenzen Wirkung zeitigt 39. Dies kann man natürlich nicht an BGH-Entscheidungen ablesen, denn wenn die Leistung an den Gesellschafter nicht zurückerstattet wird, kommt es auch nicht zu einem Folgeprozess, geschweige denn zu den hiermit verbundenen Prozesskosten. Von der Leistungsverweigerungspfl icht wegen des Kapital ersetzenden Charakters einer Leistung wird in der Praxis jedoch meiner Erfahrung nach, die auch von anderen Kollegen geteilt wird, durchaus Gebrauch gemacht. Die Auffassung, es genüge völlig, allein am Ende, also bei der Insolvenz anzusetzen40, ist deshalb aus praktischer Sicht nicht zu teilen.

bb) Auswirkungen eines Streichens der Rechtsprechungsregeln Welche Vorteile mit den Rechtsprechungsregeln für die Gesellschaft verbunden sind, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass nicht jede Insolvenz eine Kleinst-GmbH betrifft. Wenn ein Unternehmen wie jetzt BenQ (eine GmbH & Co. KG, also eine Gesellschaftsform, für die das Kapitalersatzrecht ebenfalls gilt) von der Krise betroffen ist, geht es um mehrere tausend Arbeitsplätze. Zeitungsberichten zufolge soll es hier Probleme mit Lizenzen gegeben haben. Nach dem heute geltenden Kapitalersatzrecht würden solche Verträge unter die Gruppe der Kapital ersetzenden Nutzungsüberlassung fallen. Dies bedeutet in der Praxis, dass das Unternehmen auch in der Krise fortgeführt werden kann, ohne dass eine Fortführung am Fehlen der Lizenzen scheitert. Warum es hier sachgerechter sein soll, – das Unternehmen zunächst in die Insolvenz fallen zu lassen,

39 Von wissenschaftlicher Seite zu dieser Wirkung bereits Hommelhoff, ZGR 1988, 460, 489; Noack, DB 2006, 1475, 1481; Kleindiek, DStR 2005, 1366, 1368; s. auch Thiessen, ZIP 2007, 253, 254 ff.; ders., DStR 2007, 202, 205 ff.; in diesem Sinne auch zahlreiche Wortmeldungen auf dem 8. Leipziger Insolvenzrechtstag am 19. 2. 2007. 40 Cahn, AG 2005, 217, 224; Seibert, ZIP 2006, 1157, 1161.

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– ihm die Fortführung seines Betriebs mit den Lizenzen zu versagen – denn mit der vorgesehenen Regelung wird die Kapital ersetzende Nutzungsüberlassung künftig wegfallen41 –, – die Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit zu entlassen – und darauf zu bauen, dass man gegen ein ausländisches Unternehmen (das ja auch aus einem ganz anderen Land als Süd-Korea kommen kann) einen durchsetzbaren Titel wird erzielen können, leuchtet jedenfalls mir nicht ein, und zwar schon gar nicht mehr, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass ursprünglich die Verbesserung des Gläubigerschutzes der Anlass war, über eine Änderung des GmbH-Rechts nachzudenken.

cc) Abhängigkeit der GmbH-Geschäftsführer kein Gegenargument Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, der typischerweise abhängige Geschäftsführer einer GmbH werde sich auf den Kapital ersetzenden Charakter nicht berufen. Denn spätestens dann, wenn man ihm klarmacht, dass im Falle einer Rückzahlung sein Einfamilienhaus in Gefahr geraten kann, ist auch ein solcher Geschäftsführer erfahrungsgemäß selbst dann bereit, die Rückzahlung zu verweigern, wenn er hierdurch das Risiko seiner Abberufung eingeht. Ebenso ist die quasi-gesetzliche Bindung entsprechend § 30 GmbHG ein in der Praxis durchaus begrüßtes Mittel des Geschäftsführers, sich den Gesellschaftern gegenüber auf die Bindung des Kapitals zu berufen. Und gegen bewusste Gesetzesverstöße ist, wie das Strafrecht bereits zeigt, ohnehin kein Mittel gegeben.

dd) Systematische Unstimmigkeiten Auch unter dem Aspekt eines stimmigen Rechtssystems vermag die Verortung der nach heutigen Maßstäben kapitalersatzrechtlichen Tatbestände ausschließlich im Insolvenzrecht – die bekanntlich gar nicht vollständig erfolgen soll – nicht zu überzeugen. Das Kapitalersatzrecht beruht auf der Überlegung, dass aus eigener Kraft nicht mehr überlebensfähige Gesellschaften am Markt nichts verloren haben und deshalb entweder durch die Gesellschafter zur Rettung zumindest eines Teils ihrer Investitionen frei41 Näher hierzu Mülbert, WM 1977, 1980 f.: Wertungswiderspruch, wenn trotz eines Wegfalls der Rückzahlungssperre entsprechend § 30 GmbHG/§ 57 AktG gleichwohl ein Nutzungsrecht des Insolvenzverwalters bejaht würde; s. auch Bayer/Graff, DStR 2006, 1654, 1659; Habersack, ZHR 170 (2006), 607, 613; Noack, DB 2006, 1475, 1481.

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willig oder – wenn es hierzu nicht kommt – durch ein Insolvenzverfahren zwangsweise vom Markt genommen werden. Die Gesellschafter sollen sich jedenfalls der GmbH gegenüber entweder wie ein gesellschaftsfremder Dritter verhalten, und damit die nicht überlebensfähige Gesellschaft vom Markt genommen werden, oder aber es wird das das Überleben sichernde Kapital, das von der Gesellschaft nicht erwirtschaftet worden ist, sondern der Sache nach ihr von den Gesellschaften zur Verfügung gestelltes Eigenkapital darstellt, seinem Charakter entsprechend wie Eigenkapital gebunden42 . Warum diesem Charakter nicht – wie dies derzeit erfolgt – bereits außerhalb der Insolvenz Rechnung getragen werden soll, sondern unterschiedslos sämtliche Darlehen in der Insolvenz, seien sie in der Krise gewährt oder nicht, mit einem Rangrücktritt versehen sein sollen, leuchtet nicht ein.

ee) Stärkere Inpflichtnahme der Geschäftsführer kein Lösungsansatz Die stärkere Inpflichtnahme der Geschäftsführer nach dem vorgesehenen § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG kann keinen vergleichbaren Ersatz für den Wegfall des richterrechtlichen Kapitalersatzrechts bieten. Nach dieser Reglung – die in der Begründung zudem als Folge der geplanten Herabsetzung des Mindestkapitals bezeichnet wird (hierauf ist bereits hingewiesen worden) – soll die Geschäftsführer eine Erstattungspflicht treffen, wenn durch Zahlungen an Gesellschafter die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft herbeigeführt wird. Für die Haftung genügt die reine Kausalität, es gibt nur einen Vorbehalt für den Fall, dass diese Folge auch aus Sicht eines sorgfältigen Geschäftsführers nicht vorhersehbar war. Was die Instanzgerichte hieraus machen werden, kann man sich als Praktiker leicht vorstellen, nachdem man im Nachhinein immer klüger ist als vorher. Die heutigen Rechtsfolgen der Kapital ersetzenden Leistungen werden auch durch diese Regelung indessen nicht substituiert, und ich halte es auch für rechtspolitisch hoch problematisch, klare Strukturen durch verhaltenssteuernde und weniger rechtssichere Maßnahmen zu ersetzen. Auch die Wirtschaft wendet sich deshalb dem Vernehmen nach inzwischen zu Recht nachdrücklich gegen die geplante Regelung zu § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG. Besser wäre hier möglicherweise eine umfassende Bindung des Gesellschafts-

42 Hierzu bereits Pentz, in: Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 32a Rn. 17; vgl. auch Kleindiek, ZGR 2006, 335, 353 m. w. N.; zu der absichtlich oder unabsichtlich teilweise entstellenden Darstellung der Grundgedanken des Kapitalersatzrechts durch seine Kritiker s. die Nachweise bei K. Schmidt, ZIP 2006, 1925, 1926.

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vermögens nach dem österreichischen Vorbild, das ähnlich wie das deutsche Aktienrecht nur Gewinnverteilungen zulässt43.

ff) Sachlich nicht gerechtfertigte Gleichstellung der Gesellschafterleistungen Die vorgesehene Regelung zum Rangrücktritt schießt in ihrer Rechtsfolgen auch deutlich über das Ziel hinaus. Man denke etwa an einen Gesellschafter, der seine an einer gesunden Gesellschaft bestehenden Geschäftsanteile veräußert und – wie dies üblich ist – in diesem Zusammenhang sämtliche Darlehen abzieht, um dann zur Kasse gebeten zu werden, wenn es dem Erwerber gelungen ist, die Gesellschaft binnen eines Jahres zu Grunde zu richten. Auch das Problem der Zufallsrisiken (die Insolvenz der Gesellschaft beruht auf einem Unglücksfall) ist in der Literatur bereits angesprochen worden44. In dieser Undifferenziertheit bleibt das MoMiG unter dem Aspekt der sachgerechten Regelung deutlich hinter der derzeit geltenden, nach der Krise der Gesellschaft differenzierenden Rechtslage zurück45.

gg) Zur (angeblichen) Unübersichtlichkeit des Kapitalersatzrechts Dass das Kapitalersatzrecht keineswegs, wie dies neuerdings verschiedentlich (wenn auch ohne nähere Begründung) dargestellt wird und was auch im Referentenentwurf anklingt, unübersichtlich bzw. nicht nachvollziehbar ist, hat bereits Herr Goette46 wiederholt dargestellt, auch Herr Hommelhoff ist auf diesen Aspekt auf der letzten Tagung eingegangen47, weshalb ich diesen Punkt nicht weiter behandeln werde. Im Übrigen müsste man mit dieser Begründung, wenn sie denn tragfähig wäre, wohl zunächst einmal das auch für Fachleute längst nicht mehr überschaubare Steuerrecht in seiner heutigen Form abschaffen, bevor man sich an Gläubiger schützende Institutionen heranmacht, die sich in der Praxis bewährt haben. Hinzu kommt, dass mit der geplanten Regelung die beabsichtigte umfassende Vereinfachung keineswegs erreicht wird; der Bereich der rechtsge-

43 § 82 öGmbHG, vgl. hierzu Pentz, in: Rowedder/Schmidt-Leithoff (Fn. 19), § 30 Rn. 80 m. w. N. 44 Noack, DB 2006, 1475, 1480; Gesmann-Nuissl, WM 2006, 1756, 1759. 45 Mit Recht auch kritisch deshalb Hommelhoff, in: VGR (Fn. 3), S. 115, 124 ff.; zutreffend hat auch K. Schmidt in der Diskussion in diesem Zusammenhang von einer „Primitivisierung des Rechts“ gesprochen; vgl. hierzu den nachstehenden Diskussionsbericht von Olberg, S. 139 ff. 46 Vgl. u. a. Goette, ZHR 162 (1998), 223, 225 f. 47 Hommelhoff, in: VGR (Fn. 3), S. 115, 116 f.

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schäftlichen Risikofinanzierung verbleibt von der Abschaffung des Kapitalersatzes nämlich unberührt48.

hh) Auflösung der Parallelität der Kapitalersatzregelungen durch Streichen der §§ 32a, 32b GmbHG Die in der Tat nicht sehr schöne Parallelität zwischen Rechtsprechungsregeln und §§ 32a, 32b GmbHG sollte meines Erachtens durch die Streichung der §§ 32a, 32b GmbHG und die Beibehaltung der Rechtsprechungsregeln49 aufgelöst werden. Einer insolvenzrechtlichen Bindung von krisenbedingten Gesellschafterleistungen bei in- und ausländischen Gesellschaften mit beschränktem Haftungsfonds in der InsO bzw. dem AnfG stünde diese Lösung nicht entgegen. Das erhoffte Ziel, die – wenn sie denn europarechtlich möglich ist – Erfassung auch der Limited auf diesem Wege, könnte also auch hierüber erreicht werden.

ii) Für den Fall der Beibehaltung der geplanten Regelung: Krise als Abgrenzungsmerkmal Wenn man allerdings der Meinung sein will, das Recht der Gesellschafterdarlehen müsse unbedingt in der Insolvenzordnung geregelt werden, sollte in jedem Falle zur Vermeidung der vorstehend aufgezeigten, sachlich nicht gerechtfertigten Gleichstellung aller Gesellschafterdarlehen eine Differenzierung eingeführt werden, bei der entsprechend der heutigen Rechtslage auf die wirtschaftliche Situation (nämlich die Krise) der Gesellschaft abgestellt wird. Im Ergebnis wären wir dann allerdings bei der heutigen Regelung, wegen der Abschaffung der bereits im Vorfeld der Insolvenz eingreifenden Rechtsprechungsregeln allerdings deutlich gläubiger- und sanierungsfeindlicher.

48 Eingehend Ekkenga, WM 2006, 1986 ff. 49 Hierfür auch Bork in seinem Vortrag auf dem ZGR-Symposion in Frankfurt am 4. 11. 2006 (noch unveröffentlicht); s. auch Thiessen, ZIP 2007, 253, 254 ff.; ders., DStR 2007, 202, 205 ff.

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D. Zusammenfassung Damit bin ich beim Ende meiner Darstellung und fasse die Ergebnisse in zwei Sätzen zusammen: 1. Das Mindestkapital von 25 000 Euro und das richterrechtliche Kapitalersatzrecht sollten beibehalten werden, zur Erfassung ausländischer Gesellschaften empfiehlt sich eine Regelung für krisenbezogene Leistungen in der InsO bzw. dem AnfG; auch die Flankierung des neuen Rechts durch den geplanten § 64 Abs. 2 Satz 2 GmbHG sollte nicht verwirklicht werden. 2. Die für § 30 GmbHG vorgesehene Cash Pooling-Regelung sollte klarer formuliert werden und die Bestimmung anstatt auf das „Interesse der Gesellschaft“ klarstellend auf die „betriebliche Veranlassung“ der Kreditgewährung abstellen.

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Bericht über die Diskussion der Referate Altmeppen und Pentz Maik Olberg Rechtsreferendar, Heidelberg

I. Die Diskussion im Anschluss an die Referate von Altmeppen und Pentz wurde von Priester geleitet. Schnell wurde klar, dass der Referentenentwurf des MoMiG (Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen) nicht bei allen die hohen Erwartungen erfüllen konnte. Im Vordergrund der kontroversen Diskussion standen die geplante Herabsetzung des Mindestkapitals von derzeit 25 000 Euro auf 10 000 Euro, auch im Zusammenhang mit dem streitigen Punkt des „Wettbewerbs der Gesellschaftsformen“ (II.), die angestrebten Änderungen des Kapitalersatzrechts durch die Aufhebung der §§ 32a und 32b GmbHG (III.), die beabsichtigte Regelung zum Cash Pooling in § 30 GmbHG (IV.) sowie die viel diskutierte Frage der Ersetzung der Kapitalerhaltungsregeln durch einen Solvency Test (V.). Die nachfolgende Zusammenfassung weicht aus Gründen der Verständlichkeit teilweise von der tatsächlichen Reihenfolge der Diskussionsbeiträge ab.

II. 1. In seiner einleitenden Stellungnahme schloss sich der Diskussionsleiter Priester den Ausführungen von Pentz an und stimmte auch den Ausführungen von Altmeppen weitestgehend zu. 2. Drygala eröffnete die Diskussion mit der Bemerkung, dass sowohl dem MoMiG-Entwurf als auch den Ausführungen der Referenten der Makel der Mutlosigkeit anhafte. Sodann vertrat er die Auffassung, dass sich die Rechtsprechung von dem Gedanken lösen sollte, sämtliche Probleme des Gläubigerschutzes allein mit dem Gedanken des Kapitals bewältigen zu wollen. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers bestehe der Sinn des Mindeststammkapitals nur darin, dass sich der Unternehmer überhaupt

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Der Referentenentwurf des MoMiG

mit eigenem Geld am Risiko beteilige. Es müsse deshalb auch erwogen werden, andere Instrumente heranzuziehen und die Rechtsprechung zum Kapital entsprechend zu lockern. Hinsichtlich einer Vereinfachung der Kapitalaufbringung äußerte Drygala den Gedanken, ob nicht gegenüber dem Verbot die Transparenz das mildere Mittel darstellen könnte. Er verwies dabei auf eine momentan in der Schweiz diskutierte Regelung, welche für die Forderungseinbringung in der Sanierungssituation vorschreibt, dass in diesen Fällen ins Handelsregister eingetragen wird, dass es sich „nur“ um eine Forderungseinbringung und nicht um „fresh money“ handelt, wie der Gläubiger fälschlicherweise annehmen könnte. Hierzu entgegnete Karsten Schmidt in der Diskussion, es sei für den Gläubiger kein Vorteil, zu wissen, ob das Kapital tatsächlich eingezahlt sei oder nicht. Grunewald pflichtete den Referenten hinsichtlich des Festhaltens am Mindestkapital zunächst bei, wollte aber der ablehnenden Haltung der Referenten in Bezug auf die Herabsenkung des Mindestkapitals nicht beitreten. Insbesondere erkenne sie den von Altmeppen angeführten Zusammenhang, wonach für Gesellschaften ohne Kapitalbedarf keine Haftungsbeschränkung gelten solle, nicht. Dieser Zusammenhang sei rein willkürlich. Da durch die Erhöhung des Mindeststammkapitals im Rahmen der Reform von 1980 prozentual gesehen auch nicht weniger Gesellschaften mbH als zuvor insolvenzanfällig geworden seien, spreche nichts gegen eine Absenkung des Mindestkapitals. Karsten Schmidt äußerte die zugestandener Maßen „zynische“ Auffassung, es sei nicht schlimm, das Mindeststammkapital „dem Gesetzgeber zum Fraße vorzuwerfen“, da es ja ohnehin nur eine Schutzgebühr darstelle, die verhindern solle, dass nicht seriöse Rechtssubjekte eingetragen würden. In diesem Zusammenhang könne man mit 10 000 Euro Mindeststammkapital auch sehr gut leben. Eidenmüller wies darauf hin, dass diese oder sogar eine noch weitergehende Absenkung schon unter dem Druck des Wettbewerbs mit der Limited notwendig sei, um den „Exitus“ der GmbH zu stoppen. Effi zienzeinbußen für den Gläubigerschutz seien damit nicht verbunden. Auch sei die Absenkung des Mindestkapitals nur ein kleiner Schritt im Rechtsreformenwettbewerb, denn der englische Gesetzgeber reformiere derzeit das Gesellschaftsrecht dahin, dass zukünftig die Gründung einer Limited per Internet in Echtzeit aus dem „heimischen Wohnzimmer“ erfolgen könne. Die von Pentz hervorgehobene Änderung, dass in Zukunft der Genehmigungsantrag für die Gründung genüge, werde die Nachteile gegenüber der Limited nicht wettmachen, da viele Gründer aufgrund des Risikos einer

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Olberg – Bericht über die Diskussion

Löschung nach drei Monaten weiterhin bis zum Vorliegen der Genehmigung zuwarten würden. 3. Altmeppen erwiderte auf den Beitrag von Drygala, dass er nicht sehe, wo er noch hätte mutiger sein sollen, nachdem der Tenor sowohl von Pentz als auch von ihm gewesen sei, im Bereich des Stammkapitals das Prinzip beizubehalten. Sofern ein völlig anderes Prinzip gewünscht sei, müsse man hierüber reden, die Vorteile eines solchen Systems sehe er jedoch nicht. Den eigentlichen Mut müsse doch wohl die Rechtsprechung aufbringen, die sich in 30 Jahren entwickelt hat und nun umdenken müsse. Er stimme Drygala zu, dass das GmbH-Recht zu kompliziert sei, dies liege jedoch nicht am Gesetz sondern an der Rechtsprechung. Es bestehe durch Rechtsfortbildung eine so gefestigte Rechtsprechung, dass man sich kaum mehr vorstellen könne, sie ohne den Gesetzgeber los werden zu können. Tatsächlich gehe es aber eigentlich nur ohne den Gesetzgeber. Seiner Meinung nach bestehe auch beim II. Senat die Bereitschaft, mit verkrusteten und nicht mehr überzeugenden Rechtsfortbildungen aufzuräumen. Hier habe es auch bereits massive Radikalschläge gegeben. Aus diesem Grunde müssten die entscheidenden Korrekturen durch die Rechtsprechung selbst erfolgen. Zu den Anmerkungen von Grunewald führte Altmeppen aus, dass auch nach seiner Ansicht 25 000 Euro Mindeststammkapital zu wenig seien, die notwendigen 100 000 Euro seien aber politisch nicht durchsetzbar. Es sei jedoch das falsche Signal, nun zu sagen, es genügten auch 10 000 Euro oder 0 Euro. In Bezug auf Eidenmüller erwiderte Altmeppen, dass es zwar durchaus denkbar sei, eine weitere attraktive Unternehmensform zur Verfügung zu stellen, jedoch sei diese dann keine Kapitalgesellschaft mehr, da es eine solche mit einem Euro nicht gebe. Denn das rechtlich verselbständigte Kapital müsse zumindest eine ernstzunehmende Dimension haben. Aus diesem Grund sei es nur vernünftig, das derzeitige System beizubehalten. Ein schlüssigeres Unternehmenskonzept für mittelständisches Unternehmensrecht sei ohnehin nicht ersichtlich. Die von Eidenmüller geschürte Angst vor der Limited vermöge er nicht nachzuvollziehen. Seiner Meinung nach werde in drei Jahren niemand mehr von der Limited sprechen, er warte ab, wie die GmbH nach Europa auswandern dürfe. Wenn sie dort vernünftig konzipiert würde, werde diese Unternehmensträgerin keine Probleme mit der Limited haben. Pentz verwies zum Vorschlag von Drygala, Transparenz sei das gegenüber einem Verbot mildere Mittel, darauf, dass Forderungen heute ohne weiteres nach den Regeln über die Sacheinlage eingebracht werden könnten.

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Der Referentenentwurf des MoMiG

Die Sacheinlageprüfung zugunsten bloßer Transparenz aufzugeben, führe wegen möglicher Quersubventionierungen unter den Gesellschaftern zu Problemen. Ob etwas anderes gelten könne, wenn alle Gesellschafter zustimmten und der Vorgang entsprechend offen gelegt werde, sei eine zweite Frage. Seine ablehnende Haltung zur Herabsenkung des Mindeststammkapitals begründete Pentz mit der notwendigen Lebensfähigkeit des Rechtsträgers. Nachdem die Gesellschafter die Gesellschaft nicht subventionieren müssten, sei es vom Modell her notwendig, einen Rechtsträger in die Welt zu setzen, der aus sich heraus lebensfähig sei. Dies sei bei einem Betrag von lediglich 10 000 Euro sicherlich nicht gegeben. Insofern diene das Stammkapital doch in gewisser Hinsicht dem Gläubigerschutz. Ein weiterer Punkt sei – auch hinsichtlich der Limited – die Frage, ob der Staat solch unsoliden Gebilden Vorschub leisten müsse. Sollte es tatsächlich den behaupteten starken Wettbewerb mit der Limited geben, dann resultiere dieser auch aus der Existenz von unsoliden Gründungen. Das Ziel könne es grundsätzlich nicht sein, neben „Pleite-Limiteds“ auch noch „Pleite-Gesellschaft mbH“ zu schaffen. Zu den Überlegungen von Grunewald, bei einigen Fällen könne ein Stammkapital von 25 000 Euro überhöht sein, verwies Pentz auf die vom Gesetzgeber notwendigerweise vorzunehmende Typisierung sowie darauf, dass in diesem Zusammenhang 25 000 Euro an sich noch als zu gering angesehen werden müssten. Da eine Erhöhung aber rechtspolitisch nicht durchsetzbar sei, müsse man sich mit dem, was man habe, arrangieren. Eine Herabsetzung sei jedenfalls keine Alternative. Zu den Ausführungen von Eidenmüller stellte Pentz die Frage, ob es denn tatsächlich erstrebenswert sei, die skizzierten Limited-Zustände auch für die GmbH anzustreben. Die Limited „in Echtzeit aus dem Wohnzimmer“ sei möglicherweise für England rechtspolitisch erstrebenswert; der notwendige sichere Hafen, den die GmbH für ihre Mitglieder biete, werde durch eine solche grundlegende Änderung jedoch verloren gehen, was aus Sicht der Praxis nicht empfehlenswert und aus ordnungspolitischen Gründen nicht zu rechtfertigen sei.

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III. 1. Grunewald befürwortete zunächst die von Altmeppen geäußerte Zustimmung zur Abschaffung der §§ 32a, 32b GmbHG. Ein Festhalten an der Grundaussage, dass eine Krisenfinanzierung unabhängig davon, ob sie kurz oder lange vor der Insolvenz erfolgte, stets schlechter behandelt wird als andere Darlehen, lehnte Grunewald jedoch mit der Begründung ab, es gebe keinen vernünftigen Grund für die Eigenkapitalersatzregeln. Es werde bereits seit 15 Jahren in der Literatur vorgetragen, dass die Eigenkapitalregeln Sanierungen erschwerten. Schon aufgrund der Parallelität zu den Regeln der Schenkungsanfechtung sei eine Anfechtung der richtige Weg. Hierzu erwiderte Karsten Schmidt, dass die Abschaffung des § 32a GmbHG wohl aber zu einer Verschärfung des Rechts führen dürfte, da nun jeder, der mit 11 % an einer GmbH beteiligt gewesen sei und irgendwann ein Darlehen gegeben habe, so behandelt würde, als ob er Eigenkapital gegeben habe. Hier gehe die Legitimation der Gleichstellung verloren. Man könne zwar der Meinung sein, dass derjenige der so „nah dran“ sei, auch nachrangig behandelt werden und der Anfechtung unterliegen müsse, jedoch sei darin eine Primitivisierung des Rechts zu sehen. Der Kapitalschutz sei das Ergebnis eines im Laufe von Jahrzehnten mühsam errungenen Rechtsprechungsrechts, dass dies jetzt zurückgefahren werden soll, sei sehr problematisch. 2. Pentz erwiderte auf die Ausführungen von Grunewald, dass der Kapitalersatz keinesfalls sanierungsfeindlich, sondern sanierungsfreundlich sei. Die ordnungsgemäße Durchführung der Rechtsprechungsregeln führe nämlich dazu, dass die Gesellschaft eben in der Krise so fortgeführt werden könne, wie der Gesellschafter sie materiell ausgestattet habe; ob es sich hierbei um eingelegtes Kapital oder Kapitalersatz handele, laufe im Ergebnis auf das selbe hinaus. Zu dem durchaus vorhandenen Rechtsgrund des Kapitalersatzrechts, dem Charakter der Leistung, verwies er auf seinen Vortrag.

IV. 1. Zur geplanten Regelung zum Cash Pooling führte Drygala in seinem Beitrag aus, dass es notwendig sei, wieder hinter die Rechtslage der „November-Entscheidung“1 zu kommen. Ein Geschäft mit einem Gesellschaf1 BGHZ 157, 72 = NJW 2004, 1111 = GmbHR 2004, 302.

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ter müsse zulässig sein, wenn es dem Drittvergleich oder dem hypothetischen Drittvergleich standhalte. Warum dies bei einem Darlehen anders sein solle, sei nicht ersichtlich. Dies lasse sich nur damit begründen, dass § 30 GmbHG die schlichte Liquidität als geschützt ansehen wolle, was aber eine reine Mindermeinung sei und dies auch bleiben solle. Aus diesem Grund sei eine gesetzliche Regelung zu befürworten. Karsten Schmidt pflichtete Drygala dahingehend bei, dass fraglich sei, was aus der „November-Entscheidung“ resultiere, und dass der Gesetzgeber mit der vorgeschlagenen Formulierung keine Klarheit schaffe. Grunewald stimmte den Referenten dahin zu, dass die im MoMiG enthaltene Abgrenzung nach dem „Interesse der Gesellschaft“ unklar sei. Unverständlich sei ihr jedoch bei der Argumentation von Altmeppen, warum trotz vollwertigem Rückzahlungsanspruch ein Verstoß gegen § 30 GmbHG gerade dann gegeben sein solle, wenn durch die Auszahlung eine bereits bestehende Unterbilanz vertieft werde. Denn normalerweise richte sich die Bewertung des Darlehensrückzahlungsanspruchs nach der Liquidität des Darlehensempfängers, nicht aber nach der des Darlehensgebers. Ebenso könne es nicht darauf ankommen, ob der Anspruch aus § 30 GmbHG bedient werden könne oder nicht, da bei vollwertigem Rückzahlungsanspruch schon gar kein Anspruch nach § 31 GmbHG entstehe. 2. Altmeppen begründete seine Argumentation in Bezug auf die Frage von Grunewald damit, dass solche Gesellschaften aus dem Cash Pool herausgenommen werden müssten, bei denen das Mindeststammkapital schon nicht mehr gedeckt sei. Er bildete zur Veranschaulichung das Beispiel, dass Autos, bei denen die Bremse nicht mehr funktioniere, auch nicht am Autorennen teilnehmen könnten. Wenn das Mindeststammkapital jedoch gedeckt und die Forderung vollwertig sei, könne die Gesellschaft auch am Cash Pooling teilnehmen. Die Notwendigkeit einer auf das Cash Pooling zugeschnittenen Regelung sei allerdings zu verneinen. Pentz führte zu den in der Diskussion aufgeworfenen Fragen aus, dass allein die Vollwertigkeit des Rückzahlungsanspruches noch nicht der gesellschaftsrechtlichen Wertung gerecht werde, dies geschehe vielmehr erst durch das Merkmal der „betrieblichen Veranlassung“. Zwar sei schon fraglich, ob eine gesetzliche Änderung rechtlich überhaupt notwendig sei; wegen der erheblichen Rechtsunsicherheit, die derzeit in der Praxis aufgrund der „November-Entscheidung“ herrsche, sei sie aber wohl angebracht. Die „November-Entscheidung“ sei im Ergebnis zutreffend, die grundsätzlichen Ausführungen dort gingen jedoch der Sache nach zu weit. Pentz verwies weiter auf die praktischen Probleme, welche einer tagesgenauen Bilanzer-

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stellung entgegenstünden. Zum einen seien abends im Regelfall noch nicht alle Buchungen vollzogen. Zum anderen müsse die für § 30 GmbHG maßgebliche Bilanz nach den Grundsätzen der Jahresbilanz aufgestellt werden, was die Ausübung von bilanziellen Wahlrechten beinhalte. Dies könne nicht ohne weiteres am Tagesende durchgeführt werden.

V. In Übereinstimmung mit Grunewald, die insoweit erhebliche Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten befürchtete, merkte Karsten Schmidt zur Frage eines Wechsels zum Solvency Test an, dass er ebenso wie die Referenten froh sei, dass der MoMiG-Entwurf Abstand von einem solchen Instrument genommen habe. Der angebliche Vorteil des Solvency Test, die Verhinderung einer „Einzementierung“ des Gesellschaftskapitals, sei unrealistisch. Denn eine Gesellschaft, die überflüssigerweise auf Liquidität „herumsitze“, weil sie sie nach § 30 nicht ausschütten könne, sei lediglich Gegenstand von Dissertationen und Aufsätzen. Die Idee des § 30 GmbHG von einem „Polster“, das bilanziell gemessen werde, sei eine einfache Regel von Plausibilität, mit der man gut leben könne.

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Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht* – Zuständigkeitsabgrenzung, Kapitalmarktrecht, Insolvenzantragspflicht – Prof. Dr. Heribert Hirte, LL. M. (Berkeley) Universitätsprofessor, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schiffahrts- und Wirtschaftsrecht der Universität Hamburg I. Einleitung ............................... 148 II. Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gesellschaftsorganen und Insolvenzverwalter .... 1. Grundprinzipien für die Insolvenz der juristischen Person................................ a) Verdrängungs- und Überlagerungsbereich bei den Organen ........... b) Rechte und Pfl ichten der Organmitglieder ..... aa) Vertretungs- und Aufsichtsorgan ...... bb) Mitglieder/Gesellschafter ................. cc) Beschlussanfechtungsklagen .......... c) Eigenverwaltung ......... 2. Insbesondere: Insolvenz von Aktiengesellschaft und GmbH ........................ a) Organe ........................ b) Satzungsänderungen und Kapitalmaßnahmen .......................

149 149 149 151 151 154 155 156 157 157 161

III. Kapitalmarktrechtliche Pfl ichten ................................. 164 1. Insolvenzverwalter als Geschäftsleiter eines börsennotierten Unternehmens .... 166

a) Haftung des Emittenten ....................................... aa) Wahrnehmung der Pfl icht durch den Insolvenzverwalter ...... bb) Rückzug von der Börse als Ausweg? ............. cc) Beachtung der Pfl icht zur Ad-hoc-Publizität .. dd) Sonstige kapitalmarktrechtliche Pfl ichten ...................... b) Persönliche Haftung ........... c) Durchsetzung von Ansprüchen in der Insolvenz..................................... 2. Publizitätspfl ichtige Insiderinformationen .......................... a) Allgemeines ........................ b) Publizitätspfl ichtige Insiderinformationen vor Verfahrenseröffnung ........... c) Publizitätspfl ichtige Insiderinformationen nach Verfahrenseröffnung ........... d) Fehlende öffentliche Bekanntheit und Möglichkeit erheblicher Kursbeeinflussung ...................... e) Möglichkeit der (Selbst-) Befreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG .................................

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* Um Fußnoten ergänzte Fassung des auf der Jahrestagung 2006 der Gesellschaftsrechtlichen Vereinigung gekürzt vorgetragenen Manuskriptes. Die Vortragsform wurde teilweise beibehalten.

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Hirte – Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht IV. Die Insolvenzantragspfl icht zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht .................. 183 1. Anwendung der Insolvenzantragspfl icht auf Scheinauslandsgesellschaften ............................. 183

2. Abschaffung der Insolvenzantragspfl icht ............. 187 V. Zusammenfassung ................. 189

I. Einleitung „Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht“: das ist – frei nach Theodor Fontane – ein „weites Feld“, und die Veranstalter haben es hier mit einem „Dreißig-Minuten-Slot“ in ein enges Korsett gezwängt. Deshalb will – und muss – ich mir die hier gestellte Aufgabe etwas erleichtern, indem ich mich auf einige wesentliche bzw. aktuelle Aspekte der Abgrenzungsdiskussion beschränke. Entsprechend den im Vorfeld geführten Gesprächen und auch mit Blick auf die gesonderte Behandlung des MoMiG im Rahmen dieser Veranstaltung soll der Blick in erster Linie den Fragen der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gesellschaftsorganen und Insolvenzverwalter gelten (unten II.)1. Das wird um sonstige Fragen des Kapitalmarktrechts ergänzt, die sich auf das Insolvenzrecht auswirken (können) (unten III.). Nur am Rande will ich am Ende dieser Überlegungen auf den Fragenkreis der Abgrenzung von gesellschafts- und insolvenzrechtlichen Ansprüchen eingehen und hier mit der Frage der Insolvenzantragspflicht einen besonders kontroversen Punkt herausgreifen, der auch den Deutschen Juristentag vor einigen Wochen beschäftigt hat (unten IV.).

1 Zu „Anspruchskonkurrenzen“ jüngst ausführlich Goette, KTS 2006, 217 ff.

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II. Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gesellschaftsorganen und Insolvenzverwalter2 1. Grundprinzipien für die Insolvenz der juristischen Person a) Verdrängungs- und Überlagerungsbereich bei den Organen

Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Verwaltung und Verfügung über das Vermögen der juristischen Person nach § 80 InsO auf den Insolvenzverwalter über3. Das gilt auch dann, wenn bereits im Eröffnungsverfahren ein vorläufiger Insolvenzverwalter nach Maßgabe von § 21 Abs. 2 InsO bestellt wird („starker Verwalter“); für ihn gelten die folgenden Überlegungen zur Zuständigkeitsabgrenzung von den Organen der juristischen Person ganz entsprechend. Der (vorläufige) Insolvenzverwalter ist nach der jedenfalls von der Praxis angewandten „Amtstheorie“ weder Gesellschaftsorgan noch Vertreter eines Gesellschaftsorgans, sondern Träger eines Amtes4. Seine Zuständigkeit bezieht sich auf sämtliche Handlungen, die das verteilungsfähige Vermögen der juristischen Person betreffen. Dazu gehört auch die handelsrechtliche Rechnungslegungspfl icht (§ 270 AktG, § 71 GmbHG); das gilt auch hinsichtlich solcher Buchführungspflichten, die schon vor der Verfahrenseröffnung entstanden sind. Daher kann der Geschäftsleiter der Gesellschaft während des Verfahrens auch nicht mittels Zwangsgeld zur Erfüllung dieser – nicht bei ihm liegenden – Verpflichtungen angehalten werden5. Die gesellschaftsrechtliche Rechnungslegungspflicht tritt im Übrigen neben die insolvenzrechtliche (§ 66 InsO); der Insolvenzverwalter muss daher doppelt Rechnung legen6. Die Organe der juristischen Person bleiben aber auch während eines laufenden Insolvenzverfahrens bestehen7. Ihr Wirkungsbereich wird durch 2 Der unter II. wiedergegebene Text basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen des Verfassers in: Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 12. Aufl. 2003, § 11 InsO Rn. 118 ff., 185 ff., die – allerdings erst zum Teil – bereits für die demnächst erscheinende 13. Aufl. aktualisiert wurden; auf eine Wiedergabe sämtlicher Nachweise wurde verzichtet. 3 RG v. 25. 4. 1906, RGZ 63, 203, 212; RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244, 246. 4 Dazu Uhlenbruck, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 80 Rn. 53. 5 KG v. 3. 6. 1997, NJW-RR 1998, 472 = NZG 1998, 118 = ZIP 1997, 1511 = DZWir 1997, 507 (Smid); LG Oldenburg v. 11. 11. 1992, GmbHR 1994, 191; Schlitt, NZG 1998, 755, 756 f. 6 Dazu Karsten Schmidt, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 1999, S. 1199, 1212 f. 7 Vgl. auch Grüneberg, Die Rechtsposition der Organe der GmbH und des Betriebsrates im Konkurs, 1988, S. 109; Weber, KTS 1970, 73 ff.; abw. Wolf Schulz, KTS 1986, 389 ff.

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den Insolvenzverwalter lediglich insoweit verdrängt, als dieser die Interessen der Gläubiger wahrzunehmen hat („Verdrängungsbereich“)8. Daraus leitete kürzlich etwa das BVerwG ab, dass sich ein Gewerbeuntersagungsverfahren während eines laufenden Insolvenzverfahrens nach wie vor gegen die Gesellschaft bzw. ihren Geschäftsführer richtet9; Folge dieser – letztlich auf die Amts- und die Ablehnung der Vertretertheorie zurückgehenden – Rechtsprechung ist, dass während des Insolvenzverfahrens ein einseitiger Verzicht des Schuldners auf die Gewerbeerlaubnis möglich ist, mag dieser auch möglicherweise nach §§ 129 ff. InsO anfechtbar sein. Den Organen der juristischen Person verbleibt aber unstreitig die Zuständigkeit für die Regelung der innerverbandlichen Angelegenheiten, soweit sie nicht die Aktiv- und Passivmasse berühren. So bleibt ihnen insbesondere die Verfügungsmacht über etwaiges insolvenzfreies Vermögen10. Daneben nehmen sie die Aufgaben und Pfl ichten des Schuldners wahr. Bei bestimmten Fragenkreisen überlagern sich schließlich die Zuständigkeiten von Insolvenzverwalter und Gesellschaftsorganen („Überlagerungsbereich“)11. Daraus folgt: Im innerverbandlichen Bereich bleiben die Organe der juristischen Person bestehen: an die Stelle des Geschäftsleiters treten nicht etwa Liquidatoren; auch werden die Geschäftsleiter nicht etwa automatisch zu Liquidatoren (vgl. § 264 Abs. 1 AktG, § 66 Abs. 1 GmbHG: „außer dem Fall des Insolvenzverfahrens“)12 . Nur wenn sich die juristische Person bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits im Liquidationsstadium befand, werden die Rechte und Pflichten des Schuldners von den Abwicklern wahrgenommen. Die Organe der juristischen Person sind aber nicht berechtigt, neben dem Verwalter nach außen aufzutreten13. Bei seiner Tätigkeit wird der Verwalter weder von einem etwa vorhandenen Aufsichtsrat oder Beirat überwacht, noch ist er durch andere gesellschaftsrechtliche Genehmigungserfordernisse beschränkt. Alle Rechtshandlungen der Organe, die die Rechte des Insolvenzverwalters verletzen, sind den Insolvenzgläubigern gegenüber unwirksam. 8 RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244, 246. 9 BVerwG v. 18. 1. 2006, NVwZ 2006, 599 = ZIP 2006, 530, 531; ebenso als Vorinstanz VG Gießen v. 4. 10. 2005 ZInsO 2005, 1226 = ZIP 2005, 2074. 10 Dazu Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 35 InsO Rn. 21 ff. 11 Weber, KTS 1970, 73, 77 ff. 12 RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244, 246; RG v. 14. 2. 1913, RGZ 81, 332, 336; RG v. 5. 2. 1930, RGZ 127, 197, 200. 13 Zum Vorstand RG v. 21. 1. 1885, RGZ 14, 412, 419.

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Andererseits darf auch der Verwalter nicht in die inneren Angelegenheiten der juristischen Person eingreifen; sein Machtbereich ist vielmehr durch die ihm gestellte Aufgabe, die Insolvenzmasse zu sammeln, zu verwerten und zu verteilen, begrenzt. Handlungen, die darüber hinausgehen, sind ihrerseits unwirksam14. In diesem Rahmen behalten die Geschäftsleiter (innergesellschaftlich) das Recht zur Unternehmensführung. Zudem haben die Geschäftsleiter im insolvenzfreien Bereich das Recht, Neugeschäfte abzuschließen und die Gesellschaft zu vertreten, soweit dies mit dem insolvenzfreien Vermögen möglich und mit dem durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geänderten Gesellschaftszweck vereinbar ist15. Der insolvenzfreie Bereich ist freilich durch § 35 InsO gegenüber dem alten Recht insoweit beträchtlich eingeschränkt worden, als nunmehr auch der Neuerwerb während des Verfahrens in die Masse fällt; insolvenzfreies Vermögen kann daher heute praktisch nur noch durch Freigabe zustande kommen16. Damit ist bereits die praktische Bedeutung des Streits erheblich reduziert. Für die engere Auffassung spricht heute aber vor allem, dass die InsO die Vollabwicklung der juristischen Personen anstrebt (arg. § 199 Satz 2 InsO)17. Die Geschäftsleiter sind schließlich im insolvenzfreien Bereich berechtigt, zur Beschlussfassung über einen diesen Bereich betreffenden Tagesordnungspunkt die Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung einzuberufen (§ 121 Abs. 2 AktG, § 49 Abs. 1 GmbHG)18. Insoweit sind sie daher auch in der Lage, Anmeldungen zum Handelsregister vorzunehmen. b) Rechte und Pflichten der Organmitglieder aa) Vertretungs- und Aufsichtsorgan

Den Mitgliedern der Vertretungsorgane einer juristischen Person obliegen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Aufgaben und Pfl ichten des Schuldners19. Das gilt nach neuem Insolvenzrecht auch für die Mitglieder eines etwa vorhandenen Aufsichtsorgans (Aufsichtsrat, Beirat). § 101 Abs. 1 InsO ordnet dies heute ausdrücklich an. Dabei sind sie nach 14 RG v. 16. 12. 1902, RGZ 53, 190, 193; RG v. 16. 3. 1904, RGZ 57, 195, 199; RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244, 250; im Einzelnen Siegelmann, DB 1967, 1029. 15 RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244; Weber, KTS 1970, 73, 79 f.; Ulmer, in: Hachenburg, GmbHG, 8. Aufl. 1992 ff., § 63 GmbHG Rn. 78 ff. 16 Dazu Uhlenbruck, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 35 InsO Rn. 23. 17 Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 148. 18 Weber, in: Jaeger/Henckel, Konkursordnung, 8. Aufl. 1958 ff., §§ 207, 208 KO Rn. 29. 19 Dazu im Einzelnen Uhlenbruck, GmbHR 1972, 170, 174 ff.

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§§ 20, 97 InsO zu Auskunft und Mitwirkung verpflichtet20. Dabei müssen sie auch Tatsachen offenbaren, die geeignet sind, eine straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfolgung herbeizuführen; für die Verwendung solcher Informationen zu seinen oder seiner Angehörigen Lasten besteht jedoch ein Verwertungsverbot (§ 97 Abs. 1 Sätze 2 und 3 InsO).21 Die Mitglieder der Vertretungs- oder Aufsichtsorgane trifft auch die Verpflichtung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung (§ 98 Abs. 1 InsO). Zur Durchsetzung dieser Pflichten können gegen die Organe Zwangsmittel nach § 98 Abs. 2 InsO verhängt werden. Gegen sie ist eine etwaige Postsperre nach § 99 InsO zu verhängen. Schließlich unterliegen sie den Strafvorschriften der §§ 283 ff. StGB. Bezüglich der verfahrensrechtlichen Pflichten als Schuldner unterliegen die Organmitglieder im Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Charakter dieser Pflichten keinen Weisungen durch die Gesellschafterversammlung bzw. Zustimmungsvorbehalten des Aufsichtsrats oder der Haupt-/Gesellschafterversammlung22 . Die genannten Pflichten sind zugleich organschaftliche Pflichten nach §§ 93 Abs. 1, 116 AktG, § 43 Abs. 1 GmbHG, zu denen die Vertretungs- oder Aufsichtsorgane auch der Gesellschaft bzw. juristischen Person gegenüber verpflichtet sind. Verletzungen notwendiger Mitwirkungspflichten können daher eine Haftung gegenüber der juristischen Person nach §§ 93 Abs. 2, 116 AktG, § 43 Abs. 2 GmbHG begründen, und andererseits können sie in der Insolvenz auch auf dieser Rechtsgrundlage vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden23. Die personenrechtlichen Beschränkungen für einen in Vermögensverfall geratenen Schuldner sind durch das neue Insolvenzrecht ohnehin im Hinblick auf das einheitliche Insolvenzverfahren reduziert worden; so wurde etwa der zwingende Ausschluss von der elterlichen Vermögenssorge und vom Amt des Vormunds (§§ 1670, 1781 Nr. 3 a. F. BGB) abgeschafft; für das Amt des Schöffen (§ 33 Nr. 5 GVG) ist der bewusst „weicher“ gefasste Begriff des „Vermögensverfalls“ ebenfalls kein zwingender Ausschlussgrund mehr. Jedenfalls treffen diese Beschränkungen nicht die Mitglieder des Vertretungsorgans in ihrer Eigenschaft als Privatpersonen.

20 Dazu Uhlenbruck, KTS 1997, 371, 384 ff.; zu den insolvenzrechtlichen Kooperationspfl ichten der Beteiligten ausführlich Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, 1999, S. 853 ff. 21 Dazu Uhlenbruck, KTS 1997, 371, 386 f. sowie zum alten Recht BVerfG v. 13. 1. 1981, BVerfGE 56, 37, 49 ff. = NJW 1981, 1431. 22 Uhlenbruck, GmbHR 1972, 170, 174. 23 OLG Hamm v. 15. 10. 1979, ZIP 1980, 280.

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Die Mitglieder des Vertretungsorgans nehmen andererseits die dem Schuldner zustehenden Rechte und Befugnisse wahr. Anders als bei den verfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten unterliegen die Geschäftsführer hier etwaigen Weisungsrechten oder Zustimmungsvorbehalten seitens der Gesellschafterversammlung oder des Aufsichtsrats24. So sind die vertretungsbefugten Organmitglieder etwa berechtigt, Beschwerde nach den §§ 6, 7, 34, 253 InsO einzulegen. Jedes Mitglied des Vertretungsorgans ist antragsbefugt nach den § 99 Abs. 3 Satz 1 (Aufhebung der Postsperre), § 158 Abs. 2 Satz 2 (Verhinderung der Stillegung eines Unternehmens), § 161 Satz 2 i. V. m. § 160 (Verhinderung des Verkaufs des Unternehmens durch Insolvenzverwalter oder sonstiger Maßnahmen von besonderer Bedeutung), § 186 (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand), § 247 Abs. 1 (Widerspruchsrecht gegen Insolvenzplan), §§ 212, 213 InsO (Einstellung des Verfahrens). Auch sind sie zur Vorlage eines Insolvenzplans nach § 218 Abs. 1 Satz 1 InsO zuständig. In allen diesen Fällen ist eine etwaige Gesamtvertretungsmacht zu beachten; das ist nur im Rahmen des Eröffnungsantrages im Hinblick auf die dort bestehende Sonderregelung des § 15 Abs. 1 InsO anders. In allen Fällen, in denen dem Schuldner ein Anhörungsrecht zusteht, sind bei einer juristischen Person deren Vertretungsorgane in Form aller ihrer Mitglieder zu hören (§§ 10 Abs. 2, 14 Abs. 2, 15 Abs. 2 Satz 2 InsO). Anderen Organen der juristischen Person – etwa dem Aufsichtsrat und seinen Mitgliedern oder der Haupt-/Gesellschafterversammlung – stehen diese Rechte ebenso wenig zu wie den Mitgliedern (Gesellschaftern) selbst. Im Insolvenzverfahren über das Vermögen der juristischen Person können deren Vertretungsorgane als Zeugen gehört werden25. Das Einsichtsrecht aus § 99 Abs. 2 InsO und das Widerspruchsrecht im Prüfungstermin nach §§ 176, 178 Abs. 1 Satz 2, 184 InsO steht den Mitgliedern des Vertretungsorgans ebenfalls zu. Insbesondere die Unterlassung des Widerspruchs im Prüfungstermin kann im Hinblick auf die dann nach § 201 Abs. 2 InsO bestehende Möglichkeit, nach Aufhebung des Verfahrens aus dem Tabelleneintrag die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner zu betreiben, zu Schadenersatzansprüchen der juristischen Person führen. Auch das Recht auf Verschwiegenheit eines Dritten geht jedenfalls, soweit es sich auf massebezogene Rechte bezieht, auf den Insolvenzverwalter 24 Ebenso Haas, in: FS Konzen, 2006, S. 157, 161; Henssler, ZInsO 1999, 121, 126; zum Insolvenzantragsrecht Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 15 InsO Rn. 1 ff. 25 BFH v. 22. 1. 1997, BFHE 182, 269 = NJW-RR 1998, 63 f. = ZIP 1997, 797 f.; Karsten Schmidt, in: Scholz, GmbH-Gesetz, 9. Aufl. 2002, vor § 64 GmbHG Rn. 62.

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über26. Dieser kann daher etwa den Abschlussprüfer von seiner Verschwiegenheitspflicht entbinden. Nach anderer Auffassung steht das Recht auf Verschwiegenheit eines Dritten als höchstpersönlicher, nichtvermögensrechtlicher Anspruch den Geschäftsleitern auch über den Zeitpunkt der Auflösung durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinaus zu27. Dann dürfte in einem Strafverfahren gegen den Geschäftsführer einer im Insolvenzverfahren befindlichen GmbH der für die Gesellschaft tätig gewesene Wirtschaftsprüfer das Zeugnis nur dann nicht verweigern, wenn ihn neben dem Insolvenzverwalter für die Gesellschaft28 auch der angeklagte Geschäftsführer von der Pflicht zur Verschwiegenheit entbindet29. bb) Mitglieder/Gesellschafter

Die Mitglieder/Gesellschafter können die sich aus der Mitgliedschaft ergebenden Rechte auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens insoweit ausüben, als nicht der Zweck des Insolvenzverfahrens entgegensteht. Sie behalten daher das Recht auf Teilnahme an den Mitglieder-/Gesellschafterversammlungen, das Stimmrecht, das Auskunftsrecht und das – gegebenenfalls an eine bestimmte Beteiligung geknüpfte – Recht, die Einberufung der Mitglieder-/Gesellschafterversammlung zu verlangen. Das Auskunftsrecht richtet sich unverändert gegen den Geschäftsleiter30. Das Recht auf Einsicht in Bücher und Schriften der Gesellschaft (§ 51a Abs. 1 GmbHG, enger § 131 Abs. 1 AktG) wird nur insoweit in Frage kommen, als es nicht zu einer unerträglichen Erschwerung der Insolvenzverwaltung führt; es richtet sich nach wie vor gegen den Geschäftsleiter selbst31. Auskunfts- wie Einsichtsrecht beziehen sich zudem typischerweise nur auf den Zeitraum bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens, weil danach die Informationsrechte der Insolvenzgläubiger vorgehen32 . Ein Recht, auf den Insolvenzverwalter bei der 26 RG v. 15. 11. 1904, RGZ 59, 85, 87; OLG Oldenburg v. 28. 5. 2004, NJW 2004, 2176 = NStZ 2004, 570 = ZIP 2004, 1968, 1969; Grüneberg (Fn. 7), S. 149 ff. 27 LG Saarbrücken v. 26. 5. 1995, wistra 1995, 239. 28 Dazu LG Düsseldorf v. 18. 3. 1958, NJW 1958, 1152. 29 OLG Schleswig v. 27. 5. 1980, NJW 1981, 294. 30 BayObLG v. 8. 4. 2005, NZG 2006, 67 = NZI 2005, 631 = ZIP 2005, 1087 (kein Informationsrecht gegen den Verwalter bzgl. Angelegenheiten nach Verfahrenseröffnung); abw. OLG Hamm v. 25. 10. 2001, NZG 2002, 178, 179; LG Wuppertal v. 10. 12. 2002, NJW-RR 2003, 332 (gegen Gesellschaft vertreten durch Verwalter); Haas (Fn. 24), S. 157, 163: gegen Gesellschaft, vertreten durch den Verwalter bzw. gegen den Verwalter. 31 Nicht zwischen beiden Rechten differenzierend Haas (Fn. 24), S. 157, 163. 32 BayObLG v. 8. 4. 2005, NZG 2006, 67 = NZI 2005, 631 = ZIP 2005, 1087; OLG Hamm v. 25. 10. 2001, NZG 2002, 178, 181; Haas (Fn. 24), S. 157, 164; Robrecht, GmbHR 2002, 692, 693.

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Verwertung der Masse Einfluss zu nehmen, steht den Mitgliedern aber nur in den vom Insolvenzrecht gesetzten Grenzen zu, also indirekt über eine Einflussnahme auf das Vertretungsorgan, soweit diese gesellschafts- oder verbandsrechtlich zulässig oder erforderlich ist. cc) Beschlussanfechtungsklagen

In einem Anfechtungsprozess, der die Insolvenzmasse berührt, wird die Gesellschaft vom Insolvenzverwalter allein vertreten33. Dabei ist er nach der Amtstheorie selbst Partei und nicht Vertreter der Gesellschaft. So ist der Insolvenzverwalter etwa Anfechtungsgegner, wenn ein Kapitalerhöhungsbeschluss angefochten wird und die Durchführung der Kapitalerhöhung in das Handelsregister eingetragen und damit wirksam geworden ist (§ 189 AktG). Wird durch einen Anfechtungsprozess die Insolvenzmasse nicht berührt, so sind die satzungsmäßigen Organe der Gesellschaft zur Vertretung berufen34. Das gilt etwa für die Anfechtung der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern einer Aktiengesellschaft35. Gleiches gilt wegen § 120 Abs. 2 Satz 2 AktG für die Anfechtung einer Entlastung36. Wird mit der Anfechtungsklage die Beseitigung eines der Insolvenzmasse nachteiligen Beschlusses angestrebt, wirkt er sich im Falle eines Erfolges zwar auf die Insolvenzmasse aus, aber nur positiv; es gehört daher nicht zu den Aufgaben eines Insolvenzverwalters, einen solchen Beschluss zu verteidigen37. Dies gilt auch für die Anfechtung eines Entlastungsbeschlusses bei GmbH oder Genossenschaft; ihre materiellrechtlich weiterreichende Wirkung führt daher nicht dazu, dass die Klage gegen den Insolvenzverwalter zu richten wäre. An der Aktivlegitimation der Gesellschafter in einem Anfechtungsprozess ändert sich durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens freilich nichts. Das Recht des Vorstands zur Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen steht dem Insolvenzverwalter zu, wenn ein Hauptversammlungsbeschluss die Masse berührt. Insoweit geht das Recht des Vorstands nach § 245 Nr. 4 AktG auf den Insolvenzverwalter über38. Ansonsten verbleibt die An-

33 RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244, 246 ff.; BGH v. 10. 3. 1960, RGZ 32, 114, 121 = NJW 1960, 1006. 34 Haas (Fn. 24), S. 157, 166. 35 OLG Hamburg v. 5. 11. 1971, AG 1971, 403. 36 Weber (Fn. 18), §§ 207, 208 KO Rn. 35 a. E. 37 RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244, 249 f. 38 Haas (Fn. 24), S. 157, 167; Hüffer, AktG, 7. Aufl. 2006, § 245 AktG Rn. 29; Weber (Fn. 18), §§ 207, 208 KO Rn. 35; kritisch zur Begründung Noack, in: Kübler/Prütting, Insolvenzordnung, Sonderband 1 Gesellschaftsrecht (1999), Rn. 359.

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fechtungsbefugnis beim Vorstand39. Für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage durch den Vorstand (§ 249 Abs. 1 AktG) gelten dieselben Grundsätze. Eine bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens anhängige Anfechtungsklage gegen einen Gesellschaftsbeschluss wird durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens insoweit unterbrochen (§ 240 ZPO), als sein Ausgang Auswirkungen auf die Masse hat. Das sind dieselben Fälle, in denen der Insolvenzverwalter anstelle der Gesellschaftsorgane den Prozess zu führen hat (vgl. zuvor am Anfang dieses Gliederungspunkts cc). Nach neuem Insolvenzrecht gehört dazu auch die Anfechtungsklage gegen eine vor Verfahrenseröffnung beschlossene, aber noch nicht eingetragene Kapitalerhöhung, da sie wegen § 35 InsO (heute) nicht mehr insolvenzfreies Vermögen erzeugt. c) Eigenverwaltung

Die Eigenverwaltung unter Aufsicht eines Sachwalters (§§ 270 ff. InsO) darf angeordnet werden, wenn sich daraus im konkreten Fall keine Nachteile für die Gläubiger ergeben (§ 270 Abs. 2 Nr. 3 InsO). Solche Nachteile sind zu bejahen, wenn der geschäftsführende Gesellschafter im Eröffnungsverfahren fehlerhafte Angaben zu Erstattungsansprüchen nach § 64 Abs. 2 GmbHG macht40. Im Verfahren der Eigenverwaltung behalten die Geschäftsleiter – jedenfalls grundsätzlich – ihre Kompetenzen. Als Folge der Auflösung sind sie aber nunmehr als Abwickler tätig. Da die allgemeine gesellschaftsrechtliche Kompetenzverteilung erhalten bleibt, greifen auch die sich aus der Holzmüller-Rechtsprechung41 ergebenden Schranken für die Geschäftsführungsbefugnis von Vorstandsmitgliedern42 . Allerdings soll die juristische Person Verbindlichkeiten, die nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, nur mit Zustimmung des Sachwalters eingehen (§ 275 Abs. 1 Satz 1 InsO). Verbindlichkeiten, die zum gewöhn-

39 RG v. 6. 5. 1911, RGZ 76, 244, 246 ff.; Einzelheiten bei Robrecht, DB 1968, 471, 473 ff. 40 AG Köln v. 17. 9. 1999, ZIP 1999, 1646 = DStR 2000, 212 (Haas). 41 BGH v. 25. 2. 1982, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568 = NJW 1982, 1703 (Holzmüller). 42 LG Duisburg v. 21. 8. 2003, ZIP 2004, 76 = NZG 2004, 195 (Babcock Borsig), wegen fehlender Kontinuität des Minderheitsquorums aufgehoben durch OLG Düsseldorf v. 16. 1. 2004, NZG 2004, 239 = EWiR § 122 AktG 1/04, 261 (Vetter) = DStR 2004, 2023 (Ls.) (Wälzholz); ebenso Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 602 (der allerdings – S. 603 f. – für die Totalversilberung des Vermögens eine – nicht überzeugende – Ausnahme machen will); abw. Noack, ZIP 2002, 1873, 1878 (wegen fehlender Bedeutung der zu veräußernden Vermögenswerte); Prütting/Huhn, ZIP 2002, 777, 778 ff.

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lichen Geschäftsbetrieb gehören, soll er nicht eingehen, wenn der Sachwalter widerspricht (§ 275 Abs. 1 Satz 2 InsO). Ungeklärt ist, ob sich die Vergütung der in der juristischen Peron tätigen Geschäftsleiter hinsichtlich ihrer Höhe nach dem Gesellschaftsrecht (dann mit Blick auf den Abwicklungszweck gering) oder dem Insolvenzrecht (dann Erfolgskomponente wie bei Insolvenzverwalter) richtet; die Frage ist vor allem mit Blick darauf von Bedeutung, dass die Geschäftsleitung im Rahmen der Eigenverwaltung nicht selten von Personen wahrgenommen wird, die sonst als Insolvenzverwalter tätig sind.

2. Insbesondere: Insolvenz von Aktiengesellschaft und GmbH Nach diesen Überlegungen zum Körperschaftsrecht allgemein nun ein Blick auf die besonderen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang im Aktienrecht stellen bzw. gestellt haben. Das kann naturgemäß nur exemplarisch geschehen. a) Organe

Kündigt der Insolvenzverwalter den Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitglieds43, so kann dieser Ersatz des Schadens, der ihm durch die Aufhebung des Dienstverhältnisses entsteht, nur für zwei Jahre seit dem Ablauf des Dienstverhältnisses verlangen (§ 87 Abs. 3 AktG). Anstelle einer Kündigung kann der Aufsichtsrat auch eine angemessene Herabsetzung der Gesamtbezüge des Vorstands bei Fortbestand des Anstellungsvertrages im Übrigen beschließen (§ 87 Abs. 2 AktG); dieses Recht steht auch während des Insolvenzverfahrens dem Aufsichtsrat zu44. Eine solche Kürzung kann zwar nicht allein auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestützt werden; doch werden die dazu berechtigenden Gründe häufig auch schon im Vorfeld einer Insolvenz vorhanden sein. Ist eine Kürzung geboten, kann es eine Pflichtverletzung darstellen, wenn der Aufsichtsrat sie unterlässt45. Etwaige Schadenersatzansprüche nach §§ 93, 116 AktG sind in diesem Fall vom Insolvenzverwalter als Gesamtschaden nach § 92 Satz 1 InsO geltend zu machen46. Die Mitglieder des Aufsichtsrats behalten ihr Amt auch nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens (arg. auch der frühere § 104 GenG, nach dem 43 44 45 46

Dazu allgemein Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 125 ff. Noack (Fn. 38), Rn. 366. Mertens, in: KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1996, § 87 AktG Rn. 15. Noack (Fn. 38), Rn. 367.

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im Falle der Konkurseröffnung über das Vermögen einer Genossenschaft die Generalversammlung zur Beschlussfassung darüber einzuberufen war, „ob die bisherigen Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats beizubehalten oder andere zu bestellen sind“). Auch scheidet eine „Kündigung“ aus47, zumal es schon an einer § 87 Abs. 3 AktG vergleichbaren Norm für den Aufsichtsrat fehlt. Aber ihr Aufgabenkreis wird durch die Insolvenz stark eingeengt48. So haben sie weiterhin die Tätigkeit des Vorstandes hinsichtlich des insolvenzfreien Bereiches der AG zu überwachen (§§ 111 Abs. 1, 268 Abs. 2 AktG; § 52 Abs. 1 GmbHG). Die praktische Bedeutung dieser Aufgabe ist allerdings gering49. Denn bezüglich der verfahrensrechtlichen Pflichten nach der InsO unterliegen die Geschäftsleiter im Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der Schuldnerpflichten keiner Mitwirkung des Aufsichtsrats50. Gegenüber dem Insolvenzverwalter steht dem Aufsichtsrat jedoch kein Kontroll- oder Überwachungsrecht zu; auch ein Informationsrecht gegenüber dem Insolvenzverwalter hat er nicht. Der Aufsichtsrat kann auch nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens die Bestellung eines Vorstandsmitglieds aus wichtigem Grund widerrufen (§ 84 Abs. 3 AktG). Auch neue Vorstandsmitglieder kann er bestellen (§ 84 Abs. 1 AktG)51. Ein Anstellungsvertrag zwischen dem Bestellten und dem Insolvenzverwalter kommt dadurch jedoch nicht automatisch zustande52 . Vielmehr ist auch hier zwischen Bestellung und Anstellung streng zu trennen. Das Bestellungsrecht der Hauptversammlung nach § 265 Abs. 2 Satz 1 AktG greift nicht ein, da keine Abwicklung stattfindet. Weiter hat der Aufsichtsrat nach wie vor das Recht, nach § 111 Abs. 3 AktG die Hauptversammlung einzuberufen53. Bezüglich der Vergütung ist die Lage beim Aufsichtsrat anders als beim Vorstand. Denn im Gegensatz zum Vorstandsmitglied tritt neben die 47 RG v. 14. 2. 1913, RGZ 81, 332, 337. 48 RG v. 14. 2. 1913, RGZ 81, 332, 337. 49 RG v. 14. 2. 1913, RGZ 81, 332, 338; Robrecht, DB 1968, 471, 472 f.; Oechsler, AG 2006, 606. 50 Uhlenbruck, GmbHR 1972, 170, 174; ausführlich zur Stellung des Aufsichtsrats in der Insolvenz der AG: Oechsler, AG 2006, 606 ff.; D. Schneider, in: FS Oppenhoff, 1985, S. 349 ff.; Weber, KTS 1970, 73, 78 ff. 51 OLG Nürnberg v. 20. 3. 1990, NJW-RR 1992, 230, 232 = ZIP 1991, 1020, 1021 = EWiR § 12 MontMitbestG 1/91, 1007 (K. Müller) (Maxhütte); Haas (Fn. 24), S. 157, 161. 52 So aber obiter OLG Nürnberg, ebda.: dort fehlte es aber an dem erforderlichen Aufsichtsratsbeschluss, so dass das Gericht den Abschluss eines Beratervertrages mit dem Vorstandsvorsitzenden annahm; Hüffer (Fn. 38), § 264 AktG Rn. 11. 53 RG v. 14. 2. 1913, RGZ 81, 332, 337; Weber (Fn. 18), §§ 207, 208 KO Rn. 31.

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Bestellung kein gesonderter Anstellungsvertrag54. Eine (eventuelle) Vergütung für die Aufsichtsratstätigkeit kann vielmehr aus Gründen der Transparenz nur in der Satzung oder durch Beschluss der Hauptversammlung festgelegt werden (§ 113 Abs. 1 AktG). Daraus folgt zunächst, dass keine „Kündigung“ der „Vergütungsvereinbarung“ nach § 113 Abs. 1 InsO möglich ist. Da die Organstellung weiterbesteht, kommt auch ein Erlöschen des Vergütungsanspruchs in unmittelbarer Anwendung von § 116 InsO nicht in Betracht55. Auch § 115 Abs. 2 InsO kommt nicht zum Zuge. Gleichwohl können die Aufsichtsratsmitglieder für ihre Tätigkeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus der Insolvenzmasse keine Vergütung beanspruchen])56. Denkbar ist freilich eine Übernahme der Prämien für eine D & O-Versicherung, wenn und soweit diese im Interesse der Gesellschaft – und damit auch der Masse – liegt57. Mit ihren aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens rückständigen Ansprüchen sind die Aufsichtsratsmitglieder Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO). Eine Privilegierung als Masseverbindlichkeiten, wie sie für die Bezüge des Geschäftsleiters möglich ist58, scheidet hier aus; dafür spricht auch, dass für Aufsichtsratsvergütungen im Gegensatz zu Geschäftsleiterbezügen schon zum alten Recht eine Bevorrechtigung nach § 61 Abs. 1 Nr. 1 KO verneint wurde59. Die Haupt- oder Gesellschafterversammlung kann auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens neue Aufsichtsratsmitglieder wählen (§ 101 AktG) oder abberufen (§ 103 AktG). Auch eine gerichtliche Bestellung von fehlenden Aufsichtsratsmitgliedern nach § 104 AktG bleibt möglich, ohne dass 54 Hirte, Kapitalgesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2006, Rn. 3.189; Hüffer (Fn. 38), § 101 AktG Rn. 2; Mertens (Fn. 45), § 101 AktG Rn. 5, § 113 AktG Rn. 8; Semler, in: MünchKomm.AktG, 2. Aufl. 2004, § 101 AktG Rn. 156, 159; abw. Grunewald, Gesellschaftsrecht, 6. Aufl. 2005, S. 265 Rn. 85. 55 Ebenso Henckel, in: Jaeger/Henckel (Fn. 18), § 23 KO Rn. 14; Oechsler, AG 2006, 606, 607 ff.; Ulmer (Fn. 15), § 63 GmbHG Rn. 103; abw. Weber (Fn. 18), §§ 207, 208 KO Rn. 32; Weber, KTS 1970, 73, 84. 56 I. E. ebenso RG v. 14. 2. 1913, RGZ 81, 332, 338; Noack (Fn. 38), Rn. 342; Oechsler, AG 2006, 606, 607 ff.; Karsten Schmidt (Fn. 25), vor § 64 GmbHG Rn. 67; Ulmer (Fn. 15), § 63 GmbHG Rn. 103; Weber (Fn. 18), §§ 207, 208 KO Rn. 32; abw. H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, 2002, S. 161 (Anwendung von § 113 InsO auf den schuldrechtlichen Teil der Bestellung). Auch Aufwendungsersatzansprüche nach § 670 BGB sind ausgeschlossen (Oechsler, AG 2006, 606, 608 ff. [dort auch zu denkbaren Ausnahmen]). 57 Insoweit etwas zu restriktiv Oechsler, AG 2006, 606, 610 f. 58 Dazu Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 127. 59 RG v. 13. 3. 1928, RGZ 120, 300, 302; BGH v. 6. 4. 1964, BGHZ 41, 282, 288 = NJW 1964, 1367.

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der Insolvenzverwalter insoweit ein Beschwerderecht hätte60; entsprechend sind auch die Kosten dieses Verfahrens nicht von der Masse zu tragen61. Da die fehlende Honorierbarkeit während des Insolvenzverfahrens die Attraktivität der Aufsichtsratstätigkeit nicht gerade steigert und die Gefahr mit sich bringt, dass unqualifi zierte Aufsichtsratsmitglieder gewählt oder nach § 104 AktG bestellt werden, soll dieses Verfahren ausgesetzt werden können, solange kein Bedarf für eine Aufsichtsratstätigkeit besteht62 . Gleiches gilt für Bestellung und Abberufung neuer Geschäftsführer durch die Gesellschafterversammlung der GmbH (§ 46 Nr. 5 GmbHG). Auch können Haupt- oder Gesellschafterversammlung den Mitgliedern der Verwaltung nach wie vor Entlastung erteilen oder sie verweigern; doch wirkt der – nur bei der GmbH mögliche (§ 120 Abs. 2 Satz 2 AktG) – in der Entlastung liegende Verzicht auf Regressansprüche63 wegen § 80 InsO nicht gegenüber der Insolvenzmasse64. Die Gesellschafterversammlung kann weiter beschließen, dass Ersatzansprüche, die der Insolvenzverwalter aus der Masse freigibt, geltend gemacht werden sollen; bei der AG ist ein entsprechendes Minderheitsverlangen in der Hauptversammlung nach § 147 AktG zulässig. Der Hauptversammlung bleibt auch das Recht, nach § 142 Abs. 1 AktG Sonderprüfer zu bestellen65. Auch das Minderheitsrecht zur Bestellung eines Sonderprüfers (§ 142 Abs. 2 AktG) bleibt von der Verfahrenseröffnung unberührt. Denn der Insolvenzverwalter kann nur mit Wirkung für die Insolvenzmasse auf Regressansprüche gegen Organmitglieder verzichten und von einer Sonderprüfung absehen. Daher erlischt ein vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erteilter Sonderprüfungsauftrag nur mit Wirkung gegenüber der Insolvenzmasse (§§ 115 Abs. 1, 116 InsO). Die Kosten einer etwaigen Haupt- oder Gesellschafterversammlung begründen, da erst nach Verfahrenseröffnung entstanden (§ 38 InsO), keine Insolvenzforderungen; sie stellen auch keine Masseverbindlichkeiten dar, da sie nicht der Verwaltung, Verwertung oder Verteilung der Masse (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO) dienen. Das gilt auch für die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder66. Die Kosten können daher erst nach Beendigung des Verfahrens beglichen werden, wenn sie nicht von den (gegebenenfalls künftigen) Gesellschaftern persönlich getragen werden.

60 61 62 63 64 65 66

KG v. 4. 8. 2005, ZIP 2005, 1553, 1555 = ZInsO 2005, 991. Oechsler, AG 2006, 606, 611. So Oechsler, AG 2006, 606, 612 f. BGH v. 4. 11. 1968, NJW 1969, 131. Noack (Fn. 38), Rn. 338; abw. KG v. 5. 5. 1959, GmbHR 1959, 257. Str.; abw. Weber, KTS 1970, 73, 78. Oechsler, AG 2006, 606, 611.

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Wird über das Vermögen einer AG vor der zu einer Nachgründung erforderlichen Zustimmung der Hauptversammlung (§ 52 AktG) ein Insolvenzverfahren eröffnet, so ist statt der Zustimmung der Hauptversammlung diejenige des Insolvenzverwalters erforderlich. Denn das Zustimmungserfordernis bezweckt die Erhaltung des Grundkapitals und gehört damit zu den vom Insolvenzverwalter wahrzunehmenden Vermögensinteressen der Gesellschaft67. Der Vorstand oder die Gesellschafterversammlung (oder ein anderes satzungsmäßig dazu berufenes Organ) sind auch nach wie vor zuständig, die Abtretung von Aktien bzw. Geschäftsanteilen nach § 68 Abs. 2 AktG, § 15 Abs. 5 GmbHG zu genehmigen68. Die Haftung des Altgesellschafters für rückständige Einlageverpflichtungen bei teileingezahlten Anteilen bleibt davon allerdings unberührt69. Die innergesellschaftlich dafür zuständigen Organe können bei Vorliegen der gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen auch eine Einziehung von Anteilen beschließen (§ 237 Abs. 1 AktG, § 34 Abs. 1 und 2 GmbHG)70. Auch ein Ausschluss von Minderheitsaktionären nach §§ 327a ff. AktG dürfte noch zulässig sein71. Die Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung kann im Innenverhältnis auch über die Vorlage eines Insolvenzplans, über die Zustimmung zu einem Insolvenzplan72 oder über einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens (§ 213 Abs. 1 InsO) beschließen; hat die Maßnahme für die Gesellschaft wesentliche Bedeutung, muss sie dies auch73. b) Satzungsänderungen und Kapitalmaßnahmen

Haupt- oder Gesellschafterversammlung können auch Satzungsänderungen beschließen (§ 179 AktG, § 53 GmbHG), sofern sie sich nicht auf Gegenstände bezieht, die – wie die Firma – dem Insolvenzbeschlag unter67 Hüffer (Fn. 38), § 52 AktG Rn. 15; Noack (Fn. 38), Rn. 360; Weber (Fn. 18), §§ 207, 208 KO Rn. 34; abw. noch BayObLG v. 22. 5. 1925, BayObLGZ 24 (1925), 183, 186 f. = JW 1925, 1646 f. 68 Haas (Fn. 24), S. 157, 161; zur entsprechenden Frage bei Insolvenz des Gesellschafters Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 55. 69 § 65 Abs. 1 AktG (subsidiär), § 16 Abs. 3 GmbHG; daher zu Unrecht abw. RG v. 15. 12. 1909, RGZ 72, 290, 293. 70 Haas (Fn. 24), S. 157, 162. 71 So für das Liquidationsstadium BGH v. 18. 9. 2006 – II ZR 225/04, NZG 2006, 905 = ZIP 2006, 2080, 2081. 72 Ebenso zum früheren Zwangsvergleich Siegelmann, DB 1967, 1029 f.; Hüffer, in: Geßler/Hefermehl/Eckardt/Kropff, Aktiengesetz, § 264 AktG Rn. 39. 73 Im Anschluss an BGH v. 25. 2. 1982, BGHZ 83, 122 = ZIP 1982, 568 = NJW 1982, 1703 (Holzmüller); ebenso Noack (Fn. 38), Rn. 384.

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liegen74. Nach einer Unternehmensveräußerung samt Firma ist eine Änderung jedoch unproblematisch möglich. Hier wie bei allen diesen Maßnahmen ist jedoch vor einem Fortsetzungsbeschluss der durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geänderte Gesellschaftszweck zu beachten. Daher ist die Sitzverlegung einer aufgelösten Gesellschaft nur aus besonderen, im Interesse der Abwicklung liegenden Gründen möglich75. Möglich ist schließlich, im eröffneten Insolvenzverfahren eine effektive Kapitalerhöhung (§§ 182 ff. AktG, §§ 55 ff. GmbHG) zu beschließen76. Gleiches gilt für den Vorstand im Rahmen genehmigten Kapitals (§§ 202 ff. AktG). Dies ist insbesondere im Rahmen eines Insolvenzplans von Interesse77. Die damit der Gesellschaft zugeführten Mittel fallen nach neuem Recht (§ 35 InsO) in die Insolvenzmasse78. Daraus folgt, dass in einem solchen Fall auch die Anmeldung zum Handelsregister durch den Insolvenzverwalter erfolgen muss; zudem muss dieser – und nicht der Geschäftsleiter – bestätigen, dass die neuen Einlagen zu seiner freien Verfügung geleistet wurden (§ 37 Abs. 1 Satz 2 AktG, § 8 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 7 Abs. 3 GmbHG)79. Eine vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erteilte Ermächtigung zur Kapitalerhöhung im Rahmen genehmigten Kapitals (§§ 202 ff. AktG) erlischt mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Gesellschaft80. Ob auch in einer solchen Extremsituation die Gesellschafter noch zu Leistungen herangezogen werden dürfen, ist allein Angelegenheit der Hauptversammlung81. Eine Ermächtigung für

74 OLG Karlsruhe v. 8. 1. 1993, ZIP 1993, 133 = EWiR § 63 GmbHG 1/93, 385 (Kirberger); Haas (Fn. 24), S. 157, 162; Uhlenbruck, ZIP 2000, 401, 403; Ulmer (Fn. 15), § 63 GmbHG Rn. 95. 75 LG Berlin v. 23. 4. 1999, ZIP 1999, 1050 für nach § 1 Abs. 1 LöschG (jetzt § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG) aufgelöste GmbH. 76 BGH v. 23. 5. 1957, BGHZ 24, 279, 286 = NJW 1957, 1279 ff. (AG); Haas (Fn. 24), S. 157, 162; Kalter, KTS 1955, 58, 59; Robrecht, DB 1968, 471, 472; Karsten Schmidt (Fn. 25), vor § 64 GmbHG Rn. 65; Ulmer (Fn. 15), § 55 GmbHG Rn. 28, § 63 GmbHG Rn. 95; Weber (Fn. 18), §§ 207, 208 KO Rn. 31; abw. OLG Bremen v. 5. 7. 1957, GmbHR 1958, 180 = NJW 1957, 1560. 77 LG Heidelberg v. 16. 3. 1988, ZIP 1988, 1257 f. = EWiR § 186 AktG 1/88, 945 (Timm) (Rückforth). 78 Einzelheiten bei Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 35 InsO Rn. 116. 79 Dazu Gundlach/Frenzel/Schmidt, DStR 2006, 1048, 1049; Hirte, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung (Fn. 6), S. 1253, 1279; Kautz, Die gesellschaftsrechtliche Neuordnung der GmbH im künftigen Insolvenzrecht, 1995, S. 249 f.; abw. Kuntz, DStR 2006, 1050, 1051. 80 Hirte, in: Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2001, § 202 AktG Rn. 205. 81 Hirte (Fn. 80), § 202 AktG Rn. 205; Lutter, in: KölnKomm.AktG, 2. Aufl. 1995, § 202 AktG Rn. 17; ders., in: FS Schilling, 1973, S. 207, 232.

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diesen Fall kann – auch ausdrücklich – nicht erteilt werden82 . In der GmbH können zum Zweck der Fortsetzung auch während des Insolvenzverfahrens von den Gesellschaftern Nachschüsse (§§ 26 ff. GmbHG) beschlossen werden, soweit dies die Satzung zulässt83. Der Insolvenzverwalter kann einen solchen Nachforderungsbeschluss aber nicht erzwingen; denn damit würde er in die Kompetenz der Gesellschafter eingreifen84. Wegen der typischerweise vorliegenden Überschuldung ist es aber nicht möglich, eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§§ 207 ff. AktG, §§ 57c ff. GmbHG) im eröffneten Insolvenzverfahren zu beschließen85. War eine Kapitalerhöhung allerdings vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschlossen, aber noch nicht zum Handelsregister angemeldet, so wird sie durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht unwirksam86. Der Insolvenzverwalter ist aber nicht anstelle der Geschäftsleiter zur Anmeldung und damit zur Herbeiführung der Rechtsverbindlichkeit legitimiert87. Deshalb steht es bis zum Abschluss eines Übernahmevertrages den Gesellschaftern auch frei, den Kapitalerhöhungsbeschluss wieder aufzuheben88. Der Übernahmevertrag mit dem Zeichner besteht in diesem Fall trotz Insolvenzeröffnung fort, doch kann er bei einer trotz Insolvenz fortgesetzten Kapitalerhöhung seine rechtliche Bindung aus wichtigem Grund kündigen89. Gleiches gilt für andere Satzungsänderungen. Sobald eine Kapitalerhöhung aber angemeldet und eingetragen ist, kann der Insolvenzverwalter die dann entstandenen Einlageansprüche geltend machen. 82 Hirte (Fn. 80), § 202 AktG Rn. 205; etwas weiter Lutter (Fn. 81), § 202 AktG Rn. 17 a. E. 83 Haas (Fn. 24), S. 157, 162; Kalter, KTS 1955, 58, 59; enger Weber, KTS 1970, 73, 80 (nur bei Einstellung nach § 213 InsO oder nach Bestätigung eines Insolvenzplans, der den Fortbestand der juristischen Person vorsieht). 84 BGH v. 6. 6. 1994, DStR 1994, 1129. 85 Hirte, in: Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1999, § 207 AktG Rn. 156. 86 Abw. RG v. 20. 10. 1911, RGZ 77, 152; RG v. 26. 6. 1914, RGZ 85, 205, 207 f.; BGH v. 7. 11. 1994, NJW 1995, 460 = ZIP 1995, 28, 29 = KTS 1995, 270 f. = EWiR § 188 AktG 1/95, 107 (von Gerkan); OLG Bremen v. 5. 7. 1957, NJW 1957, 1560; OLG Hamm v. 19. 5. 1979, WM 1979, 1277. 87 Inzident BGH v. 7. 11. 1994, NJW 1995, 460 = ZIP 1995, 28, 29 = KTS 1995, 270 f. = EWiR § 188 AktG 1/95, 107 (von Gerkan); explizit BayObLG v. 17. 3. 2004, NZG 2004, 582 = GmbHR 2004, 669; Kuntz, DStR 2006, 1050, 1051; Robrecht, GmbHR 1982, 126, 127; Wiedemann, in: Großkomm.AktG, 4. Aufl. 1995, § 182 AktG Rn. 95; Winnefeld, BB 1976, 1202, 1204; abw. Schulz, KTS 1986, 389, 399 ff. 88 Kuntz, DStR 2006, 1050; Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 605; z. T. enger Gundlach/Frenzel/Schmidt, DStR 2006, 1048, 1049. 89 Lutter, in: FS Schilling (Fn. 81), S. 207, 221; Kuntz, DStR 2006, 1050 f.; abw. Gundlach/Frenzel/Schmidt, DStR 2006, 1048, 1049.

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Eine vor Verfahrenseröffnung beschlossene Umwandlung kann demgegenüber nur gemeinsam von Gesellschaftsorganen und Insolvenzverwalter angemeldet werden, da sie zur automatischen Beendigung des Verfahrens führen würde. Zulässig ist auch eine (isolierte) vereinfachte Kapitalherabsetzung („Buchsanierung“) nach §§ 229 ff. AktG, §§ 58a ff. GmbHG90. Die vereinfachte Kapitalherabsetzung darf insbesondere auch zum Bestandteil eines Insolvenzplans gemacht werden91. Auch eine sanierende Kapitalerhöhung (vereinfachte Kapitalherabsetzung, kombiniert mit Kapitalerhöhung; § 235 AktG, § 58f GmbHG) kommt in Betracht92 . Unzulässig ist demgegenüber eine effektive Kapitalherabsetzung; sie dürfte zudem während des Insolvenzverfahrens schon deshalb nicht praktisch durchführbar sein, weil das Sperr(halb)jahr abgewartet und die Gesellschaftsgläubiger befriedigt oder sichergestellt werden müssten (§ 225 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 58 Abs. 1 Nr. 3 GmbHG)93. Schließlich kann die Hauptversammlung, ebenfalls wieder typischerweise im Zusammenhang mit einem Insolvenzplan oder mit einer Einstellung des Insolvenzverfahrens die Fortsetzung der Gesellschaft beschließen (§ 274 Abs. 2 Nr. 1 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG)94. In Betracht kommt auch eine Umwandlung95.

III. Kapitalmarktrechtliche Pflichten96 Unter den kapitalmarktrechtlichen Fragestellungen nimmt die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität nach § 15 WpHG eine herausragende Rolle ein. Auf diese will ich mich daher hier konzentrieren, wobei ausdrücklich darauf hin90 BGH v. 9. 2. 1998, BGHZ 138, 71, 79 = NJW 1998, 2054, 2056 = ZIP 1998, 692, 694 = EWiR § 222 AktG 1/99, 49 (Dreher) (Sachsenmilch; für AG/GesO); dazu Hirte (Fn. 79), S. 1253, 1278 f. 91 Uhlenbruck, GmbHR 1995, 81, 85 f. 92 OLG Bremen v. 5. 7. 1957, NJW 1957, 1560; Hüffer (Fn. 38), § 222 AktG Rn. 24; Lutter (Fn. 81), § 222 AktG Rn. 53; Lutter/Hommelhoff/Timm, BB 1980, 737, 740 ff.; Karsten Schmidt, ZGR 1982, 519 ff. 93 Karsten Schmidt (Fn. 25), vor § 64 GmbHG Rn. 65. 94 Näher Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 153 ff. 95 Ausführlich Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 156 ff. 96 Der unter III. wiedergegebene Text basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen des Verfassers in ZInsO 2006, 1289, 1295 ff.; dem ZAP-Verlag für die Rechts- und Anwaltspraxis wird für die Genehmigung zum auszugsweisen Nachdruck gedankt.

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gewiesen sei, dass Fragestellungen etwa hinsichtlich der Beteiligungspublizität nach §§ 21 ff. WpHG gleich zu beurteilen sind97. Im Übrigen ist das Thema unerschöpflich: So sei nur auf das praktisch unerforschte Thema „IFRS und Insolvenzrecht“ verwiesen; und erwähnt sei die Frage, ob der Vorstand (oder der Insolvenzverwalter) während des Laufs des Insolvenzverfahrens eine Compliance-Erklärung nach § 161 AktG abzugeben hat, die zu verneinen ist: Denn die Erklärung dient dazu, die während des Insolvenzverfahrens gerade außer Kraft gesetzte normale Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft zur Kontrolle durch den Kapitalmarkt zu stellen98. Aus der jüngeren Diskussion sei schließlich noch auf eine Entscheidung des VGH Kassel verwiesen, nach der die Gebühren für die Notierung von Wertpapieren an einer Börse Masseverbindlichkeiten darstellen, wenn die Erfüllung des Gebührentatbestands nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegt99. Was die Aufgaben und Pflichten des Insolvenzverwalters im Zusammenhang mit der Ad-hoc-Publizität angeht, gilt es zwei Teilbereiche zu unterscheiden. Zum einen ist zu fragen, welche Pflichten einen Insolvenzverwalter treffen, der ein börsennotiertes Unternehmen führt. Dem ist für die Dauer des Eröffnungsverfahrens der vorläufige („starke“) Insolvenzverwalter gleichzustellen (dazu 1.)100; bei der gewöhnlichen vorläufigen Insolvenzverwaltung durch einen „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalter verbleiben die kapitalmarktrechtlichen Pflichten demgegenüber ausschließlich bei den Gesellschaftsorganen, und zwar ohne dass der Verwalter durch Zustimmungsvorbehalte ein Mitwirkungsrecht oder eine Mitwirkungspflicht bei der Erfüllung dieser öffentlich-rechtlichen Pflichten hätte101. Und zum zweiten ist zu überlegen, welche ad-hoc-publizitätspflichtigen Insiderinformationen in Insolvenznähe besondere Relevanz haben (dazu 2.).

97 Dazu demnächst Hirte, in: KölnKomm.WpHG, 2007, § 21 WpHG Rn. 67; vgl. auch Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1399 f., 1408 f. (unter anderem mit der Forderung einer – schon europarechtlich ausgeschlossenen – teleologischen Reduktion der Veröffentlichungspflichten mit Blick auf die Insolvenzsituation); Ott/ Brauckmann, ZIP 2004, 2117, 2121. 98 Hirte, in: Hirte (Hrsg.), Das Transparenz- und Publizitätsgesetz, 2003, Rn. 1.32; Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 601. 99 VGH Kassel v. 7. 3. 2006, ZIP 2006, 1311, 1312 (Kenvelo AG). 100 Abw. Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1400. 101 Abw. Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1400.

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1. Insolvenzverwalter als Geschäftsleiter eines börsennotierten Unternehmens a) Haftung des Emittenten aa) Wahrnehmung der Pflicht durch den Insolvenzverwalter

Für die erste Frage muss man sich zunächst klar machen, dass es bei der Pflicht zur Ad-hoc-Publizität um eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung geht. Derartige einen Schuldner treffende Pflichten werden weder durch die Stellung eines Insolvenzantrags noch durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens berührt102 . Daher gilt insoweit grundsätzlich nichts anderes als auch bei anderen öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen, die die Masse treffen, etwa im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts103: der Insolvenzverwalter hat sie für die Masse zu erfüllen (arg. auch § 155 Abs. 1 Satz 2 InsO)104. Dass es nicht um eine im Interesse der Gesellschafter zu erfüllende Pflicht geht, ergibt sich auch aus dem Charakter des Kapitalmarktrechts: Unter „Finanzinstrumenten“ versteht § 15 WpHG nämlich, wie sich aus § 2 Abs. 2b WpHG n. F. ergibt, auch – und für die hier diskutierten Fälle wohl in erster Linie – „Wertpapiere“. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpHG gehören zu diesen „Wertpapieren“ nicht nur Aktien (also Eigenkapitaltitel), sondern auch Schuldverschreibungen (also Fremdkapitaltitel); das ist für den Gesellschafts- und Kapitalmarktrechtler eine Selbstverständlichkeit, muss aber mit Blick auf teilweise aufgekommene Fehlvorstellungen105 ausdrücklich betont werden. Anders als im Gesellschaftsrecht, wo die Zuständigkeit der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung tatsächlich davon abhängt, ob Fragen der Eigenkapitalstruktur betroffen sind (etwa durch eine Kapitalerhöhung), geht es dem Kapitalmarktrecht ausschließlich um die Regelung der Pflichten der Gesellschaft als Marktteilnehmerin. Das ist rechtlich nicht viel anders als bei den öffentlich-rechtlichen Nor-

102 BVerwG v. 13. 4. 2005, BVerwGE 123, 203 = ZIP 2005, 1145, 1146 (Ott) (zu § 25 WpHG); VG Frankfurt/Main v. 29. 1. 2004, ZIP 2004, 469, 471 (Vorinstanz); ausdrücklich für § 15 WpHG M. Weber, ZGR 2001, 422, 425. 103 Dazu Lüke, in: Kübler/Prütting, Insolvenzordnung (Loseblatt/1998 ff.), § 60 InsO Rn. 54 ff. m. w. N. (Stand 8/00); Uhlenbruck, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 60 InsO Rn. 42 ff., § 80 InsO Rn. 114 ff. 104 Ebenso VG Frankfurt/Main v. 29. 1. 2004, ZIP 2004, 469 (zu den Mitteilungsund Veröffentlichungspfl ichten nach §§ 21 ff. WpHG); abw. BVerwG v. 13. 4. 2005, BVerwGE 123, 203 = ZIP 2005, 1145, 1148 (Ott); Ott/Brauckmann, ZIP 2004, 2117, 2121; Rattunde/Berner, WM 2003, 1313, 1316. 105 So bei Ott/Brauckmann, ZIP 2004, 2117, 2120.

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men, denen Marktbeschicker eines städtischen Blumen-Großmarkts unterliegen! Daher ist es auch ohne Bedeutung, ob die Aktionäre eine Chance haben, in einem Insolvenzverfahren noch Werte aus der Insolvenzmasse zu erhalten106. Aus denselben Gründen ist es auch nicht zwingend, hinsichtlich der aus einer Börsenzulassung folgenden Kosten nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens die Eigenschaft als Masseverbindlichkeit i. S. v. § 55 Abs. 1 InsO zu verneinen107; denn Antragsteller und Marktteilnehmer ist die Gesellschaft108. Wie bei den anderen Pflichten geht es mithin auch hier um „Gefahrenabwehr“, nämlich um die Abwehr der Gefahren, die der Öffentlichkeit durch Verbreitung oder Aufrechterhaltung unrichtiger Informationen drohen109. Das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Auffassung freilich nicht gefolgt und hat sich dafür im Wesentlichen darauf gestützt, dass die durch die Publikation (i. c. ging es um § 25 WpHG) geschützten Interessen keinen Massebezug hätten110. Dabei übersieht es freilich, dass die kapitalmarktrechtlichen Publizitätsvorschriften überhaupt nicht der Durchsetzung irgendwelcher Rechte dienen, sondern eine schlichte Folge der Teilnahme der Gesellschaft „an einem Markt“ sind und die Publizitätsvorschriften die Marktteilnehmer vor durch die Gesellschaft verursachten, jedenfalls aber durch sie vermeidbaren Gefährdungen schützen wollen. Zum zweiten hat es darauf abgestellt, dass mit § 25 WpHG – und Entsprechendes gilt für § 15 WpHG – die „börsennotierte Gesellschaft“ (bei § 15 WpHG der „Emittent von Finanzdienstleistungen“) in die Pflicht genommen wird – und nicht deren Organe, an deren Stelle dann in der Insolvenz der Insolvenzverwalter treten könnte. Das mag man dogmatisch damit erklären, dass ein solches Verständnis – Insolvenzverwalter als „Vertreter“ der Gesellschaft – nicht mit der herrschenden Amtstheorie für die Stellung des Insolvenzverwalters vereinbar ist111; überzeugend ist dies nicht.

106 Zutr. BVerwG v. 13. 4. 2005, BVerwGE 123, 203 = ZIP 2005, 1145, 1146 (Ott); unzutreffend daher Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1409; Rattunde/Berner, WM 2003, 1313, 1316. 107 Abw. Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1407 f. 108 Zutreffend VGH Kassel v. 7. 3. 2006, ZIP 2006, 1311, 1312 sowie zuvor Frankfurter Wertpapierbörse, ZIP 2005, 2076. 109 Abw. Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1409 (für die Pfl ichten nach §§ 21 ff. WpHG). 110 BVerwG v. 13. 4. 2005, BVerwGE 123, 203 = ZIP 2005, 1145, 1148 (Ott); ebenso zuvor Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1409; Rattunde/Berner, WM 2003, 1313, 1316. 111 Rattunde/Berner, WM 2003, 1313, 1317 f.; dazu auch Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 600 f.

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Ob man meine Auffassung oder diejenige des Bundesverwaltungsgerichts teilt, ist nur (noch) für kurze Zeit von Bedeutung. Denn § 11 WpHG n. F. – und entsprechend § 42a BörsG n. F. im Börsengesetz – wird demnächst ausdrücklich klarstellen, dass der „Insolvenzverwalter den Schuldner bei der Erfüllung der Pflichten nach diesem Gesetz [= des WpHG] zu unterstützen [hat]“ und dazu insbesondere aus der „Insolvenzmasse die hierfür erforderlichen Mittel [bereitzustellen hat]“. Der letzte Teil der Formulierung geht der Sache nach auf die Schlusspassage der BVerwG-Entscheidung zurück, in der das Gericht einen solchen materiellen Kostentragungsanspruch für möglich gehalten hatte, ohne sich dazu – mangels Streitgegenständlichkeit – abschließend äußern zu müssen112 . Die Norm soll nach gegenwärtigem Stand (der inzwischen Gesetz geworden ist) lauten: „§ 11 Verpfl ichtung des Insolvenzverwalters (1) Wird über das Vermögen eines nach diesem Gesetz zu einer Handlung Verpfl ichteten ein Insolvenzverfahren eröffnet, hat der Insolvenzverwalter den Schuldner bei der Erfüllung der Pfl ichten nach diesem Gesetz zu unterstützen, insbesondere indem er aus der Insolvenzmasse die hierfür erforderlichen Mittel bereitstellt. (2) Wird vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, hat dieser den Schuldner bei der Erfüllung seiner Pfl ichten zu unterstützen, insbesondere indem er der Verwendung der Mittel durch den Verpfl ichteten zustimmt oder, wenn dem Verpfl ichteten ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wurde, indem er die Mittel aus dem von ihm verwalteten Vermögen zur Verfügung stellt.“

Das ist deutlich enger als die im ursprünglichen Diskussionsentwurf vom 3. 5. 2006 vorgeschlagene Formulierung: „§ 11 Verpfl ichtungen des Insolvenzverwalters Ist die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis eines nach diesem Gesetz zu einer Handlung Verpfl ichteten auf einen vorläufigen oder endgültig bestellten Insolvenzverwalter übergegangen, so hat dieser, unbeschadet einer eigenen Verpfl ichtung kraft Amtes, an der Erfüllung dieser Pfl ichten mitzuwirken, insbesondere durch die Zustimmung zu hierfür notwendigen Rechtsgeschäften und Bereitstellung der erforderlichen Mittel.“

Danach wäre nämlich eine „eigene[n] Verpflichtung kraft Amtes“ hinsichtlich der kapitalmarktrechtlichen Pflichten nach wie vor eindeutig denkbar gewesen. Jetzt aber sieht es so aus, als ob – nach hier vertretener Auffassung eine verquere Sichtweise – primär der Schuldner selbst bzw. seine Organe handlungspflichtig seien (so ausdrücklich auch die Begr 112 BVerwG v. 13. 4. 2005, BVerwGE 123, 203 = ZIP 2005, 1145, 1150 (Ott).

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RegE: „Diese [Pflichten] sind zwar nach wie vor Pflichten des Emittenten“) und der Verwalter bei der Erfüllung dieser Pflichten „nur“ mitwirkungspflichtig sei. Die Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs relativiert dies freilich wieder in umgekehrter Richtung; denn sie nimmt die Mitwirkungspflicht des Verwalters und Kostentragungspflicht der Masse an, „soweit dies erforderlich ist und die organschaftlichen Vertreter des Emittenten hierauf keinen Zugriff haben“. Mit Blick auf den Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Verwalter (§ 80 Abs. 1 InsO) und dessen Pflicht, die Masse in Besitz zu nehmen (§ 148 Abs. 1 InsO), sind aber Fälle nur schwer vorstellbar, in denen der Zugriff auf die erforderlichen Daten und Mittel noch beim Emittenten bzw. dessen Organen selbst liegt. Letztlich werden damit also Pfl ichten des Verwalters begründet, über deren Reichweite man allerdings wegen des wenig klaren Gesetzeswortlauts trefflich wird streiten können. Klar aber ist das Ergebnis, dass die zur Erfüllung der kapitalmarktrechtlichen Pflichten erforderlichen Mittel aus der Masse zu entnehmen sind, die entsprechenden Lasten also Masseverbindlichkeiten i. S. v. § 55 Abs. 1 InsO darstellen. bb) Rückzug von der Börse als Ausweg?

Will ein Insolvenzverwalter die vorgenannten Risiken (die jedenfalls für die Masse bestehen) vermeiden, bleibt ihm nur, nach Verfahrenseröffnung einen Antrag auf Widerruf der Börsenzulassung nach § 38 Abs. 4 BörsG zu stellen (Delisting). Das setzt zunächst das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen eines solchen Widerrufs voraus („Der Widerruf darf nicht dem Schutz der Anleger widersprechen“; § 38 Abs. 4 Satz 2 BörsG); soweit es um Aktien geht (zur Wiederholung: eine Gesellschaft kann auch hinsichtlich Schuldverschreibungen – also Fremdkapitaltitel – börsennotiert sein), dürfte dies dann unproblematisch sein, wenn das Eigenkapital vollständig aufgezehrt ist, also keine Zahlungen darauf nach § 199 Satz 2 InsO mehr zu erwarten sind. Allerdings hat die Norm – das ist heute unstreitig – drittschützenden Charakter, was jedenfalls Streit über die zugrunde liegenden materiellen Fragen nicht wird vermeiden lassen113.

113 VG Frankfurt/Main v. 17. 6. 2002 – 9 E 2285/01, ZIP 2002, 1446, 1447 ff. = NZG 2002, 830 (Ls.) = EWiR § 43 BörsG a. F. 1/02, 953 (Wilsing/Kruse) (Macrotron; zum früheren § 43 BörsG).

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Aus Sicht des Verwalters wird die zusätzliche Frage insoweit lauten, ob die Börsennotierung entweder noch verwertet werden kann114 oder im Rahmen einer Sanierung noch für spätere Kapitalerhöhungen von Bedeutung ist. Entscheidet er sich für ein Delisting, stellt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu diesem Problemkreis freilich einen weiteren, unkalkulierbaren „Stolperstein“ dar. Denn danach bedarf die Entscheidung einer Gesellschaft über ein „Delisting“ – grundsätzlich überzeugend – über die börsenrechtlichen Anforderungen hinaus eines Beschlusses der Hauptversammlung mit mindestens einfacher Mehrheit; denn durch das Delisting wird die Verkehrsfähigkeit der Aktie und dadurch das Aktieneigentum erheblich beeinträchtigt. Zudem sei ein Pflichtangebot der Gesellschaft oder des Großaktionärs über den Kauf der Aktien der Minderheit erforderlich, dessen Angemessenheit im Spruchverfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit überprüft werden können müsse. Zwar bedarf es für den Hauptversammlungsbeschluss jedenfalls dann keines schriftlichen Berichts, wenn der Vorstand die Maßnahme in der Hauptversammlung umfassend erläutert, und auch eine materielle Beschlusskontrolle scheidet aus115. Allerdings musste der Bundesgerichtshof verständlicherweise nicht zum speziellen insolvenzrechtlichen Kontext eines solchen Delisting Stellung nehmen. Und deshalb ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Kosten der von der Rechtsprechung für erforderlich gehaltenen Hauptversammlung nach ganz herrschender Meinung keine Masseverbindlichkeiten sind116, der Insolvenzverwalter sie daher – mit anderen Worten – nur auf eigenes Risiko aus der Masse erbringen kann. Noch klarer ist, wenn es um das Delisting von Aktien geht, dass die Leistungen für ein Abfindungsangebot nicht aus der Masse erbracht werden können bzw. dürfen, da es sich um die Abfindung von Aktionärsrechten handelt, die in der Abwicklung leer ausgehen würden (wobei unterstellt wird, dass diese Annahme zutrifft). Wenn es denn aber erforderlich ist, stellt sich hier wie bei den Kosten für die Hauptversammlung die Frage, wer die möglicherweise erforderlichen Mittel dann aufbringen kann – und will.

114 Dieses in der Praxis – durchaus übliche – Vorgehen ist freilich nach der wiedergegebenen Rechtsprechung des BVerwG nicht mehr ganz zweifelsfrei, da die hinter der Börsennotierung stehenden materiellen Berechtigungen nicht massezugehörig sind; das zeigt einmal mehr die Fragwürdigkeit der Entscheidung. 115 BGH v. 25. 11. 2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47 = ZIP 2003, 387 (Streit) = NJW 2003, 1032 = DB 2003, 544 (Heidel) (Macrotron); dazu Hirte (Fn. 54), S. 307 f. Rn. 6.6. 116 Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 189 a. E.

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Was die zu leistende Höhe einer Abfindung angeht, mag man zwar – und insoweit durchaus mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – argumentieren, sie sei mit Null festzusetzen, da ein Liquidationserlös nicht zu erwarten sei117. Kapitalmarktrechtlich kommt aber dem „inneren“ Unternehmenswert nach heute überwiegender Auffassung nur noch eine Auffangfunktion zu; vielmehr ist zunächst auf den Börsenkurs abzustellen118. Davon kann zwar im Einzelfall abgegangen werden, wenn der Börsenkurs wegen eines nicht oder nur begrenzt funktionierenden Kapitalmarkts nur eingeschränkte Aussagekraft für die Feststellung des Unternehmenswertes hat119, doch bedarf dies einer entsprechenden Argumentation. Zudem kann unabhängig von der materiellrechtlichen Berechtigung dieses Ansatzes nicht auf den verfahrensrechtlichen Schutz dadurch verzichtet werden, dass die Angemessenheit der Abfi ndung nach den Regelungen des Spruchverfahrensgesetzes (ggfls. in analoger Anwendung) muss überprüft werden können. Dass allein dies zu einem „Hoffnungswert“ im Kurs führt, steht auf einem anderen Blatt. cc) Beachtung der Pflicht zur Ad-hoc-Publizität

Wählt der Insolvenzverwalter diesen Weg nicht, muss er also, wenn sich im Laufe des Insolvenzverfahrens eine erheblich kursrelevante Insiderinformation im eigenen Tätigkeitsbereich ergibt, für deren Veröffentlichung im oben beschriebenen Verfahren sorgen. Das wird insbesondere für Mitteilungen über (erfolgreiche oder gescheiterte) Sanierungsbemühungen gelten. Wer deren Ergebnisse als Insolvenzverwalter also (zuerst) Hand in Hand mit Politikern vor laufenden Kameras verkündet, riskiert (unter anderem) einen Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG120.

117 Zur Möglichkeit eines „Null-Ausgleichs“ im Rahmen von § 304 AktG jetzt ausdrücklich BGHZ 166, 195 = ZIP 2006, 663 = EWiR § 304 AktG 1/06, 291 (Hirte/Wittgens); zuvor bereits Hirte/Hasselbach, in: Großkomm.AktG, 4. Aufl. 2005, § 304 AktG Rn. 84. 118 Grundlegend BVerfGE 100, 289, 205 ff. = DB 1999, 1693, 1695 (DAT/Altana); BVerfG, AG 2000, 178 = NZG 2000, 420 (EURAG Holding); zuvor bereits BayObLG, ZIP 1998, 1872, 1875 f. (März/EKU); LG Nürnberg-Fürth, AG 2000, 89 (Philips; für einen Ausnahmefall); ausführlich Hirte/Hasselbach (Fn. 1187), § 305 AktG Rn. 137 ff. 119 BVerfGE 100, 289, 309 f. = DB 1999, 1693, 1696 (DAT/Altana); BGHZ 147, 108, 116 = ZIP 2001, 734, 737 f. (DAT/Altana IV); ausführlich Hirte/Hasselbach (Fn. 1187), § 305 AktG Rn. 139 m. w. N. 120 Zu den Verstößen gegen § 15 WpHG bei der Sanierung der Philipp Holzmann AG in diesem Zusammenhang plastisch M. Weber, ZGR 2001, 422, 444 Fn. 80.

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Eine (Selbst-)Befreiung von dieser Pflicht nach § 15 Abs. 3 WpHG kommt hier nicht in Betracht. Denn der Schutzzweck dieser Befreiungsmöglichkeit liegt darin, die „berechtigten Interessen“ des Emittenten zu schützen (dazu unten 2.e), wozu auch die Abwendung eines Kreditschadens von einem Unternehmen gehören kann. Im bereits eröffneten Insolvenzverfahren (wohl auch schon im bekannt gewordenen Eröffnungsverfahren) entfällt dieser Schutzzweck jedoch. Hier gilt daher wieder, dass die Information möglichst schnell „in den Markt“ muss, um den Anlegern eine informierte Entscheidung über Erwerb oder Veräußerung ihrer Papiere zu ermöglichen121. Denkbar ist lediglich, eine Pflicht zur Ad-hoc-Publizität zu verneinen, wenn die Notierung der Papiere des Emittenten bereits ausgesetzt ist122 . Dagegen spricht aber, dass die Kursaussetzung die Zulassung an einer inländischen Börse i. S. v. § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG nicht berührt. Davon gibt es aber Ausnahmen in zwei Richtungen: denn auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bleiben die Gesellschaftsorgane noch in Teilbereichen in Funktion; in anderen Bereichen werden sie von denen des Insolvenzverwalters lediglich überlagert (dazu oben II)123. Soweit in diesen Bereichen die Gesellschaftsorgane tätig werden können und dürfen, trifft (auch) diese die Verpflichtung zur Ad-hoc-Publizität. Das kommt etwa für satzungsändernde Maßnahmen einschließlich Kapitalerhöhungen in Betracht. Und andererseits kann der Insolvenzverwalter für besonders schwerwiegende Maßnahmen der Zustimmung des Gläubigerausschusses bedürfen; auch dessen Tätigwerden kann daher die Pflicht nach § 15 WpHG auslösen. Wann die Publizitätspflicht eingreift, ist kapitalmarktrechtlich zu beurteilen: wie auch bei mehrstufigen Entscheidungsprozessen im allgemeinen Gesellschaftsrecht kommt es nicht (allein) auf die rechtliche Verbindlichkeit der Maßnahme an; und auch eine mehrmalige Publizitätspflicht ist denkbar; das gilt erst recht seit der Neufassung von § 15 WpHG124. So ist etwa eine Verpflichtung zur Publizität sowohl im Zeitpunkt der Entscheidung des Gläubigerausschusses wie auch bei der Entscheidung des Insolvenzverwalters über eine bestimmte Form der Sanierung denkbar – und zwar unabhängig von der Reihenfolge, in der die Entscheidungen getroffen werden.

121 Plastisch M. Weber, ZGR 2001, 422, 435, 446 ff. 122 Zur Problematik von Kursaussetzungen in Insolvenzlagen M. Weber, ZGR 2001, 422, 449 f. 123 Ausführlich Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 118. 124 Hirte, ZInsO 2006, 1289, 1297 Fn. 121 m. zahlr. weit. Nachw.

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dd) Sonstige kapitalmarktrechtliche Pflichten

Auch für den Insolvenzverwalter (und seine Angehörigen) gelten schließlich die besonderen Veröffentlichungs- und Mitteilungspflichten in bezug auf Directors‘ Dealings nach § 15a WpHG; ebenso ist er nach dem durch das AnSVG eingefügten § 15b WpHG verpflichtet, ein Insiderverzeichnis zu führen bzw. ein vorhandenes Insiderverzeichnis fortzuführen. Freilich dürften der Insolvenzverwalter selbst und seine Mitarbeiter wegen § 56 Abs. 1 InsO daran gehindert sein, in Anteilen der insolventen Gesellschaft zu handeln; die Pflichten nach § 15a WpHG beziehen sich daher der Sache nach nur auf Meldungen über Handelsaktivitäten der Gesellschaftsorgane der insolventen Gesellschaft. b) Persönliche Haftung

Soweit der Insolvenzverwalter die Pflichten nach § 15 WpHG zu erfüllen hat, kann sich eine persönliche Haftung für deren Verletzung nach den Vorschriften des WpHG (§§ 37b, 37c) und den daneben anwendbaren zivilrechtlichen Normen (§§ 823, 826 BGB)125 ergeben. Die Gesetzesbegründung zum neuen § 11 WpHG (RegE) scheint dies anders zu sehen126, wenn es darin heißt: „Der Beitrag des Insolvenzverwalters wird möglichst gering gehalten, so dass für diesen keine weiteren Haftungsrisiken eröffnet werden.“ (Hervorh. v. Verf.)

Da aber die insolvenzrechtlich völlig neuartige „Unterstützungspflicht“ des Insolvenzverwalters entgegen dem ersten Eindruck (siehe oben a)aa) von den gewöhnlichen öffentlich-rechtlichen Verwalterpflichten allenfalls graduell unterschieden werden kann, wird dies auch für die Haftungsrisiken gelten müssen. Die für die Verletzung spezifisch insolvenzrechtlicher Pflichten einschlägige Haftungsnorm des § 60 InsO kommt hier nicht zum Tragen. Eine Beschränkung seiner (zivilrechtlichen) Haftung auf die Masse, wie dies für die Haftung als Zustandsstörer für eine schon vor Verfahrenseröffnung entstandene Ordnungspflicht erwogen wird127, kommt nicht in Betracht. Denn hier steht die Sanktion für Handlungen bzw. Unterlassungen in Rede, die eindeutig nach der Übernahme der Sachherrschaft durch den Insolvenzverwalter liegen. Auch die neue Gesetzeslage wird daran nichts än125 Hirte, ZInsO 2006, 1289, 1295. 126 So zuvor auch Rattunde/Berner, WM 2003, 1313, 1317. 127 Dazu BVerfGE 102, 1 = NJW 2000, 2573; Lüke, in: Kübler/Prütting (Fn. 103), § 60 InsO Rn. 57 ff. m. w. N. (Stand 8/00); Uhlenbruck, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 80 InsO Rn. 122.

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dern, soweit die Haftung für eigene Pflichtverletzungen des Verwalters in Rede steht. Für einen vorläufigen Verwalter dürften diese Überlegungen nur dann gelten, wenn es sich um einen „starken Verwalter“ handelt, auf den die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis übergegangen ist (§ 21 Abs. 2 Nr. 2, § 22 InsO). § 11 Abs. 2 WpHG n. F. nimmt diese Differenzierung für die Zukunft nur eingeschränkt auf, weil er sich der Sache nach auf die Regelung der Kostentragungspflicht beschränkt und die materielle Pflichtenlage nicht anspricht. In der Eigenverwaltung bleibt es demgegenüber bei der Zuständigkeit des Schuldners für die Erfüllung der kapitalmarktrechtlichen Pflichten, da er es ist, der über die Insolvenzmasse verfügt (§ 270 Abs. 1 Satz 1 InsO). c) Durchsetzung von Ansprüchen in der Insolvenz

Die Durchsetzung von (bereits entstandenen) Ansprüchen wegen Verletzung von § 15 WpHG in der Insolvenz führt vor allen Dingen zu Kollisionen mit den Kapitalerhaltungsnormen; das und die hierzu entwickelten Lösungsmöglichkeiten soll hier nicht weiter erörtert werden128.

2. Publizitätspflichtige Insiderinformationen Lassen Sie uns nun einen Blick auf die ad-hoc-publizitätspflichtigen Insiderinformationen mit besonderer Nähe zum Insolvenzverfahren werfen. Gegenstand der Publizitätspflicht sind Insiderinformationen, die den Emittenten unmittelbar betreffen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG). Unter einer solchen Insiderinformation versteht das Gesetz in § 13 Abs. 1 WpHG eine (1.) konkrete Information über (2.) nicht öffentlich bekannte Umstände, die sich auf einen oder mehrere Emittenten von Insiderpapieren oder auf die Insiderpapiere selbst beziehen und die geeignet sind, (3.) im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Wertpapiere erheblich zu beeinflussen. Einschränkend gegenüber der Insiderinformation kommt für die Publizitätspflicht nach § 15 WpHG hinzu, dass sie den Emittenten unmittelbar betreffen muss.

128 Ausführlich Hirte, ZInsO 2006, 1289, 1298.

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a) Allgemeines

Erhebliche Unsicherheit bei den betroffenen Unternehmen hatte zunächst die Frage ausgelöst, wann eine „neue Tatsache“ (so § 13 WpHG a. F.; entspricht der heutigen „Insiderinformation“) vorliegt, die in der Lage ist, den Kurs der Wertpapiere „erheblich zu beeinflussen“129. Dabei beginnt die Unsicherheit bereits mit der Frage, ob die beiden Merkmale überhaupt isoliert voneinander beurteilt werden können, ob also das Vorliegen einer „neuen Tatsache“ ohne Rücksicht auf deren mögliche Auswirkungen auf den Kurs geprüft werden kann (dazu sogleich c). Sicher ist lediglich, dass es sich (heute) um Insiderinformationen handeln muss, die den Emittenten „unmittelbar betreffen“ (früher: Tatsachen im „Tätigkeitsbereich des Emittenten“). Dazu zählen allerdings auch – wie sich schon aus der gesellschaftsrechtlichen Parallelnorm des § 131 AktG ergibt – die dem Emittenten „verbundenen Unternehmen“,130 wenn diese auch ihrerseits nicht selbst publizitätspflichtig sind131. Der Emittent hat dazu durch entsprechende organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass er die erforderlichen Informationen erhält. Dabei ist allerdings – um es zu wiederholen – zu beachten, dass Insiderinformationen, die den Emittenten nicht unmittelbar betreffen, dennoch Insidertatsachen i. S. v. § 13 Abs. 1 a. E. WpHG sein können; einfachstes Beispiel sind Naturkatastrophen. Ein unmittelbares Betreffen kann aber auch bei Ereignissen gegeben sein, die nicht im Einflussbereich des Emittenten liegen; als Beispiel sei etwa – in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung – auf die Entscheidung der zuständigen Kartellbehörde über die (Nicht-)Genehmigung einer Beihilfe verwiesen132 . Auch hier trifft den Emittenten also eine Pflicht zur Selbstinformation.

129 Dazu Hirte, Die Ad-hoc-Publizität im System des Aktien- und Börsenrechts, in: Hadding/Hopt/Schimansky (Hrsg.), Das Zweite Finanzmarktförderungsgesetz in der praktischen Umsetzung. Bankrechtstag 1995, 1996, S. 47, 71 ff.; vgl. jetzt ausführlich Pawlik, in: KölnKomm.WpHG, 2007, § 13 WpHG (im Erscheinen). 130 Leitfaden des BAWe und der Deutschen Börse AG: Insiderhandelsverbote und Ad-Hoc-Publizität nach dem Wertpapierhandelsgesetz. Erläuterungen und Empfehlungen zur Behandlung kursbeeinflussender Tatsachen gemäß §§ 12 ff. Wertpapierhandelsgesetz, 2. Aufl. 1998 (zitiert: „Leitfaden“), S. 26 (zur Verschmelzung einer Konzerntochter [implizit]); Braun, in: Möllers/Rotter (Hrsg.), Ad-hoc-Publizität, 2003, § 8 Rn. 62; Pellens, AG 1991, 62, 65. 131 Braun, in: Möllers/Rotter (Fn. 130), § 8 Rn. 62; Hopt, ZHR 159 (1995), 135, 151; zweifelnd Gruson/Wiegmann, AG 1995, 173, 174. 132 Geibel, in: Schäfer, Wertpapierhandelsgesetz/Börsengesetz/Verkaufsprospektgesetz, 1999, § 15 WpHG Rn. 40; M. Weber, ZGR 2001, 422, 445.

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Der „Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht“ (BaFin; früher Leitfaden des BAWe und der Deutschen Börse AG)133 gibt einige Beispiele – bei denen er zugleich deutlich hervorgehoben warnt, dass diese Beispiele weder abschließend seien noch dass zwingend in allen Beispielsfällen bei allen Unternehmen eine publizitätspflichtige Tatsache angenommen werden müsse; ein anderes Verständnis wäre zudem mit dem offenen Begriff der europäischen Vorgabe unvereinbar134. Der Überblick unterscheidet in „(a) Veränderungen der Vermögens- oder Finanzlage“ und „(b) Veränderungen im allgemeinen Geschäftsverlauf“. Ob die Maßnahme gesellschaftsrechtlich einer Zustimmung der Hauptversammlung bedarf, ist ohne Bedeutung135. Das ergibt sich im Gegenschluss auch aus der § 15 WpHG a. F. nachgebildeten Norm des § 10 WpÜG, nach dessen Abs. 1 Satz 3 einem Bieter im Falle eines einzuholenden Beschlusses der Gesellschafterversammlung für die Abgabe einer (Übernahme-)Angebots lediglich auf Antrag gestattet werden kann, die Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebots zu unterlassen136. b) Publizitätspflichtige Insiderinformationen vor Verfahrenseröffnung

Wegen der publizitätspflichtigen Einzelmaßnahmen sei zunächst auf den vor einiger Zeit veröffentlichten Überblick von Martin Weber verwiesen137. Ergänzend herangezogen werden kann auch die Verordnung zur Konkretisierung des Verbotes der Marktmanipulation (Marktmanipulations-Konkretisierungsverordnung – MaKonV), da nach deren § 2 Abs. 2 ad-hoc-publizitätspflichtige Insiderinformationen regelmäßig zugleich bewertungserhebliche Umstände im Sinne von § 20a Abs. 1 WpHG sind (§ 2 Abs. 1 MaKonV) und § 2 Abs. 3 MaKonV dies durch Regelbeispiele näher konkretisiert. Ad-hoc-publizitätspflichtig sind danach zunächst größere Verluste und außerordentliche Aufwendungen, etwa nach Großschäden 133 Emittentenleitfaden der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Stand: 15. 7. 2005 (zitiert: „Emittentenleitfaden“), S. 43 f. 134 Deutlich Hopt, ZHR 159 (1995), 135, 149 f.; gegen jede katalogartige Erfassung Eichholz, Börsenzeitung v. 7. 7. 1994, Nr. 128, S. 3; abw. Pellens/Fülbier, DB 1994, 1381, 1387 unter Verweis auf die U. S. A. – Zur weitreichenden faktischen Wirkung des (Emittenten-)Leitfadens Braun, in: Möllers/Rotter (Fn. 130), § 7 Rn. 21. 135 Ekkenga, ZGR 1999, 165, 180; Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 79; Lutter, in: FS Zöllner, 1999, S. 363, 365. Zu den daraus für das Gesellschaftsrecht zu ziehenden Schlussfolgerungen Hirte (Fn. 129), S. 47, 73 f. 136 Hierzu Hirte, in: KölnKomm.WpÜG, 2003, § 10 WpÜG Rn. 37. 137 Martin Weber, ZGR 2001, 422, 434 ff.; zu weiteren Fragen der Unternehmenssanierung ders., ZInsO 2001, 385 ff.

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oder nach dem Entdecken strafrechtlicher Schädigungen138. Gleiches gilt für die Kündigung von wesentlichen Kreditlinien139. Desweiteren sind unter den Tatsachen mit Insolvenzbezug zu nennen Forderungsverzichte (einschließlich solcher der Arbeitnehmer)140, die Veröffentlichung von Sonderprüfungsberichten141 oder der Eintritt eines neuen Großaktionärs142 . Auch die Verlustanzeige nach § 92 Abs. 1 AktG begründet eine Pflicht zur Mitteilung nach § 15 WpHG, obwohl die Verlustanzeige selbst nur der Hauptversammlung gegenüber zu erfolgen hat und nicht notwendig auf einzeln meldepflichtige Verluste zurückgeht oder zurückgehen muss (ebenso § 2 Abs. 3 Nr. 2 MaKonV)143. Äußerst umstritten ist die Mitteilungspflichtigkeit einer Auflösung von stillen Reserven, zumal auch das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Auskunftsrecht des § 131 AktG hier eine wenig publizitätsfreudige Linie vertritt144. Sie ist gleichwohl zu bejahen (ebenso § 2 Abs. 4 Nr. 1 MaKonV)145, zumal in Bezug auf die Ad-hoc-Publizität der europarechtliche Hintergrund der Norm Vorrang hat. Gleiches gilt spiegelbildlich für die Bildung von Rückstellungen wegen drohender Verluste oder zum Verlustausgleich nach § 249 HGB Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 HGB, und zwar selbst dann, wenn das zur Rückstellungsbildung führende Ereignis entweder nicht publizitätspflichtig war oder seinerseits schon bekanntgemacht wurde146.

138 Emittentenleitfaden (Fn. 133), S. 44; M. Weber, ZGR 2001, 422, 436. 139 M. Weber, ZGR 2001, 422, 436; Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1399. 140 Emittentenleitfaden (Fn. 133), S. 51; M. Weber, ZGR 2001, 422, 444 mit weiteren Beispielen. 141 M. Weber, ZGR 2001, 422, 444 f. 142 M. Weber, ZGR 2001, 422, 445. 143 Emittentenleitfaden (Fn. 133), S. 44; Schlittgen, Die Ad-hoc Publizität nach § 15 WpHG, 2000, S. 222 ff.; M. Weber, ZGR 2001, 422, 437; Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1399. 144 BVerfG, ZIP 1999, 1801 = NJW 2000, 129 = DStR 1999, 1867 (Ls.) (Hergeth) = EWiR § 131 AktG 2/99, 1033 (Luttermann) (Wenger/Scheidemandel); kritisch Hirte (Fn. 115), S. 217 f. Rn. 4.26; sowie aus der Sicht des Kapitalmarkts Siegel/ Bareis/Rückle/Schneider/Sigloch/Streim/Wagner, ZIP 1999, 2077; Kaserer, ZIP 1999, 2085. 145 Wie hier Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 88; M. Weber, ZGR 2001, 422, 437 f.; Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1399; im Ansatz auch schon Hirte (Fn. 129), S. 47, 73; abw. Möllers, ZGR 1997, 334, 351. – Zur wegen § 340f HGB abw. Lage bei Kreditinstituten M. Weber, ZGR 2001, 422, 438 Fn. 57. 146 Wie hier Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 88; M. Weber, ZGR 2001, 422, 439 f.

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Erfasst sind auch „Veränderungen in Schlüsselpositionen des Unternehmens“ (ebenso § 2 Abs. 3 Nr. 5 MaKonV)147, sei es auf der Ebene der Geschäftsleitung wie auf der Ebene (wichtiger) Mitarbeiter148. Datenschutzüberlegungen, wie sie bei der schweren Erkrankung eines Fußballspielers beim börsennotierten Fußballverein Borussia Dortmund ins Feld geführt wurden, sind hier fehl am Platze: denn die Gesellschaft kann sich nicht der Qualitäten ihres Personals zur Kapitalbeschaffung bedienen, dem Anleger dann aber bei dessen – wenn auch gesundheitlich bedingtem – Weggang seine fortbestehende Mitwirkung vorspiegeln. Im Übrigen wäre auch die Berücksichtigung einer Datenschutzausnahme und ihres Umfangs eine europarechtliche Frage, da es sich bei § 15 WpHG um umgesetztes europäisches Recht handelt149. Selbstverständlich publizitätspflichtig sind auch Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) und Überschuldung (§ 19 InsO; ebenso § 2 Abs. 3 Nr. 2 MaKonV)150. Fraglich ist insoweit aber vor allem der exakte Zeitpunkt: kommt es auf den Eintritt des Sachverhalts an151 oder auf die Entscheidung, ihm in Form eines Insolvenzantrags Rechnung zu tragen152? Eine kapitalmarktrechtliche Betrachtung – die hier zwingend geboten ist – spricht dabei sicher allein für eine Berücksichtigung der tatsächlichen Lage (ebenso § 2 Abs. 3 Nr. 2 MaKonV, der „Liquiditätsprobleme“ vor Überschuldung oder Verlustanzeige nennt). Dies führt nur auf den ersten Blick zu Friktionen mit den gesellschaftsrechtlichen Normen (wie § 92 Abs. 2 AktG), die zwar bei Eintritt der entsprechenden Tatsachen eine unverzügliche Stellung des Insolvenzantrags verlangen, andererseits aber durch die Statuierung der Drei-Wochen-(Höchst-) Frist auch noch etwas Zeit für Sanierungsbemühungen lassen wollen: denn § 15 Abs. 1 Satz 2 WpHG gestattet gerade in

147 Emittentenleitfaden (Fn. 133), S. 44. 148 Emittentenleitfaden (Fn. 133), S. 50; Fürhoff/Wölk, WM 1997, 449, 453; Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 69, 70; M. Weber, ZGR 2001, 422, 443; Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1399; differenzierend bezüglich Organmitgliedern Möllers, NZG 2005, 459, 460 ff. 149 Dazu Hirte, ZInsO 2006, 1289; übersehen bei Lindner, FAZ v. 6. 12. 2000, Nr. 284, S. 31; „Datenschutz“-Gesichtspunkte bei der Jahresabschlusspublizität verneinend jetzt ausdrücklich EuGH, Slg. 2004, I-8663 = ZIP 2004, 2134 (zurückgehend auf Vorlagebeschlüsse des LG Essen, ZIP 2003, 31 und des LG Hagen) (Axel Springer AG/Zeitungsverlag Niederrhein GmbH & Co. KG). 150 Schlittgen (Fn. 143), S. 224 f.; M. Weber, ZGR 2001, 422, 441. 151 So M. Weber, ZGR 2001, 422, 441 f. 152 So Wittich, AG 1997, 1, 2; Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1399.

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Sanierungslagen die Möglichkeit der Befreiung von der Ad-hoc-Publizität (dazu unten e)153. Für die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) spricht demgegenüber mehr für eine Verneinung der Bekanntmachungspflicht154. Denn die insolvenzrechtliche Wertung, die diesem Antragsgrund zugrunde liegt, ist ja, dass es an einer eindeutigen Tatsache noch fehlt und der Schuldner einen gewissen Spielraum haben soll, ob er auf das Insolvenzverfahren als Regelungsmechanismus zurückgreift155. Freilich können auch hier Einzeltatsachen, die eine drohende Zahlungsunfähigkeit begründen, isoliert nach § 15 WpHG meldepflichtig sein. In allen Fällen einer Publizitätspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung kommt es darauf an, wann gesellschaftsintern die Kenntnis des entsprechenden Sachverhalts vorliegt; der Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags (durch den Schuldner) ist ohne Bedeutung, kann aber seinerseits nochmals publizitätspflichtig sein, wenn ihm isoliert Kursrelevanz zukommt. Stellt ein Gläubiger Insolvenzantrag, fehlte es in bezug auf die Antragstellung nach der früheren Fassung des § 15 WpHG an einer Tatsache im „Tätigkeitsbereich des Emittenten“; im Hinblick auf die Erweiterung durch die Neufassung, die darin liegt, dass ein „unmittelbares Betreffen“ ausreicht, wird man jetzt auch hier eine Publikationspflicht zu bejahen haben. Im Übrigen kann der materielle Insolvenzgrund seitens des Schuldners unabhängig von der Antragstellung publizitätspflichtig sein. Schließlich ist das Ergebnis des Antrags, die Verfahrenseröffnung oder ihre Ablehnung, eine grundsätzlich selbständig publizitätspflichtige Tatsache156. c) Publizitätspflichtige Insiderinformationen nach Verfahrenseröffnung

Da die Börsennotierung auch trotz Eröffnung eines Insolvenzverfahrens weiter besteht bzw. bestehen kann157, können auch nach diesem Zeitpunkt liegende Tatsachen die Publizitätspflicht des § 15 WpHG begründen158. Das gilt vor allem für die Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung der 153 Ebenso M. Weber, ZGR 2001, 422, 442. 154 Wie hier Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 81; Kümpel, AG 1997, 66, 70; Wittich, AG 1997, 1, 2; insoweit abw. M. Weber, ZGR 2001, 422, 442. 155 Drukarczyk, in: MünchKomm.InsO, 2001, § 18 InsO Rn. 3; Pape, in: Kübler/ Prütting (Fn. 103), § 18 InsO Rn. 3 (Stand 8/98); Uhlenbruck, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 18 InsO Rn. 1 f. 156 Ebenso Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1403. 157 Grub/Streit, BB 2004, 1397 f., 1404; Hirte (Fn. 144), S. 385 Rn. 7.16; Schander/ Schinogl, ZInsO 1999, 202 ff. 158 Rattunde/Berner, WM 2003, 1313, 1314.

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Masseunzulänglichkeit (§ 208 InsO)159. Aber auch Bekanntmachungspflichten und Ereignisse, die nach der insolvenzrechtlichen Konzeption allein den (Insolvenz-)Verfahrensbeteiligten dienen, können publizitätspflichtig nach § 15 WpHG sein. Das dürfte vor allem die Vorlage eines Insolvenzplans (§ 218 InsO) und die Zustimmung zu ihm durch die Gläubigerversammlung betreffen (§ 244 InsO); auch die verschiedenen Berichtspflichten des Insolvenzverwalters können je nach ihrem Ergebnis eine Publizitätspflicht nach § 15 WpHG auslösen160. Da die kapitalmarktrechtliche Pflicht bereits ab dem entsprechenden Ereignis besteht (und keinesfalls erst ab Eingang der entsprechenden Anzeige beim Insolvenzgericht), sollte der Insolvenzverwalter einer börsennotierten Gesellschaft tunlichst beide Meldungen gleichzeitig abgeben bzw. an der Abgabe mitwirken. Im Übrigen sind nach Verfahrenseröffnung grundsätzlich dieselben Tatsachen publikationsbedürftig wie zuvor161. Weder kommt es darauf an, wie hoch der Aktienkurs ist, noch ob die Information Bedeutung für die Höhe des Liquidationserlöses oder den Erfolg eines Insolvenzplanverfahrens hat162 . Denn entscheidend ist allein die Möglichkeit erheblicher Kursveränderung (§ 13 Abs. 1 WpHG); hinzu kommt, dass das gehandelte Wertpapier nicht einmal zwingend nur eine Aktie sein muss (oben 1.a)aa). Meldepflichtig sind also etwa auch Personalveränderungen: hier kommen aber spezifisch insolvenzrechtlich die Abwahl des Insolvenzverwalters (§ 57 InsO) oder dessen Entlassung (§ 59 InsO) hinzu. Auch die Kündigung von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen wird publizitätspflichtig sein (ebenso § 2 Abs. 3 Nr. 1 MaKonV), da diese nach neuem Insolvenzrecht nicht mehr automatisch mit Verfahrenseröffnung enden163.

159 M. Weber, ZGR 2001, 422 mit 432 (bei den weiteren dort genannten Bekanntmachungspfl ichten dürfte es aber an i. S. v. § 15 WpHG relevanten Tatsachen fehlen). 160 Insoweit abw. M. Weber, ZGR 2001, 422 mit 432. 161 M. Weber, ZGR 2001, 422, 443 f. 162 Abw. Rattunde/Berner, WM 2003, 1313, 1314. 163 Ebenso Noack (Fn. 38), Rn. 726; Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 398; Tschernig, Haftungsrechtliche Probleme der Konzerninsolvenz, 1995, S. 102 ff.; M. Weber, ZGR 2001, 422, 444; Wiedemann/Hirte, in: FG 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. II, 2000, S. 337, 376; Zeidler, NZG 1999, 692, 696 f.; zweifelnd zur Fortgeltung der alten Rechtsgrundsätze auch Uhlenbruck, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung (Fn. 6), S. 1157, 1181.

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d) Fehlende öffentliche Bekanntheit und Möglichkeit erheblicher Kursbeeinflussung

Spiegelbildlich zu der auf die „Bereichsöffentlichkeit“ beschränkten Zielgruppe der Bekanntmachungspflicht (§ 15 Abs. 7 WpHG i. V. m. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WpAIV)164 entfällt die Pflicht zur Veröffentlichung, wenn die „neue Tatsache“ in diesem – engeren – Bereich bereits bekannt ist165. Das bedarf hier keiner Vertiefung166. Publikationsbedürftig sind schließlich nur solche Insiderinformationen, die geeignet sind, den Kurs erheblich zu beeinflussen167. Die Bestimmung dieser Grenze wurde als die „schwierigste Frage“ des ganzen Gesetzes bezeichnet168. Die zahlreichen, insoweit vorgetragenen Ansätze brauchen hier nicht vorgestellt zu werden; hingewiesen sei nur darauf, dass der Verfasser selbst – entgegen der ganz herrschenden Meinung – auf das Erfordernis einer Ex-ante-Beurteilung verzichten will169; zudem besteht inzwischen eine recht umfangreiche Erfahrung für den Umgang mit dem Merkmal der Kursrelevanz170. Insgesamt wurde zudem – aber natürlich nur bei (angeblich) positiven Tatsachen – eher zuviel als zuwenig gemeldet171. Dem hat der Gesetzgeber inzwischen durch das Verbot einer „werblichen“ Nutzung des Instruments der Ad-hoc-Mitteilung in § 15 Abs. 2 (früher Abs. 3 Sätze 3 und 4) WpHG einen Riegel vorgeschoben. 164 Gemeint ist, dass die Bekanntmachung (nur) durch ein beim Börsenhandel weit verbreitetes elektronisch betriebenes Informationsverbreitungssystem zu erfolgen hat; eine Information des allgemeinen Publikums wird also nicht verlangt. 165 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes über den Wertpapierhandel und zur Änderung börsenrechtlicher und wertpapierrechtlicher Vorschriften (Zweites Finanzmarktförderungsgesetz), BR-Drucks. 793/93, S. 149, BT-Drucks. 12/6679, S. 48. 166 Zu den durch die Entwicklung des Internet teilweise überholten Bedenken gegen den auf die Bereichsöffentlichkeit beschränkten Ansatz Hirte (Fn. 129), S. 47, 74 f. 167 Dazu Hopt, ZHR 159 (1995), 135, 154; Schwark, Börsengesetz, 2. Aufl. 1994, § 44a BörsG Rn. 6; M. Weber, NJW 1994, 2849, 2854; U. A. Weber, BB 1994, 157, 163; diese Möglichkeit für Ereignisse im eröffneten Insolvenzverfahren zu Unrecht bestreitend Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1409. 168 Vgl. etwa Eyring, FAZ v. 25. 4. 1995, Nr. 86, S. B4; ähnlich Happ, JZ 1994, 240, 242. 169 Dazu Hirte (Fn. 129), S. 47, 75 ff.; abw. etwa Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 93. 170 Vgl. nur Vaupel, WM 1999, 521 ff. 171 Dazu Schreiben des BAWe v. 22. 3. 2000; zur möglichen Wettbewerbswidrigkeit derartiger Meldungen OLG Hamburg, ZIP 2006, 1921; Lettl, ZGR 2003, 853 ff.

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e) Möglichkeit der (Selbst-)Befreiung nach § 15 Abs. 3 WpHG

§ 15 Abs. 1 Satz 2 WpHG a. F. gewährte der BaFin die Möglichkeit, von der Pflicht zur Publizität nach § 15 Abs. 1 Satz 1 WpHG im Einzelfall zu befreien, wenn die Publikation der Tatsache geeignet war, den „berechtigten Interessen des Emittenten zu schaden“. Insolvenzlagen oder Sanierungsverhandlungen waren ein typischer Fall für die Möglichkeit einer solchen Befreiung172 . Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass allein die Tatsache eines zu publizierenden Negativereignisses noch keinen Grund für eine Befreiung bildete; denn dessen Zurückhaltung würde den in den entsprechenden Papieren investierten Anlegern zumuten, länger als notwendig in Unkenntnis der Negativtatsache handeln oder halten zu müssen173. Eine Befreiung kam daher nur in Betracht, wenn realistische Sanierungschancen innerhalb eines knapp zu bemessenden Zeitraums bestanden174. Daher empfahl sich deren Dokumentation bei der Stellung des entsprechenden Antrags an die BaFin. Eine Ausschöpfung der Dreiwochenfrist des § 92 Abs. 2 AktG dürfte kapitalmarktrechtlich sicher nicht in Betracht gekommen sein; andererseits wurde aber – rein statistisch betrachtet – Befreiungsanträgen nach § 15 Abs. 1 Satz 2 WpHG a. F. bislang in fast allen Fällen stattgegeben175. Mit Inkrafttreten des AnSVG ist die beschriebene Befreiungsmöglichkeit entfallen, was vor allem für Insolvenzlagen beträchtliche Auswirkungen hat. An die Stelle des behördlich begleiteten Befreiungsverfahrens ist jetzt die Möglichkeit der „Selbstbefreiung“ nach § 15 Abs. 3 WpHG n. F. getreten, letztlich aus Gründen der Verwaltungsentlastung176. Nach dessen Satz 1 „ist [der Emittent jetzt] von der Pflicht zur Veröffentlichung nach Absatz 1 Satz 1 solange befreit, wie es der Schutz seiner berechtigten Interessen erfordert, keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten ist und der Emittent die Vertraulichkeit der Insiderinformation gewährleisten kann“ (Hervorh. v. Verf.).

Nach Satz 2 ist die Veröffentlichung aber unverzüglich in dem – wie Satz 3 anordnet – auch sonst üblichen Verfahren nach Absatz 4 nachzuholen. Für die Veröffentlichung ist dabei auf die dann vorliegende Tatsachenlage abzustellen; waren es ursprünglich Pläne, die eigentlich hätten bekanntge172 Wilga, in: Möllers/Rotter (Fn. 130), § 9 Rn. 23; Ziemons, NZG 2004, 537, 542. 173 Wilga, in: Möllers/Rotter (Fn. 130), § 9 Rn. 24. 174 Leitfaden (Fn. 130), S. 46; M. Weber, ZGR 2001, 422, 448; Wölk, AG 1997, 73, 79; Grub/Streit, BB 2004, 1397, 1399; weitergehend (Befreiungsanspruch) Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 116. 175 Geibel (Fn. 132), § 15 WpHG Rn. 119. 176 So auch Möllers, WM 2005, 1393, 1395.

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macht werden müssen, und haben sich diese zwischenzeitlich zu einer Entscheidung verdichtet, ist diese zu veröffentlichen177. Entscheidend ist Satz 4: „Der Emittent hat die Gründe für die Befreiung zusammen mit der Mitteilung nach Absatz 4 Satz 1 [= der Mitteilung über die bevorstehende Nachholung der Veröffentlichung] der Bundesanstalt unter Angabe des Zeitpunktes der Entscheidung über den Aufschub der Veröffentlichung mitzuteilen.“ Damit soll der Behörde ermöglicht werden zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Selbstbefreiung erfüllt waren178.

IV. Die Insolvenzantragspflicht zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht Lassen Sie mich nun abschließend noch ein paar Worte zum Thema Insolvenzantragspfl icht sagen. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob sie im Einklang mit den europäischen Grundfreiheiten auf Schein-Auslandsgesellschaften erstreckt werden kann, insbesondere solche englischen Rechts (dazu 1.)179. Sodann sollen die aus dieser Lage bereits an anderer Stelle180 gezogenen rechtspolitischen Schlussfolgerungen vorgestellt werden (dazu 2.).

1. Anwendung der Insolvenzantragspflicht auf Scheinauslandsgesellschaften Was die Anwendbarkeit der Insolvenzantragspfl icht (nicht des Insolvenzantragsrechts) auf Schein-Auslandsgesellschaften angeht, ist meines Erachtens im Ausgangspunkt festzuhalten, dass sich diese Frage wegen der engen Verbindung mit dem Kapitalaufbringungssystem nach dem auf die

177 Assmann, in: Assmann/Schneider, Wertpapierhandelsgesetz, 4. Aufl. 2006, § 15 WpHG Rn. 172; Versteegen, in: KölnKomm.WpHG, 2007, § 15 WpHG (im Erscheinen); Ziemons, NZG 2004, 537, 542 f.; zur Diskussion im Zusammenhang mit der Umsetzung der Richtlinie Fürhoff, WM 2003, 80, 84 f. 178 Assmann/Schneider/Assmann (Fn. 177), § 15 WpHG Rn. 179; ausführlich zur Neuregelung in § 15 Abs. 3 WpHG Möllers, WM 2005, 1393 ff. 179 Der unter IV.1. wiedergegebene Text basiert im Wesentlichen auf den Ausführungen des Verfassers in: Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften. Ein Praxishandbuch für ausländische Kapitalgesellschaften mit Sitz im Inland, 2. Aufl. 2006, § 1 Rn. 74 und 74A. 180 Hirte, Referat auf dem 66. Deutschen Juristentag 2006, 2007 (im Erscheinen), sub III. 1.

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Gesellschaft anwendbaren Recht beurteilt181. Besonders deutlich wird dies daran, dass das deutsche Recht die Insolvenzantragspflicht gerade nicht rechtsformunabhängig, sondern rechtsformspezifisch anknüpft und insbesondere dann auf sie verzichtet, wenn – wie bei den Personengesellschaften – das Insolvenzrisiko durch persönliche Haftung aufgefangen wird182 . Legt man diese Normkonzeption zugrunde, würde man selbst dann, wenn man im Grundsatz für die Insolvenzantragspflicht zur Anwendung deutschen Rechts käme, im Wege teleologischer Reduktion auf sie verzichten müssen, weil und wenn nach englischem Recht Erstattungsansprüche gegen Geschäftsführer und Gesellschafter unter dem Gesichtspunkt des wrongful trading bestehen. Die Qualifikation der Insolvenzantragspflicht nach dem Gesellschaftsstatut gilt wegen des engen Zusammenhangs mit einer etwaigen Antragspflicht auch für die Frage, ob deren Verletzung über § 823 Abs. 2 BGB Ersatzansprüche begründet183. 181 AG Bad Segeberg, ZInsO 2005, 558, 560 = ZIP 2005, 812 = GmbHR 2005, 884 (Dichtl); Gross/Schork, NZI 2006, 10, 13; Kiethe, RIW 2005, 649, 654 f.; Mock/ Schildt, ZInsO 2003, 396, 399 f. (zugleich mit dem Hinweis, dass ein abweichender Ansatz an der Niederlassungsfreiheit zu messen wäre; zu dessen Rechtfertigung Borges, ZIP 2004, 733, 740); Paefgen, ZIP 2005, 2253, 2261; Redeker, ZInsO 2005, 1035, 1036 f.; Sandrock, in: Sandrock/Wetzler (Hrsg.), Deutsches Gesellschaftsrecht im Wettbewerb der Rechtsordnungen nach Centros, Überseering und Inspire Art, 2004, S. 33, 50 ff.; Schall, ZIP 2005, 965, 974 f. (unter Hinweis auf den Konfl ikt von englischer Fortführungs- und deutscher Antragspfl icht bei positiver Fortführungsprognose); Schumann, DB 2004, 743, 746; Trunk, Internationales Insolvenzrecht, 1998, S. 103 f.; Ulmer, NJW 2004, 1201, 1207; ders., KTS 2004, 291, 300 f.; wohl auch Köke, ZInsO 2005, 354, 358; abw. Altmeppen, NJW 2004, 97, 100 f.; ders., NJW 2005, 1911, 1913; Altmeppen/Wilhelm, DB 2004, 1083, 1088; Bayer, BB 2003, 2357, 2365; Behrens, in: Ulmer, Großkomm.GmbHG, 2005, Einl. Rn. B. 105; Borges, ZIP 2004, 733, 737 ff.; Eidenmüller, in: Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, 2004, § 9 Rn. 26; ders., NJW 2005, 1618, 1620; Eisner, ZInsO 2005, 20, 22; Goette, DStR 2005, 197, 200; Huber, in: FS Gerhardt, 2004, S. 397, 424 ff.; ders., in: Lutter, Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland, 2005, S. 307, 328 ff.; Kindler, in: MünchKomm.BGB, 4. Aufl. 2005, Internationales Gesellschaftsrecht, Rn. 638 ff.; Kuntz, NZI 2005, 424, 426 f.; Leutner/Langner, ZInsO 2005, 575, 576 f.; Lieder, DZWIR 2005, 399, 405 f.; Müller, NZG 2003, 414, 416 f.; Spahlinger/Wegen, in: Spahlinger/Wegen (Hrsg.), Internationales Gesellschaftsrecht in der Praxis, 2005, Rn. C 346, 754; Wachter, GmbHR 2004, 88, 101; Walterscheid, DZWIR 2006, 95, 98; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3589; Zöllner, GmbHR 2006, 1, 7, 10. 182 Siehe Hirte, in: Uhlenbruck (Fn. 2), § 11 InsO Rn. 349, § 15 InsO Rn. 1 ff.; dazu auch Schumann, DB 2004, 743, 746; zu Reformüberlegungen jetzt Hirte/Mock, ZIP 2005, 474 ff. 183 AG Bad Segeberg, ZInsO 2005, 558, 560 = ZIP 2005, 812 = GmbHR 2005, 884 (Dichtl); Mock/Schildt, ZInsO 2003, 396, 400; Paefgen, ZIP 2005, 2253, 2261;

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Selbst wenn man die Rechtsfolgen der Verletzung einer solchen Pflicht deliktisch qualifi zieren sollte, was zur Anwendung des Rechts des Sitzstaates als dem der Handlung (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 EGBGB) führen würde184, würde dies nicht weiter helfen, da sich auf diesem Wege nicht auch eine entsprechende Antragspflicht begründen lässt185. Zudem dürfte – selbst wenn man eine solche Verpflichtung bejaht – diese wegen des strafrechtlichen Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 GG) kaum strafbewehrt sein186. Ob eine gesetzliche Verlagerung der Vorschriften über die Insolvenzantragspflichten in das Insolvenzrecht unter gleichzeitiger Erstreckung der Pflicht auf alle Gesellschaftsformen vor diesem Hintergrund weiterführt187, erscheint zweifelhaft; denn zum einen dürfte allein dies die Qualifikation der Frage als gesellschafts- oder insolvenzrechtlich nicht ändern, und zum anderen dürfte der Gläubigerschutz gegenüber im Inland tätigen Auslandsgesellschaften durchaus ausreichend sein188. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass das englische Recht das Insolvenzantragsrecht der Gläubiger an deutlich geringere Voraussetzungen knüpft als das deutsche Recht; denn Zahlungsunfähigkeit wird im englischen Recht ex

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i. E. ebenso Schall, EBLR (2005), 1534, 1553 f.; Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 11 f.; abw. Eidenmüller (Fn. 181), § 9 Rn. 31 ff.; Kuntz, NZI 2005, 424, 427 ff. (der für diese Argumentation zu Unrecht auf die Gourdain-Nadler-Rechtsprechung des EuGH [Urt. v. 22. 2. 1979 – Rs. 133/78, Slg. 1979, 733, 744 ff.] abstellt, deren Parallele im deutschen Recht aber die Haftung nach § 64 Abs. 2 GmbHG, nicht diejenige nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 64 Abs. 1 GmbHG ist). So Eisner, ZInsO 2005, 20, 22; Huber, in: Lutter (Fn. 181), S. 307, 340; Müller, NZG 2003, 414, 417; Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 670, die dann freilich (weitergehend) auch die Insolvenzantragspfl icht selbst nach dem Recht des Sitzlandes entwickeln wollen; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3589 f. Ebenso M. Fischer, ZIP 2004, 1477, 1481; Sandrock (Fn. 181), S. 33, 50 ff. Wegen der darin enthaltenen speziellen Rechtsbehelfe erscheint es auch als zu weitgehend, eine Insolvenzantragspflicht aus sec. 214 Insolvency Act abzuleiten und diese als Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB heranzuziehen; so aber Schumann, DB 2004, 743, 748. Zutreffend Eidenmüller (Fn. 181), § 9 Rn. 34; Eisner, ZInsO 2005, 20, 22; M. Fischer, ZIP 2004, 1477, 1481 f.; Huber, in: Lutter (Fn. 181), S. 307, 343; Spahlinger/Wegen (Fn. 181), Rn. C 760; Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 15; Wachter, GmbHR 2004, 88, 101; Weller, IPrax 2003, 207, 208 f.; ders., Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004, S. 118; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3590; dazu auch Horn, NJW 2003, 893, 899; abw. nur Gross/Schork, NZI 2006, 10, 12 f. (der aber andererseits das Vorliegen einer Insolvenzantragspfl icht verneint). Dafür etwa M. Fischer, ZIP 2004, 1477, 1481 f.; Karsten Schmidt, ZHR 168 (2004), 493, 499. Ausführlich Hirte/Mock, ZIP 2005, 474 ff.; Schall, ZIP 2005, 965, 974 f.; dazu jetzt auch Westermann, ZIP 2005, 1849, 1853 f.

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lege bereits dann angenommen, wenn der Schuldner eine unstreitige Forderung von mehr als £ 750 innerhalb von drei Wochen nach einer Mahnung nicht begleicht189. Eine abweichende – sprich: insolvenzrechtliche – Qualifikation der Insolvenzantragspflicht könnte sich daher vertreten lassen, wenn man sie als Kompensat für das an sehr hohe Anforderungen geknüpfte Insolvenzantragsrecht der Gläubiger ansieht190. Freilich wäre vor einer Erstreckung der Pflicht auf die Geschäftsleiter von Auslandsgesellschaften als minder schwerer Eingriff zu erwägen, den Gläubigern solcher Gesellschaften eine Stellung des Gläubigerantrags unter geringeren als den in §§ 13 ff. InsO formulierten Voraussetzungen zu gestatten191. Dieser Schritt sollte auch deshalb ausreichend sein, weil die Annahme der weitergehenden Insolvenzantragspflicht der Geschäftsleiter von ScheinAuslandsgesellschaften dazu führen würde, dass deren Geschäftsleiter mit der Stellung eines Insolvenzantrags ihren gläubigerschützenden Pflichten auch genügen würden. Sie könnten nämlich – wie dies im Rahmen der „organisierten Bestattung von Kapitalgesellschaften“ keineswegs unüblich ist192 – nach Stellung eines Insolvenzantrags auf dessen Abweisung als unbegründet spekulieren, weil sich der Insolvenzgrund (mangels eigener Mitwirkung!) nicht feststellen ließe; eine Anwendung der in diesem Fall sonst greifenden Ansprüche nach englischem Gesellschafts- und Insolvenzrecht193 käme dann kaum noch in Betracht. Bei Verneinung einer gesetzlichen Insolvenzantragspflicht wäre demgegenüber einerseits die Abweisung eines Insolvenzantrags als mit Blick auf § 15 Abs. 2 InsO unzulässig leichter möglich, und die Antragstellung hätte andererseits keine die sonstigen Pflichten gegenüber den Gläubigern ausschließende Wirkung194.

189 Hirte, in: Hirte/Bücker (Fn. 179), § 1 Rn. 73; ausführlich Hirte/Mock, ZIP 2005, 474, 477; siehe auch Meyer-Löwy/Poertzgen/de Vries, ZInsO 2005, 293, 295. 190 So Schall, EBLR 2005, 1534, 1543 f., 1553 (i. E. freilich gegen Eingreifen der Insolvenzantragspfl icht aufgrund Art. 43, 48 EGV). 191 Diese Möglichkeit übersieht Huber, in: Lutter (Fn. 181), S. 307, 351 ff. bei seiner Analyse der möglichen europarechtlichen Rechtfertigungsgründe für eine Erstreckung der Insolvenzantragspfl icht auf Geschäftsleiter von Auslandsgesellschaften. 192 Hierzu Hirte, ZInsO 2003, 833, 834. 193 Zu diesen Kasolowsky/Schall, in: Hirte/Bücker (Fn. 179), § 4 Rn. 34. 194 Dazu näher Mock/Schildt, in: Hirte/Bücker (Fn. 179), § 17 Rn. 70 ff.

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2. Abschaffung der Insolvenzantragspflicht Auf der Grundlage dieser Überlegungen habe ich mich auf dem Deutschen Juristentag im vergangenen September dezidiert dafür ausgesprochen, die Insolvenzantragspflicht zu streichen und dafür im Gegenzug die Antragsrechte der Gläubiger zu erweitern195. Es wird nicht verkannt, dass dieser Schritt – weg von rules und hin zu standards – die deutsche GmbH stärker an die englische angleichen würde und damit auch „weiche Pflichten“ der Geschäftsleiter zugunsten der Gläubiger verbunden sind, die bei der rein formal anknüpfenden Insolvenzantragspflicht des geltenden Recht nicht auftauchen196. Für diese Überlegung muss man sich zunächst nochmals den rechtsvergleichenden Befund zu Eigen machen, dass die Antragspflichten des deutschen Rechts nicht ein besonderes „Geschenk“ an die Gläubiger sind, sondern das Kompensat dafür, dass das Antragsrecht der Insolvenzgläubiger eher schwach ausgeprägt ist197. In der Sache ist zudem zu konstatieren, dass die Antragspflichten des deutschen Rechts die ihnen zugedachte Schutzfunktion nicht erfüllen198. Sie sind letztlich nichts anderes als die Grundlage für Haftungsansprüche, die – wie § 64 Abs. 2 GmbHG zeigt – auch völlig losgelöst von einer positiv formulierten (und strafbewehrten!) Antragspflicht denkbar sind. Zweitens sind sie mit ihrer Unausweichlichkeit eine bekannte Sanierungsbremse, die auch den Einsatz deutscher Gesellschaften im Rahmen großer Umstrukturierungsprojekte immer wieder in Frage stellt199. Deshalb ist es 195 Ebenso Davies, EBOR 7 (2006), 301, 314; Mülbert, EBOR 7 (2006), 357, 382; 400 ff.; ansatzweise auch Eidenmüller, EBOR 7 (2006), 239, 256 ff.; in dieselbe Richtung offenbar für die von ihnen vorgeschlagene UGG Gehb/Drange/Heckelmann, NZG 2006, 88, 96. 196 Zum unterschiedlichen konzeptionellen Ansatz der englischen Geschäftsführerpfl ichten Schall, EBLR 2005, 1534, 1547; zu den mit der Übernahme des englischen Ansatzes verbundenen Risiken (Abstellen auf das Wohl- oder Fehlverhalten im Einzelfall anstelle des bislang in Deutschland vorherrschenden generalisierenden Ansatzes) Röhricht, ZIP 2005, 505 ff. 197 Hirte, in: Hirte/Bücker (Fn. 179), § 1 Rn. 73, 74A; ausführlich Hirte/Mock, ZIP 2005, 474, 477; siehe auch Eidenmüller, EBOR 7 (2006), 239, 248 f.; Meyer-Löwy/Poertzgen/de Vries, ZInsO 2005, 293, 295; Röhricht, ZIP 2005, 505, 515. 198 Übereinstimmend (nur) in diesem Befund Fastrich, DStR 2006, 656, 661. 199 Hierzu Mock/Westhoff, DZWIR 2004, 23, 36 f. – Als Beispiel mögen auch die Schwierigkeiten angeführt werden, Verpfl ichtungen aus nur vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidungen aus dem Begriff der Überschuldung i. S. v. § 19 InsO und vor allem der bei Nichtbegleichung zur Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) führenden Zahlungspfl icht „herauszudefi nieren“, um die Insolvenzantragspfl icht zu verneinen; hierzu ausführlich Uhlenbruck, ZInsO 2006, 338 ff.

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bemerkenswert, dass sich der deutsche Gesetz- bzw. Verordnungsgeber selbst diese Auffassung zu eigen gemacht hat, als er die Insolvenzantragspflicht im Jahre 2002 für die vom Oderhochwasser betroffenen Gesellschaften zeitweise ausgesetzt hat200. Letztlich wird damit deutlich gemacht, dass es entgegen der Auffassung des deutschen Gesetzgebers im Gesellschaftsrecht keinen eindeutig fi xierbaren Punkt gibt, von dem an eine Gesellschaft zwingend abzuwickeln wäre. Sehr schön beschreibt dies Bachner in seiner (englischen) Doktorarbeit, wenn er darauf hinweist, dass der Eintritt der Insolvenz „a process rather than an event“ ist201. Die Anknüpfung an die Merkmale Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung stellt angesichts der vielen Ermessensentscheidungen, die der Feststellung dieser Tatbestände vorgelagert sind, nur eine Scheingenauigkeit dar202 . Und die Insolvenzantragspflichten sind schließlich – wie soeben ausgeführt – gegenüber Schein-Auslandsgesellschaften praktisch nicht durchsetzbar203. Hinzu kommt ein bislang kaum aufgezeigter Zusammenhang zum Bilanzrecht: Je stärker die veröffentlichten Rechnungslegungszahlen – wie etwa die IFRS – Rückschlüsse auf künftige Zahlungsströme zulassen, desto eher können sich die Gläubiger durch Blick in die Bilanz selbst schützen204. Wichtiger ist daher, an die Stelle der Pflicht zur Einleitung eines staatlich kontrollierten Insolvenzverfahrens eine allgemeinere Handlungspflicht treten zu lassen, die auch, aber nicht nur zur Einleitung eines Insolvenzverfahrens führen muss. Dabei wird man sicher über die Frage nachzudenken haben, welche Handlungen hierfür ausreichen und wie diese ggfls. 200 Art. 6 Abs. 1 Flutopfersolidaritätsgesetz v. 20. 9. 2002 (BGBl. I, S. 3651) „unterbrach“ (§ 249 Abs. 1 ZPO) die gesetzlichen Fristen zur Insolvenzantragstellung, „solange die Antragspfl ichtigen ernsthafte Finanzierungs- oder Sanierungsverhandlungen führen und dadurch begründete Aussichten auf Sanierung bestehen“; der zunächst bis Ende 2002 befristete Unterbrechungszeitraum wurde durch eine auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 desselben Gesetzes erlassene Rechtsverordnung v. 16. 12. 2002 (BGBl. I, S. 4543) später noch bis zum 31. 3. 2003 verlängert (zum Ganzen Seibert, ZIP 2003, 91 f.). 201 Bachner, Creditor Protection in Private Companies – Anglo-German Perspectives after Centros, Ph. D. Thesis Cambridge, 2006, S. 168. 202 Mock, Finanzverfassung der Kapitalgesellschaften und Internationale Rechnungslegung, Diss. Hamburg 2007, S. 325 f. (erscheint demnächst in den „Abhandlungen zum deutschen und europäischen Handels- und Wirtschaftsrecht“ [Heymanns Köln]). 203 Wohl ablehnend Haas, Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages, 2006, Gutachten, S. E 35; wie hier aber Schall, ZIP 2005, 965, 970. 204 Zu diesem Zusammenhang (aber ohne Bezug zu Auslandsgesellschaften) Mock (Fn. 202), S. 332 f.

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nachzuweisen sind205; auch die Pflicht zur Einberufung der Gesellschafterversammlung nach Loslösung von der Bindung an den Kapitalverlust gehört hierher206.

V. Zusammenfassung 1. Auch in der Insolvenz bleiben die Organe einer juristischen Person grundsätzlich bestehen. Ihr Wirkungsbereich wird aber durch den Insolvenzverwalter verdrängt, soweit dieser die Interessen der Gläubiger wahrzunehmen hat. (Rest-)Zuständigkeiten der Organe bestehen danach für die innerverbandlichen Angelegenheiten, soweit sie nicht die Aktiv- und Passivmasse berühren, und für die Wahrnehmung der Aufgaben und Pflichten der juristischen Person als Schuldner. Teilweise tritt auch eine Überlagerung der Zuständigkeiten von Insolvenzverwalter und Gesellschaftsorganen ein. 2. Wichtige Restzuständigkeiten, die bei den Gesellschaftsorganen verbleiben, sind zunächst die Bestellung und Abberufung von Geschäftsleitern sowie die Zustimmung zu Anteilsübertragungen (§ 68 Abs. 2 AktG, § 15 Abs. 5 GmbHG). Die Haupt- und Gesellschafterversammlung kann nach wie vor über die Entlastung, die Geltendmachung von Ersatzansprüchen und die Bestellung von Sonderprüfern entscheiden; zudem verbleibt ihr die Kompetenz zu Satzungsänderungen (außer Firmenänderungen und Entscheidungen über die Sitzverlegung) und Kapitalmaßnahmen. Ein zentrales Problem aber ist, dass die Kosten für die Durchführung einer Hauptoder Gesellschafterversammlung keine Massekosten sind und daher in anderer Weise (vor-)finanziert werden müssen. 3. Wichtige Restzuständigkeiten der Gesellschafter bilden das Auskunftsrecht (wobei streitig ist, gegen wen es sich richtet), aber nur hinsichtlich vor Insolvenzeröffnung entstandener Fragen; das Einsichtsrecht besteht zudem nur inoweit, als aus seiner Wahrnehmung keine unerträgliche Erschwerung der Insolvenzverwaltung folgt. Im Übrigen bleibt ihnen die Kompetenz zu Beschlussanfechtungsklagen, soweit die Masse nicht berührt ist. 4. Besondere Bedeutung hat in der jüngeren Zeit die Eigenverwaltung im Rahmen von Unternehmensinsolvenzen erlangt. Voraussetzung für die An205 Zu neueren italienischen Ansätzen jetzt Costa, ZInsO 2006, 1071, 1075 f. 206 Haas, DStR 2006, 993, 997; Hirte (Fn. 180), sub II.1.a) aa) aaa; ebenso Veil, ZGR 2006, 374, 376 ff., 386 ff.

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ordnung einer solchen „Eigenverwaltung unter Aufsicht eines Sachwalters“ (§§ 270 ff. InsO) ist, dass sie keine Nachteile für die Gläubiger mit sich bringt (§ 270 Abs. 2 Nr. 3 InsO). Geschäftsleiter und Organe behalten hier im Gegensatz zum Regelinsolvenzverfahren ihre Kompetenzen – jedenfalls grundsätzlich – vollständig. Insbesondere die Hauptversammlungszuständigkeiten sind daher dieselben wie außerhalb des Insolvenzverfahrens. Ungeklärt ist aber, ob sich die Angemessenheit der Vorstandsvergütung während der eigenverwalteten Insolvenz am Gesellschaftsrecht oder der sonst üblichen Vergütung der Insolvenzverwalter orientiert. 5. Während des Laufs eines Insolvenzverfahrens werden die kapitalmarktrechtlichen Pflichten nach Auffassung der BaFin und des VG Frankfurt/ Main wie andere öffentlich-rechtliche Pflichten durch den Insolvenzverwalter wahrgenommen. Das BVerwG ist dem – letztlich mit Blick auf die „Amtstheorie“ – entgegengetreten. Inzwischen ist der Fragenkreis in § 11 WpHG n. F. einer Neuregelung zugeführt worden, die die Rechtsprechung des BVerwG vor allen Dingen insoweit relativiert, als jedenfalls die Kosten für die Erfüllung kapitalmarktrechtlicher Pflichten (etwa von Veröffentlichungen) aus der Insolvenzmasse entnommen werden können und dürfen. 6. Als Ausweg bietet sich für den Verwalter ein (schneller) Rückzug von der Börse an. Kapitalmarktrechtlich ist die Zulässigkeit eines solchen „Delisting“ unstreitig (§ 38 Abs. 4 BörsG). Gegen ein solches Vorgehen spricht aus Zweckmäßigkeitsgründen, dass eine bestehende Börsennotierung noch verwertet oder zwecks Kapitalzuführung (Kapitalerhöhung) genutzt werden kann. Schwierigkeiten bereitet die vom BGH aufgestellte gesellschaftsrechtliche Voraussetzungen eines Hauptversammlungsbeschlusses für ein Delisting; denn die Kosten einer solchen Versammlung bilden nach herrschender Meinung keine Masseverbindlichkeiten. Ungeklärt ist sodann, aus welchen Mitteln (jedenfalls nicht aus der Masse) die hier gesellschaftsrechtlich erforderliche Abfindung zu zahlen ist und in welcher Höhe (Null?) sie zu leisten ist. 7. Publizitätspflichtige Insiderinformationen vor Verfahrenseröffnung können sein: − größere Verluste und außerordentliche Aufwendungen − Kündigung von wesentlichen Kreditlinien − Forderungsverzichte (einschließlich solchen der Arbeitnehmer) − Veröffentlichung von Sonderprüfungsberichten − Eintritt eines neuen Großaktionärs

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− Verlustanzeige (§ 92 Abs. 1 AktG) − Auflösung von stillen Reserven − Veränderungen in Schlüsselpositionen des Unternehmens 8. Zu den publizitätspflichtigen Insiderinformationen im Zusammenhang mit der Verfahrenseröffnung gehören: − Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) und Überschuldung (§ 19 InsO); nicht aber die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) − Insolvenzantragstellung durch Schuldner und (wohl auch) Gläubiger − Verfahrenseröffnung oder ihre Ablehnung 9. Publizitätspflichtige Insiderinformationen nach Verfahrenseröffnung sind regelmäßig: − öffentliche Bekanntmachung der Masseunzulänglichkeit (§ 208 InsO) − Vorlage eines Insolvenzplans (§ 218 InsO) und die Zustimmung zu ihm durch die Gläubigerversammlung (§ 244 InsO) − Berichtspflichten des Insolvenzverwalters − Abwahl des Insolvenzverwalters (§ 57 InsO) oder dessen Entlassung (§ 59 InsO) − Kündigung von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen 10. Sonstige kapitalmarktrechtliche Pflichten − Veröffentlichungs- und Mitteilungspflichten in bezug auf Directors’ Dealings (§ 15a WpHG) − Führung eines Insiderverzeichnisses (§ 15b WpHG) − Beteiligungstransparenz (§§ 21 ff. WpHG) 11. Die Insolvenzantragspflicht – im GmbH-Recht § 64 Abs. 1 GmbHG – kann nicht auf „Schein-Auslandsgesellschaften“ erstreckt werden, da dies in Widerspruch zu den auf diese anwendbaren gesellschaftsrechtlichen Pflichten stehen kann und daher mit den europäischen Grundfreiheiten nicht vereinbar wäre. Im Übrigen sollte erwogen werden, nach englischem Vorbild auch in Deutschland die zwingende Insolvenzantragspflicht zu streichen und dafür das Recht der Gläubiger auf Einleitung eines Insolvenzverfahrens zu stärken; damit würde zugleich die aus dem zwingendem Charakter der Norm folgende Eigenschaft als „Sanierungsbremse“ beseitigt.

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Praxisprobleme bei der Sanierung einer börsennotierten AG Prof. Rolf Rattunde Rechtsanwalt und Notar, Fachanwalt für Steuerrecht und Insolvenzrecht und Insolvenzverwalter, Berlin

I. Problemaufriss ........................ 193 II. Die Sanierung einer Kapitalgesellschaft – Der Fall SENATOR .............................. 1. Die Konstellation des Falles ................................. 2. Das Sanierungsverfahren ..................................... 3. Die Probleme ..................... a) Hauptversammlungsbeschlüsse ..................... b) Aktionärsrechte ............ c) Kapitalmarktrecht......... d) Kapitalerhöhung ...........

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e) Konzernrecht/Steuerrecht ............................ 203 f) Öffentlich-rechtliche Erlaubnisse ........... 203 III. Das Gesellschaftsrecht im Insolvenzverfahren ................ 1. Hauptversammlung ........ 2. Ansprüche der Aktionäre ... 3. Wertpapierhandelsrecht.... 4. Kapitalmaßnahmen ......... 5. Steuerrecht ...................... 6. Öffentlich-rechtliche Befugnisse ........................

204 206 206 207 207 207 207

IV. Ausblick .................................. 209

I. Problemaufriss 1. Insolvenz- und Sanierungsrecht sind zwei verschiedene Gebiete des Wirtschaftsrechts und werden meist in zwei Gesetzen geregelt. Die Konkursordnung1 regelte die Liquidation des Schuldnervermögens durch Verwertung und Verteilung an die Gläubiger, die durch einen Konkursverwalter vorgenommen wurde2 . Sanierungsfähige Unternehmen erhielten hingegen durch die Vergleichsordnung3 die Chance, den Konkurs, also die Zerschlagung, durch Zwangsvergleich mit ihren Gläubigern abzuwenden. Der Vergleichsschuldner blieb im Besitz des Vermögens und seiner Verfügungsmacht und erhielt einen Vergleichsverwalter zur Seite gestellt. Die

1 In Kraft getreten am 10. 2. 1877 (RGBl., S. 351), galt 120 Jahre, bis 1999 die InsO in Kraft trat. 2 Vgl. Kuhn/Uhlenbruck, KO, 11. Aufl. 1994, § 3 Rn. 1. 3 In Kraft getreten am 26. 2. 1935 (RGBl. I, S. 321, ber. S. 356).

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Insolvenzordnung hat im Jahre 1999 die Gesetze fusioniert und überlässt es den Gläubigern, zu wählen, ob – wie im Konkurs – das Schuldnervermögen verteilt wird oder der Schuldner durch einen Insolvenzplan saniert werden soll, §§ 217 ff. InsO4. Zugleich entscheidet die Gläubigerversammlung darüber, ob der Schuldner im Wege der Eigenverwaltung im Besitz seines Vermögens verbleibt, §§ 270 ff. InsO. Wenn der Moderator meines Vortrags, Prof. Karsten Schmidt, es scherzhaft als ein „nationales Unglück“ bezeichnet hat, dass das Insolvenzrecht den Prozessrechtlern überantwortet wurde statt Teil des Unternehmensrechts zu werden, so wäre diese Kritik jedenfalls unvollständig. Ein nicht minder großes Unglück war es nämlich, dass sich die Wirtschaftsrechtler des Insolvenzrechts in dem Moment nicht wieder angenommen haben, in dem dies durch die Sanierungsvariante im Insolvenzverfahren notwendig wurde. Wenn das Insolvenzrecht die Möglichkeit schafft, dass insolvente Gesellschaften die Pleite überleben, so muss dass Gesellschaftsrecht die Regeln schaffen, mit denen dies durchlebt werden soll. An solchen Regeln fehlt es. Auf diese Lücke aufmerksam zu machen, ist Gegenstand meines Vortrags. 2. Das geschriebene Recht beschränkt sich für insolvente Gesellschaften darauf, zum Schutz der Gläubiger die Insolvenztatbestände festzuschreiben (§§ 17, 19 InsO), hieran die Insolvenzantragspfl icht zu knüpfen (§§ 92 Abs. 2 AktG, 64 Abs. 1 GmbHG) und die verzögerte oder gar unterlassene Antragstellung mit Strafe und Haftung zu bedrohen (§§ 93 Abs. 2, 401 Abs. 1 Nr. 2 AktG, 64 Abs. 2 Satz 1, 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, 283 ff. StGB). Außerdem wird festgestellt, dass die Insolvenz die Gesellschaft auflöst (§§ 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG, 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG). Die Auflösung ist reversibel, falls die Gläubiger die Sanierungsvariante wählen. Hierin erschöpfen sich die Regelungen des AktG und des GmbHG. Wie sich das Innenleben der Gesellschaft entwickelt, wie sie auf den Sanierungsversuch der Gläubiger reagiert und das Verhältnis der Organe des Insolvenzverfahrens zu den Gesellschaftsorganen, ist weder Gegenstand der Vorschriften der Insolvenzordnung noch der des Gesellschaftsrechts. Das Einführungsgesetz zur InsO hat sich lediglich darauf beschränkt, das Aktiengesetz und das GmbH-Gesetz an die Terminologie der Insolvenzordnung anzupassen5. Man regelte zwar, dass die Kapi-

4 Vgl. z. B. Smid, InsO, 2. Aufl. 2001, § 1 Rn. 1 ff.; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 1 Rn. 1 ff. 5 Vgl. z. B. Hüffer, AktG, 7. Aufl. 2006, § 262 Rn. 14; s. Art. 47 Nr. 9b EGInsO.

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talgesellschaft zukünftig die Insolvenz überleben könne, aber wie sie das erlebt, regelte man nicht. 3. Entsprechend verhält sich die Literatur: Die Lehrbücher des Insolvenzrechts6 wie die des Gesellschaftsrechts7, die Kommentare zur InsO8, zum Aktiengesetz9 und zum GmbHG10 werfen die hier relevanten Fragen nicht auf. Die Schnittmenge des Insolvenz- und des Gesellschaftsrechts wird – von Antrags- und Haftungsfragen der bekannten Art abgesehen – nicht erörtert, soweit es um die Besonderheiten der Unternehmenssanierung geht. Die bisherige Rechtslage zur Gesellschaftsinsolvenz wird heute immer noch am besten mit jenem Vortrag verstanden, den Friedrich Weber zum 90jährigen Jubiläum der Konkursordnung hielt11. Er leitet die bekannte Trias her, in die das Leben einer Person, auch einer juristischen, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zerfällt. Soweit die Sphäre des Vermögens betroffen ist, hat der Schuldner oder haben seine Organe wegen der Verfahrenseröffnung nichts mehr zu sagen und werden durch den Verwalter in ihrer Kompetenz verdrängt. Einen eigenen Schuldnerbereich gibt es dort, wo dessen originäre Rechte im Verfahren betroffen sind: So kann z. B. der Schuldner respektive können seine Organe und nicht etwa der Insolvenzverwalter für diesen eine Beschwerde gegen einen Beschluss des Insolvenzgerichts einlegen. Daneben gibt es einen Überschneidungsbereich, wo sich die Kompetenzen überlagern, wie im Bereich des Einkommens und der Wohnung eines Menschen; beides kann konkursfreies Privatvermögen oder Insolvenzmasse sein. Bei der juristischen Person ist dieser Bereich, so vermutet Weber, rudimentär, weil die juristische Person kein privates Vermögen hat und ihre außerverfahrensmäßige Tätigkeit sich allenfalls auf den Ausnahmefall eines Zwangsvergleichs richten könne12 . Dies sei, so Weber13 weiter, auch ein Grund für die knappe Ausprägung des Gesellschafts-Insolvenzrechts, die zudem einen zweiten Grund habe, nämlich den soeben von Karsten Schmidt und mir beklagten: Gesellschaftsrechtler meiden das Insolvenzrecht und umgekehrt. Bspw. Foerste, Insolvenzrecht, 3. Aufl. 2006. Bspw. Hueck/Windbichler, Gesellschaftsrecht, 20. Aufl. 2003. Bspw. Braun, InsO, 2. Aufl. 2004. Bspw. Hüffer, AktG, 7. Aufl. 2006. Bspw. Roth/Altmeppen, GmbHG, 5. Aufl. 2005. Weber, Die Funktionsteilung zwischen Konkursverwalter und Gesellschaftsorganen im Konkurs der Kapitalgesellschaft, KTS 1970, 73–89. 12 Weber, KTS 1970, 73, 79. 13 Weber, KTS 1970, 73, 80 f. 6 7 8 9 10 11

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Ein praktischer Fall mag Ihnen zeigen, wo die Probleme liegen, was hieraus für die gesellschaftsrechtliche Praxis folgt und wie wir gemeinsam diese Probleme lösen können.

II. Die Sanierung einer Kapitalgesellschaft – Der Fall SENATOR 1. Die Konstellation des Falles Insolvenzverfahren dienen, der Gesetzeslage14 und dem praktischen Bedürfnis folgend, heute auch der Sanierung15. Das Insolvenzrecht stellt verschiedene Sanierungsinstrumente zur Verfügung, um spezifische Probleme notleidender Unternehmen zu lösen: Das Insolvenzarbeitsrecht (§§ 113, 119 ff. InsO) ermöglicht zu kalkulierbaren Kosten strukturierten Personalabbau, das Insolvenzmietrecht (§ 109 InsO) ermöglicht es dem Unternehmen, sich von überflüssigem oder zu teurem Mietraum oder geleasten Gegenständen zu trennen und ganz allgemein ist nach §§ 103 ff. InsO im Insolvenzverfahren die Stunde gekommen, verlustbringende Verträge abzuschütteln. Hierüber habe ich an anderer Stelle berichtet16. Das Insolvenzrecht bietet mit dem Insolvenzplanverfahren (§§ 217 ff. InsO) auch ein Konzept, das Überleben einer Kapitalgesellschaft während eines Insolvenzverfahrens als Regelfall und nicht nur, wie beim konkurslichen Zwangsvergleich, ausnahmsweise (und nie praktisch) vorzusehen. Weil aber das Insolvenzrecht prozessual-zwangsvollstreckungsrechtlich und nicht am Unternehmensrecht orientiert ist, diskutieren heute im Insolvenzverfahren Wissenschaft, Praxis und Jurisdiktion auf inkompatiblen Ebenen. Für den zwangsvollstreckungsrechtlich orientierten Insolvenzrechtler dient das Verfahren der Haftungsdurchsetzung, der Vermögensverwertung und der Insolvenzanfechtung. Insolvenzverwalter sind für ihn Gesamtgerichtsvollzieher, die mit Gläubigern und Schuldnern keine gemeinsame Sache machen dürfen. Demzufolge haben die Gläubiger und Schuldner kein Vorschlagsrecht auf den Insolvenzverwalter. Fiat Justitia: So ziehen Insolvenzrichter und Insolvenzverwalter auf die verblüfften Manager und Unternehmensberater los, die eigentlich vorhatten, mit dem Insolvenzgericht das Verfahren abzustimmen, um kurzfristig zu 14 Vgl. § 1 Satz 1 InsO. 15 Vgl. hierzu Rattunde, Sanierung durch Insolvenz, ZIP 2003, 2103; ders., Sanierung von Großunternehmen durch Insolvenzpläne, ZIP 2003, 596; Braun/Kießner, InsO, 2. Aufl. 2004, Einf. Rn. 16. 16 Rattunde, ZIP 2003, 2103, 2107.

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einem moderaten Sanierungserfolg zu gelangen. Diese nämlich argumentieren im Gegensatz zu jenen sanierungsrechtlich und sehen das Insolvenzverfahren als Möglichkeit an, überflüssiges Personal abzubauen, lästige Filialen zu schließen, ungesicherte Kredite abzuschmelzen, wie der an Chapter 11 US Bankruptcy Code geschulte anglophone Berater eben so denkt. Jedenfalls, wenn ein sanierungswürdiger und sanierungsfähiger Betrieb vorhanden ist und es sich nicht bloß, wie allerdings in den meisten Insolvenzverfahren, um eine Abwicklungsinsolvenz oder gar einen Fall der Wirtschaftskriminalität handelt. Beide Auffassungen werden in der Praxis vertreten und es kann nicht gesagt werden, welche herrscht. Allein die Existenz der Zwangsvollstreckungsrechtler allerdings jagt heute den Sanierern Angst vor Zerschlagung ein, so dass in Krisenfällen der Ruf erschallt, vorsichtshalber lieber ins Ausland, z. B. nach England, auszuweichen. Fälle dieser Art sind tatsächlich passiert – wie etwa bei der nach London ausgewanderten DEUTSCHE NICKEL AG – oder werden zumindest diskutiert17. Hieraus leiten die Sanierer bereits Gefahren für den deutschen Insolvenzstandort ab18. Es handelt sich indessen um ein Scheinproblem. Tatsächlich ist das Verfahren ja gewollt ergebnisoffen. Es muss nur irgendwann – spätestens im Berichtstermin – entschieden werden, ob saniert oder liquidiert werden soll. Sind sich alle bereits bei Insolvenzantragstellung einig – alle i. d. S. sind Insolvenzgericht, (vorläufiger) Insolvenzverwalter, Hauptgläubiger und Schuldner bzw. seine Organe – so kann mit der Sanierung bereits bei Antragstellung begonnen werden. Ich bin sogar der Meinung, dass bereits vor Antragstellung begonnen werden kann und sollte, um bei frühzeitiger Antragstellung in einem positiven Insolvenzklima einen möglichst frühzeitigen und damit optimalen Sanierungserfolg zu erreichen19. Die mit Insolvenzantragstellung begonnene Sanierung selbst großer Konzerne ist in Deutschland möglich, wenn sich alle entsprechend verhalten. Ein illustratives Beispiel, mit dem meine Kanzlei20 dies bewiesen hat, ist die Sanierung der bekannten HERLITZ AG durch ein nur fünfwöchiges Insolvenz-

17 So derzeit für die Verfahren Schefenacker AG. 18 Braun, Global Turnaround, March 2004, S. 6; ders., NZI Heft 1/2004, V; Vallender, Die Beschlüsse des BGH zur Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters – eine Gefahr für den Insolvenzstandort Deutschland?, NJW 2006, 2956 ff. 19 Hierzu ausführlich Rattunde, ZIP 2003, 2103 ff. 20 Leonhardt Westhelle & Partner, bis September 2006 Leonhardt & Partner.

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planverfahren im Sommer 200221. Dort ist ein Konzern mit 3500 Mitarbeitern in wenigen Wochen von 300 000 000 Euro Verbindlichkeiten befreit worden, wurde umstrukturiert und blieb den Aktionären (M-DAX) und den Mitarbeitern erhalten, zahlte seine Lieferantenkredite quotal und die Bankenkredite, soweit gesichert, vollständig zurück und erfreut sich noch heute der Marktführerschaft in Europa. Dass dies so glatt ging, war nicht nur für zwangsvollstreckungsrechtlich orientierte Insolvenzrechtler eine Überraschung, sondern bedurfte spezifischer Umstände und einer systematischen Sanierungsarbeit, die hier nicht im Einzelnen darzustellen ist. Wegen der Kürze des Insolvenzplanverfahrens stellten sich Fragen des gesellschaftsrechtlichen Überlebens dabei nur begrenzt: Ist der Aufsichtsrat, ist der Vorstand zu honorieren, sind Hauptversammlungen abzuhalten, wer ist für Ad-hoc-Mitteilungen verantwortlich? Das Verfahren war so schnell beendet, dass die Probleme – kaum erkannt – entweder gelöst wurden oder wieder weggefallen waren. Ein Weiteres kam hinzu: Das Unternehmen erwirtschaftete die Mittel für sein kurzes insolvenzrechtliches Überleben selbst, der Rest wurde ihm durch einen Massekredit zur Verfügung gestellt. Aber was ist, wenn der Cash-Flow nicht reicht, keine Bank nachschießt, kein starker Investor vorhanden ist, der den Betrieb kurzer Hand im Rahmen einer übertragenden Sanierung kauft und trotzdem saniert werden soll? Ein solcher Fall ereignete sich in Berlin im Jahr 2004. Auch für ihn war meine Kanzlei bestellt. Da ich seit März 2006 nicht mehr Insolvenzverwalter des Unternehmens bin, kann ich eine Erfolgsmitteilung abgeben und dabei zeigen, wie die börsennotierte Gesellschaft SENATOR ENTERTAINMENT AG während der Dauer ihres fast zweijährigen Insolvenzplanverfahrens sich mit der Insolvenz und mir einrichtete.

2. Das Sanierungsverfahren Die SENATOR ENTERTAINMENT AG ist Deutschlands zweitgrößter Filmkonzern. Sie war nennenswert beteiligt an der bekannten Kinokette CINEMAXX und hat viele bekannte Filme hergestellt, so u. a. DAS WUNDER VON BERN und GOOD BYE LENIN. Das Unternehmen besitzt eine Filmbibliothek von internationalem Rang. Wegen des dort notwendigen Abschreibungsbedarfs stellte die Gesellschaft Anfang 2004 Insolvenzantrag wegen Überschuldung. Die Banken hatten 21 Vgl. hierzu Rattunde, Sanierung von Großunternehmen durch Insolvenzpläne – Der Fall Herlitz, ZIP 2003, 596, 597 ff.

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Rattunde – Sanierung einer börsennotierten AG

mit der Branche ein Problem und dachten nicht an Nachfinanzierung, vielmehr verkauften sie nach einigen Wochen ihre Non-Performing-Loans im Wege eines Distressed Debt Deals22 an Finanzinvestoren, sog. Heuschrecken. Eine Auffanggesellschaft kommt für Medienkonzerne kaum in Betracht. Lizenzen sind Rechtspachten, §§ 581 ff. BGB, und überleben daher eine Insolvenz oft nicht: Die Vertragspartner des Lizenznehmers können kündigen, wenn die Verträge entsprechende Regelungen enthalten, was sich oft nach kalifornischem Insolvenzrecht richtet. Deshalb müssen die Konzerntöchter aus der Insolvenz herausgehalten werden. Über sie informiert folgendes Schaubild: 5'0#614'06'46#+0/'06#) $GTNKP 5JCTG





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22 Rattunde, NPL, DDI und Insolvenz – der Kauf von Schulden schlechter Schuldner, in: Sanierung & Insolvenz, Dr. Wieselhuber & Partner GmbH, Ausgabe 3/2006, 29.

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Rattunde – Sanierung einer börsennotierten AG

Die Zerschlagung eines insolventen Konzerns und den Verkauf seiner Teile („übertragende Sanierung“) ist zwar grundsätzlich möglich und in der deutschen Rechtspraxis der Regelfall (Babcock, Walterbau, Philip Holzmann) jedoch kann bei dem Verkauf einer rechtehaltenden Gesellschaft der Rechtebestand durch Change-Of-Control-Klauseln fragil werden. Vorzugswürdig ist allemal eine Eigensanierung durch Insolvenzplan. Da das Filmgeschäft langfristige Produktzyklen hat, ermöglicht der kurzfristige Cash-Flow nicht das Überleben. Sind, wie hier, keine starken Aktionäre und nachschussbereite Banken vorhanden, bleibt nur der Weg über den Kapitalmarkt. Vorstand, Aufsichtsrat und Insolvenzverwalter entschlossen sich kurzfristig nach Antragstellung, diesen Weg zu gehen. Das machte es erforderlich, das Insolvenzverfahren mit den Kapitalmaßnahmen zu verzahnen. Die nachfolgende Zeitachse für die Jahre 2004 bis 2006 mag dies verdeutlichen: 4€EM 'T{TVG TWPIU PCJOG +PUQN #DUVKO OWPIU XGP\CP VTCI VGTOKP 6{EJVGT

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