This literary study examines representations of social communication in the European literature of the 12th to the 16th
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German Pages 435 Year 2010
Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschung
3. Gesellige Kommunikation in der höfischen Literatur
4. Spielerischer Streit. Geselligkeit und Minnekasuistik in den Questioni d’amore des Filocolo
5. Vom questionare zum novellare. Geselliges Erzählen im Decameron
6. Gesellige Kommunikation in der Rezeption. Ausblicke auf die europäische Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit
7. Schluss
Backmatter
Frhe Neuzeit Band 139 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Caroline Emmelius
Gesellige Ordnung Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Frher Neuzeit
De Gruyter
Gedruckt mit Untersttzung des Fçrderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
ISBN 978-3-484-36639-8 e-ISBN 978-3-484-97120-2 ISSN 0934-5531 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co., Gçttingen
¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegenden Untersuchungen befassen sich mit den Formen vormoderner höfischer Geselligkeit. Sie versuchen die Logik geselliger Interaktion und Kommunikation in literarischen Geselligkeitsentwürfen zu beschreiben und auf ihr traditionsbildendes Potential für die Frühe Neuzeit zu befragen. Die Arbeit wurde im Dezember 2005 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät in Göttingen eingereicht. Im Zuge der Drucklegung wurde sie punktuell bearbeitet, insbesondere neu erschienene Literatur wurde nachgetragen. Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch die Aufnahme in die International Max Planck Research School »Werte und Wertewandel« und das interdisziplinäre Umfeld der Göttinger Mediävistik. Sie wurde großzügig unterstützt durch ein Lichtenberg-Promotionsstipendium des Landes Niedersachsen. Zum Abschluss eines langjährigen Projekts gilt es, vielen Personen Dank auszusprechen: Zuerst Prof. Dr. Klaus Grubmüller, der nicht nur mein Interesse für das Erzählen Boccaccios geweckt und mich auf die Spur des Filocolo gesetzt hat, sondern der die Entstehung der Arbeit stets wohlwollend und geduldig begleitet hat. Ihm, sowie Prof. Dr. Wilfried Barner und Prof. Dr. Hedwig Röckelein danke ich für die Begutachtung der Arbeit und die entgegenkommend schnelle Abwicklung des mündlichen Verfahrens. Den Herausgebern der Reihe »Frühe Neuzeit«, besonders Prof. Dr. Jan-Dirk Müller, gilt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit. Für die kompetente Beratung und Unterstützung während der Drucklegung bedanke ich mich bei Frau Zeller-Ebert vom Max Niemeyer Verlag. Ohne die hilfreiche Förderung und den aufmerksamen Zuspruch durch Hartmut Bleumer hätte das Buch nicht in dieser Weise fertig werden können. Für seine Unterstützung und gleichzeitige Nachsicht in denk- und schreibintensiver Zeit danke ich ihm sehr herzlich. Nicht zuletzt gibt es eine Reihe von Personen, die die Entstehung der Arbeit aus engerem und weiterem Abstand geduldig begleitet, mich bestärkt und schließlich durch sorgfältiges Korrekturlesen den Abschluss befördert haben: Rüdiger Eichel, Johann-Christoph und Friederike Emmelius, Magdalene Emmelius, Frauke Muthmann und Tobias Dünow. Ihnen allen gilt mein großer Dank. Mein Mann Rüdiger und
VI meine Tochter Charlotte haben Entstehung und Drucklegung des Buches besonders intensiv begleitet. Ihnen ist es gewidmet. Hannover, Februar 2009
C. E.
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Geselligkeit als soziale Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Geselligkeit als kommunikative Kategorie: Dialog, Konversation, Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Gesellige Kommunikation in der höfischen Literatur . . . . . . . 3.1 Geselligkeit und das Sozialmodell des Artushofs in Hartmanns Iwein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Geselligkeit und die kommunikative Ordnung des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Geselliges Erzählen als Ordnungshandeln in mhd. Mären, Flore und Blanscheflur und Wittenwilers Ring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Geselliges Erzählen zwischen Auszeichnung und Abwertung: Iwein, Daniel von dem Blühenden Tal, Diu Crône . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zwischenresümee: Paradigmen geselliger Kommunikation in mittelalterlicher Literatur . . . . . . . . .
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4 Spielerischer Streit. Geselligkeit und Minnekasuistik in den Questioni d’amore des Filocolo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Questioni d’amore in der Forschung . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Exkurs: Florisstoff und höfische Geselligkeit – analoge Rahmenszenarien bei Boccaccio und Konrad Fleck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gesellige Formation in der Questioni d’amore-Episode . . 4.2.1 Garten und Meer: Etablierung ›höfischer Geselligkeit‹ am Gegen-Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Nobilità, cortesia und persönliche condizione: Die Etablierung der geselligen Runde als sozialer Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII 4.2.3 Die Spielregel der Königin: Mechanismen zur Stabilisierung von Geselligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.1 Geselligkeit als Königshof: Das Muster des Artushofs und das Prinzip der Wahl . . . . . 4.2.3.2 Geselligkeit als Gericht: Das Muster der cour d’amour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.3 Geselligkeit als Spiel: Das Muster der minnekasuistischen Fragespiele . . . . . . . . . 4.2.4 Geordnete Kommunikation als Verstetigung geselliger Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Soziale Egalität und soziale Differenz: Geselliges Paradox? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Zwischenresümee: Gesellige Ordnung als intertextuelle Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Gesellige Kommunikation in der Questioni d’amore-Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 novella e dimanda: Die Präsentation der questioni d’amore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Adaptierte argumentatio, transformierte Beweise: Die Verhandlung der questioni d’amore . . . . . . . . . 4.3.3 giudizio, soluzione, consiglio: Zum Stellenwert der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Zwischenresümee: Gesellige Disputation zwischen Konversation und geselligem Erzählen . . . . . . . . . 5 Vom questionare zum novellare. Geselliges Erzählen im Decameron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Zum Begriff der ›Rahmenerzählung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Rahmenerzählung in der Forschung . . . . . . . . . . . . . 5.3 Gesellige Formation im Decameron . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Die Peststadt und die Gärten: Die geselligen Orte des Decameron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.1 Exkurs: Das Problem der inneren Bilder. Zur Entstehung von Melancholie und amor hereos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Heterosozialität als Programm: Die Formierung der brigata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Das rotierende Amt des Königs und die kommunikative Ordnung des novellare : Die Spielregeln der brigata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Zwischenresümee: Soziale Entdifferenzierung und spielerische Differenzierung. Geselligkeit als Äquilibristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX 5.4 Gesellige Kommunikation im Decameron . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Strukturen kommunikativer Interaktion im Decameron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 casi d’amore und die Vermeidung ihrer Verhandlung: Zum minnekasuistischen Palimpsest des Decameron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1 Kasus, narratio, Novelle . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.2 Eine Frage der liberalità : Kasus-Verhandlung in der Novelle X,4 . . . 5.4.2.3 Parodierte Kasuistik: Die Licisca-Episode . 5.4.2.4 disputare als Dissoziation: Fiammettas Kommentar zur Novelle X,5 . . . . . . . . . . . 5.4.3 Erzählen als Turnier: Kommunikative Konkurrenz im Decameron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Zwischenresümee: Geselliges Erzählen zwischen Deutungsverzicht, Konsens und Agonistik . . . . . . .
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6 Gesellige Kommunikation in der Rezeption. Ausblicke auf die europäische Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Translatio geselliger Modelle: Edmund Tilneys The Flower of Friendship (1568) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Gesellige Interaktion in The Flower of Friendship . 6.1.2 Gesellige Kommunikation: Die Verhandlung von Ehe in The Flower of Friendship . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Akkulturation als Aufmerksamkeitsverschiebung: Höfische Geselligkeit in der deutschen Boccaccio-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Isolierte Rezeption: Die Liebesfragen in Florio und Bianceffora (1499) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Reduzierte Geselligkeit: Das allmähliche Verschwinden der Rahmenerzählung in der deutschen Decameron-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Humanistische Geselligkeit: Die Synthese geselliger Modelle in Erasmus’ Convivium fabulosum (1523) . . . . . .
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7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abkürzungen und abgekürzt zitierte Literatur . . . . . . . . . 2. Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Autoren, Werke, Historische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wörter, Begriffe, Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Gesellige Ordnung: Der Titel dieser Arbeit stellt die Leitbegriffe ins Zentrum, über die das Thema literarischer Inszenierungen von geselliger Kommunikation vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit im Folgenden erschlossen werden soll. Sie verweisen auf die Frage, wie sich die soziale Symmetrie einer geselligen Situation mit der im kommunikativen Handeln hergestellten Hierarchie vereinbaren lässt. Diese Frage ergibt sich, wenn man die beiden Begriffe von ihrer Etymologie aus versteht: Während ›Geselligkeit‹ im modernen Sprachgebrauch eine von Alltagshandlungen und -umständen entlastete Situation bezeichnet, in der eine Gruppe von Personen mit dem Ziel kollektiver Unterhaltung und kollektiven Vergnügens interagiert,1 hat der Begriff historisch gesehen vor allem eine soziale Dimension: ›Geselligkeit‹ bezeichnet als Ableitung zu mhd. geselle die Gemeinschaft derer, die der Etymologie des Wortes nach in einem Saal schlafen.2 Das Wort konnotiert also soziale Nähe bzw. stärker noch:
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Georg Simmel definiert etwa Freude, Entlastung und Lebendigkeit als »gesellige Werte« (Soziologie der Geselligkeit. In: G. S.: Soziologische Ästhetik. Hrsg. und eingel. von Klaus Lichtblau. Darmstadt 1998, S. 191–205, hier S. 196 [Wiederabdruck aus: Verhandlungen des 1. deutschen Soziologentages. Tübingen 1911, S. 1–16]). Vgl. auch Axel Gehring: Die Geselligkeit. Überlegungen zu einer Kategorie der »klassischen« Soziologie. In: KFSS 21 (1969), S. 241–255. Die neuere literaturwissenschaftlicheArbeit von Emanuel Peter definiert Geselligkeitwie folgt: »darunter [wird] eine Gruppenbildung von Menschen verstanden, die sich hauptsächlich unter subjektiv-affektiven Aspekten zusammenschließen. Die ›Verpersönlichung‹ des Zusammenschlusses äußert sich in Entstehung, Form, inneren Gruppenprozessen und unterscheidet sich damit von hauptsächlich zweckrational bestimmten ›Vergesellschaftungen‹ (Verein, Partei, […]). Als ›Gegenstruktur‹ zur Gesellschaft reflektiert die Geselligkeit ihre spezifisch-historische und soziale Bedingtheit oft mit und enthält häufig eine ›Gegenwelt‹, mit der indirekt oder direkt vorhandene Normen, Zwänge, Verhaltens- und Denkmuster infragegestellt werden.« (Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999 [= Studien zur deutschen Literatur, 153], S. 15f.). Vgl. Kluge, S. 352 (›Geselle‹); Lexer Bd. 1, Sp. 908f. (›geselle‹), Sp. 909 (›gesellecheit‹); Grimm Bd. 5, Sp. 4025–4040 (›geselle‹), Sp. 4047 (›geselligkeit‹). Instruktive Hinweise zur frühneuzeitlichen Entwicklung der Etymologie von ›geselle‹ und ›gesellin‹ sowie ›Geselligkeit‹ und ›Gesellschaft‹ gibt Barbara Becker-Cantarino: Frauenzimmer Gesprächspiele. Geselligkeit, Frauen und Literatur im Barockzeitalter. In: Wolfgang Adam (Hrsg.): Geselligkeitund Gesellschaft im Barockzeitalter. Unter Mitwirkung von Knut Kiesant, Winfried Schulze und Christoph Strosetzki.
2 soziale Gleichrangigkeit oder Ebenbürtigkeit, die wiederum ein spezifisches Verhalten (etwa freundschaftlichen Umgang) begünstigt.3 Dagegen bezeichnet ›Ordnung‹ im sozialen Kontext feudaler Gesellschaften als Lehnbildung zu lat. ordo einen Vorgang der Stratifizierung und Hierarchisierung bzw. dessen Ergebnis.4 Vor diesem wortgeschichtlichen Hintergrund ist der Begriff ›gesellige Ordnung‹ also ein Oxymoron: Denn wenn eine Gruppe von Gleichrangigen in einer ›geselligen‹ Situation eine hierarchische Ordnung annimmt oder sich diese sogar selbst gibt, muss das ein paradoxer Vorgang sein. Die These der folgenden Studie lautet, dass gesellige Ordnungen der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur dieses Paradox auf besondere Weise verdeutlichen. Es kann als Kehrseite der Vorstellung einer geselligen Gleichheit verstanden werden, die hierarchische Ordnungen zu suspendieren meint, aber eben deshalb auf Hierarchien bezogen bleibt. Im literarischen Medium tritt diese Doppelstruktur zutage, sobald die gesellige Interaktion an den Diskurstyp der Narration gekoppelt wird: denn auch das Erzählen unter Gleichen impliziert eine hierarchische Relation zwischen Erzähler und Rezipient. Folglich hat die vorliegende Arbeit eine doppelte Perspektive: eine literaturgeschichtliche und eine, die dem Problem der sozialen Diskursformen gilt. Die literaturgeschichtliche Perspektive nimmt ihren Ausgang von der in den 1980er Jahren aufgekommenen Debatte um die Frage, ob sich die Renaissance als ›dialogisches Zeitalter‹ vom Mittelalter als ›monologischem Zeitalter‹ abgrenzen lasse. Karlheinz Stierle nimmt eine solche
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Teil I. Wiesbaden 1997 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 28,1), S. 17–41, hier S. 20–24. In der klassischen Soziologie, aber auch in Arbeiten, die sich mit Geselligkeit als soziologischer Kategorie beschäftigen, wird dieser Aspekt nur am Rande verhandelt. So spricht Simmel sehr allgemein von der »demokratische[n] Struktur aller Geselligkeit,die freilichjede Gesellschaftsschichtnur in sich selbst realisieren kann, und die eine Geselligkeitunter Angehörigen ganz verschiedener sozialer Klassen so oft zu etwas Widerspruchsvollem und Peinlichem macht.« (Soziologie der Geselligkeit, S. 196). Gehrings Einführung referiert die Position von Simmel, fasst sie aber vor allem als kommunikatives Problem auf: »Was Simmel als widerspruchsvoll und peinlich bezeichnet, sind Verständigungsschwierigkeiten. Sie entstehen, wenn Träger geselliger Beziehungen nicht sinnvoll kommunizieren können, weil die gegenseitigen praktischen Erfahrungsbereiche unterschiedlich geprägt sind.« (Die Geselligkeit, S. 248). Zum mittelalterlichen ordo-Begriff vgl. O. G. Oexle / H. Schneider / H. H. Anton: Art. Ordo. In: LexMa 6 (1996), Sp. 1436–1441; sowie Lexer Bd. 2, Sp. 161 (›ordenunge‹) und Grimm Bd. 7, Sp. 1330–1336 (›ordnung‹). Zu Geschichte und Kritik des Begriffs in der mediävistischen Forschung vgl. Bernhard Jussen: Ordo zwischen Ideengeschichte und Lexikometrie. Vorarbeiten an einem Hilfsmittel mediävistischer Begriffsgeschichte. In: Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter (Hrsg.): Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter. Ostfildern 2006 (= Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, 64), S. 227– 256, bes. S. 229–236.
3 kontrastive Gegenüberstellung in seinem Beitrag zum Poetik und Hermeneutik-Band Das Gespräch programmatisch vor: Die Renaissance ist die europäische Epoche, wo, wie nie zuvor, die Welt der Diskurse von der Idee des Gesprächs durchdrungen wird, das Gespräch zum Paradigma einer neuen Geselligkeit und einer neuen Hinwendung zur Welt wird […]. Das Bewußtsein der Wiedergeburt, das diese Epoche seit ihren Anfängen prägt, ist wesentlich ein Bewußtsein des Heraustretens aus einer von den Diskursen christlicher und scholastischer Weltdeutung beherrschten und begrenzten Welt.5
Diese Zuspitzung ist nicht unwidersprochen geblieben. Insbesondere Peter von Moos hat sich in einer Vielzahl von Beiträgen bemüht, gegen das Diktum vom ›gesprächslosen‹, ›undialogischen‹ Mittelalter zu argumentieren, indem er auf die Vielzahl mittelalterlicher Dialoge verweist und auf die Rolle, die dem Dialog im Bereich der schulischen und universitären Wissensvermittlung zukommt.6 Er nennt insbesondere die dialogische Schulliteratur, Traktate, Lehrdialoge sowie die »methodologische Führungsrolle«7 der Disputation. Die Argumente Stierles sind damit allerdings nicht entkräftet: Wenn er die Renaissance als ›dialogisch‹ bezeichnet, dann bezieht sich das nicht allein auf eine intensivierte Rezeption der antiken Gattung ›Dialog‹, sondern auf eine veränderte Haltung zu einem entdogmatisierten, pluralisierten Wahrheitsbegriff und auf ein soziales Kommunikationsmodell, das über Gleichrangigkeit, Wechselseitigkeit und Unmittelbarkeit Abstand zu hierarchischen Kommunikationsformen nimmt. Die auf beiden Seiten vorgebrachten Argumente erwiesen sich somit als inkompatibel. Das hat von Moos abschließend selbst nachgetragen: Eine begriffliche Klärung hätte die Debatte erübrigt. Stierle rekurrierte auf das Dialogische, auf eine tolerante, undogmatisch offene Mentalität, auf eine Gesprächskultur, die natürlich inkommensurabel zur Produktion von Dialogen steht.8
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Karlheinz Stierle: Gespräch und Diskurs. Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal. In: K. S. / Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch. 2. unveränd. Aufl. München 1996 (= Poetik und Hermeneutik, 11), S. 297–334, hier S. 306. Peter von Moos: Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte der Dialogform im Mittelalter. Der Dialogus Ratii des Eberhard von Ypern zwischen theologischer disputatio und Scholaren-Komödie. In: Günter Bernt / Fidel Rädle / Gabriel Silagi (Hrsg.): Tradition und Wertung. FS für Franz Brunhölzlzum 65. Geburtstag. Sigmaringen 1989, S. 165–209, hier S. 165–169; ders.: Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Dialogische Interaktion im lateinischen Hochmittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 300–314; ders.: Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischenMittelalter. In: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hrsg.): Exempel und Exempelsammlungen. Tübingen 1991 (= Fortuna vitrea, 2), S. 23–57; ders.: Gespräch, Dialogform und Dialog nach älterer Theorie. In: Barbara Frank / Thomas Haye / Doris Thopinke (Hrsg.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Tübingen 1997 (= ScriptOralia, 99), S. 235–259. von Moos, Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte, S. 167. von Moos, Gespräch, S. 238.
4 Dass das von Stierle skizzierte, die Zäsur zwischen Mittelalter und Renaissance fixierende Epochenmodell als Denkfigur bis heute dennoch kaum an Attraktivität eingebüßt hat, zeigt die Einleitung von Guthmüller und Müller zu dem 2004 erschienenen Tagungsband Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. Hier wird Stierles Postulat erneut festgeschrieben: […] mit Bezug auf die Renaissance [kann] von einer Dialogkultur oder auch von einer dialogischen Kulturepoche gesprochen werden, was hinsichtlich des Mittelalters schwerlich möglich ist.9
In Epochenmodellen, wie sie solchen Aussagen zugrunde liegen, wird das Mittelalter – häufig in Anlehnung an die grundlegenden Arbeiten von Schmölders und Göttert zur Konversationstheorie der Frühen Neuzeit10 – sowohl in Bezug auf die Situationen als auch auf die Modi von Kommunikation vor allem auf geistliche und gelehrte Diskurse reduziert, wohingegen der höfische Diskurs vollständig unberücksichtigt bleibt. Dabei lassen sich gerade von hier aus wichtige Anknüpfungspunkte für die Konzeptionen geselliger ›Gesprächskultur‹ in der Renaissance finden. 11 9
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Bodo Guthmüller / Wolfgang G. Müller: Einleitung. In: B. G. / W. G. M. (Hrsg.): Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance. Wiesbaden 2004 (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, 22), S. 7–16, hier S. 7. Aussagen wie »Man sollte die unbestreitbare Kontinuität in der Verwendung des Dialogs im Mittelalter und der Renaissance nicht zu stark betonen« versuchen offenbar, die von von Moos vorgebrachten Argumente abzuwehren (ebd.). Claudia Schmölders: Einleitung. In: C. S. (Hrsg.): Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie. München 2 1986 (= dtv, 4446), S. 9–68, hier S. 16–21; Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988, S. 9–19. Vgl. hierzu jetzt die Beiträge im grundlegenden Band von Rüdiger Schnell (Hrsg.): Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch. Köln u. a. 2008, insbesondere ders.: Einleitung. In: ebd., S. 1–30, bes. 9–13; ders.: Konversation im Mittelalter. Bausteine zu einer Geschichte der Konversationskultur. In: ebd., S. 121–218, bes. S. 121–151 und S. 184–197; ders.: Männer unter sich – Männer und Frauen im Gespräch. Geschlechterspezifische Aspekte der Konversation. In: ebd., S. 387–440, bes. S. 423–430; sowie Francesco Mugheddu: Die civile conversatione des Decameron und ihre Nachfolger. In: ebd., S. 259–312. Schon die ältere Arbeit von Thomas Frederick Crane hatte anschauliches Material für diese These geliefert: Italian Social Customs of the Sixteenth Century and their Influence on the Literatures of Europe. New Haven 1920 (= Cornell studies in English, 5). Möglicherweise aber haben der irreführende Titel sowie die positivistische Anlage der Arbeit verhindert, dass die dem Material ablesbarenKontinuitäten zwischen den Konversationskonzepten in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur breiter zur Kenntnis genommen wurden. Für Harsdörffers Frauenzimmergesprechspiele hat die Arbeit von Rosmarie Zeller intertextuelle Referenzen auf die höfische Literatur des Mittelalters angedeutet, vgl. Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörffers »Gesprächspielen«. Berlin / New York 1974 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N. F. 58), S. 77–80; auf die literarhistorischen Zusammenhänge zwi-
5 Die Einwände bei von Moos haben allerdings auch deutlich werden lassen, dass sich die These vom ›monologischen Mittelalter‹ gar nicht über die Textsorte des Dialogs widerlegen lässt. Eine alternative Option eröffnet Stierles Aussage, dass in der Renaissance das Gespräch zum »Paradigma einer neuen Geselligkeit« werde. Damit ist vermutlich gar nicht mehr gesagt, als dass viele Renaissance-Dialoge in geselligen Kontexten situiert sind, die sich dadurch auszeichnen, dass mehr als zwei Teilnehmer an ihnen beteiligt sind und die jeweilige Situation des Sprechens von spezifischen, etwa didaktischen, gelehrten oder politischen Zwecken entlastet ist. Solche Kontexte aber sind auch vor der Renaissance schon Gegenstand literarischer Darstellung und sie bieten zumeist ebenfalls einen Rahmen für kommunikative Interaktion, auch wenn der Modus der Kommunikation nicht dem Typus eines freien, offenen, am sokratischen Dialog orientierten Gesprächs entspricht, der Stierle hier als Ideal vorschwebt. Insofern ist offen, welcher Diskurstyp die Systemstelle des Gesprächs hier genau vertritt. Stierles Formulierung wäre damit aber umzudrehen: nicht das Gespräch wird in der Renaissance zum Paradigma einer neuen Geselligkeit, sondern Geselligkeit wird zum Ort einer neuen – im Rückgriff auf antike Konzeptionen gewonnenen – Weise philosophischen Sprechens. Ein Grund dafür, warum dieser Zusammenhang bei Stierle nicht präziser erfasst ist, hängt mit dem Begriff des ›Gesprächs‹ zusammen: ›Gespräch‹ hat im Deutschen weder ausschließlich rhetorische, noch ausschließlich philosophische Konnotationen, sondern ist zugleich ein sozialer Begriff, der Aussagen über die symmetrischen Relationen der Sprecher und die entlastete Situation ihres Sprechens impliziert. Diese sozialen Konnotationen wiederum sind auch dem Begriff der ›Geselligkeit‹ eigen.12 Die partielle Überlagerung von ›Geselligkeit‹ und ›Gespräch‹ ist
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schen den jeux de conversation im Frankreich des 17., der italienischen Gesprächspielliteratur des 16. Jahrhunderts und der mittelalterlichen Minnekasuistik macht der Beitrag von Margot Kruse aufmerksam: Sprachlich-literarische Aspekte der höfischen ›jeux de conversation‹ in Italien und Frankreich. In: August Buck u. a. (Hrsg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Vorträge und Referate gehalten anläßlich des Kongresses des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung und des Internationalen Arbeitskreises für Barockliteratur in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 4. bis 8. September 1979. Tl. 2. Hamburg 1981 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 9), S. 33–40; ausführliche Nachweise hierfür liefert die Arbeit von Christa Schlumbohm: Jocus und Amor. Liebesdiskussionen vom mittelalterlichen »joc partit« bis zu den preziösen »questions d’amour«. Diss. Hamburg 1974 (= Hamburger Romanistische Dissertationen, 14). Dass die Überlagerungen sozialer und kommunikativer Dimensionen nicht nur für den Begriff des ›Gesprächs‹, sondern auch für den Begriff der ›Geselligkeit‹ gelten, zeigt sich an Gehrings Beitrag, in dem ›Geselligkeit‹ und ›geselliges Gespräch‹ synonym verwendet werden (Die Geselligkeit, S. 250f.).
6 also Teil der Stierleschen Annahme über das ›dialogische Zeitalter‹. Das zeigt die folgende Bemerkung über Boccaccios Decameron: Bei Boccaccio wird erstmals in der literarischen Fiktion des Novellenrahmens die Idee einer freien Geselligkeit zur Darstellung gebracht, die seither, bis hin zu Schleiermacher, die Vorstellung des Zusammenhangs von idealer Geselligkeit und dem Gespräch als ihrem Ausdruck bestimmt hat.13
Die Denkfigur ist damit folgende: Der sozialen Interaktionsform ›idealer Geselligkeit‹, die bei Stierle mit ›freier‹ Geselligkeit gleichgesetzt ist, entspricht in der Renaissance die Kommunikationsform des ›freien‹ Gesprächs. Daraus ergibt sich, dass eine Revision der Stierleschen Position sowohl auf der Ebene sozialer als auch auf der Ebene kommunikativer Interaktion anzusetzen hat. Die Fragen, die die vorliegende Arbeit zu beantworten sucht, lauten demnach: 1) In welcher Relation stehen soziale und kommunikative Faktoren in literarischen Darstellungen von geselliger Kommunikation, bevor sie in der Frühen Neuzeit zu der in ›idealer‹ Weise korrespondierenden Einheit werden? 2) Welchen Diskurstyp hat dies zur Folge? Diesen Fragen liegt die Annahme zugrunde, dass die frühneuzeitlichen Darstellungen von geselliger Kommunikation auf Interaktions- und Kommunikationsformen zu beziehen sind, wie sie auch schon in der hoch- und spätmittelalterlichen Literatur Verwendung finden. In dem Bemühen, literaturgeschichtliche Kontinuitäten zu betonen und für mögliche Brüche nach spezifischen Erklärungen zu suchen, versteht sich die Arbeit somit auch als Beitrag zur Revision eindeutig fixierter Epochengrenzen. Fragestellung und Grundthese bedingen zum einen die diachrone Anlage der Arbeit, zum anderen fordern sie ein komparatistisches Vorgehen. Daraus ergeben sich vier Schwerpunkte, die sich in der Kapitelstruktur abbilden: Im Anschluss an einen Forschungsüberblick (Kapitel 2) werden zunächst Darstellungen geselliger Kommunikation, vor allem des geselligen Lied- und Erzählvortrags in der deutschsprachigen höfischen Literatur des Mittelalters in den Blick genommen und auf die in ihnen wirksamen sozialen und kommunikativen Prinzipien hin befragt (Kapitel 3). Die Kapitel 4 und 5 widmen sich ausführlich zwei Texten Boccaccios, dem Prosaroman Il Filocolo und dem Decameron, in denen zwei einerseits unterschiedliche, andererseits eng aufeinander beziehbare Modelle geselliger Kommunikation vorgeführt werden. In der Zusammenschau bilden beide Modelle eine plausible Gelenkstelle zwischen Mittelalter und Renaissance, insofern sie an die Beobachtungen zu den geselligen Prinzipien in der mittelalterlichen Literatur anschließen und zugleich für die weitere Rezeption von zentraler Bedeutung sind. Kapitel 6 fragt nach den Rezeptionswegen der geselligen Entwürfe Boccaccios in der euro13
Stierle, Gespräch und Diskurs, S. 307.
7 päischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts und stellt exemplarisch drei Fallbeispiele vor. Die zweite Perspektive der Arbeit gilt geselliger Kommunikation als sozialer Diskursform. Sie versucht dem Problem Rechnung zu tragen, das sich auf der Ebene der Begrifflichkeit zur mündlichen Kommunikation abzeichnet und sich in der partiellen semantischen Überlagerung der Begriffe ›Gespräch‹ und ›Geselligkeit‹ bei Stierle bereits andeutete: Die Wortgeschichte von ›Gespräch‹ und analog auch von ›Dialog‹ zeigt, dass beide Begriffe zwar vorrangig kommunikative Konnotationen haben, im Verlauf ihrer Geschichte aber zunehmend soziale Konnotationen annehmen, indem sie im Idealfall symmetrische soziale Beziehungen zwischen den beteiligten Sprechern voraussetzen.14 Auch die Wortgeschichte von ›Konversation‹ zeigt das Dilemma einer präzisen Differenzierbarkeit von sozialen und kommunikativen Konnotationen, wenn auch in umgekehrter Weise:15 Mlat. conversatio ist eine Bezeichnung für soziale Interaktion und individuelles Verhalten, die ein ausdifferenziertes Verwendungsspektrum aufweist.16 Das Wort wird mit diesem semantischen Spektrum in die italienischen und französischen Dialekte (sowie ins Englische und Spanische) übernommen und behält es bis weit ins 17. Jahrhundert bei.17 Zwar kann schon mlat. conversatio als Bezeichnung für zwischenmenschlichen Umgang auch sprachliche Interaktion konnotieren,18 eine punktuelle Verschiebung von soziativen auf primär kommunikative Bedeutungen erfährt das Semem ›Umgang‹ in den neusprachlichen Entsprechungen des Wortes jedoch erst in der italienischen Hofmannsliteratur des 16. Jahr14
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Vgl. Ernest W. B. Hess-Lüttich: Art. Gespräch. In: HWRh 3 (1996), Sp. 929–947; sowie ders.: Art. Dialog. In: HWRh 2 (1994), Sp. 606–621.Zur Frage, wie diese Entwicklung vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Wortgeschichte zu verstehen ist, vgl. Caroline Emmelius: Politische Beratung, Zwiegespräch, gesellige Unterhaltung. Zur Wortgeschichte von Gespräch im 15. Jahrhundert. In: Gerd Dicke / Manfred Eikelmann / Burkhard Hasebrink (Hrsg.): Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Berlin / New York 2006 (= Trends in Medieval Philology, 10), S. 107–135. Vgl. hierzu die mustergültige Darlegung der Wort- und Begriffsgeschichte von lat. conversatio und seinen neusprachlichen(v. a. ital., frz. und dt.) Entsprechungenbei Seraina Plotke: Conversatio/Konversation: Eine Wort- und Begriffsgeschichte. In: Schnell (Hrsg.), Konversationskultur, S. 31–120. Knappe Hinweise zur Begriffsgeschichteauch bei Karin Ehler: Konversation. Höfische Gesprächskulturals Modell für den Fremdsprachenunterricht, München 1996 (= Studien Deutsch, 21), S. 13– 16; Karl-Heinz Göttert: Art. Konversation. In: HWRh 4 (1998), Sp. 1322–1333, hier Sp. 1322; Schmölders, Kunst des Gesprächs, S. 9–10. Vgl. Mlat.Wb. Bd. 2 (1999), Sp. 1824–1826; sowie Plotke, Conversatio/Konversation, S. 36–55. Vgl. Plotke, Conversatio/Konversation, S. 56–98; für das Deutsche lässt sich dieser Befund an der Verwendung von ›Conversation‹ bei Christian Thomasius plausibel nachweisen, vgl. ebd., S. 110f. Ebd., S. 52–55.
8 hunderts.19 DieMonosemierung von Konversation als ›verbaler Umgang‹ bzw. als ›Gespräch‹, und damit die eigentliche Begriffsbildung, lässt sich hingegen erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts im Umfeld der frz. Salonliteratur festmachen.20 Dem begrifflichen Dilemma wird dadurch begegnet, dass gesellige Kommunikation grundsätzlich einer zweiteiligen Analyse unterzogen wird. In einem ersten Schritt werden zunächst die Bedingungen und Formationsprozesse von Geselligkeit als sozialer Interaktion beschrieben, in einem zweiten Schritt wird dann nach den kommunikativen Abläufen gefragt, die für die jeweilige gesellige Situation kennzeichnend sind. Der Vorteil eines solchen differenzierenden Zugriffs auf die Texte besteht darin, einerseits die diachrone Entwicklung, andererseits den interkulturellen Vergleich literarischer Geselligkeitsdarstellungen differenzierter beschreiben und damit auch bewerten zu können. Auch wenn »der Terminus Geselligkeit als ein Handlungsbegriff noch nicht genügend profiliert«21 ist, wird man auf soziologische Bestimmungen zurückgreifen müssen, um überhaupt mit ihm operieren zu können. Das gilt insbesondere für den Prozess geselliger Formierung: Er kann grundsätzlich als ein Gruppenbildungsprozess beschrieben werden, der sich über inkludierende und exkludierende Verfahren konstituiert.22 Die interaktiven Prozesse geselliger Formierung zielen darauf, soziales Handeln unter der Maßgabe von heiterer Nicht-Alltäglichkeit zu stabilisieren und zu verstetigen. Die aus der Gruppensoziologie stammenden Merkmale der ›Etablierung‹, ›Stabilisierung‹ und ›Verstetigung‹ von sozialen und kommunikativen Handlungen sind von der neueren Institutionenforschung übernommen worden, um die Prozesshaftigkeit des Herstellens von Institutionen, d.h. die Institutionalisierung, gegenüber ihrem statischen, auf Unveränderlichkeit und Bewahrung setzenden Charakter zu betonen.23 Von Seiten der Literaturwissenschaft hat sich Peter 19
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Ebd., S. 57–75; zur Entwicklung von ital. conversazione vgl. auch Battisti / Alessio Bd. 2 (1975), S. 1091; sowie Battaglia Bd. 3 (1966), S. 723–724. Plotke, Conversatio/Konversation, S. 77–85 und S. 98–103. So Markus Fauser: Geselligkeit, Bibliothek, Lesekultur. Konzepte und Perspektiven der Forschung. In: Wolfgang Adam / Markus Fauser (Hrsg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Ute Pott. Göttingen 2005 (= Schriften des Gleimhauses Halberstadt, 4), S. 13–26, Zitat S. 18. Zur Definition der Gruppe vgl. Bernhard Schäfers: Die soziale Gruppe. In: Hermann Korte / B. S. (Hrsg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. 6. erw. und aktualisierte Aufl. Opladen 2002 (= Einführungskurs Soziologie, 1), S. 127– 142, hier S. 131. Karl-Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen. In: Gerhard Göhler (Hrsg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie. Baden-Baden 1994, S. 47–84; ders.: Die stabilisierende ›Fiktionalität‹ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung. In: Reinhard Blänkner / Bernhard Jussen (Hrsg.): Institutionen und Ereignis. Über
9 Strohschneider programmatisch mit dieser Begrifflichkeit auseinandergesetzt.24 Über institutionelle Mechanismen wie die Etablierung,Stabilisierung und Verstetigung solcher Kommunikations- und Handlungszusammenhänge, welche von Kontingenz und Komplexität entlasten, indem sie Erwartbarkeiten, Handlungssicherheiten, Verläßlichkeiten garantieren und so Vertrauen, Kreativität, Zukunftsoffenheit usw. zuallererst ermöglichen,25
werden seiner Ansicht nach kulturelle Ordnungen nicht nur systematisch theoretisierbar, sondern zugleich auch historisch rekonstruierbar.26 In Anlehnung an diese Terminologie kann der Prozess geselliger Formierung als Institutionalisierungsprozess aufgefasst werden, der auf die Herstellung von Geselligkeit als Institution zielt, auch wenn diese – im Widerspruch zum Konzept der Institution – zugleich auf Zeitlichkeit angelegt ist.27 Die Selbstorganisation und -ordnung der Gruppeninteraktion wiederum erfolgt vielfach im Rahmen eines regelgeleiteten Spiels, das seinerseits Teil eines Festes ist oder selbst festliche Züge trägt. Mit Spiel und Fest sind zwei Stichworte eingeführt, die in enger soziologischer, semantischer, kulturanthropologischer und damit insgesamt kulturhistorischer Nachbarschaft zu den sozialen Aspekten von Geselligkeit stehen,28 die in der Forschung aber auch immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt wurden.29
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historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998 (= Veröffentlichungen des Max Planck Instituts für Geschichte, 138), S. 381– 407; sowie Gert Melville: Institutionalitätund Symbolisierung.Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Köln / Weimar / Wien 2001. Peter Strohschneider: Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung. In: Beate Kellner / Ludger Lieb / P. S. (Hrsg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicherLiteratur.Frankfurt a. M. u. a. 2001 (= Mikrokosmos, 64), S. 1–26. Strohschneider, Institutionalität, S. 6f. Ebd., S. 9–13. In literatursoziologischenArbeiten zum geselligen18. und 19. Jahrhundert wird gewinnbringend mit den Begriffen der Institutionenforschung gearbeitet, auch wenn selbst hier der »Verbindlichkeitsgrad der jeweils erreichten Institutionalisierung von Geselligkeiten noch offen« ist, so Fauser, Geselligkeit, S. 18. Damit ist auch eine Nähe zu rituellen Praktiken gegeben, vgl. Gunter Gebauer / Christoph Wulf: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek 1998 (= re, 55591). Dabei wird Spiel als der umfassendere Begriff angesetzt, vgl. z. B. die programmatische Bestimmung desFestes bei Walter Haug / Rainer Warning: Vorwort.In: W. H. / R.W. (Hrsg.): Das Fest. München 1989 (= Poetik und Hermeneutik, 14), S. XV– XVII, hier S. XV: »Man kann zum einen sagen, das Fest sei ein Spiel. Der Spielcharakter verleiht ihm die Freiheit frei gesetzter Regularität, die die Enthobenheit vom Lebensweltlich-Faktischenbedeutet. Zum anderenwird das Spiel nur dadurch zum Fest, daß es den Ernst spielt, daß es in prekärer Bewältigungin sich hereinholt, wovon es sich als Spiel gerade absetzt: das Chaotische, das Sinnlose, das Böse, den
10 Fasst man Spiel mit Huizinga als soziokulturelle Praxis auf:30 Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindendenRegeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹ […],31
so zeigt sich die begriffliche Nähe zu Geselligkeit und Fest: Kriterien wie der Abstand zum alltäglichen Leben, die Begrenzung in Zeit und Raum, die freiwillige Akzeptanz bestimmter Regeln, der Selbstzweck der Freude werden auch in theoretischen Beschreibungen des Festes verwendet,32 und sie taugen gleichfalls für eine Bestimmung von Geselligkeit. Unterscheiden lassen sich die Begriffe dennoch: Fest und Geselligkeit sind als primär soziale Begriffe auf menschliche Kollektive bezogen, Spiele sind demgegenüber weder allein den Menschen, noch menschlichen Kollektiven vorbehalten. Spielen kann man auch allein oder zu zweit, Feste feiern hingegen nicht.33 Eine weitere Differenz zwischen Spiel und Fest zeichnet sich in der Fest-Definition von Lars Deile ab: »Im Fest vergegenwärtigt sich eine Gemeinschaft lebensbejahend Bedeutung in besonderen äußeren Formen.«34 Der Aspekt der Bedeutung macht den eminent lebensweltlichen Bezug des Festes deutlich, auf den das Spiel gerade verzichten kann: So hat ein Fest in der Regel einen Anlass, ein Spiel hingegen nicht. Zwar sind beide Interaktionsformen über ihre Außeralltäglichkeit
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Tod. Das Fest ist letztlich immer ein Spiel mit dem Tod.«; sowie umgekehrt aus der Perspektive des Spiels den Abschnitt zum »Wesen des Festes« bei Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zusammenarbeitmit dem Verfasser aus dem Niederländischen übertragen von H. Nachod. Mit einem Nachwort von Andreas Flitner. 20. Aufl. Reinbek 2006 (= re, 55435), S. 30f. Huizinga, Homo ludens, S. 15–37, bes. S. 15f. Die Ausweitungen des Spielbegriffs auf die Sprach- und Literaturtheorie, insbesondere auf die Rezeptionsästhetik, bleiben hier entsprechend unberücksichtigt, vgl. Matthias Bauer: Art. Spiel. In: MLLK, S. 591f. Huizinga, Homo ludens, S. 37. Für Huizinga ist diese erste Bestimmung des Spiels als sozialer Praxis in einer Kultur lediglich Ausgangspunkt für die weitreichende Bestimmung der Kultur als Spiel, vgl. ebd., S. 7 und S. 189–231. Vgl. die grundsätzlichen Bestimmungen des Festes als Nicht-Alltag bei Rüdiger Bubner: Ästhetisierung der Lebenswelt. In: Haug / Warning (Hrsg.), Das Fest, S. 651–662; und Odo Marquard: Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes. In: Haug / Warning (Hrsg.), Das Fest, S. 684–691; Jan Assmann: Der zweidimensionaleMensch. Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: J. A. (Hrsg.): Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt. In Zusammenarbeit mit Theo Sundermeier. Gütersloh 1991 (= Studien zum Verstehen fremder Religionen, 1), S. 13–30; zusammenfassend Lars Deile: Feste – Eine Definition. In: Michael Maurer (Hrsg.): Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik.Köln u. a. 2004, S. 1–17, hier S. 4–7; und Michael Maurer:Prolegomena zu einer Theorie des Festes. In: Maurer (Hrsg.), Das Fest, S. 19–54, hier S. 23–31. Vgl. Marquard, Moratorium des Alltags, S. 684f. Deile, Feste, S. 7–12.
11 definiert, aber während Huizinga für das Spiel seinen »uninteressierten Charakter« festhält, der tatsächlich eine Freistellung von lebensweltlichen Belangen implizieren kann,35 ist das Fest als bewusste, reflektierende Distanznahme stets dialektisch auf den Alltag rückbezogen.36 Für die vorliegende Arbeit besteht die entscheidende Berührungszone zwischen Geselligkeit und Fest in eben dieser dialektischen Relation zwischen alltäglicher und festlicher Ordnung, deren kulturell produktive Funktion darin besteht, dass sie sowohl affirmativen als auch subversiven Charakter haben kann: »Die Stichworte für die extremen Positionen lauten: das Fest als affirmative Überhöhung der bestehenden Ordnung und das Fest als normensprengender Exzeß.«37 Demgegenüber ist der Begriff des Spiels geeignet, die Geselligkeit und Fest immanenten Interaktionsstrukturen zu beschreiben,38 sofern diese dezidiert selbst gesetzten Regeln folgen. Nach Huizinga ist Spiel ›freies Handeln‹, das durch die gegensätzlichen Faktoren Ordnung und Spannung gekennzeichnet ist, die ihrerseits in der Spielregel koordiniert werden.39 In geselliger Interaktion – und hier kommt es zur punktuellen 35 36 37
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Huizinga, Homo ludens, S. 17f. Marquard, Moratorium des Alltags, S. 685f. Haug / Warning, Vorwort, S. XV. Zur Festordnung als Überschreitung lebensweltlicher Ordnungen vgl. u. a. Joachim Küchenhoff: Das Fest und die Grenzen des Ich. Begrenzung und Entgrenzung im »vom Gesetz gebotenen Exzeß«. In: Haug / Warning (Hrsg.), Das Fest, S. 99–119; zur Festordnungals affirmativergesellschaftlicher Repräsentation vgl. besonders die Beiträge der Geschichtswissenschaft, z. B. Detlef Altenburg / Jörg Arnut / Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.): Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposion des Mediävistenverbandes. Sigmaringen 1991 (= Kongressaktendes PaderbornerSymposionsdes Mediävistenverbandes,3), hierin u. a. Gerd Althoff: Fest und Bündnis, S. 29–38; Peter Johanek: Fest und Integration, S. 525–540; zu karnevalesken Festordnungen als Subversion offizieller Kultur v. a. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1987, S. 238–319; sowie stellvertretend für die umfangreiche, z. T. jedoch verengende Bachtin-Rezeption in Arbeiten zum karnevalesken Fest der differenzierte Beitrag von Frank-Rutger Hausmann: Rabelais’ Gargantua et Pantagruel als Quelle mittelalterlicher Fest- und Spieltradition. In: Altenburg / Arnut / Steinhoff (Hrsg.), Feste und Feiern im Mittelalter, S. 335–348. Bezogen auf die Fest-Definition von Deile, Feste, S. 7–12, bestehen die semantischen Gemeinsamkeiten zwischen Fest, Geselligkeit und Spiel somit vor allem hinsichtlich der ›äußeren Formen‹. Huizinga, Homo ludens, S. 15–21, bes. S. 19f. Auf den Gegensatz von »Zufall und Gesetz, so daß der Zuschauer zwischen Vorhersehbarkeit und Überraschung, der Beteiligte zwischen eigener Willkür und Regelzwang hin- und hergeworfen wird«, bringt Stefan Matuschek das Wesen des Spiels, vgl. ders.: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998 (= Jenaer Germanistische Forschungen, N. F. 2), S. 1–23, hier S. 1. Insofern die Gültigkeit dieses Gegensatzes nicht nur für den homo ludens, sondern auch für die natura ludens reklamiert werden könne, habe er geradezu den Charakter einer »Weltformel«, ebd., S. 4f. Matuscheks Untersuchungen gelten allerdings gerade nicht einer überhistorischen Ontologie des Spiels, sondern ganz im Gegenteil den semantischen Diffe-
12 Verschmelzung von Fest und Spiel – konstituieren diese Spielregeln wiederum jene sozialen und kommunikativen Ordnungen, mit denen sich die gesellige Gemeinschaft zu ihrem lebensweltlichem Korrelat in Distanz setzt. Die Paradoxie geselliger Spielordnungen bestünde demnach darin, dass diese eine artifizielle Interaktionsform entwerfen, die als spielerische die beteiligten Akteure von außerhalb dieser Situation bestehenden sozialen Verhältnissen freistellt, zu denen sie sie als festliche zugleich dezidiert in Bezug setzt. Diesen paradoxen Charakter formuliert schon Simmel, wenn er Geselligkeit als »Spielform der Vergesellschaftung« bezeichnet.40 Für so verstandene Geselligkeit, insbesondere ihre Darstellung in literarischen Texten, ist somit nicht nur die Vorstellung, gesellige Kommunikation vollziehe sich zwanglos und frei,41 zu revidieren,42 auch das Postulat der Zweckfreiheit wird immer neu überprüft werden müssen: Denn was für den differenzsetzenden Akt geselliger Formation auf der Ebene der histoire gelten mag, ist nicht ohne weiteres auf die vom Erzähler verantwortete Ebene des discours zu übertragen.43 Die Untersuchungen möchten zeigen, dass gesellige Interaktion in vormodernen literarischen Darstellungen in der Regel auf Ordnungsprozesse bezogen ist, wobei paritätische und hierarchische Ordnungen im Sinne des anfänglich skizzierten Paradoxons in Konkurrenz zueinander geraten. Spielerische Freistellung lässt sich nur insofern diagnostizieren, als die jeweiligen sozialen und kommunikativen Ordnungen im juristischen Sinne positive, also vereinbarte, gesetzte Ordnungen sind, die die Beteiligten selbst herstellen und die nicht von vornherein im Sinne einer natürlichen Ordnung gegeben sind. Dieser Befund gilt in besonderem Maße für die Texte Boccaccios, in denen das Prinzip geselliger Selbst-
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renzen im Verlauf seiner Wort- und Begriffsgeschichte, die er im Spiegel deutscher Literatur des 16.–19. Jahrhunderts aufzeigt. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 193. So Gehring, Die Geselligkeit, S. 243; Peter, Geselligkeiten, S. 16; sowie Stierle, Gespräch und Diskurs, S. 307. Schon von Moos merkt skeptisch an, dass die Annahme einer autoritäts- und herrschaftsfreien (frühneuzeitlichen) Gesprächskultur möglicherweise nur die Fiktion einer Dialogmetaphysik des 20. Jahrhunderts sei, ohne hieraus jedoch Folgerungen für sein Plädoyer gegen die Konzeption eines ›monologischen Mittelalters‹ zu ziehen, vgl. von Moos, Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte, S. 167f. (hier noch sehr vorsichtig formuliert); sowie ders., Gespräch, S. 235f., mit der expliziten Stellungnahme gegen die Konzeption des ›Dialogischen‹. Die Verwendung der Begriffe histoire und discours bezieht sich auf den Vorschlag von Tzvetan Todorov: Les catégories du récit littéraire. In: Roland Barthes (Hrsg.): Recherches sémiologiques: l’analyse structurale du récit. Paris 1966 (= Communications, 8), S. 125–151. Zur Diskussion und Kritik von narratologischen ZweiEbenen-Modellen vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2. verb. Aufl. Berlin / New York 2008, S. 245–250.
13 Ordnung auf die Ebene expliziter Reflexion gehoben wird. Von hier aus wäre dann auch die vermeintlich freie Geselligkeit der frühneuzeitlichen Darstellungen neu zu bestimmen. Im Anschluss an die interaktiven Prozesse sind jeweils die kommunikativen Modi zu beschreiben, derer sich gesellige Interaktion bedient. Vor dem Hintergrund der literaturgeschichtlichen Fragestellung wird hier unter anderem zu beantworten sein, ob, und wenn ja, inwiefern sich die vorgeführten geselligen Kommunikationsverfahren als Prototypen eines auf »Unmittelbarkeit und Wechselseitigkeit«44 angelegten ›idealen‹ Gesprächs der Frühen Neuzeit lesen lassen. Die Analyse von Geselligkeit als eines sozialen Diskurstyps zielt darauf zu bestimmen, inwiefern soziale und kommunikative Faktoren ihrerseits interagieren: So kann der kommunikative Modus einer geselligen Runde sowohl zu ihrer Entstratifizierung als auch zu ihrer Hierarchisierung beitragen, was sich wiederum je unterschiedlich auf die Stabilität der Geselligkeit in der Zeit auswirken kann. Der paradoxe Vorgang geselliger Ordnung ist demnach als ein Instrument zu verstehen, mit dem sich die literarischen Inszenierungen von geselliger Kommunikation vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit aufschließen lassen. Zugleich lassen sich über ihn die verdeckten Implikationen neuzeitlicher Geselligkeitsvorstellungen in der Literatur sichtbar machen.
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Hans Robert Jauss: Anmerkungen zum idealen Gespräch. In: Stierle / Warning (Hrsg.), Das Gespräch, S. 467–472, hier S. 467.
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Forschung
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Geselligkeit als soziale Kategorie1
Eine Arbeit zu geselliger Interaktion und Kommunikation in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur kommt nicht umhin, Jacob Burckhardts Beschreibung der »Kultur der Renaissance in Italien« zur Kenntnis zu nehmen, die sich hinsichtlich der Epochenabgrenzung von Renaissance und Mittelalter bis heute für die Forschung als prägend erwiesen hat.2 Auch in Bezug auf Geselligkeit und Feste (Kap. V) der italienischen Städte kann Burckhardt markante Differenzen zum ›Mittelalter‹ festmachen: Jede Kulturepoche, die in sich ein vollständig durchgebildetes Ganzes vorstellt, spricht sich nicht nur im staatlichen Zusammenleben, in Religion, Kunst und Wissenschaft kenntlich aus, sondern sie drückt auch dem geselligen Dasein ihren bestimmten Stempel auf. So hatte das Mittelalter seine nach Ländern nur wenig verschiedene Hof- und Adelssitte und Etikette, sein bestimmtes Bürgertum. Die Sitte der italienischen Renaissance ist hiervon in den wichtigsten Beziehungen das wahre Widerspiel.3
Für die Veränderung der Formen geselligen Umgangs sieht Burckhardt den Umbau der mittelalterlichen feudalen zu einer republikanisch organisierten Gesellschaft als grundlegend an. Das meint vor allem den Abbau von Adelsprivilegien und die »Ausgleichung der Stände«:4 Schon die Basis ist eine andere, indem es für die höhere Geselligkeit keine Kastenunterschiede mehr, sondern einen gebildeten Stand im modernen Sinne gibt, auf welchen Geburt und Herkunft nur noch dann Einfluß haben, wenn sie mit ererbtem Reichtum und gesicherter Muße verbunden sind. […] da konnte man glauben, ein Zeitalter der Gleichheit sei angebrochen, der Begriff des Adels völlig verflüchtigt.5 1
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Als Gegenstand von literarischen Darstellungen ist gesellige Interaktion nur in wenigen Arbeiten behandelt worden. Daher beschränke ich mich hier auf die Darstellung von zentralen Positionen, die vor allem die Problematik des Bezugs zwischen literarischem Diskurs und historischerPraxis beleuchten. Einen ausführlichenForschungsüberblick gibt Peter, Geselligkeiten, S. 5–36. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. 11. Aufl. hrsg. von Konrad Hoffmann. Stuttgart 1988 (= Kröners Taschenausgabe, 53), hier bes. S. 259–308 (Kapitel V: Die Geselligkeit und die Feste). Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 261. Ebd., S. 261–267, zitiert ist der Titel dieses Abschnitts. Ebd., S. 261f.
15 Kronzeuge für diese Entwicklung ist für Burckhardt der literarische Diskurs um Geburts- und Tugendadel seit Dante, der seinerseits dem historischen Befund zu widersprechen scheint, dass sich adlige Praktiken wie Turnier und Jagd in den Stadtrepubliken des Nordens auch in bürgerlichen Kreisen großer Beliebtheit erfreuten.6 Als Kennzeichen einer »höheren Form der Geselligkeit« sieht er neben persönlichkeitsbildendem Umgang7 sowie einer gehobenen, einheitlichen Sprache8 auch eine ästhetische Dimension. Belege hierfür findet er zum einen in der Festkultur: Das italienische Festwesen in seiner höhern Form ist ein wahrer Übergang aus dem Leben in die Kunst,9
zum anderen in jenen literarischen Inszenierungen von Geselligkeit, wie sie u. a. in Boccaccios Decameron, Castigliones Cortegiano und Firenzuolas Ragionamenti vorliegen.10 Das Beispiel macht Burckhardts Methode sichtbar, Kultur als »Ensemble ästhetischer, mentaler und alltagspraktischer Elemente einer Gesellschaft« zu beschreiben.11 Das Stichwort des Ästhetischen verweist zugleich auf die Problematik, literarische Diskurse unbesehen mit der historischen Praxis gleichzusetzen. Nach dieser frühen Annäherung der Kulturgeschichtsschreibung an Geselligkeit als soziokulturelles Phänomen hat sich vor allem die klassische Soziologie des Themas angenommen und mit den Arbeiten von Schäffle, Tönnies und Simmel einen Beitrag zu einem wissenschaftlichen Begriff von Geselligkeit geleistet.12 Im Vordergrund steht hierbei erstens die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe, zweitens der Nachweis des anthropologisch motivierten Geselligkeitstriebs des Menschen als eines Bedürfnisses nach Gemeinsamkeit mit anderen Menschen sowie drittens die Betonung des eigengesetzlichen, formalen Charakters von Geselligkeit, der es ermöglicht, von konkreten Inhalten und unmittelbarem Nutzen zu abstrahieren.13 Den bei Burckhardt for-
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Vgl. ebd., S. 262–267. Ebd., S. 280–285. Ebd., S. 272–277. Ebd., S. 292. Vgl. ebd., S. 277–280. Linda Simonis: Art. Burckhardt, Jakob. In: MLLK, S. 75. Vgl. hierzu den Überblick bei Gehring, Die Geselligkeit, S. 241–245; Friedrich Bühlow: Art. Geselligkeit. In: Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. von Wilhelm Bernsdorf. 2., neubearb. und erw. Aufl. Stuttgart 1969, S. 354–355; vgl. auch die Einschätzung bei Peter, Geselligkeiten, S. 15. Simmel, Soziologie der Geselligkeit; zusammenfassend Peter, Geselligkeiten, S. 10f. Hieraus ergeben sich vielfältige Parallelen zu Johan Huizingas kulturanthropologischer Studie »Homo Ludens« (1938), die ebenfalls die Autonomie der im Spiel erzeugten Welt betont, vgl. Huizinga, Homo Ludens, bes. S. 15–22.
16 mulierten Gedanken von Geselligkeit als Kunstform greift Simmel in seiner Definition von Geselligkeit auf: Von den soziologischen Kategorien her betrachtend, bezeichne ich also die Geselligkeit als die Spielform der Vergesellschaftung und als – mutatis mutandis – zu deren inhaltsbestimmterKonkretheitsich verhaltend,wie das Kunstwerkzur Realität. [Hervorhebung i. O.]14
Geselligkeit wird als utopische Gegenstruktur zur gesellschaftlichen Realität gedacht, »indem sie gegenüber hierarchischen Abhängigkeits- und Zwangverhältnissen einen gesellschaftlichen Idealzustand antizipiert, den sie aufgrund der Sanktionsfreiheit im Innenraum praktizieren kann«.15 Zugleich stellt sie einen Erprobungsraum für Vergesellschaftungsprozesse bereit, in dem unterschiedliche soziale Bindungen und Beziehungen zum Ausdruck gebracht werden können, ohne dass sie unmittelbare Verbindlichkeit für die gesellschaftliche Realität haben müssen. In der germanistischen Literaturwissenschaft gelten die Forschungsbemühungen zumeist dem ›geselligen‹ 18. Jahrhundert. Der Großteil der hier zu nennenden Arbeiten, insofern diese sich mit der Zusammensetzung, den Organisationsformen und Aktivitäten der literarischen und gelehrten Zirkel, der Salons und sonstigen Sozietäten beschäftigen, ist dem Bereich der Literatursoziologie zuzurechnen.16 Mit der Arbeit von Emanuel Peter liegt ein neuerer Beitrag zur Erforschung von Geselligkeitsmodi und -formen im 18. Jahrhundert vor, der erstmals auch eine dezidiert literaturwissenschaftliche Perspektive für das soziale
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Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 193. Peter, Geselligkeiten, S. 11. Vgl. den Überblick bei Peter, Geselligkeiten, S. 16–20. Zu sozialer und literarischer Geselligkeitim Barock vgl. Wolfgang Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Unter Mitwirkung von Knut Kiesant, Winfried Schulze und Christoph Strosetzki. 2 Tle. Wiesbaden 1997 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 28,1/2); zum 18. Jahrhundert Adam / Fauser (Hrsg.), Geselligkeit und Bibliothek; hier besondersder einleitendeBeitrag von Fauser, Geselligkeit, S. 13–26; sowie die Studien von Markus Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeitin Deutschland. Stuttgart 1991 (= M-&-P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung); Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (= Communicatio, 26); Holger Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukuren. Die mitteldeutschenAufklärungsgesellschaftenim 18. Jahrhundert. Tübingen1999 (= Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, 9); Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800. Stuttgart / Weimar 1998 (= M-&-P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung); sowie die Arbeiten zur Berliner Salonkultur, vgl. u. a. Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914). Berlin 1989 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 73); Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart 1993.
17 Phänomen Geselligkeit entwirft, um dessen ›ästhetischem Aspekt‹ gerecht zu werden:17 Als literarisches Motiv kann Geselligkeit reale Erlebnisse und zeitgeschichtliche Erfahrungen schildern, reflektieren oder Wunschbilder und ›Gegenwelten‹ antizipieren. Als poetische Kategorie kann Geselligkeit der Wirkungsästhetik zwischen Autor und Publikum dienen und sich in Textsorten und Erzählstrategien wie Rede, Dialog, symposionalesGesprächund gesellige Rahmenerzählungniederschlagen.18
Von der undeutlichen Differenzierung in literarisches Motiv und poetische Kategorie abgesehen, interessiert Peter literarische Geselligkeit vor allem in Bezug auf ihre Wirkung für die »Ästhetisierung« historischer Gruppenformen, denn »Geselligkeit als reale Gruppenform, Theorie der Geselligkeit und ästhetischer Aspekt sind miteinander verschränkt«.19 Um dieser ›Verschränkung‹ auf die Spur zu kommen, untersucht Peter erstens Geselligkeit als Gegenstand des theoretischen Diskurses,20 gibt zweitens einen Überblick über die Vielfalt der geselligen Sozietäten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts21 und beschäftigt sich drittens mit »poetischen Geselligkeitsentwürfen um 1800«.22 Die Fragestellung zielt damit auf die Interferenzen zwischen theoretischem bzw. literarischem Diskurs und geselliger Praxis, während Überlegungen zur (intertextuellen) Konstruktion der jeweiligen literarischen Inszenierungen bei ihm weitgehend ausgeblendet bleiben. Geselligkeit ist bei Peter – sowohl als Diskurs als auch als Praxis – ein neuzeitliches Phänomen, das allenfalls, im Anschluss an Burckhardt, eine in der Renaissance initiierte Tradition fortsetzt. Intertextuelle und epochenübergreifende Ansätze zur Deutung literarischer Geselligkeit sind besonders in der Forschung zu Harsdörffers Frauenzimmergesprechspielen zu finden, auch wenn diese zum Teil – wie etwa in den Arbeiten von Rosmarie Zeller – noch kaum von der Frage nach unmittelbaren literarischen ›Einflüssen‹ getrennt werden.23
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Peter, Geselligkeiten, S. 16. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19f. Ebd., Kap. II–IV. Ebd., Kap. V–VII. Ebd., Kap. VIII. Vgl. Zeller, Spiel und Konversation, S. 77–93; dies.: Die Rolle der Frauen im Gesprächspiel und in der Konversation. In: Adam (Hrsg.), Geselligkeit und Gesellschaft Tl. 1, S. 531–541; sowie Italo Michele Battafarano: Harsdörffers italianisierender Versuch,durch die Integrationder Frau das literarischeLeben zu verfeinern. In: I. M. B. (Hrsg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Bern u. a. 1991 (= IRIS, 1), S. 267–286; ders.: Ideale Sozialität im Zeichen von Wissen und Ästhetik. In: I. M. B.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern u. a. 1994 (= IRIS, 8), S. 75–84.
18 In der mediävistischen Literaturwissenschaft spielt Geselligkeit als Begriff bislang kaum eine Rolle. Die umfangreichste Sammlung literarischen Materials zum Thema Geselligkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit liegt – ohne dass der Begriff verwendet würde – bis heute mit der Arbeit von Thomas F. Crane vor, die nicht nur durch die Breite der erfassten Literaturen (französische, italienische, spanische, englische, deutsche), sondern auch durch die enzyklopädische Fülle der Belege beeindrucken kann.24 Crane ist im Anschluss an die damalige Forschung sicher, in den literarischen Belegen Hinweise auf eine historische Praxis finden zu können: It [das vorliegendeBuch, C. E.] does not deal with polite society in general, but with the origin, development, and influence of certain social diversions which deeply modified the outward forms of society in Italy, France, England and Spain during the sixteenth and seventeenth centuries, and of which a few survivals have reached the present day. While it is true that most of the illustrations in this book are taken from literary and fictitious sources, I do not doubt that these works represent faithfully enough the actual social observances of their period. This belief is confirmed by the occasional glimpses of these observances which we catch also in more serious works. It is impossible that social customs which recur continually in books purporting to describe contemporary manners should not have a basis of fact.25
Auch wenn diese Einschätzung aus heutiger Perspektive kaum geteilt werden kann, bleibt es doch das unbestreitbare Verdienst der Arbeit, die Fülle des Materials verlässlich recherchiert und entlegene Texte ausführlich beschrieben zu haben. Als Arbeitsinstrument für die Beschäftigung mit literarischer Geselligkeit bleibt das Buch daher unverzichtbar. Eine kritische Revision der vermeintlichen Abhängigkeit von literarischem Diskurs und kultureller Praxis nimmt der Beitrag von Ursula Peters zu den cours d’amour vor, der sich als »Beitrag zum Verhältnis der französischen und deutschen Minnedichtung zu den Unterhaltungsformen ihres Publikums« versteht.26 Die Annahme der älteren (vorwiegend romanistischen) Forschung, die im Motiv des Minnehofs entweder Hinweise auf eine juristische Institution oder – wie Crane – Reflexe auf eine gesellige Praxis sah, wird in Frage gestellt.27 Stattdessen setzt Peters »ein dichtes Geflecht von mehr oder weniger deutlichen Querverbindungen, gelegentlich sogar direkten wechselseitigen Einflüssen zwischen Minnedichtung und Geselligkeitsformen« an.28
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Crane, Italian Social Customs. Ebd., S. IX. Ursula Peters: Cour d’amour – Minnehof. Ein Beitrag zum Verhältnis der französischen und deutschen Minnedichtung zu den Unterhaltungsformen ihres Publikums. In: ZfdA 101 (1972), S. 117–133. Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.2.3.2 und die dort angegebene Forschungsliteratur. Peters, Cour d’amour, S. 123f.
19 Die bei Peters verhandelten französischen Texte werden in neueren Arbeiten als Belege für eine höfische Spielkultur29 bzw. eine Spielkultur der Renaissance gelesen.30 Dagegen verhandelt die germanistische Mediävistik literarische Darstellungen von geselliger Interaktion bislang vor allem unter dem Stichwort des ›Fests‹,31 dessen Erforschung insbesondere von der Geschichtswissenschaft zentrale Impulse erhalten hat.32 Geselligkeit kommt schließlich auch in Arbeiten in den Blick, die sich mit höfischer Interaktion und symbolischer Kommunikation als grundlegenden Prinzipien höfischer Kultur befassen.33 So nennt die Studie von Harald Haferland mit den Stichworten ›Agon‹, ›Reziprozität‹ und ›Ausdruck‹ zentrale Dimensionen von höfischer Interaktion.34 Von Haferlands einleitendem Diktum – »Nichts ist in den Texten, das nicht zuvor in 29
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Vgl. Richard Firth Green: Le roi qui ne ment and Aristocratic Courtship. In: Keith Busby / Erik Kooper (Hrsg.): Courtly Literature. Cultureand Context. Amsterdam 1990 (Utrecht publications in general and comparative literature, 25), S. 211–225. Vgl. Madeleine Lazard: Ventes et demandes d’amour. In: Philippe Ariès / JeanClaude Margolin (Hrsg.): Les jeux à la rénaissance. Paris 1982 (= De Pétrarque à Descartes, 43), S. 133–149. Vgl. Walter Haug: Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers »Ring«. [zuerst 1989] In: W. H.: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1997, S. 312–331 [Wiederabdruck aus: Haug / Warning (Hrsg.), Das Fest, S. 157–179]. Zur Auseinandersetzung mit diesem Beitrag vgl. Kap. 3.1 und 3.2.1; ferner Rosemarie Marquardt: Das höfische Fest im Spiegel der mittelhochdeutschen Dichtung (1140–1240). Göppingen 1985 (= GAG, 449), die v. a. an Spiegelungen historischer Festpraxis in der Literatur interessiert ist; Barbara Haupt: Das Fest in der Dichtung. Untersuchungen zur historischen Semantik eines literarischen Motivs in der mittelhochdeutschen Epik. Düsseldorf 1989 (= Studia humaniora, 14), für die literarische Festdarstellungen als Repräsentationen von Herrschaft zu lesen sind; und Günter Schopf: Fest und Geschenk in mittelhochdeutscher Epik. Wien 1996 (= Philologia Germanica, 18), bes. S. 8–46, dessen Arbeit den Fokus auf die Überwindung der zeitlichen Grenzen des Festes in der Gabe legt. Summarisch ist der Beitrag von Trude Ehlert angelegt, dies.: Die Funktionen des Hochzeitsfestes in deutscher erzählender Dichtung vornehmlich des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Altenburg / Arnut / Steinhoff (Hrsg.), Feste und Feiern im Mittelalter, S. 391–400; der Beitrag von Werner Röcke: Das verkehrte Fest. Soziale Normen und Karneval in der Literatur des Spätmittelalters. In: Neohelicon. Acta comparationis litterarum universarum 17 (1990), S. 203–231, bearbeitet auf der Grundlage einer missverständlichen Bachtin-Lektüre keine im engeren Sinne literarischen Festdarstellungen. Vgl. stellvertretend: Altenburg / Arnut / Steinhoff (Hrsg.), Feste und Feiern im Mittelalter. Anregungen hierzu haben die Arbeiten Gerd Althoffs gegeben, vgl. v. a. Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989 (= Forschungenzur Geschichteder älteren deutschen Literatur,10), S. 19–72. Sowohlin der Einführung der Begriffe als auch in den einzelnen Textanalysen lässt die Arbeit einen konzisen Zugriff allerdings vermissen.
20 der Wirklichkeit war.«35 – setzt sich die vorliegende Arbeit allerdings dezidiert ab, insofern sie vor dem Hintergrund der Intertextualitätstheorie die Beziehungen zwischen Texten als mindestens so relevant ansieht wie die zwischen Text und ›Welt‹.36 In jüngerer Zeit ist die altgermanistische Forschung zu höfischer Interaktion und symbolischer Kommunikation von Publikationen angeregt worden, die in den Umkreis des Dresdner Sonderforschungsbereichs »Institutionen« gehören. Sie stellen zum einen die Frage nach den »Formen der Verstetigung und Geltungssicherung sozialer, kommunikativer Strukturen«37 und den diese Prozesse begünstigenden Faktoren. Ein konkretes Anliegen dieser Fragestellung ist es, Bedingungen für Stabilisierung und Verstetigung literarischer Produktion im System höfischer Kultur zu beschreiben.38 Zum anderen wird die Literatur auf die Darstellung solcher Prozesse hin untersucht.39 Die vorliegende Studie schließt sowohl terminologisch als auch vom Gegenstand her an diese Arbeiten an, indem Geselligkeit als exemplarischer Fall (temporär) verstetigter sozialer und kommunikativer Strukturen und damit als ›Institution‹ verstanden wird.
2.2
Geselligkeit als kommunikative Kategorie: Dialog, Konversation, Gespräch
In der älteren Forschung zum Dialog wird das Mittelalter weitgehend ausgespart. Rudolf Hirzels grundlegende literarhistorische Studie zum Dialog (1895) beschäftigt sich vor allem mit den antiken Formen. Ein Kapitel zum Mittelalter fehlt vollständig, und auch die Bearbeitung des 35 36
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Haferland, Höfische Interaktion, S. 9f. Richard Aczel: Art. Intertextualität und Intertextualitätstheorien. In: MLLK, S. 287–289. So Strohschneider, Institutionalität, S. 5. Vgl. Kellner / Lieb / Strohschneider (Hrsg.), Literarische Kommunikation; Beate Kellner / Peter Strohschneider / Franziska Wenzel (Hrsg.): Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Berlin 2005 (= Philologische Studien und Quellen, 190). Vgl. Ludger Lieb / Stephan Müller (Hrsg.): Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Berlin u. a. 2002 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 20); sowie Margreth Egidi: Implikationen von Literaturund Kunst in ›Floreund Blanscheflur‹.In: Kellner / Strohschneider/ Wenzel (Hrsg.), Geltung der Literatur, S. 163–186. Hierher gehören auch die Arbeiten von Franziska Wenzel, die die von Haferland benannten Stichworte aufgreifen und für die Analyse von literarischen Darstellungen höfischer Kommunikation fruchtbar machen: Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems »Willehalm von Orlens«. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (= Mikrokosmos, 57); dies.: Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns »Iwein«. In: Kellner / Lieb / Strohschneider (Hrsg.), Literarische Kommunikation, S. 89–109.
21 Renaissance- und Reformationsdialogs bleibt rudimentär.40 In den letzten Jahren ist der Dialog des Mittelalters vor allem von mittellateinischer Seite in den Blick genommen worden. Peter von Moos hat in seinen Beiträgen gattungstheoretische, bildungsgeschichtliche und den Zusammenhang von Mündlichkeit und Schriftlichkeit betreffende Aspekte des mittelalterlichen Dialogs behandelt.41 Dem philosophischen Dialog des hohen und späten Mittelalters ist ein von Klaus Jacobi herausgegebener Band gewidmet, der wichtige Befunde zu form- und funktionsgeschichtlichen Fragen liefert.42 Da die bearbeiteten Texte vor allem dem gelehrten Diskurs zuzuordnen sind, bieten sie nur begrenzte Anknüpfungsmöglichkeiten.43 Das gilt auch für die Arbeiten aus dem Bereich der germanistischen Mediävistik, die sich im Gefolge der älteren Arbeit von Schwartzkopff mit dialogischer Rede in der mittelhochdeutschen Epik befassen.44 Untersucht werden Vorkommen und Verwendung von Redearten (indirekte Rede, direkte Rede, Monolog, Dialog) und ihre jeweilige Funktion in der früh- und hochmittelalterlichen Erzählliteratur. Die Arbeiten operieren mit einem weitgefassten, linguistisch fundierten Begriff von Rede, wonach schon ein einfacher Wortwechsel als ›Dialog‹ definiert wird.45 Mit der Dissertation von Anja Becker liegt die jüngste Arbeit zum Dia-
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Rudolf Hirzel: Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch. 2 Bde. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1895. Hildesheim 1963. von Moos, Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte; ders., Gespräch; ders., Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit; ders., Die Kunst der Antwort. Klaus Jacobi (Hrsg.): Gespräche lesen. Philosophische Dialoge im Mittelalter. Tübingen 1999 (= ScriptOralia, 115). Diese Gebundenheit an den akademischen Diskurs gilt auch für die Arbeit von Hannes Kästner: Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen. Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention. Berlin 1978 (= Philologische Studien und Quellen, 94). Werner Schwartzkopff: Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach. Berlin 1909 (= Palaestra, 74); Hermann Bauss: Studien zum höfischen Liebesdialog in der höfischen Epik. Diss. masch. Marburg 1937; Hans Joachim Gernentz: Formen und Funktionen der direkten Reden und Redeszenen in der deutschen epischen Dichtung von 1150–1200. Rostock 1958; Peter Wiehl: Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes.München 1974 (= Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft, 10); Wolfgang Schulte: »Epischer Dialog«. Untersuchungen zur Gesprächsthematik in frühmittelhochdeutscher Epik (Alexanderlied, Kaiserchronik, Rolandslied, König Rother). Bonn 1970; Dieter Strauss: Redegattungenund Redearten im »Rolandslied«sowie in der »Chanson de Roland« und in Strickers »Karl«. Studien zur Arbeitsweise mittelalterlicher Dichter. Göppingen 1972 (= GAG, 64). Minnegespräche in der mittelhochdeutschen Lyrik hat aus textlinguistischer Perspektive Hannes Kästner untersucht, vgl. ders.: Minnegespräche. Die galante Konversation in der frühen deutschen Lyrik. In: Andreas H. Jucker / Gerd Fritz / Franz Lebsanft (Hrsg.): Historical dialogue analysis. Amsterdam / Philadelphia 1999 (= Pragmatics and beyond, N. S. 66), S. 167–188. Vgl. u. a. Strauss, Redegattungen und Redearten, S. 54.
22 log in der Epik vor.46 Für Beschreibung und Interpretation vormoderner Figurendialoge werden unterschiedliche methodische Zugriffe gewählt: So leistet die Arbeit nicht nur eine breit angelegte Analyse der formalen Gestaltungsmöglichkeiten des Dialogs, sondern nimmt am Beispiel von Lob und Selbstlob auch dessen diskursive Vertextungsregeln in den Blick.47 Mit der sozialen Diskursform geselliger Kommunikation ist keine der vorgenannten Arbeiten befasst. Wenn Stierle also im Rahmen seiner Ausführungen zu »Gespräch und Diskurs« in der Frühen Neuzeit die Rahmenhandlung in Boccaccios Decameron als Muster eines literarisch inszenierten ›idealen‹ geselligen Gesprächs bezeichnet,48 postuliert er einen literarhistorischen Zusammenhang, dem in der älteren Forschung zum mittelalterlichen Dialog, zur frühneuzeitlichen Konversation49 und zum Renaissancedialog50 keine besondere Beachtung geschenkt wurde. Symptomatisch ist hierfür ein Abschnitt aus der Studie von Virginia Cox: The imitation of Cicero, in Castiglione and his followers, was overlaid by postclassical influences: pre-eminently that of the cornice of Boccaccio’s Decameron, with its brigata of exquisitely idealized speakers, masked by poetic names. This ›semi-fictional‹ model of dialogue proved popular throughout the century, especially for dialogues on the quintessentially Boccaccian themes of women and love. But even in more strictly ›Ciceronian‹ dialogues, a Boccaccian influence is often detectible, revealing itself in structural features, like the appointment of a ›king‹ or ›queen‹, but also, more subtly, lending a distinctly unCiceronian inflection of playful gallantry, especially in their presentation of women speakers, for whom antiquity offered no precedents. With this caveat, however, it seems safe to assert that the principal model for the polite Italian dialogue was Cicero, rather than Plato, and that the reasons for this preference are sociological, rather than purely philosophical or literary.51
Cox sieht in der cornice des Decameron zwar ein wirkungsmächtiges literarisches Muster für die italienische Dialogproduktion des 16. Jahrhun-
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Anja Becker: Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschenEpik um 1200. Diss. masch. München 2007. Ich danke Anja Becker sehr herzlich, dass sie mir ihre Arbeit schon vor der Drucklegung zur Verfügung gestellt hat. Vgl. ebd., Kap. 2 (Stilanalyse), Kap. 3 (Strukturanalyse), Kap. 4 (Historische Diskursanalyse). Stierle, Gespräch und Diskurs, S. 307. Vgl. Göttert, Kommunikationsideale; Schmölders, Kunst des Gesprächs; sowie Peter Burke: The art of conversation. Ithaca 1993, S. 96–98. Ohne Erwähnung bleibt das Decameron bei David Marsh: The Quattrocento Dialogue. Classical Tradition and Humanist Innovation. Cambridge (Mass.) / London 1980 (= Harvard studies in comparative literature, 35); als ›äußeres‹ Dialogmerkmal wird die cornice bei Stefano Prandi geführt, vgl. ders.: Scritture al crocevia. Il dialogo letterario nei secc. XV e XVI. Vercelli 2000 (= Studi umanistici), S. 55f. Virginia Cox: The Renaissance dialogue. Literary dialogue in its social and political contexts. Castiglione to Galileo. Cambridge 1992 (= Cambridge Studies in Renaissance Literature and Culture, 2), S. 15f.
23 derts,52 zugleich bleibt dieses im Rahmen der Untersuchungen eine ungenutzte Kategorie,53 weil den nachantiken ›Einflüssen‹ auf den Renaissance-Dialog kein zentraler Stellenwert zugemessen wird: Cox’ Interesse gilt vor allem den principal models der klassischen Antike.54 Auch in jüngeren Arbeiten zum Renaissancedialog werden vor allem die im engeren Sinne kommunikativen Verfahren der Gesprächsführung und ihr Verhältnis zur antiken Dialogtradition fokussiert.55 Eine Erweiterung der Perspektive auf die soziale Dimension von Kommunikation deutet sich zwar in den Titeln einiger Publikationen an, wird aber von den publizierten Beiträgen nur zu kleinen Teilen eingelöst.56 52
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Ebd., sowie die entsprechenden Anm. 32 und 33 (S. 122); für den Befund vgl. auch Prandi, Scritture al crocevia,S. 88–90, bes. S. 89; sowie Francesco Tateo: Boccaccio. Rom / Bari 2 1998 (= Biblioteca universale Laterza, 475), S. 41. Das ist insofern aufschlussreich, als Cox mit den zahlreichen Dialogen zum Thema Liebe, den sogenannten Trattati d’amore, die vor allem im 16. Jahrhundert einen wichtigen Teil der literarischen Dialogproduktion ausmachen, einen Komplex zu bearbeitenhat, für den der kommunikativeModus der liebeskasuistischen Debatte, wie er in Boccaccios Filocolo breit vorgeführt wird, eine entscheidende Referenzgröße darstellt. Die bisherige Ausklammerung des Decameron aus einer Geschichte von Dialog und Konversation ist auch dadurch bedingt, dass hier kein Dialog im klassischen Sinne vorliegt: Wird doch im Decameron vorrangig erzählt und nicht diskutiert. In dieser Perspektive ist die cornice bloßer Inszenierungsrahmen, der keine Implikationen für die Darstellung und Umsetzung geselliger Kommunikation zu haben scheint. Vgl. dagegen das Plädoyer für eine forcierte intertextuelle Verknüpfung des Konversationsmodells im Decameron mit den entsprechenden Konzeptionen der italienischen Hofmannsliteratur des 16. Jahrhunderts bei Mugheddu, Die civile conversatione. So etwa in den instruktiven Arbeiten, die aus dem romanistischen Teilprojekt des Berliner Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« hervorgegangen sind, vgl. Klaus W. Hempfer (Hrsg.): Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien. Stuttgart 2002 (= Text und Kontext, 15); Klaus W. Hempfer / Helmut Pfeiffer (Hrsg.): Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance. Stuttgart 2002 (= Text und Kontext, 16). Auch in der neueren Studie von Hans Honnacker: Der literarische Dialog des primo Cinquecento. Inszenierungsstrategienund ›Spielraum‹. Baden-Baden 2002 (= Saecula spiritalia, 40) werden die geselligen Dialogkontexte nicht intertextuell verortet. Vgl. aus dem Bereich der Mediävistik den Band von Alois Hahn / Gert Melville / Werner Röcke (Hrsg.): Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Für Peter von Moos. Berlin 2006 (= Geschichte. Forschung und Wissenschaft, 24), und hier vor allem den Beitrag von Rüdiger Schnell: Gastmahl und Gespräch. Entwürfe idealer Konversation von Plutarch zu Castiglione,S. 73–90; sowie aus dem Bereich der Frühneuzeitforschung den Band von Guthmüller / Müller (Hrsg.), Dialog und Gesprächskultur in der Renaissance, der Gesprächskultur wiederum als ein Spezifikum der Renaissance ansieht, das vor allem vom Modell sokratischer Dialogführung und antiken sozialen Konzeptionen wie der der urbanitas inspiriert werde, vgl. hier insbesondere Guthmüller / Müller, Einleitung; sowie Wolfgang G. Müller: Dialog und Dialogizität in der Renaissance, S. 17–31; auf das Decameron als Modell für gesellige Kom-
24 Pionierarbeit leisten in diesem Zusammenhang die neueren Veröffentlichungen von Rüdiger Schnell, insbesondere der Sammelband zur »Konversationskultur der Vormoderne«.57 Es ist Schnells programmatisches Anliegen, die These zu widerlegen, das Mittelalter habe keine Konversation gekannt.58 Dabei geht er von einem am Modell der französischen Salonkultur gebildeten Begriff von Konversation aus, der ihm die normative Folie liefert, vor der Aussagen zu und Darstellungen von kommunikativer Interaktion beschrieben und gewertet werden können.59 Kennzeichnend für Schnells Ansatz ist, dass er die Geschichte der Konversation in Mittelalter und Früher Neuzeit als Teil einer umfassenderen vormodernen Bildungs- und Geschlechtergeschichte ansieht.60 Das führt im Ergebnis zu der Notwendigkeit, die Geschichte der Konversation im Mittelalter aufzuspalten: Zum einen in die Geschichte einer gelehrt-klerikalen und damit männlichen Konversationskultur, die auf Eloquenz und Wortwitz ausgerichtet ist und aus der insbesondere die Facetie als literarische Gattung hervorgeht, zum anderen in die Geschichte höfisch-feudaler Konversation, an der beide Geschlechter beteiligt sein können und für die das Thema der – nicht nur höfischen – Liebe kennzeichnend ist.61 Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Frage, ob bzw. inwiefern diese beiden Konversationskulturen im 15. und 16. Jahrhun-
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munikation verweist der Beitrag von Joachim Leeker: Dialog und Gesprächskultur im Heptaméron von Marguerite de Navarre, S. 203–227. Vgl. Schnell, Gastmahl und Gespräch; sowie besonders Schnell (Hrsg.), Konversationskultur in der Vormoderne, mit den hier publizierten Beiträgen: Schnell, Einleitung; ders., Konversation im Mittelalter; ders., Männer unter sich; sowie ders.: Zur Konversationskultur in Italien und Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Methodologische Überlegungen, S. 313–385; ders.: Zur Geselligkeitskultur des männlichen Adels in Deutschland: Das Fallbeispiel Zimmerische Chronik (ca. 1552–66), S. 441–471. Der Band erschien während der Drucklegung; seine Beiträge sind hier punktuell berücksichtigt worden. Für eine umfassendere kritische Würdigung vgl. demnächst meine Rezension in den PBB. Vgl. Schnell, Einleitung, S. 1 und 9–11; ders., Konversation im Mittelalter, S. 121– 125. Vgl. Schnell, Einleitung, S. 2–9, bes. S. 7; ders., Konversation im Mittelalter, S. 123. Vgl. Schnell, Einleitung, S. 1; ders., Konversation im Mittelalter, S. 121–151. Vgl. Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 151–197; ders., Männer unter sich, bes. S. 423–425. Die von Schnell rekonstruierte Dichotomie der Konversationskulturen spiegelt sich auch in der vorliegenden Arbeit, hier in der Gegenüberstellung von ›höfischem‹ und ›humanistischem‹ Geselligkeitsmodell. Der Fokus liegt jedoch auf dem ersten, da die volkssprachlichen Literaturen im Gegensatz zur lateinischen vor allem Beispiele kennen, die sich dem Typus heterosozial-höfischer Geselligkeit zuordnenlassen, vgl. die Beispielreihebei Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 184–194; sowie zusammenfassend in dieser Arbeit Kap. 5.3.4 und den Eingang zu Kap. 6. Das Gegenmodell homosozial-gelehrter Geselligkeit, das Schnell für das Mittelalter anhand von philosophisch-politischen und historiographischen Schriften nachweist, kommt in dieser Arbeit als dezidiert literarische Konzeption erst am Beispiel der convivia des Erasmus in den Blick (Kap. 6.3).
25 dert in Italien und Deutschland konvergieren.62 Schnells Arbeiten kommt das Verdienst zu, die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Konversation im Mittelalter vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Konversationstheorie und -praxis erstmals umfassend in Angriff genommen zu haben. Sein diskursanalytisches Vorgehen gliedert die Aussagen und Darstellungen von Konversation zugleich in einer Weise, mit der sich künftige Forschung kritisch auseinanderzusetzen haben wird.63 Für die Frage nach der Rolle des Decameron-Rahmens in einer Geschichte von Konversation und Dialog in der Vormoderne gibt der ebenfalls bei Schnell publizierte Beitrag von Francesco Mugheddu neue Impulse, indem er das Decameron erstmalig forciert als Prätext für die Konversationskonzepte der italienischen Hofmannsliteratur liest.64 Zwar hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung breit mit der Rahmenhandlung des Decameron beschäftigt, es hat jedoch nur vergleichsweise wenige Versuche gegeben, die intradiegetisch vorgeführten kommunikativen Beziehungen zwischen den Novellenerzählern und ihren Zuhörern herauszuarbeiten, um sie für eine Geschichte der geselligen Kommunikation fruchtbar zu machen.65 Die vorliegende Arbeit will diesen Versuch unternehmen.66 Dem Decameron kommt dabei eine Scharnierfunktion zu: Es bezieht sich produktiv auf mittelalterliche Konzeptionen geselliger Kommunikation und wird zugleich zu einem zentralen Prätext für die frühneuzeitliche Konversationsliteratur. Im Werk Boccaccios ist der Novellenrahmen des Decameron nicht die einzige Inszenierung geselliger Kommunikation. Sowohl die Episode der Liebesfragen im Filocolo als auch die Szene der sieben erzählenden Nymphen im Ameto inszenieren gesellige Runden, in denen er62
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Vgl. Schnell, Zur Konversationskultur in Italien und Deutschland; ders., Männer unter sich; ders., Zur Geselligkeitskultur des männlichen Adels. Das Bemühen Schnells, die differenten Konversationskonzepte wieder zusammenzuführen, hat offenbar zum Ziel, die Konversationskultur der Vormoderne (im Singular!) an die französische Salonkultur anzubinden, deren Konversationskonzept den Ausgangspunkt der Untersuchungen darstellt. Die vorliegende Arbeit ist demselben Erkenntnisinteresse wie Schnells Arbeit verpflichtet, schlägt aber methodisch einen dezidiert anderen Weg ein: Erstens, indem sie keinen festen Begriff von Konversationvoraussetzt,sondern die Modalitäten geselliger Kommunikation allererst zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht; zweitens, indem sie sich auf literarische Darstellungen von geselliger Kommunikation beschränkt und den theoretischen Diskurs über Konversationsnormen unberücksichtigt lässt; drittens, indem sie DarstellungengeselligerInteraktionjeweils separat auf soziale und verbale Interaktionsmechanismen und besonders ihre intertextuelle Verfasstheit hin untersucht. Mugheddu, Die civile conversatione, der seinerseits den literaturgeschichtlichen Ort des Konversationsmodells im Decameron unberücksichtigt lässt. Vgl. den Forschungsbericht in Kap. 5.2. Vgl. die Anregung bei Frank-Rutger Hausmann: Rez. zu Klaus W. Hempfer, Möglichkeiten des Dialogs. In: Mittellat. Jahrbuch 38 (2003), S. 304–306, hier S. 306.
26 zählt und diskutiert wird.67 Die Szene der Questioni d’amore im Filocolo fingiert dabei besonders eindrücklich eine höfische Praxis, die sich vor allem auf Prätexte der hochmittelalterlichen Minnekasuistik beziehen lässt. Schon früh sind die auffälligen Analogien zwischen den besagten Passagen in Filocolo und Ameto und der Rahmenhandlung des Decameron in der Forschung benannt und beschrieben worden. Dabei hat die Formulierung Pio Rajnas von den Questioni d’amore als »forma embrionale del Decameron«68 zu einer quasi-organischen Vorstellung geführt, die die Frage nach den intertextuellen Verbindungen der Werke offenbar für lange Zeit ausreichend befriedigt hat. Den strukturellen Beziehungen zwischen den Darstellungen geselliger Kommunikation in Boccaccios Frühwerk und dem Decameron ist im Anschluss an die frühen motivgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten von Rajna und Löhmann69 jedenfalls nur in wenigen neueren Arbeiten nachgegangen worden.70 In der vorliegenden Arbeit erhält die Questioni d’amore-Episode des Filocolo breiten Raum. Das hat drei Gründe: Erstens ist die Szene geeignet, das im Decameron vorgeführte Modell geselligen Erzählens um ein alternatives kommunikatives Modell zu ergänzen, das sich ebenfalls auf mittelalterliche Prätexte beziehen lässt. Zum anderen liefert sie die strukturelle Folie, von der aus sich das kommunikative Geschehen in der cornice des Decameron erst hinreichend verstehen lässt.71 In historischer Perspektive wird das Modell kasuistischer Debatte drittens nicht, wie es die zitierte Formulierung von Rajna suggerieren könnte, vom kommunikativen Modell des Decameron abgelöst, sondern besteht – vor allem in der italienischen und französischen Rezeption des 15. bis 17. Jahrhunderts – neben diesem fort.72 Die folgenden Untersuchungen zielen darauf, die frühneuzeitlichen Vorstellungen von Konversation als idealem gesprächigem Umgang historisch zu perspektivieren, und zwar nicht nur hinsichtlich der geselligen Inszenierungsformen, sondern auch hinsichtlich der kommunika-
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Auch der Filostrato und die Elegia di madonna Fiammetta enthalten literarische Entwürfe geselliger Kommunikation, vgl. hierzu die ausführliche Studie von Luigi Surdich: La cornice di amore. Studi sul Boccaccio. Pisa 1987 (= Saggi di letteratura italiana, 9). Pio Rajna: L’episodio delle questioni d’amore nel »Filocolo«. In: Romania 31 (1902), S. 28–81, hier S. 28. Otto Löhmann: Die Rahmenerzählungdes Decameron. Ihre Quellen und Nachwirkungen. Ein Beitrag zur Geschichte der Rahmenerzählung. Halle 1935 (= Romanistische Arbeiten, 22). Vgl. Kap. 5.2. Vgl. Kap. 5.4.2. Vgl. Crane, Italian social customs; Schlumbohm, Jocus und Amor; Kruse, Sprachlich-literarische Aspekte.
27 tiven Interaktionsmodi.73 Es geht darum zu zeigen, dass auch das gesellige Erzählen und die minnekasuistische Diskussion einen sozialen Raum darstellen, in dem Konflikte verhandelt, Verhaltensnormen gesetzt und ideale Interaktionsmodelle präsentiert werden können. Die vorgestellten Spielarten und Varianten geselliger Kommunikation machen eine Vorgeschichte des geselligen Gesprächs sichtbar, die zwar nicht teleologisch auf jenes zuläuft, die aber mit ihrer Verankerung in der höfischen Kultur eine Diskurstradition andeutet, in der auch die frühneuzeitliche ars conversationis steht.74
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Hinsichtlich des analytischen Zugriffs auf die Texte ergeben sich Analogien zur historischen Dialoganalyse der Linguistik, die für die Beschreibung literarischer Gespräche ebenfalls die Berücksichtigung sozialer (»pragmatische Einbettung«, »Rollenkomplementarität«) und im engeren Sinne kommunikativer Kriterien (»Verlauf, Richtung, Ziel der Handlungsbewegung nach Maßgabe der […] vollzogenen Sprechakte«) fordert, vgl. den Forschungsüberblick bei Ernest W. B. Hess-Lüttich: Formen des Gesprächs in der Literatur. Eine kurze Übersicht. In: Michael Hoffmann / Christine Keßler (Hrsg.): Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2003 (= Sprache: System und Tätigkeit, 47), S. 111–135, hier S. 119; sowie nahezu gleichlautend ders.: Literarische Gesprächsformen als Thema der Dialogforschung. In: Anne Betten / Monika Dannerer (Hrsg.): Dialogue Analysis IX: Dialogue in Literature and the Media. Selected Papers from the 9th IADA Conference, Salzburg 2003. Part 1: Literature. Tübingen 2005 (= Beiträge zur Dialogforschung, 30), S. 85–98. Dass das gesellige Gespräch in der Frühen Neuzeit an weiteren Diskurstraditionen partizipiert, die sich sowohl in Bezug auf den kommunikativen Modus (Erzählen, Kasuistik vs. Dialog) als auch auf Sprache (Volkssprache vs. Latein), Teilnehmer (höfisch/heterosozial vs. gelehrt/homosozial) und Inhalte vom höfischen Diskurs unterscheiden, ist unbenommen, soll hier aber gerade nicht im Zentrum stehen. Vgl. zu den antiken Diskurstraditionen u. a. Cox, The Renaissance Dialogue; Prandi, Scritture al crocevia, S. 61–119; Honnacker, Der literarische Dialog; zu mittelalterlichen und humanistischen Diskurstraditionen fazeter Konversation vgl. Gerd Dicke: Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutscheRezeption im 15. und 16. Jahrhundert.In: Eckart Conrad Lutz / Johanna Thali / René Wetzel (Hrsg.): Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001. Tübingen 2005, S. 157– 190; ders.: Homo facetus. Vom Mittelalter eines humanistischen Ideals. In: Nicola McLelland / Hans-Jochen Schiewer / Stefanie Schmitt (Hrsg.): Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. AngloGerman-Colloquium Hofgeismar 2003. Tübingen 2008, S. 299–332; sowie Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 158–183; ders., Zur Konversationskultur in Italien und Deutschland, S. 333–373; ders., Männer unter sich.
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Gesellige Kommunikation in der höfischen Literatur
Die Darstellung geselliger Interaktion kommt in der höfischen Literatur des Mittelalters nur vereinzelt und am Rande in den Blick, ein ästhetisches Eigenleben – wie später bei Boccaccio – führt sie nur in wenigen Texten.1 Irritiert hat die Forschung konstatiert, dass – obgleich die volkssprachliche höfische Literatur (Minnesang, höfischer Roman) ihren Vortragsort vermutlich in geselligen, festlichen Kontexten hat – diese pragmatische Situation nur in sehr geringem Maße Niederschlag in den Texten selbst gefunden hat.2 Und auch der für die höfische Literatur und ihre Gegenstände konstitutive Bezugspunkt des Hofes bzw. der aristokratischen Hofgesellschaft und die Festlichkeit, die sie kennzeichnet, werden in den Texten nur in Abbreviaturen evoziert.3 Eine Versammlung solcher Abbreviaturen höfischer Geselligkeit findet sich zu Beginn des Iwein von Hartmann von Aue. Beschrieben werden dort Tätigkeiten, mit denen sich die Gesellschaft des Artushofes nach dem gemeinsamen Mahl am Pfingsttag beschäftigt:4 dô man des pfingestages enbeiz, männeclîch im die vreude nam der in dô aller beste gezam. dise sprâchen wider diu wîp, dise banecten den lîp, dise tanzten, dise sungen, dise liefen, dise sprungen, dise hôrten seitspil, dise schuzzen zuo dem zil, 1 2
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So auch Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 186–194. Die Hoffnung, über die Sichtung literarischer Darstellungenvon Erzählsituationen Aussagen zur Pragmatik des Erzählens im Mittelalter machen zu können, liegt – obgleich mit Zurückhaltung formuliert – auch dem Band von Ludger Lieb und Stephan Müller zugrunde, vgl. dies.: Einleitung. In: Lieb / Müller (Hrsg.), Situationen des Erzählens, S. 1–18, hier S. 1 und 5–11; zur Dürftigkeit der Quellenlage vgl. hier auch den Beitrag von Dieter Kartschoke: Erzählen im Alltag – Erzählen als Ritual – Erzählen als Literatur, S. 21–39, bes. S. 21–23. Offensichtlich besteht über den Wertehorizont der höfischen Gesellschaft grundsätzlicher Konsens, so dass es genügt, diesen Konsens stichwortartig zu aktualisieren, bevor die zumeist prekäre Relation des einzelnen Ritters zu dieser Gesellschaft narrativ entfaltet werden kann. Zu diesem Erzählerbericht auch Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 190–192.
29 dise redten von seneder arbeit, dise von grôzer manheit. (Hartmann, Iwein, V. 62–72)5
Die Interaktion umfasst körperliche Tätigkeiten (den lîp baneken, tanzen, loufen, springen, schiezen) sowie aktives verbales Handeln (sprechen, reden) und die Produktion und Rezeption musischer Kunst (singen, seitspil hœren).6 Dass höfische Geselligkeit nicht ausschließlich – wie es die körperlichen Aktivitäten nahelegen könnten – auf die männlichen Höflinge beschränkt ist, zeigt die programmatisch an den Anfang der Aufzählung gestellte Kommunikation mit den Damen: Die Formulierung wider diu wîp sprechen (mit den Frauen sprechen, ggf. auch diskutieren) könnte dabei auf Kommunikationsformen wie die Minnekasuistik verweisen, die Mechanismen des zwischen Männern ausgetragenen sportlichen Wettkampfs (im Turnier) der kommunikativen Interaktion zwischen Männern und Frauen analog setzt.7 Auch auf körperlicher Ebene, beim tanzen, findet eine Begegnung der Geschlechter statt. In den Gesprächsinhalten sind Mann-Frau-Beziehungen als senediu arbeit 8 neben dem Sprechen von männlicher Tapferkeit (grôzer manheit ) präsent. Nicht zufällig läuft die Definition geselliger Aktivitäten damit auf zwei Stichworte zu, die als Synonyme von minne und riterschaft nicht nur die Interessen der Gesellschaft am Artushof umreißen, sondern in denen zugleich das thematische Programm des höfischen Romans verdichtet ist.9 So imaginativ stimulierend dieser knappe Bericht ist, die Mechanismen geselliger Interaktion und die Modi geselliger Kommunikation sind nur als Stichworte erschließbar: Zum einen verweisen jene Aktivitäten, die einen spielerischen Wettkampf implizieren, auf die prinzipielle soziale Gleichrangigkeit der Teilnehmer, denn Konkurrenz bzw. der Impe5
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Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Hrsg. von G. F. Benecke und K. Lachmann. Neu bearb. von Ludwig Wolff. Bd. I: Text. Berlin 7 1968. Die Aufzählung ist eine systematische Erweiterung gegenüber dem Yvain Chrétiens, der mit dem Erzählen von Neuigkeiten (reconter noveles) und dem Sprechen von der Liebe (parler d’amors) ausschließlich kommunikative Tätigkeiten aufzählt, vgl. Chrestien de Troyes: Yvain. Übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff. München 1962 (= Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben, 2), V. 9–17, hier V. 12f. Zu den Vorlagen Hartmanns vgl. Thomas Cramer: Anmerkungen. In: Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer. 3., durchges. und erg. Aufl. Berlin / New York 1981, S. 171–245, hier S. 174f.; sowie Haupt, Das Fest, S. 170f. Dabei lässt die Formulierung »offen, ob sich einzelne Ritter einzelnen Frauen zuwenden, oder ob sich Grüppchen von Männern und Frauen bildeten, die miteinander im Gespräch waren«, so Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 190. Anders als Cramer, Anmerkungen, S. 175, und Haupt, Das Fest, S. 172–174, bin ich der Ansicht, dass von dieser Formulierung nicht auf den Vortrag von Minneliedern geschlossen werden kann, die Verwendung des Verbs reden scheint eher auf Minne als Gesprächsgegenstand zu verweisen. So auch Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 191.
30 tus, sich aneinander zu messen, entsteht insbesondere dort, wo soziale Distinktion von vornherein wenig ausgeprägt ist und es daher darauf ankommen muss, messbare Distinktion herzustellen.10 Da dieser Mechanismus sowohl in der homosozialen (körperlichen) als auch der heterosozialen (verbalen) Interaktion zu beobachten ist,11 scheint das Prinzip der Parität männliche und weibliche Anwesende zu umfassen.12 Die kommunikative Interaktion kennt neben dem wechselseitigen, möglicherweise kontroversen Gespräch auch das themenzentrierte Gespräch, das – ohne dass dies für die oben zitierte Passage zu entscheiden wäre – auch zur monologischen Rede bzw. zur Erzählung (über senediu arbeit und grôze manheit ) werden kann.13 Damit sind – wenn auch nur in der verdichteten Form der enumeratio, nicht in darstellender Form – Stichworte angedeutet, die in einer Geschichte zur literarischen Darstellung geselliger Kommunikation bis in die Frühe Neuzeit relevant bleiben: Auf 10
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Für die These, dass die Entstehung von Konkurrenz von sozialen Konstellationen begünstigt wird, die durch eine weitgehende Gleichrangigkeit der Beteiligten geprägt sind, sei es in sozialer, ökonomischer, sportlicher oder künstlerischer Hinsicht, beziehe ich mich auf einen Grundsatz, wie er in den Wirtschaftswissenschaften vertreten wird. Argumentiert wird hier allerdings vom Objekt der Konkurrenz aus (zumeist dem Preis): Demnach zielt Konkurrenz auf eine »Gleichgewichtslage« (Übereinstimmung von natürlichem Preis und Marktpreis) und hält diese stabil. Dafür müssen aber wiederum die Produktionsbedingungen der Konkurrenten vergleichbar sein, was bei großen Unterschieden zwischen den Konkurrenten nicht der Fall sein dürfte, vgl. Ernst Heuß: Art. Wettbewerb. In: HdWW 8 (1980), S. 679– 697, Zitat S. 679. In der germanistischenMediävistik wird höfischeKonkurrenzvor allem unter dem Stichwort ›Agon‹ verhandelt: Haferland, Höfische Interaktion, S. 28–35, beschreibt allerdings weniger die Voraussetzungen für agonale Interaktion (i. e. prinzipielle Parität) als vielmehr ihre Ergebnisse (i. e. soziale Stratifizierung): »Nach der symbolischen Ordnung des Agons entstammt und entspricht das Statussystem einer Rangordnung. In dieser symbolischen Ordnung müssen Ränge in Status übersetzt werden und Status sich als Ränge ausweisen.« (ebd., S. 29). Franziska Wenzel hat dagegen darauf hingewiesen, dass agonale Interaktion entstratifizierte, sozial homogene Gruppen allererst voraussetzt, vgl. dies., Situationen höfischer Kommunikation, S. 45–57. Die soziale Konstruktion des Artushofs, deren besonderes Kennzeichen die Gleichrangigkeit der Artusritter ist, besitzt somit zwar die notwendigen Voraussetzungen für agonale Interaktion, ohne dabei jedoch auf Rangabstufungen im Sinne Haferlands abzuzielen (zu dem hieraus erzeugten Widerspruch s. u.). Auch wenn agonale Interaktion vor allem vor dem Hintergrund sozialer Konstellationen zu verstehenist – Turnier und Minnekasuistik also sicher nicht die höfischen Erscheinungsformen eines ubiquitären dialektischen Geistes der Epoche sind –, so ist doch die Beobachtung nicht von der Hand zu weisen, dass der gelehrte Diskurs mit der scholastischen disputatio ein Redemuster zur Verfügung stellt, das dem Bedürfnis, agonale Kommunikation zu inszenieren, entgegenkommt. Zur metaphorischen Bezeichnung der disputatio als »eine Art Turnier, ein Wett- und Zweikampf mit den Waffen des Geistes« vgl. Martin Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode. Bd. 2: Die scholastische Methode im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert. Freiburg i. Brsg. 1911, S. 21. Vgl. auch Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 190f. Diese beiden kommunikativen Modi führt bereits Chrétien an, vgl. Yvain, V. 12f.
31 der sozialen Seite Gleichrangigkeit und Heterosozialität,14 auf der kommunikativen Seite dialogisches Gespräch und monologisches Erzählen. Im Folgenden ist exemplarisch zu überprüfen, auf welche Weise diese Konstituenten geselliger Interaktion in der höfischen Literatur produktiv werden.
3.1
Geselligkeit und das Sozialmodell des Artushofs in Hartmanns Iwein
Das mhd. Wort geselle bezeichnet symmetrische soziale Beziehungen zwischen Personen. Wenn Gawein und Iwein als gesellen bezeichnet werden, konnotiert das Wort die Äquivalenz der beiden Ritter.15 Bezeichnen Iwein und Laudine einander als gesellen, wird die Liebesbeziehungen kennzeichnende Intensität sozialer Nähe betont.16 Dass der Begriff geselle sich darüber hinaus eignet, tatsächlich gegebene soziale Abstände – wenn auch nur symbolisch – zu verringern, wird sichtbar, wenn Laudine ihre vertraute Hofdame Lunete als Freundin (geselle oder trûtgeselle)17 oder Laudine Iwein zugleich als Geliebten und Eheherrn (geselle unde herre) bezeichnet.18 In beiden Fällen wird die soziale Symmetrie zwischen den Figuren erst im jeweiligen Sprechakt, performativ, hergestellt. Von diesen unterschiedlichen Verwendungen des Wortes geselle aus sollen zwei Varianten von geselligen Beziehungen, also von gesellecheit, unter14
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In der Soziologie ist vor allem der Begriff der ›Homosozialität‹ eingeführt. Darunter sind »die besonders engen Beziehungen zwischen den Angehörigen einer sozialen Kategorie, etwa der Männer untereinander« zu fassen, vgl. Rüdiger Lautmann: Art. Homosozialität. In: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Unter Mitarb. von Eva Barlösius u. a. 4., grundlegend überarb. Aufl. Wiesbaden 2007, S. 276. Programmatische Verwendung findet der Begriff in der Arbeit von Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. With a new preface by the author. New York 1985 (= Gender and culture). Dabei verwendet Sedgwick Homosozialität in einem engeren Sinne als Strategie, geschlechtsspezifische Privilegien zu sichern, vgl. ebd., S. 1–5; sowie Lautmann, Art. Homosozialität, S. 276. Im Folgenden wird ›Homosozialität‹ für soziale Beziehungen zwischen Angehörigen eines (biologischen) Geschlechts, ›Heterosozialität‹ dagegen für soziale Beziehungen zwischen Angehörigen beider Geschlechter verwendet. Die Anregung hierzu beziehe ich von Andreas Kraß und Alexandra Tischel, die mit den Begriffen ›homosozial‹ und ›heterosozial‹ Erscheinungsformen der Liebe klassifizieren: Andreas Kraß / Alexandra Tischel: Liebe zwischen Bündnis und Begehren – Eine Einführung.In: A. K. / A. T. (Hrsg.): Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Berlin 2002 (= Geschlechterdifferenz und Literatur, 14), S. 9–20, hier S. 10. Vgl. u. a. V. 2700f.: »der [d. i. Gawein, C. E.] erzeicte getriuwen muot / hern Iwein sînem gesellen«. V. 2338f: »got ruoche mir daz heil bewarn, / daz wir gesellen müezen sîn«. Vgl. V. 2115 und 2146. V. 2665–67: »geselle unde herre, / ich gnâde dir vil verre / unsers werden gastes.«
32 schieden werden: Die erste Variante bezeichnet Interaktion zwischen Personen, die in einer gegebenen Situation von vornherein von gleichem Rang sind (›natürliche‹ oder gegebene Geselligkeit). Die zweite Variante bezeichnet Interaktion zwischen Personen ungleichen Standes, zwischen denen die Übereinkunft besteht, sich für eine begrenzte Zeitspanne wechselseitig als gleichrangig anzuerkennen (›positive‹, vereinbarte Geselligkeit).19 Fehlt ein solcher Kontrakt, kann eine sozial symmetrische Situation gar nicht erst entstehen oder unterliegt Störungen. Die differierenden Mechanismen und Funktionsweisen ›natürlicher‹ und im Kontrast dazu ›gesetzter‹ Geselligkeit lassen sich an der Eingangsszene des Iwein auf engem Raum beobachten. Im Rahmen des Pfingstfestes am Artushof erzählt einer der Artusritter, Kalogrenant, die Geschichte seiner bereits eine Reihe von Jahren zurückliegenden Niederlage gegen Ascalon, Hüter des Brunnens im Wald von Breziljân. Die Szene ist bislang vor allem hinsichtlich ihrer Funktion für das Strukturschema des Iwein gelesen worden: Kalogrenants Niederlage und damit die Abwertung seiner ritterlichen Ehre erfordert, indem sie am Artushof öffentlich wird, Kompensation und initiiert auf diese Weise Iweins Auszug vom Hof.20 Die Szene ist damit dem ehrverletzenden Geiselschlag im Erec strukturell analog, auch wenn der initiale Ehrverlust hier nicht an Iwein selbst, sondern stellvertretend für ihn an seinem Verwandten Kalogrenant vorgeführt wird.21 Franziska Wenzel hat eine instruktive Analyse der Szene vorgelegt, die – ohne die skizzierte Funktion dabei in Frage zu stellen – das Geschehen unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten beleuchtet.22 Der Beitrag fragt vorrangig nach »Prinzi19
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In der Rechtssprache beziehen sich die Begriffe ›natürlich‹ und ›positiv‹ auf die Unterscheidung von zeitlos gültigem Naturrecht und dem vom Menschen gesetzten, ›positiven‹ Recht. Hier dienen sie dazu, soziale Konstellationen in gegebenen Situationen zu differenzieren. Sie ermöglichen insbesondere die Unterscheidung, ob eine soziale Relation einer Situation vorausliegt oder in dieser allererst hergestellt wird. Vgl. zu den RechtsbegriffenKarl-Heinz Ilting: Art. Naturrecht. In: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland. Bd. 4 (1978), S. 245–313. Für eine Beschreibung der Szene vgl. Oliver Bätz: Konfliktführung im Iwein des Hartmann von Aue. Aachen 2003 (= Berichte aus der Literaturwissenschaft) [zugleich Diss. Freiburg 2003], S. 79–87 (mit Hinweisen zur älteren Literatur). Vgl. Walter Haug: Literaturtheorieim deutschenMittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2. überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1992, S. 131; zuletzt noch einmal ders.: Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain / Iwein. In: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Unter Mitwirkung von Peter Ihring. Tübingen 1999, S. 99–118, hier S. 105–107. Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 89–109. Zur Funktion des Streitgesprächs zwischen Keie, Kalogrenant und Ginover vgl. auch Berndt Volkmann: Costumiers est de dire mal. Überlegungen zur Funktion des Streites und zur Rolle Keies in der
33 pien höfischer Kommunikation«23 und den Bedingungen, die insbesondere den öffentlichen Erzählvortrag Kalogrenants ermöglichen.24 Da die Szene unterschiedliche gesellige Konstellationen vorführt, die ihrerseits ausschlaggebend für die kommunikativen Interaktionen der Beteiligten sind, hat die dargestellte Interaktion eine eminent soziale Dimension. Diese kommt in Wenzels Beitrag nur zum Teil in den Blick. Die folgende Lektüre konzentriert sich daher zum einen auf die sozialen Prozesse in der Szene, zum anderen auf die Relation von geselliger Formation und kommunikativem Handeln (Kap. 3.2). Es wird zu zeigen sein, dass in der Eingangsszene des Iwein deutlich mehr gesehen werden kann als nur der Auftakt zum weiteren âventiure-Geschehen: Sie ist zugleich eine verdichtete Beschreibung der Funktionsweisen und Mechanismen des sozialen Systems ›Artushof‹. Das Geschehen um Kalogrenants Erzählung bis zum Aufbruch Iweins (V. 31–944) lässt sich in vier Phasen einteilen und zeigt je unterschiedliche Konzeptionen von Geselligkeit. Die erste Phase ist durch die Szenerie des höfischen Festes gekennzeichnet, die vor allem über die oben bereits angeführten Tätigkeiten konkretisiert wird. In sozialer Hinsicht zeichnet sich das Fest am Artushof durch gegensätzliche Tendenzen aus: Wenn es zu Beginn heißt, dass König Artus nâch rîcher gewonheit zu einem Fest lädt, das in dieser Pracht weder vor- noch nachher stattgefunden habe (V. 31–37), dann dient dieses Fest in erster Linie der sichtbaren Manifestation von Artus’ Herrschaft und Macht und festigt damit die monarchische Ordnung. Im Kontrast hierzu steht das Verhalten, das Artus und Ginover gegenüber ihren Gästen an den Tag legen: Artûs und diu künegin, ir ietwederz under in sich ûf ir aller willen vleiz. (V. 59–61)
Indem das Königspaar eine Geste der Dienstfertigkeit gegenüber seinen Gästen ausführt, markiert es das höfische Fest als einen Sonderraum, in dem gültige soziale Rangrelationen temporär ausgesetzt oder sogar verkehrt sein können. In diesem Sinne exemplifiziert das Fest eine Vari-
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Pfingstfestszene in Hartmanns »Iwein«. In: Dorothee Lindemann u. a. (Hrsg.): bickelwort und wildiu mære. FS für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Göppingen 1995 (= GAG, 618), S. 95–108. Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 89. Im Zentrum von Wenzels Analyse steht das Streitgespräch zwischen Keie, Ginover und Kalogrenant. Wenzel charakterisiert Keie als »Institut der höfischen Ordnung und ihrer Kommunikationsregeln«, dessen primäre Funktion es sei, die »höfischen Verhaltensformen« zu diskursivieren, vgl. dies., Keie und Kalogrenant, S. 104 und 100. Erst über die Verbalisierung dieser Kommunikationsregeln im (durch die Präsenz der Königin) öffentlich gewordenen Raum könne Kalogrenant den Auftrag zum Vortrag seiner Geschichte erhalten (ebd., S. 105–109).
34 ante von entstratifizierter Geselligkeit.25 Die hier am Beispiel des arthurischen Pfingstfestes thematisierte Paradoxie ist in der historischen Festforschung vielfach beobachtet worden. Sie kann als grundlegendes Merkmal höfischer Feste gelten.26 Die umfassende Perspektive des Erzählers auf die Interaktionen beim Pfingstfest verengt sich nun zunächst auf einzelne Figuren, die sich dem festlichen Gemeinschaftshandeln kurzfristig entziehen: Während sich Gawein mit Waffen beschäftigt (V. 73), kontrastiert Keies Verhalten mit dieser ritterlichen Tätigkeit: Er legt sich mitten zwischen den anderen schlafen (V. 74–76).27 Die Fokussierung von Gawein und Keie ist eine Ergänzung Hartmanns, die wichtige Konsequenzen für die im Folgenden dargestellte Bildung der ›geselligen‹ Runde hat. Die Perspektive geht dann über auf Artus und Ginover, die sich – »mê durch geselleschaft […] dan durch deheine trâkheit« (V. 83f.) – ebenfalls zum Schlafen in ihre Kemenate zurückziehen (V. 77–85). Von hier schweift sie wieder nach draußen in die Halle, wo sich sechs Ritter »bî der want« zusammengefunden haben: Do gesâzen ritter viere, Dodines und Gawein, ˆ Segremors und Iwein, (ouch was gelegen dâ bî der zuhtlôse Keii) ûzerhalp bî der want: daz sehste was Kalogrenant. (V. 86–92)
Mit dieser Aufzählung wird im Kontrast zur Festszenerie eine zweite Konzeption von Geselligkeit vorgeführt. Ihre dominanten Merkmale 25
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Vgl. Haupt, Das Fest, S. 175–178, hier S. 175: »Zwangloses Nebeneinanderist – generell gesehen – sicherlich ein Grundzug dieses Festes, denn jedwede strenge Hierarchie erscheint hier suspendiert.«; sowie Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 89–92. Wenzels These, dass die Festdarstellung im Iwein »eine Form der Herrschaftsrepräsentation« anbiete, »die den gesamten Hof umfaßt und auf die Vorführung der ihr inhärenten Hierarchien verzichtet zugunsten einer umfassenden Darbietung idealer höfischerHandlungs-und Verhaltensformen«(ebd., S. 92 Anm. 6), ist angesichts der Konflikte, die – wie zu zeigen sein wird – durch die dezidierte Präsenz hierarchischer Strukturen aufbrechen, allerdings zu modifizieren. Zur Funktion des höfischen Festes, Hierarchien zum einen zu suspendieren, zum anderen gerade auf Repräsentation von Herrschaft (und damit notwendig auf die Ausstellung von Hierarchie) zu zielen, vgl. Werner Paravicini: Die ritterlichhöfische Kultur des Mittelalters. München 1994 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 32), S. 69f.; Althoff, Fest und Bündnis, S. 29–38; Elsbet Orth: Formen und Funktionen der höfischen Rittererhebung. In: Josef Fleckenstein (Hrsg.): Curialitas. Studien zu Grundfragender höfisch-ritterlichenKultur. Göttingen 1990 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 100), S. 128–168; wenig instruktiv für diesen Zusammenhang ist der entsprechende Abschnitt (»Fest und Herrschaft«) bei Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. München 11 2005 (= dtv, 30170), hier Bd. 1, S. 282–286. Dazu ausführlich Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 92–94.
35 sind Homosozialität und Gleichrangigkeit; beide Merkmale sind in der auf alle gleichermaßen zutreffenden Statusbezeichnung ritter kombiniert. Die Tatsache, dass sich alle sechs am gleichen Ort – dem Fest am Artushof – befinden, lässt sie näherhin zu Artusrittern werden und schafft damit ein weiteres, auf alle zutreffendes Verbindungsmerkmal.28 Im Kontext der Szene lässt die Identität von Geschlecht (Merkmal: männlich) und Status (Merkmal: ritter) die sechs Figuren zu einander sozial ebenbürtigen gesellen werden, für deren Formation als gesellige Gruppe es – anders als im Kontext des höfischen Fests – keinen spezifischen entstratifizierenden Kontrakt braucht. In diesem Sinne lässt sich der in der Situation vorgeführte Typus als ›natürliche‹ Geselligkeit definieren.29 Der für Geselligkeit als Interaktionsform konstitutive Prozess der Gruppenbildung ist allerdings noch unabgeschlossen: Zwar trägt die Formierung der sechs Ritter insofern bereits exkludierende Züge, als sie das gemeinsame Sitzen bî der want aus dem Kontext des Festes herauslöst und separiert,30 der nach innen gerichtete, inkludierende Formationsprozess der Gruppe ist hingegen noch unvollständig. Tatsächlich formiert ist zunächst nur eine Kerngruppe: Dodines, Gawein, Segremors und Iwein werden als Vierereinheit angesprochen, nur diese vier sitzen tatsächlich gemeinsam an einem Ort. Die Aufzählung der vier Namen in dem durch Reim gebundenen Verspaar (V. 87f.) macht die feste Struktur dieser Gruppe nicht nur im Text sicht-, sondern auch hörbar. Dagegen wird Keie vor allem deshalb zu den anderen dazugezählt,31 weil er sich in der Nähe befindet (dâ bî ), sein Liegen macht wiederum sichtbar, dass er nicht in die Gruppe der ersten vier sitzenden Ritter integriert ist.32 Damit ergibt 28
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Das gemeinsame Merkmal ›Artusritter‹konstituiert vorrangig soziale Beziehungen zwischenden Rittern. Diese werden im Weiterendurch bestehendeverwandtschaftliche Bindungen (Iwein-Kalogrenant) intensiviert, die bei dieser ersten Nennung noch nicht in den Blick kommen. Damit ist lediglich ausgesagt, dass sich gesellecheit im vorliegenden Fall einstellen kann, ohne dass es hierfür eine expliziteVerabredungbräuchte,denn eine ihrer Voraussetzungen (i. e. soziale Gleichrangigkeit) ist bereits erfüllt und muss daher nicht künstlich hergestellt werden. Zwar ist auch der soziale Status des Ritters Produkt einer kulturellen Setzung, aber diese liegt der gegebenen Situation voraus und ist damit für die Betrachtung der vorliegenden geselligen Situation nicht relevant. Im Unterschied zu Wenzel, Keie und Kalogrenant, halte ich es für notwendig, die ›natürliche‹ Geselligkeit der Ritterrunde von der kontextuellen, gesetzten Geselligkeit des Festes zu unterscheiden. Der spätere Auftritt Ginovers wird zeigen, dass die Regeln des Festes auf die Gruppe der sechs gesellen nicht zutreffen. Dass er tatsächlich in die Gruppe der Sechs gerechnet wird, ergibt sich aus der Aufzählung von Kalogrenant als sechstem Ritter, auch wenn Keie selbst nicht explizit als ›Fünfter‹ bezeichnet wird, was einmal mehr seine Sonderstellung in der Gruppe der ritterlichen gesellen markiert. Auch Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 95, beobachtet, dass die Separierung der vier Ritter von Keie »räumlich vertikal und horizontal codiert« ist, wertet diesen Befund jedoch nicht als Indiz für die unabgeschlossene Inklusion der Gruppe.
36 sich eine markante Differenz zum Yvain Chrétiens, der die sechs Ritter in fortlaufender Aufzählung und ohne Nummerierung nennt. Keu erscheint bereits an dritter Position und ohne eine räumliche Sonderstellung einzunehmen.33 Ob der bei Hartmann zuletzt genannte Kalogrenant bei den vier erstgenannten Rittern sitzt oder ob auch er – wie Keie – an anderer Stelle sitzt oder liegt, bleibt offen. Die wie ein Nachtrag erscheinende Nennung von Kalogrenant als sechstem Ritter der Runde verstärkt jedenfalls den Eindruck einer (noch gegebenen) Fragmentierung der Gruppe in vier und je einen weiteren gesellen, wobei im Vergleich mit Chrétien insbesondere Keie eine Sonderstellung zukommt. Erst Kalogrenants Position als Erzähler seines mære schließt die Gruppenbildung ab, indem sie die übrigen fünf gleichermaßen zu Zuhörern macht (dazu ausführlicher Kap. 3.2). Die Phase ›natürlicher‹ Geselligkeit wird durch das Erscheinen von Ginover beendet, die sich, nachdem sie aufgewacht ist und Kalogrenant im Saal hat sprechen hören, der Gruppe leise nähert: sî lie ligen den künec ir man unde stal sich von im dan, und sleich zuo in sô lîse dar daz es ir deheiner wart gewar, unz si in kam vil nâhen bî und viel enmitten under sî. (V. 99–104)
Mit Ginover erscheint in der Gruppe der sechs Ritter nicht nur eine Frau, sondern die »künegin« (V. 97), also eine Person, die sich von der homosozial formierten Runde sowohl qua Geschlecht als auch qua Status unterscheidet. Hier ist es die Statusdifferenz, die dazu führt, dass das fragile Gefüge der ritterlichen gesellen zerbricht. Der Auftritt der Königin überlagert die horizontale Ordnung ›natürlicher‹ Geselligkeit durch die vertikale Sozialordnung des Hofes, die verlangt, dass die Königin in angemessener, ehrenvoller Weise von ihren Rittern begrüßt wird. Das unerwartete und unvermittelte Erscheinen Ginovers – die es mit ihrer behutsamen Annäherung an die Ritter (sî sleich so lîse dar) und dem Versuch einer spontanen Integration in die Runde (si viel enmitten under sî )34 mög33
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Yvain, V. 53–60: »A l’uis de la chanbre defors / Fu Dodiniaus et Sagremors / Et Kes et mes sire Gauvains, / Et si i fu mes sire Yvains, / Et avuec aus Calogrenanz, / Uns chevaliers mout avenanz, / Qui lor ot comancié un conte, / Non de s’enor, mes de sa honte.« (»Draußen vor der Tür des Gemachs saßen Dodinel und Sagremors und Keu und Herr Gauvain, und auch Herr Yvain war da, und bei ihnen Calogrenant, ein sehr ansehnlicher Ritter, der ihnen eine Geschichte zu erzählen begonnen hatte, nicht von seiner Ehre, sondern von seiner Schande.« [ebd., S. 19]). Dieses Bemühen wird in der Formulierung Chrétiens noch deutlicher: »Et la re¨ıne […] vint sor aus si a anblee, / Qu’ainz que nus la po¨ıst veoir, / Se fu leissiee antre aus cheoir« (Yvain, V. 62–66) (»[sie] ist so heimlich über sie gekommen, daß sie sich, noch ehe einer sie sehen konnte, plötzlich zwischen sie gleiten ließ.« [ebd., S. 19]). Der unvermittelt schnellen körperlichen Integration der Königin in die Runde der
37 licherweise gerade darauf anlegt, die ihrer Person inkorporierte vertikale Dimension so weit wie möglich zu suspendieren – verhindert allerdings, dass die Ritter sie rechtzeitig bemerken und als Kollektiv in angemessener Weise reagieren. Lediglich Kalogrenant bemerkt ihr Kommen und erweist ihr daher als einziger die Reverenz: niuwan eine Kâlogrenant, der spranc engegen ir ûf zehant, er neic ir unde enpfienc sî. (V. 105–107)
Kalogrenants Reaktion auf Ginovers Auftritt hat zwei Dimensionen: Zum einen differenziert ihn sein Verhalten von den übrigen gesellen: Er agiert, während alle anderen passiv bleiben. Die Körperlichkeit seines Verhaltens erzeugt dabei zum zweiten eine Dynamik, die als vertikale Bewegung des Aufspringens nicht nur die Zerstörung der horizontalen Ordnung sichtbar werden lässt, sondern – im gegenläufig vertikalen Verneigen – zudem der hierarchischen Sozialordnung des Hofes Präsenz und Geltung verschafft. Innerhalb ein und derselben räumlich und zeitlich definierten Situation sind somit zwei Ordnungen simultan präsent, die weder miteinander noch mit der für den Kontext der Szene definierten Ordnung des Festes kompatibel sind. Nähme man mit Wenzel an, dass in der Situation grundsätzlich der entstratifizierende Kontrakt des Festes gälte, wäre die Kollision der Ordnungen nicht zu erklären, denn Ginover dürfte dann nicht als Königin wahrgenommen werden, was jedoch der Fall ist.35 Das Fest bildet hier somit zwar den Kontext, in dessen Rahmen sich die Szene abspielt, seine spezifischen Spielregeln (nämlich positive temporäre Gleichrangigkeit) sind aber durch den Ausdifferenzierungsprozess der Gruppenbildung offensichtlich außer Kraft gesetzt. Die soziale Gleichrangigkeit der Ritter wiederum ist die Folie dafür, dass die Statusdifferenzen zur Königin wahrnehmbar werden können.36 Erst retrospektiv wird deutlich, dass das körperliche Agieren Kalogrenants nicht nur im Aufspringen (zur Öffnung der bestehenden Gruppe) und Verneigen (zur Herstellung der sozialen Relation zu Ginover) besteht, sondern darüber hinaus einschließt, dass er sich gemeinsam mit der
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sitzenden Ritter steht allerdings das ehrerweisende Aufspringen Calogrenants prinzipiell logisch entgegen, weshalb seine Schnelligkeit besonders betont wird (Yvain, V. 67f.). Da Hartmann die Reverenzerweisung ausweitet – Kalogrenant springt nicht nur auf, sondern verbeugt sich und begrüßt Ginover – lässt er Ginover lediglich zwischen die Ritter treten. Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 91f. Wenzel versucht diese Aporie zu lösen, indem sie den Einbruch der vertikalen in die horizontale Ordnung als Verweis auf die paradoxe Dimension des Festes wertet (ebd., S. 95). Vgl. ebd., S. 95.
38 Königin wieder zu den anderen setzt und sie auf diese Weise der Gruppe als gleichrangiges Mitglied gleichsam körperlich integriert.37 Der sich anschließende Konflikt mit Keie bearbeitet nun jenes aus Kalogrenants Handeln resultierende Problem der Unvereinbarkeit sozialen Abstands (und den daraus erwachsenden Verhaltensverpflichtungen) und der im Beisammensein der Ritter gegebenen sozialen Nähe, die einerseits bedingt, andererseits aber nicht zulässt, dass sich der Einzelne gegen die Anderen profiliert.38 Keie, der als Gegenpart zu Gawein eingeführt ist und von dem man bereits weiß, dass er um eines Schläfchens willen den Ehrencodex des Festes zu ignorieren bereit ist (»ze gemache ân êre stuont sîn sin«, V. 76), ergreift an dieser Stelle das Wort und offenbart damit »sîn alte gewonheit« (V. 109). Die Formulierung lässt darauf schließen, dass der Erzähler bei einem deutschsprachigen Publikum bereits mit Vorwissen zu dieser Figur rechnet.39 Da es aber offenbar noch zu riskant ist, ausschließlich auf die Aktualisierung punktueller intertextueller Referenzen zu setzen, versieht der Erzähler seine in die Geschichte der Figur verweisende Bemerkung mit einem zusätzlichen Kommentar:
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Da im Anschluss an Kalogrenants Reverenzerweisung die verbale Auseinandersetzung mit Keie beginnt, erfährt man erst an späterer Stelle, dass dieser Akt den (körperlichen) Integrationsprozess Ginovers abgeschlossen haben muss, wenn es von Artus heißt: »er gienc hin ûz zuo in zehant, / dâ er sî sament sitzen vant« (V. 883f.). Haferland,Höfische Interaktion,S. 32, versucht,die soziale Sprengkraftdes Agons, die darin besteht, dass jeweils alle Personen eines Kollektivs versuchen, gegeneinander êre zu akkumulieren, dadurch einzudämmen, dass er spielerisch inszenierten Agon – wie Wettkampf oder Turnier – als »kooperative Praxis« bestimmt: »Ehre hat keine Nullsummeneigenschaften mehr, sie wird nicht mehr akkumuliert, sondern auf alle Teilnehmer am Agon als Teilnehmer einer kooperativenPraxis zurückgeworfen.« Wenzel, Situationen höfischer Kommunikation, betont zum einen die Zielsetzung des Agon, über »Interaktionen der Über- und Unterordnung« hierarchische Relationen herzustellen (S. 45), verweist aber zum anderen auf die der simultanen Forderung von Egalität und Auszeichnung inhärente Aporie (S. 56f.). Das ist aus der Perspektive des Hartmannschen Iwein vor allem der Erec, in dem Keie im Zuge der erzwungenen Einkehr am Artushof ausführlich als ambivalenter Charakter und arglistiger, boshafter Redner eingeführt wird, vgl. Erec von Hartmann von Aue. Hrsg. von Albert Leitzmann,fortgeführtvon Ludwig Wolff. 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (= ATB, 39), V. 4633–4664. Programmatisch die Aussagen: »sîn herze was gevieret« (V. 4636), sowie: »von sînem valsche er was genant / Keiîn der quâtspreche« (V. 4663f.). Für zusätzliches Wissen zu der Figur wären Eilharts Tristrant und der Lanzelet heranzuziehen. Da für ein deutschsprachiges Publikum im Gegensatz zum französischen die Verankerung der matière de Bretagne im kulturellenGedächtnis fehlt, kann literarisches Wissen zum Personal des Artusromans im deutschen Sprach- und Kulturraum zur Zeit der Entstehung des Iwein kaum anders als intertextuell erworben sein, vgl. hierzu Andreas Daiber: Bekannte Helden in neuen Gewändern? Intertextuelles Erzählen im ›Biterolf und Dietleib‹ sowie am Beispiel Keies und Gaweins im ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹ und der ›Crone‹. Franfurt a. M. 1999 (= Mikrokosmos, 53), S. 115–119.
39 im was des mannes êre leit, und beruoft in drumbe sêre und sprach im an sîn êre. (V. 110–112)
Keie ist damit als Figur eingeführt, die ein empfindliches Sensorium für Veränderungen zeigt, die die êre eines der gesellen, hier die Kalogrenants, betreffen. Die êre, die er an Kalogrenant wahrnimmt, bezieht sich bereits auf das Ergebnis der Interaktion mit Ginover. Sie erwächst Kalogrenant reziprok aus seinem eigenen ehrerweisenden Handeln: Indem er der Königin sichtbar Ehre erweist, fällt ihm im Gegenzug die Ehre zu, sich angemessen verhalten zu haben. Durch diesen Ehrgewinn wird Kalogrenant wahrnehmbar aus der Runde der gesellen herausgehoben. Er löst auf Keies Seite ganz im Sinne des von René Girard beschriebenen mimetischen Begehrens Neid aus:40 im was des mannes êre leit. Dieser Neid ist aber keine persönliche Angelegenheit, Keie macht lediglich stellvertretend für die anderen öffentlich, was für alle gesellen gilt: Dadurch, dass Kalogrenant als Einzelner êre gewinnt, bringt er das soziale Gleichgewicht der geselligen Runde aus dem Lot und zerstört damit die gegebene paritätische Ordnung. Der zwischen Keie und Kalogrenant aufbrechende verbale Konflikt ist damit nur zu einem Teil auf die Figurenzeichnung des Keie anzurechnen, wie sie im Erec angelegt ist: Dessen alter gewonheit ist lediglich zuzuschreiben, dass er die beobachtete Verschiebung im sozialen Gefüge dezidiert anspricht und Kalogrenant dafür in unangemessen polemischer Weise verantwortlich macht. Keie ist somit sensibler, wenn auch nicht dem höfischen Comment entsprechender Indikator eines Problems, aber er ist nicht das Problem selbst. Dass es ihm weniger um persönliche Missgunst41 als vielmehr um die aus dem Gleichgewicht geratene soziale Balance der gesellen geht, macht er im Weiteren – im Unterschied zu Chrétiens Keu – mehrfach deutlich: So lässt die – im Yvain nicht vorhandene – Formulierung »dez lâzen wir iuch den strît / vor allen iuwern gesellen« (V. 118f.), mit der er Kalogrenant – polemisch und damit uneigentlich – die Berechtigung und den Rang zuerkennt, sich für hövescher und êrbærer als alle anderen zu halten, im Umkehrschluss auf das Modell schließen, das Keie als Norm ansetzt:42 Es ist das Modell der 40
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Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Düsseldorf 2006, S. 211–247, bes. S. 214–219. So auch Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 97. Die Formulierung vor iuwern gesellen, in die sich Keie bewusst nicht mit einbezieht und die ihm insofern ermöglicht, für den Moment die Position eines außenstehenden, analytischen Beobachters einzunehmen, markiert einen wesentlichen Unterschied zu Chrétiens Keu, der Calogrenant gegen ein kollektives nos stellt, in das er einbezogen ist: »Et certes mout m’est bel, que vos / Estes li plus cortois de nos« (Yvain, V. 73f.) (»[…] und es ist mir gewißlich sehr lieb, daß Ihr der höfischste von uns allen seid.« [ebd., S. 19]); sowie: »[…] Que vos aiiez plus que nos tuit / De corteisie et de proesce.« (V. 78f.) (»[…] daß Ihr mehr höfische Sitte und Tugend habt
40 Artusgesellschaft als eines Kollektivs von sozial gleichgestellten und einander in Bezug auf die höfischen Werte êre und prîs äquivalenten Rittern. Dass es ihm auf diese sichtbare Äquivalenz der gesellen ankommt, formuliert er programmatisch in der nachträglichen Forderung gegenüber Kalogrenant: sît unser deheiner sîne sach, od swie wir des vergâzen, daz wir stille sâzen, dô möht ouch ir gesezzen sîn. (V. 132–135)43
Keie indiziert also das Faktum, dass ein Einzelner aus der modellhaften Parität nach oben hin ausbricht, und zwar unabhängig davon, ob die ehrakkumulierende Tat des Einzelnen pragmatisch berechtigt ist. Dabei geht es ihm nicht nur um den distanzschaffenden Zugewinn an Ehre auf der Seite Kalogrenants: In diesem spezifischen Fall korrespondiert dem angemessenen Handeln des Einzelnen zugleich Ehrverlust auf Seiten der Übrigen, wodurch sich der Abstand zwischen dem Einzelnen und dem gesellen-Kollektiv noch verbreitert. Gegen eine solche Deutung versucht Keie sich und die anderen vier Ritter zu verwahren, wenn er betont: unser deheiner was so lâz, heter die künegîn gesehen, im wær diu selbe zuht geschehen diu dâ iu einem geschach. (V. 128–131)
Die Indikation akkumulierter Ehre als problematisches Faktum erscheint für das System des Artushofes, der seine Ritter mit dem Ziel der Selbsterhöhung grundsätzlich auf die Vermehrung von êre verpflichtet, zunächst paradox. Erklärlich wird sie, wenn man den Ort der Indikation hinzunimmt: Der Ehrgewinn des einzelnen ist nur dann problematisch, wenn er sich am Artushof selbst abspielt. Für den Hof unproblematisch und im Gegenteil sogar gefordert ist er dagegen, wenn der Ritter ihn außerhalb des Hofes gewinnt, denn hier dient er ja dazu, die Ehre des Kollektivs zu mehren. Die hieraus abzuleitende narrative Regel lautet also, dass der Artusritter Ehre nicht in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit und zu Lasten anderer Artusritter, also auch nicht am Artushof selbst erwerben darf, sondern hierfür den Hof verlassen und die Konfrontation mit Rittern suchen muss, die nicht zum Personal des Artushofs gehören dürfen. Dieses Personal wiederum ist notwendigerweise außerhalb des Artushofs zu finden.44
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als wir alle.« [ebd., S. 19]). Die Vorwürfe Keus im Yvain sind also persönlicher formuliert und lassen den Aspekt des Neides stärker in den Vordergrund treten. Vers 135 hat keine Entsprechung im Yvain. Der paradigmatische Fall, an dem sich die Gültigkeit dieser Regel erweist, ist für den Iwein der Gerichtskampf zwischen Gawein und Iwein, in dem zum einen die
41 Am Beispiel von Chrétiens Erec et Enide hat Walter Haug, ausgehend von der These, dass »der arthurische Roman Chrétiens de Troyes […] nichts anderes [sei] als eine narrativ umgesetzte und ausgefaltete Diskussion der Idee des höfischen Festes«, das Prinzip beschrieben, nach dem die Handlung in Gang gesetzt wird: »das, was die arthurische Welt aus dem Gleichgewicht bringt, muß aufgesucht und den Gesetzen der antihöfischen Sphäre gemäß bewältigt werden«.45 Hieraus leitet er eine für den Artusroman konstitutive Doppelpoligkeit ab, die der Statik des im Status der Festlichkeit stabilisierten Hofes die Dynamik des Aventiurewegs entgegensetzt.46 Haugs Gedankenfigur lässt sich durch die Annahme verdichten, dass das, was den Hof aus der ›höfischen Balance‹ bringt, ihm selbst bereits immanent ist. Indem Äquivalenzgebot (Alle Artusritter sind gleich.) und Auszeichnungsgebot (Jeder Artusritter ist verpflichtet, êre zu akkumulieren.) simultan gültig sind, aber nicht simultan praktiziert werden können, erzeugen sie eine Aporie, der nur mit dem Auszug einzelner Ritter vom Hof begegnet werden kann. Das lässt sich nicht nur für den Iwein, sondern auch für Chrétiens Erec et Enide zeigen. Auch hier ist der Widerspruch von Äquivalenz- und Auszeichnungsgebot programmatisch an den Anfang gestellt: Artus’ Plan, den Jäger des weißen Hirschs die schönste Dame am Hof küssen zu lassen, trägt ihm die Kritik Gauvains ein, er schüre damit unnötige Konkurrenz zwischen den anwesenden Rittern.47 Artus beharrt jedoch als König auf dieser costume und schafft so ein internes Dilemma, dessen Lösung nur dadurch erreicht werden kann, dass die Wahl der Schönsten letztlich auf eine Dame fällt, die dem Hof (durch Erec) neu zugeführt wird und somit in keiner unmittelbaren Konkurrenz zu den Damen der Artusritter steht.48 Die Aventiurefahrt Erecs ist damit nicht nur Reaktion auf eine Provokation von außen (hier die Minderung seiner ritterlichen êre durch den Geißelschlag des Zwergs), sondern lässt sich vielmehr als Antwort auf das Dilemma der simultanen Gültigkeit widersprüchlicher Regeln verstehen, das sich nur durch eine konsequente Trennung der Handlungsräume auf-
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Äquivalenz der beiden Ritter, zum anderen die Unmöglichkeit von sowohl Sieg als auch Niederlage thematisiert wird (vgl. Iwein, V. 6895–7726). Haug, Idealität des arthurischen Festes, S. 313. Ebd., S. 313f. Chrétien de Troyes: Erec und Enide. Übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten. München 1979 (= Klassische Texte des romanischenMittelalters in zweisprachigen Ausgaben, 17), V. 53–58. So auch Erich Köhler: Die Rolle des ›Rechtsbrauchs‹ (costume) in den Romanen des Chrétiende Troyes.In: E. K.: Trobadorlyrikund höfischerRoman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters. Berlin 1962 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, 15), S. 205–212, hier S. 206f.
42 lösen lässt.49 In dieser Perspektive kann der Hof zum Ort der Äquivalenz werden, der sich durch stabile soziale Balance auszeichnet, während die Welt außerhalb des Artushofes dagegen zum Raum dynamischer Bewegungen von Ehrgewinn und -verlust wird. Die narrative Funktion Keies im Iwein wäre es demnach, über die Einhaltung der Äquivalenzregel zu wachen, um die modellhafte Gleichrangigkeit der Artusritter am Hof nicht zu gefährden. Diese Funktion korrespondiert exakt mit Keies Amt als Truchsess, dem die Zuständigkeit für die königliche Tafel, also insbesondere für die Sitzordnung obliegt. Am historischen Hof verantwortet der Truchsess die sichtbare Exposition der Rangabstufungen am Hof. Die zunehmende Bedeutung »symbolischer Tafeldienste« im hohen Mittelalter verdeutlicht dabei die insgesamt symbolische Funktion des Amtes.50 Da an der Tafelrunde des Artushofes Rangdifferenzen nivelliert sind, kehrt sich die Aufgabe des Truchsesses entsprechend um: Er wird zum Wächter der hier gültigen Ordnung der Äquivalenz.51 Dass Hartmann diese Funktion Keies im Vergleich zu Chrétien in der zitierten Szene explizit ergänzt, lässt sich als Indiz dafür auffassen, dass er die Szene dazu nutzt, die Funktionsweisen
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Die durch die paradoxe soziale Konstruktiondes Artushofs bedingte systemimmanente Handlungsmotivation ist auch bei Haug bereits angedeutet, wird hier aber auf den Bereich der Raumgestaltung übertragen. Haug setzt sowohl die Gefährdung des Äquivalenzgebots durch die Jagd auf den weißen Hirsch als auch die Demütigung Erecs durch den Zwerg insofern als externe Provokationen an, als sie sich in der forest avantureuse (Erec et Enide, V. 65) abspielen, in der der »arthurische[ ] Hof seiner ihm eigenen Sphäre entfremdet« ist. Seiner Argumentation zufolge sind es somit »Grenzsituationen« am Rande von Hof und Fest, die den Verfall der festlichen joie de la cort bedingen, vgl. Haug, Idealität des arthurischen Festes, S. 313f. Vgl. Sebastian Kreiker:Art. Truchseß.In: LexMa 7 (1997), Sp. 1069f., hier Sp.1069. Auf die ›gesellschaftliche‹ Funktion der Keie-Figur ist verschiedentlich hingewiesen worden:Vgl. Hildegard Emmel: Formproblemedes Artusromans und der Graldichtung. Die Bedeutung des Artuskreises für das Gefüge des Romans im 12. und 13. Jahrhundert in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Bern 1951, S. 20–26, bes. S. 23f., und S. 46f.; sowie ausführlich Jürgen Haupt: Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman. Berlin 1971 (= Philologische Studien und Quellen, 57), S. 79–93, bes. S. 80f. Haupt definiert die soziale Funktion Keies dahingehend, dass er sich um »die Integration des einzelnen Ritters in die Artus-Gemeinschaft« bemühe (S. 80). Die These, dass Keie partiell Funktionen eines Sündenbocks übernehme, der Rivalität und Gewaltbereitschaft auf sich ziehe und ins Komische transformiere, vertritt Werner Röcke: Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman. In: Peter von Moos (Hrsg.): Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Köln 2001 (= Norm und Struktur, 15), S. 343–361, bes. S. 346. Nach Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 97, zielt Keies Kritik in der Eingangsszene des Iwein darauf ab, »höfische Verhaltensformen diskursiv« werden zu lassen.
43 des sozialen Systems Artushof – analog zum Beginn des Erec – in nuce vorzuführen.52 Ginover erkennt in Keies Reaktion allerdings nicht die sozialintegrative Intention, Äquivalenz und damit soziale Homogenität der Artusritter am Hof zu sichern, sondern fasst sie als Neidverhalten auf: Sî sprach: ›Keiî, daz ist dîn site, und enschadest niemen mê dâ mite danne dû dir selbem tuost, daz dû den iemer hazzen muost deme dehein êre geschiht. dû erlâst dîns nîdes niht daz gesinde noch die geste […]‹ (V. 137–143).
Nicht mit dem höfischen decorum kompatibel ist also Keies site, die von ihm diagnostizierten Rangdifferenzen verbal öffentlich werden zu lassen und sie darüber hinaus denjenigen, die sich durch Gewinn von êre ausgezeichnet haben, negativ als Makel anzulasten.53 Liest man Keies Verhalten als sozialintegratives Bemühen, dann zielt der Vorwurf darauf, genau jenes Quantum an êre zu nivellieren, das die kritisierte Figur aus der paritätischen Gruppe der Ritter zuvor herausgehoben hat.54 In den Augen des Hofes jedoch, für den der Zugewinn von êre handlungsleitende Maxime ist, macht ihn diese Eigenschaft ganz im Gegenteil nicht zum Bewahrer, sondern zum Verkehrer aller Wertrelationen. Keies Kritik nivelliert dann nicht ein unangemessenes Plus an êre, sondern invertiert die durch êre markierte Position in ihr genaues Gegenteil: »der bœste ist dir der beste / und der beste der bœste« (V. 144f.). Dass Keie vor diesem Wahrnehmungshorizont des Hofes dennoch integraler Bestandteil der Artusgesellschaft bleiben kann, erklärt sich 52
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Diese Argumentation ist nur dann plausibel, wenn man annimmt, dass auch Hartmanns Erec – wie der Erec-Roman Chrétiens – mit der Jagd auf den weißen Hirsch einsetzt. Bei Chrétien erweisen sich zunächst Gauvain mit der Bitte, ganz auf die Jagd zu verzichten (Erec et Enide, V. 41–58), später Guenievre mit der Bitte um die Suspendierung der Kür der Schönsten (ebd., V. 335–339) als Hüter des Äquivalenzgebots. Dagegen hält Volkmann die von Hartmann gegenüber Chrétien vorgenommene Erweiterung der Szene für den – allerdings nicht gelungenen – Versuch, die mit der Idealität des Artushofs nur schwer zu vereinbarende Figur Keies einem deutschen Publikum »zu erklären und näher zu bringen«, vgl. ders., Costumiers est de dire mal, S. 107f. Indem Keies Rede soziale Differenzen explizit thematisiert, konterkariert er allerdings das Wertemodell, dessen Bestand er sichern möchte. Ganz entsprechend ist auch seine Verteidigung in eigener Sache zu verstehen,wenn er Ginover vorwirft, sie habe durch ihre Kritik seiner Kritik seine êre minimiert, vgl. V. 160–182, besonders V. 167f.: »ir sprechet alze sêre / den rittern an ir êre.« Noch deutlicher formuliert Chrétiens Keu: » ›Dame! se nos ne gaeignons […] an vostre conpaignie, / Gardez que nos n’i perdons mie ! […]‹ « (Yvain, V. 92–94) (»Herrin! wenn wir schon in Eurer Gesellschaft nichts gewinnen […], so seht doch zu, daß wir nichts dadurch verlieren!« [ebd., S. 21]).
44 einerseits über das grundsätzlich stabilisierende Potential, das jeder Werte-Inversion zugrunde liegt.55 In der vorliegenden Szene wird andererseits Keies Kritik von Ginover und Kalogrenant ganz konkret diskursiv bewältigt, indem sein Verhalten als Bestandteil seiner Natur (gewonheit, V. 148, 204; herze, V. 197) ausgewiesen wird, das durch lêre (V. 202) nicht korrigierbar sei und folglich hingenommen werden müsse (V. 147–216).56 Die Integration Ginovers in die Runde der Ritter, die in sozialer Hinsicht die Voraussetzung, in kommunikativer Hinsicht der Auslöser dafür ist, dass Kalogrenant sein begonnenes mære fortsetzt,57 wird somit über zwei Phasen vermittelt. Die erste Phase umfasst das körperliche Handeln Kalogrenants und zielt auf die körperliche Integration der Königin in die Gruppe der Männer: Durch sein Aufspringen öffnet er die Gruppe der gesellen, seine Verneigung und Begrüßung stellen die soziale Relation zur Königin her und das nur retrospektiv erwähnte gemeinsame Sitzen macht Ginovers Körper dann sichtbar zu einem gleichrangigen Mitglied der auf diese Weise neu formierten geselligen Runde. Die zweite Phase flankiert die körperliche Integration der Königin über die Diskursivierung von Rangrelationen. Stellvertretend für die in der Situation praktisch zu bewältigende Kollision vertikaler und horizontaler Strukturen wird anhand von Kalogrenants êre-Gewinn und Keies êre-Verlust die – für das Modell des Artushofs insgesamt konstitutive – Spannung zwischen horizontalen und vertikalen Strukturen zur Verhandlung gebracht und damit auf die Ebene verbaler Interaktion verschoben. Der mit Ginovers Auftritt entstehenden Notwendigkeit eines positiven Geselligkeitskontrakts wird somit – auf körperlicher Ebene – einerseits entsprochen, zugleich wird andererseits die Problematik eines solchen künstlich hergestellten Modells aus dem praktischen Handeln in die Reflexion ausgelagert. Dass dieses Problem mit dem Wiedereinsetzen von Kalogrenants Erzählung lediglich stillgestellt, aber nicht abschließend gelöst ist, zeigt der Streit, der im
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Auf die systemstabilisierende Funktion von temporären Werte-Inversionen hat am Beispiel des Karneval vor allem Michail Bachtin hingewiesen, vgl. ders., Rabelais und seine Welt, S. 111–186, bes. S. 138–140. Instruktiv hierzu ist der Beitrag von Paul Geyer: Boccaccios Decameron als Schwellenwerk. Vom Karnevalesken zum Kasuistischen. In: Walter Buckl (Hrsg.): Das 14. Jahrhundert. Krisenzeit. Regensburg 1995 (= Eichstätter Kolloquium, 1), S. 179–211, hier S. 179f. und S. 196. Dass Keie als Verkehrer höfischer Werte stabilisierende Funktion für die Artusgemeinschaft besitzt, wird bei Haupt, Truchseß Keie, S. 131–136, in dieser Pointierung nicht gesehen. Hierzu ausführlich Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 98–105. Zu Kalogrenants Weigerung, seine Geschichte weiterzuerzählen, und der hieraus resultierenden Notwendigkeit eines expliziten Befehls der Königin vgl. Kap. 3.2.
45 Anschluss zwischen Iwein und Keie entbrennt: In ihm wiederholen sich exakt die Strukturen des ersten Streits.58 In sozialer Hinsicht führt die Integration Ginovers zu folgenden Ergebnissen: 1) Die homosoziale Geselligkeit der Ritter wird mit dem Auftreten Ginovers zu heterosozialer Geselligkeit; 2) die Konzeption ›natürlicher‹ Geselligkeit der ritter, in der auf Grund der gegebenen sozialen Parität der Figuren ein entstratifzierender Kontrakt verzichtbar ist, wird abgelöst durch eine Konzeption ›positiver‹ Geselligkeit, in der Gleichrangigkeit durch einen Geselligkeitskontrakt zwischen der Königin und ihren Rittern allererst hergestellt werden muss. Die künstliche horizontale Struktur dieses Kontrakts, die vor allem an den Körpern der Beteiligten (Sitzen im Kreis) sichtbar wird, vermag die vertikalen Sozialstrukturen der höfischen Hierarchie allerdings nicht vollständig zu überlagern. Darauf verweist neben der diskursiven Präsenz der Frage von Äquivalenz, Auf- und Abwertung auch die konstant bleibende Bezeichnung Ginovers als künegin durch den Erzähler59 und ihre Anrede als vrouwe durch die Ritter.60 Eine vierte Phase geselliger Interaktion setzt mit dem Auftreten Artus’ ein. Kalogrenant hat seine Geschichte beendet, Iwein bietet als sein neve an, den diesem widerfahrenen Ehrverlust auszugleichen, was wiederum Keie erneut zu polemischer Intervention herausfordert. Artus ist mittlerweile aufgewacht und tritt aus seiner Kemenate zu der Gruppe im Saal: er gienc hin ûz zuo in zehant, dâ er sî sament sitzen vant. sî sprungen ûf: […] (V. 883–885).
Die gesellige, horizontale Struktur der Gruppe ist unmittelbar evident: Sie erschließt sich für Artus visuell über die Tatsache, dass Ginover mit den sechs Rittern gemeinsam (sament ) am Boden sitzt. Aus der Perspektive der Gruppe entfaltet Artus’ unverhofftes Auftreten – wie schon zuvor das Ginovers – soziale Sprengkraft: Wiederum überlagert, indem der König erscheint, die hierarchische Sozialordnung des Hofes die paritätische Sozialordnung der geselligen Runde und setzt diese außer Kraft. Wiederum führt das Aufspringen der Ritter diese Überlagerung der sozialen Ordnungen an den Körpern der Beteiligten vor. Im Unterschied zum Ginover-Auftritt reagieren diesmal jedoch alle Ritter. Damit zerstören sie zwar einerseits die gesellige Formation, präsentieren sich in der gemein58
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Wieder ist es die – hier lediglich im Planungszustand befindliche – Profilierungstat des Einzelnen, nämlich Iweins, die Keies Äquivalenz-Sensorium alarmiert (V. 805– 878). Vgl. V. 97, 129, 136, 230 sowie V. 837, 890. Vgl. V. 160, 177, 220, 226 sowie V. 856.
46 sam ausgeführten Ehrbezeugung gegenüber Artus aber zugleich in der zuvor von Keie geforderten Weise als gesellen (V. 119) und entsprechen damit dem Äquivalenzgebot, das als Norm des Artushofs gelten kann. Auf Artus’ Seite ruft die sichtbare Ausstellung sozialen Abstandes durch seine Ritter jedoch explizites Missfallen, sogar Zorn hervor: […] daz was im leit und zurnde durch gesellekheit: wander was in weizgot verre baz geselle dan herre. er saz zuo in dâ nider. (V. 885–889)
Für Artus besitzt die von ihm selbst verkörperte stratifikatorische Sozialordnung des Hofes in dieser Situation ganz offensichtlich keine Geltung: Er bewegt sich zum einen im kontextuellen Raum des höfischen Festes, dessen Regeln die temporäre Suspendierung von Hierarchien vorsehen.61 Zum anderen bewegt er sich im Raum der durch ihn definierten Ordnung exzellenter Äquivalenz, in der er selbst – als verbindlicher Maßstab – die Position des primus inter pares unter den an seinem Hof versammelten Besten der Besten einnimmt.62 Im Bild der Tafelrunde, die auf die Ausstellung von sichtbaren Hierarchien programmatisch verzichtet, ist diese Konzeption präzise visualisiert.63 Die gesellige Runde, die sich am Rande des Hoffestes exklusiv formiert hat, erscheint Artus offensichtlich als 61 62
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Paradoxerweise zielt es zugleich auf die Repräsentation von Herrschaft. Welche sozialhistorischen und politischen Kontexte die Genese dieses ungewöhnlichen literarischen Modells ermöglicht haben könnten, hat die ältere Forschung intensiv beschäftigt. Erich Köhler hat die Konzeption des Artushofs im altfranzösischen höfischen Roman mit spezifischen Interessen der nordfranzösischen Feudalaristokratie korreliert, die ihrerseits darauf zielten, ein starkes Vasallentum zu behaupten und die Funktion des Königs auf eine traditionelle, und damit eingeschränkte Rechtsausübung zu begrenzen, vgl. ders., Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung. 3., unveränd. Aufl. Tübingen 2002, S. 5–36, hier bes. S. 21f.; ders.: Literatursoziologische Perspektiven. In: E. K.: Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Henning Krauss. Heidelberg 1982 (= Studia Romanica, 46), S. 112–134; ders., Die Rolle des ›Rechtsbrauchs‹, S. 205–212; kritisch zu Köhler u. a. Ursula Peters: Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung. Göppingen 1971 (= GAG, 46), S. 35–39. Den Versuch Gert Kaisers, das Modell des Artushofs im deutschenArtusroman als Identifikationsangebot für die (unfreie) Ministerialität und den niederen Adel plausibel zu machen (vgl. ders.: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung. Aspekte einer sozialgeschichtlichen Interpretation von Hartmanns Artusepen. 2., neubearb. Aufl. Wiesbaden 1978 [= Schwerpunkte Germanistik]), hat Hubertus Fischer einer kritischen Revision unterzogen, vgl. ders.: Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns »Iwein«. Vorarbeiten zu einer historischenPoetik des höfischen Epos. München 1983 (= Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 3), S. 185–194. So auch Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer, S. 187–189. Zur Konzeption des Motivs der Tafelrunde und seiner literarhistorischen Genese siehe Köhler, Ideal und Wirklichkeit, S. 18–22; sowie Konstantin Pratelidis: Tafelrunde und Gral. Die Artuswelt
47 Realisierung dieser Konzeption. Die Reverenz der Ritter erweist jedoch nicht nur die paritätische Ordnung des Festes, sondern auch die Konzeption der arthurischen Äquivalenzordnung als instabil. Artus übersieht, dass deren horizontale Struktur nur von ihm wahrgenommen und praktiziert werden kann, denn für alle Höflinge wird er nie nur geselle, sondern immer zunächst herre sein, auch wenn seine eigene Definition der egalitären Konzeption den Vorrang gegenüber der stratifizierenden einräumt: wander was in weizgot verre / baz geselle dan herre (V. 887f.).64 Die Kollision seines Wahrnehmungsmusters mit dem der Ritter erzeugt Artus’ heftige Reaktion. Sein Zorn (V. 886) bezieht sich darauf, dass die Gleichrangigkeit, die er in modellhafter Weise für sich und seine Ritter reklamiert, im Akt der Reverenz (gegenüber dem realen König) unterminiert ist.65 Gleichrangigkeit ist eben nicht von vornherein gegeben, sondern muss in der geselligen ebenso wie in der arthurischen Ordnung allererst hergestellt werden: Dazu gehört die Bewusstmachung der gegebenen Differenzen (sî sprungen ûf ) und die dann folgende symbolische Nivellierung sozialer Differenz durch die – analog zur Tafelrunde – sichtbare horizontale Anordnung der Körper: er saz zuo in dâ nider (V. 889). Die Eingangsszene des Iwein führt demnach ganz unterschiedliche, miteinander konkurrierende und interferierende Sozialordnungen vor, und zwar je nach dem, welche Perspektive der Text einnimmt und welche Figuren er fokussiert: 1) Aus der Erzählerperspektive wird zunächst der allgemeine Handlungsraum der Szene skizziert: das höfische Fest am Artushof, in dem die temporäre Suspendierung sozialer Hierarchien an den invertierten Rollen von Artus und Ginover ablesbar wird, die sich als Gastgeber den Wünschen ihrer Gäste unterwerfen. 2) Der Erzählerfokus verengt sich dann auf die unterhalb dieser Ebene des Festes angesiedelte Geselligkeit der exklusiv formierten Runde, die in der Nahsicht zwei Konzeptionen von Geselligkeit kontrastiert: Auf der Ebene der sechs gesellen wird ›natürliche‹ Geselligkeit vorgeführt, die soziale Gleichrangigkeit, insofern sie bereits gegeben ist, nicht erst herstel-
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und ihr Verhältnis zur Gralswelt im Parzival Wolframs von Eschenbach. Würzburg 1994 (= Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie, 12), S. 105–120. Auch Artus suspendiertalso die stratifizierende Konzeption herre – riter nicht vollständig, sondern ordnet sie der Konzeption des gesellen-tums lediglich unter. Cramers Übersetzung von V. 886 (und zurnde durch gesellekheit ) ignoriert, dass der Satz elliptisch konstruiert ist, und kommt so zu einem paradoxen Ergebnis: »Er zürnte aus Freundschaft« (Hartmann von Aue, Iwein, S. 18). Das ist seinerseits erläuterungsbedürftig, denn warum sollte Artus aus freundschaftlicher Verbundenheit heraus Zorn empfinden? Um den Sinn der mittelhochdeutschen Formulierung zu erfassen, ist es notwendig, die Ellipse aufzulösen(meine Ergänzungen in eckigen Klammern): Er zürnte um der Gleichrangigkeit willen, [die seine Ritter mit ihren Ehrbezeugungen unterlaufen hatten].
48 len muss. Durch den Auftritt Ginovers wird die ›natürliche‹ von ›gesetzter‹ Geselligkeit abgelöst: Die Statusdifferenzen zwischen Königin und Rittern machen für die Formierung einer geselligen Runde einen Kontrakt zur temporären Nivellierung dieser Differenzen notwendig, auch wenn diese im Ergebnis nur teilweise gelingt. 3) Als problematisch erweisen sich die kleinräumigen geselligen Ordnungen jeweils in dem Moment, wo mit Ginover bzw. Artus die Sozialordnung des feudalaristokratischen Hofes in der Situation präsent wird, die die Anwesenden in künegin/künec und ritter stratifiziert. Die kontextuell angesetzte Ordnung des Festes kann diesen Epiphanien von Rangrelationen offenbar nichts entgegen setzen: Die stratifikatorische Ordnung ist vielmehr in beiden Situationen in der Lage, die paritätischen Ordnungen mikroskopischer und makroskopischer Geselligkeit außer Kraft zu setzen.66 4) Neben den beiden groß- und kleinräumigen geselligen Ordnungen und der stratifikatorischen Sozialordnung des Hofes lässt sich noch eine vierte Ordnungskategorie ausmachen, die – insofern sie nur als gedachte Ordnung aus der Perspektive von zwei Figuren in Erscheinung tritt – als ›imaginäre‹ Ordnung des Artushofs bezeichnet werden kann. Sie setzt sich zusammen aus den Konzeptionen, die einerseits Keie, andererseits Artus als Modell ansetzen. Insofern wird sie jeweils nur in Teilaspekten sichtbar. Keie wacht über die Norm ritterlicher Äquivalenz am Artushof und indiziert, wann immer sich einer der Ritter anschickt, diese Norm zu brechen. Seine Perspektive bezieht das Äquivalenzgebot allerdings ausschließlich auf die Ebene der Artusritter. In den Auseinandersetzungen mit Kalogrenant und Iwein kollidiert es mit der Handlungsmaxime, êre zu akkumulieren, die simultan zu diesem Äquivalenzgebot in Kraft ist. Artus hingegen bezieht sich selbst, indem er sich als primus inter pares definiert, in diese Äquivalenzregel mit ein. Die Institution der Tafelrunde gibt dieser modellhaften Parität sichtbaren Ausdruck. Die Eingangsszene des Iwein zeigt aber, dass dieses Modell nur aus seiner Perspektive bzw. nur für ihn Geltung besitzt, wohingegen seine Ritter entsprechend den Maßgaben der stratifikatorischen Hofordnung agieren.67 66
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Die Spannung, die im Text aus der Kollision von geselliger Fest- und feudalaristokratischer Hofordnung entsteht, versucht Haug, Idealität des arthurischen Festes, S. 317, mit den Begriffen »Spiel« und »Faktizität« zu fassen: »Die Synthese von Spiel und Faktizität im Fest ist somit von widersprüchlich-gespannter Art: sie kann nie ganz gelingen, sonst verlöre das Fest seine reale Basis und würde zum bloßen Spiel. Das Fest ist also zwar auf diese Basis im Faktischen angewiesen, zugleich aber steckt in ihr das, was es gerade nicht zu bewältigen vermag, so daß mit ihr etwas Unkontrollierbares, Gefährliches stets gegenwärtig ist: das Wagnis des Festes besteht darin, daß es im Innersten seine eigene Negation mitträgt.« In der Forschung wird der Artushof vielfach als stabile und modellhafte Konstruktion bezeichnet: als »Idealbild der höfisch-ritterlichen Gesellschaft« (Fischer, Ehre,
49 Dieses ›arthurische‹ Modell lässt sich wiederum mit der geselligen Ordnung des höfischen Festes korrelieren. Die im Bild der Tafelrunde visualisierte arthurische Ordnung findet – so ließe sich postulieren – ein Analogon in der Ordnung des Festes. Das ist ein Grund dafür, warum der Artushof vor allem als Schauplatz festlicher Geselligkeiten vorgeführt wird: Er ist der paradigmatisch gesellige Ort.68 Die Szene zu Beginn des Iwein führt nun aber genau vor, dass eine solche schlichte Analogie Aporien erzeugt, weil Artus nach den Regeln sozialer Logik nicht zugleich herre und geselle sein kann, horizontale Strukturen also notwendig immer wieder von vertikalen überlagert werden. Diese Aporie verlängert sich in die Ebene der Ritter hinein, die zugleich auf die interne Wahrung von Äquivalenz und auf die externe Akkumulation von êre verpflichtet sind, durch die sie unablässig einem Prozess der Auf- und Abwertung – durch Artus als Richter69 – unterzogen werden. Die Funktion der Szene ist es damit, die durch das soziale Ordnungsmodell des Artushofs generierten narrativen Regeln und die aus ihnen resultierenden Aporien, auf deren Grundlage sich die Romanhandlung entfaltet, in ihren Mechanismen auf engem Raum vorzuführen.70
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Hof und Abenteuer, S. 187; vgl. auch Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 90f. und Haug, Idealität des arthurischen Festes, S. 312), als Ort von »Friedensherrschaft« und »zwangfreie[r] Zusammenkunft« (Haupt, Das Fest, S. 145). Angesichts der skizzierten Widersprüche, die sich – jenseits der Befunde zur sog. ›Artuskritik‹ – bei Chrétien und Hartmann (und damit schon zu Beginn der literarischen Reihe des Artusromans) sowohl aus den konfligierenden Anforderungen an die Ritter als auch aus den – je nach Figurenperspektive – differierenden Wahrnehmungen sozialer Ordnung am Artushof ergeben, ist diese Annahme auch schon für die frühen deutschen Artusromane zu revidieren. Mit einer solchen Vorstellung operieren implizit auch die Beiträge von Haug, Idealität des arthurischen Festes, S. 312, und Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 90–92. Zu Artus’ Position als iudex vgl. Hans Jürgen Scheuer: Gegenwart und Intensität. Narrative Zeitform und implizites Realitätskonzept im »Iwein« Hartmanns von Aue. In: Reto Sorg / Adrian Mettauer / Wolfgang Pross (Hrsg.): Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. München 2003, S. 123–138, bes. S. 127f. Diese Lesart will nicht in Abrede stellen, dass die Szene mit Kalogrenants Erzählung zugleich die Motivation für den Auszug Iweins liefert, den es wiederum braucht, um die aporetische Situation am Artushof aufzulösen. Fruchtbar ist in diesem Zusammenhang Wenzels Interpretation des Auftritts von Ginover und Artus in der Gruppe der Ritter: Sie wertet König und Königin als Repräsentanten der Hoföffentlichkeit, durch die die zunächst im Kreis der gesellen vorgetragene Geschichte Kalogrenants ihren nicht-öffentlichen Status verliere und zur hoföffentlichen Information werde, auf die der Hof entsprechend zu reagieren habe (Keie und Kalogrenant, S. 95). Der Gedanke, dass eine Information zunächst öffentlich werden müsse, um handlungsauslösend zu wirken, findet sich bereits bei Haiko Wandhoff: Âventiure als Nachricht für Augen und Ohren. Zu Hartmanns von Aue ›Erec‹ und ›Iwein‹. In: ZfdPh 113 (1994), S. 1–22, bes. S. 12.
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3.2
Geselligkeit und die kommunikative Ordnung des Erzählens
Die Herstellung paritätischer sozialer Relationen ist eine zentrale Voraussetzung von Geselligkeit. Allerdings ist die Konzeption von Geselligkeit in literarischen Texten nicht allein auf diesen Aspekt begrenzt. Vielmehr lässt sich zeigen, dass Geselligkeit ein paradoxes Phänomen ist: Während die Voraussetzung für die Konstitution von Geselligkeit in der Gleichrangigkeit der Teilnehmer begründet liegt, benötigt sie als stabile soziale Form – oder auch als ›Institution‹ – zugleich eine ordnungsgebende Struktur, die die Verstetigung der Interaktion und damit ihre – wenn auch nur temporäre – Stabilität in der Zeit sichern helfen kann.71 Indem diese Ordnungsstruktur als hierarchische praktiziert wird, tritt sie in Konkurrenz zur Konzeption der Gleichrangigkeit und hebt diese partiell wieder auf. In den Darstellungen von geselliger Interaktion, wie sie sich in der deutschen mittelalterlichen Literatur finden, wird das hierarchische Ordnungsmoment in der Regel über den kommunikativen Modus hergestellt, der die gesellige Interaktion bestimmt: Das ist hier zumeist der Modus des geselligen Lied- oder Erzählvortrags.72 Nach Luhmann teilt eine kommunikative Handlung »die Welt nicht mit, sie teilt sie ein«.73 Jeder Sprechakt impliziert also eine basale Ordnungsstruktur, indem er die Unterscheidung des gegebenen ›Welt‹-Ausschnitts in Sender und Empfänger, Sprecher und Hörer vornimmt. Gemäß der Annahme, dass derjenige, der spricht, sich gegenüber demjenigen, der nicht spricht, in einer überlegenen Position befindet, verbindet sich mit der Differenz von sprechen und hören bzw. sprechen und schweigen zugleich eine grundlegende Verteilung von Macht: Der kommunikativen entspricht eine soziale Ordnung. Übertragen auf eine Vortragssituation, in der die Sprecherposition einem Einzelnen zukommt, was für das Kollektiv der Hörer ein Schweige-Gebot zur Folge hat, ergibt sich eine hierarchisch strukturierte Kommunikationsordnung.74 Indem eine Person die Rede-Macht bei sich konzentriert und sich hierdurch vor dem Kollektiv auszeichnet, entspricht der kommunikativen zugleich 71 72
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Hierzu Strohschneider, Institutionalität, S. 1–9. Eine Zusammenstellung von Belegen für (nicht nur geselliges) Erzählen in der mittelhochdeutschen Literatur findet sich bei Lieb / Müller (Hrsg.), Situationen des Erzählens, S. 285–290 (Stellenregister). Niklas Luhmann: Reden und Schweigen. In: N. L. / Peter Fuchs: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M. 1989 (= stw, 848), S. 7–20, hier S. 7. Im Kontext des Versuchs, die spezifische Relation von Erzählen und Hören zu beschreiben, formuliert Wilhelm Schapp die Beobachtung: »Man kann nicht jedem jede Geschichte erzählen.« Damit ist jene Zumutung angedeutet, die in der im Kommunikationsakt ausgeübten Selbsterhebung des Sprechers gegenüber dem Hörer liegen kann; vgl. Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Mit einem Vorwort von Hermann Lübbe. Frankfurt am Main 3 1985, S. 117–119, hier S. 117.
51 die soziale Stratifizierung der Anwesenden.75 Für diesen Befund ist es zunächst einmal unerheblich, ob der Sprecher sich seine Position durch Selbstermächtigung verschafft oder ob ihm diese durch das Kollektiv zugeschrieben wird. Die Funktionsweisen des geselligen Lied- bzw. Erzählvortrags als kommunikativer und zugleich sozialer Ordnungshandlung sollen im Folgenden an unterschiedlichen Textbeispielen aus der mittelhochdeutschen Literatur vorgeführt werden, bevor in einem zweiten Schritt noch einmal auf die komplexeren Zusammenhänge in der Eingangsszene des Iwein und ihre literarische Rezeption zurückzukommen ist.76
3.2.1 Geselliges Erzählen als Ordnungshandeln in mhd. Mären, Flore und Blanscheflur und Wittenwilers Ring Sprachliche Inszenierungsgesten, die darauf verweisen, dass es sich bei mittelalterlicher Literatur um vorgetragene Dichtung handelt, finden sich in der mittelhochdeutschen Literatur in unterschiedlicher Gestalt.77 Hierzu zählt die erste Strophe des Nibelungenlieds, die aus dem kollektiven ›wir‹ als denjenigen, zu deren historischem Gedächtnis das zu Erzählen-
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So auch Peter Strohschneider: »nu sehent, wie der singet!« Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Stuttgart 1996 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände, XVII), S. 7–30, der allerdingsdas temporäre Hervortreten des Sängers als »labile Konstruktion« wertet, da die »gesetzte Leitdifferenz von Sänger und Hörern die geltenden Leitdifferenzen der stratifizierten Gesellschaft unterschneidet« (ebd., S. 11). Diese Einschätzung übersieht, dass die zuhörende Gesellschaft sich (temporär) unter den entstratifizierenden Bedingungen höfischer Geselligkeit konstituiert hat, so dass das Hervortreten des Sängers ganz im Gegenteil durch die Etablierung einer stratifizierenden kommunikativen und sozialen Ordnung einer Stabilisierung und Verstetigung der geselligen Situation zuarbeitet. Der Zusammenhang von sozialer und kommunikativer Ordnung in fingierten Aufführungssituationen ist in der bisherigen Forschung nur am Rande in den Blick gekommen. Eine Ausnahme stellt der Beitrag von Peter Strohschneider und Beate Kellner zum Wartburgkrieg C dar, der zugleich ein einschlägiges Textbeispiel vorstellt, auf dessen Behandlung ich daher hier verzichten kann, vgl. dies.: Die Geltung des Sanges. Überlegungen zum »Wartburgkrieg« C. In: Joachim Heinzle u. a. (Hrsg.): Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Berlin 1998 (= Wolfram-Studien, 15), S. 143–167. Grundlegend hierzu noch immer Peter Strohschneider: Aufführungssituation. Zur Kritik eines ZentralbegriffskommunikationsanalytischerMinnesangforschung.In: Johannes Janota (Hrsg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Tübingen 1993 (= Kultureller Wandel und die Germanistik der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, 3), S. 56–71; sowie die Beiträge bei Müller (Hrsg.), ›Aufführung‹ und ›Schrift‹.
52 de gehört, die Differenz eines Publikums (ir) und eines dieser Anrede impliziten gegenwärtigen Sprechers herausarbeitet:78 Uns ist in alten mæren von helden lobebæren, von fröuden, hôchgezîten, von küener recken strîten
wunders vil geseit von grôzer arebeit, von weinen und von klagen, muget ir nu wunder hœren sagen. (Nibelungenlied, Str.1, 1–4)79
Während die Sprecher-Instanz hier nur ganz allmählich und ohne sich selbst zu bezeichnen aus dem Kollektiv hervortritt, in das es sich überdies selbst einbezieht, zeichnen sich die Sprecher-Instanzen der Sangspruchdichtung durch eine soziale Differenz zu ihrem Publikum aus, was sich insbesondere in den zahlreichen Bitten um Entlohnung spiegelt.80 Im Vortrag des Sprechers vollzieht sich nun eine überraschende Inversion der anfänglichen Relation: Die Unterordnung des Sängers unter sein Publikum verkehrt sich in dem Moment in Überordnung, in dem sich die Sprecher-Instanz in die Rolle des Ratgebenden begibt, denn Mahnung, Belehrung und die Erteilung von Ratschlägen sind Kommunikationsakte, die sich hierarchisch von oben nach unten richten. Diese Spannung aus sozialem Status und rhetorischem Gestus81 zeigt sich deutlich in den Sprüchen Walthers. Im folgenden Beispiel wird allerdings nicht ein anonymes Publikum, sondern der Kaiser direkt adressiert:
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Vgl. hierzu Michael Curschmann: Dichter alter mære. Zur Prologstrophe des ›Nibelungenlieds‹ im Spannungsfeld von mündlicher Erzähltradition und laikaler Schriftkultur.In: GerhardHahn / Hedda Ragotzky (Hrsg.): Grundlagendes Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Stuttgart 1992, S. 55–71, hier S. 64. Strohschneider argumentiert dagegen, die Subjektstelle bleibe hier gerade leer, es spreche kein personalisierbares Ich, sondern die »›sich selbst‹ erzählende[]« Geschichte, vgl. ders., »nu sehent, wie der singet!«, S. 7f., Zitat S. 7. Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Helmut de Boor. 22. revidierte und von Roswitha Wisniewski erg. Aufl. Mannheim 1988 (= Deutsche Klassiker des Mittelalters). Den ›Situationstyp‹ der Sangspruchdichtung und im Vergleich damit den des (frühen) Minnesangs hat Hartmut Bleumer zusammenfassend skizziert: Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang. In: Helmut Birkhan (Hrsg.): Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. 9. 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Unter Mitwirkung von Ann Cotten. Wien 2005 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Sitzungsberichte, 721), S. 83–102, hier S. 89–91. Albrecht Hausmann spricht von »ethischer Kompetenz«, vgl. ders.: Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang. In: Margreth Egidi / Volker Mertens / Nine Miedema (Hrsg.): Sangspruchtradition.Aufführung – Geltungsstrategien– Spannungsfelder. Frankfurt a. M. 2004 (= Kultur, Wissenschaft, Literatur, 5), S. 25–43, hier S. 41.
53 Her keiser, ich bin frônebote und bringe iu botschaft von gote (L 12,6f.).82
Die Einschaltung eines vermittelnden Boten schwächt die direkte Konfrontation zwar ab, der Gegensatz aus sozialer Differenz (keiser – armer man) und belehrendem Gestus bleibt jedoch bestehen: Bote, sage dem keiser sînes armen mannes rât, daz ich deheinen bezzern weiz, als ez nû stât. (L 10,17f.)83
Ein hochadliges Kollektiv adressiert der folgende Spruch: Ir fürsten, die des küneges gerne wæren âne, die volgen mîme râte; ich enrâte in niht nâch wâne. (L 29,15f.)84
Als symbolischer Ausgleich der beiden gegensätzlichen Bewegungen ließe sich die Figur des Gabentauschs (guot umbe êre nemen) ansehen, die dem ethischen und ästhetischen Beitrag zum höfisch-geselligen Leben die berechtigte Entlohnung analog setzt und damit einer temporären Nivellierung des sozialen Gefälles zuarbeitet, die freilich im Vortrag selbst nicht eintritt.85 Im Minnesang ist die Thematisierung von Rangverhältnissen ganz der Relation von Sänger-Ich bzw. Liebendem und Dame vorbehalten, sprachliche Gesten der Unter- oder Überordnung der Sprecher-Instanz gegenüber der Instanz des höfischen Publikums finden sich dagegen nur selten. Das kann zum einen ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die Sänger hier dem Publikum sozial selbst zugehören und daher auf gleicher Augenhöhe kommunizieren. Zum anderen ist auch der Aussagemodus ein anderer: Geht es hier doch nicht um von oben nach unten gerichtete Belehrung, sondern um Partizipation ermöglichende Reflexion.86 Wenn daher die Sprecher-Instanz in einem Minnelied Walthers mit dem Gestus
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Walther von der Vogelweide:Leich, Lieder, Sangsprüche.14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin / New York 1996, S. 18 (4,IV). Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, S. 15 (3,III). Ebd., S. 54 (11,XI). Zu Ökonomie und Anökonomie des Gabentauschs in der Sangspruchdichtung – wenn auch ohne die Vorstellung eines sozialen Ausgleichs – vgl. Strohschneider / Kellner, Die Geltung des Sanges, S. 150 und S. 154–156. Das hat Albrecht Hausmann, Wer spricht?, S. 34–41, am Beispiel Reinmars, der die Ratgeber-Rolle dezidiert zurückweist, überzeugend gezeigt. Vgl. auch Bleumer, Walthers Geschichten, S. 90f. Zur ambivalenten Relation von Sänger und Sprecher im Minnesang Jan-Dirk Müller: Ir sult sprechen willekommen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik. In: IASL 19 (1994), S. 1–21, bes. S. 3–6.
54 des Ratgebers der Sangspruchdichtung auftritt, kann das als kalkulierter Bruch mit den Konventionen der Gattung gelten:87 Ir sult sprechen willekommen: der iu mære bringet, daz bin ich. allez, daz ir habt vernomen, dest gâr ein wint, nû vrâget mich. (L 56,14–17)88
Auch die soziale Differenz zum Publikum, die mit der Inszenierung des Sprechers als Ratgeber korreliert ist, fehlt hier nicht, was sich in der Forderung nach Entlohnung zeigt: Ich wil aber miete. wirt mîn lôn iht guot, ich sage vil lîhte, daz iu sanfte tuot. seht, waz man mir êren biete. (L 56,18–21)89
Entsprechend speist sich das Lob der tiuschen frowen nicht aus abstrakter Reflexion, sondern aus der konkreten Welterfahrung des Sprechers. Dass direkte Adressierungen des Publikums der Gattungskonzeption des Minnesangs fremd sind und dort, wo sie vorkommen, als intertextuelle Zitate aus benachbarten literarischen Gattungen aufzufassen sind, zeigt sich auch an folgendem Beispiel: Die Bitte um Gehör, mit der ein in der Hs. C Reinmar zugeschriebenes, ihm jedoch mit guten Gründen abzusprechendes Lied einsetzt,90 weist deutliche Parallelen zu Eingangsformulierungen der Mären auf. Diese Analogie ergibt sich nicht nur durch die Formulierung, die – auch wenn im weiteren ein Streitgespräch folgt – auch eine Erzählung ankündigen könnte, sondern auch über die Thematik des greisen Liebhabers: Went ir hoeren, einen gemellîchen strît hât ein alter man mit sînem wîbe. (MFMT LXIV, Str. 1, 1f.)91
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So auch Hausmann, Wer spricht?, S. 41–43; sowie Müller, Ir sult sprechen willekommen, S. 12f.; generell zur Überblendung von Sangspruch- und Minnesanghaltung bei Walther vgl. Bleumer, Walthers Geschichten, S. 93–99. Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, S. 117 (32,I); vgl. auch L 72,31 (ebd., S. 163 [49a,I]). Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, S. 117 (32,I). Albrecht Hausmann hat gezeigt, dass das Lied in C offenbar nachträglich – und mit Abstand zu den vorausgehenden Strophen – an das Reinmar-Korpus angefügt wurde; vgl. Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen / Basel 1999 (= Bibliotheca Germanica, 40), S. 47f. Anders bewertet Helmut Tervooren diesen Fall: Brauchen wir ein neues Reinmar-Bild?Überlegungenzu einer literaturgeschichtlichenNeubewertung hochhöfischer deutscher Lyrik. In: GRM N. F. 36 (1986), S. 255–266. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. I: Texte. 38., erneut rev. Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988, S. 400.
55 Als in den schriftlichen Text eingegangene Evokationen mündlichen Erzählens vor einem Kollektiv von Zuhörern sind entsprechende Formulierungen in der Märendichtung am häufigsten anzutreffen.92 Fischer unterscheidet schlichte ›Bitten um Gehör‹ wie etwa beim Stricker: Hœret, waz einem manne geschach, an dem sîn êlich wîp zebrach beide ir triuwe und ir reht (Stricker, Der kluge Knecht, V. 1–3)93
oder zu Beginn der anonymen Frauenlist : Welt ir hœren ein hübschez mær von einem stolzen schuolær? (Frauenlist, V. 1f.)94
von der sog. ›Tacete‹-Formel.95 Hier wird dem Anspruch des Sprechers, seine Erzählung vorzutragen (sagen, künden), das notwendige Schweigen des Publikums (swîgen, dagen) korreliert: Welt ir nu mit züchten gdagen, so wil ich eu ze schimpf sagen ainen seltseinen streit das ir vor oder seit nicht so frömds hat vernomen. (Gold und Zers I,V. 1–5)96 Welt ir mir nu stille dagen, so wold ich iu vil gerne sagen (Der Reiher, V. 23f.)97 Nun sweigt und habt ewer gemach, So künd ich euch ein allte sach Von dreyen frawen stolcz und frey (Folz, Drei listige Frauen (1. Fassung), V. 1–3)98
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Eine Zusammenstellung der Belege bei Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchges. und erw. Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 255–274. In jüngerer Zeit hat sich Klaus Grubmüller unter dem Aspekt des Wiedergebrauchs mit den Texteingängen von Mären befasst, vgl. ders.: Erzählen und Überliefern. ›Mouvance‹ als poetologische Kategorie in der Märendichtung? In: PBB 125 (2003), S. 469–493, hier S. 472–478. Der Stricker: Verserzählungen I. Hrsg. von Hanns Fischer. 5., verb. Aufl. besorgt von Johannes Janota. Tübingen 2000 (= ATB, 53), S. 92–109. Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. I hrsg. von Heinrich Niewöhner. 2. Aufl. hrsg. von Werner Simon mit den Lesarten bes. von Max Boeters und Kurt Schacks. Zürich / Dublin 1967, S. 87–95; Vgl. auch Hans Rosenplüt: Der fahrende Schüler.In: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übers. und kommentiert von Klaus Grubmüller. Frankfurt a. M. 1996 (= Bibliothek des Mittelalters, 23), S. 916–927 (V.1). Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, S. 262–265. Die deutscheMärendichtungdes 15. Jahrhunderts.Hrsg. von Hanns Fischer.München 1966 (= MTU, 12), S. 431–439. Neues Gesamtabenteuer, S. 100–107. Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hrsg. von Hanns Fischer. München 1961 (= MTU, 1), S. 74–87.
56 Sweigt ain weil und horcht her, so wil ich euch sagen ain neus mer von eim münch und von einer frauen (Rosenplüt, Die Tinte, V. 1–3).99
Die Korrelation von sagen und dagen ist allerdings nicht allein als Reflex auf eine lebensweltliche Vortragssituation aufzufassen, nach der sich der Sprecher in einer lautstarken Gesellschaft akustischen Raum verschaffen muss,100 vielmehr impliziert die ›Bitte um Gehör‹ über die Forderung nach einem Redeverzicht hinaus den Wunsch, die Anwesenden mögen durch aktives Zuhören am Vorgetragenen partizipieren.101 Die Anforderung des sich zu Wort Meldenden an die übrigen Anwesenden ist also 99 100
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Novellistik des Mittelalters, S. 936–943. Das soll freilich nicht heißen, dass dieser Aspekt keine Rolle spielte. Die Schwierigkeit, sich mit dem eigenen Vortrag akustisch durchzusetzen, ist – worauf Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, S. 264f., besonders hingewiesen hat – etwa zu Beginn des Pfaffen mit der Schnur A (k) thematisiert: »Es ist ein verlorn erbeyt / Wer in schalle ein mer seyt« (Maeren-Dichtung. Bd. II. Hrsg. von Thomas Cramer. München 1979 [= Spätmittelalterliche Texte, 2]), S. 116–143, V. 1f., vgl. auch V. 3–9); ähnlich auch der Beginn des Hellerwert Witz: »Mir mac diu wîle ouch wesen lanc, / Swanch dise rede beginne sagen / Und dâbî nieman wil gedagen, / Ders welle merken und vernemen« (Hans-Friedrich Rosenfeld: Mittelhochdeutsche Novellenstudien. I. Der Hellerwertwitz, II. Der Schüler von Paris. Leipzig 1927 [= Palaestra, 153], S. 44–70, V. 12–15, vgl. auch V. 1–11). Vgl. hierzu auch die Prologfortführung des oben zitierten Gold und Zers I, V. 6–18. In den Prologen des höfischen Romans lassen sich solche Kombinationen eines selbstbewussten Erzählerauftritts mit einem die Rezeptionshaltung der Adressaten betreffenden Anspruch häufig beobachten: Elaboriert bei Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1: Text. Hrsg. von Karl Marold. Unveränd. fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen App. besorgt und mit einem erw. Nachwort vers. von Werner Schröder. Berlin / New York 2004 (= de Gruyter Texte), V. 101–130, 167–172, 239– 242, und bei Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausg. von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausg. und in Probleme der ›Parzival‹-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin / New York 2003 (= de Gruyter Texte), u. a. 1,1– 4,1, im Daniel des Strickers (Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal. 2., neubearbeitete Aufl. hrsg. von Michael Resler. Tübingen 1995 [= ATB, 92], V. 16–20) und bei Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Male hrsg. von Victor Junk. Unveränderter reprographischerNachdruck der Ausg. 1928/1929. Darmstadt 1970 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart, 272/274), V. 29–34; ders.: Willehalm von Orlens. Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk. Mit drei Tafeln. 2., unveränd. Aufl. Dublin / Zürich 1967 (= DTM, 2), V. 17–39, V. 89–132. Vgl. zu den angegebenen Textpassagen Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, S. 159–167 (zum Parzival ), S. 200–205 (zum Tristan), S. 288–291 (zu Rudolfs Alexander), S. 330–333 (zum Willehalm von Orlens). Zum Parzivalprolog auch ders.: Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des ›Parzival‹-Prologs. In: W. H.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003, S. 145–159.
57 eine doppelte: Sie verlangt neben passivem Schweigen zugleich aktives Zuhören, das reziprok auf die Produktion des Vortrags bezogen ist. Damit aber ist sie auch eine sprachliche Geste, die auf die Vergemeinschaftung von Sprecher und Publikum zielt. In der Formulierung bei Rosenplüt ist sie besonders deutlich gefasst: Sweigt ain weil und horcht her / so wil ich euch sagen ain neus mer.102 Geselliges Erzählen wird so von einer eindimensional gerichteten zu einer wechselseitige Beteiligung fordernden kommunikativen Handlung.103 Über den Aspekt akustischer Raumschaffung und die Setzung einer Erwartungshaltung hinaus aber lässt sich der Anspruch des Vortragenden, sich mit seiner Erzählung Gehör zu verschaffen, als eine Form der Selbstermächtigung gegenüber dem Kollektiv auffassen, mit der er sich jenes unterordnet. Dass dieser Anspruch vor dem Hintergrund der skizzierten doppelten Anforderung an das Kollektiv zugleich eine Anmaßung darstellt, die auszubalancieren ist, lässt sich am Beispiel des Nonnenturniers besonders gut nachvollziehen: Ir herschaft, ir solt gedagen, so wil ich euch sagen. ir sollent stille sweigen beide tanzen und geigen. des sollen wir beginnen und ein ander kurzweile bringen (on manigerlei seitenspil) das geit uns freuden vil, das uns dest minner möge betragen: wir sollen nu abenteur sagen. ich sage zu meinem teil das: […] (Das Nonnenturnier, V. 1–11).104
Schon der erste Vers baut eine eigentümliche Spannung auf: Mit der Apostrophierung des Publikums als vornehme Gesellschaft (herschaft ) weist der Sprecher dieses als sozial exklusiv aus. Diese soziale Klassifizierung findet in den folgenden Versen über die stichwortartige Evokation festlich-höfischer Vergnügungen wie Tanz und Instrumentenspiel eine Bestätigung. Die spezifische Formulierung der Anrede (ir herschaft ) suggeriert zunächst einen sozialen Abstand zwischen Sprecher und Publikum. Damit wird die Erwartung einer rhetorischen Unterwerfungsgeste, etwa einer captatio benevolentiae, beim Hörenden/Lesenden aufgebaut, 102
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Vgl. auch die Formulierung zu Beginn der Nonne im Bade von Peter Schmieher mit seiner Korrelation von hören und dagen sowie ich und uns: »Hört zu und welt ir es bedagen, / ich will uns ains von reiben sagen« (Märendichtung, S. 93–98, V. 1f.). Als Voraussetzung für aktives Zuhörendefiniert Schapp, In Geschichtenverstrickt, S. 119, die Empfänglichkeit des Hörers: »In dem Hörer muß der Boden vorbereitet sein. Er muß empfänglich sein für Geschichten.Die Geschichtenmüssen sich in die Horizonte, die bei dem Hörer vorhanden sind, einfügen. Wenn das nicht der Fall ist, erlahmt alsbald das Interesse an der Geschichte.« Novellistik des Mittelalters, S. 944–977.
58 die allerdings durch den tatsächlich folgenden, unmissverständlich und ohne jede höfische Zurückhaltung formulierten Schweigebefehl (ir solt gedagen) umgehend enttäuscht wird. Die Spannung des ersten Verses besteht somit in der durch den Sprecher zunächst angedeuteten rhetorischen Unterordnung und seiner dann tatsächlich praktizierten rhetorischen Erhebung über das Publikum. Die Sukzession der beiden Redeteile lässt sich als Versuch des Sprechers verstehen, seine rhetorische Selbstermächtigung durch die vorgängige Suggestion rhetorischer Unterwerfung zu neutralisieren: Die Anmaßung, einer adligen Gesellschaft Redeverzicht zu diktieren, wird durch die devote Anrede entschärft. Hieran zeigt sich, dass die Reklamation eines Redeanspruchs durch einen einzelnen Sprecher innerhalb eines Kollektivs grundsätzlich prekär ist und dass sie keineswegs darauf setzen kann, ohne Widerspruch zu bleiben.105 Dass das Ergreifen des Wortes durch den Sprecher tatsächlich eine (Selbst-) Zuschreibung von Macht impliziert, die diesen über das Kollektiv erhebt und somit ordnungsgenerierende Funktion ausübt, lässt sich im Nonnenturnier am Bemühen des Sprechers ablesen, der stratifizierenden Maßnahme der Selbstermächtigung eine vergemeinschaftende Maßnahme entgegenzusetzen: Zum einen ordnet er sich selbst in den folgenden Versen dezidiert der apostrophierten adligen Gesellschaft zu (wir, V. 5+10; uns, V. 9). Die in V. 1 suggerierte Annahme, es bestehe eine soziale Differenz zwischen Sprecher und Publikum, erweist sich somit als unzutreffend und liefert ein weiteres Argument dafür, dass sie dort absichtsvoll als unterwerfende Gegenbewegung zum autoritären Schweigegebot funktionalisiert ist. Zum anderen relativiert der Sprecher seine Selbstermächtigung dadurch, dass er das Erzählen als Betätigung vorschlägt, an der sich alle beteiligen können: wir sollen nu abenteur sagen. Die potentielle aktive Partizipation der Anwesenden liefert wiederum den Hintergrund dafür, dass der Sprecher nun endgültig mit seinem Erzählvortrag einsetzt, denn sie definiert seinen eigenen Redeanspruch als temporär begrenzt, was mit der Formulierung ich sage zu meinem teil das noch einmal explizit ausgestellt wird. In der Rahmenerzählung zu Konrad Flecks Minneroman Flore und Blanscheflur ist der Prozess geselliger Ordnung – deutlicher als bei den Mären – in die Narration hineingeholt.106 Vorgeführt werden zwei Vari105
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Diese Beobachtung setzt auch die captatio benevolentiae als Prologbestandteil der höfischen Romane in ein neues Licht: Sie wäre dann nicht nur eine topische Formel, um die Gunst des Publikums zu erlangen, sondern als rhetorische Unterwerfungsgeste zu betrachten, die die durch den Vortrag statuierte Selbsterhebung des Sprechers neutralisierte. Vgl. zur Rahmenerzählung in Flore und Blanscheflur Ludger Lieb / Stephan Müller: SituationenliterarischenErzählens.Systematische Skizzen am Beispiel der ›Kaiser-
59 anten geselliger Ordnung, denen jeweils unterschiedliche kommunikative Modi entsprechen. Dabei kommt dem Modus geselligen Erzählens hier nicht allein ordnungsschaffendes, sondern ordnungsrevidierendes Potential zu. Auf den ausführlichen Prolog des Erzählers (V. 1–146) folgt ein topischer Frühlingseingang, der im Anschluss an die im Prolog entfaltete Thematik vorbildlicher Minne die Bildung von Paaren als für die gesamte Schöpfung verbindlich festschreibt: sô hât sînen gesellen, swaz lebendes ie wart, ieglîchez in sîner art. (V. 158–160)107
Es wird sich zeigen, dass auch die Menschen sich diesem universalen natürlichen Programm gemäß verhalten, wenn auch in einer spezifisch höfisch-kultivierten und vor allem geselligkeitstauglichen Form: In einen mit allen Merkmalen des locus amoenus ausgestatteten Baumgarten (V. 172–215) tritt eine gemischtgeschlechtlich zusammengesetzte Gruppe von »ritter[n] unde frouwen« (V. 162) ein, um die erwachte Natur zu betrachten und durch sie »aller sorgen« erlöst zu werden (V. 161–167). Die »süeze mengîn« (V. 189) setzt sich dort nieder und beginnt unmit-
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chronik‹ und Konrad Flecks ›Flore und Blanscheflur‹. In: Wolfgang Haubrichs / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.): Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Berlin 2004 (= Wolfram-Studien, 18), S. 33–57, bes. S. 46–56; Margreth Egidi, Implikationen von Literatur und Kunst, S. 163–186, hier bes. S. 173–176, die die Szene als Beleg für die Ausdifferenzierung ›höfischer Literatur‹ aus dem System des ›Höfischen‹ liest; und Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 186–188, der besonders auf die Beteiligung beider Geschlechteram Gespräch hinweist, die Szene aber nicht als Beispiel für vormoderne Konversation (im Sinne seiner engen Definition) gelten lassen will. Zitiert wird nach der Ausgabe von Wolfgang Golther: Flore und Blanscheflur von Konrad Fleck. In: W. G. (Hrsg.): Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur. Tl. 2. Stuttgart o. J. [1889] (= Deutsche National-Litteratur, 4/3), S. 233–470. Diese Edition stützt sich ebenso wie die ältere Ausgabe von Emil Sommer auf die späten Handschriften B und H (beide 15. Jh.), vgl. Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung von Konrad Fleck. Hrsg. von Emil Sommer. Quedlinburg / Leipzig 1846 (= Bibliothek der gesammten deutschen National-Literaturvon der ältesten bis auf die neuere Zeit, 1/12). Die von Golther vorgenommenen Korrekturen der Sommerschen Ausgabe, insbesondere die Rücknahme zahlreicher Konjekturen, konnte nur auf der Basis des dortigen Lesartenapparats überprüft werden, denn Golthers Edition besitzt keinen textkritischen Apparat. Textverbesserungen Golthers, die über B und H hinausgehen, habe ich übernommen, aber in Fußnoten vermerkt. Varianten, die sich durch die Hinzunahme der frühen Fragmente P und F ergeben, betreffen hier lediglich die Verse 1–211 und bleiben, da sie für die Interpretation unerheblich sind, unberücksichtigt. Die Fragmente sind ediert in: Bruchstücke von Konrad Flecks Floire und Blanscheflûr. Nach den Handschriften F und P unter Heranziehung von B H hrsg. von Carl H. Rischen. Heidelberg 1913 (= Germanische Bibliothek, 3/4).
60 telbar über Liebesdinge zu sprechen, mit denen die Damen und Herren auf Grund der Jahreszeit befasst sind und die ihnen zugleich die sinne verkêren: Als diu ritterlîche schar an aller slahte fröuden gar108 daz gestüele besaz (ir was wol tûsent unde baz die dar komen wâren), unlange sie verbâren, sie retten von der minne, diu ir aller sinne zuo der zît verkêrte und sie dar an lêrte daz109 zwei und zwei gelîche vil bescheidenlîche retten dâ besunder. (V. 221–233)
Das Sprechen über die minne lässt nun diese selbst – als Personifikation – in der Szene präsent werden. Sie tritt auf in der Rolle der Lehrenden, deren lêre auf die soziale und kommunikative Ordnung der ritterlîchen schar zielt.110 Dabei ist auf der Basis der Formulierung zwei und zwei gelîche nicht letztgültig entscheidbar, welche soziale Konstellation minne genau verfügt. Denkbar ist sowohl, dass identisch zusammengesetzte Zweierpaare gebildet,111 als auch, dass je zwei Paare mit gleichartigen Teilen einander zugeordnet werden. Aus Gründen, die noch auszuführen sind, soll hier die zweite Variante favorisiert werden. Minne erweist sich also nicht nur als abstrakte Verursacherin von Sinnenverwirrung, sondern zugleich als konkrete Organisatorin verständiger Minnekommunikation. Dieser durch die Minne selbst gestiftete Ordnungsakt hat verschiedene Aspekte: Zunächst macht er deutlich, dass das Sprechen über die Liebe nur in einer spezifischen sozialen Konstellation möglich ist, die Intimität und Vertraulichkeit gewährleistet. Die große, ungeordnete mengîn, in der (prinzipiell) jeder mit jedem sprechen und jeder jeden hören kann, eignet sich hierfür offensichtlich nicht. Der kommunikative Schutzraum entsteht erst, indem jeweils zwei gleiche Paare einander zugeordnet werden. Sowohl das Thema minne als auch das zuvor aufgerufene universale Schöpfungsprogramm, nach dem sich jedes Lebewesen einen gesellen seiner Art sucht, lassen darauf schließen, dass bei den zwei 108
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slahte ist eine Hinzufügung Golthers, auch Sommer hat hier konjiziert: in allen fröuden gar. Hs. B hat An aller fröuden gar, H hat an fröuden gar. daz fehlt in B und H; es ist bei Sommer und Golther ergänzt und scheint zur Klärung der syntaktischen Konstruktion hier sinnvoll. Diese Lesart lässt sich durch die Formulierung in V. 236 (der Minnen ræte) zusätzlich stützen. So bei Lieb / Müller, Situationen literarischen Erzählens, S. 46; Egidi, Implikationen von Literatur und Kunst, S. 174; Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 187.
61 und zwei an je zwei Damen und zwei Ritter gedacht ist. Hier geht es jedoch nicht um einen natürlichen, sondern um einen im Kontext kultivierter höfischer Geselligkeit vollzogenen Paarungsvorgang. Das zeigt sich an der Viererkonstellation des Doppelpaars, in der der Gedanke der Paarbildung in zweifacher Hinsicht verdoppelt ist: Es entstehen nicht nur zwei gemischtgeschlechtliche, sondern auch zwei gleichgeschlechtliche Paare.112 Diese Konstruktion vermag die Öffentlichkeit der mengîn einerseits zu reduzieren, ohne dabei andererseits einer beargwöhnten heimlichkeit einzelner Paare Vorschub zu leisten. Da bei einer Aufspaltung der Gesellschaft in einzelne Paare zu befürchten wäre, dass das Sprechen über die Liebe die Paare zu Liebenden macht, deren erotische Bindungen die der höfischen Gesellschaft potentiell zu subvertieren im Stande sind,113 erweist sich das Ordnungsprinzip des Doppelpaares als Stabilitätsgarant höfischer Geselligkeit, das überdies die sie kennzeichnende Heterosozialität zu wahren vermag. Der ordnungsstiftende Akt der Minne organisiert eine Art und Weise der Paarbildung, die ihr selbst als dem Objekt der Rede gemäß ist. Sie entwirft damit ein Modell höfischer Minne-Geselligkeit, das ein künstliches und kunstvolles Analogon zur Paarbildung in der Natur schafft.114 Noch in einem weiteren Detail gehorcht die Darstellung der MinneGeselligkeit in der Rahmenerzählung von Flore und Blanscheflur der basalen Logik höfischer Geselligkeit, denn auch hier lässt sich die Span112
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Diese Lesart wird im Folgenden dadurch bestätigt, dass der Erzähler »zwô frouwen geswester« (V. 242) fokussiert, von denen dann eine die Rolle der Erzählerin übernimmt. Bei Egidi, Implikationen von Literatur und Kunst, S. 173f., und Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 187, die die Formulierung zwei und zwei gelîche als Bezeichnung für gemischtgeschlechtliche Zweierpaare auffassen, bleibt dagegen unkommentiert, warum gerade ein Schwesternpaar in den Erzählerfokus kommt. Für Lieb / Müller, SituationenliterarischenErzählens,S. 46, sind die beiden Schwesternein Zweierpaar.Wie die Formulierungdes Textes hier genau verstanden wird, bleibt offen, vgl. auch ebd., S. 53f. Für die deutscheLiteratur des Mittelalters ist die Frage der Vereinbarkeiterotischer Paarbeziehungen mit den Anforderungen der höfischen Gesellschaft ein zentrales Thema, wie sich besonders deutlich anhand von Erecs verligen und dem daraus resultierenden Niedergang des Hoflebens in Karnant zeigt (vgl. Erec, V. 2924–2998). Dass Liebesbeziehungen zwischen Teilnehmern geselliger Runden auf Grund ihrer potentiellen sozialen Sprengkraft als prekär angesehen werden, ist eine Gedankenfigur, die etwa bei Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982 (= stw, 1124), S. 71–96, bes. S. 83f., formuliert ist. Sie wird am Beispiel von Boccaccios geselligen Modellen noch einmal zu thematisieren sein, vgl. bes. Kap. 5.3.2. Geradezu entgegengesetzt argumentiert Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 188, wenn er aus der Annahme, »daß sich die Gesellschaft in Zweiergruppen auflöst und diese dann emotional motivierte Gespräche führen« (ebd.) ableitet, dass es sich hier nicht um gesellige Unterhaltung – im Sinne der Konversationslehren des 16. und 17. Jahrhunderts, die zu emotionaler Distanz zum Gesprächsgegenstand raten – handeln könne.
62 nung aus horizontalen und vertikalen Ordnungsbestrebungen beobachten. So ordnet das Modell des Doppelpaares nicht nur Ritter und Damen als gesellen einander zu, sondern betont mit der Formulierung zwei und zwei gelîche auch die Gleichartig- und damit Gleichrangigkeit auf Seiten der männlichen und weiblichen Beteiligten. Diese Lesart bestätigt sich, wenn der Erzähler im Folgenden zwei Schwestern fokussiert, die eine solche Gleichartigkeit sowohl über die Merkmale von Geschlecht, Blutsverwandtschaft, genealogischer Stellung und adliger Abstammung als auch über ihr höfisches Aussehen und Verhalten in herausgehobener Weise symbolisieren: zwô frouwen geswester sagten dâ wunders gemach, daz ir niemen anders jach, daz er iht bezzers vernæme, swar er landes ie bekæme, von mannen oder von wîben. man möhte wol schrîben von minnen sô spæhiu wort. ouch sâzen sie dort ir worten niht ungelich: ir angesiht was minneclich wande sie wol kunden mit fröuden ze allen stunden und mit zühten wol gebâren. die selben frouwen wâren von grôzer pârâge. (V. 242–257)
Indem dieses Modell gleichgeordneter höfischer Geselligkeit jedoch durch die autoritativ agierende Minne für die süeziu mengîn verfügt wird, zeigt sich, dass diese gesellige Ordnung ihrerseits Ergebnis eines hierarchisch von oben nach unten gerichteten ordnungsgebenden Aktes ist. Erst durch die Präsenz der Minne als vertikaler Ordnungskraft kann der gesellige Ordnungsmodus der im Gespräch über die Liebe einander zugeordneten Paare auf Dauer gestellt werden. Im Folgenden setzt sich eine der Schwestern als Erzählerin durch. Dadurch geht das hierarchische Ordnungsmoment auf eine der Anwesenden über. Damit aber verändert sich zugleich auch der kommunikative Modus und mit ihm die soziale Ordnung der Anwesenden: eins künges tohter von Kartâge die minnern und die merren, die frouwen und die herren vernâmen über al, dô sie des hoves schal under in gestilten. der süezen und der milten wart mit zühten geswigen, ir was allez unverzigen. von ir guottæte
63 ir ieclîchs ôre stæte was ze losende gereit. dô die frouwe gemeit sô guote state gewan, der rede sî alsus began. (V. 258–272)
Der »sukzessiven, geradlinig voranschreitenden Herauslösung einer Sprecherinstanz«115 aus der Konstellation des Doppelpaares über das Schwesternpaar bis zu der einzelnen Königstochter entspricht die sukzessive Veränderung des kommunikativen Modus: Aus dem Vierergespräch über die minne treten zunächst die beiden Schwestern als besonders kompetente Sprecherinnen hervor (V. 242–249). Die dem schriftlich fixierten Text angenäherte vollkommene Eloquenz ihrer Rede findet Ausdruck in der Formulierung: man möhte wol schrîben / von minnen so spæhiu wort (V. 248f.). Was hier in die Differenz spontan-ungeordneter Mündlichkeit und planvoll-geordneter Schriftlichkeit gefasst ist, erweist sich im Folgenden allerdings als Wechsel aus dem Modus dialogischer Rede in den Modus monologischen (und daher schriftnahen) Erzählens: Denn mit der Verengung des Erzählerfokus auf eine der beiden Schwestern wandelt sich deren Gesprächsbeitrag (rede, V. 272) zum Thema minne (so noch der prologartige Charakter der V. 273–290) anhand des Beispiels von Flore und Blanscheflur (V. 291–301) in eine minne-Erzählung. Der Herauslösung der Sprecherinstanz und dem Wechsel des kommunikativen Modus wiederum entspricht die gleichzeitig sich vollziehende Re-Strukturierung der in Doppelpaaren strukturierten Gesellschaft zu einem im Zuhören vergemeinschafteten Kollektiv.116 Im Unterschied zu den Eingangspassagen der Mären jedoch erlangt die spätere Erzählerin ihre Redemacht über das Kollektiv nicht durch Selbstermächtigung, vielmehr entwickelt sich die Ordnung der höfischen Gesellschaft in eine Sprechende und ein Kollektiv von Hörenden erst in der Interaktion zwischen beiden: Indem die frouwen und herren sie im Gespräch sprechen hören (V. 258–261), erkennen sie ihre rhetorische Kompetenz und bemühen sich von sich aus um eine Dämpfung des Geräuschpegels (V. 262– 263). Die Verse 264f. lassen offen, ob die Sprecherin ihrerseits ein zusätzliches Schweigegebot erlässt.117 Unmissverständlich ist in jedem Fall die Bereitschaft der Gesellschaft, der Sprecherin zuliebe – und höfischer zuht entsprechend – auf eigene Rede zu verzichten. Nachdem die Gesellschaft nicht nur ihren Willen zu schweigen, sondern auch ihren Willen zuzuhören bekundet hat (V. 269), erkennt wiederum die Sprecherin die 115 116
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Vgl. Egidi, Implikationen von Literatur und Kunst, S. 174f., Zitat S. 174. Lieb / Müller, Situationen literarischen Erzählens, S. 55, sprechen anschaulich davon, dass aus »Teilnehmern an geselliger Konversation […] ein literarisches Publikum« werde. V. 266 (ir was allez unverzigen) könnte hierauf schließen lassen.
64 für ihren Vortrag günstigen Umstände (guote state) und setzt so mit ihrer Rede neu ein. Die vertikale Neuordnung der höfischen Runde ist hier also Folge einer Selbstunterwerfung der Gesellschaft unter die Eloquenz eines ihrer Mitglieder. Dass die Position des Erzählers in einer geselligen Runde eine Form der sozialen Privilegierung impliziert, deren Instituierung einer als paritätisch formierten Gruppe eine verstetigende, hierarchische Ordnung verleiht, lässt sich abschließend an zwei parodistischen Inversionen dieses Modells in Heinrich Wittenwilers Ring zeigen. Die Szene, um die es zunächst geht, spielt sich während des großen Hochzeitsmahls des Brautpaars Bertschi Triefnas und Mätzli Rüerenzumph ab, das zu einer gigantischen Fress- und Saufschlacht um die zum Teil wenig appetitlichen Bestandteile des Mahls geraten ist (V. 5533– 6186).118 Nachdem Fische serviert worden sind, erstickt Farindwand an einem glitschigen Fischkopf, den zuvor schon Reuschindhell mehrfach abgelutscht hatte. Den Tod Farindwands kommentiert der Erzähler wie folgt: Was scholt den gsellen schaden das? Mich dunkt, seu ässind nür dest bas; Won die gnuog in essen wellen, Die hüetin sich vor vil gesellen! Der aber vechten wil mit hail, Der hab der freunt ein michel tail! (V. 5913–5918)
Die Bezeichnung gesellen für die Teilnehmer des Mahls verweist auf ihren paritätischen sozialen Status. Anders als in höfisch-geselligen Kontexten liegt hier allerdings kein geselliger Kontrakt vor, der zuvor Ungleichrangige für die Dauer des gemeinsamen Mahls zu Gleichrangigen machte, vielmehr setzt sich in der ›Geselligkeit‹ des Mahls lediglich jene – weitgehend – paritätische Struktur der dörflichen Bauerngemeinschaft fort, 118
Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übers. und hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 1991 (= RUB, 8749). Zum Hochzeitsmahl vgl. Ortrun Riha: Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers »Ring« 1851–1988. Würzburg 1990 (= Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie, 4), S. 149–151; dies.: Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers »Ring« 1988–1998. In: Dorothea Klein u. a. (Hrsg.): Vom Mittelalter zur Neuzeit. FS für Horst Brunner. Wiesbaden 2000, S. 423–430, hier S. 426; sowie Haug, Idealität des arthurischen Festes, S. 324–331; Frank Kopanski: …sam säw zum nuosch. Anmerkungen zum Hochzeitsmahl in Heinrich Wittenwilers »Ring«. In: ABÄG 41 (1995), S. 185–198; Jutta Goheen: Der feiernde Bauer im »Ring« Heinrich Wittenwilers. Zum Stil des mittleren Teils. In: JOWG 8 (1994/1995), S. 39–58; Trude Ehlert: Doch so fülle dich nicht satt! Gesundheitslehre und Hochzeitsmahl in Wittenwilers »Ring«. In: ZfdPh 109 (1990), S. 68–85; Elisabeth Schmid: Leben und Lehre in Heinrich Wittenwilers »Ring«. In: JOWG 4 (1986/1987), S. 273–292.
65 die auch außerhalb des Hochzeitsfests Gültigkeit besitzt.119 Einander als gesellen gleichgestellt zu sein ist also kein Spezifikum des Hochzeitsmahls, sondern generelles Kennzeichen der bäuerlichen Dorfgemeinschaft. Die fehlende Notwendigkeit für einen geselligen Kontrakt wird im Ring auf eine Weise kompensiert, die die Differenz zu höfischer Geselligkeit besonders herausstellt: So stellen sich zu Beginn des Mahls vier der bäuerlichen gesellen zur Verfügung, um während des Mahls als Diener zu fungieren (V. 5535–5537).120 Die Instabilität dieser künstlich etablierten und den Regeln von Geselligkeit widersprechenden Hierarchie von Dienern und Bedienten erweist sich allerdings schon wenig später (V. 5805–5843): Die Festgesellschaft verlangt nach weiteren, vor allem alkoholischen Getränken. Die Gäste beginnen, Bertschi als Gastgeber wüst zu beschimpfen und ihm den Verlust ihrer »huld« anzudrohen (V. 5815). Schuld an der mangelhaften Nachschubsituation sind allerdings die, »die da dienten«, denn sie sind nicht in der Lage zu erkennen, was die »herren« an den Tischen benötigen (V. 5817, 5820). Der beschimpfte Bertschi versucht nun, seine »macht« als Gastgeber auszuspielen und vergreift sich an einem der Diener (V. 5824–5826). Sofort verkehrt sich die Hierarchie aus Herr und Dienern: Die drei Diener schnappen sich Bertschi, gießen ihm Wasser in den Hintern und schlagen ihn verkehrt herum – zum Amüsement der übrigen Gäste – gegen einen Baum. Bertschi bleibt nach dieser Rosskur nicht viel anderes übrig als zu konstatieren, dass »drei sein alweg eines herren« (V. 5842). Die an dieser Szene ablesbare Schwierigkeit oder sogar die Unmöglichkeit, in einer Runde von natürlichen gesellen eine Hierarchie zu etablieren, verstärkt den Befund, dass soziale Gleichrangigkeit in der Gesellschaft des Ring prinzipiell als der Normalfall anzusehen ist. In dem Moment aber, wo soziale Gleichstellung die Regel und nicht die Ausnahme darstellt, kann sich eine ganz neue Haltung zu dieser sozialen Konstellation ausbilden, die – wie sich an der eingangs zitierten Passage zeigt – die Frage nach dem Nutzen von gesellen aufwirft und diese jeweils pragmatisch nach individueller Vorteilsnahme entscheidet. Ent119
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Das heißt nicht, dass die Dorfgemeinschaft des Ring keine sozialen Differenzen aufwiese. Diese sind vor allem durch schulische Bildung markiert: Der Dorfschreiber Nabelreiber, der Pfarrer und der Arzt Chrippengra zeichnen sich durch spezifische Bildungstechniken vor den Bauern aus. Schulbildung als Kriterium für sozialen Abstand führt hier allerdings nicht zur Ausbildung einer politischen Hierarchie und hat daher keinen Einfluss auf die ›Geselligkeit‹ des Festes. Das zeigt sich an der Figur des Dorfschreibers: Dieser agiert auch im Kontext des Mahls seinen spezifischen Kompetenzen gemäß, indem er für das, was der Fall ist, eine treffende Formulierung liefert (V. 6145–6148), ohne dabei jedoch eine herausgehobene soziale Rolle einzunehmen. Die Tatsache, dass die vier weder bestimmt noch gebeten werden, sondern sich selbst bereit erklären, zu dienen, verweist auf die unhierarchische Struktur der bäuerlichen Gesellschaft im Ring.
66 sprechend kommt der Erzähler zu dem Ergebnis, dass nach Situationen zu differenzieren ist, in denen es von Vorteil ist, viele gesellen zu haben (so im Kampf), oder aber nachteilig (so beim Essen).121 Mit dieser situationsangemessenen Pragmatik gibt der Kommentar den Verständnishorizont für das weitere Geschehen bereits vor: Wenn viele gesellen beim Essen von Schaden sind, weil der einzelne dann am Ende weniger abbekommt, empfiehlt es sich, die Zahl der essenden gesellen zu minimieren. Genau das tritt ein: Dar an gedacht auch Uotz vom hag; Er wolt eim fresser legen ab Und sprach: ›Her Guggoch ist ein man, Der selber lieder tichten chan Von Dietreichen dem Perner; Den hörtten wir vil gerner Dann daz wir also sässin, Die toten fisch da ässin.‹ (V. 5919–5926)
Die Intention Uotzens ist eindeutig: Es geht darum, sich eines Mit-Essers zu entledigen. Die Argumente, die er vorbringt, um Guggoch zu überzeugen, ein Lied vorzutragen, greifen nun auf jene soziale Implikation geselligen Erzählens oder Singens zurück, wie sie auch schon in den bisherigen Textbeispielen beobachtet werden konnte: Der Vortrag eines Einzelnen vor einem Kollektiv ist eine soziale Auszeichnung, es hebt diesen aus seinem Umfeld heraus.122 Entsprechend schreibt Uotz Guggoch nicht nur die notwendige rhetorische Kompetenz zu, indem er ihn als Dichter bezeichnet, sondern behauptet zusätzlich, dass das Publikum das Hören eines Vortrags dem Essen der Fische vorziehen würde. Der Liedvortrag würde demnach eine zweifache Stoßrichtung entfalten: Er ermöglicht die (rhetorische) Auszeichnung Guggochs und analog dazu die im Zuhören dokumentierte Selbstunterordnung des Publikums. Die Argumente verfangen in der intendierten Weise: Guggoch fühlt sich von dem Vorschlag geschmeichelt und setzt umgehend mit seinem Vortrag ein: Des daucht sich Guggoch do gemait; Er huob sein tädinch an und sait: ›Es sassen held in einem sal, Die assen wunder über al‹, Et cetera bis an ein end. (V. 5927–5931)123 121
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Dieser Logik entsprechend bedauert Bertschi den Schaden, der ihm durch die Zahl der Gäste entstanden ist, und erinnert sich an die Hauswirtschaftslehre, die der materiellen Schadensbegrenzung halber zu kleinen Feiern rät (V. 5946–5952). Vgl. hierzu Schmid, Leben und Lehre, S. 291f. Diese Beobachtung bestätigt den Befund von Haug, Idealität des arthurischen Festes, S. 329, dass die Darstellung des Hochzeitsfestes im Ring als parodistisches Gegenstückzum »arthurischenoder pseudo-arthurischenFestbetrieb«angelegt ist. Das zitierte Lied parodiert vermutlich – so Horst Brunner: Anmerkungen. In: Wittenwiler: Der Ring, S. 561–585, hier S. 577 – den Anfang der zweiten Strophe
67 In der Zwischenzeit aber entwickeln sich die Dinge anders als Uotz behauptet und Guggoch geglaubt hatte. Es vollzieht sich vielmehr genau das, wovon auch im Dietrich-Lied die Rede ist: So wenig wie dort ein Widerspruch zwischen sitzen und essen besteht, erweisen sich in der gegebenen Situation losen und essen als unvereinbare Handlungen. Sie sind vielmehr durchaus kompatibel: Die weil die loser warend bhend Und assen auf die vische gar, E sein der singer ward gewar. Do nu daz lied ein end gewan, Guggoch der wolt heben an, Ze essen nach seinr zuoversicht: Des sach er umb – do vand er nicht. (V. 5932–5938)
Die in der Situation vorgenommene Unterscheidung in ein Kollektiv aus Nicht-Sprechenden, die essen, und einen Sprecher, der nicht isst, belegt, dass allein die Kombination von Essen und Sprechen hier als unvereinbar anzusehen wäre. Indem sie die Gleichzeitigkeit von Essen und Sprechen ausschließt, folgt die Szene einer grundständigen Regel geselligen Erzählens, die sich auf basale Konventionen zivilisierten Umgangs beruft.124 Da insbesondere dem Personal des Rings jederzeit die Perversion kultureller Konventionen zuzutrauen ist, lässt die Einhaltung der Regel an dieser spezifischen Stelle das zugrunde liegende Muster geselligen Erzählens umso deutlicher hervortreten. Immerhin jedoch lässt sich für Guggoch etwas aus dieser Niederlage – und zwar ganz im Sinne des anfänglichen Erzählerkommentars – lernen: Des jukket er sich in dem grind; Er schre vil laut: ›Ich pins ein kind Und du, Uotz, ein rechter wicht; Daz prüeft man wol ze diser gschicht.‹ Was er vor mit singen fro, Des traurt er so mit wainen do. Daz was der andern aller schimph. (V. 5939–5945)
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des Eckenliedes: »Es sasen held in ainem sal; / si rettont wunder ane zal / von userwelten rekken.« (Das Eckenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar von Francis B. Brévart. Stuttgart 1986 [= RUB, 8339]), Str. 2, V. 1–3). Die Parodie bestünde in der situationsgemäßen Veränderung der Relation von sitzen und reden zu sitzen und essen; hierzu auch Bruno Boesch: Zum Nachleben der Heldensage in Wittenwilers ›Ring‹. In: Egon Kühebacher (Hrsg.): Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstituts. In Zusammenarb. mit Karl H. Vigl. Bozen 1979 (= Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstituts, 7), S. 329–354, hier S. 329f. Vgl. Ludger Lieb: Essen und Erzählen. Zum Verhältnis zweier höfischer Interaktionsformen. In: Lieb / Müller (Hrsg.), Situationen des Erzählens, S. 41–67, hier S. 45.
68 Sein Plan (zuoversicht ), sich zunächst durch seinen Vortrag vor den anderen auszuzeichnen und dann als ihr geselle am Essen teilzunehmen, war kindisch, denn in dieser Gesellschaft bäuerlicher gesellen gilt die radikale Logik des Eigennutzes, und zwar auf allen Seiten: Während er selbst sich im Vorteil der exklusiven Sprecherposition wähnt und daraus individuelle Freude (V. 5943) schöpft, maximiert auch das Kollektiv seinen Vorteil, wenn auch weniger in seiner Eigenschaft als Hörerschaft als vielmehr über den Verzehr der durch die Verhinderung des Sprechers für alle vermehrten Fische. Guggoch erkennt, dass er samt seinem Vortrag und den daraus resultierenden Folgen für diese Lehre zum Exempel geworden ist (V. 5942), an dem sich das Kollektiv weit mehr delektieren kann als an seinem Liedvortrag (V. 5945). In diesem Sinne ist er gleich mehrfach um seinen vermeintlichen Vorteil gebracht und es bleiben ihm nur die dieser Niederlage Ausdruck verleihenden Tränen. Dass in einer entstratifizierten Gesellschaft wie der des Rings die Etablierung einer hierarchischen kommunikativen und sozialen Ordnung zum Scheitern verurteilt ist, zeigt sich auch gegen Ende des Hochzeitsmahles noch einmal, als die Gesellschaft anhebt zu singen und zu erzählen, ohne sich einigen zu können, wer sprechen soll. Vielmehr wollen alle erzählen und niemand will zuhören. Das kann im Ergebnis nur zu Kakophonie, nicht aber zu geselligem Erzählen führen: Also huob do ieder man Ze singen und ze sagen an Und, was der herr hiet an gehaben, Es wär von singen oder sagen, Daz chond der chnecht mit züchten störren. Niemant wolt den andern hörren Ieder wolt verhöret sein Und schre: ›Vernempt die rede mein!‹ (V. 6109–6116)
Der Grund für die Unmöglichkeit, im Kreis der gesellen die kommunikative Ordnung des Erzähl- oder Liedvortrags zu etablieren, ist darauf zurückzuführen, dass die Figuren die Position des Vortragenden als die eines herrn und die des Zuhörenden als die eines chnechts klassifizieren. Sich dem Vortrag eines herrn als chnecht unterzuordnen ist aber keiner der gesellen bereit, vielmehr wollen alle herr sein und angehört werden. Die Identifizierung der kommunikativen Ordnung des Erzählens mit einer vertikal strukturierten Sozialordnung lässt sich hier also bis in das verwendete Vokabular hinein verfolgen. Damit bestätigt die Szene nachträglich, dass Guggoch sich ganz zurecht sozial ausgezeichnet gefühlt hatte, als Uotz ihm den DietrichVortrag nahelegte. Sie zeigt überdies, dass in einer zwar sozial egalisierten, dabei aber ganz an individueller Vorteilsnahme orientierten Gesellschaft ohne jede Vorstellung von dem, was für das Kollektiv – etwa in der sozia-
69 len Ausnahmesituation eines Festes – von Nutzen sein könnte, eine solche Auszeichnung unmöglich ist.
3.2.2 Geselliges Erzählen zwischen Auszeichnung und Abwertung: Iwein, Daniel von dem Blühenden Tal, Diu Crône Vor dem Hintergrund des skizzierten Zusammenhangs zwischen der kommunikativen Ordnung des Erzählens und der von dieser induzierten sozialen Hierarchie aus übergeordnetem Sprecher und untergeordneten Zuhörern soll noch einmal der Anfang des Iwein in den Blick genommen werden. Hier zeigt sich, dass die Etablierung geselligen Erzählens als stabilisierender, kommunikativer Modus nicht nur von der jeweiligen sozialen Konstellation der geselligen Runde, sondern auch von den zu erzählenden Inhalten abhängt. Im Daniel von dem Blühenden Tal des Strickers lässt sich zum einen der – letztlich scheiternde – Versuch beobachten, im Anschluss an den Iwein soziale Auszeichnung und Erniedrigung über Sprech- und Schweigeregeln zu normieren, zum anderen werden hier das Erzählen von mæren und die Konstitution höfischer Geselligkeit im Rückgriff auf den Erec kausal verknüpft. Ein noch einmal anders gelagertes Fallbeispiel für die Korrelation von geselliger Interaktion und Kommunikation stellt die Becherprobe in Heinrichs von dem Türlin Crône dar, die abschließend betrachtet werden soll. Die Eingangsszene des Iwein führt zwei grundsätzlich verschiedene Praktiken geselligen Erzählens als kommunikatives Ordnungshandeln vor. Kalogrenants erster Anlauf, sein mære zu erzählen, vollzieht sich im Kreis jener fünf Ritter, die sich außerhalb der königlichen Kemenate versammelt haben. Die Herstellung einer vertikalen kommunikativen Ordnung erfolgt spontan, unwillkürlich und unreflektiert. Kalogrenant ergreift einfach das Wort und bewirkt damit, dass die Anderen ihm zuhören: der begunde in sagen ein mære, von grôzer sîner swære und von deheiner sîner vrümekheit (V. 93–95).
Der Modus des Erzählens vor Publikum ließe sich hier somit als kommunikative und soziale Selbstermächtigung Kalogrenants werten.125 Allerdings wird diese temporäre Selbstauszeichnung umgehend durch den In125
Insofern der kommunikative Akt des Erzählens immer schon die Implementierung einer hierarchischen Struktur impliziert, kann die von Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 95f., zunächst offen gehaltene Frage, ob die »Kommunikationsform ›biographischen‹ Erzählens […] für ihr Gelingen von hierarchischen Strukturen befreit sein muß oder diese eher benötigt« eindeutig beantwortet werden. Sie ist hier nur deswegen vermeintlich »instabil[ ] und latent gefährdet[ ]« weil sich mit Ginovers Auftritt die soziale Konstellation der Gruppe verändert (ebd.).
70 halt des erzählten mære nivelliert, indem Kalogrenant von sîner swære und deheiner vrümekheit berichtet und damit das exakte Gegenteil dessen praktiziert, was im Kontext des Festes eigentlich vorgesehen ist: Geschichten von grôzer manheit (V. 72) zu erzählen. Mit Ginovers Auftritt wird dieser in der Runde der gesellen etablierte kommunikative Modus des Erzählens unterbrochen. Einsetzen kann er erst wieder, nachdem Ginover in den Kreis der Gleichen integriert worden ist, wodurch – wie bereits gezeigt – die Konzeption der praktizierten Geselligkeit grundlegend verändert worden ist: Die ›natürliche‹ Geselligkeit der Ritter wird ersetzt durch die ›positive‹ Geselligkeit einer nun heterosozial zusammengesetzten Gruppe. Grundsätzlich also wird geselliges Erzählen erst wieder möglich unter den Voraussetzungen fingierter Parität. Gleichzeitig ist mit dem Wechsel von ›natürlicher‹ zu ›gesetzter‹ Geselligkeit offenbar die Möglichkeit kommunikativer Selbstermächtigung abhanden gekommen. Das zeigt sich an dem komplizierten Prozess, in dem Kalogrenant durch verschiedentliche Aufforderungen von außen dazu gebracht werden muss, sein mære fortzusetzen. Zunächst ist es Keie, der im Anschluss an seine Auseinandersetzung mit Kalogrenant und Ginover nach einem Ausgleich mit Kalogrenant verlangt.126 Dazu bittet er Ginover darum, Kalogrenant zu bitten, mit der begonnenen Geschichte fortzufahren: ich kume nâch mînen schulden gerne ze sînen hulden: nû bitet in sîn mære, des ê begunnen wære, durch iuwer liebe volsagen. man mac vil gerne vor iu dagen. (V. 183–188)
Diese Passage macht die Veränderungen in den kommunikativen Strukturen der Runde evident: Weder ergreift Kalogrenant von sich aus das Wort, noch wird er dazu direkt von Keie aufgefordert. Stattdessen richtet Keie seine Bitte an Ginover. Ginovers Präsenz hat also die Runde der ritterlichen gesellen nicht nur in sozialer, sondern auch in kommunikativer Hinsicht markant verändert, insofern als ihr eine Position zugeschrieben wird, auf die die kommunikativen Handlungen zulaufen und von der erwartet wird, dass sie diese zentral organisiert und steuert. Dass diese Position derjenigen übertragen wird, die außerhalb des geselligen Kontextes die Königin des Hofes ist, ist dabei alles andere als zufällig. Es zeigt sich hieran vielmehr, dass die durch die Ordnung des Hofes bedingten sozialen Abstände durch den geselligen Kontrakt nicht vollständig sus-
126
Zur folgenden Passage vgl. auch Kartschoke, Erzählen im Alltag, S. 27–30 u. S. 33; Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 102–109; sowie Volkmann, Costumiers est de dire mal, S. 104f.
71 pendiert sind.127 Auf diese Weise entsteht eine weitere Ordnungsebene: Zwischen die soziale Ordnung fingierter Gleichrangigkeit und die kommunikative Ordnung stratifizierenden Erzählens tritt mit Ginover eine zentrale Organisations- und Moderationsinstanz, die sowohl sozial als auch kommunikativ ordnende Funktionen übernimmt.128 Beide zeigen sich an Keies Aussage: man mac vil gerne vor iu dagen (V. 188). Ähnlich wie in den Eingangsformulierungen der Mären erscheinen sagen und dagen hier im Reim aufeinander bezogen, anders als dort sind sie aber nicht unmittelbar inhaltlich korreliert, da Keie die Geste der Unterordnung, die sich mit dem Versprechen zu schweigen verbindet, nicht auf Kalogrenants Erzählung bezieht, sondern auf die Ginover zugewiesene soziale und kommunikative Ordnungskompetenz:129 dagen wird so zum Synonym für Unterordnung. Auch der Stellenwert des sagen ist hier ein anderer. Es impliziert in der Formulierung Keies nicht länger Selbsterhebung, sondern wird zum Dienst an der geselligen Königin umfunktioniert: Ihr zuliebe möge Kalogrenant sein mære fortsetzen (V. 187). Als Organisatorin der kommunikativen Handlungen kommt es Ginover auch zu, den kommunikativen Modus zu bestimmen. Das erweist sich in dem Moment als notwendig, als Kalogrenant sich weigert, die begonnene Geschichte zu einem Ende zu bringen: doch sol man ze dirre zît und iemer mêre swâ ir sît mînes sagennes enbern (V. 217–219).
Ginover spricht ihn darauf hin als »guote künegin« (V. 230) an und kleidet ihre Anweisung in die folgende Formulierung: ez ist mîn bete und mîn gebot daz ir saget iuwer maere (V. 238f.).
Während eine bete auch unter gesellen geäußert werden könnte, verweist das gebot eindeutig auf ihre hierarchische Position und entsprechend reagiert auch Kalogrenant, wenn er sich dieser Aufforderung unterwirft: »Swaz ir gebietet, daz ist getân.« (V. 243)130 127
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Diese Gleichzeitigkeit zweier konkurrierender Ordnungen beschreibt auch die Forschung zum Fest, vgl. u. a. die Diskussion bei Schopf, Fest und Geschenk, S. 15–17. Bei Boccaccio wird diese Funktion von der Spielkönigin Fiammetta (so im Filocolo) bzw. den Tagesköniginnen und -königen (so im Decameron) übernommen. Anders Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 104, die das dagen auf Kalogrenants Geschichte bezieht. Kalogrenant erzählt seine Geschichte somit aus äußerem und nicht aus »einer Art innerem Zwang« wie von Haiko Wandhoff vermutet: Künec, vernemt von mir! Zur Problematik des ehrenhaften Erzählens von der eigenen Person im Artusroman. In: Lieb / Müller (Hrsg.), Situationen des Erzählens, S. 123–142, hier S. 125; so auch Becker in ihrer diskursanalytischen Lesart der Dialogszene, vgl. dies., Poetik der wehselrede, Kap. 4.3.3.
72 Die Szene verdeutlicht, dass sich in einer durch einen geselligen Kontrakt künstlich gleichgeordneten Runde unmittelbar das Bedürfnis nach einer neuen hierarchischen Ordnung abzeichnet. In der Figur der Ginover, die die Position der geselligen Interaktionskoordinatorin einnimmt, kommen gesellige und höfische Sozialordnung punktuell zur Deckung. Ihren Anweisungen unterwerfen sich die Ritter (hier exemplarisch vorgeführt an Keie und Kalogrenant) und ihr obliegt es, den kommunikativen Modus der Runde zu bestimmen. Unklar bleibt indes, warum es überhaupt zu Kalogrenants Erzählverweigerung kommt. Kalogrenants Aussage, er werde nicht länger dort sprechen, swâ ir [i. e. Keie, C. E.] sît (V. 218), scheint mit der Gegenwart des Beleidigers Keie in der gegebenen Situation eine plausible Erklärung zu liefern.131 Es fragt sich aber, ob Kalogrenant ausschließlich auf die ehrverletzende Rede Keies abzielt oder nicht vielmehr auf Keies Funktion als desjenigen, der Verstöße gegen das Äquivalenzgebot der Ritter indiziert. Dann wäre seine Weigerung zu erzählen als Weigerung aufzufassen, sich – nachdem sich die Reverenz gegenüber Ginover bereits als hinreichend prekär erwiesen hat – nicht auch noch als Erzähler aus der Gruppe der gesellen nach oben hin herauszuheben, weil mit Keie jemand anwesend ist, der diese Auszeichnung sofort (kritisch) anzeigt. Es lässt sich aber auch noch eine zweite Lesart anführen: Danach verweigert Kalogrenant die Fortsetzung seines mære deshalb, weil eine Geschichte von deheiner vrümekheit vor dem Hintergrund festlicher Konventionen, die im Gegenteil Geschichten von grôzer manheit (V. 72) vorsehen, eine Ehrminderung darstellt.132 Dass er um diesen Bruch mit den höfischen Konventionen weiß, macht Kalogrenant deutlich, wenn er sich im Anschluss an seine Geschichte Selbstvorwürfe macht: Ich hân einem tôren glîch getân, diu mære der ich laster hân, daz ich iu diu niht kan verdagen: ichn woldes ouch ê nie gesagen. wære mir iht baz geschehen, des hôrtent ir mich ouch nû jehen. (V. 795–800)
Da die mit einer ehrmindernden Geschichte verbundene Problematik innerhalb der Gruppe der sechs Ritter offenbar nicht bestanden hat, muss der Grund für Kalogrenants Erzählverweigerung bzw. die Tatsache, dass seine Geschichte plötzlich peinlich wird, in der veränderten Rezeptionsgemeinschaft angesiedelt sein, die sich durch die Integration Ginovers ergeben hat. Franziska Wenzel hat überzeugend dargelegt, dass die Kommunikation der gesellen mit dem Auftreten von Artus und Gino131 132
So Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 102. So auch Becker, Poetik der wehselrede, Kap. 4.3.3.
73 ver ihren ›privaten‹ Charakter verliert und ›öffentlich‹ wird.133 Das ist aus der Perspektive immanenter Handlungslogik insofern plausibel, als Kalogrenants mære als Auslösung aller weiteren âventiure-Handlungen notwendigerweise öffentlich werden muss. Der ›öffentliche‹ Charakter der Kommunikationssituation erwächst aber allererst aus der sozialen Position Ginovers. Er zeigt ein weiteres Mal an, dass der gesellige Kontrakt zwischen Rittern und Königin die sozialen Relationen, die außerhalb dieses Kontrakts gelten, nicht grundsätzlich außer Kraft setzt. Das, was gesagt wird, gilt, und verlängert seine Gültigkeit auch über den geselligen Kontrakt hinaus. Mit Ginover findet somit nicht nur eine ranghohe Vertreterin der Hoföffentlichkeit in die Runde der ritterlichen gesellen Eingang, als Stellvertreterin des Königs ist mit ihr auch eine Instanz anwesend, der gegenüber den Rittern die Funktion eines Richters zukommt. Dass Kalogrenants Erzählverweigerung maßgeblich aus dem prekären Inhalt seiner Geschichte abzuleiten ist, lässt sich zusätzlich über die von Keie vorgebrachten Argumente stützen, der gleich zweifach auf der Fortsetzung der Kalogrenantschen Geschichte insistiert (V. 183–187 und V. 223–229). Explizit geht es ihm zunächst darum, Kalogrenants huld dadurch wieder zu erlangen, dass er ihm die Möglichkeit verschafft, die begonnene Geschichte zu Ende zu bringen. Das scheint auf einen Ausgleich mit Kalogrenant zu zielen, insofern als es ihm ermöglichen soll, ein persönlich geplantes Vorhaben vollständig auszuführen und sich damit erneut in die privilegierte Stellung des Erzählers zu begeben. Zugleich aber weiß Keie bereits, dass Kalogrenant die Geschichte einer persönlichen Niederlage zu erzählen hat. Damit wird sein Ansinnen, Kalogrenant zur Fortsetzung der Geschichte zu bringen, ambivalent: Statt für eine Auszeichnung Kalogrenants zu sorgen, geht es ihm vielmehr darum, analog zu der Ehrminderung, die er selbst vor Publikum von der Königin erfahren hat (V. 164–168), Kalogrenant über die von ihm erzählte Geschichte seine eigene Selbsterniedrigung vorführen zu lassen, ihn somit dazu zu zwingen, seine ritterliche êre im Angesicht der Königin zu demontieren. Eine solche öffentliche Selbsterniedrigung wäre nach Keies Logik unbedingter ritterlicher Äquivalenz die notwendige Kompensation für die durch das (alleinige) Begrüßen Ginovers akkumulierte Ehre. Insbesondere die Formulierung: mîn vrouwe sol iuch niht erlân irn saget iuwer mære (V. 226f.)
entlarvt diese Intention hinter den vorgebrachten Selbstbezichtigungen. 133
Wenzel, Keie und Kalogrenant, S. 95 und S. 106f.; Wandhoff, Âventiure, S. 12; dieser Charakterisierung entspricht bei Kartschoke, Erzählen im Alltag, S. 33, der Unterschied zwischen ›konversationellem‹ und ›ritualisiertem‹ Erzählen.
74 Die in der Eingangsszene des Iwein dargestellten Modelle geselligen Erzählens lassen sich damit wie folgt charakterisieren: In beiden interagieren soziale mit kommunikativen Ordnungen. In der Gruppe der einander sozial gleichrangigen Ritter dient der kommunikative Akt des Erzählens als stratifizierender Ordnungsfaktor. Die soziale Konstellation ermöglicht es hier, dass sich einer der Gleichen selbst in diese herausgehobene Position begibt. In der zweiten Situation werden die Handlungen deutlich komplexer: Zunächst muss die sozial nach oben hin differenzierte Königin in die gesellige Runde integriert werden. Simultan dazu wird diese künstliche paritätische durch eine hierarchische Ordnung überlagert, in der Ginover als geselliger Königin soziale und kommunikative Ordnungskompetenz zugeschrieben wird. Diese nutzt sie, um eine kommunikative Ordnung zu etablieren, die – wie im ersten Modell – hierarchisch strukturiert ist. So wird die Selbstermächtigung des Erzählers im ersten Modell durch Fremdermächtigung im zweiten Modell ersetzt, zugleich aber ordnet sich die gesellige Königin des zweiten Modells der von ihr verfügten kommunikativen Ordnung selbst – als schweigende Zuhörerin – unter. Die Interaktion horizontaler und vertikaler Ordnungen führt auf der Ebene der Figuren zu einer Abfolge von Bewegungen, die sich als Kippfiguren aus (Selbst-)Erhöhung und (Selbst-)Erniedrigung darstellen: Einerseits gewinnt Kalogrenant als Erzähler eine Machtposition gegenüber seinen gesellen, andererseits unterschreitet er die Exzellenz der Artusritter durch die Geschichte, die er erzählt. Diese diffizile Balance, die seine Rede in jener ersten geselligen Phase ermöglicht, gerät durch die Anwesenheit von Ginover aus dem Gleichgewicht: Im Angesicht der frouwe und Vetreterin der Hoföffentlichkeit ist sowohl die Selbstermächtigung zur Rede als auch die Selbsterniedrigung durch Rede prekär. Entsprechend handelt Kalogrenant, indem er die Fortsetzung der Erzählung gänzlich verweigert. Diese Haltung macht zwangsläufig das Einschreiten der sozialen und kommunikativen Ordnungsinstanz der geselligen Königin erforderlich. Der Unterwerfung unter den königlichen Willen stellt Kalogrenant wiederum seine Forderung nach aktiven Zuhörern entgegen, die nicht nur den Klang, sondern auch den Sinn des Erzählten wahrnehmen sollen (V. 244–258).134 Das Handeln Keies lässt sich als Be134
Die Rede Kalogrenantsspielt auch im Weiteren mit dieser Kippfigur, etwa wenn die Forderung nach aktiver Aufnahme als Lohn (V. 246: »unde mietet mich dâ mite«) bezeichnet wird oder das Ausbleiben derselben als Verlust auf Seiten des Erzählers (V. 249f.). Die Bewegung wird letztlich ausbalanciert in dem Argument, dass, ebenso wie sagen und hœren auf beiden Seiten verschwendet sein könne, ›wahres‹ Erzählen und ›richtiges‹, aktives Zuhören für beide Seiten ein Gewinn sei (V. 255– 258). Nachdem Keie die Relation von sagen und dagen/hœren bereits aufgerufen hatte (V. 187f.), wird sie von Kalogrenant in die für die Auffassung geselligen Erzählens als reziproken Kommunikationsakts entscheidende Korrelation gebracht.
75 stätigung dieser mit dem Akt des (geselligen) Erzählens zusammenhängenden Auf- und Abwertungsprozesse verstehen, indem es jeweils auf Kompensation für (selbst-)zugeschriebene Auszeichnung zielt.135 Der Prozess von Überbietung und Unterschreitung ist allerdings nicht auf die Eingangsszene und die Interaktion zwischen Keie, Kalogrenant und Ginover beschränkt, er setzt sich über diese hinaus in die weitere Romanhandlung fort. Kalogrenants Geschichte seiner Niederlage vor Ascalon macht eine Unterschreitung artusritterlicher Exzellenz öffentlich, zu deren Kompensation sich Iwein berufen fühlt, der wiederum durch seinen Alleingang – gegen den erklärten Plan des Königs – die Regeln äquivalenten gesellen-tums temporär nach oben hin überschreitet. Obwohl also der Artushof die immer neue Bestätigung ritterlicher Exzellenz, nicht aber die Über- oder Unterschreitung ritterlicher Äquivalenz vorsieht, entwickelt sich aus der Simultaneität von paritätischer und feudaler Sozialstruktur einerseits, aus der unter Gleichgestellten notwendig entstehenden Konkurrenz andererseits eine Dynamik von Überbietung und Unterschreitung: Diese verweist nicht nur auf die Labilität der Äquivalenzkonzeption, sondern führt schließlich auch zur Genese der weiteren Romanhandlung.136 Der Zusammenhang von geselligem Erzählen und sozialem Rang und seine Darstellung über die Kippfigur von Überbietung und Unterschreitung lässt sich im Iwein noch auf einer weiteren Kommunikationsebene beobachten: Der Gerichtskampf zwischen den gesellen Iwein und Gawein hat sich mit dem Paradox auseinanderzusetzen, dass zwei Freunde als Feinde gegeneinander antreten:
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Das Heldengespräch zu Beginn des Eckenliedes zeigt eine vergleichbare Konstellation: Eine Gruppe ranggleicher Helden verhandelt im Diskurs über den abwesenden Dietrich von Bern den eigenen Wert. Die Konfrontation von Positionen der Selbstaufwertung (Ecke) und Abwertung (Dietrich) führt zu Streit, vgl. Eckenlied, Str. 2–16, bes. Str. 11f. In dem Moment, als die Rede gegenüber den anwesenden Damen öffentlich wird, wird sie verbindlich und verlangt nach praktischer Umsetzung, vgl. ebd., Str. 17–20. Auf die kompositorische Analogie der Szene zum Eingang des Iwein ist verschiedentlich hingewiesen worden, vgl. Hartmut Bleumer: Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des ›Eckenliedes‹. In: ZfdA 129 (2000), S. 125–153, hier S. 139f. und Anm. 36 mit weiterführender Literatur. Gegen Wandhoff, Âventiure, S. 16, ist daher festzuhalten, dass die »soziale Funktion der âventiure« in der Bestätigung und Akkumulation adliger êre bzw. der Kompensation ihrer Verletzung liegt und nicht primär in der Beschaffung von Nachrichten, die dazu dienen »einen eingangs erhobenen Wissensanspruch der Öffentlichkeit zu befriedigen«. Zustimmungsfähig scheint mir hingegen die These, dass âventiure-Handlung, um öffentlich wahrnehmbar und wirksam zu werden, notwendig auf die Transformation in medial vermittelbare Information, seien es sichtbare Körperzeichen, sei es die hörbare âventiure-Erzählung, angewiesen ist (ebd., S. 19 und 22).
76 mach sach sî dort zesamne komen und vîentlîchen gebâren, die doch gesellen wâren. (V. 7012–7014)
An dieser Stelle tritt der Erzähler aus seiner Geschichte hervor, um über das Problem zu reflektieren. Er wählt für die Situation das Bild des Gefäßes, in dem sowohl minne als auch haz gleichermaßen gegenwärtig sind. Zwar gesteht er die Komplexität dieser Vorstellung zu (V. 7015– 7020), beharrt aber darauf, dass es sich in diesem Fall so verhalte (V. 7021–7026). Hier meldet sich nun ein fiktiver Zuhörer zu Wort: Ich wæne, vriunt Hartman, dû missedenkest dar an. (V. 7027f.)
Seinen Einspruch, dass es »minne und hazze / zenge in einem vazze« (V. 7033f.) sei, kontert der Erzähler wiederum: Nû wil ich iu bescheiden daz, wie herzeminne und bitter haz ein vil engez vaz besaz. (V. 7041–7043)
Der Wortwechsel zwischen der Erzählerfigur und seinem fiktiven Publikum,137 das vorbildlicherweise so aktiv zuhört, dass es kritische Einwände vorzubringen vermag, spiegelt zugleich die soziale Relation von Erzähler und Kollektiv: Grundsätzlich ist der Erzähler wie im Minnesang seinem Publikum sozial gleichgestellt. Die vom Zuhörer verwendete Bezeichnung vriunt ruft diesen Zusammenhang in Erinnerung. In der Kritik des Publikums offenbart sich zugleich ein Zweifel an der erzählerischen Kompetenz des Erzählers Hartmann, der immerhin so stark ist, dass er zu einer (wenngleich fiktiven) Unterbrechung der Geschichte von Iwein führt. Der Erzähler wiederum lässt sich durch diesen laut gewordenen Zweifel nicht irritieren, sondern beharrt zum einen auf seiner herausgehobenen Position als Erzähler (indem er wieder zu sprechen einsetzt) und untermauert sie zugleich mit dem autoritativ vorgebrachten Anspruch, die Zuhörer belehren zu können (V. 7041). Dass ihm das über die elaborierte Metapher des durch eine Scheidewand geteilten Gefäßes (V. 7047–7049) gelingt, zeigt sich daran, dass weitere Einsprüche unterbleiben. Vor dem Hintergrund der sorgfältig entworfenen Eingangsszene kann es kaum zufällig sein, dass die Relation von Erzähler und Publikum anhand des Problems konkurrierender gesellen thematisch wird. Als Erzählung wäre Hartmanns Iwein damit (auch) eine Reaktion auf die – selbst 137
Zu den theoretischen Implikationen dieser Konstruktion, die dadurch noch verkompliziert wird, dass der Erzählerfigur der Name des Autors zugeschrieben wird, vgl. Monika Unzeitig: Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann. In: Haubrichs / Lutz / Ridder (Hrsg.), Erzähltechnik und Erzählstrategien, S. 59–81.
77 im literarischen Modell gegebene – Schwierigkeit, Gleichrangigkeit über den Modus geselligen Erzählens dauerhaft zu stabilisieren.138 Während es im Iwein zur Konvention im Kontext des höfischen Festes gehört, die eigene ritterliche Exzellenz durch Geschichten von grôzer manheit zu belegen, zu der dann die Geschichte Kalogrenants in Widerspruch gerät, stellt sich diese Erzählkonvention im Artusroman des Strickers, Daniel von dem Blühenden Tal, genau umgekehrt dar: Hier ist es so, dass die Artusritter keinesfalls von eigenen Erfolgen, sondern allein von Niederlagen berichten dürfen:139 Ein site was dâ gevangen, der selten wart übergangen: swem ein laster was beschehen, des muoste er offenlîche jehen, und swaz im êren geschach, daz er des niemer verjach. sie muosen darumb ir laster sagen und ir frümikeit verdagen […] (V. 109–116).140
Das Schweigegebot bezieht sich aber nicht allein auf die eigene Tapferkeit, sondern auch auf die Niederlagen anderer Ritter: diz dûhte in wandelbære, der des andern laster hæte geseit oder sîn selbes frümekeit. (V. 122–124)
Die Sprech- und Schweigeregularien werden schließlich dadurch komplettiert, dass individuelle Erfolge im Kampf als indexikalische Zeichen an den Schilden sichtbar werden müssen, damit der Hof – das scheint diese Regel zu implizieren – Anhaltspunkte hat, um seinerseits über die Erfolge seiner Ritter sprechen zu können:141 der ûz nâch âventiure reit, dem was ein niuwer schilt bereit. swer den hâte genomen, dern getorste niht wider komen, ern bræhte in gar zerhouwen, 138
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Die im Decameron gewählte Konstruktion des rotierenden Erzählens unter den Bedingungen einer gleichfalls rotierenden monarchischen Herrschaft lässt sich als Versuch auffassen, eben diese Schwierigkeit zu bewältigen, vgl. unten Kap. 5.3.3. Vgl. hierzu Wandhoff, Künec, vernemt von mir!, S. 123–142; die ältere Forschung wird referiert bei Markus Wennerhold: Späte mittelhochdeutsche Artusromane. ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹, ›Daniel von dem Blühenden Tal‹, ›Diu Crône‹. Bilanz der Forschung 1960–2000. Würzburg 2005 (= Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie, 27), S. 140–148, bes. S. 145. Zitiert wird nach der Edition von Michael Resler: Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal. Vgl. Wandhoff, Âventiure, S. 19, der am Beispiel der Romane Hartmanns festhält, dass es sich »verbietet […], rede über etwas in Umlauf zu bringen, dessen Geltungsanspruch nicht ebenfalls durch optische Daten verbürgt ist«.
78 daz man wol möhte schouwen wes er die wîle pflæge. (V. 125–131)
Die kommunikativen Regeln, die sich hieraus ergeben, lauten demnach: Jeder Artusritter hat über persönliche Niederlagen zu sprechen, über die seiner gesellen jedoch zu schweigen. Umgekehrt gilt für das am Hof versammelte Kollektiv, dass es über die Erfolge seiner Ritter zu sprechen,142 über die Niederlagen jedoch zu schweigen hat. Letzteres wird im Text nicht explizit ausgeführt, ergibt sich aber aus dem Gebot gegenüber dem einzelnen Ritter. Die hinter diesen Regeln stehende Logik lässt sich auf den durch eine Vortragssituation ausgelösten dialektischen Mechanismus von sozialer Auszeichnung und Abwertung in einer Gesellschaft potentiell Gleichrangiger zurückführen, wie er in der Eingangsszene des Iwein entfaltet wurde: In einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder gleichermaßen auf den Ausweis von Exzellenz und die Wahrung von Äquivalenz verpflichtet, erweisen sich das Reden von Niederlagen und das Schweigen von Erfolgen als Schlüssel zur Herstellung einer Balance aus kommunikativem und sozialem Handeln, indem der kommunikativen Selbstermächtigung vor dem höfischen Kollektiv die persönliche soziale Abwertung in der Niederlage gegen einen Gegner, der kommunikativen Unterordnung im Schweigen wiederum die soziale Auszeichnung durch den Sieg über einen Gegner korreliert ist. Die Eingangsszene des Iwein kann insofern als intertextuelles Muster für die Regeln im Daniel gelten, auch wenn im späteren Roman erst zur Regel wird, was bei Hartmann noch den Status der Ausnahme hat.143 142
143
Der Doppelcharakter von âventiure als »Handlung und Nachricht von dieser Handlung« und die Notwendigkeit, dass sie am Hof öffentlich wird, zeigt sich bereits in den Artusromanen Hartmanns, vgl. ebd., S. 1–22, Zitat S. 19. Auch Wandhoff, Künec, vernemt von mir!, S. 123–129, sieht die Regel des Daniel im Zusammenhang mit der Eingangsszene des Iwein und mit dem Anfang des Erec. Seine Feststellung, »daß am Anfang der Gattung Artusroman Probleme des ehrenhaften Erzählens [das meint hier, auch wenn es nicht eindeutig definiert ist, ehrmaximierendes Erzählen, C. E.] am Hof stehen« (S. 129), lässt sich präzisieren, wenn man die im Erzählen gegebene Selbstauszeichnung als Grund dafür einbezieht, warum das Erzählen vom eigenen Erfolg allererstprekär oder ›problematisch‹ wird. Die für den Iwein und den Erec beschriebenen Beobachtungen, zum einen Kalogrenants Niederlagen-Erzählung, zum anderen die Delegation von Erfolgsberichten des Helden an Dritte im Erec, erweisen sich damit als konkrete Strategien, diese Problematik zu umgehen. Beide Verfahren gehen in die Regeln des Daniel ein und bilden damit den Versuch, die Problematik doppelter Selbstauszeichnung aufzulösen. Plausibel sind Wandhoffs Überlegungen zum Parzival : Hier ist das (z. T. prahlerische) Erzählen von den eigenen Erfolgen (etwa bei Feirefiz) offenbar unproblematisch, was sich mit der Distanz des Werks zum arthurischen Ehrkodex begründen lässt (ebd., S. 134–137). Becker, Poetik der wehselrede, Kap. 4.3.3., bezieht die Sprech- und Schweigeregeln im Daniel sowohl auf den Prätext des Iwein als auch auf die Regeln des höfischen Diskurses, nach denen Selbstlob prekär ist, hierzu ebd., Kap. 4.2.3.
79 Der Versuch, mit den Sprech- und Schweigeregeln im Daniel eine Lösung für das Paradox der arthurischen Gesellschaft zu instituieren, wird allerdings umgehend desavouiert, denn sowohl die Missachtung als auch die Befolgung der Regeln generieren Lügen. Das wird an den beiden exemplarischen Vertretern der Artusritterschaft, Keie und Gawein, vorgeführt. Keie, der – wie schon im Iwein deutlich wurde – die öffentliche Abwertung seiner eigenen Person nicht ertragen kann (Iwein, V. 159– 182), verstößt im Daniel in jeder Hinsicht gegen die gesetzten Regeln. Zum einen spricht er nicht nur über seine Erfolge, sondern überzeichnet sie auch noch: ern wolde dehein bœse mære von im selber sagen; hæte er einen erslagen, er hæte gesaget, ir wæren drî. (V. 156–159)
Über die gegen Daniel erlittene Niederlage wiederum vermag er nur in Form einer inhaltsleeren Tautologie zu sprechen, die einer Sprechverweigerung gleichkommt: dô frâgte der künec Artûs waz im waere geschehen. dô enwolde er nihtes verjehen, wan daz er zornlîche sprach: »mir ist geschehen daz mir geschach.« (V. 226–230)
Das Resultat ist in beiden Fällen ein Verstoß gegen die Regel, nicht von eigenen Erfolgen, sondern nur von Niederlagen zu erzählen. Dieser erzeugt im ersten Fall eine unwahre, im zweiten Fall gar keine Geschichte.144 Nicht viel anders verhält es sich bei Gawein, der im gegenteiligen Bemühen, sich an die Regeln zu halten, ebenfalls eine unwahre Geschichte erzählt. Gegen den neu an den Artushof gekommenen Daniel muss nicht nur Keie, sondern müssen eine ganze Reihe anderer Artusritter Niederlagen hinnehmen. Erst Gawein, Iwein und Parzival erweisen sich gegenüber Daniel als ebenbürtige Gegner, der Kampf endet unentschieden. Das ist vor dem Hintergrund des narrativen Ziels der Szene, nämlich die Aufnahme Daniels am Artushof zu erreichen, die einzig mögliche Lösung, denn der Gleichstand vermag sowohl die Exzellenz der drei besten Artusritter als auch die auf diesem Niveau gegebene Äquivalenz Daniels auszuweisen. Im Anschluss an die Kampfhandlung bescheinigen sich die Figuren ihre exzellente Gleichwertigkeit, indem sie wechselseitig auf die »frümikeit« des Gegners hinweisen, diesem ihren »dienest« anbieten und 144
Die Artusgesellschaft ist allerdings kompetent genug, Keies invertiertes Normverhalten ihrerseits zu invertieren und dadurch zu sachgerechten Schlüssen zu kommen. Im zweiten Fall führt das zum Auszug der Artusritter, um nachzusehen, »waz her Keiî wære geschehen« (V. 236).
80 das entsprechende Angebot umgehend zurückweisen (V. 308, 323–331). Nachdem Daniel sich so als den Artusrittern gleichwertig erwiesen hat, begibt man sich an den Hof. Von Artus nach dem Vorgefallenen befragt, ist Gawein jedoch außerstande, die tatsächliche Sachlage verbal zu vertreten. Ein Grund dafür ist, dass die kommunikativen Regularien für einen unentschiedenen Kampfausgang keine Handhabe vorsehen. Da Artus ihn jedoch auffordert, Auskunft zu geben, bleibt nur eine Lösung: Gawein erzählt ein den Regeln gemäßes »mære« (V. 358): Daniel habe sich als der beste Ritter erwiesen, von dem man je gehört habe, er habe gegen alle Artusritter und auch gegen ihn selbst gesiegt: swie guot unser wille was, er warf uns al ûf jenez gras. ich bin den er ouch nider warf. unser enheiner der endarf dem andern verwîzen, ern welle denn sich liugens flîzen. (V. 367–372)
Dieses mære hat den Vorteil, dass Gawein es erzählen kann, ohne sich damit selbst auszuzeichnen, zugleich aber Daniel einen Sieg zuschreibt, von dem wiederum nur Dritte, nicht aber Daniel selbst sprechen dürfen. Allerdings – und das ist der Haken – entspricht diese Geschichte eben nicht den Fakten, sie ist – ebenso wie Keies Sieg-Geschichte – eine Lüge, und damit das, was Gawein in seiner Rede gerade auszuschließen versucht hatte. Auch wenn sich Gaweins Lüge aus der exakten Befolgung der arthurischen Sprech-Regeln ableiten lässt, wird sie im Text noch einmal gesondert begründet: daz sprach herre Gawein umbe daz, möhte er in noch gêren baz, daz hæte er gerne getân . ouch wolde er bezzer lop niht hân wan als ander sîn gesellen. ern wolde sich niht zellen tiurre denne ir dehein, der edle ritter Gâwein. (V. 373–380)
Die Begründung macht einmal mehr die aus der simultanen Gültigkeit von Exzellenz- und Äquivalenzgebot entstehenden Paradoxien sichtbar: Zum einen ist der unentschiedene Kampfausgang aus Gaweins Perspektive ein tatsächlicher Ehrzuwachs für Daniel, insofern als er die weitestgehende Annäherung an das arthurische Exzellenz-Ideal darstellt. Diesen Ehrgewinn versucht Gawein mit der absichtsvollen Verbreiterung des Wert-Abstandes zwischen sich und Daniel zu unterstreichen (V. 373– 375). Zum anderen aber ist mit der von ihm selbst, Iwein und Parzival erbrachten Leistung, sich von Daniel nicht besiegen zu lassen, ein Abstand zu den übrigen unterlegenen Artusrittern entstanden, die alle drei aus der (exzellenten) Äquivalenz der arthurischen gesellen heraushebt.
81 Gaweins Lüge nivelliert diesen Abstand, indem sie das Niveau der drei Besten auf das der Übrigen absenkt. Gawein vermeidet auf diese Weise die Zuschreibung von bezzer lop und die Einschätzung, er sei tiurre denne ir dehein. Der Versuch, das arthurische Exzellenz- und Äquivalenzgebot über normierte Sprech- und Schweigegebote in eine Balance zu bringen, scheitert also auch im Daniel. Die skizzierte Lösung erweist sich lediglich als Scheinlösung, ohne das Paradox tatsächlich auflösen zu können. Wie im Iwein aber vermag dieses, Geschichten zu generieren. Dieser Mechanismus lässt sich deutlicher noch an der im Deutschen erst in den nach-hartmannschen Artusromanen etablierten Gewohnheit Artus’ zeigen, nicht zu essen, bevor er nicht eine âventiure gehört hat.145 Im Daniel ist diese Gewohnheit zu einem Eid verfestigt und ausführlich erläutert: Dô der künic Artûs gesach daz im diu werlt des lobes jach, des fröute er sich sêre und gelobte dur ir êre, er wolde vasten alle tage, unz er von sehene ald von sage vernæme ein niuwez mære dâvon ze sagene wære. daz tet er niht wan umbe daz daz sie sich regten deste baz und ritterschefte pflægen und sich dâ niht verlægen. (V. 75–86)
Gemäß der wenig später explizierten site kann dieses niuwe mære ein körperlich sichtbarer Sieg oder – sofern es von Rittern des Hofes selbst vorgetragen wird – die Geschichte einer Niederlage sein. Insbesondere die öffentlich gewordene verletzte Ehre des einzelnen Ritters, die zugleich die Ehre des Kollektivs mindert,146 verlangt nach Kompensation und initiiert auf diese Weise weitere Handlungen.147 Die einzige Szene im Daniel, 145
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Wandhoff, Künec, vernemt von mir!, S. 130f., hat plausibel gemacht, dass es sich bei der ersten Nennung dieser arthurischen Eigenheit in Chrétiens Perceval und Wolframs Parzival um eine spontane Äußerung Artus’ und noch nicht um eine costume handelt. Anders Köhler, Die Rolle des ›Rechtsbrauchs‹, S. 207f. In der deutschen Literatur wird aus dieser Eigenheit ein fester Brauch, vgl. die Belege bei Wandhoff, Künec, vernemt von mir!, S. 131. Dieser Logik entspricht die Reaktion des Artushofs auf Kalogrenants Erzählung im Iwein. Wolfgang Haubrichs hat sie anhand von historiographischen Texten des frühen Mittelalters ausführlich dargestellt, vgl. ders.: Ehre und Konflikt. Zur intersubjektiven Konstitution der adligen Persönlichkeit im früheren Mittelalter. In: Kurt Gärtner / Ingrid Kasten / Frank Shaw (Hrsg.): Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Tübingen 1996, S. 35–58, hier S. 39. So auch Wandhoff, Künec, vernemt von mir!, S.130.
82 bei der es zu einer temporären Essverweigerung Artus’ kommt, führt strukturell einen solchen Fall vor, allerdings ohne dass es sich bei dem Vortragenden um einen Artusritter handelt. Vielmehr fehlt es am Hof selbst an neuen Geschichten: »dô was dehein fremde mære / dannoch für den künic komen« (V. 402f.). Für das erlösende mære sorgt schließlich eine Figur von außen – hier der Botenriese König Maturs – (V. 400– 479), dessen anmaßendes Unterwerfungsgesuch zugleich die handlungsinitiierende Ehrverletzung impliziert.148 Die Begründung, die für Artus’ Gelöbnis gegeben wird, ließe sich in dieser Hinsicht verstehen: Der Vortrag einer Kompensation verlangenden Niederlagen-Geschichte ist demnach notwendig, um die Ritter am Hof zum Beweis ihrer ritterlichen Tüchtigkeit herauszufordern, damit diese nicht – dem Muster des Erec gemäß – brachzuliegen beginnt. Nach dieser Logik generieren mæren ritterliche âventiuren. In der ordnenden Rückschau eines Erzählers werden âventiure-Handlungen wiederum zu âventiure-Erzählungen, also zu mæren,149 so dass Artus’ Begründung letztlich zirkulären Charakter hat: Das mære erzeugt âventiuren, die wiederum niuwe mæren erzeugen.150 Die Begründung zu Artus’ Gelöbnis hat für den hier verhandelten Zusammenhang von kommunikativem und sozialem Handeln noch eine weitere Dimension: Indem der Vortrag eines niuwen mære im Rahmen der Hofgesellschaft die Konstitution höfischer Geselligkeit im gemeinschaftsstiftenden Mahl entweder ermöglicht oder im Fall ihres Ausbleibens verhindert, wird das Erzählen vor dem Hof zur notwendigen Bedingung für die Konstitution höfischer Geselligkeit; der kommunikative Akt des Erzählens und der soziale Akt geselliger Formation werden kausal verknüpft. Der Vortrag einer Erzählung vor einem höfischen Kollektiv ermöglicht dessen soziale Stabilisierung, indem er die paritätische Ordnung höfischer Geselligkeit durch eine vertikale kommunikative Ordnung auf 148
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Der Botschaft des Riesen kommt an dieser Stelle die Funktion eines mære zu, ohne dass sie im strengen Sinne eines ist. Ein vollständiges mære ergibt sich erst über die folgenden Handlungen. Als Generator von Handlungen, die sich zu einer Erzählung formieren, lässt sich das von Artus geforderte niuwe mære insofern als autopoetisches (präziser noch: autopoetologisches) System beschreiben. Zum Begriff der Autopoeisis vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984 (= stw, 666), S. 30–91, bes. S. 57–65; sowie Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Opladen 1990 (= WV-Studium, 157), S. 53–55. Zur semantischen und poetologischen Qualität der Begriffe âventiure und mære vgl. Hartmut Bleumer: Im Feld der âventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischenLeitvokabel.In: Dicke / Eikelmann / Hasebrink (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes, S. 347–367. Auf diesen narrativ dargestellten Zusammenhang der semantischen Entwicklung von âventiure als Handlung zu âventiure als Erzählung hat Peter Strohschneider verwiesen, vgl. ders.: âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze. In: Dicke / Eikelmann / Hasebrink (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes, S. 377–383.
83 Dauer stellt und somit der Institutionalisierung der geselligen Situation zuarbeitet. Das Ausbleiben der Erzählung leistet im Gegenzug dem sozialen Zerfall der Gesellschaft Vorschub. Eine strukturelle Analogie findet diese Verknüpfung in der Relation von ritterschaft und verligen: Als intertextuelle Referenz auf den Erec ist das verligen eine Chiffre für den hierdurch ausgelösten Verfall des (geselligen) Hoflebens (also die fehlenden Turniere, den Verlust der höfischen vröide, vgl. Erec, V. 2974–2992), dem ritterschaft, also die Ausübung ritterlicher Taten, vorbeugen soll.151 Die Absenz einer Erzählung von ritterlichen âventiure-Handlungen verweist somit ebenso wie die Absenz ritterlicher âventiure-Handlungen im verligen auf eine Störung der höfischen Gesellschaft, die letztlich zu deren Zersetzung führen kann. Indem aber mæren âventiuren auslösen, die wiederum mæren erzeugen, wird der soziale Verband des Hofes in doppelter Weise stabilisiert: âventiure-Handlungen stabilisieren die soziale Ordnung des Hofes, mæren als âventiure-Erzählungen stabilisieren und verstetigen wiederum die gesellige Ordnung als deren spielerisches Spiegelbild. Damit erweist sich Artus’ Gelöbnis der Intention nach gleich in zweifacher Hinsicht als präventive Maßnahme zum Erhalt der höfischen Ordnung, der das Risiko gegenteiliger Folgen allerdings stets immanent ist. Abschließend soll die Becherprobe in der Crône Heinrichs von dem Türlin in den Blick genommen werden.152 Sie lässt sich neben dem Daniel als weiterer Beleg für die produktive Rezeption der im Iwein entfalteten narrativen Darstellungsmöglichkeit ansehen, nach der die gesellige Kommunikation zum Aushandlungsraum für die sozialen Paradoxien der Artusgesellschaft wird.153
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Die Spiegelung der Relation von ritterschaft und verligen auf der Ebene höfischgeselliger Kommunikation scheint ein besonderes Merkmal des Daniel zu sein. Es verweist auf die Subtilität, mit der sich der Erzähler der Paradoxien des arthurischen Sozialmodells annimmt. Das setzt sich im Verlauf des Romans fort, wenn ein geselle König Artus’ selbst zum König wird, dessen Königin sich Artus wiederum unterwirft. Zu den Tugendproben in der Crône vgl. Hartmut Bleumer: Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans. Tübingen 1997 (= MTU, 112), S. 255–263; ausführliche kommunikationsanalytische und spieltheroretische Beobachtungen zur Becherprobe bei Thomas Gutwald: Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungenhöfischer Interaktion in der »Crône« des Heinrich von dem Türlin. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (= Mikrokosmos, 55), S. 123–194; der Stand der älteren Forschung ist zusammengefasst bei Wennerhold, Späte mittelhochdeutsche Artusromane, S. 198–200. Angedeutet ist dieser Zusammenhang bei Wandhoff, Künec, vernemt von mir!, S. 129f.
84 Die Becherprobe steht am Anfang der Crône:154 Zu Weihnachten hält Artus ein großes Fest ab, zu dem er eine große Zahl an hochrangigen Gästen aus den verschiedensten Ländern einlädt. Die im Iwein nur stichwortartig aufgelisteten höfischen Aktivitäten werden entfaltet (V. 632–658), unter anderem wird ein großes Turnier ausgerichtet (V. 698–892). Beim anschließenden Mahl wird auf den aus dem arthurischen Essgelöbnis bekannten Zusammenhang von Essensaufnahme und (erzählter) âventiure angespielt: Nâch der âventiure sage Dô an dem wîhennehten tage Artûs ze tische saz Und mit sînen gesten az Nâch des hoves gewonheit, Dô wart rede vil gereit Von disen und von jenen, Niwan daz ein senen Sie alle sament twanc, Daz nâch âventiure ranc. Diu rede von tische ze tische gienc Und aller willen sô gevienc, Daz si ir selber vergâzen Unde ungâz sazen Niwan von disen dingen. (V. 918–932)
Entsprechend der von Artus gesetzten Regel kommt es zu einer Störung der Mahlgemeinschaft, da das gemeinsame Essen unterbrochen wird. Grund dafür ist jedoch kein Mangel, sondern ein Übermaß an zu erzählenden âventiuren, das durch den ›geistigen Hunger‹ (das senen nâch âventiure) der versammelten Gesellschaft hervorgerufen wird. Die rede von âventiure schlägt die Gesellschaft schließlich so in ihren Bann, dass sie
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Aus Gründen der Lesbarkeit wird der Text der Becherprobeim Folgenden nach der viel kritisierten alten Ausgabe von Scholl zitiert: Diu Crône von Heinrîch von dem Türlîn. Zum ersten Male hrsg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. Stuttgart 1852 (= Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, 27) [Nachdr. Amsterdam 1966], V. 457–3207. Die zitierten Passagen wurden auf Abweichungen zur neuen Ausgabe von Knapp und Niesner überprüft, vgl. Heinrich von dem Türlin: Die Krone (Verse 1–12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner. Tübingen 2000 (= ATB, 112). Für diese Passagen gehen die Differenzen zwischen den beiden edierten Texten – jenseitsvon Fragender Graphie – überwiegendauf Fassungsvariantenzurück: Scholl hat sowohl Lesarten der älteren Hs. V als auch der jüngeren Hs. P, während Knapp / Niesner Hs. V als Leithandschrift ansetzen. Konjekturen konnten für die hier interessierenden Abschnitte in der Edition von Scholl nicht ausgemacht werden, wohl aber in der von Knapp / Niesner, vgl. Heinrich, Die Krone, V. 1849. Nur in einem Fall ist die Varianz der Lesarten von semantischer Relevanz, dieser Fall ist in den Anmerkungen kommentiert.
85 das Essen vergisst.155 Während die Konstitution der Mahlgemeinschaft misslingt, konstituiert sich stattdessen eine Erzählgemeinschaft. Das senen der Artusgesellschaft macht nun den Auftritt des fischgestaltigen Boten plausibel, der im Auftrag des Meerkönigs Priure an den Hof kommt. Dieser kündigt Artus eine Gabe an, an die jedoch eine Forderung gekoppelt ist, deren Gewährung der Bote Artus in der Manier des vorbehaltlosen Versprechens (rash boon), also ohne dass Artus der Inhalt der Forderung bekannt ist und er daher deren Folgen abzuschätzen vermöchte, abverlangt (V. 1003–1039).156 Die Gewährung dieser »bete« (V. 1022ff.) ist für Artus Ehrensache. Sie ist logische Konsequenz aus dem Prinzip, diejenigen, die zu ihm gehören und die sich an ihn wenden, gleichzubehandeln, betont also sowohl die horizontale Struktur der (Artus-)Ritterschaft als auch die paritätische Relation zwischen Artus und seinen Rittern. Der Bote präsentiert daraufhin einen kostbaren Becher, der die magische Eigenschaft hat, die Tugendhaftigkeit derjenigen anzuzeigen, die ihn benutzen: Er versagt all jenen den Dienst, die ein »valschez« oder »gemeiltez herze« besitzen oder ihre Liebste bzw. ihren Liebsten betrügen (V. 1132, 1136–1138, 1143–1146). Der Becher vermag also innere, unsichtbare Dispositionen zu veräußerlichen und über das Verschütten des Weines sichtbar zu machen.157 Die Forderung des Boten hat den umfassenden Gebrauch des Bechers zum Ziel: Der gesamten Gesellschaft – sowohl den Rittern als auch den Damen – solle er gereicht werden, um ihre Tugendhaftigkeit zu prüfen (V. 1147–1162). Die Hofgesellschaft drängt Artus dazu, die dem Becher zugeschriebene Eigenschaft ausprobieren zu lassen, dieser bekräftigt noch einmal sein schon im Vorhinein gegebenes Versprechen. Die Durchführung der Becherprobe – in einem ersten Teil an sämtlichen Damen, in einem zweiten an sämtlichen Rittern – erweist nun alle Probanden mit der einzigen Ausnahme des Königs selbst als moralisch defizitär. Sie steht damit einerseits in der Tradition der aus der Artusliteratur bereits bekannten Tugendproben,158 in denen ebenfalls 155
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Die Szene liefert damit einen weiteren Beleg für die kulturelleKonvention,nach der Essen und Erzählen als unvereinbar gelten; vgl. hierzu grundsätzlich Lieb, Essen und Erzählen, S. 45, der den Beleg allerdings nicht behandelt. Zu diesem Motiv vgl. Köhler, Rolle des ›Rechtsbrauchs‹, S. 208. Dazu Gutwald, Schwank und Artushof, S. 135–143. Vgl. die Mantelprobe im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven (Lanzelet. Eine Erzählung von Ulrich von Zatzikhoven. Hrsg. von Karl August Hahn. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman. Berlin 1965 [Nachdruck der Ausgabe Frankfurta. M. 1845], V. 5679–6228) und im Ambraser Mantel Fragment (Das Ambraser Mantel-Fragment. Nach der einzigen Handschrift neu hrsg. von Werner Schröder. Stuttgart 1995 [= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M., 33,5], V. 110–151), sowie die Handschuhprobein der Crône selbst (V. 22989–24699). Zu den französischen Mustern vgl. Der Mantel. Bruchstück eines Lanzeletromans
86 nur eines der getesteten Hofmitglieder die Probe besteht, andererseits ist die Probe hier beträchtlich erweitert, indem ihr nicht nur einige, sondern alle Teilnehmer des Hoffestes unterzogen werden. Auf der Basis dessen, was sich faktisch abspielt, ist das Ergebnis der Becherprobe ein Desaster für den Artushof, insofern als es die kollektive Abwertung der Artusgesellschaft – mit Ausnahme von Artus selbst – vorführt. In seiner Wirkung wird es noch verstärkt durch den öffentlichen Charakter dieser Vorführung und durch die Tatsache, dass es sich im Angesicht eines hoffremden Zeugen abspielt. Die Einschätzung des Boten, Artus sei auf Grund seiner »werden lobes krôn« weithin bekannt (V. 1010f.), die als Synekdoche auf dessen Hof zu übertragen ist, erweist sich allein für die Person des Königs als gültig.159 Die im Text dargestellten Reaktionen der Figuren bilden allerdings einen deutlichen Kontrast zu dieser Faktenlage: Tatsächlich scheint weder der Hof selbst noch der Bote das Ergebnis der Probe in dieser Weise wahrzunehmen. Ganz im Gegenteil: In der Hofgesellschaft wird die Becherprobe offenbar als unterhaltsames Spiel aufgefasst.160 Es stillt überdies jenes Verlangen nach âventiure, das sich zu Beginn des Festmahls breit gemacht hatte und sorgt für »kurzwîle« (V. 3190–3204, hier V. 3193). Die Becherprobe mündet somit weder in kollektive Niedergeschlagenheit noch generiert sie das Begehren nach Kompensation für die erlittene Schmach. Vielmehr stabilisiert sie die festliche vröude: Sus werte der hof drî tage Mit solhen vröuden, als ich sage, In vil grôzem vollen. (V. 3205–3207)
Und auch der Bote geht in seiner anfänglichen Einschätzung bestätigt wieder von dannen: Artûs, du bist ein krône Und ein spiegel aller êren. […] Lât mich haben iuwern gruoz, Urloup unde hulde; Wan ir ein übergulde Gar aller tugende sît: Daz müeze wesen âne strît,
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des Heinrich von dem Türlin, nebst einer Abhandlung über die Sage vom Trinkhorn und Mantel und die Quelle der Krone. Hrsg. von Otto Warnatsch. Nachdruck der Ausg. Breslau 1883. Hildesheim / New York 1977 (= Germanistische Abhandlungen, 2), S. 58–84. In dieser Hinsicht hat das vorbehaltlose Versprechen des Königs die üblichen katastrophalen Folgen für den Hof. Auf dieser Beobachtung liegt der Hauptakzent der Lektüre von Gutwald, Schwank und Artushof, S. 167–194; vgl. zu den im Spielverlauf sichtbar werdenden sozialen Nivellierungsprozessen bes. S. 178, zur Konstitution des ›arthurischen Systems‹ im Spiel bes. S. 182–187.
87 Die wîle ich gereden mac. Iu hât gevrumet dirre tac Vil gar an iuwerm prîse (V. 3110–3123).
Es fragt sich, wie diese – dem Ergebnis der Probe diametral entgegenstehende – Wahrnehmung der Figuren zu erklären ist. Auf welche Weise also vermag die Becherprobe die festliche Geselligkeit der Artusgesellschaft zu stabilisieren, obwohl sie deren gemeinsamen Wertehorizont – faktisch – doch konsequent und umfassend als Schein entlarvt?161 Eine Antwort lässt sich finden, wenn man berücksichtigt, dass die Probe neben dem körperlichen vor allem auch einen kommunikativen Aspekt hat, da Keie das Ergebnis der einzelnen Proben in den meisten der dargestellten Fälle ironisch kommentiert.162 Im Verlauf der DamenProben etabliert er dabei die Praxis, die Verfehlungen der Figuren aus ihrer – z. T. bereits aus der Artusliteratur bekannten – Biographie zu erläutern.163 Die Kommentare werden somit um ein narratives Moment ergänzt. Diese Kombination aus Kommentar und biographischer Erzählung verschiebt den Fokus der Szene von der körperlichen Aktion auf die kommunikative Interaktion. In der Forschung ist diese intertextuelle »Revue der prominentesten Figuren der Gattung«164 und ihrer jeweiligen Geschichten als Strategie des Erzählers gewertet worden, seinen Roman in die bekannte Artuswelt einzuschreiben und die Erzählwelt mit einer »fiktiven Vergangenheit« auszustatten.165 Da die intertextuellen Anspielungen im Teil der Ritter-Proben allerdings nur in zwei Fällen Figuren-
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Zu diesem Paradox auch ebd., S. 146–148, S. 167. Bleumer, Die ›Crône‹, S. 261, argumentiert mit der Poetologie des Textes, wenn er festhält, es gehe gerade nicht »um eine Kritik an der Qualität der einzelnen Figuren […], sondern um eine kritische Musterung der Regeln ihres literarischen Verhaltens«, deshalb könne der »Umgang mit den Rollen und dem Material der Gattung […] in der heiteren Grundstimmung spielerisch« bleiben. Vgl. Martin Baisch: Welt ir: er vervellet; / Wellent ir: er ist genesen! Zur Figur Keies in Heinrichs von dem Türlîn »Diu Crône«. In: M. B. u. a. (Hrsg.): Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2003 (= Aventiuren, 1), S. 149–173, zu Keies Rolle in den Tugendproben bes. S. 153–159. Aus Hartmanns oder Chrétiens Romanen bekannte Informationen zitieren die Kommentare zu Laudine (V. 1341–1360), Enite (V. 1368–1388) und Blanscheflur (V. 1566–1589), ohne literarische Vorlage ist der biographische Kommentar zu der Figur der Parthie (V. 1413–1425). Vgl. die Übersicht bei Christoph Cormeau: »Wigalois« und »Diu Crône«. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans. München 1977 (= MTU, 57), S. 165–208; Gutwald, Schwank und Artushof, S. 132f.; Baisch, Zur Figur Keies, S. 154f. (dort auch weitere Literatur). Bleumer, Die ›Crône‹, S. 257. Cormeau, »Wigalois« und »Diu Crône«, S. 200–208, hier S. 207, spricht davon, dass der Erzähler auf diese Weise »einen kontinuierlichen Fiktionsraum [suggeriere], in dem seine eigene Erzählung stattfindet«; ebenso Bleumer, Die ›Crône‹, S. 258.
88 rede Keies sind,166 in den überwiegenden Fällen dagegen seinem Kommentar als Erzählerrede vorangestellt werden167 oder diesen ergänzen,168 ist damit vor allem eine Funktion definiert, die die Zitate für ein textexternes Publikum übernehmen.169 Dass der Zyklus zitierter Geschichten im Text nicht zum zyklischen Erzählen wird, lässt sich vor allem mit dieser Aufspaltung der zitierenden Instanz begründen. Für die Wirkung, die die verbalen Kommentierungen der Becherproben für das textinterne Publikum entfalten, können insofern nur jene Kommentare herangezogen werden, die der Figur Keie zuzuordnen sind, denn nur dessen Kommentare sind für die Artusgesellschaft wahrnehmbar. Neben der vergemeinschaftenden Funktion, die aus den Anspielungen auf das kollektive Gedächtnis der Figuren resultiert, ist somit vor allem das Verhältnis des Kommentars zum Ergebnis der Probe von Belang. Unabhängig davon, worauf Keies Kommentare jeweils inhaltlich abzielen – ob er die missglückte Probe mit dem Gewicht des Bechers und der körperlichen Schwäche der Frauen vermeintlich zu rechtfertigen sucht (V. 1241–1272), das Missgeschick des Weinvergießens als besondere Geschicklichkeit ironisch invertiert (V. 1312–1317) oder aber die Hintergründe der sichtbar gewordenen Verfehlung offenlegt –, werden seine Äußerungen von der Artusgesellschaft als »spot« interpretiert (V. 1239, 1434 u. ö.). Als solcher ist er die hörbare Verlängerung der bereits sichtbaren moralischen Verfehlung der getesteten Figuren und lässt sich ganz allgemein als Intensivierung der öffentlich gewordenen Schande auffassen. Die Reaktion des Publikums auf die doppelte Bloßstellung ist affektiv: Es lacht. Dieses Lachen hat aber – anders als etwa von Gutwald behauptet – keine vergemeinschaftende Funktion,170 denn es ist ein heimliches, schadenfrohes Lachen: Dirre rede sô begunden Die geste mit den kunden Und erlachten vil tougen Daz sô gar âne lougen Dâ an den vrouwen schein Valsches und unstæte mein, Und daz von dem kopfe ergienc, 166 167
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Vgl. Keies Kommentarezu Iwein (V. 2189–2192) und zu Calocreant(V. 2199–2207). Vgl. die Erzählerkommentare zum Herrn von Brisaz (V. 1935–1942), zum König von Ethiopia (V. 1972–1979), zu Gawein (V. 1994–2024; 2031–2069) und zu Lanzelet (V. 2074–2126). Im Fall von Erec und Parzival greift Keies Kommentar biographische Informationen auf, die der Erzähler zuvor gegeben hat, vgl. zu Erec V. 2163–2178; zu Parzival V. 2212–2241. Die bisherigeFixierungder Forschungauf die intertextuellenAnspielungenund die damit verbundeneVernachlässigung der textimmanenten Funktion der Spottreden konstatiert auch Gutwald, Schwank und Artushof, S. 132f. Gutwald, Schwank und Artushof, S. 167–173.
89 Und daz Keii undervienc Ir missetât gar mit spot. (V. 1426–1434)
Auch Artus und Gawein können sich der komischen Wirkung der Becherprobe und ihrer Kommentierung durch Keie, die wider Erwarten selbst ihre eigenen Damen entlarvt, nicht entziehen:171 Artûs unde Gâwein Die lachten under in zwein Von dirre ungeschihte, Diu zir aller gesihte An ir âmien ergienc, Dô er sie âne valsch vienc Und beswârte sie iedoch. (V. 1318–1324)
Auch ihr Lachen ist jedoch kein öffentliches, lautes Lachen. Dass das, was sich vor ihren Augen abspielt, zugleich höchst ambivalent und in seinen Folgen für die Hofgesellschaft nicht abschätzbar ist, steht beiden Figuren vielmehr deutlich vor Augen:172 Sie sprâchen: Waz wirt sîn noch, Do er sich sô snelle üebet? Ez wirt noch der betrüebet, Der mit gemache wænet sîn. (V. 1325–1328)
Zunächst einmal also sind Keies Kommentare der Gemeinschaft eher abträglich: Der Ehrverlust der einzelnen Geprüften wird im Spott verstärkt und das umgebende Publikum distanziert sich von den einzelnen Mitgliedern, indem es mit Schadenfreude reagiert. Selbst das hieraus resultierende Lachen hat als tougenlîches Lachen keine vergemeinschaftende, sondern eher zersetzende Wirkung.173 Entsprechend pessimistisch fällt der Erzählerkommentar zum Abschluss der Damen-Proben aus: Mit dirre missewende Vielen die vrouwen alle Mit gemeinem valle; Kei ruogete sie mit schalle. (V. 1627–1630) 171
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Das gilt nur für Hs. P, Hs. V hat in V. 1319 clagten statt lachten, vgl. Heinrich, Die Krone. Damit wird hier der komische Effekt der Probe ganz zurückgedrängt, allein die Sorge der beiden ersten Repräsentanten des Hofes um dessen Reputation steht im Vordergrund. Dass auch der Text von Hs. V das Nebeneinander von Komik und Gefährdung kennt, beweisen allerdings die V. 1863–66: »Der graue vnd der vrye / Der chünig mit dem herzogen, / Die heten sich ingezogen / Gämelich in diese chlag.«, vgl. Heinrich, Die Krone. In diesem Fall hat Hs. P anstelle des sperrigen gämelich ein den Gegensatz nivellierendes gemeinlîch (Diu Crône, V. 1866). Es ist somit fraglich,ob die Lesart von Hs. V in V. 1319 Priorität vor der Lesart in P haben kann. Leider kommentieren weder die Edition von Scholl noch die von Knapp / Niesner diese Variante, vgl. aber Baisch, Zur Figur Keies, S. 156. Dass es hier auf die »aus Spaß und Ernst gemischte Stimmung« ankommt, betont auch Bleumer, Die ›Crône‹, S. 260f. Gegen die These von Gutwald, Schwank und Artushof, S. 167–173, dass sich der Spielcharakter der Becherprobe vor allem im kollektiven Lachen der Artusgesell-
90 Im ersten Teil der Becherprobe ist von einer sozialen Stabilisierung und gemeinschaftskonstituierenden Wirkung des geselligen Spiels also nichts zu bemerken, das Ergebnis der Proben zielt vielmehr auf das genaue Gegenteil. Eine Veränderung zeichnet sich erst mit dem exakt zwischen Damen- und Ritterproben positionierten Streit zwischen Artus und Keie ab: Grund ist die Bitte des Fischboten, den Wein zu verkosten, bevor er den Becher an Artus übergibt und damit den zweiten Teil der Probe einläutet. Keie kommentiert die Bitte des Boten, indem er ihm unterstellt, er wolle durch seinen Weintest nicht nur Artus’ Qualität als Gastgeber anzweifeln, sondern sich auch unberechtigterweise die erste Position sichern. Diese Rede zieht eine ausführliche Rüge des Königs nach sich (V. 1726–1763). Zugleich aber lässt sich Artus insoweit auf Keies Argumente ein, als er entgegen der Bitte des Boten die erste Trinkprobe für sich reklamiert (V. 1764–1777). Keie fühlt sich zwar gedemütigt, reagiert aber dennoch erneut mit spot : Er sprach: Ay, herre, Ir künnet ouch schelten? Welt ir mich des lân engelten, Daz iuch der durst twinget? (V. 1785–1788)
Dieser Kommentar provoziert wiederum heimliches Lachen auf der Seite des Publikums, diesmal aber ist das Objekt des Lachens nicht der verspottete König, sondern vielmehr Keie, dessen art ihn nicht einmal den König von seinem Hohn ausnehmen lässt: Als nû Keiî die rede gereit Und an den künec selben leit Disen schimpf und solhen spot, Die cumpanîe und der bot Die begunden lachen tougen ; Diese winkten mit den ougen , Jene stiezen mit den ellenbogen ; Dirre sprach: Uns hât bezogen Ein tœtlîcher donreslac, Dem niemen wol entwîchen mac; Wir sint übel her komen, Uns wirt noch hiute hie benomen Unser wert und unser êre (V. 1815–1827). schaft erweise, spricht nicht nur, dass es sich bei allen Belegen für das Lachen der Hofgesellschaft um tougenlîches und damit gerade nicht um ein alle Anwesenden vereinnahmendes Lachen handelt, sondern auch, dass die Belege für das Lachen der Artusgesellschaft nur im ersten Teil der Becherprobe, also im Kontext der Damenproben, zu finden sind. Von dem Moment an, in dem die Artusgesellschaft tatsächlich zu einer geselligen Gemeinschaft wird – das ist, wie zu zeigen sein wird, der Übergang zwischen Damen- und Ritterproben – findet sich vielmehr kein einziger weiterer Lach-Beleg. Damit zeigt sich deutlich, dass das Lachen als vergemeinschaftender, konsensschaffender Affekt hier – ganz anders als etwa im Decameron – keine Bedeutung hat.
91 In dieser Szene bleibt es allerdings nicht bei dem heimlichen Lachen, vielmehr ist dieses lediglich der Auslöser für die Herstellung eines übergreifenden Konsenses, der zunächst – über Blicke und Berührungen – körperlichen, dann aber auch verbalen Ausdruck findet: Die Gesellschaft stellt fest, dass sie einem kollektiven Ehrverlust unterworfen ist, für den sie in erster Linie Keie und seine einem tœtlîchen donreslac ähnlichen Kommentare verantwortlich macht (V. 1828–1845). Gesellschaftlicher Schaden ist somit zwar entstanden (V. 1839, 1843), dieser wird aber zum einen durch die Tatsache kompensiert, dass auch Artus in den Spott einbezogen wird und damit die gleiche Behandlung erfährt wie seine Höflinge, zum anderen dadurch, dass er den Spott »âne schulde«, also grundlos, auf sich zieht:174 Wer möht vor Keiî belîben Ungespottet nâch der missetât, Sô er den künec gespottet hât, Sînen herren, âne schulde? (V. 1846–1849)
Wenn aber Keies Spott alle Beteiligten ausnahmslos treffen kann und zwar unabhängig davon, ob es dafür berechtigte Gründe gibt, dann ist er lediglich ein regelhafter Mechanismus, der kaum dazu taugt, einzelne sozial zu degradieren. Die kollektive Abwertung der Hofgesellschaft durch Keies Kommentare neutralisiert somit die individuelle Abwertung und erweist sich damit vielmehr als ein kommunikatives Instrument geselliger Vergemeinschaftung. Das wird in der folgenden Beschreibung der aufgeregten Diskussion, die die Artusgesellschaft erfasst, besonders deutlich (V. 1854–1886): Sich huop ein grôz ungehabe Hin und her in dem sale, ˆ eneben und ze tale Uf, Under dirre massenîe. (V. 1859–1862)
Die den Raum horizontal und vertikal durchmessende Bewegung der verbalen Interaktion spiegelt die sozialen Relationen und Differenzen der nach sozialer Herkunft stratifizierten Gesellschaft, die sich erst in der gemeinsamen Klage über die Folge der Becherprobe allmählich zu gesellen formiert:
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Dass Artus die Becherprobe als einziger erfolgreich besteht, liefert eine nachträgliche Bestätigung für den tatsächlich grundlosen Spott Keies. Während Artus von Keie verspottet wird, obwohl er die Probe besteht, ist der Mechanismus bei Gawein genau umgekehrt: Dieser besteht zwar die Probe nicht, bleibt aber als einzige Figur von Keies Spott verschont und wird stattdessenausführlichdurch den Erzähler gerechtfertigt. Der Sonderstellung, die diesen beiden Figuren im arthurischen System exzellenter Äquivalenz zukommt, wird somit auch in diesem Text Rechnung getragen.
92 Der grâve und der vrîe, Der künec mit dem herzogen Die hetten sich hin gezogen Gemeinlîch in dise klage. Waz touc ez, obe ich sage, Wie dirre streit, wie jener kleit, Wie einer sûfte umb daz leit, Und wie dort jene gesellen Bâten got denselben vellen, Der den kopf ie gemachet, Und wie der ander lachet, Daz sîn geselle trûret. (V. 1863–1874)
Was die vertikal geordnete Gesellschaft schließlich zu einer horizontal strukturierten macht,175 ist also paradoxerweise der »gemeine ungewin« (V. 1879) und das Gift des Spottes, das sich gleichmäßig unter ihnen verbreitet und selbst die Differenzen zwischen arm und reich so einzuebnen vermag: Dâ bî was ein galle, Diu iegelîchen meilet, Ir gift sich underteilet Under in sô gelîch, Daz sîn arm unde rîch Heten mêre danne genuoc. (V. 1881–1886)
Folgerichtig kann am Ende der Beschreibung die Tafelrunde als Symbol der entstratifizierten Gesellschaft in den Blick des Textrezipienten rücken (V. 1888). Der Konsens der Artusgesellschaft über den vergemeinschaftenden Charakter sowohl der Probe als auch des Keieschen Spotts liefert wiederum die Erklärung dafür, dass der in der Becherprobe öffentlich sichtbar gewordene Ehrverlust aller Mitglieder des Hofs (mit der Ausnahme von Artus) keine erkennbaren Folgen nach sich zieht. Der Spott Keies bewirkt somit paradoxerweise das genaue Gegenteil dessen, was er zunächst intendiert: Statt den individuellen Ehrverlust der getesteten Figuren zu intensivieren und ihre Differenz zum untadeligen König herauszustreichen, gleicht die Einbeziehung Artus’ in den alle treffenden Spott die soziale Abwertung durch die Probe vielmehr aus. Als kommunikativem Modus in einem höfisch-geselligen Kontext kommen Keies Spott damit mehrere Funktionen zu: Zum einen zeichnet er einzelne Figuren vor dem Kollektiv aus, indem er sie zum Thema macht, zum anderen nivelliert er diese Auszeichnung umgehend, indem er ihren Ehrverlust zu vertiefen sucht. Zugleich ist er der Auslöser für jene Vergemeinschaftung der Artusgesellschaft, die zunächst weder im 175
Den sich hier abzeichnenden Prozess sozialer Nivellierung fasst Gutwald, Schwank und Artushof, S. 178, als spielkonstituierende Regel der Irrelevanz auf.
93 gemeinsamen Mahl, noch im heimlichen Gelächter über die in der Probe Geschädigten zustande gekommen war, die mit der Einbeziehung Artus’ in die kollektive Verspottung aber in der Überführung von vertikalen in horizontale soziale Beziehungen sichtbar wird. In dieser Hinsicht ist die Becherprobe der Crône ein Beispiel für die produktive Rezeption jenes Mechanismus von geselliger Kommunikation, wie er bereits im Iwein zu beobachten war.
3.3
Zwischenresümee: Paradigmen geselliger Kommunikation in mittelalterlicher Literatur
Die exemplarische Analyse literarischer Inszenierungen von geselliger Kommunikation führt für die deutschsprachige höfische Literatur des hohen und späten Mittelalters zu folgenden Beobachtungen: 1) Die vorgestellten Textbeispiele gehören vorwiegend in den Kontext höfischer Kultur.176 Die Vorstellungen, wie sie in den Texten entworfen werden, zielen dabei auf die Beteiligung beider Geschlechter. Höfische Geselligkeit ist also in der Regel ein heterosoziales Phänomen. Damit unterscheidet sie sich markant von den homosozialen Geselligkeitsvorstellungen antiker Provenienz.177 Homosoziale Geselligkeitsmodelle finden im Anschluss hieran erst wieder im Spätmittelalter literarischen Niederschlag, so etwa in den angeblich im päpstlichen Bugiale entstandenen Facetien Poggios178 und den gelehrten convivia des Erasmus (vgl. hierzu Kap. 6.3).179 Die Heterosozialität höfischer Geselligkeit beeinflusst
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Ausnahmen sind das Hochzeitsmahl in Wittenwilers Ring sowie z. T. auch die in den Märeneingängen aufgerufenen Szenen. Vgl. etwa die philosophische Männerrunde in Platons Symposion, bei dem selbst die Tänzerinnenaus dem Raum beordertwerden,oder die politischeRunde in Ciceros Orator. Vgl. das »Schlusswort« in: Die Facezien des Florentiners Poggio. Nach der Übersetzung von Hanns Floerke. Holzschnitte von Werner Klemke. Hanau 1967, S. 317f.; hierzu Wilfried Barner: Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien. In: Walter Haug / Burghart Wachinger (Hrsg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993 (= Fortuna vitrea, 8), S. 287–310, bes. S. 294–301. Literarische Belege, die homosoziale Geselligkeit etwa in der monastischen Kultur des Mittelalters nachweisen würden, sind rar. Ein Text wie die Mensa philosophica, der Materialien für die klösterliche Tischlesung bereithält, kann zwar als Indiz für eine solche gelten, überliefert aber selbst keinen Geselligkeitsentwurf, vgl. Franz Josef Worstbrock: Art. Mensa philosophica. In: 2 VL 6 (1987), Sp. 395–398; sowie Burghart Wachinger: Convivium fabulosum. Erzählen bei Tisch im 15. und 16. Jahrhundert, besonders in der »Mensa philosophica« und bei Erasmus und Luther. In: Haug / Wachinger(Hrsg.), KleinereErzählformendes 15. und 16. Jahrhunderts, S. 256–286, hier S. 266–279.
94 sowohl die soziale als auch die kommunikative Ordnung der jeweiligen Gruppe (hierzu Punkt 5). 2) Gemäß der Etymologie des mittelhochdeutschen Wortes gesellecheit setzt gesellige Interaktion einen zwischen den Beteiligten bestehenden Kontrakt voraus. Die – wenn auch nur temporäre – Stabilisierung und Verstetigung der horizontalen Sozialordnung ist in den meisten der behandelten Fallbeispiele durch den kommunikativen Modus der geselligen Runde gewährleistet, der diese mit einer sekundären hierarchischen Ordnung versieht, in der der Sprecher – in der Regel über einen Lied- oder Erzählvortrag – gegenüber dem zuhörenden Publikum eine herausgehobene Position einnimmt.180 Dass die horizontale Struktur der geselligen Runde nicht nur durch die kommunikative Ordnung, sondern zusätzlich durch eine vertikale soziale Ordnung stabilisiert sein kann, zeigt sich im Ansatz anhand der Ordnungsinstanz der Minne in Flore und Blanscheflur, deutlicher noch wird es über das Agieren Ginovers als gesellige Königin in der Eingangsszene des Iwein. Dieses in den mittelalterlichen Texten nur randständig zu beobachtende Phänomen wird in den Texten Boccaccios zu einem zentralen Merkmal von geselliger Interaktion. 3) Die für literarische Darstellungen von geselliger Interaktion symptomatischen Überlagerungen von horizontalen und vertikalen Ordnungen lassen sich zwar in den mittelhochdeutschen Texten beobachten, sie werden in diesen Texten aber nicht zum Gegenstand einer separaten Reflexion. Vielmehr lassen sie sich als ein kulturelles Muster beschreiben, das in den Texten Boccaccios – wie zu zeigen sein wird – aufgegriffen und kunstvoll variiert wird. 4) Auch wenn den Mechanismen höfischer Geselligkeit in der mittelalterlichen Literatur kein autonomer Status zukommt, über den reflektiert würde, erfüllen sie doch – vor allem im Kontext der Artusliteratur – durchaus komplexe Funktionen. Es zeigt sich, dass Geselligkeit hier insofern eine »Spielform der Vergesellschaftung«181 darstellt, als sie die sozialen Paradoxien der zugleich ständisch und paritätisch geordneten Artusgesellschaft, deren Mitglieder gleichermaßen exzellent zu sein haben und ihre Exzellenz doch immer neu gegeneinander beweisen müssen, exakt zu spiegeln vermag. Das führt im Umkehrschluss dazu, dass der Artushof zur geselligen Institution par excellence wird.182 Artus selbst wird damit zum intertextuellen Muster für das in späteren Texten eingeführte Amt 180
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Dass Lied- bzw. Erzählvortrag als dominierender kommunikativer Modus in Darstellungengeselliger Interaktionausgemacht werden können, ist ein Spezifikum der deutschsprachigen Literatur. In der französischen Literatur ist dagegen auch der kasuistische Modus präsent. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 193. Von dieser Beobachtung aus lässt sich auch die häufig konstatierte Paralyse des Artushofs verstehen, vgl. Klaus Grubmüller: Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung. In: Walter
95 des geselligen Spielkönigs. Die Spiegelung der sozialen Verfasstheit der Artusgesellschaft in geselliger Interaktion erstreckt sich aber nicht allein auf die sozialen Prozesse, sondern reicht bis in die kommunikativen Prozesse und die Inhalte der sprachlichen Handlungen hinein. Das zeigt sich an dem komplexen Zusammenspiel der durch die Sprecherposition erzeugten Auszeichnung einzelner Figuren und ihrer im Gegenzug durch die vorgetragene Erzählung bewirkten Abwertung. 5) Der kommunikative Modus des geselligen Erzählens generiert aber nicht nur soziale Ordnung, indem er kommunikative Ordnung herstellt, sondern lässt sich – gerade im Kontext höfischer Geselligkeit – auch als ein Verfahren zur Organisation von Öffentlichkeit auffassen: Indem es durch die Notwendigkeit passiven Schweigens einerseits und aktiven Zuhörens andererseits die Partizipation einer größeren Anzahl von Anwesenden beiderlei Geschlechts fordert, arbeitet es Tendenzen zu Absonderung und Heimlichkeit und damit zu sozialer Fragmentierung entgegen, die insbesondere in Minnekonstellationen drohen (so in Flore und Blanscheflur). In einer Kultur, in der alles, was sich der Gemeinschaft entzieht, was im Verborgenen – etwa nur unter zweien – gesagt wird, prinzipiell verdächtig ist, muss im Umkehrschluss alles, was sich in der Gemeinschaft und vor den Augen der Gemeinschaft abspielt, positiv besetzt sein. Der gesellige Erzählvortrag trägt diesem Konzept Rechnung, indem er Öffentlichkeit erzeugt und als hierarchischer, autoritativer Kommunikationsmodus, der die Interaktionsprozesse in einer sozialen Gruppe bündelt, zugleich die Entstehung von diversifizierten, pluralen Meinungsäußerungen – zumindest temporär – unterbindet. Die Ordnungsprozesse, die dem literarischen Modell höfischer Geselligkeit als einem sozialen und kommunikativen Phänomen zugrunde liegen, gewinnen im Verlauf seiner Geschichte an Eigenständigkeit. Als zentrale Voraussetzungen für gesellige Interaktion bleiben sie bis in die Frühe Neuzeit bestehen und liefern damit eine wichtige Folie, von der aus das auf Reziprozität und Meinungsbildung hin angelegte ›gesellige Gespräch‹ zu verstehen ist.
Haug / Burghart Wachinger (Hrsg.): Positionen des Romans im späten Mittelalter. Tübingen 1991 (= Fortuna vitrea, 1), S. 1–20, hier S. 2.
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Spielerischer Streit. Geselligkeit und Minnekasuistik in den Questioni d’amore des Filocolo
Il Filocolo gehört neben der Caccia di Diana, dem Filostrato und der Teseida zu den frühen volkssprachlichen Werken Boccaccios.1 Bis heute steht weder eine absolute noch eine relative Chronologie des Entstehens dieser ersten Texte fest.2 Vittore Branca und Antonio Enzo Quaglio gehen davon aus, dass der Filocolo kurz nach der Caccia di Diana und etwa zeitgleich mit dem Filostrato etwa zwischen 1336 und 1338 entstanden ist, während Boccaccio sich am Hof Roberts von Anjou in Neapel aufhielt.3 Außer Frage steht, dass der Filocolo das erste größere Prosawerk des jungen Boccaccio ist. Der Text ist eine eigenständige Bearbeitung des im gesamten europäischen Mittelalter verbreiteten Florisstoffs,4 dessen jeweilige Fassungen gattungstypologisch dem ›Minne-
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Lucia Battaglia Ricci: Giovanni Boccaccio. In: Enrico Malato (Hrsg.): Storia della letteratura italiana. Bd. 2: Il Trecento. Rom 1995, S. 727–877, hier S. 755–763; sowie Volker Kapp (Hrsg.): Italienische Literaturgeschichte. Unter Mitarbeit von Hans Felten. 2., verb. Aufl. Stuttgart 1994, S. 70–83, hier S. 77. Der Forschungsstand zu der kontroversen Frage der Datierung des Romans ist zusammengefasst bei Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 755–758. Antonio Enzo Quaglio: Introduzione. In: Giovanni Boccaccio: Filocolo. A cura di Antonio Enzo Quaglio. Mailand 1998 (= Oscar Classici Mondadori, 451), S. V– XXXII, hier S. V; Vittore Branca: Giovanni Boccaccio. Profilo biografico. Florenz 2 1992 (= Biblioteca universale Sansoni, 69), S. 44. Eine frühere Datierung des Filostrato auf 1334 postuliert Victoria Kirkham: Fabulous vernacular. Boccaccio’s »Filocolo« and the art of medieval fiction. Ann Arbor 2001, S. 277–280. Dagegen votiert Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 757, für eine spätere Datierung des Filocolo auf 1339 und hält zudem die gegenüber dem Filocolo nachrangige Entstehung des Filostrato für evident. Zum Florisstoff und seiner europäischen Rezeption vgl. Hans Herzog: Die beiden Sagenkreisevon Flore und Blancheflur.In: Germania 29 (1884), S. 137–228; Luciano Rossi u. a.: Art. Florisdichtung. In: LexMa 4 (1989), Sp. 572–576; Elisabeth Frenzel: Art. Floire et Blancheflor. In: EM 4 (1984), Sp. 1310–1315; sowie Patricia E. Grieve: Floire and Blancheflor and the European Romance. Cambridge 1997 (= Cambridge studies in medieval literature, 32); eine Zusammenfassung des neueren Forschungsstands gibt Silke Schünemann: »Florio und Bianceffora« (1499). Studien zu einer literarischen Übersetzung. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit, 106), S. 12–21. Ich danke Silke Schünemann herzlich, dass sie mir ihre Arbeit bereits vor der Drucklegung zur Verfügung gestellt hat.
97 und Aventiureroman‹ zugerechnet werden.5 In fünf Teilen (libri ) wird die Geschichte des heidnisch-spanischen Königssohns Florio und der christlich-römischen Biancifiore erzählt, die zusammen aufwachsen und sich bereits als Kinder ineinander verlieben. Nachdem sie von Florios Eltern mutwillig getrennt werden, begibt sich Florio unter dem Decknamen Filocolo auf eine über mehrere Stationen führende Suche nach Biancifiori, die schließlich mit ihrer Rückgewinnung endet. An die Vereinigung der Liebenden in der Fremde schließen sich die Konversion Florios zum Christentum, seine Heirat mit Biancifiori, und schließlich die Rückkehr als christlicher Herrscher auf den spanischen Königsthron an. Der Filocolo wird in der Forschung der sog. ›populären‹ Version II der Stofftradition zugerechnet, auch wenn die Frage seiner genauen Vorlage noch immer ungeklärt ist.6 Dabei gilt der Filocolo als eigenständige Bearbeitung, was insbesondere an den Erweiterungen dingfest zu machen ist, die Boccaccio gegenüber den älteren, vor allem den französischen Fassungen vornimmt.7 So tritt nicht nur der Erzähler häufig prominent hervor und exponiert sein – enzyklopädisches – Wissen, durch die Einführung von zusätzlichem Figurenpersonal werden auch Exkurse auf der Handlungsebene notwendig.8 Die Episode der Questioni d’amore ist einer dieser Exkurse; sie ist insofern ein Sonderfall, als hier nicht nur eine ungewöhnlich lange9 , sondern nahezu ganz selbständige Szene vorliegt, die nur lose mit der Romanhandlung verbunden ist. Die Szene ist in die Suche Florios nach Biancifiore (Buch IV) inseriert. Florio bricht mit seinen Begleitern vom elterlichen Hof in Marmorina10 zum Hafen von Alfea11 auf. Das dort bestiegene Schiff soll ihn auf die 5
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Zum Minne- und Aventiureroman vgl. Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane.In: Volker Mertens / Ulrich Müller (Hrsg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Stuttgart 1984 (= Kröners Taschenausgabe, 483), S. 395– 423. Vgl. Quaglio, Introduzione, S. VI–VII. Diese bislang gängige Annahme der Forschung ist durch den bei Grieve, Floire and Blancheflor, präsentierten neueren Fund einer – in eine Chronik des 15. Jahrhunderts inserierten – spanischen Fassung ggf. zu revidieren, da diese Fassung bestimmte Handlungsdetails enthält, die bislang als Proprium des Filocolo galten, vgl. hierzu auch Schünemann, Florio und Bianceffora, S. 18–21. So eröffnet die Einführung der Figur des Fileno (als eines Konkurrenten Florios, der sich ebenfalls in Biancifiori verliebt) einen eigenen Handlungsstrang, der die Haupthandlung kontrastiert. Insgesamt umfassen die fünf Bücher des Filocolo 459 Kapitel (I: 45, II: 76, III: 76, IV: 165, V: 97). Die Questioni d’amore-Episode (IV, Kap.14–72) umfasst mit 58 Kapiteln mehr als ein Drittel des umfangreichen vierten Buches. Marmorina steht hier für Verona, vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 637 (Anm. I,10,2). Boccaccio hat für die Topographie seines Romans archaisierende, sowohl bei Vergil als auch bei mittelalterlichen Autoren überlieferte Ortsbezeichnungen gewählt. Eine von Vergil übernommene Bezeichnung für Pisa, vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 750 (Anm. III,76,3).
98 »isola del fuoco« (IV,6,2)12 – das ist Sizilien – bringen, aber ein schwerer Sturm vereitelt den Plan und treibt das schwer beschädigte Schiff in den Hafen von Parthenope.13 Die Reparatur des Schiffes und das schlechte Wetter zwingen die Gruppe zu einem mehrmonatigen Aufenthalt.14 Die durch äußere Umstände erzwungene Aussetzung der Reise lässt an der Figur Florio merkliche Folgen sichtbar werden: Er hadert offen mit seinen Göttern und verfällt phasenweise melancholischer Apathie.15 In dieser Situation trifft Florio mit seinen Begleitern während eines Spaziergangs auf eine Gruppe junger Adliger, die ihn einladen, sich für den Nachmittag an ihrer geselligen Runde zu beteiligen. Auf Vorschlag der Gastgeberin Fiammetta wird von jedem Anwesenden eine dilemmatische questione d’amore vorgelegt, die anschließend kontrovers diskutiert wird. Nach der Diskussion von insgesamt 13 Fragen kehrt die Gruppe gegen Abend in die Stadt zurück, von wo Florio und seine Leute einige Tage später nach Sizilien aufbrechen.
4.1
Die Questioni d’amore in der Forschung
Die Questioni d’amore avancierten auf Grund ihrer Länge, aber auch ihres abgeschlossenen, dichten Charakters zur bekanntesten und vermutlich meist behandelten Szene des Filocolo,16 der wie auch die übrigen opere minori Boccaccios im Vergleich mit dem Decameron ein weniger ausgeprägtes Interesse in der Forschung gefunden hat. Die starke Fixierung der Romanistik auf Boccaccio als den Autor des Decameron hat auch die Lesarten der Questioni d’amore voraussehbar gelenkt. Zwei Zugriffe lassen sich unterscheiden. 12
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Zitiert wird nach der maßgeblichen Ausgabe von Antonio Enzo Quaglio: Boccaccio, Filocolo. Die Angabe in Klammern ist wie folgt aufzuschlüsseln: Buch, Kapitel, Absatz. Übersetzungen des italienischen Textes werden in den Anmerkungen für längere, im Haupttext behandelte Zitate gegeben. Verwendet wird hierfür die einzige vorhandene, stilistisch leider wenig anspruchsvolle englische Übersetzung des Textes: Giovanni Boccaccio: Il Filocolo. Translated by Donald Cheney with the collaboration of Thomas C. Bergin. New York / London 1985 (= Garland Library of Medieval Literature, 43, B), vgl. hierzu die Besprechung von Victoria Kirkham: Two new translations. The early Boccaccio in English dress. In: Italica 70 (1993), S. 79–88, hier S. 80–83. Antike Bezeichnung für Neapel, vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 755 (Anm. IV,9,2). Die Positionierung der Szene an den Ausgangspunkt der Suche Florios zeigt einen sehr bewussten Umgang mit der Handlungsstruktur des Romans, vgl. Kap. 4.2.1. Vgl. v. a. IV,11+12. Verstärkt werden die Symptome der Melancholie von einer Traumvision (IV,12+13), in der zwei Vögel, die für die beiden Liebenden stehen könnten, brutal von Artgenossen attackiert werden. Surdich, La cornice di amore, S. 13, bezeichnet die Szene der Questioni d’amore als »famoso episodio«, Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 761, spricht von ihr als »celebre episodio«.
99 Die meisten Arbeiten, in denen die Questioni d’amore Erwähnung finden, lesen diese – in der Nachfolge Pio Rajnas – isoliert vom Romankontext als forma embrionale del Decameron.17 Dagegen wurden Anregungen, die Szene als thematischen und strukturellen Bestandteil des Romans aufzufassen, seit den 1970er Jahren vor allem von Seiten der amerikanischen Italianistik gegeben, die mit dem Filocolo wenig betretenes Terrain besetzen konnte.18 In diesen Arbeiten steht ausgehend von dem in der siebten questione eröffneten Gegensatz von amore onesto und amore per diletto die Frage nach einer integralen Liebeskonzeption im Vordergrund.19 Da das Interesse im Folgenden der intertextuellen Konstruktion der in der Questioni d’amore-Episode modellierten Geselligkeit und deren produktiver Rezeption – auch, aber nicht nur im Decameron – gilt, beschränkt sich der Forschungsüberblick an dieser Stelle auf die Arbeiten mit ›isolierter‹ Perspektive. Diskutiert werden insbesondere die der kommunikativen Struktur aus Fragen und Antworten zugrunde liegenden intertextuellen (sowohl thematischen als auch strukturellen) Referenzen sowie die spezifischen Bezüge zwischen den questioni des Filocolo und den novelle des Decameron. Dagegen sind der Prozess geselliger Formierung in der Questioni d’amore-Episode und seine variierende Adaptation im Decameron bislang überwiegend pauschal als Reflex sozialer Praxis am neapolitanischen Hof abgehandelt worden. Zunächst zu den intertextuellen Referenzen: Grundlegend für die Analyse der Questioni d’amore-Episode ist bis heute der frühe Aufsatz von Pio Rajna, der als erster Anstoß für die literaturwissenschaftliche Wahrnehmung der Szene in der Romanistik gelten kann.20 Die Begründung, die Rajna für seine isolierte Betrachtung der Szene liefert, liegt in der separaten Rezeption der Fragen. Rajna ist dieser Überlieferung im einzelnen nachgegangen und weist Publikationen – in Versform und Prosa – seit dem 15. Jahrhundert für Italien, Spanien, Frankreich und
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Umgekehrt gilt auch für die Forschung zum Florisstoff, dass sie ihrerseits mit Boccaccios Ergänzungen wie den Questioni d’amore wenig anfangen kann, vgl. bspw. Marvin Ward: Floire et Blanscheflor: A Bibliography. In: Bulletin of Bibliography 40 (1983); S. 45–64, hier S. 45. Vor allem Victoria Kirkham: Reckoning with Boccaccio’s »Questioni d’amore«. In: Modern Language Notes 89 (1974), S. 47–59; sowie dies.: Fabulous vernacular; Robert Hollander: Boccaccio’s two venuses. New York 1977; Janet Levarie Smarr: Boccaccio and Fiammetta. The narrator as lover. Urbana 1986; Steven Grossvogel: Ambiguity and allusion in Boccaccio’s »Filocolo«. Florenz 1992 (= Biblioteca dell’archivum romanicum: Serie 1, Storia, letteratura, paleografia, 248). Kritisch hierzu Schünemann, Florio und Bianceffora, S. 34–41. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore.
100 England nach.21 Rajnas Interesse ist vor allem ein motivgeschichtliches. So kann er zeigen, dass die verhandelten Liebesfragen thematisch eng an die Tradition der altprovenzalischen und altfranzösischen Tenzonen- und Partimenliteratur sowie in Einzelfällen (Q IV, Q XIII) auch an die orientalische Erzählliteratur anknüpfen.22 Rajnas motivgeschichtliche Befunde dienen bis heute als Grundlage jeder intertextuellen Analyse, ihr Stellenwert zeigt sich z. B. an der Aufnahme in die Anmerkungen zu Quaglios Edition des Filocolo.23 Rajnas These zum genetischen Verhältnis von Questioni d’amore-Episode und Decameron stützt sich zum einen auf die beiden narrativ kontextualisierten Fragen Q IV und Q XIII, die leicht verändert als Novellen X,5 und X,4 im Decameron wiederaufgenommen werden, sowie auf die motivlichen Parallelen in der Konstitution der Runde.24 Sein Resümee, dass die Questioni d’amore-Episode in Hinblick auf das Decameron weniger eine vermittelnde als vielmehr eine notwendige Position innehabe, bleibt vor dem Hintergrund einer stark deskriptiven Herangehensweise argumentativ allerdings blass.25 In jüngerer Zeit sind Rajnas Untersuchungen präzisiert und vertieft worden. Die wohl umfangreichste Studie zum Motiv des cornice bei Boccaccio liegt mit der Arbeit von Luigi Surdich vor.26 Surdich verfolgt das Motiv und seine Ausgestaltungen in den opere minori und im Decameron.27 Seine Analysen sind dabei ganz auf das jeweilige Werk bezogen. Fragen nach intertextuellen Analogien und Verschiebungen in der Reproduktion des cornice-Motivs und dem möglichen interpretativen 21
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Ebd., S. 28–34. Für England ist dieser Hinweis bereits früh aufgegriffen worden, vgl. Ernest Hatch Wilkins: The 1527 Philopono.In: Studies in honor of A. Marshall Elliott. Vol. II. Baltimore 1911, S. 293–297. Vgl. hierzu in dieser Arbeit Kap. 6. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 36–68. Boccaccio, Filocolo, S. 855–885. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 34: »Non poteva davvero sfuggire agli studiosi della storia letteraria lo stretto legame che le Questioni hanno col Decameròn, di cui io non mi perito a dichiararle addirittura la forma embrionale. Due tra le future novelle della gran raccolta, la quarta e la quinta della Giornata decima, già appariscon là dentro. Ma più ancora di questo fatto importa senza dubbio alcuno la convenienza della cornice.« In Bezug auf die gesellige Konstitution in der Questioni d’amore-Episode und im Decameron belässt es Rajna bei einer kurzen Zusammenstellung der zentralen – wiederum motivischen – Parallelen (ebd., S. 34f.). Dabei interessiert er sich vor allem für das zitierte literarische Muster des Minnehofs (ebd. S. 70–78), weniger für die Frage seiner jeweiligen Adaptation im Filocolo und im Decameron. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 78: »Da ciò una valida conferma alla persuasione mia, che l’episodio del ›Filocolo‹non sia già semplicemente un tramite attraverso al quale la concezione del ›Decameròn‹ si trovò a passare di fatto, ma sia proprio da aver in conto di uno stadio necessario.« Surdich, La cornice di amore, S. 13–75. Neben der Questioni d’amore-Episode des Filocolo berücksichtigt Surdich auch den Filostrato, den Ameto sowie die Elegia di madonna Fiammetta. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit dem Decameron.
101 Potential unterschiedlicher Realisationen für das volkssprachliche Werk Boccaccios beantwortet er vor allem auf der Ebene vermittelter Werthorizonte (aristocratico-feudale, borghese).28 In der spezifischen Verhandlungsform der einzelnen questioni d’amore sieht Surdich – über die intertextuellen Referenzen auf die altprovenzalischen und altfranzösischen Streitgedichte hinaus – vor allem eine literarische Adaptation der scholastischen disputatio.29 Dass in den Questioni des Filocolo – im Gegensatz zu den Streitgedichten – ein Urteil gefällt wird, unterstreiche überdies den normativen Anspruch der Questioni d’amore als verbindliche Liebeslehre. Damit stelle sich die Episode in die Tradition des liebestheoretischen Traktats De amore des Andreas Capellanus und der hier gefällten Liebesurteile.30 Den Capellanus-Bezug macht Surdich auch für seine inhaltlichen Analysen der einzelnen Fragen fruchtbar, insbesondere für das Verhältnis von Liebe und Ehe.31 Im Anschluss hieran wird zu zeigen sein, dass der gesamte Motivkomplex des Minnehofs, der nicht nur über die Urteile Fiammettas, sondern auch über die Spielregel evoziert wird, als intertextuelle Bezugnahme auf den Traktat des Andreas aufzufassen ist.32 Die Zusammenhänge zwischen Questioni d’amore-Episode und Decameron werden in den meisten Arbeiten am Beispiel der vierten und dreizehnten Frage behandelt. Diese sind bereits in der Questioni d’amoreEpisode kontextualisiert, das heißt sie resultieren aus kleinen Erzählungen. Sie werden ohne abschließende Fragen und in leicht bearbeiteter 28
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So diagnostiziertSurdich,La cornicedi amore, S. 43–49, vor allem anhand der Antwort auf die siebte Frage der Questioni d’amore, in der sich Fiammetta gegen die erotische Liebe auszusprechen scheint, eine Verschiebung von höfischen zu bürgerlichen Werten. Surdich, La cornice di amore, S. 17–20. Die Orientierung der Questioni d’amoreEpisode am wissenschaftlichen Diskurs betonen neben Surdich vor allem Bruno Porcelli und Francesco Tateo. Porcelli sieht in Boccaccio’s Bearbeitungdes Romans den gezielten Ausweis eines in den septem artes liberales geschulten Autors. Die in den Questioni d’amore vorgeführte »ars opponendi et respondendi« zeige seinen kunstfertigen Umgang mit der Disziplin der Dialektik, vgl. Bruno Porcelli: Strutture e forme narrative nel Filocolo. In: Studi sul Boccaccio 21 (1993), S. 207–233, bes. S. 226–228, Zitat S. 226. Tateo, Boccaccio, S. 40–45, bezeichnet die Questioni d’amore ebenfalls als »esibizione dotta del Boccaccio« und als »esercizio dialettico« (ebd., S. 40), ohne diesen Befund allerdings so umfassend wie Porcelli als poetische Strategie zu werten. Lediglich metaphorische Qualität hat sein Hinweis, die Questioni d’amore-Episode sei verbales Analogon zum ritterlichen Turnier. Surdich, La cornice di amore, S. 20–21: »Le »questioni d’amore«, insomma, sono anche una dottrina d’amore, delineano cioè un’ideologia cortese, a somiglianza del modello culturale e letterario più vicino per questa parte al Boccaccio, il trattatto »De amore« di Andrea Capellano.« Surdich, La cornice di amore, S. 34–43. Dieser Zusammenhang wird bei Surdich, La cornice di amore, S. 16f., nicht gesehen: Er versteht die Spielregel vorrangig als Reflex auf die gesellige Praxis am Hof Roberts von Anjou und verweist nur knapp auf das (literarische) Minnehofmotiv und seine kontroverse Deutung in der Forschung. Vgl. hierzu Kap. 4.2.3.
102 Form als vierte und fünfte Novelle des zehnten Tages im Decameron wiederaufgenommen. Für die Charakterisierung novellistischen Erzählens im Decameron wird diese Doppelung innerhalb des Werks von Boccaccio häufig herangezogen, wobei die Analysen in der Regel punktuell bleiben, ohne den gesamten Verschiebungsprozess – von der Kasusdebatte zum Novellenerzählen – in den Blick zu nehmen.33 Eine Ausnahme bildet die wenig beachtete Arbeit von Edoardo Sanguineti, der die strukturelle Genese des novellistischen Decameron aus den kasuistischen Questioni d’amore pointiert konstatiert hat: Ma qui ci importa precisamenteil contrario: che la novella, presso il Boccaccio, nasca come quaestio. […] Ma quello che preferiamo insinuare subito, è che la cornice del Decameron, si radica in un ideale di appropriazione analogica, in una ricerca di autonome equivalenze.34
Sanguinetis Beobachtung bezieht sich vor allem auf die Beispielfälle X,4 (Q XIII) und X,5 (Q IV).35 Seine These, dass Analogien zwischen Questioni -Szene und Decameron nicht allein auf der Ebene von Fragen/ Casus und Novellen bestehen, sondern sich auch auf die kommunikative Struktur (quaestio-Struktur, Novellenerzählen) beziehen, ist vor allem an diese Beobachtung gebunden. Insofern sich sein Hauptaugenmerk auf die narrativen Teile und weniger auf die geselligen Kommunikationshandlungen beider Werke richtet, bleibt Sanguinetis Befund somit punktuell.36 Trotz dieser Einschränkung sind seiner Arbeit wichtige Impulse zu verdanken. Die Darstellung idealer Geselligkeit in den Questioni d’amore wird bis heute als Reflex auf die biographische Situation Boccaccios am Hof 33
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Vgl. Raffaello Fornaciari: Dal ›Filocolo‹ al ›Decameron‹. In: Miscellanea storica della Valdelsa 21 (1913), S. 196–201; Dennis Dutschke: Boccaccio: A Question of Love. A Comparative Study of Filocolo IV,13 and Decameron X,4. In: The Humanist Association Review 26 (1975), S. 300–312; Bruno Porcelli: Quando un racconto entra in una macrostruttura narrativa (o ne esce). In: Gabriella Albanese / Lucia Battaglia Ricci / Rossella Bessi (Hrsg.): Favole parabole istorie. Le forme della scrittura novellistica dal Medioevo al Rinascimento. Atti del Convegno di Pisa, 26–28 ottobre 1998. Rom 2000 (= Pubblicazioni del ›Centro Pio Rajna‹. Sezione 1, Studi e saggi, 8), S. 55–66; Luigi Surdich: Esempi di »generi letterari« e loro rimodellizzazione novellistica. In: Michelangelo Picone (Hrsg.): Autori e lettori di Boccaccio. Atti del Convegno internazionale di Certaldo, 20–22 settembre 2001. Florenz 2002 (= Quaderni della Rassegna, 29), S. 141–177, bes. S. 146–151; sowie Brancas Stellenkommentar zu X,4 und X,5 im Decameron, vgl. Giovanni Boccaccio: Decameron. Nuova edizione rivista e aggiornata a cura di Vittore Branca. Bd. 2. Turin 1992 (= Einaudi Tascabili. Classici, 99), S. 1137 Anm. 1 und S. 1148 Anm. 1. Edoardo Sanguineti: Lettura del Decameron. A cura di Emma Grimaldi. Salerno 1989, S. 22. Sanguineti, Lettura del Decameron, Lezione VIII und X. Vgl. ebd., S. 56: »In una prospettiva più ampia, intendendo il Decameron come un repertorio di possibili narrativi, e pensando che tra le novelle delle singole giornate intercorra un rapporto di superamento, si può anche pensare al Decameron tutto come ad una grossa quaestio il cui oggetto di dibattito è appunto l’arte del narrare.«
103 Roberts von Anjou in Neapel gelesen. Bereits Rajnas Arbeit formuliert diesen Zusammenhang. Dass insbesondere seine Arbeit auf Grund der zahlreichen nachgewiesenen literarischen Bezüge eigentlich ein Plädoyer für die spezifische Literarizität der Szene ist, ist für ihn offenbar kein Widerspruch: […] l’episodio riflette […] consuetudini della vita elegante contemporanea. Quelle consuetudini il Boccaccioaveva conosciuto a Napoli; ma esse erano di provenienza gallica, trapiantate laggiù dalla signoria angioina.37
Diese These, die Questioni d’amore-Episode imitiere die gesellige Praxis des angiovinischen Hofs, ist seither ungebrochen tradiert worden.38 Surdich postuliert sie, und auch Battaglia Ricci weist diesen Zusammenhang in einer neueren Einführung ausführlich nach.39 Anhaltspunkte findet diese These in vermeintlich authentischen Bemerkungen des Autors Boccaccio sowohl im Filocolo als auch im Filostrato. So berichtet die Erzählerfigur des Filocolo im ersten Kapitel von seiner Liebe zur unehelichen Tochter eines gewissen »Ruberto«, dessen königliche Herrschaft über Süditalien er genealogisch unmittelbar an den Romgründer Äneas anbindet.40 Die Gelegenheit, sich der Dame – die wie die Fiammetta der Questioni d’amore-Episode den Namen der Gottesmutter trägt41 – zu nähern, ergibt sich eines Tages in einem Tempel der Diana: […] là dove io giungendo, con alquante di quelle [sacerdotesse di Diana, C. E.] vidi la graziosa donna del mio cuore stare con festevolee allegro ragionamento, nel quale ragionamento io e alcuno compagno domesticamente accolti fummo. E venuti d’un ragionamento in un altro, dopo molti venimmo a parlare del valoroso giovane Florio, figliuolo di Felice, grandissimo re di Spagna, recitando i suoi casi con amorose parole. (I, 1, 23–24)42
Das Gespräch über das berühmte Liebespaar mündet in den Auftrag der geliebten Dame an den Erzähler, die Geschichte in volgare aufzuschrei37 38
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Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 35. Zentralen Stellenwert hat diese These für die Arbeit von Crane, Italian social customs, S. 89. Sie findet sich u. a. auch bei Löhmann, Die Rahmenerzählung, S. 93– 108. Vgl. Surdich, La cornice di amore, S. 16f. sowie S. 43–49: »Certo si è che le ›questioni d’amore‹ respirano l’atmosfera della Napoli di primo ’300, sono imbevute delle sostanze ideali di quell’ambiente, e pertanto aiutano a gettar luce sulla concezione della cortesia seguita alla corte di re Roberto.« (S. 47); sowie Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 761f. Vgl. Filocolo, I,1,1–15, hier 14. Die absichtsvolle Parallelkonstruktion der beiden Frauenfiguren im ersten Kapitel und in der Questioni d’amore-Episode zeigt sich auch an der Verschlüsselung des Namens ›Maria‹, vgl. I,1,15 und IV,16,4. »Arriving there, I saw the gracious lady of my heart standing among some of those priestesses engaged in festive and happy conversation, into which a few companions and myself were courteously received. Passing from one subject to another, eventually we came to speak of the valiant young Florio, son of Felix, the great king of Spain, and we recalled his story lovingly.« (S. 4)
104 ben43 und damit die existierenden Fassungen der ignoranti zu ersetzen.44 Battaglia Ricci hält diese Szenerie eines festevole e allegro ragionamento von Damen und Herren über ein Liebespaar der Literatur für Reflexe konkreter »esperienza« des jungen Dichters Boccaccio, auch wenn diese ihrerseits literarisch vorgeprägt sei: Le donne che, ripetendo modelli vulgati dalle antiche »prose di romanzi«, leggono e ascoltano opere narrative, le brigate che, ripetendo modelli vulgati dalla trattatistica amorosa e dalla letteraturaprovenzale, si dedicano a »festeggevoliragionari« sono, con buona probabilit´a, esperienza concreta del giovane poeta, […]. Di questa esperienza è largamente debitore il »Filocolo«.45
Einen weiteren, noch stichhaltigeren Nachweis für die These, die Questioni d’amore-Episode sei Abbild einer geselligen Praxis, sieht Battaglia Ricci im Proemio des Filostrato, in dem der Erzähler einen Liebeskasus wiedergibt,46 den er im Beisein der angesprochenen Filomena an ihrem Hof gehört haben will: Molte fiate già, nobilissima donna, avvenne che io, il quale quasi dalla mia puerizia infino a questo tempo ne’ servigi d’Amore sono stato, ritrovandomi nella sua corte
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»[…] ti priego […] che tu affanni in comporre un picciolo libretto volgarmente parlando, nel quale il nascimento, lo’nnamoramento e gli accidenti de’ detti due infino alla loro fine interamente si contenga.« (I,1,26) »Certo grande ingiuria riceve la memoria degli amorosi giovani […] lasciata solamente ne’fabulosi parlari degli ignoranti.« (I,1,25). Im Gegensatz zu Quaglio bin ich der Meinung, dass diese Bemerkung nicht allein auf die bekanntermaßen weite Verbreitung der Geschichte von Flore und Blanscheflur anspielt (vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 627 [Anm. I,1,83]), sondern dass der Erzähler hier an eine Tradition exponierten, selbstbewussten und gelehrten Erzählens anknüpft, wie sie sich im volkssprachlichen Mittelalter erstmals in Chrétiens Prolog zu Erec et Enide aufzeigen lässt (Erec und Enide, V. 1–26). Das eigene Werk wird als konzeptionell geordnetes Werk einer gelehrten Schriftkultur (»mout bele conjointure«, ebd., V. 14) über die mündlichen Fassungen weniger qualifizierter Erzähler gestellt: »D’Erec […] est li contes, / Que devant rois et devant contes / Depecier et corronpre suelent / Cil qui de conter vivre vuelent« (ebd., V. 19–22). Die Analogie der Formulierungen (fabulosi parlari degli ignoranti bei Boccaccio, das depecier et corronpre der Lohndichter bei Chretiens) stützt diese Lesart. Vgl. hierzu auch Victoria Kirkham, Fabulous vernacular, S. 4 Anm. 4, die die Parallelität der Textstellen in Bezug auf Chretiens Bezeichnung mout bele conjointure sieht, für die es allerdings im Filocolo keine explizite Entsprechung gibt. Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 761. Der im Proemio des Filostrato zitierte Kasus (Was ist am erfreulichsten: die geliebte Dame zu sehen, mit ihr zu sprechen oder an sie zu denken?) kehrt in leicht variierter Form in Q XI der Questioni d’amore-Episode wieder, vgl. Giovanni Boccaccio: Filostrato. In: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio. A cura di Vittore Branca. Bd. 2: Filostrato, Teseida, Comedia delle ninfe fiorentine. A cura di Vittore Branca. Mailand 1964 (= Classici Mondadori), Proemio, 2–3 u. S. 846 (Anm. Proemio, 4); sowie Filocolo, IV,59,2. In der Questioni d’amore-Episode ist der Kasus zweiteilig, gegenübergestellt werden Anwesenheit (›sehen‹) und Abwesenheit (›denken‹).
105 intra gentili uomini e le vaghe donne dimoranti in quella parimente con meco, udii muovere e disputare questa quistione […].47
Die Beweiskraft beider Belegstellen ist ausgesprochen zweifelhaft. Vielmehr ist zunächst der narratologische Status der zitierten Passagen zu bedenken. So ist der Proemio aus dem Filostrato mit Genette als ›Paratext‹ anzusprechen, ohne dass hier allerdings ein Autor seine Leserschaft adressierte.48 Zu Wort meldet sich vielmehr die (Haupt-)Figur der Versdichtung, die sich an eine weitere Figur des Textes wendet: »Filostrato alla sua più ch’altra piacevole Filomena salute«.49 Damit weist sich der Proemio als ›fiktionales Vorwort‹ aus,50 das neben fiktionalen Figuren mit dem corte Amors und der dort praktizierten Geselligkeit ein ebenso fiktionales setting evoziert. Das Zitat des Liebeskasus eröffnet darüber hinaus einen Raum literarischen Sprechens über die Liebe, das seine Fortsetzung in Filostratos Rekurs auf das literarische Liebespaar Troilus und Criseida findet.51 Mit diesen deutlichen Fiktionalisierungsmerkmalen weist der Proemio eine ungebrochene Referenz auf einen Autor Boccaccio und dessen soziales Umfeld (eine mögliche Geliebte Maria/ Fiammetta ebenso wie eine spezifische gesellige Praxis an deren Hof) explizit ab. Noch eindeutiger liegt der Fall für die zitierte Passage aus Kapitel I,1 des Filocolo. Hier liegt kein ›Paratext‹ vor, denn der zitierte Abschnitt gehört bereits zum Roman. Sowohl Kapitel I,1 (Rahmenhandlung, in der der Auftrag für die Herstellung eines Buches über Florio und Biancifiori erteilt wird) als auch Kapitel I,2 (Adressierung der Geschichte an liebende Herren als consolatio und an liebende Damen als Mahnung zur constantia) sind von der in Kapitel I,3 einsetzenden Romanhandlung nur durch die Erzählhaltungen unterschieden. Deshalb ist es sinnvoller, von einer Rahmenerzählung bzw. von einer ›extradiegetischen Erzählung‹ zu sprechen.52
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Filostrato, Proemio, 1: Viele Male schon ist es vorgekommen, edelste Dame, dass ich, der ich seit meiner frühesten Jugend bis heute in den Diensten von Amor stehe, während ich mich an seinem Hof unter edlen Herren und wunderschönen Damen wiederfand, die sich dort mit mir aufhielten, folgende Frage erwägen und diskutieren hörte (Übersetzung C. E.). Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2003 (= stw, 1510), S. 9–21. Filostrato grüßt seine über alles liebreizende Filomena (Übersetzung C. E.). Genette, Paratexte, S. 265–267. Filostrato, Proemio, 28–35. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Nachwort hrsg. von Jochen Vogt. 2. Aufl. München 1998 (= UTB, 8083), S. 162–165. Zur Terminologie der Rahmenerzählung vgl. unten Kap. 5.1.
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4.1.1 Exkurs: Florisstoff und höfische Geselligkeit – analoge Rahmenszenarien bei Boccaccio und Konrad Fleck Die Konstituenten dieser Rahmenerzählung – Damen und Herren, die miteinander ein heiteres, unterhaltsames Gespräch (festevole e allegro ragionamento ) über das literarische Liebespaar Florio und Biancifiori führen – bilden dabei eine Parallele zu der Rahmenerzählung des Flore -Romans von Konrad Fleck.53 Beide Rahmenerzählungen fingieren den Ursprung des Textes aus einer geselligen Konstellation heraus: In Flore und Blanscheflur konsolidiert die Erzählung vom berühmten Liebespaar die in Gesprächen über die Liebe vereinzelten Glieder der Gruppe als Hörergemeinschaft, wobei die Figuren der erzählten Geschichte den sinnenverwirrten Liebenden zudem als exempla für staete und die Unausweichlichkeit von kumber in Liebesbeziehungen didaktischen Mehrwert versprechen.54 Die Erzählung der Schwester ist insofern auf doppelte Weise sozial stabilisierend: Sie ermöglicht temporäre Vergemeinschaftung durch die Verständigung auf einen einzigen Gegenstand, zugleich strahlt dieser Gegenstand auf die Einzelnen zurück, indem er belehrende und heilende Antwort in Bezug auf die mentale Disposition der versammelten Liebenden ist. Auch im Filocolo spielen diese beiden Funktionen der Erzählung eine Rolle, sie sind allerdings voneinander separiert: Die Funktion der Vergemeinschaftung ist hier von der Erzählung an sich abgekoppelt und auf das gemeinsame, alle beteiligende Gespräch in der Gruppe verlagert (nel quale ragionamento io e alcuno compagno domesticamente accolti fummo), in dem die Geschichte von Florio lediglich einer von mehreren Gegenständen ist (e venuti d’un ragionamento in un altro, dopo molti venimmo a parlare del valoroso giovane Florio ). Die Erzählung selbst hat an dieser Stelle allerdings gerade nicht ihren Ort, zwar wird über sie gesprochen, aber sie wird eben nicht erzählt. Bedingt durch die Defizienz der bekannten, mündlichen Versionen wird sie zunächst zeitlich ausgesetzt, da erst eine qualitativ bessere, vollständige Version herzustellen ist, wozu der Erzähler wiederum den Auftrag erhält. Die möglichen Funktionen der Geschichte für Liebende sind von der Geschichte der Auftragserteilung abgekoppelt und in einen separaten Abschnitt der metadiegetischen Erzählung verlagert, die sich in Kapitel I,2 anschließt. Hier bleibt zwar die Erzählinstanz identisch, aus der indirekten, erzählenden Rede des Vorausgehenden wird jedoch direkte Rede, mit der sich der Erzähler an sein Publikum wendet. Dabei differenziert er den Nutzen der Geschichte geschlechtsspezifisch aus: Den liebenden »giovani« empfiehlt er die – letztlich glücklich ausgehende – Geschichte als »consolazione« in Liebesbeziehungen, die widrigen Umständen (»avverse cose«) ausgesetzt sind.55 Den »giovinette amorose« hingegen soll die Geschichte zu der Erkenntnis verhelfen, sich auf einen Geliebten zu beschränken: »E, udendoli, potrete sapere quanto ad Amore sia in piacere il fare un giovane solo signore della sua mente, sanza porgere a molti vano
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Hierzu oben Kap. 3.2.1. Flore und Blanscheflur, V. 273–306, pointiert in V. 274–277: »swer sich von minnen clage / und ouch nâch minne ringe, / der sol swie im gelinge, sînes muotes staete sîn.«, sowie V. 290–294: »wer mac sanfte liep gewinnen? / des hânt uns bilde gegeben / zwei geliebe, der leben / was von minnen kumberlîch, / diu sider wurden fröuden rîch.« Filocolo, I,2,1+2.
107 intendimento […]«.56 In dieser Formulierung wird zum einen die auch bei Konrad Fleck zu findende Konzeption der staete (constantia ) sichtbar, gleichzeitig aber wird diese in der hochmittelalterlichen Fassung ganz allgemein bleibende Forderung nach Beständigkeit in der Liebe verengt auf die nach einem einzigen Liebespartner. Zusätzlich wird der Referenzcharakter von constantia in Boccaccios Roman auf Frauen eingeschränkt. Eine offene Rahmenerzählung, über die der Roman »seinen eigenen pragmatischen Status« thematisiert,57 kennt auch die version aristocratique des altfranzösischen Floreromans, wobei dieser das Merkmal der geselligen Inszenierung gerade fehlt.58 Umso auffälliger sind die konstatierten Parallelen in den beiden voneinander vollständig unabhängigen Texten Konrad Flecks und Boccaccios: Sie scheinen auf ein literarisches Imaginarium zu verweisen, in dem die Minnethematik des Florisstoffs und höfische Geselligkeit als benachbart gedacht werden. Wie kaum ein anderer Roman scheint die Geschichte von den gegen alle äußeren Umstände einander treu bleibenden Liebenden ein Publikum zu evozieren, das beide Geschlechter unter dem thematischen Vorzeichen der Liebe in einem Raum höfischen otiums zusammenführt.
Die Auftragserteilung im Filocolo ist also bereits Teil der Erzählung und insofern kaum plausibel von der Situation des Rahmens als einer deutlich literarischen Konstruktion abzulösen. Der sowohl im Fall des Filostrato als auch des Filocolo gegebene fiktionale Status der zitierten Passagen lässt die von Battaglia Ricci vorgenommene mimetische Referenz der Belege auf eine soziale esperienza des Autors Boccaccio daher sehr fraglich werden. Zusätzlich kompliziert wird der Sachverhalt dadurch, dass sowohl Rajna als auch Battaglia Ricci die gesellige Praxis am Hof der Anjou ihrerseits an die Literatur rückkoppeln:59 Die imitatio provenzalischer Literatur bringt in dieser Lesart eine spezifische gesellige Praxis 56
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»Hearing them, you will be able to know how much it pleases Love to make a single youth the master of one’s spirit, without extending vain desire to many« (5). So Michael Waltenberger: Diversität und Konversion. Kulturkonstruktionen im französischen und im deutschen Florisroman. In: Wolfgang Harms / C. Stephen Jaeger / Horst Wenzel (Hrsg.): Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. In Verbindung mit Kathrin Stegbauer. Stuttgart 2003, S. 25–43, hier S. 34. ´ Vgl. Le Conte de Floire et Blancheflor. Edité par Jean-Luc Leclanche. Paris 1983 (= Les Classiques Franc¸ais du Moyen Age, 105), V. 33–56. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Texten liegt hier eine Situation vor, die den Charakter eines vertraulichen, intimen Gesprächs trägt und der die Merkmale geselliger Unterhaltung folglich gerade fehlen: Im Frauengemach kann der Erzähler zwei Schwestern belauschen, von denen die eine der anderen zum Trost ihres Liebeskummers die Geschichte von Floire und Blancheflor erzählt, vgl. hierzu Waltenberger, Diversität und Konversion, S. 34 und S. 39 (zu den Unterschieden zwischen Conte und dem FloreromanKonrad Flecks); sowie den Hinweis bei Lieb / Müller, Situationen literarischen Erzählens, S. 47 Anm. 36. Vgl. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 35; Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 761; sowie Crane, Italian social customs, 53–55. Zur These, dass die altfranzösische Literatur am Hof Roberts eine wichtige Rolle für die Legitimation und Stabilisierung seiner Herrschaft spielte, vgl. Surdich, La cornice di amore,
108 im Neapel des 14. Jahrhunderts hervor, diese wiederum findet im Filocolo ein literarisches Abbild. Aussagen zu literarischem Diskurs und geselliger Praxis geraten auf diese Weise in eine unaufhaltsame, zirkuläre Bewegung, die als historische Beobachtung richtig sein kann, ohne dass sie mit literaturwissenschaftlichen Mitteln belegbar wäre. Damit sollen Interferenzen zwischen Diskurs und Praxis nicht grundsätzlich negiert, sondern – in Ermangelung anderer als literarischer Belege – als methodisch nicht beschreibbar erklärt werden. Abschließend sind zwei kulturgeschichtlich angelegte Arbeiten zu nennen, die – obgleich sie von Philologen stammen – die Frage nach der prekären Relation von Diskurs und Praxis gar nicht erst stellen, sondern ein mimetisches Verhältnis von literarischem Text und historischer Praxis für gegeben halten. Ein zentraler Beleg ist die Questioni d’amore-Episode in der bereits 1920 erschienenen Arbeit von Thomas Frederick Crane, in der er den Versuch unternimmt, die sozialen Grundlagen der frühneuzeitlichen Geselligkeitskultur aufzuzeigen. Über die Questioni d’amore heißt es dort: This setting proved enormously popular and was imitated as we shall see by a host of Italian novelists; but it is probable that this popularity was based upon the fact that the thing described was true to life, and that the above episode was merely a picture of one of the favourite diversions of Neapolitan society.60
Nach Cranes Vorstellung wird die schriftliche Fixierung geselliger Praxis in der Questioni d’amore-Szene Anlass für weitere imitatio-Prozesse: »The influence of this episode upon Italian society must have been great. We shall see in the following chapters how important a part the discussion of the nature of love played in social gatherings […]«.61 Gemäß der Anlage seiner Arbeit als enzyklopädische Zusammenstellung all jener literarischen Texte, die Phänomene geselliger Praxis (insbesondere Fragespiele und geselliges Erzählen) thematisieren, belässt es Crane bei dieser sehr allgemeinen Bedeutungszuschreibung. Dass er eine komplette Übersetzung der Questioni d’amore-Episode abdruckt, zeigt, wie sehr ihm an der inhaltlichen Vorstellung seines Materials gelegen ist. Systematische Perspektiven auf die jeweiligen Formationsprozesse von Geselligkeit bzw. das hermeneutische Potential von Fragen oder Novellen fehlen bei ihm völlig. Das zeigt sich besonders eindrücklich in seiner Einschätzung der Bezüge zwischen Questioni d’amore-Episode und Decameron, in der er zugleich noch einmal die Leitlinien seiner Studie skizziert:
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S. 43–49, bes. S. 45f. und die dort angegebene Literatur. Für die gesellige Praxis an seinem Hof ergibt sich daraus freilich noch nichts. Crane, Italian social customs, S. 53–93, hier S. 89. Ebd., S. 92.
109 I have not deemed it necessary to enter here into a detailed examination of the »Decameron«. All that is necessary for the purpose of the present work is found in the »Filocolo«, of which the »Decameron« is only an expansion and improvement. The two principal objects of my book are to trace the use of Questions and Storytelling as a social observancein Europe from the time of the Troubadoursto the end of the seventeenth century. The influence of the »Filocolo« was profound upon the former, and that of the »Decameron« equally profound upon the latter. And yet the »Filocolo« contains all the elements of the »Decameron«, and in reality combines the use of Questions and Story-telling.62
Die Verwendung von Fragen und das Erzählen von Geschichten sind bei Crane alternative Modi geselliger Praxis, deren jeweiliger Verwendung in literarischen Texten er deshalb keine besondere Aufmerksamkeit schenkt, weil er sie für prinzipiell gleichartige Erscheinungsformen hält, deren textueller Niederschlag auf eine soziale historische Praxis schließen lässt. Einen weniger umfassenden, in der Fragestellung jedoch ähnlichen Ansatz wie Crane verfolgt der Aufsatz von Richard F. Green.63 Auch hier werden literarischer Diskurs und gesellige Praxis nicht trennscharf voneinander geschieden. Green liest die Questioni d’amore-Episode als einen von sechs literarischen Belegen für das aristokratisch-höfische Spiel Le roi qui ne ment 64 , bei dem adlige Damen und Herren unter vorheriger Benennung eines Königs liebestheoretische und andere erotische Fragen stellen und beantworten. Dabei geht es ihm vorrangig um den Nachweis, dass die im Spiel verwendeten Fragen in engem inhaltlichen Bezug zu den französischen und englischen Sammlungen von Liebesfragen stehen.65 Darüber hinaus untersucht er die Funktion der spielerischen Verhandlung der Fragen. Im Gegensatz zur Position von Alexander Klein, der in den Liebesfragensammlungen einen verbindlichen Kanon höfischer Liebe vermutet,66 fokussiert er zum einen den prozesshaften Charakter des Spiels: »a more important function of the game was to provoke dis62 63
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Crane, Italian social customs, S. 92. Green, Le roi qui ne ment, S. 211–225. Cranes Arbeit findet bei Green erstaunlicherweise keine Erwähnung. Die Bezeichnung des Spiels entnimmt Green Jacques de Longuyons Les Voeux du Paon (1313), sie taucht (in Übersetzung) darüber hinaus mehrfach in englischen Sammlungen von Liebeskasus aus dem späten 15. Jahrhundert auf, vgl. Green, Le roi qu ne ment, S. 211 und 214f. Green, Le roi qui ne ment, S. 213–222. Damit bestätigt Green eine Annahme, die auf Alexander Klein: Die altfranzösischen Minnefragen. Erster Teil: Ausgabe der Texte und Geschichte der Gattung. Marburg 1911 (= Marburger Beiträge zur Romanischen Philologie, 1), zurückgeht, die aber bspw. von Eero Ilvonen: Les Demandes d’amour dans la littérature franc¸aise du moyen âge. In: Neuphilologische Mitteilungen 14 (1912), S. 128–144, hier S. 137, wegen vermeintlicher Unvereinbarkeit der pedantischen Fragen mit den Funktionen eines höfischen Spiels abgelehnt worden war. Vgl. Klein, Die altfranzösischen Minnefragen, S. 211.
110 cussion and encourage witty improvisation«.67 Zum zweiten weist er dem Spiel eine eminent soziale Funktion innerhalb der höfischen Gesellschaft zu, indem er die These vertritt, das Spiel habe jungen Aristokraten einen Raum des »mock-courtship« eröffnet: The stylized flirtation and erotic sparring that can be detected in every one of these accounts, I wish to argue, is what gave the game ist purpose. In fact, the ›Roi qui ne ment‹ provided an acceptable vehicle for bringing young people of both sexes together and allowing them a degree of social, even sexual, intimacy.68
Mögliche textimmanente Bedeutungen des Spiels für die jeweiligen Texte blendet Green entsprechend seiner Fragestellung aus. Lässt man die Frage nach der Referentialität der Questioni d’amoreEpisode beiseite, so liegt ihre Faszination für die bisherige Forschung – und auch für die vorliegende Arbeit – in der präzisen, konzentrierten Darstellung einer Szene höfischer Geselligkeit, wie sie sich in der hochmittelalterlichen Literatur an keiner anderen Stelle findet. Der Forschungsüberblick hat deutlich gemacht, dass zu den intertextuellen Bezügen der einzelnen questioni bereits ausführliche Vorarbeiten vorhanden sind, während die spezifische Formation von Geselligkeit in der Szene bislang nur in Ansätzen auf ihre Intertextualität und ihren literarischen Konstruktionscharakter hin befragt worden ist. Eine solche Lesart ist vielmehr durch die vorschnelle Klassifizierung der dargestellten Geselligkeit als ›mimetisch‹ verhindert worden, so dass die Befunde zu den Prätexten der einzelnen questioni nicht konsequent auf deren Gesamtanlage übertragen wurden. Die folgenden Untersuchungen verzichten auf spekulative Überlegungen zu den Interferenzen von Diskurs und Praxis. Stattdessen lesen sie die Questioni d’amore-Episode als primär literarischen Text, der in einer spezifischen literarischen Tradition steht und zugleich – darin dürfte seine Besonderheit liegen – eine eigene Tradition stiftet. Die Szene wird nicht allein hinsichtlich der Organisation der geselligen Kommunikation, sondern ebenso hinsichtlich des Entwurfs einer geselligen Runde als literarische Konstruktion zu analysieren sein. Das Stichwort der ›Literarizität‹ impliziert dabei Verfahren der Textproduktion, die den artifiziellen, gemachten Charakter des Textes besonders exponieren, sei es über literarische Motive, narrative Strukturen oder intertextuelle Zitate.69 Zugleich wird sich zeigen lassen, dass die intertextuellen Referenzen 67
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Green, Le roi qui ne ment, S. 219. Die Auffassung, dass minnekasuistische Fragespiele jungen Höflingen als Konversationsübung dienten, vertritt auch Lazard, Ventes et demandes d’amour, S. 147f. Green, Le roi qui ne ment, S. 213. Vgl. Willie van Peer: Art. Poetizität. In: RLW 3 (2003), S. 111–113. Literarizität wird hier teils als Synonym, teils als Oberbegriff zu Poetizität aufgefasst. Poetizi-
111 in den Questioni d’amore in einer Art und Weise angeordnet sind, dass die Szene ihrerseits den Charakter eines Mustertextes annimmt. Wenn dieser in der Folgezeit eine sowohl enge als auch weite produktive Rezeption erfährt, dann spricht das weniger für die Existenz einer außerliterarischen Geselligkeitskultur als vielmehr für die Wirkungs- und Suggestionsmacht der textuellen Konstruktion. Im dezidierten Rückgriff auf mittelalterliche Prätexte einerseits und über deren imaginativ-suggestive (Neu-)Anordnung andererseits kommt den Questioni d’amore des Filocolo, das wird zu zeigen sein, somit eine Schlüsselposition in einer Geschichte der literarischen Darstellung von geselliger Kommunikation zu. Der inneren Chronologie der Questioni d’amore-Episode folgend, wird zunächst der Prozess der geselligen Formation analysiert, daran anschließend das Verfahren der geselligen Kommunikation.
4.2
Gesellige Formation in der Questioni d’amore-Episode
Geselligkeit ist in der Questioni d’amore-Episode nicht von vornherein gegeben, vielmehr wird ihre Herstellung als Abfolge sozialer Prozesse breit dargestellt: Zwei Gruppen treffen an einem spezifischen Ort aufeinander, verbinden sich zu einer gemeinsamen Gruppe und organisieren in einem begrenzten zeitlichen Rahmen ihr gemeinsames Handeln. Der Prozess geselliger Formierung soll hier als Institutionalisierungsprozess aufgefasst werden, der auf die Stabilisierung und Verstetigung von Geselligkeit zielt.70 Dabei steht im Unterschied zur geselligen Institution des Artushofs, der sich insbesondere über den Mechanismus der ›Entzeitlichung‹ stabilisiert,71 bei der Questioni d’amore-Episode die Prozessualität der geselligen Formierung im Vordergrund. Als ›Institution‹ lässt sich die gesellige Runde dagegen nur mit Einschränkungen beschreiben. Zwar teilt sie mit dem institutionellen Muster des Artushofs, aber auch mit Institutionen wie Schule, Kloster oder Wirtshaus den spezifischen Ort (hier die Räume des höfischen otiums wie Fest und Garten) und die über explizite Regeln stabilisierte Ordnung; im Unterschied zu den genannten Institutionen ist sie jedoch kein überzeitliches Phänomen, sondern immer nur von temporärem Bestand. Pointiert ließe sich formulieren, dass die Zeitlichkeit geselliger Ordnungen eine Bedingung ihrer
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tät als »Besonderheit des dichterischen Gebrauchs von Sprache« (S. 111) stellt sich hiernach einerseits über spezifische poetische Verfahren, andererseits über funktionalisierte poetische Abweichungen ggü. der sonstigen Sprachverwendung her (S. 112). Zur Begrifflichkeit vgl. Strohschneider, Institutionalität, S. 1–9. Vgl. Kap. 3.1. Dieser Unterschied ist grundlegend,denn Formierungsprozessebleiben in den arthurischen Geselligkeitsdarstellungen gerade ausgeblendet.
112 Möglichkeit ist. Geselligen Ordnungen wäre damit ein gegenläufiges Moment eingeschrieben: Sie partizipieren zum einen an sozialen Prozessen, die über Reglementierung, Schematisierung und Wiederholung Verstetigung erzeugen. Zum anderen arbeitet ihnen der zumeist von Anfang an begrenzte Zeitrahmen entgegen, der sich in seiner grenzziehenden Funktion allerdings gleichfalls stabilisierend auf die gesellige Runde auswirken kann. Diese einerseits punktuelle, zeitlich begrenzte, andererseits über spezifische Räume und Regeln auf Wiederholbarkeit angelegte Struktur von Geselligkeit soll trotz des augenscheinlich paradoxen Charakters des Begriffs als ›ephemere Institution‹ bezeichnet werden. Die Prozesse geselliger Formierung in der Questioni d’amore-Episode werden im Folgenden anhand der für Institutionalisierungsprozesse beschriebenen Phasen differenziert. So umfasst die Phase der Etablierung die Konstruktion eines Ortes der Geselligkeit (4.2.1) sowie den Prozess der geselligen Gruppenbildung (4.2.2). Stabilisierung wird über die Spielregel, das heißt die Vereinbarung zur geselligen Selbstkonstitution (4.2.3), und Verstetigung über den schematischen Ablauf der Frage-AntwortKommunikation (4.2.4) erzeugt. Entsprechend der bei Strohschneider formulierten Annahme, dass »das Institutionelle an einer Ordnung die symbolische Darstellung ihrer Prinzipien und Geltungsansprüche« sei, kann es bei der historischen Rekonstruktion von Geselligkeit als einer in der Literatur entworfenen ›ephemeren Institution‹ allerdings nicht allein um die Beschreibung der genannten sozialen Prozesse gehen.72 Dass die in der Questioni d’amore-Episode dargestellte Geselligkeit symbolischen Charakter trägt, wird insbesondere über den Nachweis sichtbar, dass sich die exponierten sozialen Prozesse vielfach als intertextuelle Referenzen auf mittelalterliche Prätexte lesen lassen. Der Rückgriff auf Versatzstücke der mittelalterlichen Literatur, die insbesondere im zeitlichen Abstand zu den Prätexten freier verfügbar werden, und deren Montage in formalisierten sozialen Prozessen lassen eine Fiktion geselliger Praxis entstehen, der gerade auf Grund ihres imaginativen Potentials eine starke Wirkmächtigkeit beschieden ist. Gerade die Kombination der beiden Verfahren aber macht die Artifizialität der Szene sichtbar und verweist den Entwurf institutionalisierter Geselligkeit als einer ›kulturellen Ordnung‹ explizit in den Bereich literarischer Imagination. Ergänzend zu dieser Analyse wird eine Beobachtung zu diskutieren sein, die für die Geselligkeitsformation im Filocolo symptomatisch zu sein scheint und in allen Phasen der geselligen Formierung gleichermaßen präsent ist: die simultane Exposition von Egalität und Rang (4.2.5). Die zentralen Merkmale der Geselligkeitsformation in der Questioni d’amoreEpisode werden abschließend zusammengeführt (4.2.6). 72
Strohschneider, Institutionalität, S. 7.
113
4.2.1 Garten und Meer: Etablierung ›höfischer Geselligkeit‹ am Gegen-Ort Der artifizielle Charakter der Questioni d’amore-Szene ist durch ihren Ort innerhalb der Romanhandlung besonders markiert. Dieser Ort kann gegenüber der Romanhandlung als entzogen oder entrückt beschrieben werden. Erzähltechnisch wird die ›Entrückung‹ der Szene dabei auf mehreren Ebenen erzeugt: auf der Ebene der Erzählstruktur ebenso wie auf der Ebene der Raum- und Zeitgestaltung sowie der Figuren und des Erzählers. Mit der Verortung der Questioni d’amore-Episode im Umfeld der Stadt Parthenope ist erzählstrukturell ein folgenschwerer Akt der Entrückung hergestellt: Denn in der über mehrere Stationen strukturierten Suche Florios nach Biancifiori nimmt Parthenope die erste Stelle ein, ohne allerdings aus der Perspektive der planenden literarischen Akteure hierfür vorgesehen zu sein. Dabei ist Kontingenz, hier der Fortunas Eingreifen zugeschriebene Sturm,73 der Grund für die sowohl räumliche als auch zeitliche Herauslösung Parthenopes aus der schemagemäßen Topographie und Chronologie des Romans. Der Sturm, der die Gruppe unmittelbar nach dem Auslaufen aus dem Hafen von Alfea erfasst, greift als Instrument der Kontingenz in die zeitliche und räumliche Planung der Reisenden ein und suspendiert, indem er sie mit beschädigtem Schiff in Parthenope anlanden lässt, Sizilien als erstes (schemagemäßes) Etappenziel. Gegenüber dem Muster des Florisromans, in dem die Suche so organisiert ist, dass an jeder erreichten Station Informationen zur Auffindung von Blanscheflur bereitstehen, die die weitere Reiseroute determinieren, bedeutet die Suspendierung der ersten Station einen handlungslogischen Bruch. Biancifioris Verbleib betreffende Informationen sind nur auf Sizilien zu haben und werden daher in Parthenope auch gar nicht gesucht. Folgerichtig leistet der erst bei der Ausfahrt aus Parthenope gegebene Hinweis darauf, dass die Reise ihren Sinn maßgeblich aus der Suche nach solchen Informationen bezieht, die Wiederanknüpfung der Handlung an das nach der Ausfahrt aus Alfea verlassene Schema.74 Bezogen auf die am Schema des Minne- und Aventiureromans orientierte Erzählstruktur, wird Parthenope auf diese Weise zu einem oŒ-tÏpoc, einem Nicht-Ort: Auf der intendierten, an der Handlungslogik des Schemas ausgerichte-
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Vgl. IV,6,4 und IV,9,4. In der frühneuzeitlichen Literatur wird der Konnex von Schifffahrt und Kontingenz systematisch; so hat Gotthart Frühsorge gezeigt, dass die Schifffahrtzum festen Inventarder frühneuzeitlichenFortuna-Ikonographiegehört, vgl. ders.: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974, S. 98–101. » […] gli antichi porti di Partenope abandonarono, disiderosi di pervenire dove dagl’iddii fu loro promesso di trovare di Biancifiore vere novelle« (IV, 75, 24).
114 ten Reiseroute der Figuren ist er weder zeitlich noch geographisch vorhanden.75 Die Episode der Questioni d’amore ist aber nicht nur gegenüber der Topographie der Romanhandlung entzogen, sondern wird auch innerhalb der Parthenope-Szene in mehrfacher Weise als distanziert markiert. So befindet sich die Gesellschaft der Fiammetta in einem Garten, der als hortus conclusus und locus amoenus zugleich ausgewiesen wird: Er ist zwar nicht sehr weit, aber doch deutlich außerhalb der Stadt lokalisiert76 und wird als visuell abgeschirmter Ort beschrieben. Florio und seine Begleiter können die Gesellschaft im Garten zunächst nur auditiv wahrnehmen: »udirono in esso [dem Garten, C. E.] graziosa festa di giovani e di donne. E l’aere di varii strumenti e di quasi angeliche voci ripercossa risonava tutta […]« (IV,14,3). Innen und Außen des Gartens sind deutlich geschieden und werden mehrfach betont.77 Zudem ist der Garten durch die klassischen Attribute wie Sonnenschein, Gesang, Musik und eine entsprechende Naturtopik als locus amoenus gekennzeichnet.78 Die topische Lieblichkeit wird noch einmal intensiviert, wenn sich die Gruppe zur gemeinschaftlichen geselligen Beschäftigung in den kühlen Teil des Gartens zurückzieht (IV,17,3). Zugleich markiert dieser Rückzug eine weitere Distanzierung von der Romanhandlung. Neben der räumlichen Auszeichnung der Szene ist diese auch zeitlich besonders markiert. Auf der Ebene der erzählten Zeit umfasst der Aufenthalt in Parthenope ingesamt fünf Monate,79 was nicht nur erzählstrukturell den Effekt der Handlungsretardierung intensiviert, sondern auch auf der Figurenebene Florios Melancholie verstärkt. Der Retardierung auf der Ebene der erzählten Zeit korrespondiert allerdings ein stark raffendes Verfahren auf der Ebene der Erzählzeit. In der Episode 75
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Während das Inserat der Station Parthenope in Bezug auf den Florisroman einen Schemabruch darstellt, greift die Initiationder Szene über die kontingenzerzeugende Meerfahrt ein Motiv des Brautwerbungsromansauf und dokumentiert auf diese Weise die literarische Kompetenz des Erzählers, der über das Repertoire volkssprachlicher Literaturmodelle souverän verfügt und sie subtil zu montieren versteht. »I quali non furono così parlando guari dalla città dilungati, che essi pervenuti allato ad un giardino« (IV,14,3). Die Markierung von ›innen‹ und ›außen‹ wird durch Verben des Ein- und Austretens erzeugt: »un giovane usci del quello [giardino, C. E.]« (IV,14,4), »usciti del giardino« (IV,14,5), »passare […] nel giardino« (IV,14,5), »nel bel giardino se n’entrarono« (IV,14,7), aber auch durch Lokaladverbien wie fuori : »la fortuna così lui e i compagni fuori del giardino tenea ad ascoltare sospesi« ( IV,14,4). Vgl. zur Topik des ›Lustorts‹ Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 11. Aufl. Tübingen 1993, S. 202–206. Der Hinweis auf die zeitliche Dauer des Aufenthalts wird, wie so viele Zeitund Ortsangaben im Filocolo, in eine antikisierende Formulierung gekleidet: »Videro Filocolo e’ suoi compagni Febeia cinque volte tonda e altretante cornuta« (IV,11,1), vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 755 (Anm. IV,11,1).
115 der Questioni d’amore kehrt sich dieses Verhältnis um: Während die Szene auf der Ebene der erzählten Zeit nur einen Tag einnimmt, verlangsamt sich das Erzähltempo mit Florios Eintritt in den Garten der Fiammetta so stark, dass es, vor allem in der Disputation der 13 Kasus, mit der Erzählzeit nahezu in eins fällt. Dieser ostentativen Verringerung des Erzähltempos entspricht auf der Seite des schriftlichen Textes die quantitative Ausdehnung der Szene. Eine weitere Beobachtung betrifft die strukturelle Komposition des Parthenope-Aufenthalts. So wird die Questioni -Episode von zwei Traumvisionen Florios gerahmt, die jeweils allegorisch auf seine Situation zu beziehen sind.80 Durch diese Rahmung wird die Questioni d’amore-Episode zusätzlich strukturell exponiert. Diese Exposition erhält weiteres Gewicht dadurch, dass es sich um Szenen handelt, die als Visionen jeweils – hier mentale – Entrückungszustände thematisieren. Darüber hinaus eint die drei Szenen, dass sie als Gattungsinserate gelten können, die jeweils durch eigene Schreibweisen gekennzeichnet sind. Die Ausführungen machen deutlich, dass der Ort der Questioni d’amore im Filocolo der Romanhandlung in unterschiedlicher Weise entzogen ist. Dabei wird die Distanzierung der Szene durch erzähltechnische Strategien bewirkt, die ein schemagebundenes Erzählen dezidiert durchkreuzen. Welche Funktion kann aber die zeitliche, räumliche und diskursive ›Entrückung‹ der Szene im Handlunsgsverlauf übernehmen? Antworten lassen sich am ehesten auf der Ebene der Erzählstruktur finden. Ausgehend von der Bestimmung Parthenopes als utopischer Ort kann die Questioni d’amore-Episode als ›Gegen-Ort‹ aufgefasst werden, der auf wenigstens dreierlei Weise realisiert ist: 1) Als locus amoenus bildet die Questioni -Episode eine erzählstrukturelle Opposition zu der Melancholie Florios, jener durch die Abwesenheit des Liebespartners ausgelösten Krankheit, die Florio in Parthenope erneut heftig befallen hat.81 Der Text exponiert dabei die Grenze, an der Florios Melancholie als individuelle Disposition in Relation zu der kollektiven Fröhlichkeit der Gartengesellschaft tritt: »i quali canti a Filocolo piacque di stare alquan80
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Die Rahmung der Questioni -Episode durch die beiden Visionen und die hierdurch erzeugte Exposition der Szene betont auch Kirkham, Questioni d’amore, S. 53f., wobei sie die Szenen – analog zu ihrer Gesamtinterpretation – als Allegorien für »courtly love« zum einen, »christian love« zum anderen liest. Ob die Deutung der Visionen so einsinnig geleistet werden kann, ist in Frage zu stellen, denn der Text enthält keine Hinweise auf mögliche Allegoresen. Symptomatisch hierfür ist Ascalions Antwort auf Florios erste Vision: »Strane cose ne conta il tuo parlare – disse Ascalion, – né che ciò si voglia significare credo che mai alcuno conoscerebbe« (IV, 14,1). Zu den Erscheinungsformen der Liebeskrankheit im Filocolo vgl. Giovanni Palmieri: Filocolo philocaptus: lo stereotipo della melanconia amorosa nel Boccaccio. In: Il verri 42 (1997), S. 109–141, hier bes. S. 125f.; sowie Kap. 5.3.1 und den dortigen Exkurs.
116 to a udire, acciò che la preterita malinconia, mitigandosi per la dolcezza del canto, andasse via.« (IV,14,3).82 Die wahrnehmbaren Zeichen kollektiver adliger Geselligkeit ermöglichen als remedia amoris die temporäre Suspension der Melancholie des Protagonisten, die sein eigentliches Movens ist. Die Aussetzung der Melancholie Florios in Fiammettas Garten steht dabei in unmittelbarer Spannung zu der durch die Handlungsaussetzung in Parthenope intensivierten Krankheitssymptomatik. 2) Der Fröhlichkeit der graziosa festa di giovani e di donne steht aber strukturell nicht nur die malinconia des Florio gegenüber, sie bildet als Ausdruck modellhaften adligen Lebens zudem das Gegenstück zu der lebensgefährdenden Situation des Schiffbruchs, der Florio mit seinen Leuten gerade entkommen ist. Dass der Sturm auf offenem Meer einer todbringenden Situation analog gesetzt wird, zeigt sich nicht nur am Monolog Florios, in dem er seine Bereitschaft zu sterben bekundet (vgl. IV,8), sondern auch an der Erzählerbeschreibung, als die Gruppe das Schiff am nächsten Tag verlässt: »a’ quali più tosto della sepoltura risuscitati parea uscire che della nave« (IV,10,1).83 Die Erfahrung von Tod und Zerstörung wird wie schon die Melancholie an die Grenze des Gartens herangetragen, wenn Florio Fiammettas Gesellschaft erklärt: »ma sì come naufragi gittati ne’ vostri porti, per fuggire gli accidiosi pensieri che l’ozio induce, andavamo per questi liti le nostre avversità recitando […]« (IV,14,6).84 3) Indem die Questioni d’amore-Episode exemplarisch eine spezifische Form geordneter Geselligkeit vorführt, bildet sie eine erzählstrukturelle Opposition zur Kontingenz der Meerfahrt. Das potentiell todbringende Chaos einer unberechenbaren Natur, durch das die erste Reiseetappe gekennzeichnet ist, wird kontrastiert mit einer Szene freudespendender, dabei von Menschen gemachter, zivilisierter Ordnung. An Florios Verwendung des Begriffs ozio zeigt sich diese polare Konstellation. Während Florio den aus der Kontingenz des Schiffbruchs erwachsenen ozio in Parthenope als Ursache für seine trüben Gedanken und seine Melancholie verantwortlich macht, bewirkt das otium, das Fiammettas Gesellschaft pflegt, das genaue Gegenteil. Entscheidend ist, wie das Kollektiv mit dem otium umgeht.
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»It pleased Filocolo to stand and listen for a while to these songs, so that his earlier melancholy might be mitigated by the sweetness of the song, and go away« (241). »[…] who felt they were leaving a tomb rather than a ship« (236). »[…] as shipwrecked persons cast into your ports, we were wandering these shores rehearsingour misfortunes,hoping to escape the bitter thoughts that sloth induces« (241).
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4.2.2 Nobilità, cortesia und persönliche condizione: Die Etablierung der geselligen Runde als sozialer Körper Im Anschluss an die Überlegungen zum Ort, der der geselligen Runde im Roman zugewiesen wird, soll im Folgenden das Figurenpersonal betrachtet werden, aus dem sich die gesellige Runde zusammensetzt. Indem Florio und seine Begleiter als Fremde auf Fiammetta und ihre Gruppe stoßen, sind die Voraussetzungen für Geselligkeit als einer Organisationsform, die – zeitlich und räumlich begrenzt – soziale Egalität der Teilnehmer fingiert und dadurch bestehende soziale Hierarchien suspendiert, nicht bereits gegeben, sondern müssen allererst hergestellt werden. Zu diesen Voraussetzungen, die das Verschmelzen der beiden einzelnen Gruppen zu einem einzigen sozialen Körper ermöglichen, gehört die Klärung der Identität der jeweils anderen sowie die Verständigung auf einen gemeinsamen Wertehorizont. Folgerichtig dominieren Fragen der sozialen Identifizierung der Neuankömmlinge die Eingangsszenerie der Questioni -Episode (IV,14 – IV,17). Die Ausgangskonstellation stellt sich so dar: Im Garten und uneinsehbar für Florio und seine Begleiter befindet sich die Gruppe der Fiammetta, die bereits durch den Ort selbst sowie Instrumentenspiel und Gesang als gesellig ausgewiesen ist. Florio und seine Begleiter hingegen sind, durch die auditiven Anzeichen dieser Geselligkeit verleitet, außerhalb des Gartens stehen geblieben. Der Prozess der geselligen Formierung hat die beiden Gruppen räumlich zusammenzuführen, er hat ihre soziale Homogenität und gruppenübergreifende Kompatibilität zu erweisen und Geselligkeit als eine den neuen sozialen Körper stabilisierende gemeinschaftliche Beschäftigung zu etablieren. In der folgenden Analyse soll die spezifische Choreographie dieses sozialen Aushandlungsprozesses herausgearbeitet werden. Drei Phasen sind hierbei zu unterscheiden: Der erste Kontakt zwischen den Gruppen Fiammettas und Florios ist visuell. Ein junger Mann tritt aus dem Garten und sieht die draußen Stehenden: »e videli, e nell’aspetto nobilissimi e uomini da riverire gli conobbe.« (IV,14,4)85 Bereits der erste Blick zielt auf die soziale Identität der Neuankömmlinge und findet im Anblick (»nell’aspetto«) der Körper auch gleich eine Antwort, indem er zur Erkenntnis (»cognosco«) führt, die Fremden seien nobilissimi uomini. Nobilità ist somit die visuell ermittelte Wertbasis, auf der das Fremde und das Eigene integriert werden können.86 Die soziale Ähnlichkeit der Fremden bewirkt auf der Seite von
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»[…] and saw them, and recognized from their appearance that they were noble and respectable gentlemen« (241). Adel kann – insbesondere im höfischen Roman – erkannt werden, auch ohne dass seine Erkennungszeichen explizit thematisiert sein müssen, er ist gewissermaßen
118 Fiammettas Leuten eine dem adligen Verhaltenscodex gemäße Reaktion. Der junge Mann wendet sich an seine Freunde im Garten und fordert sie auf, die Fremden zu begrüßen: »onoriamo alquanti giovani, ne’ sembianti gentili e di grande essere« (IV,14,4).87 Mit der Schlussfolgerung, dass der äußerlich manifestierte Adel auf adliges Wesen (»grande essere«) verweise, ordnet sich der Text einer sozialen Semiotik zu, die für den höfischen Roman insgesamt kennzeichnend ist.88 Indem nun eine kleine Gruppe von Herren die Damen im Garten zurücklässt89 und auf Florios Gruppe zugeht, wird die soziale Korrespondenz der Gruppen auch räumlich betont. Auf die erste Erkenntnis, dass es sich bei den Neuen um Adlige handelt, folgt die ebenfalls visuell gestützte Erkenntnis, dass Florio der Anführer der Gruppe ist: »[…] vennero a Filocolo, il quale nel viso conobbero di tutti il maggiore« (IV,14,5).90 An ihn ergeht die Einladung, mit den anderen in den Garten einzutreten und am geselligen Treiben teilzunehmen: »pregandolo che in onore e accrescimento della loro festa gli piacesse co’ suoi compagni passare con loro nel giardino« (IV,14,5).91 Die Kennzeichen höfischen Verhaltens, Respektbezeugung und freundliche Einladung sowie deren adäquate verbale Umsetzung, liefern wiederum Florio den entscheidenden Hinweis zur sozialen Identifizierung der ihm Gegenübertretenden. So lässt er seine Antwort mit der Anrede »amici« (IV,14,6) beginnen und nennt dann als Grund, warum er sich – obwohl es seiner Disposition als Schiffbrüchi-
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›selbstevident‹, vgl. Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008 (= MTU, 135), S. 16–24 sowie S. 239–254, der Begriff u. a. S. 240. Damit scheint es sich hier um ein Beispiel für asemiotischesErkennenzu handeln, dem jedoch, wie Schulz überzeugenddargelegt hat, »eine – wiederum ganz körperlich gedachte – Merkmalsgleichheit zwischenErkennendem und Erkanntem, die Teilhabe an einer transpersonalen Identität« zugrunde liegt (ebd., S. 498–503, Zitat S. 500). Zumindest im vorliegenden Beispiel findet diese ›transpersonale Identität‹ in den Körpern der Adligen zwar nur impliziten, aber, da sie sich visuell wahrnehmen lässt, doch letztlich zeichenhaften Ausdruck. »Come, let us pay our respects to these youths, who appear genteel and of substance« (241). Vgl. Schulz, Schwieriges Erkennen, S. 7f. und S. 212–216, der vor dem Hintergrund der älteren Forschung zur Lesbarkeit höfischer Körper und höfischen Verhaltens festhält, dass die Gültigkeit dieser Annahme in vielen Texten der höfischen Epik gerade in Frage gestellt wird; für Beispiele vgl. ebd., S. 208–289. Im vorliegenden Fall gilt die Übereinstimmung von Äußerem und Innerem hingegen ganz ungebrochen. »Lasciarono adunque i compagni di costui le donne alla loro festa« (IV,14,5). »[they] approached Filocolo, whom they recognized from his appearance to be the principal figure in the group« (241). »[…] urging him to honor and increasetheir party by bringing his friends with them into the garden« (241).
119 gem nicht entspreche92 – zu einer Annahme der Einladung entscheide, die cortesia der anderen: »voi, in cui cortesia infinita conosco« (IV,14,6).93 Gleichzeitig gebietet es ihm das eigene höfische Verhalten, einen rhetorischen Gabentausch zu vollziehen, indem er jenen Wert, den er den Anderen zuschreibt, sich und seinen Leuten aberkennt.94 Die erste Phase des Prozesses, in der sich die beiden Gruppen aufeinander zubewegen, etabliert über die wechselseitige Identifizierung von nobilità und cortesia zunächst grundsätzliche soziale Homogenität.95 Das Instrument hierzu liefert die sinnliche Wahrnehmung der adligen Körper und ihres Handelns.96 Flankiert wird die Phase der Homogenisierung durch die räumliche Strukturierung der Szene: Beide Gruppen bewegen sich zunächst außerhalb des Gartens aufeinander zu, um dann auf der Basis adliger »Merkmalsgleichheit«97 und eines gemeinsamen Wertehorizonts zusammen wieder in den Garten einzutreten. Der räumlichen Struktur wiederum entspricht die Aufteilung der Geschlechter: Die Phase der sozialen Homogenisierung ist ganz den männlichen Figuren überlassen, während die Damen unsichtbar im Garten zurückbleiben. Über das sich anschließende gesellige Treiben erfährt man nur, dass Florio eine paradoxe Position zwischen Beobachter und Teilnehmer einnimmt (»Filocolo per grande spazio ebbe la festa di costoro veduta, e festeggiato con essi«, IV,15,1),98 was darauf verweist, dass die soziale Integration der Gruppen noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Seiner Entscheidung, die Gartengesellschaft gegen Mittag wieder zu verlassen, wird die Bitte Fiammettas entgegengesetzt, deren Identität Florio und seinen Männern hier noch unbekannt ist: Nobilissimo giovane, voi per la vostra cortesia questa mattina a questi giovani avete fatta una grazia, per la quale essi sempre vi sono tenuti, cioè di venire ad onorare la 92 93 94
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Vgl. IV,14,6. »[…] and I can recognize infinite courtesy in you« (241). »[…] e però a’ vostri prieghi satisfaremo, ancora che forse parte della cortesia, che da noi procedere dovrebbe, guastiamo« (IV,14,6). Nicolas J. Perella: The world of Boccaccio’s »Filocolo«. In: PMLA 76 (1961), S. 330–339, hier S. 337–339, hat gezeigt, dass nobilità und cortesia nicht nur in der Questioni d’amore-Episode, sondern im Wertehorizont des gesamten Romans ein besonderer Stellenwert zukommt. Sie können jeweils als Markierungen der ritterlich-höfischen Welt gelten, die Boccaccio im Filocolo entwirft. Indem nobilità semiotisch in Aussehen und Verhalten kodiert ist, ihre Wahrnehmung also nicht auf explizitesWissen angewiesenist, wird eine mittelalterlicheEpisteme perpetuiert, vgl. hierzu Schulz, Schwieriges Erkennen, S. 212–216. Eine Ablösung des Begriffs nobilità von der sozialen Herkunft, wie sie bspw. Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 262, für Dante reklamiert, oder gar dessen Ersetzung durch das neue Konzept des Tugendadels sind hier entsprechend nicht festzustellen. Der Begriff bei Schulz, Schwieriges Erkennen, S. 181–184 und S. 500. »[…] Filocolo had observed their festivity for a long time, and participated in it« (242).
120 loro festa: piacciavi, adunque, all’altre donne e a me la seconda grazia non negare. (IV,15,2)99
Wieder wird mit cortesia die gemeinsame Verständigungs- und Wertebasis aufgerufen, gleichzeitig aber zeigt sich, dass die Gruppen noch nicht vollständig sozial amalgamiert sind. Die Spaltung, die zunächst an der Figur des Florio demonstriert wurde, zeigt sich auch in Fiammettas Wahrnehmung: Die fremden Gäste sind die Gäste der Männer (a questi giovani avete fatta una grazia […] di venire ad onorare la loro festa) und als solche haben sie die Gesellschaft der Fiammetta entlang der Geschlechtergrenze gespalten, eine alle – Damen und Herren – einschließende Gruppe hat sich bislang noch nicht gebildet. Mit der Entscheidung Florios, zu bleiben, wird diese Integration seiner homosozialen Gruppe in die heterosoziale Gruppe der Fiammetta schließlich vollzogen. Im Gegensatz zu dem sozial integrativen Ergebnis des Dialogs zwischen Florio und Fiammetta ist dieser selbst auf das literarische Muster des Minnedienstes bezogen, das wiederum Rang- und Geschlechterdifferenzen besonders exponiert. Mit den folgenden Positionen des kleinen Wortwechsels: 1) der Bitte Fiammettas um einen Gefallen, 2) Florios Zusage, den Gefallen zu geben,100 3) Fiammettas Bitte darum, dass Florio und seine Begleiter noch den Tag über bleiben mögen,101 sowie 4) Florios Einwilligung in diesen Wunsch102 begeben sich Florio und Fiammetta in die Rollen von Minnedame und Minneherr. Insbesondere die Verwendung einer topischen Minnerhetorik (das Gewähren bzw. Versagen von Gefallen: grazia negare, piacere adempiere, die Unterwerfung unter die Befehlsgewalt der Dame: comandate, das Hintanstellen eigener Aufgaben: mio dovere) unterstreicht diese über das Einnehmen von literarischen Rollen fingierte Hierarchie.
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»Noble youth, you courteously granted a favor this morning to these young men, for which they will always be grateful, in coming to honor their festival; may it please you, then, not to deny a second favor to the other ladies and myself.« (242) »Gentil donna, a voi niuna cosa giustamente si poria negare; comandate: io e’ miei compagni a’ vostri piaceri tutti siamo presti.« (IV,15,3) (»Gentle lady, nothing can rightly be denied you; so command me. My friends and I are ready to do your pleasure.« [242]) »Con ciò sia cosa che voi, venendo, in grandissima quantità la nostra festa multiplicaste, io vi voglio pregare che partendovi non la manchiate, ma qui con noi questo giorno, in quello che cominciato avemo, infino alla sua ultima ora consumate.« (IV,15,3) (»Since your coming has added greatly to our festivity, I want to urge you not to diminish it by leaving, but rather to remain here with us today, to the final hour of what we have begun.« [242]) »Madonna, disposto sono a più tosto il vostro piacere che ’l mio dovere adempiere: però quanto a voi piacerà, tanto con voi dimorerò« (IV,15,5) (»My lady, I am more ready to perform your pleasure than I am to perform my duty; I shall remain with you as long as you like, and my companions with me.« [242])
121 Während in der ersten Phase über die Ermittlung des gemeinsamen sozialen Rangs der nobilità und des vergemeinschaftenden Wertehorizonts der cortesia eine erste Stufe der Vergesellschaftung im Kreis der Männer vollzogen wird, konstituiert sich die Gruppe in der zweiten Phase als gemischtgeschlechtliche. Als zentrale Metapher für diesen Vorgang dient das Muster des Minnedienstes, nach dem sich Florio mit seinen Leuten unter Fiammettas Herrschaft begibt. Dass es sich um eine nur kurzfristig fingierte Unterwerfung handelt, die die soziale Homogenisierung der Gruppe entscheidend befördert, statt sie zu unterlaufen, zeigt die Bemerkung Fiammettas: »Ringraziollo la donna, e ritornando all’altre, con esse insieme s’incominciò a rallegrare.« (IV,15,5)103 In der dritten Phase des Gruppenbildungsprozesses folgt nun eine präzisere Ermittlung der Identitäten der jeweiligen Gruppenprotagonisten Florio und Fiammetta. Als primi inter pares in ihren jeweiligen Gruppen wird über die Offenlegung ihrer Identität stellvertretend ein Maß an Intimität und Vertrautheit hergestellt, das für die Integration der beiden Gruppen zu einer geselligen Runde konstitutiv ist. Die wechselseitige Erkundung und Offenlegung der Figurenidentitäten vollzieht sich im Rahmen eines Zwiegesprächs zwischen Florio und Caleon, einem jungen Mann aus Fiammettas Gruppe, der, dem Wertehorizont der cortesia entsprechend, durch elegantes Auftreten und eloquente Sprache ausgezeichnet ist.104 Dass die Integration der beiden Gruppen zu diesem Zeitpunkt nicht letztgültig vollzogen ist, zeigt sich am Sprachgebrauch der beiden Figuren, die sich durch die Verwendung der Pronomen noi und voi noch immer als separate soziale Entitäten definieren.105 Das Gespräch setzt mit einer Reflexion über die Existenzbedingungen von Geselligkeit ein, wenn Florio bemerkt, dass die Gartengesellschaft unter der besonderen Gunst der Götter stehe, da es ihr vergönnt sei, auf friedliche Weise gemeinsam fröhlich zu sein (»in una volontà pacifici […] di far festa«, IV,16,1). Auf Caleons Frage, wie er zu dieser Feststellung komme, antwortet Florio: »Certo niuna altra cosa se non il vedervi qui così assembrati tutti in un volere.« (IV,16,1)106 In seiner Antwort schreibt Caleon diesen absichtsvollen Willen (volere) Fiammetta zu und erweist damit den Ursprung von Geselligkeit als menschlichen: »Certo – disse Caleon – non vi maravigliate di ciò, ché quella donna, in cui tutta leggia-
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»The lady thanked him and returned to the other ladies, and together they began to make merry.« (242) »[…] un giovane chiamato Caleon, di costumi ornatissimo e facundo di leggiadra eloquenza« (IV,16,1). Vgl. IV,16,3–7. »Indeed […] nothing but seeing you all assembled here in a single purpose.« (242)
122 dria si riposa, a questo ci mosse e tiene.« (IV,16,2)107 Geselligkeit, so lässt sich folgern, entsteht weder aus sich selbst und ist auch nicht – wie Florio vermutet – Zeichen göttlicher Gunst, sondern Ergebnis menschlichen Willens, hier des Willens einer Frau. Während die Beschreibung der sozialen Situation des festeggiare den Aspekt der Egalität (assembrati tutti) und der alle gleichermaßen verpflichtenden Zielsetzung (in un volere) ausstellt, wird mit der Rückführung des volere auf eine Urheberin und damit auf eine autoritative Position erneut die dialektische Konstruktion von Geselligkeit als eine Egalität und Hierarchie gleichermaßen vereinende soziale Form thematisiert. Die Erwähnung der donna eröffnet Florio die Möglichkeit, nähere Informationen einzuholen. Er erfährt, dass die von Caleon als Initiatorin der Runde bezeichnete Dame identisch ist mit derjenigen, die ihn vorher zum Bleiben aufforderte. Nachträglich bestätigt Florio deren Auszeichnung, die sich auf der Ebene von nobilità und cortesia wiederum über das Kriterium der Sichtbarkeit herstellt: »Bellissima e di gran valore mi pare nel suo aspetto« (IV,16,3).108 Eine über diese visuelle Markierung hinausgehende soziale Identifizierung erfragt Florio im Folgenden über die Merkmale des Namens und der Herkunft: »[…] ma se ingiusta non è la mia domanda, manifestimisi per voi il suo nome, e donde ella sia e di che parenti discesa« (IV,16,3).109 Die Herstellung von personaler Identität orientiert sich damit ganz eng an den aus der mittelalterlichen, sowohl höfischen als auch heldenepischen, Literatur bekannten Mustern. Die Trias aus Name, lokaler und genealogischer Herkunft macht den Einzelnen verortbar, er wird erst zur berechenbaren Größe, wenn er sich in dieses Koordinatensystem einfügen lässt.110 Über Fiammetta ist so zu erfahren, dass sie zwei Namen trägt: Während sie bei den meisten Leuten den Namen der Gottesmutter trägt,111 wird sie im Kreis der Anwesenden Fiammetta genannt. Sie ist Tochter des Landesfürsten, der sich durch eine Friedensherrschaft auszeichnet. Caleons Zusatz, in dem er sie als ›unser aller Herrin‹ bezeichnet (»Ella […] a noi tutti è donna«, IV,16,5), unterstreicht noch einmal – wiederum in der Terminologie 107
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» ›Indeed,‹ said Caleon, ›do not marvel at this; for that lady in whom all graces dwell has moved us to this and keeps us so.‹ « (242) »She seems most lovely and of great worth in her appearance« (242). »[…] but if my request is not improper, let her name be made known to me by your means; and where she is from and from what parents descended.« (242) Vgl. Klaus Ridder: Namengebrauch und Sinnstiftung im Minne- und Aventiureroman. In: Poetica 31 (1999), S. 101–123, bes. S. 101–106. Der Name Maria, der hier sicher – wie auch die Forschung immer wieder betont hat – auf Maria D’Aquino anspielt, wird nicht direkt genannt, sondern – symptomatisch für das stilistische Verfahren des Filocolo – in der folgenden Anspielung verborgen: »il nome di Colei […] per cui quella piaga, che il prevaricamento della prima madre aperse, richiuse« (IV,16,4).
123 des sozialen Rangs – die herausgehobene Position, die Fiammetta innerhalb der Gruppe einnimmt. Mit dieser im Sinne mittelalterlicher Literatur vollständigen Angabe zur personalen Identität Fiammettas ist der Herstellung von Vertrautheit genüge getan; die übrigen Damen brauchen nur noch kollektiv vorgestellt zu werden.112 Im Gegenzug erwartet Caleon entsprechende Informationen zu Florios Identität. Zwar lässt bereits dessen Körper Rückschlüsse auf sozialen Rang und Geltung innerhalb der Gruppe zu, aber für eine vollständige Identifizierung seiner Person ist das noch nicht ausreichend: »a me molto sarebbe a grado di vostra condizione conoscere più avanti che quello che il vostro aspetto ripresenti« (IV,16,7).113 Florio weiß, dass er Caleon ergänzend zu seiner indexikalisch am Körper kodierten Identität als gentil’ e nobil’ uomo Informationen schuldig ist, die der verbalen Offenlegung (scoprire) bedürfen, um wahrnehmbar zu werden: »ingiusto saria di ciò non sodisfarvi, e péro, quanto licito m’é di scoprirne, ve ne dirò.« (IV,16,8)114 Mit der Formulierung licito ist allerdings ein zentrales Problem angesprochen: Caleons berechtigte Erwartungshaltung, Auskunft über Florios Identität – hier bezeichnet durch den Begriff condizione – zu erhalten, gerät in Konflikt mit dessen Situation als inkognito Reisender. Zwar ist seine aktive Suche nach Biancifiori in Parthenope ausgesetzt, die Prämissen, unter denen er die Reise angetreten hat, gelten aber weiterhin. Insofern darf er, wenn er seine eigenen Vorsätze nicht verletzen will, seine Identität nicht preisgeben. Folglich legt er auch nur seine angenommene Identität offen, die sich insbesondere mit dem Pseudonym Filocolo verbindet.115 Dabei ergibt sich aus der Tatsache, dass er über zwei Namen verfügt, auch wenn er nur das Pseudonym nennt, wenigstens für 112
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Zwar fragt Florio explizit nach ihnen, bekommt aber nur eine sehr allgemein bleibende Antwort von Caleon: »Queste donne sono alcune di Partenope, e altre altronde in sua compagnia, sì come noi medesimi, qui venute.« (IV,16,6) »I would be very happy to know more of your own situation than your apperance [sic] shows« (243). »[…] it would be improper not to satisfy you, and so I shall tell you, in so far it is permitted me to reveal it.« (243) Bevor Florio mit seinen Begleitern zur Suche nach Biancifiori aufbricht, nimmt er das Pseudonym Filocolo an, in erster Linie, um von denjenigen, die Biancifiori gefangen halten, nicht erkannt zu werden (was wiederum auf den Stellenwert des Namens für die Identifizierbarkeit einer Person verweist). Den gräzisierenden Kunstnamen Filocolo etymologisiert Florio wie folgt: »Filocolo è da due grecinomi composto, da ›philos‹ e da ›colon‹; e ›philos‹ in greco tanto viene a dire innostra lingua quanto ›amore‹ e ›colon‹ in greco similemente tanto in nostra lingua risulta quanto ›fatica‹: onde congiunti insieme, si può dire, trasponendo le parti, fatica d’amore.« (III,75,5), vgl. zum Problem der fehlerhaften Etymologie, den entsprechenden Rückschlüssen auf Boccaccios Griechischkenntnisse und den vorgenommenen Korrekturen der Filocolo-Rezeption Boccaccio, Filocolo, S. 750 (Anm. III,75,5).
124 den Leser eine Analogie zu den zwei Namen der Fiammetta, womit auch auf dieser Ebene die Symmetrie in der Annäherung der beiden Gruppen besonders herausgestellt wird. Prekär ist für Florio vor allem die Frage der Genealogie. Während er das Pseudonym Filocolo gefahrlos als seinen Namen ausgeben und auch seine spanische Herkunft benennen kann,116 würde die wahrheitsgemäße Angabe seiner Abstammung ihn vollständig identifizieren und seine Camouflage enthüllen. Das für die Herstellung von vollständiger und somit eindeutiger personaler Identität gleichwohl stärkste Kriterium der genealogischen Herkunft fällt somit aus. Florio kompensiert diese im Vergleich mit Fiammetta entstehende Leerstelle, indem er stattdessen seine Geschichte einfügt: Io sì sono un povero pellegrino d’amore, il quale vo cercando una mia donna a me con sottile inganno levata da’ miei parenti: e questi gentili uomini i quali con meco vedete, per loro cortesia nel mio pellegrinaggio mi fanno compagnia: e il mio nome è Filocolo, di nazione spagnuolo, gittato da tempestoso mare ne’ vostri porti, cercando io l’isola de’ siculi. (IV,16,9)117
Auf diese Weise ist es ihm möglich, seine Eltern zu nennen, ohne sie zu identifizieren. Dass die ersatzhalber inserierte Geschichte des Suchenden und Liebenden ihrerseits nicht zu ausführlich geraten darf, um nicht ihre Funktion als verbergende Enthüllung zu konterkarieren, zeigt der folgende Erzählerkommentar: »Ma tanto coperto parlare non gli seppe, che il giovine di sua condizione non comprendesse più avanti che Filocolo disiderato non avrebbe […]« (IV,16,10).118 Florios Strategie geht dennoch auf: Die seine genealogische Identität ersetzende narratio wird zusammen mit seinem Namen und seiner lokalen Herkunft als hinreichende Identifizierung seiner condizione, und somit als Rekonstruktion seiner personalen Identität, akzeptiert.119 So reagiert Caleon auf die Erzählung von Florios accidenti mit Mitleid, tröstenden Worten und vermehrten Ehrbezeugungen, und auch Fiammetta, von Caleon unterrichtet, hält ihre Gruppe an, Florio in besonderer Weise zu ehren, denn »in sé molto 116 117
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»[…] il mio nome è Filocolo, di nazione spagnuolo […]« (IV,16,9). »I am a poor pilgrim of love, who goes seeking a lady of mine who was taken from me with stealthy guile by my parents; and these gentlemen whom you see with me are courteously accompanying me on my pilgrimage; and my name is Filocolo, of the Spanish nation, cast into your port by stormy winds while seeking the isle of the Siculi.« (243) »But he did not know how to speak so covertly that the young man could not understand more about his situation than Filocolo would have wished […]« (243). Der Begriff condizione wird in dieser Textpassage allein dreimal verwendet (IV,16,7+8+19). Er wird als expliziter Gegenbegriff zu aspetto verwendet und kann als Sammelbezeichnungfür all jene Identitätsmerkmaleaufgefasstwerden, die nicht über das Kriterium der Sichtbarkeit etabliert werden können, neben Name, lokaler und geographischer Herkunft eben auch die persönliche Geschichte. Damit wird der engere Identitätsbegriff um ein narratives Moment erweitert.
125 caro avendo tale accidente« (IV,16,11).120 Diese Wendung des Gesprächs, insbesondere das Absehen vom Kriterium der genealogischen Herkunft, wirft die Frage auf, welche Eigenschaften der aus kaum mehr als faktenhaften accidenti kompilierten narratio es sind, mit denen innerhalb der Logik der übergeordneten Erzählung die Identifikation Florios geleistet wird. Inhaltlich exponiert die Erzählung das Thema der Reise: Diese steht nicht nur für eine teils gesteuerte, teils willkürliche Bewegung in einem lokalen Koordinatensystem, sondern dient über das tertium comparationis von Unfestigkeit und prozessualer Unabgeschlossenheit als Metapher für einen gleichfalls unabgeschlossenen mentalen Prozess. Die zweifache Betonung des Suchprozesses (cercando) unterstreicht diese Lesart. Lexikalisch ist Florios Erzählung durch die explizite Verschränkung von höfischer und geistlicher Terminologie gekennzeichnet, die das Thema Reise simultan zwei heterogenen Diskursen zuschreibt. Explizit wird das Muster der Pilgerfahrt – und damit ein Rückgriff auf den geistlichen Diskurs – aktualisiert, wenn Florio sich selbst als pellegrino d’amore und seine Reise als pellegrinaggio bezeichnet. Dabei steht auch diese Selbstbezeichnung für eine Doppelbewegung im oben beschriebenen Sinne: Der Pilger bewegt sich im lokalen Raum und durchmisst auf seiner Suche nach sündenerlösendem Heil zugleich einen mentalen Raum. Daneben wird über die Begriffe amore, mia donna und cortesia der höfische Diskurs aufgerufen, aus dem heraus Reise vor allem als ritterliche âventiure-Fahrt im Rahmen von Minnedienst und Bewährungsleistung zu denken ist. Diese Lesart greifen Caleon und Fiammetta in ihren Reaktionen auf Florios Erzählung auf, wenn sie deren Segmente als accidenti bezeichnen und diese so mit den aventures des höfischen Romans parallelisieren.121 Neben der ritterlichen âventiure-Fahrt zitiert Flo120
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»[…] for she considered such adventures very precious to herself« (243). Textimmanent wird über diese Wertschätzung der Schicksale Florios ein raffinierter, bis in die FormulierungreichenderBezug zum ›Prolog‹ (I,1) hergestellt,in dem die Auftraggeberindem Erzähler eine volkssprachlicheNeufassung der Geschichte Florios und Biancifioris mit den Worten aufträgt: »che tu affanni in comporre un picciolo libretto volgarmente parlando, nel quale il nascimento, lo’nnamoramento e gli accidenti de’ detti due infino alla loro fine interamentesi contenga.«(I,1,26; Hervorhebung C. E.) Ital. accidente ist zu verstehen als ›Vorfall‹, ›unvorhergesehenes Ereignis‹, vgl. Battaglia Bd. 1 (1961), S. 83: »accadimento, avvenimento; evento imprevisto, fortuito, inatteso; caso«. Insbesondere die Konnotation des Unvorhergesehenen, Zufälligen verbindet den Begriff mit dem altfrz. aventure. Vgl. entsprechend zur Semantik von mhd. âventiure: Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. Unter Mitarbeit von Albrecht Classen u. a. München 1995, S. 22–24; sowie Klaus-Peter Wegera: »mich enhabe diu âventiure betrogen«. Ein Beitrag zur Wort- und Begriffsgeschichte von âventiure im Mittel´ hochdeutschen. In: Vilmos Agel u. a. (Hrsg.): Das Wort. Seine strukturelleund kulturelle Dimension. FS für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 229–244.
126 rios Erzählung noch ein weiteres, ebenfalls über das Handlungsmuster der Reise organisiertes literarisches Muster. Der Auslöser der Reise, die durch Arglist abhanden gekommene Frau, sowie der Hinweis auf die compagnia rekurrieren auf das literarische Muster der Brautwerbung, hier vor allem das Element der Rückeroberung der bereits einmal gewonnenen Frau mit Hilfe von Gefährten.122 Die zitathafte Verschränkung der âventiure-Fahrt des höfischen Romans mit dem Handlungsmuster der Brautwerbung und die wiederholte Berufung auf den Wertehorizont der cortesia explizieren somit jenes literarische Muster, das für den Minneund Aventiureroman strukturbildend ist. Auf diese Weise wird in Florios Erzählung über die begrifflich chiffrierten Handlungsmuster die Romanhandlung in nuce präsent. Der wichtigste Aspekt der knappen Autodiegese liegt jedoch in der Verschränkung der höfischen Erzählmuster mit dem geistlichen Erzählmuster der Pilgerfahrt, wie sie insbesondere in Florios Selbstbezeichnung als pellegrino d’amore sichtbar wird.123 Diese Selbstdeutung sowie die Bezeichnung der Suche nach Biancifiori als pellegrinaggio können als poetologische Aussagen gewertet werden, die den Roman als solchen in eine bestimmte Deutungsperspektive stellen. Die kontrastive Zusammenrückung eines höfischen und eines geistlichen Leitbegriffs in der Bezeichnung pellegrino d’amore entfaltet ambivalente Konnotationen: So bezeichnet pellegrino vor allem die demütige Haltung desjenigen, der sich auf die religiöse Suche begeben hat. Gleichzeitig wird die christliche Bedeutung des Pilgerns dadurch suspendiert, dass irdische amore an die Stelle des christlichen Gottes tritt. Zusätzliche Spannung gewinnt die Formulierung durch die Tatsache, dass der als Pilger Bezeichnete ein Heide ist. Zielt also die weltliche Metaphorisierung der geistlichen Pilgerfahrt auf eine Apotheose der irdischen (Paar-)Liebe? Im Kontext der Romanhandlung spricht an dieser Stelle einiges für eine solche Lesart. Dass die Bezeichnung im Sinne einer poetologischen Aussage an dieser Stelle jedoch mehr ist als nur eine Metapher für die Suche eines weltlich Liebenden, erweist sich zum Schluss des Romans mit der Konversion Florios zum Christentum, die – vor allem über den Aufenthalt in Rom – seine Reise im Nachhinein auch zu einer Pilgerfahrt im christlichen Sinne macht. Die weltlichen und geistlichen Konnotationen der Selbstbezeichnung Florios lassen sich insofern nicht zugunsten einer eindeutigen Lesart auflösen, sondern bleiben mehrdeutig. Den gemeinsa122
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Zu den Strukturmerkmalen des Brautwerbungsschemas vgl. Christian SchmidCadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985 (= Bibliotheca Germanica, 28). Bereits kurz vor seinem Aufbruch bezeichnet Florio in einem Gespräch mit dem König seine Suche nach Biancifiori als Pilgerfahrt (III,69,1).
127 men semantischen Nenner bildet das Motiv der Reise, das simultan für die Suche nach der geliebten Frau, nach einem höfischen Konzept von Liebe, nach Gott und auch für die Suche nach personaler Identität steht. Gleichzeitig aber identifiziert Florios narratio ihn selbst nicht nur als Reisenden und Suchenden, sondern stellt seine Reise in einen intertextuellen Raum aus Zitaten sowohl des höfischen als auch des geistlichen Diskurses, die als Abbreviaturen unterschiedlicher Identitätsbildungskonzepte gelesen werden können. Als Chiffren dieser Konzepte, die darauf verweisen, dass Identität im Prozess der Reise allererst herzustellen ist, leisten sie stellvertretend die Identifizierung Florios. Das intertextuelle Zitat kompensiert somit die identifizierende Information. Die Analyse des Gesprächs zwischen Caleon und Florio zeigt, dass die Offenlegung der Identitäten der Gruppenanführer strukturell analog und anhand identischer Kriterien vorgenommen wird, ohne dabei gegen die übergeordnete Erzähllogik, die die Anonymität Florios vorschreibt, zu verstoßen. Mit der exemplarischen Identifizierung der Protagonisten, die als pars pro toto auch deren jeweilige compagnia umfasst,124 wird der Vergemeinschaftungsprozess der beiden Gruppen abgeschlossen. Dass die beiden Gruppen im Folgenden als ein sozialer Körper betrachtet werden, zeigt sich an der Einleitung zum anschließenden Kapitel: quando [am Mittag, als die Sonne hoch steht, C. E.] le donne e’giovani in quel luogo adunati, lasciato festeggiare, per diverse parti del giardino cercando, dilettevoli ombre e diversi diletti per diverse schiere prendevano, fuggendo il caldo aere che li dilicati corpi offendeva (IV,17,1).125
Die Rede ist nun nurmehr von einem, sowohl aus Männern als auch aus Frauen bestehenden, an einem Ort gemeinsam versammelten Ganzen. Zugleich zeigt sich dieses prozessual gebildete Kollektiv nur in einer Momentaufnahme: In der Bewegung durch den Garten zerfällt es unmittelbar wieder in – allerdings weder nach ursprünglicher Gruppenzugehörigkeit noch nach Geschlecht differenzierte – kleinere Teilgruppen (diverse schiere), die je eigenen Vergnügungen nachgehen. Der gegenüber Florio geäußerte Vorschlag Fiammettas, die heiße Zeit des Tages an einem gemeinsamen Ort mit einer gemeinsamen Beschäftigung zu verbringen (»però in questo prato […] andiamo, e quivi con varii parlamenti la calda parte di questo giorno passiamo«, IV,17,2), kann daher als Reaktion auf die drohende Zersetzung der gerade gebildeten Einheit auf124
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Auch die Gruppen gehen, wenn auch nur über stichwortartige Verweise, aber wiederum in paralleler Anordnung, in den Identifizierungsprozess ein, vgl. IV,16,6 (Damen der Fiammetta) und IV,16,9 (Florios Begleiter). »[…] when the ladies and youths assembled in that place left off partying and went searching through various parts of the garden, choosing pleasant shades and various delights in different groups, fleeing the hot air that offended their delicate bodies.« (243f.)
128 gefasst werden. Ideale Geselligkeit, so ließe sich folgern, erfordert nicht nur soziale Homogenität, wie sie hier über die Kriterien nobilità, cortesia und die wechselseitige Identifikation der Gruppenführer hergestellt wurde, sondern auch die Verständigung auf eine gemeinsame Betätigung. Eine integrative, die Gruppe als Ganze einende Beschäftigung leistet aber weder das unspezifische festeggiare der ersten Phase noch die Spaltung statt Integration bewirkenden diversi diletti der Teilgruppen; an ihre Stelle treten nach Fiammettas Vorstellung die »varii parlamenti« (IV,17,2). Liest man parlamenti mit Quaglio als Synonym zu discorsi und ragionamenti, dann ist die Formulierung somit der Versuch, die Teilgruppen auf den gemeinsamen Modus des Gesprächs zu verständigen.126 Daneben ist für parlamenti aber schon seit dem (späten) 13. Jahrhundert in politischrechtlichen Kontexten die Bedeutung ›beratende Versammlung‹ nachgewiesen.127 Da die Verwendung von parlamento für ragionamento bei Boccaccio als unüblich gelten kann,128 ist es zulässig, hier nicht nur die kommunikative, sondern auch die soziale Dimension des Begriffs anzusetzen. Mit parlamenti wäre dann nicht allein eine Variante kollektiven Sprechens bezeichnet, sondern der Begriff verwiese zugleich auf das 126
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Vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 760 Anm. IV,17,2. Parlamento gilt als Entlehnung zu afrz. parlement, das wiederum eine Substantivbildung zu afrz. parler (sprechen) ist. Vgl. Battisti / Alessio Bd. 4 (1975), S. 2778. In der Bedeutung »Discorso, dissertazione, narrazione […] trattazione, ragionamento« sowie »Colloquio, conservazione [sic], discussione, abboccamento, dialogo, udienza« ist es seit dem 12. Jahrhundert breit belegt, vgl. Battaglia Bd. 12 (1984), S. 613–615, hier S. 613. Battaglia führt den zitierten Beleg aus dem Filocolo in der zweiten Kategorie auf (vgl. ebd., S. 614). Vgl. Battaglia Bd. 12 (1984), S. 614: »Riunione, adunanza, assemblea di tutti gli appartenenti a una comunità politica libera (cioè retta da governanti elettivi) e indipendente o autonoma (come il Comune medioevale e la repubblica rinascimentale), convocata dai governanti per lo più in circostanze di particolare emergenza per trattare questioni di interesse generale […]«. Die Verwendung des Wortes in dieser Bedeutung im 13. und 14. Jahrhundert wird durch Belege aus dem Breve di Montieri sowie bei Villani, Capponi und Cavalcanti abgesichert. Diese semantische Öffnung des kommunikativen zu einem sozialen Begriff ermöglicht die insbesondere von der englischen politischen Theorie des 18. Jahrhunderts ausgehende Etablierung des neuzeitlichen Begriffs als politische Institution in demokratischen Staatsformen, vgl. ebd., S. 614f., sowie Battisti / Alessio Bd. 4, S. 2778. Die semantische Entwicklungdes italienischenparlamento verläuft insofern genau umgekehrt zu der des deutschenWortes ›Gespräch‹,das im Althochdeutschenund Mittelhochdeutschen mit der Bedeutung ›beratende Versammlung‹ vorwiegend ein Begriff des politischen und juristischen Diskurses ist und in der Verwendung für nicht zweckgebundene Kommunikation erst vom 15. Jahrhundert an belegt ist, vgl. Emmelius, Wortgeschichte von Gespräch. Alfredo Barbina (Hrsg.): Concordanze del Decameron. A cura di A. B. Sotto la direzione di Umberto Bosco. 2 Bde. Florenz 1969, hat keinen Beleg für parlamento, weder als Synonym für ragionamento noch für riunione oder assemblea etc. Die bei Boccaccio übliche Bezeichnung für die Kommunikationsform ›Gespräch‹ ist ragionamento, vgl. ebd. Bd. II, S. 1651.
129 Selbstverständnis der Gruppe, wie es sich zumindest aus der Perspektive Fiammettas darstellt. Der Rekurs auf die politischen Konnotationen von parlamenti diente dann als Metapher für den institutionellen Charakter der performativ hergestellten, erst in diesem Moment abgeschlossenen, sozial-interaktiven Form der Gruppe.129 Der für die Inszenierung von Geselligkeit notwendige Formierungsprozess der zwei einander fremden Gruppen zu einer sozial homogenen, gemeinsamen Gruppe vollzieht sich – wie oben ausgeführt – in drei Phasen: 1) der Vergemeinschaftung der Männer beider Gruppen auf der Basis von nobilità und cortesia, 2) der Vergemeinschaftung von Männern und Frauen unter der Berufung auf das Muster des höfischen Minnedienstes, 3) der Vergemeinschaftung beider Gruppen auf der Basis von Informationen zur Identität ihrer Anführer. Diesen drei Phasen entspricht eine räumliche Choreographie, indem die erste Phase außerhalb, die zweite und dritte Phase innerhalb des Gartens stattfinden, wobei sich die formierte Gruppe zum Zeichen ihres gemeinsamen Agierens dann noch einmal an einen neuen Ort innerhalb des Gartens begibt. Die räumliche Choreographie der Figuren impliziert wiederum eine Choreographie der Geschlechter: Außerhalb des Gartens agieren die Männer, ihnen allein bleibt die Schaffung der Voraussetzungen für die soziale Annäherung der Gruppen überlassen. Die Damen hingegen bleiben während dieser Phase unsichtbar. Mit dem Eintritt in den Garten gewinnt der zwischen den Männern konsensstiftende Wert der cortesia insofern an Bedeutung, als er zur Grundlage der Verständigung mit den Damen wird.130 Die fingierte Unterwerfung Florios unter die Herrschaft der Fiammetta wird dann aufgehoben in der parallel konstruierten Offenlegung ihrer Identitäten, die schließlich die Voraussetzung für die Verschmelzung der Gruppen ist. Das sorgfältige Arrangement dieses Annäherungsprozesses spiegelt sich in der mit den beschriebenen Phasen weitgehend korrespondierenden Kapiteleinteilung.131 Die Analyse des Gruppenbildungsprozesses zeigt darüber hinaus, dass die Herstellung sozialer Homogenität durchsetzt ist von gegenläufigen Tendenzen des Verweisens auf und Ausstellens von Rang. Dieses zu129
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Im folgenden Kapitel (4.2.3) wird sich zeigen, dass parlamento als kommunikativer und sozialer Begriff über die hier aktualisierte Verwendung hinaus als Metapher für die in den Questioni d’amore inszenierte Form von Geselligkeit gelten kann, sowohl hinsichtlich des Aspekts der Sicherung temporärer Egalität (über explizit formulierte Regeln) als auch in Bezug auf deren Funktionalität (als Ort von kommunikativen Aushandlungsprozessen). »E così parlando insieme nel bel giardino se n’entrarono, ove molte belle donne trovarono« (IV,14,7). Kapitel 14 entspricht der ersten, Kapitel 15 der zweiten und Kapitel 16 der dritten Phase. In Kapitel 17 zieht sich die als gesellig formierte Gruppe an den kühlen Ort zurück.
130 nächst widersprüchlich erscheinende Phänomen, das seine Fortsetzung in der anschließend zu behandelnden Spielregel findet, wird im Kapitel 4.2.5 noch einmal gesondert zu beleuchten sein.
4.2.3 Die Spielregel der Königin: Mechanismen zur Stabilisierung von Geselligkeit Über die Zusammensetzung der Gruppe, die sich auf Vorschlag Fiammettas zu gemeinsamen parlamenti in den kühlen Teil des Gartens begibt, war bis zu diesem Zeitpunkt wenig zu erfahren. Nun erhält der Leser die Information, dass sich Fiammetta und vier weiteren Damen neben Florio und seinen fünf männlichen Begleitern132 noch Caleon mit zwei Herren anschließt. Die Gruppe besteht damit aus insgesamt vierzehn Personen, neun Männern und fünf Frauen. Sechs Personen gehören zu Florio und acht zu Fiammetta.133 Die Gesellschaft setzt sich im Kreis um einen Brunnen134 und beginnt sich zu unterhalten (»incominciarono a parlare«, IV,17,4), wie es Fiammetta vorgesehen hatte. Das die Gruppe integrierende Gespräch (parlamento) kommt allerdings nicht zustande, stattdessen wollen alle etwas vortragen, fallen einander dabei aber immer wieder (»tal volta«) ohne Rücksichtnahme (»disavvedutamente«) ins Wort: »l’uno le novelle dell’altro trarompeva« (IV,17,4). Die Einheit der Gruppe ist nicht nur dadurch bedroht, dass sie – wie schon zuvor – zu keiner gemeinsamen Beschäftigung findet, hier scheint sie sich geradezu in ihre Bestandteile aufzulösen: Die Sprecher verletzen basale Regeln der Kommunikation, indem sie einander rücksichtslos unterbrechen und sich mit ihrer je eigenen novella zu behaupten versuchen.135 Wenn aber alle sprechen wollen und keiner zuhört, löst sich kommunikative Interaktion in sinnlose Kakophonie auf und markiert damit das Ende jeder kommunikativ erzeugten sozialen Bindung. Es bleibt nur die indifferente Vielzahl der Stimmen, deren Mitteilungen aber nicht mehr wahrnehmbar sind und die daher auch keine soziale Funktion mehr haben können.136
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Diese werden in Buch III bereits namentlich genannt, als Florio seine Reise plant. Es sind dies: sein alter Freund und Erzieher Ascalion, seine Freunde Parmenione, Menedon und Messaallino, sowie der Herzog von Montoro, Ferramonte, vgl. III, 67 und 74. Vgl. IV,17,2+3. »E nel mezzo d’esso pratello una picciola fontana chiara e bella era, dintorno alla quale tutti si posero a sedere« (IV,17,4). Dass schon in der Questioni -Episode das kollektive Erzählen als Option geselliger Interaktion angedeutet wird, auch wenn es hier den Gegenpol zu geordneter Kommunikation markiert, ist – soviel ich sehe – bislang nicht registriert worden. Vgl. die Darstellung kollektiven Erzählens in Wittenwilers Ring (V. 6109–6116), hierzu oben Kap. 3.2.1.
131 Dieser Situation, in der sich andeutet, wie das Scheitern geselliger Interaktion aussehen könnte, setzt Fiammetta nun einen grundsätzlichen, soziale Integration und kommunikative Ordnung ermöglichenden Vorschlag entgegen: Acciò che i nostri ragionamenti possano con più ordine procedere e infino alle più fresche ore continuarsi, le quali noi per festeggiare aspettiamo, ordiniamo uno di noi qui in luogo di nostro re, al quale ciascuno una quistione d’amore proponga, e da esso a quella debita risposta prenda. (IV, 17, 5)137
Der für Institutionalisierungsprozesse konstitutive Zusammenhang von Stabilisierung und Verstetigung kommunikativer und sozialer Handlungen ist hier bis in die Formulierungen hinein zu verfolgen.138 Zum einen bedürfen die bislang ungeordneten ragionamenti einer Ordnung, um die gesellige Kommunikation innerhalb eines gesetzten Zeitrahmens (bis zum festeggiare am Abend) zu stabilisieren. Ordnung bzw. sogar eine bessere, stärkere Ordnung (più ordine) kann erst die Bedingung (potere) für eine zeitliche Verstetigung (procedere, continuarsi ) schaffen. Die Ordnung der Gespräche steht dabei metonymisch für die Ordnung der Gruppe selbst, deren Fortbestehen in der konstituierten Form durch den begonnenen, Ordnung entbehrenden Kommunikationsmodus gefährdet wäre. Die Rede von nostri ragionamenti verweist damit auf den vorher verwendeten Begriff der parlamenti zurück: In beiden verschränken sich ein kommunikativer und ein sozialer Aspekt. Geordnete (und damit stabile, verstetigte) Kommunikation erzeugt Ordnung und Zivilisierung (und damit Stabilisierung und Verstetigung) der Interaktion. Das Ziel einer solchermaßen institutionalisierten Geselligkeit formuliert Fiammetta in Analogie zur Horazischen Funktionsbestimmung der Literatur (aut delectare aut prodesse) als gleichermaßen nutzbringenden wie unterhaltsamen Zeitvertreib: »il tempo utilmente con diletto sarà adoperato« (IV,17,6).139 Die von Fiammetta vorgeschlagene ›Spielregel‹ formuliert also zwei Mechanismen geselliger Stabilisierung: Die Stabilisierung der Kommunikation erfolgt über die Festlegung eines dialogischen Wechsels von Fragen und Antworten, die Stabilisierung der Interaktion über die performativ hergestellte Ordnung einer (Wahl-)Monarchie. Beide Mechanismen lassen sich als intertextuelle Zitate lesen. Dabei sind drei textuelle 137
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»So that our conversation may proceed in a more orderly way, and continue until the cooler spell which we are awaiting for our festivities, let us designate one of us to take the place of our king, to whom each person will propose a Question of Love and from him take an apt reply to it.« (244) Strohschneider, Institutionalität, S. 6f. Die hier analog zur Literatur behauptete Funktion von Geselligkeit stellt deren ästhetischen Charakter besonders aus, vgl. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 193f.
132 Bezugsgrößen zu unterscheiden, die den intertextuellen Aneignungs- und Transformationsprozess in den Questioni d’amore in unterschiedlicher zeitlicher Tiefenschärfe beleuchten: 1) im Sinne eines allgemeinen literarischen Hintergrunds: die höfische Erzählliteratur des 12. Jahrhunderts, in der der Hof König Artus’ – wie in Kapitel 3 dargelegt – als Paradigma geordneter Geselligkeit entworfen wird, 2) im Sinne eines spezifischen Prätextes: der Traktat De amore des Andreas Capellanus, der die Konzeption einer cour d’amour profiliert, an der strittige Liebeskasus juristisch entschieden werden, und 3) weitere Texte aus dem zeitlichen Umfeld des Filocolo, in denen Geselligkeit als liebeskasuistisches Spiel dargestellt wird. Im Folgenden soll die ›Spielregel‹ der Questioni d’amoreEpisode als ›produktive Rezeption‹140 dieser Muster eingehender untersucht werden.
4.2.3.1 Geselligkeit als Königshof: Das Muster des Artushofs und das Prinzip der Wahl Eine erste Beobachtung bezieht sich auf den in der Spielregel formulierten Vorschlag der Selbstordnung der Gruppe nach dem Muster der Monarchie, das mit dem Wort re anzitiert ist. Die hier manifestierte Vorstellung, dass die bestmögliche soziale Ordnung der geselligen Runde die einer Monarchie sei, lässt sich dabei nicht allein als Spiegelung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen verstehen, auch wenn diese Relation von Seiten der Soziologie als zentrales Charakteristikum von Spielen besonders betont wurde.141 Hier soll dagegen in der Gleichzeitigkeit von sozialen Prozessen, die sowohl auf Egalität als auch auf monarchische Ordnung zielen, eine Bezugnahme auf ältere literarische Entwürfe von Geselligkeit gesehen werden, die – wie sich vor allem an geselligen Situationen am Artushof zeigen ließ – genau diese Balance modellieren und stillzustellen versuchen. Auch der Artushof benötigt den König als 140
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Zum Begriff vgl. Wilfried Barner:ProduktiveRezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. Mit einem Anhang: Lessings Frühschrift »Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind« (1754). München 1973, S. 93–100. Vgl. Gebauer / Wulf, Spiel, Ritual, Geste, S. 187–234, hier S. 188: »Spiele enthalten Ordnungsprinzipien aus der Erfahrungswelt, aus der ›ersten‹ Welt, auf die sie, als eine ›zweite‹ Welt, Bezug nehmen. In ihnen zeigt sich die Art und Weise, wie sich die jeweilige Kultur organisiert.«, sowie S. 192: »Zwischen der internen Ordnung des Spiels und der sozialen Ordnung der Gesellschaft, in der sie gespielt werden, besteht ein mimetisches Verhältnis. In Spielhandlungen zeigt sich die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft organisiert, Entscheidungen trifft, wie sie ihre Hierarchien konstruiert, Macht verteilt, wie sie Denken strukturiert.« Huizinga, Homo Ludens, S. 21f., betont dagegen die Eigengesetzlichkeit der im Spiel erzeugten Welt. Für Überlegungen zu historisch-politischen Konnotationen der geselligen Modelle Boccaccios vgl. unten Kap. 5.3.4.
133 Garant von Ordnung. Die Ordnung, die er zu sichern und zu stabilisieren hat, ist – und darin liegt ihre Problematik – zugleich eine feudale und eine paritätische, da sie sowohl die Exzellenz als auch die Äquivalenz der gleichermaßen besten Ritter und ihrer jeweils schönsten Damen zu sichern hat. In diesem Sinne ist sie etymologisch und der Darstellungsform nach eine ›gesellige Ordnung‹.142 Für die Questioni d’amore-Episode stellen die literarischen Entwürfe des Artushofs als geselliger Institution, wie ihn die französischen und deutschen höfischen Romane des 12. Jahrhunderts entwerfen, eine allgemeine intertextuelle Struktur bereit: Mit der Königsfigur steht ein Instrument dafür zur Verfügung, eine gesellige, also sowohl gleichrangige als auch heiter-festliche Gemeinschaft zu stabilisieren. Fiammettas Spielregel rekurriert auf diese Struktur, markiert aber, indem das Königsamt nicht von vornherein als gesetzt, sondern als Resultat eines konsensualen Prozesses konzipiert ist, einen deutlichen Unterschied zum Artushof des höfischen Romans.143 Die Questioni d’amoreEpisode verleiht diesem Unterschied über die detaillierte Darstellung der Herstellung des Königs zusätzliches Gewicht. So stellt schon Fiammettas Formulierung den Akt der artifiziellen Erzeugung monarchischer Ordnung besonders aus, indem sie die Bestimmung des Königs zur Sache aller macht (ordiniamo),144 alle in der Runde Anwesenden als gleichermaßen qualifiziert bezeichnet (uno di noi ) und indem sie die Position des Königs als fingierte markiert: Der oder die zu Bestimmende agiert ›anstelle eines Königs‹ (in luogo di nostro re) und nicht etwa ›als König‹. In ihrer Zustimmung zu diesem Vorschlag (»Facciasi re.«, IV,17,6)145 greift die Gruppe den von Fiammetta vorgegebenen Gedanken auf, einen König aus ihrer Mitte zu bestimmen und ihn in einem performativen Akt selbst herzustellen (fare). Die performative Bestimmung des Königs wird im Folgenden als Wahlakt umgesetzt: »E con unica voce tutti Ascalion, per che più che alcuno era attempato, in re eleggevano.« (IV,17,6) In der Praxis des Wählens drückt sich zum einen wiederum soziale Gleichrangigkeit aus, denn alle sind im gleichen Maße mit demselben Recht beteiligt, zum anderen wird die Möglichkeit einer aus dieser Praxis resultierenden Meinungsdiversifizierung von vornherein durch die konsensuale Verständigung auf Ascalion überlagert, die im Kriterium der Anciennität gründet.
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Hierzu ausführlich Kapitel 3. In der Art und Weise, wie etwa Ginover in der Eingangspassage des Iwein agiert, deutet sich allerdings die Möglichkeit, die Figur als ›gesellige Ordnungsinstanz‹ zu bestimmen, bereits an, vgl. oben Kap. 3.2.2. Ordinare ist hier nicht einsinnig als ›bestimmen‹, ›auswählen‹ zu lesen, vielmehr bildet es eine Isotopieebene mit dem vorhergehenden ordine. Damit verweist es zugleich auf die Funktion der so bezeichneten Handlung, es wäre dann zu lesen als ›bestimmen, um Ordnung zu schaffen‹. »Let a king be chosen« (244). Wörtlich: ›ein König sei zu machen‹.
134 Vorgeführt wird hier ein Verfahren der sozialen Selbstordnung, das im Modus der Wahl alle gleichermaßen einbezieht und Egalität somit betont, in dieser Ausstellung von Egalität aber zugleich auf die Herstellung von – wenn auch fingierter – Hierarchie als stabilisierender Sozialordnung zielt. Die Schwierigkeit, aus dem Kreise der Gleichgeordneten Einen (uno di noi ) per Wahl zu privilegieren, wird gelöst, indem ein qualifizierendes Kriterium herangezogen wird, das den Einzelnen, hier Ascalion, für die Anderen wählbar macht, auch wenn dieses unabdingbar mit dem Kriterium der Gleichrangigkeit konkurriert. Mit der Entscheidung für das Kriterium der Anciennität, das metonymisch für dignitas und Erfahrung steht, überführt die Gruppe ein Kennzeichen politischer Herrschaft aus dem politischen in den geselligen Diskurs. Auf diese Weise wird deutlich, dass die Gruppe die Königswahl als einen politischen Akt interpretiert. Wenn jedoch im Folgenden der Wahlkönig Ascalion seine mangelnde Eignung für das ihm zugesprochene Amt thematisiert, wird diese Interpretation als vorschnell entlarvt: Analogien bestehen zwischen politischem und geselligem Ordnungsmodell auf der Ebene der grundsätzlichen Instituierung von Herrschaft, gleichzeitig sind die Kriterien für Herrschaft in beiden Modellen als different anzusetzen. So erweist sich Anciennität als Legitimationskriterium für einen geselligen Herrscher, in dessen exekutive Kompetenz die Entscheidung von Liebesfragen fällt, als ungeeignet: A’ quali Ascalion rispose sé a tanto uficio essere insofficiente, però che più ne’ servigi di Marte che in quelli di Venere avea i suoi anni spesi; ma, se a tutti piacesse di remettere in lui la elezione di tal re, egli si credea bene tanto conoscere avanti delle qualità di tutti, che egli il costituirebbe tale che vere risposte a tali dimande renderebbe. (IV,17,7)146
Sein Lebensalter sichert Ascalion Erfahrung, diese aber ist im Dienst des Mars gewonnen, den er deutlich vom Dienst im Zeichen der Venus abtrennt. Die explizite Trennung von Kriegs- und Liebesdienst führt neben dem Kriterium der Anciennität mit dem Kriterium des Geschlechts ein zusätzliches Argument in die Auseinandersetzung um die legitime SpielHerrschaft ein.147 Während politische Herrschaft, die für die Ausübung 146
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»Ascalion replied that he was inadequate to such an office, since he had spent his years more in the service of Mars than in that of Venus; but if it pleased them all to give him the task of choosing such a king, he believed he understood profoundly enough the qualities of everyone that he could pick someone who would give true replies to such questions.« (244) Die antonymischeGegenüberstellung von Liebe und Krieg und ihre Kodierung mit den antiken Götternamen Mars und Venus ist ein deutlicherRekurs auf antike Vorstellungen. Ascalion distanziert sich somit von Konzeptionen der mittelalterlichen Literatur – in deren Tradition die Geschichte des Filocolo ja durchaus steht –, in denen die Begriffe minne und ritterschaft stets relational aufeinander bezogen und gerade nicht eindimensional geschlechtlich kodiert sind.
135 militärischer Macht die im Lebensalter gespeicherte Kriegserfahrung benötigt, als männlich zu denken ist, setzt gesellige Herrschaft Erfahrung in Liebesdingen voraus und ist somit komplementär als weiblich zu denken. Die jeweils geschlechtliche Kodierung politischer und geselliger Ordnung zeigt sich, wenn Ascalion Fiammetta zur geselligen Königin wählt, der er genau diese notwendige Erfahrung in Liebesdingen zuschreibt.148 Ascalion weist das ihm einstimmig zugewiesene Wahlamt somit zurück. Anstatt aber die ihm übertragene Macht zurückzugeben und in der Gruppe eine Neuwahl zu initiieren, lässt er Sprechen und Handeln auseinandertreten und begibt sich kurzfristig doch in die Rolle des Königs, indem er für sich das Recht reklamiert, auf Grund seiner Kenntnis aller Anwesenden einen geeigneten König auszuwählen.149 Der Prozess der Selbstordnung wird somit verdoppelt: Der Ordnungsmodus der Wahl, der alle in gleicher Weise beteiligt hatte, wird überführt in einen Ordnungsmodus qua Amt und Autorität. Die Kompetenz der Gruppe, sich selbst eine Ordnung zu geben, geht über auf denjenigen, der in den Augen der Gruppe als Garant dieser neuen, geselligen Ordnung gelten soll. Der Einfluss der Gruppe auf die Festsetzung eines Königs wird damit allerdings geringer und mittelbarer, er manifestiert sich allein in der Vertrauensstellung, die Ascalion genießt und die sich in seinem Wahlamt ausdrückt. Für die Gruppe kann dieses Verfahren aber akzeptabel werden, weil Ascalions Verfahren transparent und an die Zustimmung der Gruppe rückgebunden ist. So versichert sich Ascalion explizit der Zustimmung der Gruppe (se a tutti piacesse di remettere in lui la elezione di tal re), die ihm diese umgehend und wiederum im Konsens gewährt: »Consentirono allora tutti che in Ascalion fosse liberamente la elezione rimessa, poi che assumere in lui tale dignità non volea.« (IV,17,8)150 Mit der performativen Aussage: »io in nostra reina la eleggo« (IV, 18,2) erklärt Ascalion dann Fiammetta zur Königin. Er behauptet damit auf der semantischen Ebene (eleggere) eine Analogie zum vorausgehenden Wahlakt durch die Gruppe, die auf der pragmatischen Ebene – wie gezeigt – gerade nicht gegeben ist. Während mit der elezione der Gruppe ein Verfahren des politischen Diskurses zitiert wird, das auf gleichberechtigte Teilhabe der Wählenden zielt, ist das eleggere des Asca-
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Vgl. IV,18,2. Zum intertextuellen Muster der cour d’amour, auf das Ascalion mit der Zurückweisung des Amtes und der Wahl Fiammettas rekurriert, vgl. Kapitel 4.2.3.2. Da der Erzählkontext keinen logischen Anhaltspunkt dafür bietet, dass Ascalion die Anwesenden tatsächlich kennen kann, muss das von ihm angeführte Argument auf sein allgemeines Weltwissen als Ältester der Runde zurückgeführt werden, das ihn ja auch für das Königsamt qualifiziert. »Then they all agreed that Ascalion should be freely granted the choice, since he did not want to assume such a dignity for himself.« (244).
136 lion eine Auslese im etymologischen Sinne des Wortes,151 und bleibt somit ganz auf den auszuwählenden Gegenstand bezogen. Die Auswahl Fiammettas, die Ascalion mit der symbolischen Überreichung eines Lorbeerkranzes auch sichtbar macht, begründet er mit einer Auflistung von Eigenschaften, die – wie »grazia«152 , »belleza«, »costumi ornatissima« und »leggiadra eloquenza« (IV,18,2) – Fiammettas cortesia unterstreichen. Darüber hinaus ist für ihre Ernennung relevant, dass sie von königlicher Abstammung ist (»di reale stirpe […] discesa«) und in Liebesdingen besondere Kompetenz aufweist (»a cui le occulte vie d’amore sono tutte aperte«, IV,18,2). Mit dem Verweis auf Fiammettas Herkunft findet ein weiteres Mal ein Kriterium des politischen Diskurses Eingang in den geselligen Ordnungsprozess, das die außergesellige Rangordnung (in der Fiammetta eine gegenüber den übrigen Anwesenden herausgehobene Position einnimmt) mit der fingierten Monarchie verbindet. Über den Umweg eines doppelten Wahlgangs wird so diejenige zur Königin der geselligen Runde, die auch außerhalb des geselligen Sonderraums die sozial höchste Position einnimmt. Dabei zeichnet es den Prozess geselliger Formierung jedoch aus, dass er einen Automatismus in der Übertragung von Rangrelationen suspendiert und das Königsamt über den Modus der doppelten Wahl explizit legitimiert.153 Diese immanente Notwendigkeit, die geschaffene Ordnung zu legitimieren, zeigt sich auch an der Antwort Fiammettas auf ihre Nominierung durch Ascalion: Certo non debitamente avete di reina proveduto all’amoroso popolo, che di sofficientissimo re avea bisogno, però che di tutti voi, che qui dimorate, la più semplice e con meno virtù sono, né alcuno di voi è a cui meglio che a me investita non fosse. Ma poi che a voi piace, né alla vostra elezione posso opporre, e acciò che io alla fatta promessa non sia contraria, io la prenderò, e spero che dagl’iddii e da essa l’ardire dovuto a tanto uficio prenderò (IV,18,4–5).154
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Battaglia Bd. 2 (1975), S. 78–79 (eleggere) und S. 97 (elezione ); Battisti / Alessio Bd. 5 (1968), S. 1438 (eleggere) und S. 1444 (elezione ). Die Auffassung, dass grazia hier als ›Anmut‹ oder ›Liebreiz‹ zu lesen und daher in die Reihe höfischer Charakteristika einzubeziehen ist, stellt sich gegen Quaglios Lektüre, der grazia als ›Gnade‹ auflöst, weil er hierin einen Verweis auf den zuvor explizit religiös konnotierten Erstnamen Fiammettas, Maria, sieht; vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 761 (Anm. IV,18,2). Zu den Implikationen der paradoxen Relation von außergeselligen Rangordnungen, geselliger Parität und geselliger Hierarchie vgl. Kap. 4.2.5. »Indeed, you have not done adequately in choosing a queen for this amorous people, who had need of a highly competent ruler; of all those here I am most inexperienced and least accomplished, and anyone of you might better have assumed the title than I. But since it is your pleasure, I cannot oppose your choice, and so as not to break the promise that has been made, I shall accept it; and I hope that I shall take from the gods and from it the zeal needed for such an office.« (245)
137 Zum einen rekurriert sie auf die Gender-Frage, die Ascalion aufgeworfen hatte: Hatte jener das Wahlamt des Königs für sich verworfen, weil er sich keine Kompetenz als König der Liebesfragen zubilligte, verknüpft Fiammetta das Amt des Herrschers ganz allgemein mit Männlichkeit. Ex post liefert sie mit dem sozialen Geschlecht ein zweites Kriterium, das Ascalion neben dem Lebensalter für das Königsamt qualifziert hätte. Auch mit diesem Kriterium wird die politische Dimension von Herrschaft, deren Voraussetzungen zunächst analog auf die gesellige Runde übertragen werden, unterstrichen. Gleichzeitig aber bleibt der Verweis auf die Mechanismen politischer Herrschaft nur Zitat, das durch die in der ›Spielregel‹ Fiammettas festgelegte gesellige Praxis gleichsam unterlaufen wird. Indem alle Anwesenden dem Modus der konsensualen Königswahl zugestimmt haben, ist das Ergebnis dieser Wahl als verbindlich zu betrachten. Fiammettas Reaktion auf ihre Wahl ist insofern mehr als der gebotene rhetorische Bescheidenheitstopos. Mit der Berufung auf den im Modus der Wahl ausgedrückten Willen der Gemeinschaft (ma poi che a voi piace) unterstellt sie sich – gegen die aufgeführten Einwände – explizit der für alle verbindlich gesetzten Regel (né alla vostra elezione posso opporre, e acciò che io alla fatta promessa non sia contraria, io la prenderò ). Indem sie die Regel über ihren eigenen Willen setzt, relativiert sie auch ihre eigene Rolle, da sie die Regel ja selbst gesetzt hat. Sie verbindet auf diese Weise die Akzeptanz der durch die Wahl zugewiesenen herausgehobenen sozialen Position mit der neuerlichen Selbsteinschreibung als gleichrangiges Mitglied in die Gruppe.155 Mit der Annahme des Wahlamtes, die Fiammetta mit ihrer Selbstkrönung veranschaulicht,156 kann der Prozess der sozialen Selbstordnung der Gruppe als abgeschlossen gelten. Im Folgenden präzisiert Fiammetta in ihrer Funktion als Königin der Gruppe die Vorgaben für die vorgeschlagene Beschäftigung mit Liebesfragen. Diese sollen den Zielen der geselligen Runde angemessen sein, deren Freude vermehren, indem sie Spitzfindigkeiten vermeiden.157 Mit der Androhung der Aussperrung (»sotto pena d’essere dall’amorosa festa privato«, IV,18,7) all jener von der geselligen Runde, die keine Frage vorzulegen wüssten, verfügt sie die aktive Partizipation aller. Damit verweist sie darauf, dass die hergestellte Ordnung nur in dem Maße eine stabile Struktur sein kann, wie das Kollektiv sich um sie – durch die konsequente Beteiligung aller – bemüht. Der der Sanktionsandrohung immanente Partizipations-Zwang exponiert zum einen noch einmal den autoritativen Charakter der Spiel-Ordnung, sichert zum anderen jedoch 155
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Das wird auch an der Formulierung deutlich, alle anderen seien besser geeignet für das Amt als sie selbst (né alcuno di voi è a cui meglio che a me investita non fosse ). Vgl. IV,18,7. »[…] che più tosto della loro gioia fosse accrescitrice, che per troppa sottigliezza o per altro guastatrice di quella« (IV,18,7). Zu dieser Vorgabe siehe auch Kap. 4.3.3.
138 wiederum die Parität innerhalb der Gruppe, die prinzipiell keine Ausnahmen zulässt. In diesem Element der spielerischen Ordnung kann zugleich die Grundlage für das Modell der Zwangspartizipation im Decameron gesehen werden, das dort nicht nur institutionalisiert, sondern zudem verdoppelt erscheint: als rotierende Königsherrschaft zum einen, als rotierendes Erzählen (novellare ) zum anderen (vgl. Kap. 5.3.3).
4.2.3.2 Geselligkeit als Gericht: Das Muster der cour d’amour Während das gesellige Modell des Artushofs vor allem einen männlichen Ordnungsgaranten vorsieht,158 wird in der Questioni d’amore-Episode programmatisch eine Frau zur Königin bestimmt. Dass diese Wahl alles andere als zufällig ist, zeigt Ascalions Zurückweisung des Königsamtes, die er mit seinem mangelnden Erfahrungswissen als Diener der Venus (und damit mit seinem Geschlecht) begründet, sowie seine Bestimmung Fiammettas als adäquater Königin einer mit dem Thema amore befassten geselligen Runde. In ihrer Spielregel hatte Fiammetta bereits von vornherein die Rollen von Fragenden (Mitglieder der Gruppe) und Antwortendem (König) festgelegt. In der Umsetzung dieser Vorgabe werden die von der Gruppe vorgelegten questioni d’amore als dilemmatische Liebeskasus, die Antworten Fiammettas als richterliche Urteile (iudicia) realisiert und auch so bezeichnet.159 Damit wird die in der Spielordnung vorgegebene Sozialordnung der Königsherrschaft als gerichtliches Szenario umgesetzt. Zwar fällt – gemäß der mittelalterlichen Herrschafts- und Rechtsordnung – auch am Artushof die Rolle des Königs mit der des Richters, der Urteile zu sprechen hat, in eins,160 zugleich aber wird insbesondere über die von Ascalion exponierte und begründete Wahl einer Frau ein weiteres intertextuelles Muster aufgerufen, das der cour d’amour.161 Um vor dem Hintergrund der vielfältigen literarischen Phänomene, die unter der Bezeichnung cour d’amour firmieren,162 von einem Prätext sprechen zu können, soll hier die im Traktat De amore des 158
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Das gilt grundsätzlich, in der je spezifischen geselligen Interaktionssituation kann allerdings – wie im Iwein – auch der Königin Ginover ordnungsschaffende Kompetenz zukommen. Für Belege zu giudicare und giudizio vgl. IV,19,10; IV,21,1+4; IV,29,5; IV,40,3 u. ö. Diese Funktion benennt bereits Grubmüller, Der Artusroman und sein König, S. 2; ausführlich auch Scheuer, Gegenwart und Intensität, S. 127f. Den Bezug zum Motiv der cour d’amour sieht auch Surdich, La cornice di amore, S. 17. Grundlegende Informationen zur Heterogenität des literarischen Phänomens der cour d’amour sowie zu dessen Forschungsgeschichte bietet noch immer Peters, Cour d’amour, S. 118: »Als cour d’amour sind in der romanistischen Forschung lange Zeit hindurch nebeneinander Versammlungen von Damen und Herren zur Beurteilung von Minneproblemen (die sog. Ehrengerichte), verschiedene Gesellschaftsspiele (minnekasuistische Fragespiele), ein literarisches Motiv (Gerichtshof
139 Andreas Capellanus entworfene Konzeption herausgegriffen werden.163 Im Kapitel VII des zweiten Buchs werden 21 strittige Liebeskasus jeweils einer namentlich genannten (und historisch bezeugten)164 hochrangigen Dame des nordfranzösischen Adels vorgelegt, die diese dann entscheidet.165 Die Analogie zum Gerichtsverfahren wird vor allem anhand der Bezeichnungen der Entscheidungen der Dame deutlich, die ihr die Funktion der Richterin zuweisen: Schon die Kapitelüberschrift kündigt iudicia amoris an,166 im Text wechselt die Bezeichnung iudicium 167 mit den ebenfalls juristischen Termini sententia 168 oder dictum.169 Die juristische Diktion des Kapitels spiegelt sich in den präsentierten casus: Rüdiger Schnell konnte zeigen, dass diese zum überwiegenden Teil Streitkonstellationen entwerfen, wie sie auch das kanonische (zum Teil sogar schon das römische) Eherecht kennt.170 Die entscheidende Veränderung bei Capellanus ist dabei, dass – dem Gegenstand von De Amore gemäß – die Streitparteien der Ehepartner durch die der Liebespartner ersetzt werden. Während somit auf der terminologischen und inhaltlichen Ebene deutliche Analogien zu einer gerichtlichen Situation nachweisbar sind, folgt die Präsentation der iudicia amoris allerdings nur eingeschränkt einer juristischen Struktur, insofern als die Verhandlung der Kasus ganz
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des Liebesgottes) und eine literarische Gesellschaft zu Beginn des 15. Jahrhunderts (cour amoureuse in Paris) bezeichnet worden.« Der Status des Traktats als ›Codex höfischer Liebe‹, als ›Utopie einer höfischen Gesellschaft‹ oder als ›literaturpolitische Satire aus der Sicht der Hofkreise in Paris‹ hat die Forschung umfassend beschäftigt, vgl. Anna M. Finoli / Alfred Karnein: Art. Andreas Capellanus. In: LexMA 1 (1980), Sp. 604–607; sowie Ursula LiebertzGrün: Satire und Utopie in Andreas Capellanus’Traktat »De Amore«. In: PBB 111 (1989), S. 210–225. Folgt man der Argumentation Karneins, dann ist davon auszugehen, dass der Text in der europäischen Rezeption seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert als Enzyklopädiefür die Regeln weltlich-höfischer Liebe aufgefasst wurde, vgl. Alfred Karnein:De Amore in volkssprachlicherLiteratur.Untersuchungenzur Andreas-Capellanus-Rezeption in Mittelalter und Renaissance. Heidelberg 1985 (= GRM-Beiheft, 4), S. 18–20 und Kap. 3 passim. Im Folgenden wird der Text zitiert nach Andreas aulae regiae capellanus / königlicher Hofkaplan: De amore libri tres / Von der Liebe. Drei Bücher. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anm. und einem Nachwort versehen von Fritz Peter Knapp. Berlin / New York 2006. Eine kurze, übersichtlicheAufschlüsselungfindet sich bei Rüdiger Schnell:Andreas Capellanus.Zur Rezeption des römischenund kanonischenRechts in »De Amore«. München 1982 (= Münstersche Mittelalterschriften, 46), S. 49. Andreas Capellanus, De Amore, S. 430–472. »De variis iudiciis amoris« (ebd., S. 430). Vgl. z. B. ebd., S. 432, 452, 456 u. ö. Vgl. z. B. ebd., S. 434, 450. Z. B. ebd., S. 436. Da die Kasus häufig in Frageform formuliert sind, finden daneben auch die neutralen Begriffe responsum und respondit Verwendung(ebd., S. 440, 442, 448 u. ö.) Schnell, Andreas Capellanus, S. 49–80.
140 ausgeblendet bleibt: vorgeführt werden lediglich casus/quaestio und iudicium /responsum. In zwei Fällen wird die Konzeption der einzelnen Richterin modifiziert: Hier wird die Urteilsfällung einer mehrköpfigen Jury von Damen übertragen. So heißt es im Anschluss an die Vorlage des XVI. Kasus, dass Marie de Champagne sechzig Damen versammelt habe, um ihr bei der Urteilsfindung zu assistieren: »Comitissa vero, sexagenario accersito sibi numero dominarum, rem tali iudicio definivit«.171 In der Urteilsfindung zum XVIII. Kasus erhält diese Instanz eine eigene Bezeichnung als Damengerichtshof (curia dominarum ).172 Die Konzeption des Minnehofs bei Andreas Capellanus lässt sich zum einen als Prosa-Fortsetzung jener Kasus lesen, die in den zeitgenössischen volkssprachlichen (provenzalischen und altfranzösischen) Streit171 172
Andreas Capellanus, De Amore, S. 461f. Ebd., S. 464: »Dominarum igitur curia in Guasconia convocata […]«. Diese beiden Anspielungen haben in Kombination mit der historischen Identifizierbarkeit der jeweiligen Damen (wie Marie de Champagne und Eleanor von Aquitanien) in der älteren Forschung zu der Überzeugung geführt, die cours d’amour seien eine historische InstitutionliebestheoretischerRechtssprechunggewesen, vgl. F. Raynouard: Des cours d’amour. In: F. R.: Choix des poésies originales des troubadours. Bd. II. Paris 1817 [Nachdruck Osnabrück 1966], S. 79–124; sowie Emil Trojel: Middelalderens elskovshoffer. Literaturhistorisk-kritisk undersøgelser. Kopenhagen 1888. Dafür, dass die Darstellungen der cours d’amour im Zusammenhang geselliger höfischer Praxis zu sehen seien, sprachen sich dagegen schon früh Friedrich Christian Diez: Über die Minnehöfe. In: Beiträge zur Kenntnis der romanischen Poesie, Heft 1. Berlin 1825, S. 77–126, und Gaston Paris: Les cours d’amours du moyen âge. In: Mélanges de littératurefranc¸aise du moyen âge. Paris 1921, S. 473–497 [Originalpublikation 1888], aus; für diese Lesart plädiert auch Peters, Cour d’amour, S. 122. Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes findet sich bei Schnell, Andreas Capellanus, S. 81–85. Möglicherweise wird die Vorstellung einer curia dominarum in De Amore allererst entfaltet. Eine solche Lesart lässt sich mit der Varianz der einzelnen Kasus begründen: Die Kasus I–VIII betreffen Dritte, ihre Proponenten werden nicht genannt. Auch die Kasus IX–XV betreffen Dritte. Sie werden von einzelnen, namentlich nicht genannten Personen vorgebracht. Wenige Andeutungen im Zusammenhang dieser Kasus (am deutlichsten: »Quum igitur super hoc negotio longa esset utrinque assertionecertatum, in arbitrioCampaniae comitissae conveniunt, quae hoc quidem certamen tali iudicio definivit« [Andreas Capellanus, De Amore, S. 456]) evozieren eine Situation, die als kollektive Kommunikationssituation mit mehreren Anwesenden gedeutet werden könnte. Dass es sich hierbei um eine höfisch-gesellige, spielerische Situation handelt, ist nicht unplausibel, aber dem Text nicht explizit zu entnehmen, vgl. die skeptische Position bei Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 194–197, bes. S. 195 Anm. 322. Die wichtigste Veränderung betrifft die Kasus XVI–XXI: hier treten jeweils Streitbeteiligte vor die Dame und bitten um ein Urteil in einer sie selbst betreffenden Angelegenheit. Die Gerichtssituation wird hier am deutlichsten greifbar. Genau dazu passt die Erwähnung eines Damengerichtshofs in den Kasus XVI und XVIII. Während sich also in den Kasus I–XV sukzessive eine kollektive, ggf. gesellige Situation des Fragens und Beantwortens von Liebeskasus abzeichnet, verselbständigt sich diese Vorstellung in den Kasus XVI–XXI zu einer Gerichtsfiktion.
141 gedichten (Partimen) in großer Zahl überliefert sind.173 Während sich aber die Partimen gerade dadurch auszeichnen, dass im Anschluss an die von den beiden Sängern vorgebrachten Argumente für die eine oder die andere Entscheidung kein abschließendes Urteil gefällt wird, besteht das Spezifikum der cour d’amour genau darin, dieses Urteil zu liefern. Im Unterschied zu den Partimen sind allerdings nicht alle in den iudicia amoris entschiedenen Kasus dilemmatisch und das dort markante Charakteristikum der pro und contra-Verhandlung fehlt hier ebenfalls. Zum anderen leistet die Konzeption der cour d’amour die Institutionalisierung von Minnekasusentscheidungen. Damit transformiert sie die literarische Konzeption des Artushofs als paradigmatischer geselliger und geordneter Institution. Während die iudicia amoris bei Andreas Capellanus das Ergebnis dieser Transformation dokumentieren, lässt sich anhand einer Szene aus dem altfranzösischen Roman Meraugis de Portlesguez der transformative Prozess als solcher aufzeigen:174 Ginover trägt hier zunächst Artus und seinen Rittern einen dilemmatischen Liebeskasus vor.175 Dass Artus im vorliegenden Fall als männlicher Richter thematisch nicht zuständig ist, wird dadurch sichtbar, dass er sein Recht, Urteile über seine Ritter zu fällen, delegiert. Das auf diese Weise ausgerechnet von Keie gesprochene Urteil kann dem Kasus kaum gerecht werden, weshalb Ginover den Fall – sozusagen in zweiter Instanz – mit den Damen des Hofes berät und erst jetzt zu einem gültigen Urteil findet. Auf diese Weise tritt die parallele Konstruktion zwischen König Artus als Richter in Fragen der Ehre und Königin Ginover als Minnerichterin besonders hervor. Für die intertextuellen Bezüge zwischen den iudicia amoris aus De amore und der Questioni d’amore-Episode ist vor allem die Zuweisung minnerechtlicher Kompetenz an eine ranghohe Dame des Adels einschlägig. Diese vorwiegend – wenn auch, wie Schnell zeigt, nicht ausschließlich –176 aus der literarischen Tradition der cours d’amour adap173 174
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So auch Karnein, De Amore in volkssprachlicher Literatur, S. 100–106. Vgl. Peters, Cour d’amour, S. 119 und 127, die die Szene als Beispiel für eine epische Bearbeitung der cour d’amour auffasst; Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 195f., spricht der Szene selbst den Charakter geselliger Unterhaltung ab. Dieser (gar nicht in Frage zu stellende) Befund macht einmal mehr die Differenz zum Ansatz dieser Arbeit deutlich, der es um die intertextuellen Konstituenten eines Modells geht. Gorvains und Meraugis lieben dasselbe Mädchen. Es geht daher um die Frage, wessen Liebe eher berechtigt sei, die Gorvains’, der sie ihrer Schönheit wegen, oder die Meraugis’, der sie ihrer cortoisie wegen liebt, vgl. Meraugis von Portlesguez. Altfranzösischer Abenteuerroman von Raoul von Houdenc. Zum ersten Mal nach allen Handschriftenhrsg. von Mathias Friedwanger.Halle 1897 (= Raoul von Houdenc. Sämtliche Werke, Bd. 1), V. 855–1035. Schnell, Andreas Capellanus, S. 83–85, verweist darauf, dass die Frage, ob Frauen unter bestimmten Umständen als Richterinnen fungieren dürfen, im 12. Jahrhun-
142 tierte gender-Relation erweist sich für die Auffassung von Geselligkeit, wie sie die Questioni d’amore-Episode vorführt, als zentral. Postuliert wird hier, dass Geselligkeit entsteht, wo Frauen und Männer gemeinsam versammelt sind und sich unter der temporären Herrschaft einer Frau mit höfischer Liebe befassen. Produktive Transformationen des Prätextes der iudicia amoris zeigen sich in der Questioni d’amore-Episode dagegen in folgenden Punkten: 1) wichtigstes Differenzkriterium gegenüber der Konzeption des Minnehofs ist der Aspekt der Herstellung und Legitimation der Richterinstanz.177 Während diese Instanz hier von vornherein gesetzt ist, wird deren prozessuale Herstellung in der Questioni d’amoreEpisode breit vorgeführt. 2) Die Konstellation der cour d’amour, wie sie in De Amore entworfen wird, kennt keine Verhandlung des Kasus, sondern nur dessen Vorlage und das über ihn gefällte Urteil. Für die Questioni d’amore ist dagegen der argumentative Prozess der Urteilsfindung kennzeichnend.178 3) Der Darstellung der cour d’amour bei Andreas Capellanus fehlt die explizite Bezugnahme auf einen geselligen Kontext,179 in der Questioni d’amore-Episode hingegen wird die Verhandlung von Liebeskasus als ein Spiel vorgeführt, über das sich Geselligkeit modellhaft organisieren lässt.
4.2.3.3 Geselligkeit als Spiel: Das Muster der minnekasuistischen Fragespiele Die dritte Referenzgröße für die soziale Selbstordnung, die hier eine Rolle spielt und die die beiden vorigen Modelle gleichsam integriert, ist die des Spiels.180 Zwar benennt Fiammetta ihren Vorschlag, Fragen zu stellen und zu beantworten, zunächst nicht so. Dass sie die gemeinschaftliche Tätigkeit jedoch als Spiel betrachtet, zeigt sich in ihrer Antwort auf die
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dert im Norden und Süden Frankreichs unterschiedlich gehandhabt worden sei. Während im Norden eine solche consuetudo nachweisbar sei, war Frauen im Süden ein Richteramt mit Berufung auf das römische Recht untersagt. Schnell vertritt daher die These, dass die iudicia amoris des Andreas, insofern hier sowohl nord- als auch südfranzösische und flandrische Damen Richterfunktion übernehmen, »innerhalb der rechtspolitischen Auseinandersetzung in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. Stellung« beziehen (ebd., S. 85). Diese Differenz gilt auch für das in Kap. 4.2.3.1 behandelte Referenzmodell des Königshofs und insbesondere für den Artushof als eine seiner literarischen Manifestationen. Hierzu Kap. 4.3.2. Dass sich ein solcher Kontext zumindest andeutet, ist in Anm. 172 skizziert. Spiel wird hier in einem relativ engen Sinne als Gesellschaftsspiel verstanden, vgl. die Bestimungenbei Huizinga,Homo ludens, S. 15–22, bes. S. 37; für grundsätzliche Überlegungen zur Analogie von Geselligkeits- und Spielbegriff vgl. Kap. 1.
143 siebte Frage Caleons,181 die deswegen prekär ist, weil sie die Liebe selbst, die ja Gegenstand der questioni ist, in Frage stellt: Serverassi, rispondendo a te, lo’ncominciato ordine, e colui a cui suggetta siamo, le parole, le quali, costretta dalla forza del giuoco, diciamo contra la sua deità, più tosto che voluntarie, le ci perdoni (IV,44,2).182
Der Begriff des giuoco findet dabei in einem Zusammenhang Verwendung, in dem Fiammetta auf die geschaffene Ordnung explizit Bezug nimmt. Das ist deswegen notwendig, um die Distanz der Spielwelt zu der außerhalb des Spiels liegenden Welt zu markieren. Die in der Spielwelt geltenden Regeln, hier der incominciato ordine, fordern von der Spielkönigin eine Antwort, die sie nicht mit der Ansicht der Person Fiammetta verrechnet wissen möchte. Entsprechend fällt ihre erste Reaktion auf die Frage aus: »Parlare ci conviene contra quello che noi con disiderio seguiamo« (IV,44,1).183 Das Paradox, eine Position vertreten zu müssen, die konträr zur persönlichen Ansicht steht, wird zwar genannt, es führt aber nicht zu Abbruch oder Aussetzung des Spiels. Dessen künstliche, aber zu diesem Zeitpunkt gleichwohl gültige Ordnung bleibt bis zum formalen Akt ihrer Aufhebung in Kraft und übt daher eine entsprechende Macht aus, die Antworten erzwingt, die alles andere als freiwillig gegeben werden (più tosto che voluntarie). Die unerbittliche Gültigkeit der Spielordnung zeigt sich ein weiteres Mal an der jungen Graziosa, die lieber darauf verzichten würde, eine Frage vorzulegen, es mit folgender Begründung dann aber doch tut: »e se licito mi fosse, volontieri sanza porla mi passerei, ma per non trapassare la vostra obedienza e degli altri l’ordine, porrò questa: […]« (IV,59,2).184 Die Verbindung der Konzeption des geselligen Spiels mit dem aufgerufenen Wortfeld von Macht (forza), Zwang (costringere) und Gehorsam (obedienza) verweist auf den sozialdisziplinierenden Gehalt dieses Ordnungsmodells. Dabei ist die Questioni d’amore-Episode nicht der einzige literarische Text, in dem höfische Geselligkeit als Spiel organisiert ist. Richard F. Green hat weitere fünf Texte angeführt, die ähnliche Konzeptionen spielerischer Geselligkeit kennen.185 Entstanden sind sie etwa zwischen 1280 und 1370. Drei altfranzösische und ein mittelniederländischer Text lie181 182
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Q VII: Soll sich ein Mann verlieben oder nicht? Vgl. hierzu Kap. 4.3.1. »In respondingto you, the same rules will be followed as we have begun; and may he to whom we are subject forgive us the words which we are constrained by the law of the game to speak against his deity, not at all voluntarily. And may his indignation not fall upon us in consequence.« (275) »It is necessary for us to speak against that which we follow with desire.« (275) »And if it were permitted me I would willingly pass by and not raise it at all; but so as not to deny obedience to you and to the order of the others, I shall ask this: […]« (289). Green, Le roi qui ne ment.
144 gen der Entstehung des Filocolo um wenige Jahrzehnte voraus.186 Green hat für die dargestellten Spiele die in zwei Texten überlieferte Bezeichnung Le roi qui ne ment eingeführt.187 Damit ist allerdings eine Konsistenz des Gegenstands (oder ›Motivs‹) behauptet, die sich in der detaillierten Betrachtung der Texte nur auf sehr abstraktem Niveau halten lässt. Gemeinsam ist den genannten Spielvarianten, dass eine mehrköpfige, gemischtgeschlechtliche Gruppe einen magister ludi mit der Bezeichnung König/Königin benennt, der in Interaktion mit der Gruppe Liebeskasus behandelt. Dieses auf wenige Konstitutenten reduzierte Spielgerüst verweist auf Variantenvielfalt im Detail: Der magister ludi kann sowohl weiblich als auch männlich sein; er kann die Kasus sowohl vorlegen als auch beantworten oder sogar beides tun, folglich ist auch die Art und Weise, wie die Kasus verhandelt werden, unterschiedlich; die Kasus sind zumeist liebestheoretischer, daneben aber auch erotischer Natur. Wie viele Kasus verhandelt werden, hängt nicht nur von der Zahl der Teilnehmer, sondern auch von der Funktionalisierung der Spieldarstellung im jeweiligen Text ab.188 Während das in der Questioni d’amore-Episode dargestellte Spiel in Bezug auf Spielleitung (Bestimmung eines magister ludi ) und Spielablauf (Verhandlung von Liebeskasus im weiteren Sinne) somit an einer zeitgenössischen literarischen Tradition partizipiert, kann der oben beschriebene Anspruch, den Fiammetta mit ihrer ›Spielregel‹ formuliert – also über die geordnete Kommunikation des Spiels die Interaktion in der Gruppe zu ordnen und zu zivilisieren und somit im Spiel Geselligkeit als kulturellen Ordnungsmodus vorzuführen –, als Proprium der Questioni d’amore-Episode gelten. Er eignet ansonsten keinem der genannten Vergleichstexte. Die Reichweite dieses Anspruchs wird in der Questioni d’amore-Episode im weiteren Verlauf auf einer weiteren Ebene untermauert: So zeigt sich im Zuge der reihum vorgelegten und beantworteten Fragen, dass der sozialen und kommunikativen Ordnung der 186
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Adam de la Halle: Jeu de Robin et Marion (1283); Jacques de Longuyon:Les Voeux du Paon (ca. 1313); Jean de Condé: Le sentier batu (ca. 1320) sowie der anonyme Roman van Heinric en Margriete (ca. 1315). Der sechste Text, Le chevalier de la Tour, wird auf ca. 1372 datiert. Die Bezeichnung findet sich bei Jacques de Longuyon und im Fabliau des Jean de Condé, darüber hinaus wird sie vereinzelt in französischen und englischen Sammlungen von Minnefragen aufgegriffen, vgl. Green, Le roi qui ne ment, S. 211 und 214; sowie Klein, Die altfranzösischen Minnefragen, S. 211–231. Die Unterschiedlichkeit im Detail sieht auch Green, Le roi qui ne ment, S. 212: »There seem at first glance to be very few generalizations that can be drawn from these diverse accounts.« Green sieht das verbindende Element der Spiele in der Beobachtung, dass in allen Spieldarstellungen »pairs of lovers or would-be lovers« (ebd.) eine Rolle spielten. Das führt ihn zu seiner These, das Spiel verweise auf einen Freiraum innerhalb der stark regulierten aristokratischen Hofkultur, der eine erotische Annäherung der Geschlechter ermögliche (ebd., S. 213).
145 Gruppe eine spezifische Sitzordnung entspricht. Die verbal hergestellte soziale Ordnung wird somit in eine visuelle überführt. Victoria Kirkham konnte zeigen, dass die Abfolge von männlichen und weiblichen Figuren eine Symmetrie aufweist, die die Harmonie der sozialen Ordnung zusätzlich unterstreicht: Sowohl rechts als auch links von Fiammetta sitzen zwei Mal je zwei Männer neben einer Dame. Mit Caleon auf der Position 7 wird diese Abfolge unterbrochen, er bildet somit den Gegenpol zur Position von Fiammetta.189 Die von Kirkham weiterhin konstatierte symmetrische Entsprechung von Männern und Frauen innerhalb des Kreises ist allerdings nur gegeben, wenn man die Achse FiammettaCaleon als Spiegelachse betrachtet.190 Über die Beobachtungen von Kirkham hinaus lässt sich feststellen, dass die Sitzordnung nicht nur in Bezug auf die Kategorie Geschlecht, sondern auch hinsichtlich der ursprünglichen Gruppenzugehörigkeit einem bestimmten Muster folgt: Rechts von Fiammetta sitzen vier ihrer eigenen und zwei von Florios Leuten im Wechsel 1+2+1+2, rechts von Caleon sitzen zwei von Fiammettas Leuten und vier Begleiter Florios ebenfalls im Wechsel 1+2+1+2. Die Teilnehmenden sind somit sowohl nach Geschlecht als auch nach Gruppenzugehörigkeit in eine gleichmäßige Abfolge gebracht. Während die Figur des Kreises – analog etwa zur arthurischen Tafelrunde – die Gleichrangigkeit der Versammelten modellhaft visualisiert, stellt die symmetrische Anordnung die vollzogene Verbindung der beiden Gruppen einerseits und der Geschlechter andererseits aus. Fiammetta und Caleon sind einerseits in diese Symmetrie einbezogen, nehmen aber gleichfalls – als Pole der Spiegelachsen – eine herausgehobene Position ein. Die Beobachtungen zur artifiziellen Sitzordnung machen in besonderer Weise deutlich, dass die sozialen Prozesse in der Questioni d’amore-Episode bis ins Detail einer sorgfältigen, choreographischen Gestaltung unterworfen sind. Diese Ästhetik lässt den Modellcharakter des Entwurfs umso plastischer hervortreten. Die Ausführungen haben gezeigt, dass Fiammettas Spielregel als Kondensat sowohl gattungstypologisch als auch zeitlich heterogener intertextueller Referenzen gelesen werden kann. Dabei elaboriert die Spielregel Ordnungsvorstellungen auf wenigstens drei Ebenen: mit Bezug auf den Artushof ein Modell monarchischer, männlicher Herrschaft, das als Paradigma ›geselliger Ordnung‹ konzipiert ist und damit sowohl paritätische als auch hierarchische Strukturen garantiert; mit Bezug auf die cour d’amour ein Modell minnerechtlicher, weiblicher Herrschaft und mit 189
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Diese Konstellation wird im Text explizit benannt: »il quale [Caleon, C. E.] per opposito a fronte alla reina sedeva in cerchio« (IV,43,4). Kirkham, Questioni d’amore, S. 51. Ohne diese Annahme ergibt sich die Symmetrie auf Grund des ungleichen Verhältnisses von männlichen und weiblichen Figuren nicht.
146 Bezug auf die minnekasuistischen Fragespiele ein Modell spielerischer – das heißt vor allem performativ hergestellter und auf Zeit gewährter – Herrschaft. Gleichzeitig aber ist der Text mehr als die Summe dieser Referenzen: In der detaillierten Fokussierung der prozesshaften Herstellung von spielerischer Herrschaft und der Reflexion ihrer Bedingungen zeigt sich, dass in der Questioni d’amore-Episode mehr verhandelt wird als Liebeskasus und mehr dargestellt ist als eine vermeintlich höfische Praxis: Vorgeführt wird vielmehr auch ein modellhafter, an utopische Vorstellungen heranreichender Prozess von Vergesellschaftung.
4.2.4 Geordnete Kommunikation als Verstetigung geselliger Interaktion Da der kommunikativen Ordnung der geselligen Runde, insbesondere den intertextuellen Bezügen, die diese aufruft, ein eigenes Kapitel (4.3) vorbehalten ist, soll hier lediglich der Aspekt der schematischen Wiederholung Berücksichtigung finden. Diesem kommt im Kontext der geselligen Formierung zentrale Bedeutung für die Stabilisierung des Geschehens in der Zeit zu, er rundet damit den Institutionalisierungsprozess ab. Die von Fiammetta zu Beginn ausgegebene und in ihrer Funktion als Königin noch einmal bestätigte Regel für die gemeinschaftliche Kommunikation sieht vor, dass reihum jeder der Teilnehmer dem König bzw. der Königin eine Liebesfrage vorlegt, die dieser beantworten soll.191 Die kommunikative Praxis, die sich zwischen den Fragestellern und Fiammetta etabliert, weicht allerdings von diesem schlichten Modell aus Frage und Antwort ab. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass es sich bei den Fragen weder um einfache Entscheidungs- noch um Wissensfragen, sondern um in der Regel zweiteilige, dilemmatische Fragen handelt. Da der Modus der Fragen nicht weiter erläutert wird, erschließt er sich für die Teilnehmer der Runde offenbar aus der von Fiammetta gewählten Bezeichnung questione d’amore.192 Auf die vorgelegte Frage antwortet Fiammetta, indem sie sich für eine Möglichkeit entscheidet und ihre Entscheidung begründet. Über das zunächst skizzierte einfache Frage-Antwort-Verfahren hinaus reagiert nun erneut der Fragesteller auf die Antwort, indem er die Entscheidung Fiammettas anficht und seine gegenteilige Position begründet. Abschließend ergreift noch einmal die Königin das Wort. Sie widerspricht in allen Fällen den vorgebrachten Alternativen und bekräftigt dagegen ihre eigene Position als verbindliches Urteil. Dann erst erklärt sie den Aspekt für abgehandelt und fordert den Nächstsitzenden auf, seine Frage zu stellen. Da jeder Teilnehmer 191 192
Vgl. IV,17,5 und IV,18,6+7. Zu den Fragen, Verhandlungen und Urteilen vgl. ausführlich Kap. 4.3.
147 der Runde genau eine Frage stellt, wird dieses Verfahren dreizehnmal exakt wiederholt.193 Die Ordnung der kommunikativen Interaktion besteht also in der starken Reglementierung und Schematisierung der wechselseitigen Beiträge. Zugleich verleiht die Wiederholung dieses jeweils identischen kommunikativen Schemas der Gruppe jene Stabilität in der Zeit, die mit dem Begriff der »Verstetigung« bezeichnet ist.194 Als ›ephemere Institution‹ und somit in explizitem Gegensatz zu Institutionen des politischen, juristischen oder theologischen Diskurses sucht die gesellige Runde aber gerade nicht ihren – so Strohschneider – »eigenen Verlaufscharakter« zu verbergen,195 sondern stellt ihr Ende vielmehr dezidiert aus, indem Fiammetta nach Vorlage und Diskussion der dreizehn Fragen mit dem Lorbeerkranz ihre Königswürde ablegt, das Spiel für beendet erklärt und somit der temporär institutionalisierten Form von Geselligkeit ein explizites und sichtbares Ende setzt. Auch in diesem Punkt ist der im Filocolo vorgeführten Konzeption von geselliger Kommunikation ein paradoxes Moment eingeschrieben: Dem in der schematischen Wiederholung liegenden Stabilitätspotential korrespondiert die Gegenbewegung der Zeitlichkeit, der die Szene von Anfang an durch die Vorgabe unterstellt ist, dass jeder der Anwesenden (ciascuno), und damit die fest definierte, zugleich begrenzte Anzahl von dreizehn Personen, eine Frage vorzulegen habe.
4.2.5 Soziale Egalität und soziale Differenz: Geselliges Paradox? Die bisherigen Beobachtungen haben gezeigt, dass das Spannungsverhältnis von Egalität und Ordnung – wie schon für die Geselligkeitskonzeptionen der höfischen Literatur dargestellt – auch für die Geselligkeitskonzeption der Questioni d’amore-Episode konstitutiv ist. Einerseits setzt Geselligkeit die Interaktion von Gleichrangigen voraus, weshalb diese im Prozess der geselligen Formierung allererst herzustellen ist. Andererseits benötigt die Interaktion der Gleichrangigen wiederum einen orientierenden Maßstab. Ohne Ordnung, das macht der Text explizit, spaltet sich der soziale Körper der geselligen Runde in Teilgruppen auf, es kommunizieren Einzelne mit Einzelnen, und auch in der gemeinschaftlich konstituierten Runde gewinnt ohne Ordnung affekthaftes Verhalten, das sich in Eigennutz und Rücksichtslosigkeit äußert, die Oberhand. Auch in Bezug auf die literarische Darstellung erweist sich Ordnung als conditio sine qua non von Geselligkeit: Dargestellt wird eben nicht 193
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Während die Verhandlung der Fragen in allen Fällen identisch abläuft, ergeben sich in der Art und Weise, wie die Fragen präsentiert werden, erheblicheAbweichungen, vgl. hierzu Kap. 4.3.1. Strohschneider, Institutionalität, S. 5. Strohschneider, Institutionalität, S. 5.
148 das freie, ungeordnete festeggiare, sondern die schematisch geordnete Diskussion der Liebesfragen. Zugespitzt: Darstellbar wird Geselligkeit dann, wenn sie über soziale und kommunikative Ordnung in narrative Ordnung überführt werden kann. Anders als in den bisher untersuchten Texten wird die abstrakte Kategorie der Ordnung in der Questioni d’amore-Episode über die ›Spielregel‹ der Fiammetta als hierarchische Sozialordnung praktiziert. Der Konnex von Ordnung und Hierarchie aktualisiert dabei ein spezifisch mittelalterliches ordo-Verständis: Ordnung zielt auf Harmonie, aber immer, indem sie anordnet und hierarchisch gliedert.196 Diese Verknüpfung ist keinesfalls selbstverständlich, bringt sie in diesem Fall doch ein traditionelles Denkmuster in einen Zusammenhang ein, in dem alternative, nicht-hierarchische Ordnungsverfahren ebenso vorstellbar wären (bspw. über eine numerische Abfolge, die sich an der Sitzordnung orientiert). In der Questioni d’amore-Episode werden die Herstellung von Gleichrangigkeit (Gruppenbildung) und von hierarchischer Ordnung (›Spielregel‹) im Prozess der geselligen Formierung in eine zeitliche Abfolge gebracht. Diesem Befund widerspricht die in der bisherigen Analyse mehrfach gemachte Beobachtung, dass Fragen des Rangs schon in der Phase der Gruppenbildung immer wieder präsent sind. Dieser simultanen Präsenz von Gleichrangigkeit und Rang ist im Kontext der Überlegungen zu den geselligen Konstituenten ›Egalität‹ und ›Ordnung‹ noch einmal gesondert nachzugehen. Dazu sollen die entsprechenden Passagen noch einmal in Erinnerung gerufen werden: Die wechselseitige Wahrnehmung der beiden Gruppen funktioniert nicht allein über die homogenisierenden Merkmale nobilità und cortesia, sondern identifiziert die jeweils andere Gruppe über ihre Anführer auch als hierarchisch geordnete. Der erste verbale Kontakt findet zwischen Caleon, seinen Begleitern und Florio statt, dem diese ansehen, dass er der Herr (maggiore) der anderen ist.197 Auch Fiammetta ist von ihrem ersten Auftritt an sichtbar aus ihrer Gruppe herausgehoben.198 Explizit bestätigt wird ihre Position, als Caleon sie später als Herrin der Gruppe bezeichnet.199 Die Funktion der Herrschaft fällt Florio und Fiammetta innerhalb ihrer Gruppen ›natürlich‹ zu, sie ist Resultat ihrer königlichen Herkunft. Insofern Name, lokale und genealogische Herkunft in der folgenden Identifizierung der beiden Protagonisten (vollständig für Fiammetta, teilweise für Florio) explizit gemacht werden, findet diese ›natür-
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Oexle u. a., Art. Ordo, Sp. 1436f. »[…] il quale [Filocolo, C. E.] nel viso conobbero di tutti il maggiore« (IV,14,5). »[…] una donna più che altra da riverire, piena di maravigliosa bellezza e di virtù« (IV,15,1). Vgl. Caleons Aussage: »Ella […] a noi tutti è donna« (IV,16,5).
149 liche‹ und wechselseitig evidente Herrscherposition eine nachträgliche Begründung. Dass dieses Ordnungsmodell auch in der sich formierenden gemeinsamen Gruppe präsent bleibt, erweist sich in Florios symbolischer Unterwerfung unter Fiammettas Herrschaft, die rhetorisch als Minnedienst kodiert ist. Der symmetrischen Anlage der Szene entspricht dabei, dass es nicht bei der einseitigen Unterordnung Florios bleibt, sondern dass dieser ein zweiter, invertierter Ordnungsakt entgegengesetzt wird, in dem sich Fiammetta und ihre Gruppe Florios Herrschaft unterstellen. Nachdem Florio sich über seine Geschichte als ›Pilger der Liebe‹ identifiziert hat, heißt es: »E da quell’ora inanzi multiplicando l’onore, non come pellegrino e come uomo accettato a quella festa, ma come maggiore e principale di quella, a tutti il fece onorare […]« (IV,16,11).200 Erzählstrukturell sind die beiden (Teil-)Szenen damit eng aufeinander bezogen: Die temporäre Minneherrschaft Fiammettas findet ein Analogon in der ebenfalls temporären Herrschaft Florios als maggiore e principale der gesamten Gruppe. Indem für Momente sowohl Fiammetta als auch Florio zu Führern der gemeinsamen Gruppe werden können, wird zum einen ihre analoge Eignung, darüber hinaus aber auch die Gleichwertigkeit ihrer Gruppen betont. Zum anderen aber machen die beiden Fälle deutlich, dass ›Herrschaft‹ in der zusammengeführten Gruppe einen neuen, anderen Stellenwert einnimmt als in den beiden Einzelgruppen. Sie ist nicht länger ›natürlich‹ gegeben, sondern Ergebnis temporärer Zuschreibungen. Während das hierarchische Moment im ersten Fall zufälliges und zugleich ephemeres Ergebnis einer dialogischen Situation ist, ist es im zweiten Fall momenthafte Zuschreibung auf Grund einer Konsens erzeugenden Geschichte. In beiden Fällen entsteht Herrschaft hier aus dem Rückgriff auf intertextuelle Zitate. Beide Fälle zeigen, dass die zuvor gültige Konzeption ›natürlicher‹ Herrschaft in der zusammengeführten Gruppe schon wegen der Existenz zweier potentiell konkurrierender, gleichermaßen legitimierter Figuren keinen Bestand haben kann. Sie wird aufgegeben zugunsten einer bereits graduell ›denaturalisierten‹ Herrschaftskonzeption, in der die Herrscherposition zwar den ›natürlich‹ legitimierten Figuren zufällt, ohne jedoch in Selbstaneignung begründet oder überzeitlich gültig zu sein. Vielmehr ist sie Resultat temporärer (Rollen-)Zuschreibung, die auf wechselnde Personen jeweils auf Zeit projiziert werden kann. Mit dieser performativen ›Denaturalisierung natürlicher Herrschaft‹ wird die dritte Herrschaftskonzeption vorbereitet, die sich über den Modus der in der Spielregel fixierten Königswahl als ›posi200
»And multiplying his honors from that time forward,he made them all honour him, not as a pilgrim and a man invited to their festivities, but as a leader and head of it« (243).
150 tive‹ kennzeichnen lässt. Fiammettas Spielregel skizziert ein Verfahren der geselligen Selbstordnung, das simultan auf soziale Gleichrangigkeit und soziale Differenz setzt. Bereitet der Gruppenbildungsprozess den Boden für die konsensuale Wahl, an der alle gleichermaßen beteiligt sind, so lässt sich die ›gesetzte‹ Herrschaft des Wahlkönigs als Fortsetzung der vorausgehenden Verschiebung von einer ›natürlichen‹ zu einer graduell ›denaturalisierten‹ Herrschaftskonzeption verstehen.201 Allerdings bleibt die konzeptionelle Verschiebung in dieser Deutlichkeit auf die Spielregel als theoretische Formulierung positiver Herrschaft begrenzt, denn die Praxis sieht anders aus. Hier wird am Ende diejenige zur Repräsentantin der Spiel-Ordnung, die auch die ›natürliche‹ Herrschaft innehat und der in dieser Eigenschaft auch die Funktion der Legislative zufällt. Damit überlagern sich ›natürliche‹ und ›positive‹ Ordnung partiell: Einerseits werden in der fiktiven Außenwelt existente ›natürliche‹ soziale Rangunterschiede in der Binnenwelt der geselligen Runde nivelliert (z. B. in der Sitzanordnung, im kollektivierenden Sprachgebrauch), andererseits wird die im außergeselligen Raum gültige soziale Hierarchie für die Dauer des Spiels eben nicht vollständig suspendiert, sondern kehrt über den Umweg des Wahlmodus wieder in die gesellige Runde zurück. Gleichwohl ist dieser Mechanismus ein gebrochener, denn dass die Wahl auf jemanden fällt, der auch in der Welt außerhalb des Spiels als sozial hochstehend markiert ist, wird nicht als Automatismus, sondern als konsensual legitimierter Prozess dargestellt. Der den Prozess geselliger Formierung begleitende Ordnungsdiskurs steht somit nicht im Widerspruch zu der Bemühung um soziale Integration und Homogenisierung der beiden Gruppen, sondern muss als integraler Bestandteil dieses Prozesses aufgefasst werden: Während mit der – über Annäherung, wertbasierte Konsensbildung, Identifizierung und Homogenisierung organisierten – Gruppenbildung Geselligkeit im etymologischen Sinne als Interaktion von Gleichrangigen vorgeführt wird, bereiten die Verweise auf soziale sowie literarische Rangordnungen die Etablierung jener Spiel-Ordnung vor, die die geschaffene Egalität in einer dialektischen Bewegung stabilisiert, indem sie sie temporär suspendiert. Egalität und Ordnung – und spezifischer noch Egalität und Hierarchie – sind somit als dialektische und zugleich komplementäre Begrif201
Es wäre voreilig, die hier entwickelte Vorstellung gemachter Herrschaft, die (wenn auch nur für die Dauer eines Spiels) natürliche Herrschaft suspendiert, in Relation zu der prominent bei Burckhardt vertretenen These zu setzen, in der Renaissance werde die Konzeption des Geburtsadels durch die des Tugendadels abgelöst (vgl. Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 261–267). Das, was natürliche Herrschaft im Filocolo ersetzbar macht, ist nicht Tugendadel, sondern ein in der Spielregel fixiertes Verfahren, das alle – auf der Ebene von Adeligkeit einander gleichgestellten – Figuren mit einer selbstbestimmten Ordnung versieht.
151 fe der hier dargestellten Geselligkeitskonzeption aufzufassen. Auf diese Weise führt die Questioni d’amore-Episode ein Prinzip vor, das sich in Ansätzen – freilich ohne in dieser Breite dargestellt und reflektiert zu werden – schon an den in Kapitel 3 untersuchten Texten zeigen ließ.202
4.2.6 Zwischenresümee: Gesellige Ordnung als intertextuelle Konstruktion Die in der Questioni d’amore-Episode entworfene Geselligkeitskonzeption bildet nicht nur für die Betrachtung des Decameron, sondern auch für die Untersuchungen der deutschen und europäischen BoccaccioRezeption einen wichtigen Bezugspunkt. Daher sollen hier noch einmal die zentralen Merkmale dieser Konzeption zusammengestellt und punktuell zu den antiken und mittelalterlichen Prätexten in Bezug gesetzt werden: 1) Geselligkeit findet im Filocolo an einem besonders markierten, entrückten Ort statt. Die Konzeption des Gartens als locus amoenus ist sowohl utopisch konnotiert als auch als struktureller Gegen-Ort zur Haupthandlung angelegt. Räumliche Entzogenheit und topische Ausstattung des Ortes verweisen darauf, dass Geselligkeit nur an einem exklusiven und zugleich artifiziellen Ort hergestellt werden kann.203 Hier ergibt sich eine Analogie sowohl zu den mittelalterlichen Prätexten, in denen Geselligkeit ihren Ort im Sonderraum höfischer Festkultur hat, die vor allem als gegen-politischer Raum gekennzeichnet ist, als auch zu den antiken Prätexten, in denen das Privat- oder Landhaus den Gegen-Ort zur politisch-juristischen Öffentlichkeit des Forums der communitas bildet. Während der Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit in eine gesellige Teilöffentlichkeit bspw. bei Cicero dazu dient, eminent politische Themen zu verhandeln, sind die geselligen Orte in den mittelalterlichen Texten tendenziell von politisch-herrschaftlichen Gesprächsthemen entlastet. Dass sie gleichwohl nicht als unpolitische, herrschaftsfreie Räume gelten können, zeigt für die hochmittelalterlichen Texte wie auch für den Filocolo die beschriebene Dialektik von Egalität und Rang und die Dominanz agonaler geselliger Praktiken. Thesenhaft wäre zu formulie202
203
Das Verhältnis von ›natürlicher‹ und ›gesetzter‹ sozialer Hierarchie ist in der Questioni d’amore-Epsiode wiederum viel deutlicher exponiert als im Decameron, wo die hergestellte Egalität der Runde mit einer spielerischen Ordnung harmoniert, in der jeder aus der Runde Spielkönig werden kann und muss. Zudem bleiben hier soziale Hierarchien außerhalb des geselligen Kontextes stärker ausgeblendet, vgl. Kap. 5.2.4. Zu analogen Befunden kommen Lieb / Müller, Situationen literarischen Erzählens, S. 48–51, für den Raum (geselligen) Erzählens. Sie legen den Akzent besonders auf die Instabilität und die latente Gefährdung dieses im Kontext von Alltag und Fest immer wieder neu zu schaffenden und zu verteidigenden Raums.
152 ren, dass sich in allen drei Konzeptionen (der antiken, mittelalterlichen, und spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen) der Raum von Geselligkeit in einer absetzenden Bewegung (gegen-politisch, gegen-herrschaftlich, gegen-alltäglich, gegen-funktional) konstituiert. Während die antiken Texte jedoch die räumlich exkludierte Lebensweltlichkeit kommunikativ wieder hereinnehmen, wird diese in den mittelalterlichen Texten (und auch in der Questioni d’amore-Episode) auf der sozial-interaktiven Ebene gespiegelt. 2) Die Formierung von Geselligkeit vor dem Wertehorizont der cortesia impliziert Heterosozialität, also die Interaktion beider Geschlechter. Schon die Stimmen, die den Garten für Florio und seine Begleiter als geselligen Ort ausweisen, verweisen indexikalisch auf die Anwesenheit von Männern und Frauen.204 Wie wichtig auch im Weiteren die gemischtgeschlechtliche Konstitution der geselligen Runde ist, zeigt die Phase der Annäherung von Männern und Frauen im Prozess der Gruppenbildung, aber auch die spezifische Sitzordnung, in der die Geschlechter in gleichmäßiger Abfolge angeordnet sind. Über das Thema der Liebesfragen, das Ascalion weiblicher Entscheidungskompetenz zuschreibt, ergibt sich zudem eine inhaltliche Begründung für die Beteiligung der beiden Geschlechter. Mit der Bezugnahme auf den Wertehorizont der cortesia, das Thema amore und die Interaktion beider Geschlechter stellt sich die Szene in die Tradition volkssprachlicher (romanischer) Literatur. Die auf dieser Basis entworfene Geselligkeitsvorstellung markiert eine zentrale Differenz zu den antiken Prätexten, die Geselligkeit lediglich als maskuline, homosoziale Praxis kennen. 3) ›Geselligkeit‹ ist in der Questioni d’amore-Episode als paritätische soziale Form konzipiert, auch wenn der Text hierfür keine entsprechende Bezeichnung bereithält. Die Erzählinstanz ist bemüht, die Phasen der Integration und Homogenisierung der beiden Gruppen sorgfältig vorzuführen. Nobilità und cortesia liefern die Wertmaßstäbe, die wechselseitiges Erkennen und konsensuale Verständigung sowohl zwischen den Männern als auch zwischen Männern und Frauen ermöglichen. Die stellvertretende Identifizierung der beiden Gruppenanführer schafft darüber hinaus die notwendige soziale Nähe zwischen den beiden Gruppen, um Geselligkeit gemeinsam zu praktizieren. 4) Als ›ephemere Institution‹ benötigt Geselligkeit in der Questioni d’amore-Episode zu ihrer sozialen, kommunikativen und zeitlichen Stabilisierung eine Ordnung. Diese ist im Modus des Spiels realisiert, das über die Spielregel die soziale und kommunikative Ordnung der geselligen Praxis organisiert. Im Gegensatz zum ungeordneten festeggiare wird die solchermaßen geordnete Geselligkeit literarisch überhaupt erst darstell204
»[…] udironoin esso [giardino,C. E.] graziosafesta di giovani e di donne« (IV,14,3).
153 bar. Mit der Darstellung von Geselligkeit als Spiel referiert die Questioni d’amore-Episode auf literarische Konzeptionen höfischer Spielkultur, die auch andernorts – allerdings weniger deutlich konturiert – tradiert werden. Die breite narrative Ausgestaltung dieses Spiels kann dabei – in Verbindung mit seiner Funktionalisierung als geselliges Ordnungsmodell – als Proprium des Filocolo gelten. 5) Dass Geselligkeit nur als geordnete vorzustellen ist, teilt die Questioni d’amore-Episode mit den Konzeptionen, wie sie fragmentarisch schon für die höfische Literatur gezeigt werden können. Dabei meint Ordnung im Rückgriff auf die mittelalterliche ordo-Konzeption stets Stratifizierung, weshalb die gesellige Ordnung in der Szene konsequent als soziale Hierarchie umgesetzt wird. Im Unterschied zur Geselligkeitskonzeption der höfischen Literatur deutet sich für die Geselligkeit im Filocolo mit der legislativen Einsetzung einer Wahl-Monarchie eine Verschiebung von ›natürlicher‹ zu einer im Modus der Wahl performativ hergestellten und legitimierten Herrschaft an, auch wenn in der Figur Fiammettas beide Konzeptionen letztlich in eins fallen. In der Rezeption erweist sich insbesondere dieser Aspekt der Stabilisierung von Geselligkeit über eine ›positive‹ hierarchische Ordnung, die konsensual hergestellt, legitimiert und zeitlich begrenzt gültig ist, bis weit in die Neuzeit hinein als erfolgreiches Modell für die literarische Darstellung geselliger Praxis.
4.3
Gesellige Kommunikation in der Questioni d’amore-Episode
Der folgende Abschnitt stellt den Modus der geselligen Kommunikation der Gruppe in den Mittelpunkt. Das in der Spielregel formulierte Verfahren zur Ordnung der kommunikativen Interaktion sieht vor, dass jeder Anwesende dem Wahlkönig eine Liebesfrage vorlegt (al quale [dem König, C. E.] ciascuno una quistione d’amore proponga), die dieser wiederum beantwortet (e da esso a quella debita risposta prenda). In der Umsetzung dieser Vorgabe zeigt sich, dass mit der Bezeichnung quistione d’amore ein ganz spezifischer, nämlich dilemmatischer Typus von Fragen bezeichnet ist, der durch seine zweiteilige (›Ist a oder ist b vorzuziehen?‹), zum Teil auch vergleichende Struktur (›Ist a größer/kleiner als b?‹) die geeignete Voraussetzung dafür schafft, dass die in der Spielregel vorgesehene Interaktion um Gegenantwort und abschließende Antwort erweitert wird.205 Statt einer basalen, zweiteiligen Dialogstruktur 205
Die Bezeichnung ›dilemmatische Frage‹ ist der in der Forschung zur Minnekasuistik eingeführte Begriff und wird deshalb hier verwendet. In der deutschen Grammatik werden diese Fragen als Alternativfragen bezeichnet, die zur Gruppe der Entscheidungsfragen gehören, vgl. Duden, Die Grammatik, S. 594. Sie zeichnen sich durch folgende distinkte Merkmale aus: »Alternativfragen stellen mit Hilfe
154 aus Frage und Antwort ergibt sich für die Behandlung einer questione also eine vierteilige Erörterungsstruktur aus Frage, Antwort, Entgegnung und Schluss(-urteil).206 Das zugrunde liegende Interaktionsmuster ist somit nicht das des Lehrdialogs, bei dem das Gewicht auf der Seite des antwortenden Parts liegt, sondern das Interaktionsmuster des in utramque partem dissere, das beide Interaktionspartner gleichermaßen beteiligt.207 Gliedert man dieses vierteilige Interaktionsschema wiederum funktional auf, so erhält man eine dreiteilige Struktur, die basale Analogien zur Gerichtsverhandlung und zur akademischen disputatio zeigt: 1) Frage (casus, quaestio); 2) Verhandlung (argumentatio); 3) Urteil (iudicium, conclusio).208 Die folgende Analyse orientiert sich an dieser dreiteiligen Struktur. Ziel ist es, die intertextuellen Koordinaten zu bestimmen, anhand derer die kommunikative Interaktion in der Questioni d’amoreEpisode modelliert ist. Neben den grundlegenden rhetorischen Strukturen des genus iudiciale und der akademischen quaestio ist hier vor allem auf deren Adaptationen im literarischen Feld, insbesondere die unterschiedlichen Formen der literarischen Minnekasuistik, einzugehen. Zugleich werden die spezifischen Aneignungen der Prätexte für den geselligen Kontext herauszuarbeiten sein.
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des Selektiv-Junktors oder die Geltung von zwei oder mehr Möglichkeiten zur Wahl. Als Antwort scheiden deshalb die Geltungs-Morpheme ja und nein aus, und der Hörer muß in seiner Antwort diejenige Feststellung nennen, der er Geltung verschaffen will […]«, so Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. 4., revidierte Aufl. Darmstadt 2007, S. 883. Die dem Begriff des Dilemmas fakultativverbundeneKonnotationder gleichermaßenunangenehmenWahloption kommt in der Minnekasuistik nicht zum Tragen. Das ›Unangenehme‹ der dilemmatischen Fragen resultiert allein aus der Struktur der Entscheidung, aus dem ›Zwang‹ zwischen zwei einander ausschließenden, jedoch gleichwertigen, gleichermaßen plausiblen Optionen zu wählen. Die Kapiteleinteilung bildet diese vierteilige Struktur exakt ab. Über das in utramque partem dissere als gemeinsame (antike) Wurzel von mittelalterlicher Disputation und Renaissancedialog vgl. Thomas O. Sloane: Rhetorical Education and Two-Sided Argument. In: Heinrich F. Plett (Hrsg.): RenaissanceRhetorik. Berlin / New York 1993, S. 163–178. Dass es sich um eine literarische Adaptation dieser pragmatischen Interaktionsmuster handelt, machen die Differenzen deutlich: Anders als im mittelalterlichen Gerichtsverfahren spricht hier der König als vorsitzender Richter und Verfahrensleiter selbst das Urteil; anders als in der wissenschaftlichen disputatio fehlt die determinatio, d. h. die Widerlegung der Gegenargumente im Anschluss an das abschließende Urteil, vgl. Stefan Holenstein / Bryce Lyon / Winfried Trusen: Art. Gerichtsverfahren. In: LexMa 4 (1989), Sp. 1330–1336; Fidel Rädle: Art. Disputatio. In: RLW 1 (1997), S. 376–379.
155
4.3.1 novella e dimanda: Die Präsentation der questioni d’amore Während die skizzierte Kommunikationsstruktur für alle dreizehn zwischen Fragesteller und Königin verhandelten questioni verbindlich ist, variieren die Fragen im Detail beträchtlich. Zwölf der dreizehn vorgelegten questioni sind als dilemmatische Kasus zu bezeichnen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie in Bezug auf einen strittigen Sachverhalt zwei oder drei nicht-identische und einander ausschließende Optionen zur Disposition stellen, von denen eine gewählt werden muss. Mit der Frage Caleons (Q VII) liegt keine dilemmatische, sondern eine einfache Entscheidungsfrage vor. Unter den zwölf dilemmatischen Fragen finden sich drei zweigliedrige Fragen (Q VIII, Q X, Q XII) und zwei dreigliedrige (Q III, Q IX). Die übrigen sieben sind vergleichende Fragen, die ebenfalls entweder zweigliedrig (Q I, Q II, Q V, Q VI, Q XI, Q XIII) oder dreigliedrig (Q IV) sind. Inhaltlich variieren die Fragen gemäß der Spielregel das Thema amore, hier aufgefasst als die erotische Liebe zwischen Mann und Frau. Dabei werden jeweils spezifische Aspekte herausgegriffen. Die dritte209 , achte210 und neunte211 Frage haben den Liebespartner zum Gegenstand, den es in seiner Idealität zu definieren gilt: Soll er einem geistigen oder physischen Ideal entsprechen? Welchen Standes soll er sein? Welches Alter bzw. welcher Grad an Erfahrung ist erstrebenswert? Die erste212 , sechste213 und zehnte214 Frage befassen sich mit der Erkennbarkeit der Liebe. Alle drei Fragen zielen auf den ambivalenten Zeichencharakter von Handlungen, die jeweils Liebe anzeigen sollen: Zur Diskussion stehen Geben und Nehmen, extrovertiertes und introvertiertes Verhalten sowie Handeln, das seine Absichten offen ausstellt oder strategisch verbirgt. In der zweiten215 und elften216 Frage wird die Relation von An- und Abwesenheit in der Liebesbeziehung ausgelotet; dabei stellt die elfte Frage dem physischen Anblick die mentale Imagination gegenüber. Die zwölfte217 Frage stellt 209 210
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Soll der Starke, der Höfische oder der Weise als Geliebter gewählt werden? Welche Dame sollte sich ein Mann wählen: die reiche Adlige oder die arme NichtAdlige? In wen soll sich ein junger Mann verlieben: in eine Jungfrau, eine verheiratete Frau oder eine Witwe? Wird derjenige mehr geliebt, dem die Dame ein Kränzchen überreicht, oder derjenige, von dem sie sich eines nimmt? Liebt diejenige Dame mehr, die ihre Liebe stürmisch und offensiv zeigt, oder diejenige, die ihre Liebe schüchtern und zurückhaltend verbirgt? Welchem der beiden Männer ist die Dame (bezogen auf eine vorgeschaltete Erzählung) ihre Liebe schuldig? Ist die Trauer derjenigenDame größer, deren Geliebter aus der Stadt verbanntwurde, oder derjenigen, deren Liebesbeziehung durch Eifersucht verhindert wurde? Ist es angenehmer, die Geliebte anzuschauen oder an sie zu denken? Soll ein Mann (unter bestimmten Voraussetzungen, die eine vorgeschaltete Erzählung klärt) erst mit der Geliebten oder der alten Kupplerin ein Jahr verbringen?
156 die Alternative, entweder gegenwärtige oder zukünftige Liebesverheißungen zu wählen. Auf das Leiden an der Liebe bezieht sich die fünfte218 Frage, indem sie unerfüllte Liebe gegen Eifersucht stellt. In den einleitenden Erzählungen zu den Fragen Q IV219 und Q XIII220 schließlich werden die institutionalisierte Paarbeziehung und die ungebundene Liebesbeziehung gegeneinander gestellt. In beiden Erzählungen bekommt ein stabiles eheliches Verhältnis Konkurrenz durch einen Mann, der die Ehefrau liebt, und in beiden Fällen siegt – jeweils durch Einsicht des Liebhabers – am Ende die Ehe über das nicht-institutionalisierte Liebesverhältnis. Beide Geschichten münden in eine Frage nach der Freigebigkeit der handelnden Figuren. In der Forschung sind die thematischen und strukturellen Bezüge zwischen der Questioni d’amore-Episode und den altprovenzalischen Partimen (auch: joc partit )221 sowie den etwas jüngeren altfranzösischen jeux partis immer wieder betont worden.222 Diese Streitgedichte zeichnet aus, dass zwei Sängerfiguren jeweils strophenweise abwechselnd eine dilemmatische, minnetheoretische Frage diskutieren, wobei der erste Sänger die Frage in der ersten Strophe exponiert und der zweite in der folgenden Strophe eine Position auswählen darf, die er im Weiteren vertreten möchte. Die Ausgangsfrage wird nach dem wechselseitigen Austausch der Positionen jedoch nicht zugunsten einer Seite entschieden. Vielmehr enden die Partimen mit dem Vorschlag, dieses Problem einer bestimmten außenstehenden Autorität vorzulegen, ohne dass die Gedichte selbst entsprechende Urteile enthielten.223 Sowohl die spezifische Struktur als auch die Festlegung auf liebestheoretische Themen unterscheiden das Partimen von der Tenzone, in der zwar ebenfalls zwei Instanzen zu einem Thema miteinander streiten, bei der jedoch die dilemmatische
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Was wiegt schwerer: unerwiderte Liebe oder Eifersucht? Wessen (bezogen auf eine vorgeschaltete Erzählung) Freigebigkeit ist am größten: die des Ritters, des Ehemannes oder des Zauberers? Ist (in Bezug auf eine vorgeschaltete Erzählung) die Generosität des Ritters oder die Wiedersehensfreude des Ehemanns größer? Die Bezeichnung ›Partimen‹ ist nicht zeitgenössisch, sie taucht erst in Handschriften des 14. Jahrhunderts auf, vgl. Sebastian Neumeister: Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altfranzösische Partimen. München 1969 (= Beihefte zu Poetica, 5), S. 16f. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 36–68; Surdich, La cornice di amore, S. 17–20; Tateo, Boccaccio, S. 41; Schlumbohm, Jocus und Amor, u. a. S. 97–185. Vgl. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 16 und S. 64–69; Erich Köhler: Partimen (»joc partit«). In: Hans Robert Jauss / E. K. (Hrsg.): Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. In Zusammenarbeit mit Jean Frappier u. a. Vol. II, Bd. 1, Fasc. 5. Heidelberg 1979, S. 16–32, hier S. 21f.; Peters, Cour d’amour, S. 119; und Ingrid Kasten: Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts. Hamburg 1973, S. 21–29, hier S. 27.
157 Eröffnungsfrage fehlt und in der keine liebestheoretischen Themen verhandelt werden. Surdich sieht die Analogien zwischen Partimen und questioni vor allem auf struktureller Ebene, in der Kombination aus dilemmatischer Ausgangsfrage und wechselseitiger Verhandlung. Dass diese in der Questioni d’amore-Episode in die Urteile Fiammettas mündet, während die Partimen programmatisch ergebnisoffen bleiben, markiert wiederum eine entscheidende Differenz: »il Boccaccio ne modifica sostanzialmente lo schema«.224 Aus der dualen Struktur der Streitgedichte wird in den Questioni eine triadische.225 Eine so markante Abweichung wiederum macht die Streitgedichte nur eingeschränkt als Prätexte für die Questioni wahrscheinlich.226 Im Unterschied zu Surdich untersucht die ältere Arbeit von Rajna ausschließlich die thematischen Bezüge zwischen den minnekasuistischen Streitgedichten und den questioni.227 Dass auch Rajnas motivgeschichtliche Befunde für die Annahme von intertextuellen Bezügen im engeren Sinne nur bedingt tragen, zeigt ein detaillierter Vergleich, der hier auf zwei Beispiele beschränkt werden kann: Zu den Vorlagen der ersten Frage (Q I: Wird derjenige mehr geliebt, dem die Dame ein Kränzchen überreicht, oder derjenige, von dem sie sich eines nimmt?) zählt Rajna das Partimen (Nr. 432,2), das Savaric de Mauleon Gaucelm Faidit und Uc de la Bacalaria stellt: Welchem von den drei Verehrern gilt die Liebe der Dame: dem, welchen sie voller Liebe anschaut, dem, dessen Hand sie ergreift, oder dem, dessen Fuß sie lachend berührt?228 Einen Bezug zum Partimen zeigt die Liebesfrage nur auf inhaltlicher Ebene, hinsichtlich der Frage nach dem definitiven Liebeszeichen, wobei die Zeichen in beiden Texten variieren. Auch strukturell zeigen sich Differenzen (zweibzw. dreiteilige Frage). Thematisch näher stehen der ersten questione zwei italienische Sonette, wobei zumindest für das eine unmittelbare Abhän-
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Surdich, La cornice di amore, S. 19. Ebd. Zur Verhandlungsstruktur und den Urteilen in der Questioni d’amore-Episode vgl. Kapitel 4.3.2 und 4.3.3. Vgl. dagegen Schlumbohm, Jocus und Amor, S. 123–130, die zeigen kann, dass Boccaccio im Fall der dreiteiligen neunten Frage offenkundig auf einen zweiteiligen Kasus zurückgreift, der ihm aus der Sonettkorrespondenz mit Antonio Pucci vertraut war. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 36–68. Ebd., S. 36f. sowie ders.: Una questione d’amore. In: Raccolta di Studi critici dedicata ad Alessandro D’Ancona festeggiandosi il XL anniversario del suo insegnamento. Florenz 1901, S. 553–568. Die Übersetzung der Frage findet sich bei Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 209; die angegebene Ordnungsnummer bezieht sich auf die Zählung in der Bibliographie von Pillet / Carstens. Zur Frage der ›Quellen‹ von Q I vgl. zusammenfassend auch Quaglio in Boccaccio, Filocolo, S. 763 (Anm. IV,22,4).
158 gigkeit vom Filocolo angenommen wird.229 Für die neunte Frage (Q IX: In wen soll sich ein junger Mann verlieben: in eine Jungfrau, eine verheiratete Frau oder eine Witwe?) führt Rajna eine ganze Reihe von Streitgedichten an, die die Frage allerdings jeweils als Alternative formulieren (Frau oder Jungfrau, Jungfrau oder Witwe), so dass je nach gewählter Opposition entweder der Aspekt des Lebensalters oder der des Standes im Vordergrund stehen kann.230 Rajnas und Surdichs Beobachtungen zu den Partimen als motivgeschichtlichen oder strukturellen Prätexten für die gesamte Questioni d’amore-Episode bleiben relativ allgemein und unspezifisch. Sofern hier tatsächlich eine lyrische Textgattung als intertextueller Bezugsrahmen für einen Prosatext plausibel zu machen ist, müssen thematische und strukturelle Merkmale miteinander verknüpft werden. Verknüpfbar aber sind sie vor allem punktuell für die in der Questioni d’amore-Episode vorgelegten Fragen: Denn die in der Spielregel geforderten questioni d’amore werden von den Fragestellern als dilemmatische und minnetheoretische Fragen umgesetzt. Damit entsprechen sie – ohne dass dies in der Spielregel erläutert worden wäre, aber weil die Bezeichnung es offenbar impliziert – sowohl strukturell als auch thematisch dem Typus jener Fragen, die die Gattung der Partimen begründen. Die intertextuelle Relation zwischen der Questioni d’amore-Episode und den minnekasuistischen Streitgedichten kann also wie folgt beschrieben werden: Die Partimen und jeux partis zeichnen sich durch einen spezifischen Typus von Fragen aus. Dieser ist strukturell als alternative bzw. dilemmatische Frage realisiert. Inhaltlich sind die Fragen auf Minnetheorie im weiteren Sinne festgelegt. Die literarische Überlieferung der Partimen und jeux partis liefert zugleich einen Fundus von Beispielen für diesen spezifischen Fragetypus. Diese werden – vorwiegend in der romanischen Literatur – breit rezipiert, und zwar über die Grenzen von Gattungen und einzelnen Volkssprachen hinweg: Dilemmatische Minnefragen gehen in den lateinischen Prosatraktat des Andreas Capellanus ein,231 sie werden als Prosafragen ohne jeden Gattungszusammenhang kompiliert und sie finden Eingang in andere lyrische Gattungen wie das italienische Sonett oder den contrasto. Sie begründen damit das generisch heterogene Feld der literarischen Minnekasuistik.232 In einer solchen minnekasuistischen Traditionslinie steht auch die Questioni d’amoreEpisode des Filocolo: Adaptiert wird ein spezifischer Fragetypus (und 229 230
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Vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 763 (Anm. IV,22,4). Ebd., S. 787 (Anm. IV,54,11); Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 52–54; Schlumbohm, Jocus und Amor, S. 135–139. Die in den iudicia amoris verhandelten Fragen sind allerdings nur zum Teil dilemmatisch, vgl. z. B. Andreas Capellanus, De Amore, S. 468–472 (XXI. Kasus). Vgl. Peters, Cour d’amour, S. 118f.
159 nicht – wie Surdich behauptet – dessen Verhandlung), wobei der jeweilige Gegenstand der Fragen im Vergleich mit den Mustertexten variiert wird.233 Die Überlegungen zum Typus der Fragen in der Questioni d’amoreEpisode und deren intertextuellem Kontext lassen eine wichtige Beobachtung unberücksichtigt: Nur einige Fragesteller formulieren – wie Menedon in Q IV – tatsächlich eine dilemmatische, den Kasus enthaltende Frage: Dubitasi ora quale di costoro fosse maggiore liberalità, o quella del cavaliere che concedette alla donna l’andare a Tarolfo, o quella die Tarolfo, il quale quella donna cui egli avea sempre disiata, e per cui egli avea tanto fatto per venire a quel punto che venuto era, quando la donna venne a lui, se gli fosse piaciuto, rimandò la sopradetta donna intatta al suo marito; o quella di Tebano, il quale, abandonate le sue contrade, oramai vecchio, e venuto quivi per guadagnare i promessi doni, e affannatosi per recare a fine ciò che promesso avea, avendoli guadagnati, ogni cosa rimise, rimanendosi povero come prima –. (IV,31,54–55)234
Auch die Fragen Q VI,235 Q VIII,236 Q XI237 und Q XIII238 formulieren das Dilemma explizit. Die übrigen von den Figuren explizit im Text gestellten Fragen weisen jedoch keine entsprechende dilemmatische Struktur auf. So lautet die von Florio/Filocolo an die Königin gerichtete Frage (Q I) beispielsweise: »Ora, dico io, grandissima reina, se a voi fosse l’ultima sentenza in tale questione domandata, che giudechereste voi?« (IV,19,10).239 Mit der Formulierung in tale questione bezieht er sich zurück auf die zuvor gegebene narrative Exposition seiner Frage, die mit der Begrifflichkeit der klassischen Rhetorik als narratio bezeichnet wer233
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Anschauliche Beispiele für diesen Rezeptionsprozess bei Schlumbohm, Jocus und Amor, S. 97–229. »My question, then, is which of these showed the greatest generosity: the knight, who allowed his wife to go to Tarolfo; or Tarolfo, who sent back untouched to her husband the lady whom he had always wanted, and for whom he had done so much to reach that point he had reached; or Tebano, who left his home at an advanced age and came here to earn the promised reward, and labored to bring to completion what he had promised, and having earned it remitted everything and remained as poor as he was before.« (261–262) »[…] per la qual cosa io priego voi, da cui veramentecredo la vera diffinizioneavere, che mi diciate quale di queste due dee essere più dal giovane amata –.« (IV,39,7) »E questo seguendo, voglio da voi sapere quale di due donne deggia più tosto da un giovane essere amata, piacendo igualmente a lui amendune, o quella di loro che è di nobile sangue, e di parenti possente, e copiosa d’avere molto più che il giovane, o l’altra la quale né è nobile né ricca né di parenti abondevole quanto il giovane –.« (IV,47,3) »[…] qual sia maggiore diletto all’amante, o vedere presenzialmente la sua donna, o, non vedendola, di lei amorosamente pensare –.« (IV,59,2) »Per che si dubita qual fosse maggiore, o la lealtà del cavaliere o l’allegrezza del marito, che la donna e’l figliuolo, i quali perduti riputava sì come morti, si trovò racquistati, priegovi che quello che di ciò giudicherete ne diciate –.« (IV,67,23) »Now I ask you, great queen, if the final determination of such a question were asked of you, what would you decide?« (247)
160 den kann.240 Wenn die von Florio präsentierte Frage als zweiteilige vergleichende Frage klassifiziert wurde, dann bezieht sich diese Systematisierung also nicht auf die von ihm explizit gestellte Frage, sondern vielmehr auf das in seiner narratio skizzierte Dilemma: Florio berichtet von einem Fest, auf dem er einst zwei junge Herren beobachtete, die dasselbe Mädchen lieben und darüber in Streit geraten, wer von beiden seinerseits von ihr geliebt werde. Sie wenden sich an die Mutter des Mädchens, die ihre Tochter zu einer Entscheidung »con segno o con parola« (IV,19,5) auffordert. Das Mädchen überreicht dem einen Herrn ihr eigenes Haarkränzchen und nimmt dem zweiten das seine vom Kopf und setzt es sich selbst auf. Die Herren reklamieren nun jeweils, das ihnen gewährte Zeichen (Gabe von der Dame vs. Gabe an die Dame) sei verbindlicher Ausdruck ihrer Liebe, ohne sich einigen zu können.241 Die quaestio, auf die Florio in seiner abschließenden Frage an Fiammetta rekurriert, ist in seiner narratio gleich zweifach präsent: zum einen in der Frage, die den Aufhänger zu der ersten Debatte der beiden Herren bildet, wen von beiden die Dame mehr liebe,242 zum anderen in jener, die durch den vermeintlichen Entscheid des Mädchens ausgelöst wird, welches ihrer Zeichen also als der stärkere Liebesbeweis zu werten sei.243 Während Florios abschließende eigene Frage auf diese quaestio nur verweist, wird sie von Fiammetta zu Beginn ihrer ersten Antwort noch einmal explizit formuliert: »E però venendo alla nostra quistione, la quale è a quale de’ due sia più amore stato mostrato, […]« (IV,20,3).244 Auch die Formulierungen der Fragen Q II, Q III, Q V, Q VI, Q X und Q XII weisen keine vollständige, dilemmatische Struktur auf, weil sie sich auf die zuvor narrativ exponierten Kasus zurück beziehen.245 240
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Die narratio ist derjenige Teil der Rede, in der der Sachverhalt, über den es zu handeln gilt, parteilich dargelegt wird. Insbesondere in Reden des genus iudiciale, das mit der Verhandlung von casus hier ja aufgerufenist, ist die narratio als notwendige Ergänzung der Fragen zu werten, vgl. Gert Ueding / Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 4., aktual. Aufl. Stuttgart / Weimar 2005, S. 262–264. Vgl. IV,19,1–9. »[…] elli incominciarono fra loro a ragionare di lei: e fra l’altre parole che io del loro ragionamento intesi, si fu che ciascuno diceva sé essere più amato da lei, e in ciò ciascuno diversi atti dalla giovane per adietro fatti allegava in aiuto di sé.« (IV,19,3) »I giovani rimasi così, nel primo quistionare ritornarono, ciascuno dicendo che più da lei era amato.« (IV,19,7) »And so coming to our question, namely to which of the two greater love was shown« (247). Die Rückverweise auf die narratio werden jeweils durch Kursivierung hervorgehoben: Q II: »[…] dicendomi quale maggiore doglia vi pare che sostenga –.« (IV,23,16); Q III: »Consigliatemi, adunque, a quale io più tosto, per meno biasimo e per più sicurtà, io mi deggia di costoro donare –.« (IV,27,6); Q V: »Priegovi ne diciate quello che di questo voi terreste –.« (IV,35,20); Q VI: »per la qual cosa io priego voi, da cui veramente credo la vera diffinizione avere, che mi diciate quale di
161 Solche narrationes, hier zu definieren als neutrale Darlegungen eines Sachverhalts,246 der die Voraussetzung für die Präsentation der questioni d’amore bietet, sind insgesamt neun der dreizehn Fragen vorgeschaltet.247 An folgenden Beispielen lassen sich die Charakteristika der narrationes verdeutlichen: Q III (Cara) narratio: [Cara erzählt, dass sie wegen ihrer großen Schönheit viele Verehrer habe. Drei habe sie ausgewählt: den körperlich Starken, den Höfischen und Freigebigen und den Weisen. Nun könne sie sich für keinen endgültig entscheiden, denn alle drei Eigenschaften hätten schon in der alten Zeit (»nell’antica«, IV,27,6) die Herzen von Männern und Frauen erobert.] quaestio: »Consigliatemi, adunque, a quale io più tosto, per meno biasimo e per più sicurtà, io mi deggia di costoro donare –.« (IV,27,6)248 Q VI (anonyme Dame) narratio: [Die Fragestellerin erzählt eine Szene aus ihrer Kindheit. In ihrer Anwesenheit wird ihr Bruder mit zwei jungen Damen konfrontiert, die ihn lieben und erkunden wollen, welche von beiden er seinerseits liebt. Während die eine ihn stürmisch mit Küssen und Umarmungen bedrängt, bleibt die andere in gewisser Entfernung stehen und wendet sich beschämt ab. Über seine Meinung befragt, weiß der Bruder weder, welche der Damen die größere Liebe für ihn hegt (»qual più l’amasse«), noch welche er seinerseits lieben sollte (»né qual più egli dovesse amare«, IV,39,6).] quaestio: »per la qual cosa io priego voi, da cui veramente credo la vera diffinizione avere, che mi diciate quale di queste due dee essere più dal giovane amata –.« (IV,39,7)249 Q X (Ascalion) narratio: [Ascalion berichtet von einem Fall aus seiner Heimatstadt. Eine verwitwete und zugleich sehr umschwärmte Dame ist zum Feuertod verurteilt, außer es findet sich ein Ritter, der ihre Unschuld beteuert und für sie in einen Zweikampf eintritt. In diesem Fall soll der Sieg des einen oder des anderen Ritters über ihr Leben entscheiden. Einer der Verehrer der Dame stellt sich augenblicklich für den Kampf zur Verfügung. Ein zweiter Verehrer fühlt sich zunächst ausgestochen, entschließt sich dann aber, sich dem ersten im Kampf zu stellen und von ihm besiegen
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queste due dee essere più dal giovane amata –.« (IV,39,7); Q X: »Rimase adunque la donna, costoro partiti, in dubbio a cui il suo amore donare dovesse, o al primo o al secondo, e di ciò dimanda consiglio: a quale direste voi ch’ella il dovesse più tosto donare?« (IV,55,10); Q XII: »Di quale il consigliereste voi per più sua consolazione che egli dovesse avanti pigliare.« (IV,63,9). Damit ist eine wichtige Differenz zu den Vorgaben der klassischen Rhetorik markiert, die die narratio als parteiliche Darlegung des Sachverhalts vorsieht, vgl. Ueding / Steinbrink,Grundrißder Rhetorik, S. 262. Für die narratio zu minnekasuistischen Fragen verbietetsich Parteilichkeithingegen schon auf Grund jener Struktur, die dem Dilemma inhärent ist: Dieses muss so formuliert sein, dass die vorgelegten Alternativen gleichermaßen verteidigt werden können, schließlich weiß der Fragesteller nicht, welche Seite er zu verteidigen hat. Eine narratio weisen auf: Q I, Q II, Q III, Q IV, Q V, Q VI, Q X, Q XII, Q XIII. »Advise me, then, as to which of these I ought soonest to give myself, to have least blame and most security.« (253) »For this reason I beg you, since I truly believe I can have the correct solution from you, tell me which of these two ought to be more loved by the young man.« (271)
162 zu lassen. Nachdem auf diese Weise das Leben der Dame gerettet wird, fordern beide Ritter die Liebe der Dame als Belohnung für ihre Tat.] quaestio: »Rimase adunque la donna, costoro partiti, in dubbio a cui il suo amore donare dovesse, o al primo o al secondo, e di ciò dimanda consiglio: a quale direste voi ch’ella il dovesse più tosto donare?« (IV,55,10).250
Die Erzähler der narrationes bemühen sich generell um einen persönlichen Bezug zu ihrem Fall. Vielfach handelt es sich um homodiegetische Erzähler, so wenn der Fragesteller von einer Begebenheit berichtet, die ihm selbst, Freunden oder Verwandten widerfahren ist, die er selbst gesehen, gehört oder erlebt hat. Die Nähe zum Geschehen kann dabei unterschiedlich weit ausfallen. In den Questioni II, III und V berichten die Fragesteller von einem Konflikt, in den sie selbst involviert waren oder sind. Dagegen berichten die anonyme Fragestellerin in Q VI sowie Florio in Q I von einem Konflikt, den sie lediglich als räumlich Anwesende mitverfolgten, in den sie aber nicht selbst involviert gewesen seien. Die übrigen narrationes weisen heterodiegetische Erzähler auf: Während der von Parmenione (Q XII) vorgetragene Konflikt aus seinem unmittelbaren persönlichen Umfeld stammt,251 weisen die Fälle Ascalions (Q X) und Messaallinos (Q XIII), indem sie ihnen aus ihren jeweiligen Heimatstädten bekannt sind, eine noch größere Distanz zwischen Erzählerfigur und berichtetem Geschehen auf. Menedon (Q IV) verortet seinen Fall noch unbestimmter in dem Land, in dem er geboren wurde (»[n]ella terra là dov’io nacqui«, IV,31,2).252 Mit der Distanz zwischen Erzähler und berichtetem Geschehen präfigurieren diese narrationes die Art und Weise, in der auch die Novellen des Decameron an ihre Erzähler gebunden sind: Deren Erzähler kennen den Fall vom Hörensagen, er liegt zeitlich unbestimmt in der Vergangenheit, und die Anbindung an die eigene Person ist nur eine lose räumliche.253 250
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»Therefore the lady remained uncertain, when they had left, which of them she owed her love, to the first or the second, and she asks advice on this: to which would you say that she ought to give it, in preference?« (287) »[…] io fui lungamente compagno d’un giovane, al quale ciò che io intendo di narrarvi avvenne.« (IV,63,1) Während die Distanz zwischenErzählerfigur und narratio eine Analogie zum Decameron bildet, markiert die Vagheit vor allem in Bezug auf die lokale Verortung eine entscheidende Differenz, vgl. hierzu Klaus Grubmüller: Boccaccios Florenz. In: Werner Frick (Hrsg.): Orte der Literatur. Göttingen 2002, S. 68–82, der den Erzählern der Decameron-Novellen eine »geradezumanische[ ] Realitätsbesessenheit« bescheinigt (ebd., S. 71), die den narrationes der Questioni d’amore-Episode ganz fehlt. Zur »markanten Dissoziation« von Erzähler und Geschichte als Spezifikum novellistischen Erzählens (nicht nur im Decameron) vgl. Winfried Wehle: Novellenerzählen. Französische Renaissancenovellistik als Diskurs. München 1981, S. 97– 100, hier S. 98.
163 Die Unterscheidung von narratio und questione als strukturell aufeinander bezogene, dennoch separate sprachliche Äußerungen ist nicht allein einem analytischen Zugriff geschuldet, sondern spiegelt sich auch in der Wahrnehmung der Figuren wider. So leitet Fiammetta ihre Antwort auf die Präsentation der questione des Menedon (Q IV) mit den Worten ein: »Bellissima è la novella e la dimanda« (IV,32,1);254 ein Erzählerkommentar zu Beginn ihrer Antwort auf die zwölfte Frage lautet: »Alquanto sorrise la reina di questa novella« (IV,64,1),255 und Messaallino spricht zu Beginn seiner Präsentation von »le belle novelle dette e le questioni proposte avanti« (IV,67,1).256 Dabei fällt auf, dass die narrationes jeweils als novelle bezeichnet werden.257 Kommentare der Figuren, die auf Eigenschaft und Funktion der narratio zielen, dokumentieren zudem ein Bewusstsein für deren Eigenständigkeit. Dass brevitas gemäß den Vorgaben der klassischen Rhetorik zu den virtutes der narratio gehört,258 greift bspw. Clonico auf, wenn er seine Fallexposition als brievemente ankündigt: Grandissima reina, tanto è stata bella e lunga la novella di questo nobile giovane, che io, acciò che gli altri nel brieve tempo possano ad agio dire, quanto potrò, il mio intendimento brievemente vi narrerò […] (IV,35,1).259
Er begründet die Kürze seiner narratio freilich nicht mit der rhetorischen Vorschrift, sondern mit der begrenzten Zeit, die der geselligen Runde zur Verfügung stehe. Seine Selbstverpflichtung auf eine kurze narratio dokumentiert vor allem Rücksichtnahme auf die übrigen Fragesteller, die auch zu Wort kommen sollen können, und ist insofern bereits Ergebnis jener durch die gesellige Ordnung intendierten kommunikativen Disziplinierung, die der Gruppe zuvor fehlte.260 Die von Clonico als bella e lunga bezeichnete narratio des Menedon (Q IV) wird auch von diesem selbst als ausgedehnt bezeichnet: E da ora, se io troppo nel mio parlare mi stendessi, a voi e appresso agli altri circunstanti dimando perdono, però che quello ch’io intendo di proporre interamente dare non si potrebbe a intendere, se a quello una novella, che non fia forse brieve, non precedesse –. (IV,31,1)261
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»The story and the question are most charming« (262). »The queen smiled for a while at this story […]« (292). » […] the lovely tales that have been told and the questions raised earlier« (294). Hierauf wird am Schluss dieses Teilkapitels eingegangen. Vgl. Ueding / Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, S. 262. »Supreme queen, the tale of this noble youth was so lovely and lengthy that I shall tell the one I have in mind as briefly as I can, so that the others can conveniently speak in the brief time at hand.« (266) Vgl. das wechselseitige trarompere (IV,17,4) der Figuren, das die Kommunikation auszeichnet, bevor Fiammetta die Spielregel vorschlägt, hierzu Kapitel 4.2.3. »And if I now extend myself too long in my speech, I beg pardon of you and of the others surrounding me here, since what I wish to ask cannot be made wholly
164 Grund für die Vorschaltung einer novella, che non fia forse brieve ist, dass die Frage, die Menedon vorlegen möchte, ohne diese nicht verständlich wäre (non si potrebbe a intendere). Der novella kommt demnach die Funktion zu, einen Verstehenshorizont zu umreißen, vor dem die gestellte Frage allererst Sinn macht. Sinnstiftend kann eine Geschichte aber nur sein, wenn sie vollständig ist, also Anfang, Mitte und Ende aufweist und axiologisch basiert ist, das heißt, ein zu Beginn gegebenes axiologisches Ungleichgewicht im Verlauf der Erzählung ausgleicht.262 Damit aber ist eine entscheidende Differenz zur pragmatisch eingebundenen narratio der rhetorischen Tradition beschrieben: Während die narratio durch eine offene Struktur gekennzeichnet ist, die in quaestio und argumentatio ihren Ausdruck und erst im Urteil ihren formalen und axiologischen Abschluss findet, besitzt die novella eine selbständige, formal und axiologisch geschlossene Struktur, die aus sich heraus Sinn zu generieren im Stande ist. Entsprechend lässt sich die Forderung nach brevitas für diese novella zurückstellen, denn eine Erzählung darf im Unterschied zur narratio im Kontext einer Rede auch ausführlich sein.263 Lediglich drei Fragesteller präsentieren ihre questione ohne narratio: Pola (Q VIII), Ferramonte (Q IX) und Graziosa (Q XI). In allen drei Fällen kann gezeigt werden, dass der Verzicht auf eine narratio spezifisch – wenn auch unterschiedlich – begründet ist. Alle drei Fragesteller gehören in die zweite Hälfte der Fragerunde, die bei Caleon (Nr. 7) beginnt und bei Fiammetta (Nr. 0 oder 14) endet. Da der Verzicht der Fragesteller auf eine narratio zu ihrem casus ursächlich mit Caleons Frage zusammenhängt, ist hier kurz auf diese einzugehen. Als derjenige, der Fiammetta direkt gegenüber sitzt, hat Caleon eine herausgehobene Position in der Sitzordnung der Runde inne. Als die Reihe an ihn kommt, eine Frage zu
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intelligible unless it is preceded by a story which perhaps cannot be shortened.« (254). Vgl. zur Axiologie der Geschichte grundlegend Algirdas Julien Greimas: A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value. In: A. J G.: On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Translation by Paul J. Perron and Frank H. Collins. Foreword by Fredric Jameson. Introduction by Paul J. Perron. Minneapolis 1987 (= Theory and History of Literature, 38), S. 84–105. An Greimas anknüpfende und zugleich präzisierende Ausführungen zum Zusammenhang von Wert und Handlung sowie Axiologie und Perspektive bei Hartmut Bleumer: Die narrative Interferenz. Schritte einer historischen Narrativistik im literarischen Feld um Dietrich von Bern. Habil. masch. Hamburg 2002, S. 146–159. Für hilfreiche Hinweise und die Möglichkeit, in seine Arbeit Einblick zu nehmen, danke ich Hartmut Bleumer herzlich. Dass mit Q IV (sowie Q XIII) selbständige Erzählungen vorliegen, zeigt sich nicht nur an der Übernahme beider Novellen in das Decameron, sondern auch am jeweiligen Verhältnis von novella und questione: Zwar macht die novella die questione erst verständlich, aber sie läuft doch keineswegs notwendig auf diese zu. Die formulierte Frage reduziert die Erzählung vielmehr nachträglich auf einen Fall, um den es dieser im Kern gar nicht geht.
165 stellen, erweist sich seine Ausnahmestellung erneut. Es ist nicht nur so, dass er als Einziger in der Runde keine dilemmatische Frage stellt, sondern er spricht zunächst überhaupt nicht. Vielmehr versenkt er sich so in die Betrachtung der sonnenbeschienenen Fiammetta, dass er alles um sich herum vergisst: »Questa mirabile cosa [das Spiel der Sonnenstrahlen in Fiammettas Haar, C. E.], forse più tosto o meglio avvedutosene che alcuno degli altri, mirava Caleon intentivamente quasi come d’altro non gli calesse […]« (IV,43,4).264 Fiammetta spricht ihn darauf an, was ihn davon abhalte, der Spielregel – wie die Anderen vor ihm – zu folgen: dinne, qual è la cagione che così sospeso ti tiene, che, seguendo l’ordine degli altri, non parli, solamente, come noi crediamo, mirando la nostra testa, come se da te mai vista non fosse avanti? (IV,43, 5)265
Mit einer artifiziellen, stilnovistischen descriptio der Schönheit Fiammettas, die er mit einem Madrigal beschließt, erläutert Caleon die Ursache für seine Kontemplation und offenbart damit nicht nur seine Bewunderung, sondern auch seine Liebe für Fiammetta. Die wiederum schweigt zu diesem offenkundigen Einbruch persönlicher Disposition in die konsensual geregelte Welt des Spiels, so dass Caleon letztlich doch eine Frage vorlegt. Doch auch diese, gerade weil sie sich nicht der vereinbarten Gattung der (dilemmatischen) questioni d’amore einordnet, verrät seine Okkupation von der eigenen Verliebtheit: »Graziosa reina, io disidero di sapere se a ciascuno uomo, a bene essere di se medesimo, si dee innamorare o no.« (IV,43,16)266 Auf die hiermit entstandene Aporie, dass die Frage grundsätzlich zur Disposition stellt, was als Inhalt des Spiels (amore) definiert wurde, reagiert Fiammetta in viererlei Weise: Parlare ci conviene contra quello che noi con disiderio seguiamo. E certo a te dovria bene essere manifesto ciò che tu in dubbio domandando proponi. Serverassi, rispondendo a te, lo ’ncominciato ordine, e colui a cui suggetta siamo, le parole, le quali, costretta dalla forza del giuoco, diciamo contra la sua deità, più tosto che volontarie, le ci perdoni: né però la sua indegnazione caggia sopra di noi. E voi, che similmente come noi suggetti gli siete, con forte animo l’ascoltate, non mutandovi per quelle dal vostro proponimento. (IV,44,1–3)267 264
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»At this remarkable sight, which perhaps struck him sooner or more powerfully than it did any of the others, Caleon gazed fixedly, as if nothing else mattered to him.« (274) »[…] tell us what is the reason why you are keeping yourself suspended in this way, so that you do not speak following the order of the others, and are only (as we believe) admiring our head, as if it had never been seen by you before?« (274) »Gracious queen, I desire to know if every man, for his own well-being, ought to fall in love or not.« (275) »It is necessary for us to speak against that which we follow with desire. And surely what you present as in doubt in your question must be quite obvious to you. In responding to you, the same rules will be followed as we have begun; and may he to whom we are subject forgive us the words which we are constrained by the law of the game to speak against his deity, not at all voluntarily. And may his indignation
166 Erstens zieht sie den Status der vorgelegten Frage in Zweifel: Der Redegegenstand sei nicht, wie es die Gattung der questioni d’amore fordere, zweifelhaft (dubium ), sondern vielmehr sicher (certum ). Damit ist die Frage gemäß den Regeln des Spiels eigentlich disqualifiziert. Es wird noch zu zeigen sein, wie Fiammetta in ihrer Antwort diesem Regelbruch begegnet, indem sie die Frage in eine regelkonforme dilemmatische transformiert. Zweitens bittet sie den Liebesgott Amor um Vergebung dafür, dass sie gegen ihn sprechen müsse, sie tue das nicht aus freien Stücken (più tosto che volontarie), sondern weil die Macht des Spiels (forza del giuoco) sie dazu zwinge (costretta). Damit bekräftigt sie drittens die durch die Spielregel gesetzte Ordnung als weiterhin gültig und verbindlich (serverassi lo ’ncominciato ordine).268 Viertens richtet sie die Aufforderung an Caleon, er möge seinen persönlichen Vorsatz (vostro proponimento) durch ihre Antwort nicht abändern, sondern sie mit starkem Herzen (con forte animo) anhören. Fiammetta macht damit deutlich, dass ihre Antwort allein der Logik der Spielregeln entspricht und somit weder eine persönliche Antwort auf die persönliche Frage Caleons sein wird noch eine Aussage, die außerhalb des Spiels Gültigkeit beansprucht. Entsprechend behandelt sie die Frage so wie schon die übrigen zuvor: als einen im Kontext des Spiels zu entscheidenden Kasus. Dazu transformiert sie zunächst die regelwidrige Entscheidungsfrage Caleons in eine regelgerechte dilemmatische. Sie definiert drei Arten der Liebe: den »amore onesto«, die Liebe zwischen Gott und den Menschen, den »amore per diletto«, die erotische Liebe, der sie Caleons Frage zuordnet, und den »amore per utilità«, die berechnende Liebe (IV,44,4–7).269 Damit ergibt sich, ohne dass es noch einmal explizit formuliert würde, die folgende dreiteilige dilemmatische Frage: ›Welche der drei Arten der Liebe ist zu wählen: a, b oder c?‹ Diese Frage beantwortet Fiammetta, indem sie die beiden letzten Varianten verwirft. Damit trifft sie zum einen eine implizite Entscheidung für den amore onesto und hat zugleich – ein geschickter rhetorischer Schachzug – Caleons ursprüngliche Frage verneint. Fiammettas abschlägiger Bescheid gegen den amore per diletto hat nicht nur die Forschung nachhaltig beschäftigt,270 sondern sorgt auch
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not fall upon us in consequence. And you, who are subject to him as we are, listen to this with a strong spirit and do not abandon your commitment as a result.« (275) Meine Lesart wird gestützt durch Quaglios Glossierung von serverassi als si manterrà (zu mantenere – aufrechterhalten), vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 780 (Anm. IV,44,2). Zu der Traditiondieser Einteilungin der scholastischenPhilosophievgl. Boccaccio, Filocolo, S. 780 (Anm. IV,44,5). Die Entscheidung Fiammettas gegen die erotische Paarliebe (zudem an zentraler Stelle in den Questioni d’amore) ist insbesondere von der amerikanischen Filocolo-Forschung als programmatische Aussage des Erzählers aufgefasst worden. Von hier aus wurde die Vorstellung entwickelt, Boccaccio exponiere eine janus-
167 auf der Ebene der Figuren für Widerspruch. In diesem Kontext sind jene Fragen zu sehen, die ohne narratio präsentiert werden. Pola, deren Frage (Q VIII) auf die von Caleon folgt, ist die erste, die auf eine narratio zu ihrer questione verzichtet. Anstelle einer narratio liefert sie dafür einen Kommentar zu der vorausgegangenen Debatte um den amore per diletto, der zugleich die Legitimationsbasis für ihre eigene questione schafft: O nobile reina, voi avete al presente determinato che alcuna persona questo nostro amore seguire non dee, e io ’l consento; ma impossibile mi pare che la giovane etá degli uomini e delle donne, sanza questo amore sentire, trapassare possa. Però al presente lasciando con vostro piacere la vostra sentenza, terrò che licito sia l’innamorarsi, prendendo il mal fare per debito adoperare. (IV,47,1–2)271
Die von Pola vorgelegte Frage, ob die Ranghöhere (reiche Adlige) oder die Rangniedere (arme Nicht-Adlige) zu bevorzugen sei, ist nur dann sinnvoll, wenn zuvor das Urteil der Königin ausgesetzt (lasciando la vostra sentenza) und stattdessen sein Gegenteil (che licito sia l’innamorarsi ) gesetzt wird. Aus dieser theoretischen Präsupposition wird die Frage abgeleitet: ›Wenn es erlaubt ist, sich zu verlieben, wen von beiden soll man dann lieben: a oder b?‹ Die gleiche Konstellation lässt sich für die Präsentation der questione des Ferramonte (Q IX) beobachten, der seine questione wiederum als Fortsetzung des von Caleon und Pola begonnenen theoretischen Diskurses ansetzt: Consentendo a questa donna che amare si convenga, risposto le avete alla sua quistione che più tosto nobile donna, più di sé che meno, si dee amare. […] Ma con ciò sia cosa che ancora delle gentili donne siano alcune diverse maniere, cioè in diversi abiti dimoranti, le quali, per quello che si crede, diversamente amano, qual più qual meno, qual più fervente qual più tiepidamente, disidero di sapere da voi […] (IV,51,1–2).272
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köpfige Liebeskonzeption (explizit bspw. im Titel der Monographie von Hollander: Boccaccio’stwo venuses).Silke Schünemann,Florio und Bianceffora,S. 35–41, v. a. S. 37–39, hat plausibel dargelegt, dass diese Einschätzung nicht nur die Position Fiammettas zu einseitig heraushebt, sondern vor allem die Funktionsweiseder Questioni d’amore als Spiel fundamental verkennt,auf die Fiammetta ja selbst deutlich rekurriert. »O noble queen, you have determined just now that nobody ought to pursue this love of ours, and I agree; but it seems impossible to me that men and women should pass through their youthful years without experiencing this love. So setting aside for now your judgment, if you please, I shall hold that it is permissible to fall in love, and consider this reprehensible behavior as if it were proper conduct.« (280) »Agreeing with this lady that it is necessaryto love, you have replied to her question that it is better to love a noble lady, one more great than oneself rather than less great. [Die letzte Ergänzung verfehlt den Sinn der italienischen Parenthese più di sé che meno, denn nicht um unbestimmte greatness geht es hier, sondern um den sozialen Rang in jeweiliger Relation zum Fragesteller: più und meno beziehen sich auf das vorausgehende nobile. C. E.] […] But since even with noble ladies there are differences of manner, namely different habits which they affect, and it is thought, they love in differentways, some more and some less, some more fervently and some more tepidly, I wish to know from you […]« (282).
168 Ferramonte übernimmt Polas Setzung, dass die erotische Liebe sich zieme (che amare si convenga), und diejenige Fiammettas, dass es besser sei, eine ranghöhere adlige Dame zu wählen. Hiervon ausgehend zielt seine questione nun auf Differenzierungen im Feld der Liebe zu adligen Damen. Auch Ferramontes Frage ist somit eine theoretische, aus Präsuppositionen abgeleitete Frage: ›Wenn es erlaubt ist, sich zu verlieben, und man eine ranghöhere (adlige) Dame lieben soll, welche der drei folgenden soll man dann wählen: a, b oder c?‹ In beiden Fällen handelt es sich somit um theoretische Kasus, die hier aus einem dialektischen Zusammenhang gewonnen werden. Auf diese Weise ergibt sich auch inhaltlich – und zwar deutlicher als bei den übrigen Fragen – ein enger Bezug zu den Prätexten der Minnekasuistik.273 Der Grund, warum die Fragen Q VIII und Q IX nicht anhand einer narratio vorgelegt werden, lässt sich mit dieser theoretischen, am Muster der akademischen quaestio orientierten Qualität der Fragen erklären. Während die Kasus des genus iudiciale die narratio als Darlegung ihrer jeweiligen situativen Spezifik unabdingbar benötigen, ist sie bei den theoretischen quaestiones des wissenschaftlichen Diskurses verzichtbar. Auch Graziosa (Q XI) präsentiert ihre questione ohne narratio, liefert dafür jedoch einen expliziten Grund: A me, o bella reina, viene il proporre la mia questione, la quale, acciò che il tempo che oramai alla lasciata festa s’apresta, e fassi dolce a ricominciarla, non si metta solo in sermone, assai brievemente porrò (IV,59,1).274
Der Verzicht auf die narratio aus Gründen der Zeitersparnis fordert auch hier notwendigerweise einen theoretischen Kasus: »[…] qual sia maggiore diletto all’amante, o vedere presenzialmente la sua donna, o, non vedendola, di lei amorosamente pensare –.« (IV,59,2)275 Für die Präsentation der questioni im Filocolo kann die zweiteilige, narratio und questione umfassende Struktur somit als Regelfall gelten. Neun der Fragesteller präsentieren ihre questione vor dem Hintergrund einer narratio; in den drei Fällen, in denen auf sie verzichtet wird, lässt sich entweder ein spezifischer Grund (Q XI) oder eine besondere Situation (theoretischer Zusammenhang der Fragen Q VII, Q VIII, Q IX) dafür ausmachen. 273
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Vgl. für Q VIII: Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 52; sowie Boccaccio, Filocolo, S. 785 (Anm. IV,50,13); und für Q IX: Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 52–54; und Boccaccio, Filocolo, S. 787 (Anm. IV,54,11). »To me, lovely queen, the turn has come for asking my question; and since the time for the feast we broke off is rapidly approaching, and the weather is beginning to be comfortable again, I shall pose it very briefly and not insist on presenting it by means of a speech.« (288f.) »[…] what is the greater pleasure to the lover, seeing his lady in person, or not seeing her but thinking lovingly of her?« (289)
169 Die Kombination von narratio und questione ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: 1) Sie wird von den Figuren praktiziert, obwohl sie nicht von der Spielregel vorgegeben ist. 2) In ihr manifestiert sich eine deutliche Differenz zu den minnekasuistischen Streitgedichten. Zum ersten Punkt: Die Spielregel enthält den Vorschlag, Liebesfragen vorzulegen und sie von einem König beantworten zu lassen. Aus der Bezeichnung questione d’amore ist für die Figuren offenbar ersichtlich, dass dilemmatische Fragen zum Thema Liebe vorzulegen sind, wie sie aus der Literatur – insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, aus der Lyrik – bekannt sein können. Darüber hinaus werden keine weiteren Informationen zum genauen Ablauf des Spiels gegeben. Wie also ist zu erklären, dass die Figuren der Questioni d’amore-Episode die Ergänzung der questione durch eine narratio als Regelfall ansehen und in den meisten Fällen praktizieren? Auf der Ebene des Textes ergibt sich hierauf nur eine mögliche Antwort: Danach setzt Florio als erster Fragesteller mit seinem Modus, die questione narrativ einzubetten, ein ›gattungsstiftendes‹ Muster, das die nach ihm aufgerufenen Fragesteller imitieren. Diese Lesart lässt sich stützen durch Fiammettas Aufforderung an Florio, das Fragespiel zu beginnen: »Giovane, cominciate a proporre, acciò che gli altri ordinatamente come noi qui seggiamo, più sicuramente dopo voi proponga.« (IV,19,1)276 Florios Frage wird exemplarische Funktion zugemessen: Sie soll ein orientierendes Muster liefern, anhand dessen die nachfolgenden Fragesteller ihre Frage umso sicherer (più sicuramente) stellen können. Das Muster, das Florio präsentiert, ist nun keine abstrakte Frage der Minnetheorie, sondern aktualisiert einen Streitfall zwischen zwei Männern, bei dem er selbst zugegen war. In der narrativen Aktualisierung ist die Entscheidungssituation bereits enthalten: Sie wird in Form der questione abschließend aus der narratio in die gesellige Spielsituation übertragen. Diese Verdoppelung der Entscheidungssituation trägt wiederum dazu bei, das Muster der Fallexposition einprägsam zu machen.277 Zwar könnte Florios Frage prinzipiell auch abstrakt formuliert werden (z. B.: ›Ist a oder b als Zeichen der Liebe aufzufassen?‹), aber das geschieht hier gerade nicht. Für die gesellige Kommunikation, wie sie in der Questioni d’amore-Episode skizziert wird, ist offenbar von Bedeutung, die Fragen als praktische Fälle narrativ zu kontextualisieren. Zum zweiten Punkt: Die Ausstattung der questioni mit narrationes dokumentiert eine deutliche Verschiebung gegenüber den minnekasuistischen Streitgedichten, die vorwiegend einen dilemmatisch formulier276
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»Young man, begin the questioning, so that the others in the order in which we are seated here may question the more confidently, each of them after you.« (245) Dass die Integration der Entscheidungssituation in die fallexponierende narratio ein Muster setzt, zeigt sich daran, dass auch die Fragen Q V, Q VI, Q X, Q XII dieses Merkmal aufweisen.
170 ten, theoretischen Kasus an den Anfang stellen.278 Auch die im zeitlichen Umfeld des Filocolo überlieferten literarischen Darstellungen des Fragespiels Le roi qui ne ment kennen das Moment narrativer Fallexpositionen nicht. Eine Ausnahme stellen die – schon in Bezug auf die Gerichtssituation wichtigen – iudicia amoris des Andreas Capellanus dar, deren Kasus zum Teil mit einer narratio ausgestattet sind.279 Die vor allem gegenüber den Streitgedichten zu beobachtende Veränderung weist eine Logik auf, die nicht nur Aussagen über Boccaccios spezifisches Verständnis und seine Adaptation mittelalterlicher Minnekasuistik zulässt, sondern darüber hinaus einen wichtigen Schritt in der Herausbildung einer neuen Konzeption von geselliger Kommunikation dokumentiert. Die in der Questioni d’amore-Episode vorgeführte situationsspezifische Kontextualisierung der theoretischen Minnekasus zeigt eine präzise Umsetzung von Vorgaben der klassischen Rhetorik: Die questioni werden als juristische casus aufgefasst und dem genus iudiciale entsprechend mit einer fallexponierenden narratio versehen. Damit schreibt der Erzähler das minnekasuistische Frage-Antwort-Spiel in einen neuen diskursiven Kontext ein: Realisiert werden die in der Spielregel vorgegebenen questioni d’amore nicht als theoretische quaestiones, wie sie der wissenschaftliche Diskurs der Scholastik präfiguriert, sondern als situativ kontextualisierte casus des juristischen Diskurses. Boccaccio aktualisiert also eine traditionell wissenschaftlich-theoretische Fragegattung als juristisch-praktische. Diese diskursive Verschiebung ist jedoch nicht gänzlich voraussetzungslos. Vielmehr lässt sie sich als konsequente Fortentwicklung der literarischen Konzeption des Minnehofs beschreiben, die eine oder mehrere Damen in der Funktion der Richterin vorsieht und das Muster der Partimen somit bereits wesentlich verändert und um ein dezidiert iudikatives Element ergänzt. Auch für die iudicia 278
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Allein die formale Konvention des Partimen, die die Vorlage der Frage durch den eröffnenden Trobador an den formalen Rahmen der ersten cobla bindet, begrenzt die Möglichkeiten einer ausführlichen Fallexposition. Das schließt allerdings nicht notwendigerweiseaus, dass der Frage zumindestrudimentäreElementeeiner narratio vorangestellt werden können. Ein Beispiel hierfür ist das Partimen N’Elias, a son amador (Pillet / Carstens, Nr. 194,17), vgl. Henry Carstens: Die Tenzonen aus dem Kreise der Trobadors Gui, Eble, Elias und Peire d’Uisel. Diss. Königsberg 1914, S. 51–55. In der Forschung gilt die unmittelbare Vorlage der Frage als der für das Partimen anzunehmende Normalfall, vgl. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 44–50. Eine quantitative Auswertung der Partimen zu dieser Frage liegt nicht vor. Bei Neumeister, der die Partimen insbesondere auch mit dem Begriffsinstrumentarium der klassischen Rhetorik untersucht hat, fehlen Hinweise auf die narratio, vgl. ebd., S. 70–81. Die Kasus I, II, XIII, XIV, XVI und XVII haben eine narratio, die Kasus III–VIII, XII, XV und XIX weisen zumindestwenige kontextualisierendeInformationenauf, die Kasus IX–XI, XVIII, XX, XXI bestehen nur aus einer einzelnen Frage und bleiben somit ohne narratio.
171 amoris lässt sich bereits die Auffassung der Minnekasus als juristische Fälle belegen.280 Ohne sich im Einzelnen die spezifischen Fallinhalte des Andreas zu eigen zu machen,281 führt Boccaccio diese Konzeption weiter, indem er die theoretischen Minnekasus der Partimenliteratur zu konkreten, juristischen casus macht.282 Die Vertrautheit mit den Strukturen juristischer Rede ist dabei nicht allein biographisch – über Boccaccios juristische Bildung – zu erklären, sie ist über seine Lektüre der senecaischen controversiae auch konkret nachzuweisen.283 Die diskursive Transformation theoretischer Fragen zu juristischen Fällen ermöglicht zugleich eine weitere, nicht minder wichtige Veränderung: Denn mit der narratio erweitert Boccaccio die questioni zugleich um einen Redebestandteil, der sich gegenüber der pragmatischen Kommunikationssituation zu verselbständigen vermag. Zwar erfüllen die narrationes in allen Fällen die rhetorische Funktion der Fallexposition, aber sie sind doch in einigen Fällen deutlich mehr als nur eine auf die Fakten des Geschehens reduzierte »[…] nützliche Darlegung eines tatsächlichen oder scheinbar tatsächlichen Vorgangs«.284 Das wird ansatzweise daran sichtbar, dass die Figuren die Fallexpositionen als novelle bezeichnen und diese separat würdigen. Es zeigt sich aber insbesondere an den ein-
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Schnell, Andreas Capellanus, S. 49–80, belegt für De Amore die Adaptation von Fällen aus der kanonistischen und römischen Eherechtsliteratur. Er geht allerdings nicht darauf ein, dass mit dieser inhaltlichen Adaptation auch strukturelle Konsequenzen für die Präsentation der Kasus verbunden sind. Entsprechend der für die iudicia amoris verwendeten Quellen gibt es nur begrenzte inhaltlicheÜberschneidungen zwischenden dort verhandelten Fragen und den Kasus der Partimenliteratur, vgl. Schnell, Andreas Capellanus, S. 68–74. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 91–101, ergänzt, dass die Kasus der iudicia nur in wenigen Fällen tatsächlich gleichwertige Alternativen präsentieren und sie daher anders als die Partimenfragen nur als eingeschränkt dilemmatisch zu bezeichnen sind. Insofern gibt es zwischen den iudicia amoris und den questioni d’amore des Filocolo nur in einem Fall einen inhaltlichen Bezug (Q VIII: Welche Dame sollte sich ein Mann wählen: die reiche Adlige oder die arme Nicht-Adlige? und der III. Kasus der iudicia: Soll der Reiche oder der Arme gewählt werden?), der auf Grund der unterschiedlichen Komplexität der Frage wiederum nur begrenzt trägt, vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 785 (Anm. IV,50,13). Damit ist auch eine plausible Erklärung für die thematischen Differenzenzwischen den questioni und den Partimen-Fragen gewonnen. Während in den Partimen abstrakte Fragen verhandelt werden, lässt Boccaccio mit den questioni konkrete Fälle vorlegen. Das erklärt, warum es notwendig wird, die Fragen inhaltlich anzupassen. Vgl. hierfür Paolo Cherchi: From controversia to novella.In: Michelangelo Picone / G. Di Stefano / P. D. Stewart (Hrsg.): La nouvelle. Formation, codification et rayonnement d’un genre médiéval. Montréal 1983 (= Biblioteca romanica), S. 89–99, hier S. 97; sowie G. Billanovich: Restauri boccacceschi. Rom 1947, S. 78. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. 2 Tle. Darmstadt 1972 und 1975 (= Texte zur Forschung, 2), hier Tl.1, Buch IV 2, 31: »narratio est rei factae aut ut factae utilis ad persuadendum expositio«.
172 leitenden Erzählungen zu Q IV und Q XIII,285 die zwar die abschließende Fragestellung ermöglichen, aber doch nicht notwendig auf diese zulaufen. In dieser dem geselligen Kontext geschuldeten Verselbständigung der narratio zur novella 286 liegt die entscheidende Differenz zu den iudicia amoris, in denen die narratio streng funktional auf den jeweiligen Kasus bezogen bleibt.287 Die konsequente Einbindung in das genus iudiciale, die sich für die questioni d’amore beobachten lässt, ist somit nicht nur eine diskursive Umkodierung, sondern hat wichtige Konsequenzen für das dargestellte Modell geselliger Kommunikation: Die fallexponierenden novelle erweitern die schematisch ablaufende Disputation um ein Element narrativer Produktion, dem von der geselligen Runde ein eigener Wert beigemessen wird. Damit wird zum einen die einfache Struktur des verabredeten Spiels, Fragen vorzulegen und sie beantworten zu lassen, komplexer. Zum anderen wird dem konstitutiven Element der schematischen Wiederholung ein Moment der Variation, der Inhomogenität und der Unruhe eingeschrieben.288 Postuliert werden könnte, dass die Integration abwechslungsstiftender narrationes in die Darstellung geselliger Kommunikation nach minnekasuistischem Muster als präventive Maßnahme gegen schematische Erstarrung aufzufassen ist.289 Dass die narrationes ein zentrales Strukturmerkmal der Questioni d’amore-Episode sind, ist in der Forschung zum Filocolo bisher kaum zur Kenntnis genommen worden.290 Zwar wird in den meisten Arbeiten 285
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In beiden Fällen greifen die novelle Motive auf, die eine eigenständige literarische Tradition haben. Vgl. zu Q IV Boccaccio, Filocolo, S. 774 (Anm. IV,34,22) und zu Q XIII ebd., S. 792f. (Anm. IV,70,2). Hier zu verstehen als nicht-terminologischer Ausdruck für »[r]acconto, narrazione, espozione«, vgl. Battaglia Bd. 11 (1981), S. 600–602, hier S. 601 (Nr. 6). Trotz dieser wichtigen Differenz stellt die juristische Inszenierung der Minnekasus und die entsprechende Ergänzung der Kasus um narrationes eine enge systematische Verbindung zwischen den iudicia amoris und den questioni d’amore dar, die beide Texte wiederum von den Streitgedichten und den Fragespielen abgrenzt. Dieser Befund präzisiert zum einen die bspw. von Branca vertretene Auffassung, die Beziehung zwischen beiden Texten sei so offensichtlich, dass es überflüssig sei, sie zu kommentieren, vgl. Vittore Branca: Boccaccio medievale e nuovi studi sul Decameron. Nuova edizione riveduta e corretta. Mailand 1998 (= Saggi Sansoni), S. 227f., und korrigiertzum anderendie gegenteiligeAnsicht Karneins,die questioni d’amore verrieten »nichts von einem möglichen Einfluß von ›De Amore‹«, da das Phänomen »zu allgemein« sei, vgl. Karnein, De Amore in volkssprachlicher Literatur, S. 145. Hiermit beziehe ich mich ganz prinzipiell auf Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von narrationes sowie auf die oben dargelegten Unterschiede, die die einzelnen narrationes kennzeichnen. Die Implementierung von narrationes wäre damit ein Tribut an die narrative Form der Questioni d’amore. Rajna hat sowohl die narrativen als auch die kasuistischen Bestandteile der Questioni d’amore-Episode gleichermaßen auf ihre Quellen hin untersucht, ohne einen
173 die Wiederaufnahme der Erzählungen zu Q IV und Q XIII im Decameron (X,5 und X,4) als zentraler Beleg für die Präfiguration des Decameron in der Questioni d’amore-Episode gewertet. Der generische Zusammenhang zwischen Kasus und Novelle, wie er sich in den Questioni d’amore beobachten lässt, ist dabei jedoch unbemerkt geblieben: So kommt sämtlichen Questioni -Novellen die Funktion zu, die Liebesfragen im Sinne der klassischen Rhetorik programmatisch zu kontextualisieren und allererst zu Fällen zu machen. Damit führt Boccaccio eine in den iudicia amoris angelegte Tendenz fort, die die Episode zugleich vom Muster der Partimen distanziert. Die konsequente Auffassung der Fragen als Fälle hat aber nicht nur die Ergänzung von formal und axiologisch offenen narrationes zur Folge, sondern lässt auch den umgekehrten Weg zu, nämlich die Inserierung von formal und axiologisch geschlossenen Erzählungen, aus denen sich nachträglich offene Fälle konstruieren lassen. Novella bezeichnet in der Questioni d’amore-Episode demnach in der Regel eine narrative Fallexposition, die Verhandlung und Urteil fordert, das Wort kann aber ebenso autonome Geschichten bezeichnen, die nicht mehr notwendig auf die pragmatische Einbindung angewiesen sind.291
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systematischen Unterschied festzumachen. Er betont zwar – anders als Surdich – die gerichtliche Struktur der Verhandlung, geht aber in diesem Zusammenhang nicht auf die Relation von novelle und questioni ein, vgl. Rajna, L’episodio delle questioni d’amore, S. 77. Surdich, La cornice di amore, S. 22, spricht davon, dass die questioni rhetorisch auf zwei Ebenen – einer narrativen und einer didaktisch explikativen – operierten, ohne jedoch aus dieser Beobachtung weitere Schlussfolgerungen zu ziehen: »Le questioni d’amore si svolgono su due piani: uno narrativo, l’altro didattico-esplicativo. Il momento narrativo appartiene al proponente la questione; quello didattico-esplicativo assorbe i tre tempi del dibattito.« Quaglio wiederum spricht nicht unzutreffend von der Gattung der »QuistioniNovelle«, die im Filocolo in Erscheinung trete, aber ebenfalls ohne den generischen Zusammenhang beider Teile näher zu beleuchten, vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 762 (Anm. IV,18,14). Lediglich Sanguineti, Lettura del Decameron, hat sich um die Beschreibung dieses Zusammenhangs bemüht. Er konstatiert, im Vergleich mit den iudicia amoris bestehe die Besonderheit der questioni d’amore darin, dass »le varie questioni d’amore sono formulate sempre attraverso un’esemplificazione concreta, mai in forma di sentenza astratta« (S. 45). Der Vergleich von Q IV und Q XIII mit den entsprechenden Decameron-Novellen führt ihn zu dem Ergebnis, »che la novella, presso il Boccaccio, nasca come quaestio« (S. 22). Insofern Sanguineti quaestio als Oberbegriff ansetzt, hinsichtlich seiner These zur Entstehung der Novelle aber nicht genau genug zwischen der von ihm beobachteten esemplificazione concreta und sentenza astratta unterscheidet, trifft die Formulierung den Sachverhalt nur ungenau. Die in der Begrifflichkeit der Questioni -Episode gegebene Nähe zwischen Kasus und Novelle spielt auch für die Erzählungen des Decameron eine Rolle. In Kapitel 5.4.2 wird zu zeigen sein, dass die Entscheidung gegen kontroverse Diskussionen (argumentatio) und verbindliche Urteile (conclusio) in der Rahmenerzählung des Decameron programmatischen Charakter hat, wobei die Funktion von Verhandlung und Urteilsfindung bisweilen in die Novelle selbst verlagert ist und somit nicht einfach verschwindet. Die für die Relation von Kasus und Novelle einschlä-
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4.3.2 Adaptierte argumentatio, transformierte Beweise: Die Verhandlung der questioni d’amore Nicht nur die Erweiterung der questioni um eine narratio überschreitet die Vorgabe der Spielregel, auch die Verhandlung ist dort nicht vorgesehen. Die vorgeschriebene, einfache Struktur aus Frage und Antwort wird in dem Moment zu einer Verhandlung, wo der Fragesteller die (erste) Antwort Fiammettas anficht und eine gegenteilige Position bezieht, die dann in einer zweiten Antwort Fiammettas noch einmal widerlegt wird. Dass diese Struktur sich – ohne explizit verabredet zu sein – etabliert, lässt sich nicht nur mit dem dilemmatischen Charakter der Fragen, sondern auch mit der Art und Weise begründen, wie Fiammetta in ihrer Antwort argumentativ Position bezieht. Das argumentative, auf die Entscheidung für eine der vorgelegten Alternativen angelegte Verfahren provoziert offenbar eine gegenteilige Reaktion. Für diesen kommunikativen Modus des pro- und contra-Argumentierens ist aus dem literarischen Diskurs die minnekasuistische Lyrik (aprov. Partimen und afrz. jeux partis) die wichtigste intertextuelle Referenzgröße:292 Auch hier treten im Rahmen eines Liedes zwei Sprecher gegeneinander an, die jeweils eine Position – bezogen auf die vorgelegte dilemmatische Frage – einnehmen und verteidigen. In beiden Fällen ist die kommunikative Handlung auf zwei Figuren beschränkt: Figur 1 legt die Frage vor, Figur 2 entscheidet sich für Position a, Figur 1 übernimmt dann die noch verbleibende Position b. In der Beschränkung auf zwei Instanzen ist ein wesentlicher Unterschied zur gerichtlichen Verhandlung benannt, denn zum einen ist die Funktion des Fallexponenten (Sänger 1 bzw. Fragesteller) zunächst eine neutrale, zum anderen resultiert die von diesem zu übernehmende Position erst aus der von Figur 2 (Sänger 2 bzw. Königin) gewählten Option. Die Positionen von Anklage und Verteidigung liegen somit nicht von vornherein fest, sondern werden erst im Zuge der Verhandlung fixiert.293 Diese Zufälligkeit der Positionsverteilung begründet zum einen den spielerischen Charakter und relativiert zum anderen den Stellenwert der abschließenden Urteile in Bezug auf einen absoluten Wertmaßstab
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gigen Forschungspositionen, insbesondere von Jolles und Neuschäfer, werden in Kap. 5.2 diskutiert. So auch Surdich, La cornice di amore, S. 17–20. In der Forschung ist die Analogie dieses Verfahrens, auf das sich auch die Bezeichnungen der minnekasuistischen Streitgedichte als joc partit bzw. jeu parti (mhd. geteiltez spil ) beziehen, zur germanischen Rechtspraxis des Teilens und Wählens vornehmlich in Erbangelegenheiten betont worden, vgl. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 58–69, bes. S. 61f.; und Ingrid Kasten: geteiltez spil und Reinmars Dilemma MF 165, 37. Zum Einfluß des altprovenzalischen dilemmatischen Streitgedichts auf die mittelhochdeutsche Literatur. In: Euphorion 74 (1980), S. 16–54.
175 (wie z. B. Wahrheitswertigkeit).294 Umsetzen lässt sich das Verfahren der zufälligen Positionierung problemlos in jenen Fällen, wo der präsentierte Kasus von der Person des Fragestellers abgelöst ist und der Charakter der dilemmatischen Frage als dubium, das gleichermaßen plausible Antworten zulässt, sichtbar wird. Spannungen zwischen der Instanz des Fragestellers und der des argumentierenden Disputanten ergeben sich hingegen dort, wo der Fragesteller persönlich in den Kasus involviert ist.295 Für die Art und Weise der Verhandlung der questioni werden nicht nur die minnekasuistischen Streitgedichte als Referenzgröße angesetzt, die Forschung hat mehrfach auch die wissenschaftliche disputatio als außerliterarischen Bezugsrahmen betont. So konstatiert etwa Sanguineti: Ogni questione è strutturata sulla base della tripartizione nei tre momenti della disputatio secondo il tipico procedimento scolastico: Videtur quod – a colui che ha posto il quesito la regina – ›sentenziatrice‹ risponde. Sed contra est – tale prima risposta è ogetto di confutazione. Respondeo dicendum – confutando a sua volta gli argomenti dell’interlocutore la regina dimostra la validità della sua prima sentenza.296
Die scholastische disputatio oder quaestio bezeichnet die für die mittelalterliche Wissenschaft maßgebliche »Denkform«, das formale Verfahren zur wahrheitsgemäßen Entscheidung wissenschaftlicher, zumeist theologischer Fragen.297 Das Denken in utramque partem ist dabei allerdings keine originäre Erscheinung der mittelalterlichen Scholastik, sondern ist in unterschiedlicher Gestalt bereits in der antiken Rhetorik vor-
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Dazu ausführlich Kap. 4.3.3. Das zeigt sich zum Beispiel an der Überlagerung der Instanzen in Q III: Hier besteht der Kasus darin, dass die Fragestellerin Cara nicht weiß, ob sie den Starken, den Höfischen oder den Weisen als Geliebten wählen soll. Als Disputantin fällt ihr dagegen die Rolle zu, sich für eine Option begründet einzusetzen, wodurch sich ein formaler Widerspruchzur Ausgangsfrage ergibt. In Q V präsentiert der Fragesteller Clonico einen Kasus, zu dessen Optionen er selbst bereits in der narratio Stellung bezieht. Damit ist die Verteilung der Positionen hier keineswegs mehr freigegeben: Fiammetta übernimmt die Position des Gegenparts, Clonico vertritt seine eigene Position. Sanguineti, Lettura del Decameron, S. 45–48 (Lezione VII), hier S. 45. Auch Porcelli vertritt die These, die questioni seien auf die mittelalterliche Dialektik als einer »ars opponendi et respondendi« bezogen (Strutture e forme narrative, S. 226f.). Vgl. weiterhin Francesco Bruni: Il Filocolo e lo spazio della letteratura volgare. In: Miscellanea di studi in onore di Vittore Branca Bd. II: Boccaccio e dintorni. Florenz 1983 (= Biblioteca dell’archivum romanicum: Serie 1, Storia, letteratura, paleografia, 179), S. 1–21, hier S. 14. Surdich,La cornice di amore, S. 20, sieht in der Struktur der questioni -Verhandlung einen Zusammenfall iudikialer und scholastischer Verfahrensweisen; Tateo, Boccaccio, S. 40, erkennt für die questioni zwar eine »affinità con la disputata scolastica«, stellt aber stärkerden spielerischenCharakter der Szene in den Vordergrund. Rolf Schönberger: Art. Scholastik. In: LexMa 7 (1995), Sp. 83–92, hier Sp. 83.
176 geprägt.298 Die spezifische Ausformung der mittelalterlichen Disputationsmethode lässt sich am ehesten auf die antike Form des gelehrten Gesprächs zurückführen. Sowohl Aristoteles als auch Cicero skizzieren Streitgespräche in der Form von Frage-Antwort-Gesprächen und geben die Auflistung von Gründen zur Belegung von Thesen als verbindlich vor.299 Unter den spätantiken Autoren ist es Augustinus, der den praktischen Nutzen der Disputation – also das geordnete Durchdringen einer Frage und ihre wahrheitsgemäße Beantwortung – herausstellt300 und somit die Legitimation dafür liefert, die disputatio fest im akademischen Unterricht – zunächst vor allem dem der Theologie – zu verankern.301 Im Lehrbetrieb an den Klosterschulen und Universitäten des Mittelalters war das disputative Verfahren zunächst Teil der lectio, erst allmählich behauptete es sich als eigene Lehrveranstaltung. Mit der Institutionalisierung wurde der Ablauf der disputatio stark formalisiert. Das Verfahren kennt in der Regel drei Instanzen (Magister, opponens und defendens) und besteht aus folgenden Teilen: 1) der quaestio als der Problemstellung, die der Magister mit einigen Argumenten vorlegt; 2) dem Angriff des opponens, der die Argumente in Zweifel zieht; 3) der Verteidigung des defendens, der bereits eine vorläufige Lösung vorschlägt; 4) der determinatio des Magisters, der die bisherigen Argumente bündelt und eine solutio vorlegt und 5) die gegen seine These vorgebrachten Argumente noch einmal widerlegt.302 Diese schematische Lehrform lieferte wiederum das Muster für die formale Struktur schriftlicher Texte, hier vor allem die der quaestiones in den theologischen Summen.303 Die parallele Anwendung des formalen Verfahrens im mündlichen Unterricht und in den schriftlichen Lehrwerken festigte »die allgemeinen Normen gelehrter mittelalterlicher Kommunikation«, die so »zu beinahe unumstößlichen Strukturprinzipien wissenschaftlicher Darstellung«304 wurden. Die knappe Skizze verdeutlicht, dass die Struktur der scholastischen disputatio – abweichend von der Behauptung Sanguinetis – nur bedingt analog zu der der Verhandlung der questioni d’amore ist. Die wichtigste Abweichung betrifft die beteiligten Instanzen: In den Questioni d’amore 298
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Vgl. zur Anknüpfung an diese Tradition in der Renaissance Sloane, Rhetorical Education, S. 163–178. Hanspeter Marti: Art. Disputation. In: HWRh 2 (1994), Sp. 866–880, hier Sp. 871f. Aurelius Augustinus: De Doctrina christiana. In: Jaques-Paul Migne (Hrsg.): Patrologiae cursus completus, series latina. Bd. 34. Paris 1887 (Augustinus 3,1), Sp. 15–122, hier Sp. 58 (Buch II, Cap. 31,48): »Sed disputationis disciplina ad omnia genera quaestionum, quae in Litteris sanctis sunt penetranda et dissolvenda, plurimum valet […]«. Marti, Art. Disputation, Sp. 873. Ebd., Sp. 875; sowie Rädle, Art. Disputatio, S. 377f. Marti, Art. Disputation, Sp. 874; sowie Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode Bd. 2, S. 13–24. Marti, Art. Disputation, Sp. 874.
177 fehlt die entscheidende dritte Instanz, die in der disputatio für Vorlage, determinatio und solutio der quaestio zuständig ist. Die elementaren Bestandteile der disputatio verteilen sich somit nur auf zwei Instanzen. Daraus ergibt sich ein zweiter wichtiger Unterschied. Er betrifft die Position des abschließenden Urteils: Während dieses in der disputatio vor der Widerlegung der gegnerischen Argumente steht, rückt es in den questioni in die Schlussposition. Dabei zielt die vorgeschaltete Verteidigung der conclusio durch Fiammetta zunächst auf die Widerlegung der Argumente des Fragestellers (refutatio), sie kann aber ebenso auch noch einmal Argumente für die eigene Position enthalten (probatio).305 Ein Grund hierfür ist in der dilemmatischen Eigenschaft der questioni -Fragen zu sehen. Würden diese gemäß dem Verfahren der in der Regel mit einfachen Fragen befassten scholastischen disputatio 306 verhandelt, hätte man mit einer Verdoppelung der skizzierten Struktur zu rechnen. Die Beschränkung der questioni -Verhandlung auf die von Sanguineti beschriebene einfache Struktur des pro- und contra-Argumentierens zieht somit notwendig eine Überlagerung der Rollen von defendens und Magister sowie der Redefunktionen von probatio, determinatio und refutatio in der Schlussrede Fiammettas nach sich. Die Frage, ob die Struktur der Verhandlung der questioni im Filocolo sich dem intertextuellen Rekurs auf die minnekasuistischen Streitgedichte verdankt oder ob sie als spezifische Adaptation der akademischen disputatio zu gelten hat, ist kaum zu entscheiden und letztlich auch nicht relevant.307 Hier ist allein von Bedeutung, dass in der Verhandlung der 305
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Die systematische Differenzierung von probatio und refutatio in der disputatio ist, rhetorisch betrachtet, ausgesprochen künstlich, denn die Widerlegung eines gegnerischen Arguments wird, so schon Cicero, zugleich immer auch ein Argument für die eigene Position sein, vgl. Ueding / Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, S. 265. Vgl. etwa die Fragen in der Summa theologica des Thomas von Aquin. Die Schwierigkeit,eine eindeutigeAntwort zu geben, hängt vor allem damit zusammen, dass die Frage nach den Zusammenhängen von wissenschaftlicher Dialektik und minnekasuistischer Literatur ja nicht erst für Boccaccios Questioni d’amore gestellt wird, sondern schon in der Forschungsliteratur zu den Streitgedichten eine wichtige Rolle spielt. So hält z. B. Rüdiger Schnell: Zur Entstehung des altprovenzalischen dilemmatischen Streitgedichts. In: GRM N. F. 33 (1983), S. 1–20, die Etablierung der Frühscholastikan den französischenSchulen als Bildungshintergrund für die Entstehung kasuistischer Lieder für evident; vgl. auch Hans Walther: Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters. Nachdruck der Ausg. München 1920. Mit einem Vorwort, Nachtrag und Register von Paul Gerhard Schmidt. Hildesheim u. a. 1984 (= Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, 5,2), S. 17–27; Erich Köhler: Zur Entstehung des altprovenzalischen Streitgedichts. In: ZfrPh 75 (1959), S. 37–88; Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 51–58; sowie Kasten, Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, S. 14–20. Kasten bringt für das Streitgedicht neben der disputatio überdies gemeineuropäische juristische Praktiken – wie das Teilen und Wählen in Erbstreitigkeiten und das Schiedsverfahren – als Referenzgrößen in Anschlag, vgl. dies., geteiltez spil, S. 16–54.
178 vorgelegten questioni ein spezifisches dialektisches Verfahren zur Anwendung kommt, das seit dem 12. Jahrhundert als maßgebliches methodisches Verfahren zur Generierung von wahrheitswertigen Aussagen in Geltung steht und dessen Reichweite nicht auf wissenschaftliche Kontexte beschränkt geblieben ist.308 Im Folgenden soll dargelegt werden, dass die Bezugnahme der questioni d’amore auf die wissenschaftliche disputatio ihre Relevanz insbesondere hinsichtlich des argumentativen Verfahrens der beiden Disputanten entfaltet. Zur Stützung ihrer jeweiligen Positionen machen sowohl die Fragesteller als auch Fiammetta ausgiebigen Gebrauch von Beweisführungen, wobei sie deduktive Verfahren der Schlussfolgerung mit induktiven Verfahren (wie dem Anführen von Beispielen und Sentenzen) kombinieren.309 Insofern die jeweiligen Schlussverfahren nicht auf notwendigen, sondern lediglich auf allgemeine Plausibilität beanspruchenden Feststellungen basieren, sind sie nicht als formallogische, philosophische, sondern als rhetorische Syllogismen zu bezeichnen (ratiocinatio oder Enthymem), die ihrerseits der Auslegung bedürfen.310 Als Beispiel kann die erste Frage dienen (Q I: Liebt die Dame denjenigen, dessen Kränzchen sie nimmt, oder denjenigen, dem sie ihr Kränzchen überreicht?): Fiammetta entscheidet diese Frage zugunsten desjenigen, der ein Kränzchen von der Dame erhält. Die Begründung leitet sie mit dem folgenden allgemeinen Satz ein: qualunqueuomo o donna ama alcuna persona,per la forza di questo amore portato è ciascuno sì forte obligato alla cosa amata, che sopra tutte le cose a quella disidera di piacere, […] Ma veggiamo che chi ama, la cosa amata, in qualunque maniera puote, di farsela benigna e suggetta s’ingegnain diversimodi, acciò che quella possa a’ suoi piaceri recare, o con più ardita fronte il suo disio dimandare. (IV,20,3–4)311
Diese Feststellung (›Wer liebt, wird danach trachten, sich die geliebte Person durch Geschenke gewogen zu machen.‹) belegt sie mit einem Beispiel aus der antiken Literatur, hier aus Vergils Aeneis: E che questo sia come noi parliamo, assai la infiammata Dido con le sue opere cel palesa, la quale, già dell’amore d’Enea ardendo, infino a tanto che essa con onori e
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Rädle, Art. Disputatio, S. 377. Carlo Muscetta hat diese ausgefeilte Argumentationskunst in den Questioni d’amore als einen »occamismo giovanile« Boccaccios bezeichnet, vgl. ders.: Giovanni Boccaccio. 3. Aufl. Rom / Bari 1992 (= Letteratura italiana laterza, 8), S. 42 und S. 45 Anm. 49. Vgl. Ueding / Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, S. 267f. »[…] whatever man or woman loves any person, by the force of that love he bears everyone he feels so strongly obligated to the thing loved that above all other things he desires to please it; […] But we see that whoever loves tries in various ways by whatever means possible to make the thing loved more kindly and more subject to him, so that he can bend it to his pleasure or ask more boldly for what he wants.« (247)
179 con doni non gliele parve aver preso, non ebbe ardire di tentare la dubbiosa via del dimandare (IV,20,4),312
um dann den solchermaßen bewiesenen Satz auf den spezifischen Fall anzuwenden: Dunque la giovane colui cui essa più amò, quello di più obligarsi cercò: e così diremo che quelli che ’l dono della ghirlanda ricevette, colui sia più dalla giovane amato. (IV,20,5)313
Zwar ist der abgeleitete Schluss (›Wer Geschenke macht, liebt.‹) formal korrekt, der zu dem Fall gebildete Obersatz ist allerdings nicht zwingend. Dass sich auch andere mögliche Sätze bilden lassen, zeigt Florios Antwort, dessen Obersatz ebenfalls allgemeine Gültigkeit beansprucht: […] io terrei che il contrario fosse da giudicare, con ciò sia cosa che generalmente tra gli amanti soglia essere questa consuetudine, cioè disiderare di portare sopra sé alcuna delle gioie della cosa amata […] (IV,21,1).314
Auch Florio belegt seinen Satz durch ein Beispiel aus der TrojaLiteratur:315 E come voi povete avere udito, Paris rade volte o nulla entrava nell’aspre battaglie contra i Greci sanza soprasegnale donatogli dalla sua Elena, credendosi per quello molto meglio, che sanza quello, valere (IV,21,2).316
Bevor er diesen Satz auf den vorliegenden Fall anwendet und den Schluss zieht, dass die Dame denjenigen liebe, dessen Kränzchen sie nehme, entkräftet er Fiammettas Argumentation, indem er auch eine Begründung für das Verhalten der Dame gegenüber dem zweiten Verehrer liefert: Sie habe jenem ihr Kränzchen gegeben, um ihn für seine entgegengebrachte Liebe zu belohnen.317
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»And that this is true, the inflamed Dido makes abundantly clear through her behavior; for once she was aflame with love for Aeneas she did not dare to try the uncertain path of asking him until it seemed to her that she had bound him to her with honors and gifts.« (247f.); vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 763 (Anm. IV,20,2). »Therefore the maiden sought to make the one she loved more the more obliged to her; and so we say that he who received the gift of the garland is more loved by the maiden.« (248) »I would hold that there was to be judged the contrary from what you have ruled in the question before us, inasmuch as generally among lovers it is customary to desire to wear on oneself some favourite object belonging to the person loved […].« (248) Quaglio sieht in dieser Überblendungvon antikem Figurenpersonalund spätmittelalterlicher Turnierpraxiseinen Rekurs auf die Tradition des mittelalterlichenTrojaRomans, vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 763 (Anm. IV,21,3). »And as you may have heard, Paris rarely or never entered the fierce battles against the Greeks without a token given him by his Helen, believing himself to be much more valiant with it than without« (248). Vgl. IV,21,3.
180 In der abschließenden refutatio entkräftet Fiammetta wiederum das Argument Florios: Guarda come perfetto amore insieme col rubare può concorrere: come mi potrai tu mai mostrarne che io ami quella persona la quale io rubo più che quella a cui io dono, con ciò sia cosa che tra più manifesti segni d’amare alcuna persona è il donare? (IV,22,1)318
Die conclusio (›Nur im Schenken zeigt sich die Liebe.‹) ist in diesem Fall die Negation des aus dem Obersatz (›Liebe schließt Diebstahl aus.‹) gezogenen Schlusses: ›Wer stiehlt, liebt nicht‹. Sie festigt ihr Argument mit dem Verweis darauf, dass die von Florio gewählte Option – die Dame erhält ein Zeichen des Geliebten – so nicht in der questione vorgesehen gewesen sei: »E secondo la quistione proposta, ella all’uno donò la ghirlanda, all’altro la tolse, non le fu dall’altro donata.« (IV,22,1)319 Ihre conclusio belegt sie wiederum durch eine Sentenz: E quello che noi tutto giorno per essemplo veggiamo può qui per essemplo bastare, che si dice volgarmente coloro essere da’ signori più amati i quali le grazie e’doni ricevono, che quelli che di quelli privati sono. (IV,22,2)320
Die skizzierte Verhandlung der ersten Frage kann als paradigmatisch für die argumentationes in den Questioni d’amore gelten: Grundlegend ist das Bemühen beider Parteien, zu der von ihnen vertretenen Position Obersätze anzuführen, die eine allgemeine, prinzipiell zustimmungsfähige Feststellung formulieren.321 Die Geltung des Obersatzes wird durch exempla oder Sentenzen gesichert, bevor das Urteil zur vorgelegten Frage wiederum aus dem Obersatz abgeleitet wird. Neben dem Verfahren der probatio beherrschen beide Parteien prinzipiell auch das Verfahren der refutatio, indem sie die Argumente des Gegenübers als falsch 318
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»Consider whether a perfect love can coexist along with theft; how can you ever demonstrate to me that I love that person from whom I steal more than the one to whom I give, since giving is one of the clearest signs of loving another person?« (248) »And according to the question as it was presented, she gave the garland to one and took it from the other; it was not given her by the other.« (248) »And what we see every day as an example can serve here as an example too, that it is commonly said that those are more loved by their lords who receive graces and gifts than those who are deprived of them.« (248) So stehen sich beispielsweise in der Verhandlung der fünften Frage (Was wiegt schwerer: unerwiderte Liebe oder Eifersucht?) der Obersatz Fiammettas (›Wer keine Hoffnung hat, trauert am stärksten,also: der Eifersüchtige.‹)und Clonicos(›Wer nicht besitzt,trauert am stärksten,also: der vergeblichLiebende.‹)gegenüber,in der sechsten Frage (Liebt diejenige Dame mehr, die ihre Liebe stürmisch und offensiv zeigt, oder diejenige, die ihre Liebe schüchtern und zurückhaltend verbirgt?) die Obersätze Fiammettas (›Liebe macht schüchtern.‹) und der jungen Dame (›Liebe raubt die Sinne und verdrängt die Schüchternheit.‹). Zu der Frage, ob die ranghöhere oder rangniedere Dame geliebt werden soll (Q VIII), lautet Fiammettas Obersatz, dass nach hohen Dingen zu streben sei.
181 oder wenigstens inadäquat erweisen. Dass die Figuren über rhetorischdialektische Beweisverfahren verfügen, bleibt dabei nicht unkommentiert. Das von ihnen verwendete Vokabular zeigt vielmehr an, dass sie die ars disputatoria durchaus reflektiert beherrschen: so in den Begriffen des Argumentierens (il tuo argomentare,322 argomentare bene al parere difendere,323 per essemplo bastare 324 ), des Verteidigens (difendere la ragione 325 ) und des Urteilens (il tuo parer,326 nostra diffinizione,327 un altro giudicio,328 trovere il giudicio non fallace, ma vero 329 ).330 Zu den dialektischen Beweisverfahren gehören neben deduktiven Beweisen wie dem Syllogismus auch induktive Beweise. Die scholastische disputatio kennt vor allem die Instanzen der auctoritas und der ratio, die den Beweisfunktionen der antiken Rhetorik (signa, exempla und sententiae) einen spezifischen systematischen – nämlich wahrheitsfähigen – Stellenwert zuweisen. Während ratio einen universellen Begriff von Vernunft bezeichnet und sich auf allgemeingültige Prinzipien und Sätze bezieht,331 umfasst die Beweisinstanz der auctoritates die Heilige Schrift sowie Schriften der Kirchenväter und der bekannten antiken Autoren. Autorität also kommt mit der Formulierung Rolf Schönbergers, »weniger Personen als insbesondere Texten zu, genauer: Autoritäten sind Texte.«332 Der spezifische Zuschnitt der Beweisinstanzen für die disputatio hängt unmittelbar mit dem Ziel der scholastischen Methode zusammen, angesichts einer widersprüchlichen Ausgangsfrage eine wahrheitswertige Position argumentativ zu erschließen.333
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IV,22,1. IV,54,1. IV,22,2. IV,34,1. IV,46,1. IV,22,3. IV,49,1. IV,58,4. Darauf verweist auch Porcelli, Strutture e forme narrative, S. 226f. Der weiter gefasste Begriff der Sentenz, der allgemein akzeptierte, aber nicht notwendigerweise umfassend gültige Sachverhalte bezeichnet, erfährt also eine Verengung. Rolf Schönberger: Was ist Scholastik? Mit einem Geleitwort von Peter Koslowski. Hildesheim 1991 (= Philosophie und Religion, 2), S. 104; vgl. auch ders.: Art. Scholastik. In: LexMa 7 (1995), Sp. 83–92, hier Sp. 83–86. Vgl. Schönberger, Was ist Scholastik?, S. 75: »In der Tat ist die Wahrheitswertigkeit aller theoretischen Bezüge für Scholastik durchaus typisch. Was immer gesagt wird, ist entweder wahr oder falsch.« Hier liegt der fundamentale Unterschied zwischen dem rhetorischen genus iudiciale und der dialektischen Gattung der disputatio: Während erstere auf punktuelle Urteile zuläuft, geht es bei der zweiten um das Herausarbeiten theologisch-philosophischer Wahrheit. Diese Differenz ist für die Frage nach dem Stellenwert der Questioni d’amore nicht unerheblich, vgl. hierzu das Resümee am Ende dieses Teilkapitels sowie Kap. 4.3.3.
182 Für die Beweisführung in den questioni d’amore lässt sich ein umfassender Gebrauch von Beweisinstanzen feststellen. Die strukturelle Position der wahrheitswertigen Instanzen ratio und auctoritas übernehmen dabei rhetorische Beweisinstanzen, die – insofern sich mit ihnen nicht die unhintergehbare Zuschreibung von Wahrheit verbindet – eine pragmatische, dem Gegenstand der Disputation angemessene Argumentation erlauben: An die Stelle der heiligen auctoritates treten Helden und Heroinen der antiken Literatur, die Stelle der ratio übernehmen – eher wieder im Sinne der klassisch-rhetorischen Sentenz – Sprichworte und allgemeine Redensarten als Kondensate kollektiver Erfahrung. In der Diskussion um Longanios Frage (Q II), ob die von ihrem Liebhaber getrennt lebende oder die in der Liebe unerfahrene Dame mehr trauere, ergreift Fiammetta Partei für die erste Dame. Sie führt dafür drei exempla an: Fabrizio mai i casi della fortuna non pianse, ma Pompeo sì. E manifesta cosa è che se dolci cose mai non si fossero gustate, ancora sarebbero a conoscere l’amare. Medea non seppe mai, secondo il suo dire, che prosperità si fosse mentre essa amò, ma, abandonata da Giansone, si dolfe della avversità. (IV,24,2–3)334
Das Zitat aus der autoritativen Schrift wird hier ersetzt durch den Verweis auf ein Figurenpersonal, wie es aus der antiken Literatur und zum Teil auch aus dem mittelalterlichen Antikenroman bekannt ist. Entscheidend ist, dass die jeweiligen Autoritäten – hier: Vergil, Valerius Maximus und Ovid –335 selbst gar nicht genannt werden.336 Vielmehr evoziert die willkürlich kombinierte Namenreihe Fabrizius – Pompeius Magnus – Medea eine Vorstellungswelt, die historische und mythologische Figuren unterschiedslos in einem Geschichtsraum vereint, der, weil er als wahr geglaubt wird, schon aus sich heraus beweiskräftig ist. Die Transposition von ›Autorität‹ funktioniert damit analog zur disputatio: Geht sie dort von autoritativen, heiligen Personen auf heilige Texte über, so wird sie in diesem Fall auf die Figuren der Texte übertragen, denen damit die Funk-
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»Fabrizius never lamented the turns of fortune, but Pompey did. It is clear that if we had never tasted sweet things, we would still be ignorant of bitter ones. Medea never knew, as she put it, what happiness was while she was in love, but when she was abandoned by Jason she grieved at adversity.« (251) Vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 765 (Anm. IV,24,2–4) und S. 652f. (Anm. I,29,25). Als Ausnahme ist die Diskussion zwischen Caleon und Fiammetta zu nennen. In seiner Argumentation für den amore per diletto verweist Caleon explizit auf Vergil und Ovid: »Chi mosse Vergilio,chi Ovidio, chi gli altri poeti a lasciaredi loro etterna fama ne’santi versi, i quali mai a’ nostri orecchi pervenuti non sarieno se costui non fosse, se non costui?« (IV,45,6). Die Autoritäten, die die Beweise (in Gestalt der Figuren und ihres Verhaltens) bereitstellen, sind also prinzipiell präsent, in den einzelnen Beweisführungen werden sie aber – wie gezeigt – durch die Figuren selbst ersetzt.
183 tion historischer exempla zufällt. Wie stark die zitierten Figuren im historischen Gedächtnis der Disputanten verankert sind, zeigt sich daran, dass der spezifische Sachverhalt, der hier als induktiver Beweis fungiert, gar nicht ausgeführt werden muss, sondern dass dieser schon in den Namen Fabrizio und Pompeo chiffriert ist. An der Verhandlung der dritten Frage lässt sich zeigen, dass insbesondere die Mythologie einen unerschöpflichen Fundus für menschliches Verhalten vor allem in Liebesdingen liefert: Eine namenlose junge Dame belegt anhand von mythologischen Figuren, dass es bei der Wahl eines Liebhabers nicht auf die Eigenschaft der Weisheit ankomme, da sich diese im Zustand der Verliebtheit nur allzu schnell verflüchtige: E chi dubita che Biblide conoscea essere male ad amare il fratello? Chi disdirà che a Leandro non fosse manifesto il potere annegarein Elespontone’ fortunositempi, se vi si mettea? E niuno non negherà che Pasife non conoscesse più bello essere l’uomo che ’l toro: e pur costoro, ciascuno vinto da amoroso piacere, ogni conoscimento abandonato, seguivano quello. (IV,29,2)337
Die Mythologie als ›historisches Gedächtnis‹ der beteiligten Disputanten erhält damit zugleich den Status eines kollektiven ›anthropologischen Gedächtnisses‹.338 Die unmittelbare Anschaulichkeit, die dem Verhalten von Figuren der Mythologie beigemessen wird, sowie die Eindringlichkeit und Selbstverständlichkeit, mit der dieses als adäquate Vergleichsnorm für die zur Verhandlung stehenden Kasus präsentiert wird, lässt sich auch der Argumentation zur elften Frage entnehmen. Die Fragestellerin Graziosa plädiert für ihre Position, das Betrachten der geliebten Person sei dem An-sie-Denken vorzuziehen: Noi possiamo per Laudomia vedere e conoscere quanto più il presenzialmente vedere che il pensare diletti, però che credere dobbiamo che mai il suo pensiero dal suo Protesilao non si partiva, né già per questo mai altro che malinconica si vide, rifiutando d’ornarsi e di vestirsi i cari vestimenti; quello che, vedendolo, mai
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»Who doubts that Byblis knew it was wrong to love her brother? Who will deny that it was clear to Leander that he could drown in the Hellespont if he entered it during bad weather? Nobody will deny that Pasiphae knew that a man was more handsome than a bull; and yet each of them was overcome by amorous desire, and abandoned all knowledge and followed it.« (253) Das Verfahren, sich zur Verständigung über menschliches Verhalten auf die antike Literatur zu beziehen, wie es hier im Zuge der Disputation vorgeführt wird, ist nicht auf die Episode der Questioni d’amore beschränkt, wie Werner Röcke: Liebe und Melancholie. Formen sozialer Kommunikation in der Historie von Florio und Bianceffora (1587). In: GRM N. F. 45 (1995), S. 177–192, hier S. 180, für die deutsche Bearbeitung des Filocolo beobachtet hat: »im ganzen Roman [bedient sich] die Sprache des Gefühls und der Reflexion über Liebesglück und Liebesleid literarischer Reminiszenzen […]: das Personal der antiken Literatur bietet einen Thesaurus der Schicksale, der Reaktionsmöglichkeiten und Affekte, die beliebig zitiert und funktionalisiert werden können«.
184 non le avvenia […] Che dunque più manifesto testimonio vogliamo che questo […] (IV,61,3–4).339
Fiammettas Antwort hierauf zeigt, dass die Verwendung der zitierten Beweisinstanz – analog zu den auctoritates der disputatio – nicht immer widerspruchsfrei ist, dass sie vielmehr auch im gegenteiligen Sinn gebraucht werden kann.340 Neben der ›Autorität‹ antiker Literatur und Mythologie ist eine weitere Beweisinstanz in den questioni von Bedeutung: allgemeine Berufungen auf kollektives Wissen in Form von Redewendungen oder Sprichworten, die als strukturelle Entsprechung zur Instanz der ratio in der disputatio angesehen werden können. Beispielhaft hierfür sind die häufig benutzten sentenzhaften Wendungen. So antwortet die Königin auf die Frage des Menedon (Q IV), wer von den drei Protagonisten seiner Geschichte der Freigebigste sei: »però che chi più dona più liberale è da tenere« (IV,32,2).341 In diese Kategorie gehören auch alltägliche Beobachtungen und Erfahrungen. In der Frage, ob Jungfrau, Ehefrau oder Witwe als Geliebte zu präferieren seien (Q IX), begründet Fiammetta, warum die Ehefrau aus erotischer Perspektive die begehrenswerteste sei: Manifesto è che quanto più nel fuoco si soffia più s’accende, e sanza soffiarvi s’amorta; e quasi tutte l’altre cose usandole mancano: la libidine quanto più s’usa più cresce. (IV,52,3)342
Obwohl sie im Verlauf ihrer Argumentation von der Möglichkeit, die Ehefrau zu wählen, absieht, da diese nicht frei zur Verfügung stehe, erwägt sie zumindest theoretisch, inwiefern die Rolle der Geliebten für die Ehefrau attraktiv sein könnte. Als Beweis dient wiederum eine Beobachtung aus dem Alltag:
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»From Laodameia we can see and understand how much more seeing someone in person delights than does thinking about him, since we must believe that her thoughts never left her Protesilaus, and she was never seen other than melancholy on his account, refusing to adorn herself and put on her precious clothing; and this never happened when she saw him […] So what more clear testimony do we want than this […]« (289). »Se di Laudomia dite che malinconica si vedea pensando, non lo neghiamo: ma amoroso pensiero non la turbava, anzi doloroso. Ella quasi indovina a’ suoi danni, sempre della morte di Protesilao dubitava, e a questa pensava: né questo è de’ pensieri de’ quali ragioniamo, i quali in lei entrare non poteano per quella dubitazione; anzi dolendosi con ragione mostrava il viso turbato.« (IV,62,6–7) »[…] since whoever gives the more is to be held the more generous.« (262) »It is apparent that the more fire is blown on the more it blazes, and that it goes out if it is not blown on; and although almost all other things are diminished by use, lust grows the more it is used.« (283)
185 Poi il sempre usare un cibo è tedioso, e sovente abbiamo veduto i dilicati per li grossi cibi lasciare, tornando poi a quelli quando l’appetito degli altri è contentato. (IV,52,6)343
Dass solche vermeintlich allgemeinen Erfahrungswerte zuweilen einer subjektiven Perspektive entstammen können und deshalb in ihrer Beweiskraft zu relativieren sind, zeigt der persönliche Kasus des Clonico (Q V). In der Frage, ob seine unerwiderte Liebe zu einer Dame oder die Eifersucht eines Freundes schwerer wiege, optiert Fiammetta für die Eifersucht und provoziert damit nicht nur spielerisch, sondern auch sachlich die Opposition Clonicos, der sie bezichtigt, ihre Wahl auf Grund mangelnden Erfahrungswissens getroffen zu haben: »O nobile reina, che è cio che voi dite? Aperto pare che sempre siete stata amata da cui amato avete, per la qual cosa la mia pena male concoscete.« (IV,37,1)344 Weniger anfechtbar sind eingeführte Sprichworte oder Redensarten, die ebenfalls in dieser Funktion verwendet werden und auch als solche bezeichnet werden, so in der Verhandlung von Q I (che si dice volgarmente, IV,22,2) oder in Fiammettas Antwort auf Longanio (Q II): »e’ si suol dire: ›Chi bene ama mai non oblia‹« (IV,26,2).345 Die Instanz der wahrheitswertigen, umfassend in Geltung stehenden ratio wird somit ersetzt durch Sätze, die einem den Gegenständen angepassten, pragmatischen Erfahrungswissen entstammen und damit lediglich von relativer Beweiskraft sind.346 Die Beispiele zeigen, dass sich die Figuren um eine an wissenschaftlichen Verfahren geschulte, z. T. dialektische Argumentation bemühen. Neben den Unterschieden in der Anordnung der Sprecherpositionen besteht die entscheidende Differenz zur disputatio in der strukturellen Ersetzung der theoretisch-systematischen Beweisinstanzen durch pragmatische, die auf den spezifischen Gegenstand der Verhandlung zugeschnitten sind, damit aber den wahrheitswertigen Status von ratio und auctoritas einbüßen. Während die scholastischen auctoritates durch ein in der antiken Literatur thesauriertes Figurenpersonal ersetzt werden, 343
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»Furthermore, one tires of always having the same food, and we have often seen people abandon delicate foods for grosser kinds, and then return to the former when their appetite for the other has been satisfied.« (283) »O noble queen, what is this that you say? It seems obvious to me that you have always been loved by the one you loved, and so you little appreciate my suffering.« (269) »[…] nevertheless it is customary to say that ›Whoever loves truly never forgets.«‹ (252) Ingrid Kasten, Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, S. 223f., hat eine analoge Veränderung der Autoritätsberufungen für das mittelhochdeutscheStreitgedicht beschrieben:»Die Funktion, die in Glaubensfragender Autorität von Bibel- und Väterstellen beigemessen wird, übernehmen im weltlichen Streitgedicht sprichwortartige Redewendungen und Sentenzen, deren Wahrheitsgehalt durch die ›opinio communis‹ als gesichert gilt und deren infinite Dimension ihrem Inhalt Allgemeingültigkeit verleiht.«
186 das seine Beweiskraft als exemplum der ihm zugeschriebenen Geschichtlichkeit verdankt, tritt anstelle der wahrheitswertigen Sätze der ratio persönliches oder in Gestalt von Sprichworten und Redensarten kollektiv gewordenes Erfahrungswissen. In beiden Veränderungen manifestiert sich eine Abkehr von theoretischem und eine Hinwendung zu praktischem Wissen. Die Verhandlung der questioni setzt damit fort, was schon für die Präsentation der Fragen gezeigt werden konnte: Weil es sich bei den vorgelegten questioni weniger um theoretische Fragen als vielmehr um praktische, juristische Fälle handelt, wird entsprechend auch die Verhandlung nicht auf theoretisch-systematischer Basis geführt,347 sondern unter Rekurs auf ›historisch‹ überlieferte Fälle bzw. auf das, was lebenspraktisch plausibel ist. Die Verhandlung der questioni führt somit dialektische Disputationskunst vor, die durch die Transformation der Beweise und die Abkehr von einem theoretischen Bezugsrahmen juristisch funktionalisiert und damit ›re-rhetorisiert‹ wird.
4.3.3 giudizio, soluzione, consiglio: Zum Stellenwert der Urteile Während die Verhandlung der questioni d’amore nicht von der Spielregel vorgesehen ist, entsprechen die im Anschluss gefällten Urteile der in der Spielregel vorgesehenen Antwort. In allen dreizehn Fällen hat die Schlussantwort definitiven Charakter, insofern sie die Verhandlung der Frage in der Regel mit der refutatio der gegnerischen Argumente beendet und die gegebene Antwort für gültig erklärt. Mit dem strukturellen Merkmal des Schlussurteils setzen sich die Questioni d’amore deutlich von den minnekasuistischen Streitgedichten ab, deren Sängerinstanzen geradezu programmatisch auf ein abschließendes Urteil verzichten.348 Als Prätexte kommen also nur jene Texte in Frage, die Antwort oder Urteil auf eine dilemmatische Frage kennen. Die prägnanteste Vorlage hierfür liegt in der Konzeption des Minnehofs vor. Daneben ist aber auch für die dezidiert spielerischen Adaptationen der cour d’amour-Konzeption in den (literarisch überlieferten) höfischen Fragespielen die Antwort auf die vorgelegte Frage konstitutiv. Den Urteilen kommt in den genannten Texten allerdings ein sehr unterschiedlicher Stellenwert zu. In den iudicia amoris spielen sie, das zeigt schon die Bezeichnung, eine zentrale Rolle: Ihre programmatische Positionierung in einem theoretischen Traktat zur höfischen Liebe, die historisch verifizierbaren und daher autorita347
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Ein aus der Perspektive dialektischer Erörterung nicht unplausibler Rückgriff auf bereits gefällte Urteile, wie sie in De Amore als Fundament einer Minnetheorie ja verfügbar wären, bleibt bezeichnenderweise ganz aus. Vgl. Köhler, Partimen, S. 21f.; Neumeister, Das Spiel mit der höfischenLiebe, S. 64– 69; 155–167; Kasten, Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, S. 27.
187 tiven Richterfiguren und nicht zuletzt die aus dem Eherecht adaptierten Inhalte der verhandelten Kasus haben dazu geführt, sie als »Minnekanon« zu apostrophieren.349 Für die skizzenhaften, insgesamt nur wenige Fragen und Urteile enthaltenden Darstellungen der Fragespiele bietet sich eine solche Lesart dagegen kaum an. Die Questioni d’amore sind in dieser Hinsicht ambivalent. Dafür, dass Fiammettas Urteile den Status einer Liebestheorie reklamieren, sprechen zum einen das Gewicht, das den einzelnen Urteilen durch den schematisch wiederholten Prozess aus Präsentation, Verhandlung und Beantwortung der Frage zukommt, zum anderen die in der pro- und contra-Verhandlung zur Schau gestellte dialektische Argumentationskunst, als deren logisches Ergebnis das Urteil präsentiert wird, zum dritten der autoritative Gestus, mit dem die Königin ihr Urteil als wahrheitsgemäße Lösung bezeichnet: Crediamo che quando queste poche parole per la mente debitamente avrete digeste, troverete il nostro giudicio non fallace, ma vero e da dovere essere seguito –. (IV,58,4)350
In dieser Perspektive sind die Urteile als Setzungen zu betrachten, die aus den dilemmatischen Liebesfragen gültige Positionen zur Minnetheorie ableiten, die sich in der Kombination dann zu einer »dottrina d’amore« formieren.351 Die Forschung hat die Questioni d’amore so gelesen und nach der Bedeutung dieser Lehre für den Romankontext gefragt.352 Zwei349
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Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 91–101, hier S. 94; vgl. auch Ursula Liebertz-Grün: Zur Soziologie des ›amour courtois‹. Umrisse der Forschung. Heidelberg 1977 (= Beihefte zum Euphorion, 10), S. 36–38; Karnein hingegen liest die iudicia amoris als ›literaturpolitische Satire‹ und schreibt ihnen zudem – im Vergleich mit anderen Teilen des Traktats – keine nennenswerte Wirkung zu, vgl. ders., De Amore in volkssprachlicher Literatur, S. 100–106. »We believe that when you have digested in your mind these few words you will find that our judgment is not fallacious but true and worthy of being followed.« (288) Analog hierzu auch IV,38,1: »e però, come la nostra risposta sia con la verità una cosa, vi mostreremo« (»and so we shall show you how our reply is one with the truth« [269]). Surdich, La cornice di amore, S. 20f. Surdich stellt in Bezug auf die Urteile die Analogie zu den iudicia amoris heraus. Die unbezweifelbare Gültigkeit von Fiammettas Urteilen begründet er insbesondere mit dem vorausgehenden argumentativen Aufwand: »i suoi consigli e i suoi commandamenti sono precise regole d’amore, leggi che i veri amanti devono rispettare« (ebd., S. 22f.). Als »theoretischen Diskurs« mit normativem Anspruch fasst Werner Röcke, Liebe und Melancholie, S. 187, die Liebesfragenepisode in der deutschen Bearbeitung des Filocolo auf. Grundlegend hierfür ist der Aufsatz von Victoria Kirkham, Reckoning with Boccaccio’s »Questioni d’amore«, S. 51–53 und S. 58f. Kirkham sieht in der zentral positionierten Verurteilung der erotischen Liebe am Beispiel der Frage Caleons (Q VII: Soll ein Mann sich verlieben oder nicht?) eine Bewegung aus Widerruf und conversio, die sie zum poetologischen Kern des Romans erklärt: Auch die Romanhandlung weise eine Konversionsstruktur auf, nach der die Konzeption des amore per diletto durch die des amore onesto abgelöst werde. Auch die Arbeiten von Hollander, Boccaccio’s two venuses, S. 34–37, und Smarr, Boccaccio and Fiammetta,
188 felsohne stützt der Text eine solche Lesart. Gleichzeitig aber gibt es Anzeichen im Text, die den Schematismus der Disputationskunst und den Geltungsanspruch der Urteile relativieren und die vorgeführte agonale Kommunikationssituation zu einem geselligen Disputieren werden lassen, dessen Ziel die geordnete, zivilisierte Interaktion, nicht aber eine Einübung in Minnedidaktik ist. Einen ersten Hinweis geben die verhandelten Fragen: Präsentiert, verhandelt und entschieden werden dilemmatische Minnefragen, wie sie die Partimen und jeux partis präfigurieren, die aber gerade kein Urteil enthalten. Für Neumeister hängt diese gattungskonstitutive Ergebnislosigkeit der Partimen ursächlich mit der Struktur der verhandelten Dilemmata zusammen: Es liegt schon in der Konsequenz der von den streitenden Trobadors gewählten lyrischen Form, daß das Dilemma, das dubium, in der Partimen-Diskussion nicht gelöst werden kann, da sowohl die Alternativen des Dilemmas selbst als auch die verabsolutierende jeweilige Parteinahme schlechthin keine Einigung erlauben. […] ihre Diskussion [kann] nicht die Funktion haben, den jeweiligen Zweifelsfall zu entscheiden. Vielmehr wird der Fall zum bloßen Anlaß der Diskussion, und diese selbst erweist sich in ihrer Nutzlosigkeit für eine Entscheidung als Selbstzweck.353
Da der intertextuelle Bezug zwischen Partimen und questioni d’amore insbesondere hinsichtlich des Fragetypus’ – der Alternativfrage mit gleichwertigen Alternativen – besteht, ist Neumeisters Befund prinzipiell auf die questioni zu übertragen: Als tendenziell auf Unentscheidbarkeit hin angelegte Fragen provozieren sie zwar (wie auch die Partimen) die gewitzte, schlagfertige, parteiliche Argumentation, fordern aber nicht notwendigerweise ein Urteil. Das Erfordernis, die Fragen abschließend zu beurteilen, ist hier vielmehr Teil der Spielregel und verdankt sich damit einer zweiten literarischen Traditionslinie, der der cours d’amour. Der Mustertext für die Konzeption der cours d’amour, Andreas’ iudicia amoris, stellt die Entscheidbarkeit der Fragen ins Zentrum, was wiederum verändernd auf den Typus der Fragen zurückwirkt: Nur ein kleiner Teil der Fragen formuliert gleichwertige Dilemmata,354 in der Mehrzahl der Fragen ist der Unausgewogenheit der Alternativen eine Entscheidbarkeit
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S. 34–60, stützen die Annahme einer bipolaren Liebeskonzeption für den Filocolo auf das Urteil zur siebten Frage, ohne in jedem Fall Kirkhams Vorstellungvon einer generellen Abwendung zu teilen. Schünemann, Florio und Bianceffora, S. 38–41, unterzieht die genannten Arbeiten in Bezug auf diese These einer kritischen Revision und kommt zu dem Ergebnis, dass »der Erzähler die Liebe der Protagonisten keineswegs ironisiert und negativ bewertet, sondern ihr vielmehr Vorbildcharakter zugesteht.« (ebd., S. 41). Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 77. Vgl. auch Kasten, Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streitgedichts, S. 28. Dazu sind die Kasus der iudicia III, IV, VI, IX, XI und XX zu zählen.
189 bereits inhärent.355 Für die Einordnung des Stellenwerts der Urteile in der Questioni d’amore-Episode ist dieser Befund zentral. Durch die Kombination von zwei unterschiedlichen literarischen Traditionslinien (dilemmatische Minnefragen und Konzeption des Minnehofs) werden Urteile zu Fragen gefällt, die strukturell auf Unentscheidbarkeit angelegt sind. Damit aber ist ein formaler Grund für die nur sehr bedingte Eignung der Urteile als Minnelehre gewonnen.356 Ein weiterer Hinweis kann dem Umgang mit den Urteilen im Text selbst entnommen werden. So hat insbesondere die Analyse des Urteils zur siebten Frage gezeigt, dass die Gültigkeit des hier minnetheoretisch prekären Urteils unmittelbar ausgesetzt und stattdessen das Gegenteil gesetzt werden kann: Però al presente lasciando con vostro piacere la vostra sentenza, terrò che licito sia l’innamorarsi, prendendo il mal fare per debito adoperare (IV,47,2).357 Dass ausgerechnet das siebte Urteil in einer Reihe von Arbeiten zum Ausgangspunkt einer weitreichenden Hypothesenbildung gemacht wurde,358 muss vor dem Hintergrund dieser geradezu leichtfüßigen textimmanenten Revision des Urteils verwundern. Falls das Urteil zur siebten Frage also allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen sollte, so ist das Personal der Questioni d’amore offenbar davon ausgenommen. Schon Fiammettas anfängliche Bemerkungen lassen erkennen,359 dass die Übernahme einer Position zu den Bedingungen des Spiels gehört, die nicht auf spielexterne Meinungen schließen lassen sollte. Entsprechend ist auch das Urteil ein willkürliches Ergebnis des Spiels, dessen Reichweite – zumindest aus der Sicht der Figuren – begrenzt ist. 355
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357
358 359
Auf die strukturelle Heterogenität der Kasus in den iudicia amoris hat bereits Neumeister hingewiesen, vgl. ders., Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 91–101, bes. S. 94. Wiederum ist der Vergleich mit den iudicia amoris erhellend: Dass sich diese in der Mehrzahl auf Fälle des kanonischen Eherechts beziehen, macht die formale Verbindlichkeit der Urteile plausibel. Die Zusammenstellung der Urteile zu den einzelnen questioni verdeutlicht allerdings, dass diese als dottrina d’amore nicht nur formal, sondern auch inhaltlich untauglich sind. So muss der liebestheoretische Mehrwert der Urteile, dass Eifersucht höher zu bewerten sei als unerfüllte Liebe (Q V), dass Geben ein eindeutigeres Liebeszeichen sei als Nehmen (Q I) oder das Denken an die Geliebte ihren Anblick übertreffe (Q XI), dahingestellt bleiben. Bezeichnenderweise beziehen sich diejenigen Arbeiten, die den questioni d’amore normative Qualität zuschreiben, inhaltlich ausschließlich auf das Urteil zur siebten Frage. Schünemann, Florio und Bianceffora, S. 264–274, bes. S. 270–274, argumentiert dagegen, dass die Szene einen Modus des Sprechens über die Liebe vorführe, der sich gerade nicht normativ auf die Romanhandlung beziehen lasse, sondern das Kompendium der im Roman verhandelten Erscheinungsformen und Wirkungsmechanismen der Liebe vielmehr ergänze. »So setting aside for now your judgment, if you please, I shall hold that it is permissible to fall in love, and consider this reprehensible behavior as if it were proper conduct.« (280) Vgl. Anm. 270 und 352. Vgl. IV,44,1–3 und oben Kapitel 4.3.1.
190 Auch die von den Figuren verwendete Terminologie lässt Rückschlüsse darauf zu, wie die Relation von Frage und Antwort aufgefasst wird. Dabei zeigt sich eine Vielfalt an Auffassungen: So lassen sich die Bezeichnungen, wie sie die Spielregel vorgibt (questione-risposta), als Anspielung auf quaestio und responsum der disputatio lesen. Diese Lesart wird durch jene Fälle gestützt, in denen die Figuren auf die vorgelegte dimanda eine entsprechende risposta 360 bzw. alternativ dazu eine diffinizione oder soluzione 361 erhalten. In diesen Fällen wird der Antwort analog zur Terminologie der Argumentation – zumindest auf der Ebene der Begrifflichkeit – der Rang einer wissenschaftlich begründeten Lösung zugesprochen. In anderen Fällen fordern die Figuren ein Urteil zu ihrer vorgelegten Frage362 und erhalten entsprechend ein giudizio 363 oder eine sentenza.364 Mit diesen Begriffen wird der juristische Charakter der Szene betont, der sich bereits im Ordnungsmodus des Gerichtshofs und in der Ergänzung der Kasus um narrationes zeigt. Abweichend von dieser wissenschaftlichen bzw. juristischen Begrifflichkeit erbitten die Figuren in zwei Fällen lediglich einen Rat (consiglio),365 worauf Fiammetta in einem Fall eine Meinung (parer),366 im anderen ein Urteil abgibt.367 Die verwendete Terminologie verweist auf ein Spektrum von Aussagemodi: Fiammettas Antworten werden sowohl als Lösungen wahrgenommen, die in einem wissenschaftlich-philosophischen Sinne Wahrheit beanspruchen können, als auch als fallbezogene juristische Urteile, die punktuelle Gültigkeit beanspruchen, die ein anderer Richter jedoch auch anders entscheiden könnte. Einen bedeutsamen Unterschied macht demgegenüber die Auffassung der Antwort als Ratschlag: In den Begriffen consiglio und parer verschwindet jene Konnotation des Normativen und Verbindlichen, die für die beiden anderen Wortfelder konstitutiv ist. Die parallele Verwendung unterschiedlich konnotierter Begriffe macht insofern die einsinnige Auffassung der Urteile als verbindliche Lehre unwahrscheinlich. Diese Lesart lässt sich des Weiteren mit Bemerkungen der Figuren stützen, die anzeigen, dass Verhandlung und Urteilsfällung einen spielerischen, unterhaltsamen Mehrwert haben und ihr Ziel nicht allein in der Generierung einer wahren oder richtigen Position besteht. Zwar werden in der Questioni -Episode die jeweiligen Positionen als unvereinbar vorgeführt, die Positionen werden deutlich gegeneinander gestellt, die Argumente der anderen Partei widerlegt und ein Konsens der Par360 361 362 363 364 365 366 367
IV,38,1; IV,38,1. IV,22,3+4. IV,19,10; IV,47,3; IV,51,2; IV,63,9. IV,29,5; IV,36,2; IV,40,3; IV,48,2; IV,49,1. IV, 47,2. IV,27,1; IV,55,10. IV,34,1; ein weiterer Beleg in IV,64,1. IV,58,4.
191 teien ist schon durch die Fragestellung ausgeschlossen, dennoch weisen die einzelnen Figurenreden eine Reihe von Wendungen auf, die Distanz zur Fragestellung, zur eigenen Position oder zum Verfahren als solchem signalisieren. Diese rhetorischen Gesten heben den Antagonismus der Positionen zwar nicht auf, etablieren jedoch entsprechend dem spielerischen Charakter der Runde einen Umgangston, der dem formalen Charakter der gelehrt-juristischen Argumentation entgegengesetzt ist. Hierzu sind vor allem jene Wendungen zu zählen, mit denen Fiammetta die vorgelegte Frage in ihrer Absolutheit relativiert. So antwortet sie auf die Frage des Menedon (Q IV), ob Ehemann, Ritter oder Zauberer die größte Freigebigkeit bewiesen hätten: »in verità che ciascuno fu assai liberale« (IV,32,1).368 Auf die dritte Frage, ob der Starke, der Höfische oder der Weise als Liebhaber gewählt werden sollte, erwidert Fiammetta ebenfalls mit einer Relativierung: »Nullo de’ tre è che degnamente non meriti di bella e graziosa donna l’amore« (IV,28,1).369 Daneben bringen sowohl Fiammetta als auch die Fragesteller den jeweils gegenteiligen Positionen Respekt oder sogar Lob entgegen. Florio erwidert auf Fiammettas Antwort zur ersten Frage: »Discreta donna, assai è da lodare la vostra risposta« (IV,21,1)370 und Fiammetta ihrerseits antwortet auf Ferramontes Entgegnung: »Voi […] argomentate bene al vostro parere difendere« (IV,54,1).371 Häufig folgt auf die Konzession gegenüber der gegnerischen Position ein einschränkender Nebensatz, der den Bogen zur eigenen Position zurück schlägt, so in der Entgegnung Messaallinos (Q XIII): »Certo […] altissima reina, come voi dite credo che sia; ma […]« (IV,69,1).372 Mit der starken Relativierung des eigenen Standpunktes in Fiammettas abschließender Rede zur ersten Frage liegt eine Ausnahme vor, aber auch diese resultiert letztlich wieder in einer Wahrheitsbeteuerung: Ben conosciamo che alla presente questione molto contro alla nostra diffinizione si potrebbe opporre e alle opposte ragioni rispondere; ma ultimamente tale determinazione rimarrrà vera. (IV,22,3)373
Dennoch macht es die zumindest partielle Einsicht in die Legitimität des gegnerischen und die Relativität des eigenen Standpunktes den Disputanten möglich, den autoritativen und definitiven Schlussentscheid wohlwollend zu akzeptieren. So antwortet Florio auf das Urteil zu seiner 368 369
370 371 372 373
»[…] in truth everyone was very generous« (262). »There is none of the three who does not rightly deserve the love of a beautiful and gracious lady« (253). »Wise lady, your reply is much to be praised« (248). »You argue well in defense of your opinion« (285). »Indeed, mightiest queen, […] I believe that it is as you say; but […]« (298). »We well know that much could be said against our resolution of the question at hand, and much responded against these responses; but finally this judgment will remain valid.« (248f.)
192 Frage: »che bene bastava tale soluzione alla sua domanda« (IV,22,4),374 und über eine andere Fragestellerin heißt es: »Era nella vista contenta la gentil donna«.375 Abschließend sind zwei Textbelege anzuführen, die auf Grund ihrer Position zu Beginn und zum Abschluss des vorgeführten Disputationsspiels als programmatische Aussagen hierzu angesehen werden können und ebenfalls geeignet sind, die Frage nach dem Stellenwert der Urteile zu beleuchten. Zu Beginn des Spiels erläutert Fiammetta, welche Art von Antworten ihrer Auffassung nach angemessen seien: Io, per via di festa, lievi risposte vi donerò, sanza cercare le profundità delle proposte questioni, le quali andare cercando più tosto affanno che diletto recherebbe alle nostre menti –. (IV,18,6)376
Ihre Antworten setzen entsprechende Fragen voraus, weshalb sie auch für diese den Rahmen absteckt, indem sie befiehlt: che, […] ciascunos’apparecchiassedi proporre alcuna quistione, la quale fosse bella e convenevole a quello di che ragionare intendeano, e tale, che più tosto della loro gioia fosse accrescitrice, che per troppa sottigliezza o per altro guastatricedi quella. (IV,18,7)377
Fiammettas Spielerläuterung stellt zwei kommunikative Modi gegeneinander: Zum einen setzt sie die rhetorischen Regeln für den kommunikativen Raum der festa. Dieser erfordert Fragen, die schön (bella) und dem Gegenstand angemessen sind (convenevole), sowie entsprechende leichte Antworten (lievi risposte). Zum anderen grenzt sie diesen Modus explizit von einem Sprechen ab, das über die Begriffe profundità (Tiefgründigkeit)378 und sottigliezza (Genauigkeit, Scharfsinn)379 als wissenschaftlichgelehrtes Sprechen bezeichnet ist.380 Diese Dichotomie greift Fiammetta zum Abschluss des Spiels noch einmal auf: Signori e donne, compiute sono le nostre quistioni, alle quali mercé degl’iddii, noi secondo la nostra modica conoscenza avemo risposto, seguendo più tosto festeggevole ragionare che atto di quistionare. E similmente conosciamo molte cose più potersi intorno a quelle rispondere e migliori che noi non abbiamo dette: ma quelle
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»Filocolo replied […] that this solution was quite sufficient to his question« (249). »The lady seemed content from her expression« (254). »As befits this festival, I shall give you light answers, without seeking out the depths of the questions raised, since to go too deeply into them would bring weariness rather than delight to our minds.« (245) »[…] that […] each person should prepare to present some question which would be clever and fit for what they proposed to discuss, and such as might increase their delight rather than spoil it through excessivesubtletyor for any other reason.«(245) Battaglia Bd. 14 (1988), S. 532–534, hier S. 533. Battaglia Bd. 19 (1998), S. 571–572, hier S. 572. Vgl. hierzu: Francesco Bruni: Semantica della sottigliezza. Note sulla distribuzione della cultura nel Basso Medioevo. In: Studi medievali 19 (1978), S. 1–36, hier S. 34–36.
193 che dette sono assai bastano alla nostra festa, l’altre rimangano a’ filosofanti in Attene. (IV,71,2)381
Mit den Bezeichnungen festeggevole ragionare (vergnügliche, heitere Unterhaltung)382 und quistionare (scholastisches Disputieren)383 wird der Gegensatz von geselliger und schulisch-gelehrter Kommunikation auch terminologisch fixiert. Diese dezidierte Abgrenzung scheint nicht nur zu der unmittelbar zuvor breit vorgeführten Argumentationskunst der Figuren in Widerspruch zu stehen, sie steht auch in Kontrast zu den minnekasuistischen Prätexten der Szene, denen wissenschaftlich geschulte Argumentationsverfahren eigen sind und die Gelehrsamkeit explizit für sich reklamieren.384 Das belegen z. B. zwei Bemerkungen in den iudicia amoris. Über das Urteil Ermengards von Narbonne zum neunten Kasus heißt es: »Cui eadem domina philosophica consideratione respondit.«385 Die Einleitung zum 20. Urteil einer unbenannten regina lautet: »Quae mirifica quidem subtilitate respondit.«386 Begrifflich sind es diejenigen Charakteristika der Rede, die wie philosophica consideratio und mirifica subtilitas die Urteile der Damen in den iudicia amoris besonders auszeichnen, gegen die sich Fiammetta mit der Abwehr von sottigliezza und profundità in der Verhandlung der questioni d’amore gleichwohl verwahrt. Francesco Bruni hat gezeigt, dass sottigliezza (zu lat. subtilitas) im Sinne von Gründlichkeit, Genauigkeit, Scharfsinnigkeit und Ausführlichkeit auch noch im späten Mittelalter als zentrales Merkmal gelehrter Rede gilt, das adressatenspezifisch zur Anwendung kommt: Mit Ausnahme der volkssprachlichen Liebeslyrik ist es auf den geistlichen, in lateinischer Sprache geführten Diskurs beschränkt. Für Prosatexte in volgare wird es dezidiert abgelehnt.387 Fiammettas Abwehr von sottigliezza richtet sich insofern weniger gegen schulische Argumentationsverfahren an sich als vielmehr gegen den Anspruch, diese seien in einem philosophisch-theologischen Sinne sottile. Das Verhältnis von geselliger und wissenschaftlicher Kommunikation, wie es sich in Fiammettas Anfangs- und Schlussbemerkungen abzeichnet, ist somit nicht als prinzi381
382 383 384 385 386 387
»Gentlemen and ladies, our questioning is over, and thanks to the gods we have replied according to our modest understanding, and have endeavored to speak playfully rather than reason strictly. And furthermore, we know that much more could be said about these matters, and better things than we have said; but what has been said quite sufficesfor our festivity,so let the rest remain for Athenian philosophers.« (298) Battaglia Bd. 15 (1990), S. 342–346, hier S. 345. Ebd., S. 124. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 51–58 und S. 70–81. Andreas Capellanus, De Amore, S. 444. Ebd., S. 466. Bruni, Semantica della sottigliezza, S. 9, S. 23, S. 31–36.
194 piell ausschließendes definiert. Die Definition des festeggevole ragionare impliziert, wie sich insbesondere in der Verhandlung der Fragen zeigt, keineswegs den Verzicht auf wissenschaftliche Kriterien der Argumentation. Es bedient sich zwar einer rhetorisierten Form und einer dialektisch geschulten Methodik, verzichtet aber auf jede Form von exzessiver Wissenschaftlichkeit:388 Die Antworten zielen nicht auf letzte, vollständige Ergründung der Fragen (sanza cercare le profundità delle proposte questioni ), sondern werden in einem dem Kontext der festa angemessenen Maß beantwortet. Ausgeschlossen werden somit gerade solche Antworten, die auf Letztbegründungen zielen: Diese bleiben den Gelehrten an den Schulen und Universitäten – hier in die Metapher der filosofanti in Attene gekleidet – überlassen.389 Diese Aussage ist ein abschließender Beleg dafür, dass die in den Questioni d’amore gefällten Urteile – wenigstens aus Sicht der handelnden Figuren – keine allgemeine Gültigkeit als dottrina d’amore beanspruchen.390 Entscheidend ist vielmehr, dass dem Modus der argumentativen Auseinandersetzung in der geselligen Disputation des minnekasuistischen Spiels jenseits des gelehrten und juristischen Diskurses ein neuer diskursiver Existenzraum zugewiesen wird.
4.3.4 Zwischenresümee: Gesellige Disputation zwischen Konversation und geselligem Erzählen Mit der Disputation der dreizehn Minnekasus wird dem subtilen Mechanismus sozialer Ordnung in der Questioni d’amore-Episode ein ausgefeiltes System kommunikativer Ordnung an die Seite gestellt, das die paradoxe Struktur mittelalterlicher Geselligkeit insofern zu spiegeln vermag, als auch hier Gleichrangigkeit (der disputierenden Seiten), Agon und schließlich eine hierarchische Rangfolge nebeneinander stehen. Die zunächst ungeregelte verbale Interaktion der Figuren wird auf diese Weise reglementiert, schematisiert, und es werden rhetorisch gegliederte, durchsichtige kommunikative Abläufe erzeugt. Die kommunikative Interaktion der geselligen Runde im Filocolo ist dabei von synthetischem Charakter. Sie partizipiert an unterschiedlichen, nicht immer eindeutig zu bestimmenden Kommunikations- und Redemustern des literarischen, 388
389
390
Tateo, Boccaccio, S. 40, spricht davon, dass die Abwehr der sottigliezza auf den Ausschluss einer »dialettica rigorosa« ziele. In diesem Sinne wäre zu überlegen, ob sottigliezza – anders als von Bruni vorgeschlagen – hier nicht bereits scholastikkritische Konnotationen im Sinne von übertriebener Spitzfindigkeit, Haarspalterei und Pedanterie aufweist, vgl. Battaglia Bd. 19 (1998), S. 571–572, hier S. 572 (Nr. 6). Vgl. Boccaccio, Filocolo, S. 793 (Anm. IV,71,1). In der italienischen Hofmannsliteratur des 15. und 16. Jahrhunderts ist die Unangemessenheit gelehrten Sprechens in der Gegenwart von Frauen ein Allgemeinplatz,vgl. Schnell, Männer unter sich, S. 414f. So auch Tateo, Boccaccio, S. 40.
195 wissenschaftlichen und juristischen Diskurses. Die intertextuelle Analyse wird dadurch erschwert, dass sich die Szene immer nur punktuell auf einen spezifischen Prätext oder auch ein System von Prätexten beziehen lässt: Von den Partimen und jeux partis unterscheidet die Szene das Vorhandensein der Urteile, von den iudicia amoris des Andreas Capellanus und den literarischen Darstellungen minnekasuistischer Fragespiele unterscheiden sie die pro- und contra-Argumentationen der beiden Parteien. Anders als in der scholastischen disputatio werden mit den questioni d’amore nicht theoretische Fragen, sondern konkrete juristische Fälle diskutiert. Das wiederum verbindet die Szene mit den juristischen iudicia des Capellanus-Traktats. Abweichend von der monologischen Redeform des genus iudiciale werden in der Verhandlung der questioni zwei kontrastierende Positionen vorgestellt, deren Abfolge sich nur lose an der disputatio orientiert, deren Beweisführung hingegen sehr deutlich auf dialektische Argumentationsverfahren bezogen ist. Schließlich kennen die Questioni d’amore im Unterschied sowohl zur akademischen disputatio als auch zur Kommunikation vor Gericht lediglich zwei statt drei agierende Instanzen. Die Kombination unterschiedlicher Strukturelemente bzw. – je nach Perspektive – deren spezifische Veränderung in der Questioni d’amoreEpisode führt vor, wie minnekasuistische Diskussionen zu einem geselligen Spiel werden, das punktuell bereits alternative Modi geselliger Unterhaltung aufscheinen lässt. Diese Leistungen der Questioni d’amoreEpisode für eine Geschichte geselliger Kommunikation können in zwei Thesen zusammengefasst werden: 1) Die Dialogisierung von Frage und Antwort in der minnekasuistischen Disputation liefert ein Protomodell des geselligen Gesprächs. Die wichtigste Innovation, die die Questioni d’amore gegenüber der literarischen Tradition vornehmen, besteht in der Dynamisierung der in der Spielregel vorgegebenen basalen Dialogstruktur aus Frage und Antwort. Diese den alternierenden Positionen inhärente Dynamik ist zwar bereits das zentrale Merkmal der Streitgedichte, sie geht aber in der Konzeption der cour d’amour, die das Urteil zur Frage ins Zentrum stellt, verloren: Weder die iudicia noch die minnekasuistischen Fragespiele beinhalten die kontroverse Verhandlung der Kasus. Auch wenn also die Grundstruktur aus Frage und Antwort/Urteil für die Konzeption des Minnehofs konstitutiv ist, wird man doch kaum von einer dialogischen Konzeption – im Sinne eines wechselseitigen Bemühens um eine gemeinsame Position – sprechen können. Vielmehr ist der Gestus der literarischen cour d’amour-Darstellungen, auch der spielerischen Varianten, ein dezidiert monologischer: Wie im Lehrdialog liegt das Gewicht der Interaktion ganz auf der Antwort, auf die allein es hier ankommt. Diese einseitige Gewichtung brechen die Questioni d’amore mit der Er-
196 gänzung der pro- und contra-Verhandlung auf. Der Schwerpunkt der kommunikativen Interaktion verlagert sich dadurch sichtbar vom Urteil auf die dialektische Erörterung. Der Unterhaltungswert des Spiels liegt nun nicht mehr allein in der scharfsinnigen Antwort, sondern in der Art und Weise, wie sich diese Antwort gegen eine alternative behauptet.391 Die Beherrschung der ars disputatoria – also der Einsatz von (rhetorischen) Syllogismen und Beweisinstanzen – gewinnt damit abseits von den akademischen oder juristischen Zielen, die wahre Lösung zu ermitteln oder das richtige Urteil zu fällen, einen autonomen Wert: Sie führt spielerische Scharfsinnigkeit vor, die delectatio erzeugt.392 Während dieser Zusammenhang schon für die Partimen beobachtet wurde,393 ist an der Questioni d’amore-Episode neu, dass die Disputation nicht nur von einem spezifischen Zweck abgelöst wird, sondern zudem in einen dezidiert geselligen Kontext gestellt wird.394 Die Dialogisierung der cour d’amour-Konzeption über den Modus der Disputation eröffnet somit einer ursprünglich wissenschaftlich-juristischen Redeform, der argumentatio, im geselligen Spiel einen neuen Aufführungsraum. Ein geselliges Gespräch ist mit der Dynamisierung der Frage-Anwort-Struktur und ihrer geselligen Kontextualisierung freilich noch nicht gewonnen. Der schematische Ablauf der einzelnen Disputationen, der gleichermaßen als sprachlicher und sozialer Ordnungsfaktor fungiert, und die strenge Reduktion der Interaktion auf jeweils zwei Beteiligte sind die deutlichsten Differenzkriterien zum prinzipiell alle Anwesenden beteiligenden freien Gespräch. Die Beobachtungen zur textimmanenten Relativierung der Urteile, insbesondere die Etablierung eines auf Wechselseitigkeit angelegten Umgangs- oder Konversationstons, lassen aber bereits die Konturen eines geselligen Gesprächs erkennen, das zwar auf geschulte Argumentation setzt, den gemeinschaftlichen Erkenntnisgewinn aber über das akademische Urteil in Einzelfragen stellt. Dieser synthetische Charakter der kommunikativen Interaktion in der Questioni d’amore-Episode ist von Judith Serafini-Sauli als »quasi-scholastic practice of courtly dialogue« treffend bezeichnet worden.395
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395
So auch Schlumbohm, Jocus und Amor, S. 130. Scharfsinnigkeit geht hier mit einer Ausführlichkeit in der Darlegung einher und ist daher nicht vollständig mit dem antiken argutia-Ideal gleichzusetzen.Dieses impliziert immer auch brevitas, zielt also auf eine scharfsinnige Zuspitzung, weshalb die Epigramme Martials schon in der Antike, insbesondere aber auch in den frühneuzeitlichen Rhetoriken als exempla dieses Stilideals gelten. Vgl. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 155–167. Für die Partimen wird ein geselliger Aufführungszusammenhang zwar angenommen, dieser ist aber nicht Teil der Darstellung, vgl. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 24–27 und S. 140–142; Peters, Cour d’amour, S. 120–125. Judith Powers Serafini – Sauli: Giovanni Boccaccio. Boston 1982, S. 25.
197 2) Die aus der Umkodierung der theoretischen zu juristischen Minnekasus resultierende Ergänzung der Fragen um entsprechende narrationes erzeugt ein Protomodell geselligen Erzählens. Anhand der Präsentation der einzelnen questioni konnte gezeigt werden, dass Boccaccio die theoretischen Minnekasus, wie sie in der Partimen-Literatur präfiguriert sind, in der Mehrzahl zu konkreten juristischen Fällen umgestaltet, indem er sie gemäß den klassisch-rhetorischen Vorgaben für das genus iudiciale mit einer fallexponierenden narratio versieht. Einige dieser narrationes enthalten allerdings deutlich mehr als die für das Verständnis des Falls notwendigen Informationen: Sie werden zu Geschichten – zu novelle, so die im Text verwendete Bezeichnung –, die als autonome Redeteile neben die zu disputierenden Fragen treten und somit die gesellige Disputation um ein Moment geselligen Erzählens ergänzen. An den Reaktionen der Figuren konnte gezeigt werden, dass diese Erweiterung des verabredeten Disputationsspiels nicht nur wahrgenommen wird, sondern ihr auch unabhängig hiervon Geltung zukommt. In dieser Hinsicht stehen die Questioni d’amore gattungssystematisch tatsächlich, wie Wesley Trimpi in anderem Zusammenhang formuliert hat, »midway between the iudicia amoris of Andreas and the novelle of the Decamerone.«396 Dass in beiden Befunden zentrales Erklärungspotential für das zweite, weit bekanntere Modell geselliger Kommunikation bei Boccaccio, die gesellige Erzählrunde des Decameron, steckt, ist im folgenden Kapitel auszuführen.
396
Wesley Trimpi: The quality of fiction.The rhetoricaltransmissionof literary theory. In: Traditio 30 (1974), S. 1–118, hier S. 89.
5
Vom questionare zum novellare. Geselliges Erzählen im Decameron
Im Unterschied zum Filocolo steht im Decameron nicht die Diskussion, sondern das Erzählen, nicht die Verhandlung von strittigen Kasus, sondern die narrative Darstellung von Erzähl-Fällen im Vordergrund.1 In diesem Kapitel ist darzustellen, dass und wie die dominante Disputationsstruktur des Filocolo im Decameron einem stark zurückgenommenen Gesprächszusammenhang aus allgemeinen Reaktionen des Kollektivs und zu thematischen Diskursen verbundenen persönlichen Stellungnahmen der einzelnen Erzähler weicht. Das ›Gespräch‹ entfaltet sich hier – im Gegensatz zum Filocolo – nicht länger schematisch im Anschluss an narrativ präsentierte Kasus, sondern bindet die erzählten Novellen in größere inhaltliche Einheiten – teils bestimmt durch das jeweilige Tagesthema, teils bestimmt durch tagesübergreifende thematische Diskurse – ein. Dabei sind die Mechanismen geselliger Formation im Decameron grundsätzlich analog zu denen der Liebesfragenepisode, auch wenn einzelne Inszenierungsmomente deutlich schärfer konturiert werden. Mit dieser neuen Versuchsanordnung entsteht ein zweites Modell geselliger Gesprächsführung, das den Grundstein für die späteren Vorstellungen von ›freier Geselligkeit‹ legt. Gegenstand des folgenden Kapitels ist vor allem die Rahmenerzählung des Decameron. Bevor die Verfahren dargelegt werden, nach denen gesellige Interaktion und Kommunikation im Decameron funktionieren, ist zunächst zu klären, in welcher Weise der Begriff der ›Rahmenerzählung‹ zu verstehen ist. Im Anschluss daran sind einige ausgewählte Forschungspositionen vorzustellen, die den Hintergrund für die hier relevante Fragestellung abgeben.
1
Auf den gattungstypologischen Zusammenhang zwischen Kasus und Novelle wurde bereits in Kap. 4.3.1 hingewiesen, er ist noch einmal Gegenstand in Kap. 5.3.6.
199
5.1
Zum Begriff der ›Rahmenerzählung‹
Der Begriff der ›Rahmenerzählung‹ ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen suggeriert er, dass primär Narratives bezeichnet werde.2 Als Begriff, der maßgeblich am Muster des Decameron entwickelt wurde,3 verdeckt er, dass sich dasjenige, was hier über die Novellen hinaus an Text vorhanden ist, aus ganz heterogenen, verschiedenen Gattungstraditionen zuzuordnenden Bestandteilen zusammensetzt: paratextuelle Bestandteile, in denen sich ein Erzähler an sein Publikum wendet, deskriptive, historiographische Anteile (wie die Pestbeschreibung), narrative (wie den Auszug der brigata aus Florenz) und auch dialogische (wie die kommunikative Interaktion der brigata im Erzählen der Novellen). Dabei kommt den interaktiven Partien in Bezug auf die Entwicklung der Rahmenerzählung als eigenständiger Form ausgehend von den orientalischen und antiken Mustern die wichtigste Funktion zu: In ihnen zeigt sich der unmittelbare Anlass für das Erzählen der einzelnen Geschichten. Der in der kommunikativen Interaktion einer spezifischen Situation geschaffene Erzählanlass ist somit nicht nur das gattungsstiftende Muster einer Rahmenerzählung, in der Schaffung einer fiktiven Erzählsituation liegt auch deren wichtigste Funktion.4 In der literaturwissenschaftlichen Terminologie wird der Begriff heute vor allem narratologisch definiert. Danach zeigt eine ›Rahmenerzählung‹ ein mindestens zweistufiges »Kommunikationssystem«, d. h. die Existenz von wenigstens zwei Erzählinstanzen innerhalb eines literarischen Textes an.5 Zur Differenzierung bzw. ›Stufung‹ der Erzählinstanzen bietet sich das analytische Instrumentarium, das Gérard Genette eingeführt hat, besonders an.6 Für das Decameron ergibt sich damit die folgende Stufung von Erzählebenen: 1) In der extradiegetischen Erzählung tritt ein Erzähler auf, der sich als Autor ausgibt, der sein Werk annonciert und adressiert (Proemio; I, Introd. 2–7), reflektiert (IV, Introd. 2–43) und abschließend kommentiert (Conclusione dell’autore); 2) Von diesem Erzähler hängt die zweite narrative Ebene ab, die intradiegetische Erzählung von der in Florenz grassierenden Pest (I, Introd. 8–48), dem Auszug der brigata aufs Land und der geselligen Runde, zu der sich diese formiert (I, Introd. 49ff.), sowie der Rückkehr der brigata nach Florenz (X, Concl.). Die intradiegetische Erzählung situiert das Novellenerzäh2
3 4 5 6
Vgl. die Begriffsexplikation bei Peter Stocker: Art. Rahmenerzählung. In: RLW 3 (2003), S. 214–216, hier S. 214: »Erzählung, in der eine oder mehrere andere Erzählungen enthalten sind.« Stocker, Art. Rahmenerzählung, S. 215. Klaus Kanzog: Art. Rahmenerzählung.In: RLg 3 (1977), Sp. 321–343,hier Sp. 321f. Stocker, Art. Rahmenerzählung, S. 214. Genette, Die Erzählung, S. 162–167.
200 len als idyllisches Refugium vor dem Hintergrund der Pest und exponiert die Erzähler der Novellen. Im Anschluss hieran konstituiert sich diese Erzählung über 14 Tage hinweg (als dem ihr eigenen Zeitmaß) neben Tagesbeginn und -ausklang (Mahlzeiten, Liedvorträge, Spaziergänge) hauptsächlich über den diskursiven Gesprächskontext; 3) Die 100 Novellen bilden die Ebene der metadiegetischen7 Erzählung, wobei sich an diese im Einzelfall metametadiegetische Erzählungen anschließen können (so in X,4).8 Das, was gemeinhin als ›Rahmenerzählung‹ bezeichnet wird, setzt sich somit aus den ersten beiden dieser Ebenen zusammen, der extradiegetischen und der intradiegetischen Erzählung. Diese narratologische Gliederung der Rahmenerzählung des Decameron bleibt, indem sie die literaturwissenschaftliche Kategorie der Erzählinstanz als einziges maßgebliches Differenzierungskriterium anlegt, bewusst einfach.9 Beide für die Rahmenerzählung ausgewiesenen Erzählebenen sind in der Forschung weiter binnendifferenziert worden.10 Mit der Mono7
8
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Zur unüblichen Verwendung des Präfixes ›meta‹, mit der die Perspektive ›von außen nach innen‹ gewissermaßen verkehrt wird, vgl. Genette, Die Erzählung, S. 163 Anm. 40: »Man muß sich jedoch klarmachen, daß dieser Ausdruck [das Präfix meta-, C. E.] gerade in der Gegenrichtung zu seinem logisch-linguistischem Vorbild funktioniert: Die Metasprache ist eine Sprache, in der man über eine andere Sprache spricht, die Metaerzählung müßte demnach die erste Erzählung sein, innerhalb deren man eine zweite erzählt. Doch schien es mir besser, der ersten Stufe die einfachere und geläufigere Bezeichnung vorzubehalten und somit die Schachtelungsperspektive umzukehren.« Als Bestandteile des Textes, die, weil sie außerhalb der Erzählung liegen, nicht von dieser Klassifizierung erfasst werden, sind weiterhin zu nennen der Titel und die Kapitel markierenden Überschriften (rubriche), die mit Genette ebenfalls als Paratexte zu bezeichnen sind, vgl. Genette, Paratexte, S. 9–21. Anders verfährt bspw. Elisabeth Arend: Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron. Frankfurt a. M. 2004 (= Analecta Romanica, 68): Sie unterscheidet mit dem »Haupterzähler« / »autore« und den Erzählern der brigata lediglich zwei Erzählinstanzen. Diesen ordnet sie jeweils zwei »Grundformen der Rede« zu: eine narrative (»weltenschaffende«) und eine diskursive (ebd., S. 174–178). Im Ergebnis kann Arend mit diesen Kategorien vier Ebenen des Decameron differenzieren, die ihrem Anliegen, das Lachen »im Text« und das Lachen »über den Text« zu trennen, besonders entgegenkommen (ebd., S. 178). Es sei kritisch angemerkt, dass Arends Kombination zweier heterogener texttheoretischer Kategorien (Erzählinstanz und Redemodus) zu einer hybriden Terminologie führt und – zumindest für die Kategorie der Erzählinstanz – nur um den Preis grober Vereinfachung zu haben ist. Zwar ist es durchaus möglich, die hier als extra- und intradiegetisch definierten Erzählebenen mit Arend als diskursive und narrative Rede einer Instanz aufzufassen, aber für die Erzähler der brigata ergeben sich hierbei Ungenauigkeiten: Was Arend als »diskursive Haltung« der brigata bezeichnet, ist – in ihrer eigenen Diktion – strenggenommeneine Kombinationaus »narrativer«Rede des »Haupterzählers« (z. B. in den berichtetenReaktionen der brigata) und tatsächlich»diskursiver« Rede der »Binnenerzähler« (so in den in direkter Rede gehaltenen Kommentaren). So unterteilt bspw. Michelangelo Picone die hier als intradiegetisch definierte Erzählung in zwei Ebenen: die Ebene der Pest und des Auszugs der brigata (livello II ) und die der brigata als erzählender und kommentierender Gruppe (livello III ), vgl.
201 graphie von Joy Hambuechen Potter liegt eine ausführliche, wenngleich methodisch wenig überzeugende Arbeit zur Rahmenerzählung des Decameron vor, die den Text in fünf Rahmen gliedert.11 Diese bestehen aus fünf Erzählwelten,12 denen jeweils eine Erzählung zugeordnet ist.13 Die Kriterien, anhand derer Potter die five frames differenziert, bleibt sie allerdings schuldig, ebenso wie eine klare Definition dessen, was unter ›Rahmen‹ zu verstehen ist.14 Ihre Rahmeneinteilung lässt sich erzähl-
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ders.: Preistoria della cornice del »Decameron«. In: Paolo Cherchi / M. P. (Hrsg.): Studi di italianistica in onore di Giovanni Cecchetti. Ravenna 1988 (= Il Portico, 86), S. 91–104, hier S. 92; sowie ders.: Autore/narratori. In: Renzo Bragantini / Pier Massimo Forni (Hrsg.): Lessico critico decameroniano. Turin 1995 (Studi e strumenti), S. 34–59. Zu den unterschiedlichen Versuchen, das Decameron narratologisch zu beschreiben, vgl. Arend, Lachen und Komik, S. 169–174. Joy Hambuechen Potter: Five frames for the Decameron. Communication and social systems in the cornice. Princeton (New Jersey) 1982; sowie dies.: Boccaccio as illusionist. The play of frames in the Decameron. In: The Humanist Association Review 26 (1975), S. 327–345. Eine wohlwollendeDiskussionder Kategorisierungsvorschläge Potters findet sich bei Arend, Lachen und Komik, S. 174–176. 1) »world of Boccaccio’s book and its readers«, 2) »world of ladies for whom Boccaccio claims to write«, 3) »world of the plague«, 4) »world of the cornice protagonists«, 5) »world of the stories«, vgl. Potter, Five frames, S. 94–96, Abb. S. 96. 1) »tale told about readers’ reactions to Decameron, 2) »tale told about the writing of the Decameron«, 3) »tale told about society during the plague«, 4) »tale told about group«, 5) »tales told by the group«, vgl. Potter, Five frames, S. 94–96. Potter überführtdiese fünfteiligeGliederung in ein Modell aus konzentrischenKreisen (Abb. S. 96), das sie im weiteren als spezifisch mittelalterliches Denk- und Imaginationsmodell zu erweisen sucht und von dem sie eine prinzipielle Tendenz des Decameron ableitet, mit der Zahl 5 zu operieren (ebd., S. 97–103). Da Potter dieses Vorstellungsmodell allererst entwirft, obgleich es sich durch den Text, wie unten zu zeigen ist, nicht ohne weiteres decken lässt, entsteht ein argumentativer Zirkel. Unkommentiert bleibt zudem, warum dieses Modell in Kapitel V durch ein weiteres Modell ersetzt wird, das sich hinsichtlich der Rahmengliederung und der Bezeichnungen markant vom ersten Modell unterscheidet: 1) »World outside of Boccaccio’s written word, inhabited by Boccaccio and his readers; Decameron as experienced by the reader«, 2) »World of Ladies whom Boccaccio consoles with his tales; Tale told by Boccaccio about the Decameron«, 3) »World of society devastated by plague; Tale told by Boccaccioabout society during plague«, 4) »Idyllic world of the group; Tale told by Boccaccio about group«, 5) »World of the group; Tales told by group« (S. 121). Dieses Modell macht die Schwächen von Potters Buch besonders deutlich: Sie resultieren u. a daraus, dass die Verfasserin sich keine – narratologisch begründete – Rechenschaft über die Kriterien ihrer Einteilung ablegt. So ist die in diesem Modell auf den unterschiedlichen Rahmenebenen gleichermaßen angeführte Kategorie des Autors ›Boccaccio‹unsachgerecht,und auch die Systematik der Rahmeneinteilung, etwa die Unterscheidung zwischen dem vierten und fünften Rahmen oder die Einbeziehung der Welt des Lesers, ist kategorial fragwürdig. Die folgenden Ausführungen beziehen sich daher auf das erste Modell. Potter, Five frames, S. 120–124. In expliziter Absetzung von literaturwissenschaftlichen bzw. philologischen Zugängen (ebd., S. 6 und hier Anm. 8 [S. 158–161]) zieht Potter für ihre Untersuchung theoretische Modelle aus der Soziologie (Gregory Bateson) und Anthropologie (Erving Goffman) heran, ohne die Theorien und ihre jeweiligenwissenschaftlichen Herkunftskontextevorzustellen und auszuführen, in-
202 theoretisch nur dann rechtfertigen, wenn als Kriterien neben der Erzählinstanz auch die Adressaten des Textes (Rahmen 1: der allgemeine, abstrakte – kritische – Leser, Rahmen 2: die besonderen – von Liebeskummer geplagten – Leserinnen) und die Objekte der Erzählung (Rahmen 3: die Pest in Florenz, Rahmen 4: die brigata) herangezogen werden. Für den ›Ort des Erzählens‹15 lässt sich aber weder ein substantieller noch ein kategorialer Unterschied zwischen den an die allgemeinen Leser gerichteten, Vorwürfe gegen das Decameron vorwegnehmenden, und den an die liebeskranken Damen gerichteten Passagen der extradiegetischen Erzählung (Rahmen 1 und 2) in Anschlag bringen. Im Fall der intradiegetischen Erzählung ist die Situation etwas komplizierter. Hier ist zwischen der Beschreibung der Pest und der Geschichte der brigata eine weitere Instanz eingefügt: A me medesimo incresce andarmi tanto tra tante miserie ravolgendo: per che, volendo omai lasciare star quella parte di quelle che io acconciamente posso schifare, dico che, stando in questi termini la nostra città, d’abitatori quasi vota, addivenne, sí come io poi da persona degna di fede sentii, che nella venerabile chiesa di Santa Maria Novella […] si ritrovarono sette giovani donne (I, Introd. 49 [Hervorhebung C. E.]).16
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wiefern sie für die Analyse eines literarischen Textes fruchtbar zu machen sind. Im weiteren werden vor allem die Begriffe frame shift und frame break verwendet: Mit frame shift werden jene Orte innerhalb des Textes bezeichnet, an denen zwei der postulierten Rahmen aneinander stoßen bzw. einander unerwartet oder überraschend ablösen (ebd., S. 122f.). Der Begriff soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die narrativen Ebenen des Decameron nicht in eine Sukzession gebracht sind, wie sie die hierarchische Stufung des Modells suggeriert, sondern – wie z. B. in der Einführung zum vierten Tag – unvorhergesehen wechseln. Dagegen bleibt der Begriff frame break mehr als vage. Potter überträgt hierfür Goffmans Konzept nicht-kontextualisierten, unangemessenen Verhaltens als eines psychologischen ›Rahmenbruchs‹ auf sprachliche Registerwechsel innerhalb eines Textes. Es bleibt zu konstatieren, dass die narrativen Ebenen des Textes mit der kulturanthropologischen Begrifflichkeit nur unvollkommen erfasst werden. Vgl. Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 7 2007, S. 75. »Doch es verdrießt mich, noch länger in diesem Elend zu verharren, und so will ich alles Vermeidliche weglassen und nur noch sagen, daß unsere Vaterstadt zu dieser Zeit von fast allen ihren Einwohnern verlassen war. Da geschah es – wie ich später von einem glaubwürdigen Menschen hörte –, daß sich in der ehrwürdigen Kirche von Santa Maria Novella […] sieben junge Damen trafen.« (I, 25) Das Decameron wird zitiert nach Giovanni Boccaccio: Decameron. Nuova edizione rivista e aggiornata a cura di Vittore Branca. 2 Bde. Turin 1992. Die Angabe in Klammern ist wie folgt aufzuschlüsseln: Giornata, Abschnitt bzw. Novelle, Absatz. Deutsche Übersetzungen des italienischen Textes werden für längere, im Haupttext behandelte Zitate gegeben; verwendet wird hierfür Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Mit Holzstichen von Werner Klemke. Von Ruth Macchi nach der von Charles S. Singleton besorgten kritischen Ausgabe aus dem Italienischen übersetzt. 2 Bde. Berlin 1999. In der Klammer sind jeweils Band und Seitenzahl angegeben.
203 Ist die ›glaubwürdige Person‹ hier lediglich Gewährsmann des Erzählers und Garant für die Glaubwürdigkeit der folgenden Geschichte, oder wird sie als Erzähler der folgenden – dann metadiegetischen – Erzählung eingeführt? Erzähllogisch spricht einiges für die zweite Annahme: Wenn der Erzähler der intradiegetischen Erzählung die Geschichte der brigata nur aus zweiter Hand erzählt, wie er mit dem Nebensatz sí come io poi da persona degna di fede sentii selbst erklärt, dann schiebt sich die ›glaubwürdige Person‹ als weitere Erzählinstanz zwischen ihn und die Geschichte der brigata und eröffnet eine neue narrative Ebene. Dass dieses dennoch nicht der Fall ist, lässt sich am ehesten als Ergebnis syntaktischer Logik beschreiben. Der Erzähler der intradiegetischen Erzählung trägt die Geschichte der brigata als Vervollständigung der Pestbeschreibung vor, wobei er zunächst einiges willentlich unterschlägt (volendo omai lasciare star quella parte di quelle che io acconciamente posso schifare). Mit der Wendung per che […] dico che addiert er die Geschichte der brigata zu dem schon Berichteten hinzu und stellt sie somit an denselben narrativen Ort wie die Pestbeschreibung. Wiewohl er zugibt, nicht der ursprüngliche Erzähler dieser Geschichte zu sein, gibt er sich im folgenden als solcher aus und lässt auch fernerhin keinen Zweifel an seiner autorisierten Erzählerrolle aufkommen. Diese stellt sich in erster Linie darüber her, dass er über die Chronologie seiner Geschichte verfügt und sich dieser verpflichtet weiß, auch wenn er erst später (poi ) selbst von ihr erfahren habe. Die suggerierte Nachzeitlichkeit der Informationsübergabe sprengt somit weder die Chronologie der Ereignisse, noch wird der Berichterstatter der Pest von einer neuen Erzählinstanz abgelöst. Damit aber wird – nach den Kriterien von Genette – keine neue Erzählebene geschaffen.17 Die Rahmenerzählung des Decameron ist demnach narratologisch in lediglich zwei Ebenen zu gliedern (extradiegetische und intradiegetische Erzählung), innerhalb dieser beiden Ebenen muss aber mit unterschiedlichen Adressaten und Gegenständen gerechnet werden. Darüber hinaus ist die Distribution der Erzählebenen über den gesamten Text hinweg in die Betrachtung mit einzubeziehen. Die extradiegetische Erzählung setzt mit dem Proemio ein und schließt den Text mit der Conclusione dell’autore ab. Gäbe es nur diese beiden Komponenten, hätte man es nicht mit einem Erzählrahmen, sondern mit – wiederum in der Diktion 17
Es ist symptomatisch für Potters Untersuchung, dass sie diesen Satz, der für ihre Differenzierung der Rahmen 3 und 4 argumentativ heranzuziehen wäre, ignoriert und ihn später als Teil der Fiktionalisierungsstrategie des Autors aufführt: »The whole of frame four is framed in its turn by that old standby »as I heard from a trustworthy witness« (I, Introd. 49), which distances the author from the core of the Decameron (frame five) and also sets up a fiction-purporting-to-be-truth in contrast with the fiction-purporting-to-be-fiction in the Preface.« (S. 138–139). Auch dieses Beispiel zeigt die unzureichende Begründung der verwendeten Kategorien.
204 Genettes – Paratexten zu tun.18 Die extradiegetische Erzählung konstituiert sich somit erst dadurch, dass die Erzählinstanz des Proemio die Einführung zum ersten Tag fortsetzt (I, Introd. 2–7). Die Wiederaufnahme dieser Ebene in der Introduzione zum vierten Tag (IV, Introd. 2–43) ist bereits als narrative Strategie zu werten, den einfachen, rahmenden Charakter dieser Erzählung zu durchbrechen. Der Erzählmodus der extradiegetischen Erzählung besteht ausschließlich in Erzählerrede, die Erzählinstanz ist auktorial, wobei der Erzähler als Figur stark in den Vordergrund tritt. Die intradiegetische Erzählung zerfällt nicht nur in zwei thematische Blöcke, diese unterscheiden sich auch hinsichtlich ihres Ortes innerhalb des Textes sowie ihrer erzählerischen Struktur. Während die Pestbeschreibung ihren Ort ausschließlich in der Einführung zum ersten Tag hat (I, Introd. 8–48), erstreckt sich die Geschichte der brigata von dieser ausgehend über den gesamten Text hinweg bis in die Conclusione des zehnten Tages. Auch die Pestbeschreibung weist einen homogenen Erzählmodus auf und bedient sich ausschließlich der Erzählerrede, wobei hier die auktoriale Erzählinstanz gegenüber der extradiegetischen Erzählung stark neutralisiert ist, der Erzähler als Figur somit kaum in Erscheinung tritt. Dagegen zerfällt die Geschichte der brigata in einen narrativen, von Erzählerrede dominierten und einen diskursiven, von Figurenrede bestimmten Teil. Der narrative Teil enthält den Auszug der Gruppe von Florenz aufs Land, ihre Selbstkonstitution als Erzählrunde, die Aktivitäten, die außerhalb des Erzählens stattfinden, und ihre Rückkehr nach Florenz. Der diskursive Teil rahmt die metadiegetischen Erzählungen der Novellen. Er umfasst die Kommunikation, die während der Erzählphasen der einzelnen Tage zwischen den Mitgliedern der brigata stattfindet. Der Erzählmodus besteht zum Teil aus Erzähler-, zum größeren Teil jedoch aus Figurenrede. Zwar nimmt der diskursive Teil der intradiegetischen Erzählung jeweils nur schmalen Raum ein, dafür tritt er aus der Perspektive des Gesamttextes betrachtet am häufigsten in Erscheinung. Narrative Ebenenwechsel sind zwischen den metadiegetischen Erzählungen und dem diskursiven Teil der intradiegetischen Erzählung am zahlreichsten zu finden, sie konstituieren den im Text inszenierten Erzählvorgang. Die Untersuchung wird sich insbesondere mit diesem Teil der Rahmenerzählung auseinandersetzen.
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Genette, Paratexte, S. 157–189; die Abgrenzung der Rahmenerzählung als »fiktionsinternem« vom Vorwort als »fiktionsexternem« Kommunikationssystem nimmt auch Stocker, Art. Rahmenerzählung, S. 214f., vor.
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5.2
Die Rahmenerzählung in der Forschung
Die Rahmenerzählung des Decameron hat eine Vielzahl von Lektüren provoziert, und zwar nicht nur deshalb, weil es sich offenkundig um eine »komplizierte Form« handelt,19 sondern weil neben den Novellen auch die selbstbewusste, lustvolle Inszenierung volkssprachlichen, geselligen Erzählens als maßgebliche Innovation des Werks angesehen werden muss.20 Hier finden nur solche Arbeiten Berücksichtigung, die die Fragestellung der Arbeit berühren. Sie werden nach den folgenden drei Gesichtspunkten geordnet: 1) den intertextuellen Mustern für die Darstellung geselligen Erzählens, 2) der Errichtung einer modellhaften Gemeinschaft auf dem Land vor dem Hintergrund der in der Stadt grassierenden Pest und 3) dem Verhältnis von Novellen und Gesprächskontext der brigata. Zum ersten Aspekt: Die Frage, auf welche Prätexte das im Decameron vorgeführte gesellige Erzählen zu beziehen sei, hat die Forschung ausgiebig beschäftigt und zwei unterschiedliche Antworten hervorgebracht. Als dominant hat sich innerhalb der Decameron-Forschung die Position erwiesen, die das gesellige Erzählen vor allem auf antike, orientalische und mittelalterliche Erzählsammlungen bezieht;21 geringere Beachtung hat die Position gefunden, die die motivlichen Zusammenhänge zwischen dem cornice des Decameron und den opere minore Boccaccios herausstellt und diese auf die ikonographische und rhetorische Tradition der mittelalterlichen Liebesgärten und Liebeshöfe bezieht.22 Eine 19
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André Jolles: Einleitung [zur deutschen Ausgabe von 1921]. In: Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Mit 110 Holzschnitten der italienischen Ausgabe von 1492. Deutsch von Albert Wesselski. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1972, S. VII–LXXXVII, hier S. IX. So z. B. Wehle, Novellenerzählen, S. 89–109; sowie ders.: Der Tod, das Leben und die Kunst. Boccaccios Decameron oder der Triumph der Sprache. In: Arno Borst u. a. (Hrsg.): Tod im Mittelalter. Konstanz 1993 (= Konstanzer Bibliothek, 20), S. 221–260, hier S. 226–235. Vgl. hierzu den Überblick bei Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 795–804; sowie die Arbeiten von MichelangeloPicone: Preistoria della cornice,S. 91–104; ders.: Tre tipi di cornice novellistica: Modelli orientali e tradizione narrativa medievale. In: Filologia e Critica 13 (1988), S. 3–26. Auch Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. München 1969 (= Theorie und Geschichteder schönen Künste, 8), S. 122–135, sieht den Decameron-Rahmen in dieser Tradition. Vgl. besonders Surdich, La cornice di amore, S. 225–285; sowie jene Arbeiten, die die Darstellung der Gärten des Decameron-Rahmens in die literarische Tradition des locus amoenus eingeordnet haben, vgl. Edith Kern: Die Gärten in der Rahmenerzählung des ›Decameron‹. In: Peter Brockmeier (Hrsg.): Boccaccios Decameron. Darmstadt 1974 (= Wege der Forschung, 234), S. 244–270; Jonathan Usher: Frame and novella gardens in the »Decameron«. In: Medium Aevum 58,2 (1989), S. 274–285. Außerhalb der Boccaccio-Forschung im engeren Sinne haben vor allem Thomas F. Crane, Italian social customs, S. 53–93, und von kunsthistorischer Seite
206 intertextuelle Untersuchung, die das systematische Erklärungspotential beider Positionen auslotete, fehlt bis heute. Dabei wurden in den Anfängen der Decameron-Philologie beide Positionen im Zuge eines positivistischen Anspruchs auf vollständige Erschließung und Auflistung aller ›Quellen‹ zunächst wertfrei nebeneinander gestellt. Beispielhaft für diesen Zugriff ist die umfassende Arbeit von Otto Löhmann zu »Quellen und Nachwirkungen« der Rahmenerzählung des Decameron (1935). Löhmann präsentiert mit seiner Untersuchung das Gegenstück zu motivgeschichtlichen Arbeiten wie denen von Marcus Landau und Alfred C. Lee, die vor allem die Novellen in den Blick nehmen und die Rahmenerzählung weitgehend ausblenden.23 Seine Arbeit bemüht sich um eine vollständige Zusammenstellung all jener Texte, die sowohl in einem engeren als auch weiteren Sinne formale Analogien zur Rahmenerzählung des Decameron aufweisen. Die umfassende Zusammenstellung literarischen Materials bei Löhmann ist somit vor allem – wie schon der Untertitel ankündigt – ein »Beitrag zur Geschichte der Rahmenerzählung«. Löhmanns Zusammenstellung umfasst: 1) indische und orientalische Texte, deren Rezeption für das europäische Mittelalter überliefert ist,24 2) Texte des klassischen Altertums, d. h. neben Texten, in die Erzählungen im weitesten Sinne eingefügt sind,25 vor allem Texte, die im Rekurs auf Platons Symposion das Motiv des convivium verwenden,26 3) Texte der mittellateinischen Literatur, vor allem solche, in denen exempla innerhalb
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Paul F. Watson auf diesen Zusammenhang hingewiesen, vgl. The Garden of Love in Tuscan Art of the Early Renaissance. Philadelphia 1979, S. 61–75. Marcus Landau: Die Quellen des Decamerone. 2., sehr verm. u. verb. Aufl. Stuttgart 1884, verhandelt die Rahmenerzählung nur ganz am Rande, ebd., S. 314–316. Er sieht es als eindeutigan, dass die erzählendenTöchter des Minyas in Ovids Metamorphosen das »Original von Boccaccio’s lieta brigata« darstellen (ebd., S. 315). Die Arbeit von Alfred Collingwood Lee: The Decameron. Its sources and analogues. London 1909, befasst sich nicht mit der Rahmenerzählung. Z. B. das Pancatantra, die Historia septem sapientum und die Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi, vgl. Löhmann, Rahmenerzählung, S. 8–46. An diese Stelle gehörte innerhalb einer Geschichte der Rahmenerzählung zweifellos auch die Scheherazade-Handlung aus den Geschichten aus 1001 Nacht. Sie findet bei Löhmann keine ausführliche Erwähnung, da sie weder im Mittelalter noch in der Renaissance überliefert ist und erst 1781 wiederentdeckt wurde (ebd., S. 45), eine Tatsache, die in der Forschung zur Rahmenerzählung und zu Boccaccios Decameron-Rahmen zum Teil übersehen wird, vgl. z. B. Jolles, Einleitung, S. XIII–XV, oder Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 123. Löhmann, Rahmenerzählung, S. 47–55 nennt die Odyssee (Gesang 9–12), sowie Beispieleaus der griechischenRomanliteraturund Novellistik, die Dialoge Lukians und Ovids Metamorphosen. Z B. Petronius’ Cena trimalchionis, Plutarchs Tischgespräche oder das Gastmahl der sieben Weisen des Pseudoplutarch,vgl. Löhmann, Rahmenerzählung, S. 56–57. Insgesamt billigt Löhmann den angeführten Szenen aus der klassischen Literatur als Muster für das Schachtelungsprinzipdes Decameron-Rahmensjedoch nur einen geringen Modellcharakter zu, vgl. ebd., S. 58.
207 von Chroniken oder Dialogen argumentativ verwendet werden,27 und 4) volkssprachliche Texte, sofern sie als Muster für Boccaccios Frühwerk dienten, insbesondere die literarische Minnekasuistik.28 Die okzidentalischen Fassungen des Pancatantra und der Historia septem sapientum betrachtet Löhmann als Prätexte des Decameron im engeren Sinne,29 als zweite wichtige Bezugsgröße für den DecameronRahmen nennt er die Questioni d’amore-Episode des Filocolo und die Nymphenrunde des Ameto.30 In Anlehnung an Pio Rajna bezeichnet er die beiden Szenen als »Decameronrahmen im keimzustand«.31 Der Wert von Löhmanns Arbeit liegt bis heute darin, dass sie die Grundlagen für eine Beschäftigung mit der Rahmenerzählung auf der Basis überlieferter literarischer Texte legt. Während er zuverlässig alle potentiellen Texttraditionen nennt, die für die Rekonstruktion einer ›Geschichte der Rahmenerzählung‹ im allgemeinen und als Prätexte für das Decameron im besonderen heranzuziehen sind, bleiben seine Aussagen im Detail, die Adaptation der Muster im Decameron betreffend, unspezifisch. Auch wenn in der neueren Forschung in Übereinstimmung mit den Ergebnissen Löhmanns prinzipiell Vielzahl und Heterogenität der Prätexte des Decameron-Rahmens genannt werden,32 sind in einzelnen Studien lediglich punktuelle intertextuelle Bezüge in den Blick genommen worden. Ein Grund dafür liegt in dem Versuch, die Rahmenerzählung gattungssystematisch als Ursprung des Romans zu bestimmen,33 der eine Fokussierung auf den Vorgang des Inserierens von Erzählungen begünstigt und somit vor allem jene Texte als Modelle der Rahmenerzählung plausibel macht, in denen narrative Inserate zu beobachten sind. In dieser Linie stehen die Arbeiten von Michelangelo Picone, der die Rezeption der orientalischen Erzählsammlungen im lateinischen und volkssprachlichen Mittelalter als zentrale Mustertexte für die Konzeption des Deca-
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Z. B. die Dialoge Papst Gregors, der Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach und die Ecbasis captivi, vgl. Löhmann, Rahmenerzählung, S. 58–62. Löhmann, Rahmenerzählung, S. 93–111. Ebd., S. 68 Ebd., S. 93–111. Ebd., S. 75. Battaglia Ricci, Giovanni Boccaccio, S. 795–804, sieht den Rahmen als Ergebnis rhetorischer contaminatio, die Boccaccio »la convocazione e la concentrazione di un numero incredibile di modelli, e una loro totale risemantizzazione« erlaube (S. 801). Vgl. auch Picone, Preistoria della cornice, S. 94; sowie Muscetta, Boccaccio, S. 156–157. So bei René Wellek / Austin Warren: Theory of Literature. London u. a. 3 1985, S. 221: »The frame-story, enclosing other stories is, historically, a bridge between ˇ anecdote and novel.«; sowie Viktor Sklovskij: Theorie der Prosa. Hrsg. und aus d. Russischen übers. von Gisela Drohla. Frankfurt a. M. 1966, S. 80–88, hier S. 80: »Der Vorläufer des Romans war die Novellensammlung.«
208 meron-Rahmens ansieht.34 Picones Versuch, die Rahmenerzählung des Decameron als eigenständige ars narrandi zu erweisen, die das Erzählen in bestimmte Funktionszusammenhänge stellt, ist entsprechend auf eine Funktionstypologie bezogen, die an den orientalischen Sammlungen erarbeitet ist.35 In der deutschen Forschung hat mit dem von André Jolles geprägten Begriff der ›Halserzählung‹36 eine Variante dieser Typologie besondere Aufmerksamkeit gefunden: das Erzählen gegen den Tod.37 Jolles’ Definition umfasst solche Erzählungen, in denen jemand sein Leben durch das Erzählen einer Geschichte rettet oder im Erzählen eine gefährliche Frist verstreichen lässt.38 Paradigmatisch für diesen Typus ist die – im europäischen Mittelalter nicht überlieferte – Rahmenhandlung zu den Geschichten aus 1001 Nacht und der Rahmen der sowohl lateinisch als auch volkssprachig weit verbreiteten Exempelsammlung der Sieben weisen Meister. Von diesen beiden prominenten Texten leitet Jolles ab, dass eine »Rahmenerzählung […] also, außer einer Reihe Illustrationen zur Lebensweisheit und Moral, meistens auch noch eine Halserzählung« sei.39 Als eine Halserzählung und damit einen zweckorientierten und nicht zuletzt ›moralischen‹ Text40 fasst Jolles auch das Decameron auf. Dabei sieht er in dem Kontrast zwischen der Pest in Florenz und der Erzählrunde der brigata vor allem das Motiv der Terminüberwindung am Werk.41 Da die brigata den temporären Rückzug allerdings freiwillig vorzeitig abbricht und nach Florenz zurückkehrt, ohne dass die Verhältnisse dort nach nur 14 Tagen andere sein können, ist 34
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Picone, Preistoria della cornice, S. 91–104, sowie ders., Tre tipi di cornice novellistica, S. 3–26. Picone, Tre tipi di cornice novellistica, S. 11f., unterscheidet im Rekurs auf ˇ Sklovskij, Theorie der Prosa, S. 80–88, folgende drei Typen: 1) »racconti per ritardare il compimento di un’azione, di solito per rinviare e possibilmente annullare un’esecuzione capitale«, 2) »racconti per provare una certa idea, piú particolarmente per ammaestrare un allievo di solito di estrazione regale« und 3) »racconti in itinere, per intervallare le tappe, o per alleviare la noia del viaggio«, vgl. auch ders., Preistoria della cornice, S. 95f. Jolles, Einleitung, S. XV. Jolles bildet den Begriff in Analogie zum literarischen Motiv des ›Halsrätsels‹, nach dem sich Figuren mittels komplexer oder unlösbarer Rätsel entweder den Hals und damit das Leben retten oder andere hierdurch dem Tod ausliefern. In Picones Typologie am ehesten vergleichbar mit der Kategorie 1, vgl. ders., Tre tipi di cornice novellistica, S. 11. Jolles, Einleitung, S. XVf. Ebd., S. XVI. Der Nachweis, dass das Decameron ein »moralisches Buch« sei, und damit die Rettung des Textes vor dem Hintergrund seiner Rezeptionsgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, ist Jolles besonderes Anliegen, vgl. Einleitung, S. VII und XVIII. Jolles, Einleitung, S. XVII: »Die Geschichten, die sie sich bald erzählen werden, dienen, wenn nicht direkt, so doch indirekt dazu, den fatalen Termin, der über Tod und Leben entscheidet, zu überwinden.«
209 diese Deutung nur eingeschränkt plausibel.42 Als Terminus, der die spezifisch polare Konstellation in Boccaccios Rahmenerzählung gattungstypologisch verständlich macht, hat Jolles’ Begriff der Halserzählung in der Forschung jedoch weitere Verwendung gefunden, so bei Hans-Jörg Neuschäfer und Walter Haug.43 Zwar kommen die genannten Arbeiten in Bezug auf die Frage, wie das Verhältnis von Rahmen und Novellen zu werten sei, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass für die Frage nach dem funktionalen Stellenwert des Rahmens über den heuristischen Begriff der Halserzählung ausschließlich die orientalisch-mittelalterlichen Texte in den Blick kommen, während andere Prätexte ausgeblendet bleiben. Während Carlo Muscetta den Bezug des Decameron zu den antiken konvivialen Texten, insbesondere zu Macrobius Saturnalien, hervorgehoben hat,44 steht in der Arbeit von Luigi Surdich das – Decameron-Rahmen und opere minore verbindende – Motiv des aus der höfischen Liebeskasuistik adaptierten cornice di amore im Zentrum.45 Vor dem Hintergrund der starken Fixierung der Decameron-Forschung auf die Bezugsgröße der orientalisch-mittelalterlichen Erzählsammlungen und dem verhältnismäßig geringen Stellenwert, der den opere minore insgesamt in der Boccaccio-Forschung zugemessen wird, besteht das Verdienst der Arbeit Surdichs zweifellos darin, diesen Zusammenhang wieder in das Bewusstsein der Forschung gerückt zu haben.46 Gleichzeitig erscheinen mir wenigstens zwei Aspekte problematisch: Zum einen sind die einzelnen Kapitel zu den Frühwerken Boccaccios, wie Surdich selbst betont,47 nicht im Zusammenhang, sondern unabhängig voneinander entstanden. Das zieht nicht nur nach sich, dass sie hinsichtlich der Fragestellung und des methodischen Zugriffs erheblich differieren, sondern auch, dass die Ergebnisse so gut wie gar nicht in einen übergreifenden Zusammenhang gestellt werden. Die Analysen zum cornice42
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Vgl. Decameron X, Concl. 6 und 16; hierzu auch Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 128–130; Wehle, Der Tod, S. 232–235. Beide Autoren verwenden den Begriff als allgemeine Bezugsgröße und betonen die für das Decameron spezifischen Veränderungen: Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 123 und 128f.; Walter Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom Pancatantra zum Dekameron. In: Haug / Wachinger (Hrsg.), Exempel und Exempelsammlungen, S. 264–287, hier S. 275 und 281f. Muscetta, Boccaccio,S. 156–157. Die Arbeit von Laura SanguinetiWhite: La scena conviviale e la sua funzione nel mondo del Boccaccio. Florenz 1983 (= Saggi di »Lettere italiane«, 32), bezieht sich dagegen nicht auf das convivium als literarisches Geselligkeitsmodell, sondern auf Gastmahlszenen wie etwa die in X,4. Surdich, La cornice di amore, S. 225–283. Es ist symptomatisch für die Gewichtungen innerhalb der Boccaccio-Forschung, dass Surdichs Arbeit zwar wahrgenommen wurde, aber kaum produktive Auseinandersetzungen provoziert hat. Surdich, La cornice di amore, S. 9f.
210 Motiv sind deskriptiv auf das je einzelne Werk bezogen, eine intertextuellvergleichende Perspektive auf die Veränderungen des Motivs innerhalb der opere minore bleibt hingegen ausgeblendet. Der Grund hierfür mag darin liegen, dass Surdichs Interesse insgesamt weniger auf narratologische Zusammenhänge als vielmehr auf die ›ideologischen‹ Implikationen des cornice-Motivs abzielt. Er identifiziert das cornice-Motiv ausgehend von seiner Herkunft aus dem Kontext höfischer Literatur und Kultur als eindeutig ›aristokratisch‹. Als solches steht es für das mittelalterliche Erbe bei Boccaccio und wird von Surdich mit Beobachtungen kontrastiert, die dem alten, aristokratischen (aristocratico-feudale ) einen neuen, bürgerlichen (borghese) Werthorizont entgegensetzen.48 Damit aber ordnet sich Surdichs Arbeit durchaus traditionell in die zentrale Forschungsdebatte ein, ob Boccaccio noch als Autor des Spätmittelalters oder schon als Autor der Renaissance zu gelten habe. Festzuhalten ist somit, dass eine Arbeit, in der das strukturelle und semantische Potential der intertextuellen Bezüge des Decameron-Rahmens zu den verschiedenen Prätext-Gruppen – wie sie etwa bei Löhmann zusammengestellt sind – vergleichend analysiert würde, nicht existiert. Die bisher vorliegenden Ergebnisse bleiben somit notwendig punktuell und einseitig: Während vor allem der Bezug auf die orientalischmittelalterlichen Prätexte, über die sich die Opposition von Pest- und Idyllen-Szenario im Decameron-Rahmen gattungsfunktional erklären lässt, im Blickpunkt der Forschung steht, stehen sowohl die antike Tradition des conviviums als auch die über die opere minore vermittelte Tradition der höfischen Minnekasuistik – über die sich vor allem Aussagen zum Verhältnis von Rahmen und Novellen treffen ließen – eher im Hintergrund. Auch die den Werthorizonten in Boccaccios Frühwerk gewidmete Arbeit von Surdich stellt – indem sie vergleichende narratologische Fragen weitgehend ausblendet – keine grundsätzliche Revision dieser Forschungslage dar. Für die Frage nach den Darstellungsprinzipien geselligen Erzählens muss die starke Ausrichtung der Forschung auf die orientalischmittelalterlichen Rahmenmodelle zunächst einmal ernüchtern, denn der soziale Aspekt des Erzählens bleibt hier weitgehend auf der Strecke, und zwar gerade weil diese als Halserzählungen in extremer Weise – nämlich auf Leben und Tod – funktionalisiert sind. In beiden Fällen steht das Erzählen in einem logisch-argumentativen, zweck- und zielorientierten Kontext. Weder Scheherazade noch die sieben Meister der Historia septem sapientum erzählen zum Vergnügen oder um mit oder durch ihre Erzählungen eine gesellige Gemeinschaft zu erzeugen. Ganz im Gegenteil liegt die Motivation für das Erzählen in sozialen Spannungen, die 48
Surdich, La cornice di amore, S. 49–53, S. 244–265 und S. 277–283.
211 zwischen den Erzählenden und ihren Adressaten bestehen, und die sich im Vollzug des Erzählens auch zunächst einmal halten und erst zum Ende hin aufgelöst werden können. Für die intertextuelle Lokalisierung des geselligen Erzählens im Decameron sind insofern notwendigerweise die beiden anderen Prätextgruppen aufzusuchen: die antike Tradition des conviviums und die mittelalterlich-höfische des Liebesgartens und -hofes, wie sie Boccaccio selbst im Filocolo gestaltet hat. Zum zweiten Aspekt der Relation von Pest und brigata: Die Schwerpunktsetzung der Forschung im Bereich der orientalischen Mustertexte hat bereits deutlich gemacht, dass die strukturelle Opposition zwischen der Peststadt Florenz und der modellhaften Gemeinschaft der brigata auf dem Land in der Forschung zur Rahmenerzählung des Decameron an zentraler Stelle steht. In einer Fülle von Arbeiten ist diese binäre und zugleich polare Konstruktion hervorgehoben worden.49 Dabei wird die strukturelle Beobachtung mit einer Reihe semantischer Zuschreibungen belegt: Zentral sind hierbei die Antithesen von Chaos und Ordnung, Tod und Leben, kontingenter Naturgewalt und kunstvoller (Selbst-)Zivilisierung sowie animalischer Irrationalität und humaner Rationalität. Stellvertretend hierfür kann die Position Neuschäfers stehen: Man sieht, daß die beiden Teile des Rahmens antithetisch konstruiert sind: dem durch die Pest verursachten Chaos in Florenz steht die Schaffung einer wohldurchdachten und funktionierenden gesellschaftliche [sic] Ordnung während des Landaufenthaltes gegenüber; der entwürdigenden Ausgeliefertheit an Krankheit, an moralischen und physischen Verfall, die Freiheit und die sittliche Autonomie derjenigen, die sich der Seuche vorübergehend entziehen konnten.50
Surdich und Potter gehen in ihren Analysen zwar von einer kulturwissenschaftlichen Begrifflichkeit aus, gelangen aber prinzipiell zu ganz entsprechenden semantischen Oppositionen: So deutet Surdich die durch Anarchie, Verbrechen und die Dominanz tierischer Instinkte korrumpierte soziale Struktur der Stadt Florenz mit der Begrifflichkeit Bachtins als karnevaleske Welt, die ihr positives Gegenstück in dem auf ragione und
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Stellvertretend sei hier der plakative Beitrag von Marga Cottino-Jones genannt: The City/Country Conflict in the »Decameron«. In: Studi sul Boccaccio 8 (1974), S. 147–184. Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 126; vgl. auch Cottino-Jones, City/Country Conflict, S. 152–157; sowie Joachim Küpper: Affichierte ›Exemplarität‹, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios »Decameron« und die Episteme der Renaissance. In: Klaus W. Hempfer (Hrsg.): Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst. Stuttgart 1993 (= Text und Kontext, 10), S. 47–93, hier S. 90f.
212 aristokratische onestà verpflichteten Sozialmodell der brigata habe.51 Joy H. Potter basiert ihre Überlegungen auf den ethnologischen Verfahren von Victor Turner. Ihr Versuch, den Rückzug der brigata als liminale Phase plausibel zu machen, bedient sich aber gleichfalls der Basisopposition von Ordnung und Chaos.52 Während insofern weitgehender Konsens darüber besteht, dass die Geschichte der brigata als Gegenmodell zur Beschreibung der Pest anzusehen ist, ist die Frage, welcher Stellenwert dem Sozialmodell der brigata zuzumessen sei, deutlich schwieriger zu beantworten. Peter Brockmeier sieht in der brigata einerseits eine Spiegelung der oligarchisch organisierten Florentiner Stadtgesellschaft als der ›herrschenden Klasse‹, der allein das Privileg des Novellenerzählens als Produktion und Rezeption von ›Kunst‹ zukomme. Zugleich aber werde dem Patriziat das stilisierte Verhalten der brigata als Modell vor Augen gestellt.53 Margarete Zimmermann deutet die brigata als eine konkret zu verstehende »Antwort« auf die sozialen Zumutungen und Verwerfungen, die durch die Pest entstanden seien.54 Es zeige sich, dass das Experiment der Gruppe, die konsensuale Berufung auf onestà, concordia und fraternal dimestichezza am Ende glücke, und mit der brigata insofern ein neues Modell entworfen werde, das anstelle des alten treten könne.55 Potter geht in ihrer Einschätzung noch deutlich weiter. Sie fasst das Handeln der brigata als politische Handreichung für die zeitgenössischen Leser auf, wenn sie konstatiert that the content to be learned by the protagonists of the cornice (knowledge of the world) is equally to be learned by the readers of the Decameron, who are thus led
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Surdich, La cornice di amore, S. 237–241, hier S. 241: »La cornice, insomma, è il luogo di un controcarnevale, improntato a un codice di convenzioni mondane, che si oppone al luttuoso e tragico carnevale della peste e alla contagiosa epidemia di anarchismo e irrazionalità da essa provocata.« Potter, Five frames, S. 11–40, bes. S. 16–22. Peter Brockmeier: Lust und Herrschaft. Studien über gesellschaftliche Aspekte der Novellistik: Boccaccio, Sacchetti,Margarete von Navarra, Cervantes.Stuttgart 1972, S. VIII–XII, hier S. IX und S. 1–39, hier S. 3. Margarete Zimmermann: Krise, Auflösung und Konstituierung sozialer Gruppen in Boccaccios »Decameron«. In: GRM N. F. 40 (1990), S. 141–155. Zimmermann erklärt, sie untersuche die brigata als »soziale[n] Gegenentwurf, als neue Form gemeinschaftlichen Lebens, als Antwort auf die gesellschaftlichenVerfallserscheinungen, die Boccaccio als Folgen der Pest registriert hat« (ebd., S. 147). Zimmermann, Krise, S. 149: »Mehr noch: es ist ihr [der brigata, C. E.] gelungen, neue Formen des Zusammenlebenszu entwerfen,die an die Stelle der alten, zerstörten Bindungen treten können.« Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt etwa Giorgio Bàrberi Squarotti: La cornice del »Decameron« o il mito di Robinson. In: G. B. S.: Il Potere della parola. Studi sul »Decameron«. Neapel 1983 (= Studi e testi di letteratura italiana, 5), S. 5–63, hier S. 63: » […] il Boccacciocostruisceentro la sua opera del mito del mondo da ricostruire dopo la rovina, della palingenesi, insomma, del mondo umano, che per lui è essenzialmente ricostituzione di segni di ordinamento esemplare della vita sociale e civile per forza di parola, che regge e regola l’azione.«
213 to share in the training for leadership and responsible civic behavior on the upper levels of society.56
Eine deutlich skeptischere Haltung bezüglich des pragmatischen Vorbildcharakters der brigata – einen potentiellen Eskapismus-Vorwurf insofern immer schon mitdenkend – nimmt der Beitrag von Reinhard Klesczewski ein. Zwar erkennt auch Klesczewski in dem Zusammenleben der brigata eine »neue, harmonische Gesellschaftsordnung«.57 Zugleich räumt er ein, Boccaccio sei sich bewusst gewesen, »daß eine solche ideale Lebensform als dauerhafte Einrichtung eine Utopie« bleibe.58 Vor allem durch den Beitrag von Winfried Wehle hat die Position, dass es sich bei der Lebensform der brigata um einen utopischen Entwurf handele, der nicht auf pragmatische Umsetzung angelegt sei, neues Gewicht erhalten. Auch Wehle wertet die Formierung der brigata als ›Antwort‹ auf die durch die Pest bewirkten sozialen Deformationen,59 kommt aber zu einem anderen Schluss: »nicht nur die anarchische Stadt, auch die Choreographie ihrer [die der brigata, C. E.] Idylle ist exzentrisch: beides Ausnahmezustände, gleichweit von der Mitte des Lebens, seiner Normalität entfernt.«60 In den Regeln und Maßnahmen, mit denen die brigata ihr Leben auf dem Land arrangiert, sieht Wehle gerade kein positives, auf potentielle Nachahmung zielendes Modell menschlichen Verhaltens, mit dem die sozialen Aporien der Pest überwunden werden können, sondern ein kontrastiv zur Pestbeschreibung angelegtes zweites Zerrbild, das sich aus sozialer Exklusivität, »moralischem Extremismus«61 und radikaler Diesseits- und Selbstbezüglichkeit zusammensetzt: Zuviel Ehre, zuwenig Mitgefühl, lautet daher die unausgesprochene Anklage gegen die Brigata. Sie demonstriert gewiß vollendete Gesittung; sie verfehlt aber die rechte Gesinnung. […] Ihre Sonderexistenz auf dem Lande beginnt also unter einer geradezu thesenhaften Disproportion: auf das Untermaß der von der Pest korrumpierten guten Sitten antworten sie mit einem Übermaß an Kultiviertheit, das an Unnatürlichkeit grenzt.62 56 57
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Potter, Five frames, S. 155. Reinhard Klesczewski: Eine problematische ›alternative‹ Lebensform bei Boccaccio: Die Rahmenerzählung des »Decameron«. In: Ludwig Schrader (Hrsg.): Alternative Welten in Mittelalter und Renaissance. Düsseldorf 1988 (= Studia humaniora, 10), S. 213–229, hier S. 225. Ebd., S. 226. Wehle, Der Tod, S. 232: »Angesichtsdes allgemeinen Sittenverfallsentschließensich die Zehn, auf einem – bukolischen – Landgut ein erlesenes Fest zu feiern. Sie antworten damit auf die extreme Entstellung der menschlichen Natur in der Pest mit einer gegenbildlichen Kultivierung des Lebens.« Wehle, Der Tod, S. 232. Im Ansatz findet sich dieser Gedanke bereits in dem Beitrag von Hermann Wetzel: Zur narrativen und ideologischen Funktion des Novellenrahmens bei Boccaccio und seinen Nachfolgern. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (1981), S. 393–414, hier S. 405. Wehle, Der Tod, S. 233. Ebd., S. 233.
214 Mit der Einordnung sowohl der Pestbeschreibung als auch der Darstellung der brigata als gleichermaßen realitätsferne soziale Deformationen, deutet Wehle den Rahmen als formale Versuchsanordnung, derer es bedarf, um das eigentliche Experiment, das Erzählen der Novellen, ablaufen zu lassen.63 Mit der Ergänzung dieses zentralen dritten Aspekts überwindet Wehles Analyse des Rahmens nicht nur die Fixierung auf die binäre Opposition, sondern lenkt den Blick zugleich auf den kommunikativen Akt des Erzählens.64 Gestützt wird Wehles Verständnis der brigata durch einen zeitgenössischen bildlichen Befund, den Battaglia Ricci in ihrer Studie »Ragionare nel giardino« ausführlich vorgestellt hat.65 Das in den 30er Jahren des Trecento vermutlich als dominikanische Auftragsarbeit entstandene, Buffalmacco zugeschriebene Fresko Trionfo della Morte im Camposanto zu Pisa enthält eine Darstellung einer lieta brigata in giardino, die ikonographisch der breiten Tradition von Liebesgarten- und locus amoenus-Darstellungen zuzuordnen ist.66 Im Trionfo della Morte ist sie auf spezifische Weise funktionalisiert: Den sieben Damen und Herren, die unter Schatten spendenden Bäumen nebeneinander auf einer Wiese sitzen, korrespondiert auf gleicher Ebene eine mit identischer Personenzahl ausgestattete Jagdszene. Zwischen beiden Szenen, zugleich am Fuße des in der Bildmitte aufragenden Höllenbergs, wütet der Tod: Er hat bereits jene niedergemetzelt, »die nach weltlichen Maßstäben hochgestellt waren«67 , dabei zugleich die lebensmüden Armen und Kranken ignoriert, die die Hand nach ihm ausstrecken. Der Tod selbst rast in der Figur eines mit martialischer Sense versehenen Todesengels mit entschlosse63
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Ebd., S. 234f. Wehle selbst bezeichnet den Erzählrahmen zum einen als ›ästhetische Theorieform‹, zum andern als ›Verstehensordnung‹,vgl. ebd., S. 234 und S. 257 Anm. 68. Wehles These, dass die erzählten Novellen zugleich »genau die Mitte eines gelebten Lebens [füllen], die die Pest hin zum Chaotischen, die Brigata zum Idealen hin geräumt hatte« und sie insofern »den Rang einer stellvertretenden Welt ein[nehmen], mit deren Hilfe die Lebenswelt neu vermessen werden kann« (Der Tod, S. 235), scheint mir hingegen zu einfach argumentiert. Sie hätte den bspw. von Klaus Grubmüller vorgetragenenBefund zu berücksichtigen,dass die in die künstlicheWelt der brigata hineinerzählte Welt der Novellen deutlich auf eine Zeit der Ordnung und des funktionierenden Lebens vor der Pest rekurriert, vgl. Grubmüller, Boccaccios Florenz, S. 81f. Lucia Battaglia Ricci: Ragionare nel giardino. Boccaccio e i cicli pittorici del Trionfo della morte. Rom 2 2000 (= Piccoli Saggi, 7). Dass mit dem Trionfo eine wichtige visuelle Parallele zur brigata des Decameron vorliegt, ist auch in der älteren Forschung wahrgenommen worden, die Bezüge sind allerdings weniger programmatisch gedeutet worden, vgl. Watson, The Tuscan garden of love, S. 52–60. Für Gesamt- und Detailabbildungen des Trionfo della Morte vgl. Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 128ff. (Abb. Ib ff.) sowie Wehle, Der Tod, S. 229–231 (Abb.1–3). Wehle, Der Tod, S. 227.
215 nem Gesichtsausdruck auf die rechts im Bild dargestellte Gartengesellschaft zu, die sein Herannahen jedoch nicht wahrzunehmen scheint. Die Gegenwart des Todes im Leben unterstreichen auf der linken Seite der Jagdgesellschaft drei Särge mit Toten. Dem grausigen Geschehen in der Bildmitte korrespondiert in der oberen Bildhälfte der Kampf zahlreicher Teufel und Engel um die Seelen der Irdischen, die gemäß der ikonographischen Tradition als kleine nackte Figuren dargestellt sind. Ausgenommen von diesem dynamischen, Unruhe stiftenden Kampf rechts von den Abhängen des Höllenbergs ist eine Szene, die den beiden Konzeptionen weltlichen Lebens in der unteren Bildhälfte einen geistlichen Lebensentwurf entgegenstellt: Die Kapelle in der Abgeschiedenheit der Berge steht für den monastischen Rückzug aus dem weltlichen Leben, die zwei jungen und zwei alten Mönche stehen mit ihren Tätigkeiten für lebenserhaltende körperliche Arbeit und geistige Lehre.68 Das Programm des Trionfo ist eindeutig: Jene, die auf Grund ihrer sozialen Position ausschließlich auf ein müßiges Leben und standesgemäßes Vergnügen setzen, machen sich nicht nur der Selbsterhebung (superbia) verdächtig, sondern werden, indem sie dem »Eigenwert dieser Welt« huldigen, der »Sünde der Immanenz« schuldig: Ihre Seelen werden nicht zu retten sein.69 Aussicht auf Rettung verheißt allein die conversio: Abkehr von der selbstbezüglichen Welt und zugleich Hinwendung zu einem gottgemäßen Leben. Das Bildprogramm des Trionfo kennt für diesen heilsversprechenden Lebensentwurf nur eine Realisierungsoption: die monastische Gemeinschaft. Der Trionfo della Morte führt drastisch vor Augen, dass Weltverfallenheit Sünde ist, die mit dem Verlust des Seelenheils bestraft wird. Er ist insofern ins Bild gesetzte Mahnung zu Umkehr und Buße und damit ein visuelles Pendant zu den zeitgenössischen Bußpredigten, wie sie insbesondere die Bettelorden kultivierten.70 Battaglia Ricci kann in ihrer Arbeit zeigen, dass die Darstellung der lieta brigata des Decameron zentrale Gestaltungselemente mit der bri68
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Ins Bild gesetzt ist hier nicht das zu erwartende monastische Programm des ora et labora. Der körperlichen Arbeit der beiden jüngeren Mönche (Vieh- und Feldarbeit) steht die Figurengruppe der beiden alten Mönche gegenüber, der eine sitzend und (vor-?)lesend, der zweite stehend (zuhörend oder dozierend?) den Blick auf den ersten richtend. Ikonographisch ist somit nicht das monastische Gebet erfasst, sondern eine allgemeine Situation geistiger Betätigung, die hier dem Alter zugeordnet ist und als Situation des Lehrens oder Unterweisens einen Hinweis auf die dominikanischen Auftraggeber des Bildes geben könnte. Wehle, Der Tod, S. 228. Wehle, ebd., S. 228, nennt den Pisaner Trionfo della Morte daher treffend eine »bildliche Bußpredigt«. Zur Verortung des Trionfo im zeitgenössischen insbesondere dominikanischen Diskurs der Weltverneinung vgl. ausführlich Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 47–165 (Kap. II und III), weitere Hinweise bei Wehle, Der Tod, S. 226–232.
216 gata in giardino des Pisaner Trionfo della Morte teilt. Hierzu gehören: 1) die spezifische Zusammensetzung der Gruppe (sieben Damen, drei Herren),71 2) die Lokalisierung des Gartens in einer Welt, in der der Tod wütet72 und 3) die Kontrastierung des weltbejahenden ragionare in giardino der brigata mit einem weltverneinenden ragionare in chiesa, das Battaglia Ricci metaphorisch für die von den Bettelorden gepredigte cultura della penitenza setzt.73 Zugleich versucht sie plausibel zu machen, dass sich die Darstellung der brigata des Decameron in eben diesen Punkten von der Text- und Bildtradition des topischen locus amoenus und damit auch von den Darstellungen jener Gartenrunden abgrenzt, die Boccaccio im Filocolo und im Ameto selbst gezeichnet habe. Dieser Befund führt sie zu der abschließenden These, Boccaccio habe sich mit der lieta brigata des Decameron direkt auf den Pisaner Trionfo della Morte bezogen; der dort erteilten Absage an eine sinnenfreudige, immanente Weltbezogenheit habe er mit seiner brigata jedoch das Plädoyer für einen hedonistischen Lebensentwurf entgegengesetzt: Io comunque credo fermamente che Boccaccio abbia visto anche l’affresco del Camposanto Vecchio, perché per il »Decameron« egli utilizza proprio il sistema compositivoe l’impianto ideologico che caratterizza l’affresco pisano e che è invece assente in quello fiorentino, dato che manca in esso […] la sezione dell’Incontro e la scena degli erimiti, e dunque l’opposizionegiardino idest vita edonisticavs deserto: chiesa idest vita ascetico-eremitica, che tanta importanza ha […] per l’invenzione della cornice del »Decameron«.74
Anders als Wehle übernimmt Battaglia Ricci die ambivalenten Konnotationen, die die lieta brigata vor dem Hintergrund geistlichen contemptus mundi gewinnt, somit gerade nicht in ihre Lektüre des Decameron: Die brigata ist hier nicht ›Zerrbild‹, sondern positiv besetzter Gegenentwurf einer vita hedonistica. Ihre Funktion erschöpft sich darin, die spielerische und konsolatorische Dimension geselligen Erzählens zu demonstrieren.75 Mit dieser Deutung ordnet sich Battaglia Ricci durchaus traditionell in jene Forschungspositionen ein, die in der brigata des Decameron ein positiv besetztes, Vorbildfunktionen übernehmendes Modell sehen. Dennoch leistet die Arbeit von Battaglia Ricci einen wichtigen Beitrag dazu, den diskursiven Ort des Decameron präziser zu konturieren. Ihre anhand der Analyse des Trionfo della Morte gewonnenen Einsichten in den zeitgenössischen, insbesondere von dominikanischer Seite geführten Diskurs, der contemptus mundi beschwört und damit zu Umkehr und Buße anleiten will, geben einen wichtigen Hinweis auf den kulturellen 71 72 73 74 75
Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 171f. Ebd., S. 173. Ebd., S. 94–99 und S. 177f. Ebd., S. 179–183, hier S. 183; sowie S. 190–202. Ebd., S. 202.
217 Entstehungskontext des Decameron. Einwände gegen diesen Befund ergeben sich lediglich im Detail: So müsste zum einen der Stellenwert des Trionfo della Morte innerhalb dieses Diskurses deutlicher benannt werden. Auch wenn – mit den Worten Wehles – »viele Anzeichen [dafür] sprechen, daß das ›Decameron‹ gezielt diese bildliche Bußpredigt des Campo Santo zitiert und dessen weltverneinende Lebensauffassung geradezu als Ausgangsthese aufnimmt«,76 bleibt doch einzuwenden, ob dem Trionfo allein die von Battaglia Ricci postulierte Funktion als maßgebliche Referenzgröße für das Decameron zukommt, oder ob er nicht vielmehr ein lediglich prominentes Dokument unter anderen ist.77 Ein zweiter Einwand betrifft den Stellenwert, den Battaglia Ricci den Darstellungen geselliger Kommunikation im Filocolo und im Ameto zumisst. Indem sie die Gemeinsamkeiten dieser Szenen mit der Darstellung der lieta brigata ausschließlich auf die Topik des locus amoenus beschränkt,78 übersieht sie zentrale Analogien und ebenso wichtige Verschiebungen, die sich für die Darstellung von Geselligkeit und den jeweiligen kommunikativen Modus insbesondere zwischen der Questioni d’amore-Episode und dem Decameron ergeben. Während Battaglia Ricci die Assoziation einer brigata in giardino mit Tod und Vernichtung für eine ›absolute Neuigkeit‹ hält, deren Aufnahme in den Decameron-Rahmen daher nur durch den direkten Bezug auf den Trionfo della Morte zu erklären sei,79 vermag die vergleichende Perspektive auf die Questioni d’amore-Episode zu zeigen, dass das Decameron eine bereits im früheren Werk vorhandene erzählstrukturelle Opposition aufnimmt, diese dann allerdings erheblich intensiviert, indem es die semantischen Zuschreibungen radikalisiert (vgl. Kap. 5.3.1). Eine noch einmal anders perspektivierte Lektüre der brigata schlägt Elisabeth Arend vor: Sie bezieht das Verhalten der brigata weder auf den politischen noch auf den geistlichen Diskurs, sondern setzt es in Analogie zu zeitgenössischen medizinischen Schriften, in denen sozialer Umgang mit Konversation, Erzählen, Musik, Tanz sowie maßvolles 76 77
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Wehle, Der Tod, S. 228. Damit würde es sich erübrigen, darüber zu spekulieren, ob Boccaccio den Trionfo gekannt haben kann, vgl. Battagglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 179–183. Ein nicht minder plausibles Zeugnis für die von dominikanischer Seite geforderte cultura della penitenza sind beispielsweise die deutlich besser in der Nähe der historischen Person Boccaccios zu lokalisierenden Bußpredigten, die Jacopo Passavanti um 1354 in Santa Maria Novella verfasst und dort möglicherweise auch gehalten hat, vgl. Wehle, Der Tod, S. 227. Battagglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 168–179. Ebd., S. 173 und 178: »Rispetto alle attestazioni pre-decameroniane del motivo boccaccesco della »brigata novellante nel giardino« assolutamente nuovà è l’associazione che nel »Decameron« – come e solo come nell’affresco del »Trionfo« – si stabilisce tra le Morte e il giardino,e il contrasto che ne deriva tra le macabre scene del »Trionfo della Morte« descritte nell’Introduzione alla prima giornata e la serena vita della lieta brigata.« (S. 173)
218 Essen und Trinken als therapeutische Maßnahmen gegen Krankheiten, insbesondere gegen Melancholie empfohlen werden.80 Auch dieser Vorschlag kann durch den Vergleich mit der Questioni d’amore-Episode an Beweiskraft gewinnen, zeigte sich doch schon dort, dass Geselligkeit als remedium gegen durch Liebeskummer verursachte Melancholie aufgefasst wird (vgl. Kap. 4.2.1 und 5.3.1). Zum dritten Aspekt: Für die Analyse geselligen Erzählens – als des kommunikativen Modus, dessen sich die brigata bedient – sind zudem jene Arbeiten wichtig, die sich mit dem Verhältnis von brigata und Novellen, somit dem von Erzählern und Erzähltem beschäftigen. Dabei ist es das zentrale Charakteristikum des Decameron, dass die Novellen hier nicht in einem Maße eindeutig in eine hermeneutisch-didaktische Praxis eingebunden sind, wie es für Kurzerzählungen aus einer mittelalterlichen Tradition heraus erwartbar wäre. Zwar wird nach jeder Novelle von den Reaktionen der brigata berichtet und zu Beginn der folgenden Novelle kommentieren die jeweiligen Erzähler in der Regel die vorausgehende Novelle: Als Verfahren, das den Sinn des Erzählten verbindlich festlegte, lässt sich dieses in der Regel jedoch nicht klassifizieren (vgl. Kap. 5.4.1). Damit entspricht die Relation von Narration und Diskurs im Decameron weder dem Modell von Exempel und Auslegung noch dem von Fabel oder Märe und Epimythion. In der Forschung wird die Debatte um Nähe oder Distanz der Decameron-Novelle zu den mittelalterlichen Kurzerzählungen bis heute engagiert und kontrovers geführt. Pointiert formuliert spaltet die Antwort auf diese Frage die Boccaccio-Forschung in zwei ideologische Lager: in das Lager derjenigen, die Boccaccio als Autor des Spätmittelalters sehen, der der mittelalterlichen Episteme verpflichtet sei,81 und diejenigen, die im 80
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Arend, Lachen und Komik, S. 108–140. Arends These lässt sich durch den Beitrag von Rüdiger Schnell stützen, der ebenfalls zeigt, dass sich bestimmte in den Novellen vertretene Positionen (hier die Zugeständnisse an weibliche Sexualität), mit Positionen der zeitgenössischen Medizin decken, die ihrerseits eine eigene mittelalterliche Tradition haben, vgl. ders.: Mittelalter oder Neuzeit? Medizingeschichte und Literaturhistorie. Apologie weiblicher Sexualität in Boccaccios »Decameron«. In: R. S. (Hrsg.): Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. FS für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Bern / Stuttgart 1989, S. 240–287. Zu den mittelalterlichen Vorstellungen von der diätetischen Funktion des Erzählens vgl. auch Burghart Wachinger: Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter. Vorgetragen am 25. November 2000. Heidelberg 2001 (= Schriften der Philologisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 23). Gegen eine Vereinnahmung Boccaccios als neuzeitlicher Autor wendet sich der programmatische Titel der 1956 erstmals erschienenen und mehrfach wieder aufgelegten Monographie von Vittore Branca: »Boccaccio medievale«. In neuerer Zeit hat Andreas Kablitz die These von der Postmittelalterlichkeit Boccaccios in Frage gestellt: Boccaccios »Decameron« zwischen Archaik und Modernität. Überlegungen
219 Decameron eine Absage an eben jene Episteme sehen und Boccaccio daher der Renaissance zuordnen.82 Als eines der markantesten Plädoyers für die Neuzeitlichkeit der Boccaccio-Novelle ist noch immer die Arbeit von Hans Jörg Neuschäfer zu nennen, die ihr Programm bereits im Titel trägt.83 Methodisch stellt Neuschäfer der Decameron-Novelle unterschiedliche Formen mittelalterlicher Kurzerzählungen (u. a. Fabliau, Exemplum, Liebeskasus, Legende, Lai) gegenüber. Sein Vergleich führt im Ergebnis dazu, der Novelle programmatische Differenz im Verhältnis zu den mittelalterlichen Gattungen zu bescheinigen, insofern als sie erzähltechnisch jeweils genau gegenteilige Effekte erziele: während das Fabliau auf »Einpoligkeit« zie-
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zur achten Novelle des zehnten Tages. In: A. K. / Ulrich Schulz-Buschhaus (Hrsg.): Literarhistorische Begegnungen. FS zum sechzigsten Geburtstag von Bernhard König. Tübingen 1993, S. 147–181. Auf germanistischer Seite vertritt bspw. Rüdiger Schnell die These, dass die im Decameron vertretene – augenscheinlich freiere – Sexualmoral im Rückgriff auf den mittelalterlichen medizinischen Diskurs gewonnen sei, vgl. ders., Mittelalter oder Neuzeit?, S. 240–287. Prominent hat diese Position Hans Jörg Neuschäfer, Beginn der Novelle, vertreten. Für eine Skizze zu beiden Positionen insbesondere hinsichtlich der Exempelhaftigkeit der Decameron-Novelle sei auf Joachim Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 47–55, verwiesen, vgl. daneben auch Kablitz, Boccaccios »Decameron«, S. 147– 150. In der Germanistik wird eine korrespondierende Debatte geführt. Hier ist die Frage nach Traditionalität oder Innovationskraft der Novelle auf die Zusammenhänge und Differenzen zwischen italienischer Novelle und mittelhochdeutschem Märe umgebrochen. Im Hintergrund steht dabei das Bemühen, das Märe als literarische Gattung präziser zu konturieren. Während Joachim Heinzle sowohl für die Decameron-Novelle als auch für das Märe die Kontinuität zu den ›mittelalterlichen‹ Formen exemplarischen Erzählens herausgestellt hat, hat sich Jan-Dirk Müller darum bemüht, die Veränderungen zu beschreiben, die beide Textsorten im Spätmittelalter auszeichnen. Klaus Grubmüller wiederum hat dafür plädiert, jenseits eines zu schematischen Vergleichs zwischen italienischer Novelle und mittelhochdeutschem Märe zunächst einmal die Besonderheiten und Eigengesetzlichkeiten in der jeweiligen historischen Entwicklung der einzelnen volkssprachlichen Formen nachzuzeichnen, vgl. u. a. Joachim Heinzle: Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Werner Schröder (Hrsg.): [Zweites Schweinfurter Kolloquium 1976]. Berlin 1979 (= Wolfram-Studien, 5), S. 41–62; ders.: Vom Mittelalter zur Neuzeit? Weiteres zum Thema ›Boccaccio und die Tradition der Novelle‹. In: Johannes Janota u. a. (Hrsg.): FS Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. 2. Tübingen 1992, S. 661–670; Jan-Dirk Müller: Noch einmal: Maere und Novelle. Zu den Versionendes Maere von den ›Drei listigen Frauen‹.In: Alfred Ebenbauer (Hrsg.): Philologische Untersuchungen. FS Elfriede Stutz. Wien 1984 (= Philologica Germanica, 7), S. 289–311; Klaus Grubmüller: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte.Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Haug / Wachinger (Hrsg.), Kleinere Erzählformendes 15. und 16. Jahrhunderts, S. 37–54; sowie ders.: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 11–21. Neuschäfer, Beginn der Novelle, passim (resümierend S. 122–124).
220 le, stelle die Novelle »Doppelpoligkeit« aus, während das Exemplum den »typischen Fall« illustriere, erzähle die Novelle den »einmaligen«.84 Die Differenzen zwischen Novelle und Exemplum sind für Neuschäfer so markant, dass er die Novelle nachgerade als »Antiexemplum« bezeichnet.85 Während sich das Exemplum durch eine »strenge Bezogenheit von Erzählung und Lehre« auszeichne und sich entsprechend für einen spezifischen Standpunkt entscheide,86 verhandle die Novelle die Konkurrenz zweier Prinzipien und stelle deren Strittigkeit aus, ohne dass eine Lösung schon von vornherein präjudiziert sei.87 In neueren Beiträgen ist der Versuch unternommen worden, die starke Polarität dieser Position aufzubrechen. Sowohl Joachim Küpper als auch Lucia Battaglia Ricci haben dargelegt, dass das Decameron punktuell durchaus auf die ›mittelalterliche‹ Struktur exempelhaften Erzählens rekurriere, wenn etwa die Erzählerfiguren anführen, mit ihren Novellen etwas zeigen (mostrare) oder beweisen (dimostrare) zu wollen.88 Battaglia Ricci hat darüber hinaus gezeigt, dass die zeitgenössische Verwendung von esempio und novella semantisch kaum zu differenzieren ist.89 Joachim Küpper sieht die »affichierte Exemplarität« der einzelnen Novellen jedoch durch den a-systematischen Charakter der Sammlung und die intertextuellen Bezüge zwischen den Novellen unterminiert, so dass das Decameron insgesamt der Renaissance-Episteme zuzuordnen sei.90 84 85
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Ebd., S. 12–32, sowie S. 33–51. Ebd., S. 52–75, hier S. 52. Ein Plädoyer, die Decameron-Novelle ganz in der Tradition mittelalterlicher Exempelliteratur zu lesen, findet sich dagegen in Brancas »Premessa« zu seinem gemeinsam mit Chiara Degani vorgelegten Beitrag: Studi sugli »exempla« e il »Decameron«. In: Studi sul Boccaccio 14 (1983/1984), S. 178– 207, hier S. 178–189. Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 53f. Ebd., S. 60 und 64. Haug, Exempelsammlungenim narrativenRahmen, S. 269f. und S. 281–285, sieht das Exempel ebenfalls als wichtigste Bezugsgröße für die Novelle an. Er argumentiert allerdings nicht allein auf der Ebene der Narration, sondern bezieht die Sammlung als ein Verfahren, der Einsinnigkeit von Kurzerzählungen wie Exempel, Fabel und Novelle entgegenzuwirken, in seine Überlegungen mit ein. Vgl. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 59–62; Lucia Battaglia Ricci: »Una novella per esempio«. Novellistica,omiletica e trattatisticanel primo trecento. In: Studi sul Boccaccio 28 (2000), S. 105–124, hier S. 106–109. Hinweise hierzu auch bei Branca / Degani, Studi sugli »exempla«, S. 186–188. Battaglia Ricci, Una novella per esempio, S. 117f. Während Battaglia Ricci die Novellen somit sehr stark in einen traditionellen Gattungshorizont einordnet, bestimmt sie das Innovationspotential der Novelle über die im Proemio gegebene Funktionsbestimmung des Decameron als »edonistico-consolatoria«, vgl. ebd., S. 116. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 80–91. Es ist einzuwenden, dass die auf »A-Systematik« verweisenden Strukturen des Decameron zum Teil der Sammlung als solcherimmanent sind und somit prinzipiellauch für ältere Exempel- und Fabelsammlungen reklamiert werden können, vgl. Haug, Exempelsammlungen im narrativen Rahmen, S. 269f.
221 Die »kontroverse Grundstruktur«91 verbindet die Novelle nach Neuschäfer wiederum mit der Liebeskasuistik.92 Dieser Vergleich zeigt ein für die Interessengewichtung innerhalb der romanistischen Forschung bezeichnendes Phänomen: So ist die Referenz für Bezüge zwischen Decameron-Novelle und Kasus – bei Neuschäfer, aber auch bei anderen Autoren –93 nicht etwa das Frühwerk Boccaccios, insbesondere die Questioni d’amore-Episode, sondern André Jolles’ These, dass »der Kasus auf die Novelle zustrebt« und dass die »Kunstform, die wir im besonderen toscanische Novelle nennen, zum guten Teil aus dem Minnehof und dem Minnekasus hervorgegangen« sei.94 Nun lässt sich zeigen, dass Jolles seine Argumentation auf Material aus den Questioni d’amore stützt, so dass die zitierte, vermeintlich allgemeine These in einem ganz engen Sinne auf Boccaccios Texte zielt. Da Jolles allerdings keinerlei Quellenangaben macht und auch der Name Boccaccio in dem besagten Abschnitt nicht fällt, ist dieser Zusammenhang bislang nicht gesehen worden.95 91 92 93
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Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 58 Anm. 14. Ebd., S. 71–75. So z. B. Cherchi, From controversia to novella, S. 89; sowie Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 179–211, hier S. 197–203. Vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 7., unveränd. Aufl. Tübingen 2000 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 15) [1. Aufl. Halle a. d. Saale 1930], S. 171–199, hier S. 196. Ebd., S. 195f. Es gibt weder Anmerkungennoch eine Bibliographiein Jolles’Arbeit; Quellenhinweise werden – wenn überhaupt – im Text selbst, auch dann jedoch ohne Angabe der Ausgabe gegeben. Im besagten Abschnitt fehlen entsprechendeHinweise. Der Nachweis, dass Jolles tatsächlich über die Questioni d’amore spricht, macht eine genaue Lektüre erforderlich. Das soll hier nicht unterschlagen werden: Nach einem kursorischen Hinweis auf die Dominanz des Minnethemas im Hochmittelalter (»Ich denke an die Zeit der großen Minnekultur, die Zeit, da eine gewisse Art der Liebe das Leben gestaltet […]«, ebd., S. 195), und die literarischen Formen, die dieses hervorgebracht hat (»die Wertung der Minne, ihr Wägen und Erwägen, verwirklicht sich im Kasus«, ebd.), geht Jolles auf Rezeptionsformen der Minnekasus über: »So sind dann in verschiedenartiger Überlieferung die Kasus der Minne auf uns gekommen.« (ebd.). Die Entwicklung, auf die er dann anspielt, ist nichts anderes als die strukturelle Rezeption von Partimenfragen in der Questioni d’amoreEpisode: »Wir haben sie [die Überlieferung der Kasus, C. E.] in ihren ersten Anfängen, wo sie noch theoretische Fragen sind […] Wir sehen dann, wie die Frage allmählich zur Form wird« (ebd.). Das hier eingefügte Beispiel entsprichtgenau der ersten Frage der Questioni : »ein Mädchen wird von zwei jungen Männern geliebt, sie nimmt den Kranz des Einen und setzt ihn sich selber auf, während sie ihren eigenen Kranz dem Anderen schenkt. Wem hat sie den größten Beweis ihrer Huld gegeben?« (ebd.). Auch die beiden folgenden Beispiele entstammen den Questioni d’amore (Q 12 und Q 10). Jolles’Analyse suggeriertallerdings,dass es sich um weitere Entwicklungsstufen handele: »Allmählich prägt sich die Form immer deutlicher aus, der Kasus rundet sich« (ebd.). Zwar macht er deutlich, dass er sich auf eine bestimmte Quelle beruft: »Man erwartet die Frage [bezogen auf Q 12, C. E.]: wird er das Leben annehmen? – in der Quelle jedoch, aus der ich zitiere, heißt sie: […]« (ebd.), aber er nennt sie eben nicht und verschleiert damit vollständig, wie dicht er
222 Sofern man also die von Jolles zitierten Beispiele aus dem Filocolo nicht (er-)kennt, die – wie in Kap. 4.3.1 und 4.3.4 gezeigt – als Bindeglied zwischen Kasus und Novelle gewertet werden können – muss man annehmen, Jolles beziehe sich auf diejenigen Minnekasus, die in der altprovenzalischen und altfranzösischen Lyrik oder bei Capellanus überliefert seien. Da offensichtliche Verbindungen zwischen diesen nichtnarrativen Gattungen und der Decameron-Novelle wiederum wenig evident sind, ist Jolles’ These zwar als anregend, aber in dieser Zuspitzung doch als überzogen aufgefasst worden.96 Dass Jolles – und nicht der Filocolo – Stichwortgeber für den Vergleich zwischen Novelle und Liebeskasuistik ist, zeigt sich auch an Neuschäfers Analyse. Die Questioni d’amore finden hier an keiner Stelle Erwähnung. Als Bezugsgrößen setzt Neuschäfer Liebeskasus und Streitgedicht an, und auch dieser Vergleich ergibt ein eindeutiges, binäres Ergebnis: Während der Liebeskasus in einem geschlossenen System steht, in dem nur eine Ordnungskategorie oder Norm gültig ist, und in dem Streitfragen nur im Hinblick auf ihre alsbaldige Lösung und Einordnung in die Norm zugelassen sind, treten in der Novelle gerade verschiedene Normen miteinander in Konkurrenz, und wir haben einen Widerspruch von Normen und erst damit eine echte Strittigkeit.97
Auch wenn deutlich wird, auf welche Eigenschaften der Novelle Neuschäfer mit seiner Analyse abzielt, ist doch zu hinterfragen, ob mit der
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sich literarhistorisch bereits bei der »toscanischen Novelle« befindet. Dass Jolles so überaus allgemein bleibt und die offenkundig benutzte Quelle nicht nennt, hängt auch mit dem Status des entsprechendenAbschnittsinnerhalbseiner Untersuchung zusammen. Der Passus steht im letzten Abschnitt seiner strukturalistischen Darlegung zur Morphologie des Kasus, in dem er wenige Stichworte zu einer Gattungsgeschichte des Kasus gibt. Da Jolles’ Interesse in den »Einfachen Formen« aber gerade nicht singulären historischen Erscheinungsformen gilt, entspricht es seinem Ansatz, vor allem große Entwicklungslinien zu ziehen. Die Verschleierung der Tatsache, dass er ganz konkret über den Filocolo und die Decameron-Novelle spricht, ist somit dem Programm zuzurechnen, Aussagen über ubiquitäre Formen zu machen. Den literaturhistorisch kleinräumigen Bezug zwischen den Minnekasus der Questioni -Episode und der ›toscanischen Novelle‹ führt er daher nicht weiter aus, denn »das gehört nicht hierher« (ebd., S. 196). In seiner neun Jahre jüngeren »Einleitung zum Dekameron« bezeichnet Jolles die Questioni d’amore in Anlehnung an die Formulierung von Rajna zwar als »Urform des Dekameron«, einen systematischen Zusammenhang zwischen Kasus und Novellen entfaltet er hier jedoch noch nicht, so dass die Bezugsgröße seiner These in den »Einfachen Formen« auch von hier aus nicht deutlich wird, vgl. ders., Einleitung zum Dekameron, S. XXVIIIf. Z. B. Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 198. Insbesondere an Neuschäfers Jolles-Rezeption zeigt sich, zu welchen Missverständnissendie Unterschlagung der Quellen bei Jolles führt, vgl. ders., Beginn der Novelle, S. 71f.: »Aber wenngleich es sicher richtig ist, daß ›der Kasus auf die Novelle zustrebt‹, so bleibt doch die weitgehende Identifizierung von Liebeskasus und Novelle, wie sie Jolles vornimmt, fragwürdig.Gerade von Boccaccioher, den Jolles in den »EinfachenFormen« nicht eigens behandelt, kann vielmehr gezeigt werden, wie weit der Liebeskasus älteren Stils tatsächlich noch vom problematischen ›Fall‹ der Novelle entfernt ist.« Ebd., S. 73.
223 Differenz ›einnormig‹ – ›mehrnormig‹ der Unterschied zwischen Kasuistik und Novelle treffend und zureichend beschrieben ist. So verweist Paolo Cherchi, der – ebenfalls ausgehend von Jolles – die Bezüge zwischen kasuistischer und narrativer Literatur untersucht hat, darauf, dass der amour courtois im Unterschied zum römischen Recht kein fixiertes, schriftliches Recht sei.98 Aber auch unabhängig von der Frage, ob eine Norm stets schriftlich verbürgt sein muss, ist die Annahme, dass der amour courtois den eindimensionalen Normhorizont für die höfische Liebeskasuistik abgebe, zunächst einmal eine Setzung Neuschäfers. Eine Reihe von Argumenten spricht gegen diese Einschätzung. So wäre die Existenz einer Norm dann überzeugend nachzuweisen, wenn die Kasus durchgehend mit Urteilen versehen wären, aus denen diese Norm ersichtlich würde. Die überwiegende Mehrzahl minnekasuistischer Formen (insbesondere Streitgedichte und Prosafragen) sieht allerdings – wie begründet vermutet wird: programmatisch – keine Urteile vor.99 Die bei Neuschäfer zitierten iudicia amoris des Andreas Capellanus sind dahingehend eher als Ausnahme zu werten.100 Die Diversität minnekasuistischer Formen (Streitgedichte, die iudicia amoris des Capellanus-Traktats, Fragespiele in epischen Kontexten, Fragensammlungen) macht es insgesamt schwer, mehr als einen gemeinsamen thematischen Horizont und – aber auch das nur in Ansätzen – eine spezifische Verhandlungsstruktur zu ermitteln. Gegen eine feste Norm, auf die Verhandlung und ggf. auch Urteilsfällung zuliefen, spricht zudem auch die vor allem von Sebastian Neumeister für das Partimen betonte Gleichwertigkeit der Alternativen, die ja bereits im Begriff des Dilemmatischen angelegt ist, und die nicht nur ein ausbalanciertes Diskutieren fordert, sondern verbindliche, »wahre« Lösungen auch von vornherein erschwert (vgl. hierzu Kapitel 4.3.3).101 Ausgehend von dieser immanenten Balance der Kasus ist schließlich das spielerische Moment der Liebeskasuistik zu nennen, das die Annahme eines normativen Horizonts in vielen Fällen schon ganz vordergründig ad absurdum führt: Antworten auf Fragen wie die, ob die wohlerzogene Lügnerin oder die unhöfische Ehrliche vorzuziehen sei,102 lassen sich kaum durch den Rückgriff auf eine normative Doktrin ableiten und ihre Beantwortung erzeugt auch keine solche.
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Cherchi, From controversia to novella, S. 96. Hierzu Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 64–69, S. 155–167. Die Behauptung von Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 72, dass »der Liebeskasus ein Fall ist, der entschieden wird«, gilt somit nur eingeschränkt.Während sie für die iudicia des Andreas richtig ist, kann sie keinesfalls auf die gesamte Liebeskasuistik übertragen werden. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe, S. 77–81. Pillet / Carstens, Nr. 136,1a.
224 Im Gegensatz zu den Zusammenhängen zwischen Exempel und Novelle ist dem Verhältnis von Kasus und Novelle im Anschluss an die Thesen von Jolles und Neuschäfer nur vereinzelt weiter nachgegangen worden. Offensichtlich hat der paradigmatische Status, den Neuschäfers Arbeit in der deutschen wie der italienischen Decameron-Forschung über lange Zeit einnahm, gerade in dieser Frage einen gewissen Stillstand erzeugt. Daran hat auch das Erscheinen der Arbeit von Surdich nichts Grundsätzliches geändert, von deren Analysen zu Boccaccios Frühwerk und insbesondere der Questioni d’amore-Episode ausgehend die Überlegungen zu der Relation von Kasus und Novelle hätten neu belebt werden können. Als Ausnahme ist neben den Arbeiten von Eduardo Sanguineti103 und Paul Geyer104 insbesondere der Beitrag von Paolo Cherchi105 zu nennen. Cherchi untersucht die Adaptation klassisch-antiker controversiae in den Gesta Romanorum unter der Perspektive, ob sich »a genetic relationship between the classical controversy and the medieval short story« nachweisen lasse.106 Eine solche Beziehung kann Cherchi für den thema oder sermo genannten Teil der Streitreden nachweisen, in denen der Fall exponiert wird.107 Im narrativen Adaptationsprozess werden diese allerdings weitreichenden Veränderungen unterworfen.108 Cherchi geht weiter der Frage nach, ob die ›genetischen‹ Relationen, wie er sie für die antiken controversiae und die mittelalterlichen Kurzerzählungen der Gesta Romanorum zeigen konnte, auch – im Sinne der These Jolles’ – auf das Verhältnis von höfischem Liebeskasus und Novelle zu übertragen seien. Da sein Verständnis dessen, was er als ›genetischen‹ Bezug gelten lassen will, insgesamt stärker auf Inhalte als auf Strukturen zielt,109 kommt er zu einem
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Sanguineti, Lettura del Decameron, Lezione VIII–X. Vgl. zu Sanguinetis Position Kap. 4.1. Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 179–211. Cherchi, From controversia to novella, S. 89–99. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. Hier wird für die Fallexposition in Analogie zur antiken Rhetorik der Begriff narratio verwendet, vgl. Kap. 4.3.1. So werden die narrativ ausgestalteten sermones der Streitreden in den Gesta Romanorum mit einer moralizatio versehen und damit als Exempel oder Parabel funktionalisiert, vgl. Cherchi, From controversia to novella, S. 92f. Vgl. die Formulierungen ebd., S. 95. Cherchis expliziter Anspruch ist freilich zunächst durchaus narratologisch (ebd., S. 89f.), was auch in der Behauptung dokumentiert wird: »In the courtly casus the question has no narrative function.« (ebd., S. 96). Dieser lässt sich zwar in Bezug auf die minnekasuistische Tradition zustimmen, gerade für die Questioni d’amore-Episode gilt sie aber – wie gezeigt wurde – nicht. Wenn Cherchi also teils richtig beobachtet, dass die narrationes zu Q IV und Q XIII im Decameron von Frage und Verhandlung abgekoppelt würden, dann ist das kein Beleg für seine oben zitierte Behauptung, sondern setzt vielmehr eine Tendenz zur Autonomisierung der narrationes fort, die zwar in der Questioni -Episode
225 negativen Ergebnis, vor dessen Hintergrund sich die Übernahme der Fragen Q IV und Q XIII in das Decameron als Ausnahme darstellt.110 Für die vorgestellten Arbeiten – sowohl zum Verhältnis von Exempel und Novelle als auch zu dem von Kasus und Novelle – ist es charakteristisch, dass die Entscheidung über ›Eindeutigkeit‹ oder ›Vieldeutigkeit‹, ›Allgemeinheit‹ oder ›Partikularität‹, ›abschließende Lösung‹ oder ›Offenheit‹111 der Decameron-Novelle zumeist ausschließlich auf der Ebene der Narration getroffen wird.112 Dagegen gerät in der älteren Forschung nur in wenigen Beiträgen der Befund in den Blick, dass die Novelle des Decameron in unmittelbarem Zusammenhang mit den Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption steht, wobei sich insbesondere die intradiegetischen Hörer sinnfixierender Auslegungen und eindeutiger Wertungen enthalten.113 Eine diesbezügliche Neuausrichtung markiert der Lessico critico decameroniano, der kommunikative Aspekte des Werks gleich mit zwei Beiträgen (Comunicazione, Dialogo) würdigt, auch wenn deren Erträge nur zum Teil überzeugen:114 Insbesondere der Beitrag Renzo Bragantinis zum Stichwort Dialogo entbehrt einer klaren Fragestellung und bleibt im Ergebnis merkwürdig unabgeschlossen.115 Seine Orientierung an der Bachtinschen Begrifflichkeit und die davon abgeleitete Definition, dass es ihm nicht um den »dialogo nel, ma del Decameron« gehe,116 ist ein wenig aussagekräftiges Etikett, denn im Zentrum der Untersuchung steht die kommunikative Interaktion der brigata und damit vorwiegend die Inszenierung von Dialog im Text selbst. Bragantini untersucht neben den möglichen Referenzmodellen für den Dialog (hier ganz beschränkt auf die antiken Modelle) und der Terminologie, die für
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nur angelegt ist, hier aber dezidiert auf die ›narrative Funktion der Frage‹ für den Kasus zurückzuführen ist. Ebd., S. 97f. Die Reduktion der Relation Kasus – Novelle auf den punktuellen Vergleich zwischen Q IV / X,5 und Q XIII / X,4 ist auch bei Sanguineti, Lettura del Decameron, S. 49–57, zu beobachten. Dass die Kasus der Questioni d’amore insgesamt durch eine narrativeAusgestaltung im Sinne der klassischenRhetorik geprägt sind, kommt in beiden Arbeiten nicht in den Blick. So die von Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 122, geprägten Begriffe. Sowohl bei Neuschäfer, ebd., S. 124–128, als auch bei Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 90f., bleibt die Tatsache, dass die Erzählrunde der brigata der Ort ist, an dem sich die Sinnangebote der Novellen erweisen müssten, weitgehend ausgeblendet. Wenig instruktiv bleibt hier auch die Arbeit von Konrad Schoell, die ausschließlich die Reaktionen der brigata fokussiert,ohne auf den Zusammenhang mit den vorgetragenenNovellen einzugehen,vgl. ders.: Das Lachen,die Tränenund die Schamröte der edlen Damen. Zur Intention des Decameron. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 16 (1992), S. 183–197. Vgl. bspw. die wenig systematischen Ausführungen bei Branca, Boccaccio medievale, S. 175–177. Bragantini / Forni (Hrsg.), Lessico critico decameroniano. Renzo Bragantini: Dialogo. In: Bragantini / Forni (Hrsg.), Lessico critico decameroniano, S. 93–115. Ebd., S. 99.
226 das Sprechen der brigata verwendet wird, vor allem Zusammensetzung und Charakterisierung der brigata und ihre jeweiligen Reaktionen. Trotz vieler guter Beobachtungen im Detail bleiben diese unverbunden nebeneinander stehen, ohne zu einem abschließenden Befund synthetisiert zu werden. Möglicherweise ist hier die Fixierung auf den bereits von der antiken Rhetorik besetzten Terminus ›Dialog‹ hinderlich gewesen, der das für das Decameron wichtige Stichwort der Geselligkeit ausblendet.117 Die vorliegende Arbeit steckt das Ziel enger, indem versucht wird, das Decameron als (zentrales) Dokument in einer Geschichte geselliger Kommunikation zu lesen, für das soziale und kommunikative Aspekte konstitutiv sind, die sich an heterogenen Traditionslinien orientieren. Das Interesse für die Relation von Erzählern und Erzähltem hat – wenigstens innerhalb der deutschen Romanistik – Winfried Wehle mit einem grundlegenden Beitrag angestoßen.118 Wehle hat den Blick darauf gelenkt, dass die Gattungsrealität der Novelle nicht der Singular, sondern der Plural ist: die Novelle tritt nur in Ausnahmefällen als einzelnes Exemplar auf,119 ihr Existenzort ist das Novellarium, also die Novellensammlung.120 Das Novellarium wiederum verweist auf den gesellschaftlichen Aufführungszusammenhang, der für das Novellenerzählen einen eindeutigen sozialen Ort bestimmt: Welche und wieviele Geschichten jemand im Verlaufe der Konversation einer geselligen Runde ›re-zitiert‹, entscheiden nicht die Vorlagen, aus denen er geschöpft hat. Konstitutiv werden vielmehr der besondere Anlaß, unter dem sich die Teilnehmer zusammenfinden, ihr sozialer Rang, der stoffliche und thematische Dominanten setzt; der Gesprächsverlauf, der entscheidet, welche Geschichte eine andere ergibt. Erst ein Liebespaar,eine Reisegesellschaft,eine Pilgerfahrt, eine adlige Tafelgemeinschaft, ein Erntefest, eine Landpartie oder eine Zecherrunde komponiert die Geschichtenzu jenem authentischen, grundlegend mündlichen Novellenzyklus, den das Novellarium nur als sein Projekt in sich trägt. [….] Dieser mündliche Zyklus darf als die ursprünglichste Gattungsrealität des Novellenerzählens gelten.121
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Auf die sozialen Aspekte der Interaktion der brigata geht Bragantini folglich nicht ein. Wehle, Novellenerzählen, bes. S. 89–109, S. 128–143. Auch Haug, Exempelsammlungen im narrativen Rahmen, S. 282, widmet sich diesem Zusammenhang, wobei seine Ausführungen zur Funktion des Rahmens im Decameron eher blass bleiben. So wäre seine Aussage zu präzisieren, dass »die Mehrdeutigkeit der Geschichten« dadurch gesichert werde, dass diese »hinterher diskutiert« würden, denn das ist gerade nicht der Fall, vgl. hierzu Kap. 5.4. Beispiele hierfür sind die Separatüberlieferungen der Griselda- sowie der Ghismonda und Guiscardo-Novelle, vgl. Wehle, Novellenerzählen, S. 91f. Ebd., S. 89–127. Das gilt – wie Haug, Exempelsammlungenim narrativen Rahmen, bes. S. 269f., dargelegt hat – in vielen Fällen allerdings auch für Exempel und Fabel. Wehle, Novellenerzählen, S. 102. Dabei ist es für Wehle offenkundig unerheblich, ob dieser Aufführungszusammenhang in das Novellarium eingeht oder nicht. Dass ein Novellenzyklus auf einen sozialen Entstehungsort referiert, ist vielmehr eine grundsätzliche Prämisse, vgl. ebd., S. 107.
227 Novellenerzählen, dessen Ergebnis das aus der jeweiligen sozialen Situation gewonnene Novellenkollektiv ist, ist nach Wehle zu verstehen als eine »Technik sozialen Handelns«, mit der Kollektiverfahrung zur Sprache kommen, kommentiert und beurteilt werden kann.122 Nimmt man Wehles Nachweis ernst, dass sowohl der florilegiale Charakter der Novellensammlung als auch deren inszenierte gesellschaftliche Aufführung gattungskonstitutiv für die ›Novelle‹ sind, dann muss er als Aufforderung verstanden werden, beim Vergleich mit anderen Gattungen wie Exempel oder Kasus nicht auf der Ebene der Narration selbst zu verharren, sondern die der jeweiligen Sammlung immanenten diskursiven Produktionsund Rezeptionsbedingungen miteinzubeziehen. Dazu zählen die Anordnung und Disposition der einzelnen Texte in der Sammlung sowie – soweit vorhanden – die kommunikative Interaktion, aus der heraus sie entstehen. Ob es allerdings in jedem Fall das Ziel oder die Funktion von Novellenerzählen als ›sozialer Technik‹ ist, »Kristallisationspunkt[e] kollektiver Meinungsbildung« zu liefern, ist für das Decameron noch zu überprüfen.123 Es wird zu diskutieren sein, ob der kollektive Meinungsbildungsprozess im Decameron nicht vielmehr dezidiert abgewiesen wird (vgl. Kap. 5.4.2 und 5.4.6). Die Arbeiten von Paul Geyer und Elisabeth Arend lassen sich als konstruktive Fortsetzung der Überlegungen Wehles verstehen. Geyer nimmt die Reaktionen der brigata auf einzelne Novellen genauer in den Blick und führt die nützliche Unterscheidung zwischen ›affektiven‹ und ›diskursiven‹ Reaktionen ein.124 Für das Interaktionsverhältnis von Novellen und Reaktionen der brigata nennt er zwei Deutungsmodelle: das ›Karnevaleske‹ und das ›Kasuistische‹. Nach Geyer indizieren einige Reaktionen der brigata, wie bspw. das affektive Lachen über blasphemische oder obszöne Novellen, einen Karnevalisierungsprozess, der allerdings weniger systemkritische als vielmehr systemstabilisierende Funktion be122
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Ebd., S. 106; zur Auffassung des novellare als regelgeleitetes Spiel vgl. erste Überlegungen bei Johanna Borek: Erzählen als Gesellschaftsspiel. Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Boccaccio, Basile (und Calvino). In: Michelangelo Picone / Alfred Messerli (Hrsg.): Giovan Battista Basile e l’invenzione della fiaba. Ravenna 2004 (= Memoria del tempo, 27), S. 81–93. Wehle, Novellenerzählen, S. 106. Wehles Beobachtungen beziehen sich vorrangig auf die französische Renaissancenovellistik, aber auch im Decameron sieht er die soziale Funktion kollektiver Meinungsbildung durch das Erzählen realisiert, vgl. ders., Der Tod, S. 234: » […] alle, voran Dioneo, Boccaccios wichtigster Erzähler, [dürfen vorbringen], was ihnen mitteilenswert erscheint, und jedem [ist erlaubt], frei darüber zu urteilen. Ihre Geschichten müssen auch nichts beweisen, haben also keinen vorgegebenen Auftrag. Im Gegenteil, jede belegt gerade, was alles der Fall sein kann.« Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 192f. Arend spricht von emotionalen und sprachlichen Reaktionen, ohne beide Reaktionstypen systematisch zu unterscheiden (Lachen und Komik, S. 181f.).
228 sitze und somit als »Umkehrvariante des Exemplarischen« aufzufassen sei.125 In anderen Fällen aber führe die »doppelte Negation der Normen im Durchgang durch das Karnevaleske […] nicht mehr zur einfachen Reaffirmation«, sondern werde einer »kasuistischen Einzelfallprüfung« unterworfen, die die Norm selbst in Frage stelle und somit ein »Normenkontrollverfahren« in Gang setze.126 Insgesamt konstatiert Geyer, dass im Decameron der »Übergang von einem exemplarisch-karnevalesken zu einem kasuistisch-offeneren Wert- und Diskursverhalten« dargestellt werde.127 Auch Geyers Analyse läuft somit letztlich darauf zu, das Innovationspotential der Decameron-Novelle zu fixieren und es gegen ein (im Begriff des Karnevalesken gefasstes) exemplarisches und damit traditionsverhaftetes Erzählen abzusetzen. In den folgenden Analysen wird zu zeigen sein, dass diese Vorstellung von Ablösungs- und Übergangsprozessen dann problematisch wird, wenn man die höfische Liebeskasuistik als intertextuellen Horizont des Decameron bestimmt, denn dies heißt, dass das Kasuistische der Decameron-Novelle – im Sinne Jolles’ – immer schon immanent ist.128 Den Reaktionen der brigata muss dann umso größere Aufmerksamkeit zuteil werden. Hier ist Geyers Untersuchung wiederum sehr hilfreich, denn sie zeigt, dass keinesfalls eindeutige Kongruenzen zwischen ›karnevaleskem‹ Erzählen und affektiven Reaktionen sowie ›kasuistischem‹ Erzählen und diskursiven Reaktionen herzustellen sind.129 Mit der Monographie von Elisabeth Arend liegt die bislang ausführlichste Untersuchung zu den Reaktionen der brigata vor.130 Arend fokussiert zwar vorrangig das Lachen als diejenige affektive Reaktion der Erzählrunde, die am häufigsten zu beobachten sei, unternimmt dabei aber zugleich eine ausführliche Sichtung und Typologisierung aller Reaktionen.131 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass – indem die einzelne »›wahrheitsverkündende‹ Erzählerstimme« durch einen
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Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 194. Ebd., S. 198 und S. 200. Ebd., S. 200. Jolles, Einfache Formen, S. 196. Dass die Novelle mit der Liebeskasuistik die »Strittigkeit« gemein habe, konstatiert auch Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 71. Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 193–203. Arend, Lachen und Komik. Die Arbeit führt Beobachtungen und Thesen zusammen, die zum Teil schon in früheren Aufsätzen skizziert worden sind, vgl. dies.: … senza modo risero le donne … – Lachen und Komik im Decameron. In: Maria Lieber / Willi Hirdt (Hrsg.): Kunst und Kommunikation. Betrachtungen zum Medium Sprache in der Romania. FS zum 60. Geburtstag von Richard Baum. Tübingen 1997, S. 347–368; sowie dies.: Das Lachen angesichts des Scheiterhaufens. Zum Lachen im »Decameron«. In: Barbara Marx (Hrsg.): Komik der Renaissance, Renaissance der Komik. Unter Mitarb. von Sabine Strickrodt und Alexandra Stanislaw-Kemenah. Frankfurt a. M. 2000, S. 1–19. Arend, Lachen und Komik, S. 169–194 (Kap. III.1).
229 »Chor von Stimmen« ersetzt werde – von einer »dialogischen Dimension der Kommentare« gesprochen werden könne, und zwar erstens im Hinblick auf die aufeinander folgenden Novellen und zweitens im Hinblick auf Text und Leser. Dieser Dialog ist in der Konstruktionder Erzählsituation, d. h. der Existenz der Brigata, sowohl textlich repräsentiert als auch in der empirischen Rezeptionssituation gegeben. Ein spezifischer Aspekt des Dialogs sind Korrektur, Abschwächung oder Rücknahme von Provokationen, die Bestandteil von Erzähltem sind.132
Diesem spezifischen Befund zur Semantik der Korrelation von Novellenerzählen und ›Dialog‹ steht entgegen, dass Kommentare und Reaktionen in vielen Fällen unspezifisch und allgemein bleiben. Die Beobachtung, dass die »Verknüpfung der einzelnen Novellen zu einem Novellarium im Sinne Wehles […] auf der expliziten Ebene eher verhalten und oft lediglich in Form einer einzigen und zudem manchmal recht pauschalen Impression oder Wertung […], bezogen auf den Inhalt der Novellen oder Aspekte des Verhaltens der Protagonisten«133 erkennbar ist, führt Arend zu der Einschätzung, dass das dialogische Moment im Decameron – vor allem im Vergleich mit der späteren französischen Rezeption – eher gering ausgeprägt sei.134 Es wird zu zeigen sein, dass für das Verständnis des Gesprächs im Decameron nicht dessen Rezeption in Anschlag zu bringen ist, sondern vor allem das intertextuelle Muster, auf das es sich bezieht. Im Vergleich mit der Questioni d’amore-Episode wird nachzuweisen sein, dass in den nur wenig konturierten, zumeist affirmativen Reaktionen eine dezidierte Absage an agonale Modi der Kommunikation gesehen werden kann und dass die für das Decameron als fehlend diagnostizierte »explizite und ausführliche Diskussion«135 geradezu programmatisch vermieden wird. Die Positionen machen deutlich, dass für die Frage danach, was ggf. ›neu‹ für das Erzählen im Decameron ist, die Funktionsweise des Rahmens von zentraler Bedeutung ist. Ausgehend von den Überlegungen, die hierzu bereits vorliegen, soll der diskursive Kontext, in dem die Novellen stehen, noch einmal punktuell auf seinen dialogischen Charakter hin befragt werden (Kap. 5.4). Über den Vergleich mit der hybriden Kommunikationssituation der Questioni d’amore-Episode, in der geselliges Erzählen und kasuistische Disputation überblendet werden, lassen sich die Befunde dabei literarhistorisch perspektivieren. Die Konzeption der ge132 133 134
135
Ebd., S. 194. Ebd. Ebd.: »Die explizite und ausführliche Diskussion, die Marguerite de Navarre in ihrem Heptaméron vorführt, wo Kommentar und Erzählung manchmal sogar vergleichbare Proportionen aufweisen, findet sich im Decameron noch nicht. Die Anlage dazu ist jedoch geschaffen.« Ebd., S. 194.
230 selligen Kommunikation der brigata gewinnt so in vielen Punkten programmatische Kontur.
5.3
Gesellige Formation im Decameron
Die räumlichen, zeitlichen und sozialen Dimensionen von Geselligkeit, wie sie in der Rahmenhandlung des Decameron zur Darstellung kommen, sind in mehrfacher Hinsicht parallel zu denen der Questioni d’amore-Episode beschreibbar. Auch im Decameron bedarf Geselligkeit eines spezifischen Orts sowie spezifischer sozialer und kommunikativer (Spiel-)Regeln, um das Handeln der brigata zu organisieren und zu ordnen. Geselligkeit resultiert auch hier aus sozialen Prozessen, die im Ergebnis institutionelle Züge tragen. Der Darstellung geselliger Formation wird – wie im Filocolo – so breiter Raum gewährt, dass sich Etablierung, Stabilisierung und Verstetigung als Phasen des Institutionalisierungsprozesses deutlich abzeichnen. Nicht zuletzt bleibt auch die Geselligkeit des Decameron-Rahmens eine Institution auf Zeit, deren Auflösung ebenso wie ihre Herstellung performativ vorgeführt wird. Während sich insofern die grundsätzlichen Mechanismen geselliger Formierung sehr eng auf den Prätext des Filocolo beziehen lassen, ergeben sich im Detail eine Vielzahl von Veränderungen, die schon in den Questioni d’amore vorhandene Strukturelemente entweder schärfer konturieren – so im Fall des geselligen Ortes (Kap. 5.3.1) – oder aber – wie im Fall der Konkurrenz von natürlicher Hierarchie und künstlicher Egalität (Kap. 5.3.2) – nivellieren.
5.3.1 Die Peststadt und die Gärten: Die geselligen Orte des Decameron Wie das gesellige Fragespiel in der Questioni d’amore-Episode benötigt auch das gesellige novellare der brigata als Tätigkeit des otium grundsätzlich den entzogenen Ort, um sich entfalten zu können. Anders aber als Fiammettas Garten ist der Rückzugsort im Decameron kein kontingenter Ort, der aus der Logik des übergeordneten Handlungsschemas herausfällt, sondern – innerhalb der intradiegetischen Erzählung – intentional vorgesehener Ort der Handlung. Der Rückzug aufs Land ist Ergebnis strategischer Planung seitens der handelnden Figuren,136 die aufzusuchenden Landgüter sind als persönlicher ökonomischer Besitz Orte in einer prinzipiell bekannten Topographie. Die geselligen Orte des Deca-
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Das wird unterstrichen durch die Bezeichnung des gemeinsamen Beschlusses als consiglio (I, Introd. 70 und 73) und intenzione (I, Introd. 86).
231 meron sind auf der Ebene des Figurenhandelns somit absichtsvoll aufgesuchte (und nicht zufällig gefundene) Orte. Geselligkeit ist im Decameron zwar an einen spezifischen Typus von entzogenen und zugleich lieblichen Örtlichkeiten, nicht aber an einen einzigen Ort gebunden. Im Vergleich mit der Questioni d’amore-Episode lässt sich eine Vervielfältigung der geselligen Orte beobachten, die einen sukzessiven Rückzug der brigata ermöglicht und damit der auch für den Ort der Liebesfragen zu beobachtenden narrativen Staffelung korrespondiert. So hält sich die brigata insgesamt an drei verschiedenen Orten auf. Auf dem ersten Landsitz, »due piccole miglia« (I, Introd. 89) vor der Stadt gelegen, verbringt sie nur die ersten Tage. Bereits am Ende des zweiten Erzähltages beschließt sie auf Vorschlag Neifiles, den Ort zu wechseln, um nicht von Besuchern überrascht zu werden (II, Concl. 7). Der zweite Landsitz ist dann aber lediglich »dumilia passi« vom ersten entfernt, die brigata erreicht ihn auf einem wenig begangenen Weg (III, Introd. 3). Der Aufenthalt der brigata in der Valle delle Donne am siebten Tag setzt diese Bewegung des sukzessiven Rückzugs fort. Wiederum ist die räumliche Distanz zum Landsitz gering (»né […] piú d’un miglio«, VI, Concl. 19), der Zugang zum Tal jedoch erschwert: es gibt nur einen möglichen Weg137 und dieser führt durch eine enge, unwegsame Schlucht.138 Die kultivierte, arrangierte Natur der Gärten wird in der Valle delle Donne von der perfekten, paradiesgleichen Harmonie der Natur – die sowohl eine unberührt-naturbelassene als auch eine menschengemachte ist139 – noch übertroffen. Die Verbindung geringer räumlicher Distanzen mit Metaphern der Unwegsamkeit macht deutlich, dass es vorrangig darum geht, die brigata in eine symbolische Distanz zur Stadt zu bringen. Diese Beobachtung wird dadurch unterstrichen, dass im Gegensatz zu den konkreten geographischen Angaben, wie sie für Pestbeschreibung und Novellen bestimmend sind, der Landaufenthalt der brigata in einer auffallend unterdeterminierten Topographie im Umland von Florenz situiert ist:140 die Landgüter bleiben wie auch die Orte ringsum namenlos und die Valle delle Donne wird als einziger Ort zwar geographisch bezeichnet, ist aber als solcher allen Mitgliedern der brigata – bis auf Neifile – zunächst unbekannt.141 Klaus Grubmüller hat darauf 137
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»[…] senza aver piú entrate che quella donde le donne venute v’erano« (VI, Concl. 24). »[…] una via assai stretta« (VI, Concl. 19). Vgl. VI, Concl. 20: »il piano, che nella valle era, cos´ı era ritondo come se a sesta fosse stato fatto, quantunque artificio della natura e non manual paresse« und dagegen in VI, Concl. 21 die Beschreibung der offensichtlich von Menschenhand terrassierten und mit Wein, Oliven und Mandelbäumen bebauten Abhänge. So Grubmüller, Boccaccios Florenz, S. 71. VI, Concl. 18. Zu den Bemühungen, die Valle delle Donne geographischzu verorten vgl. Boccaccio, Decameron, S. 777 Anm. 11.
232 hingewiesen, dass diese topographische Unbestimmtheit die Rückzugsorte des Decameron im Wortsinne zu utopischen Orten, also ›Un-Orten‹, macht.142 Zudem korrespondiert der topographischen Unbestimmtheit die Rhetorisierung der Gartenbeschreibungen durch die Orientierung an den Elementen der antiken und mittelalterlichen locus amoenus-Topik, die die Gärten des Decameron deutlich als ästhetische Entwürfe erkennbar macht.143 Die brigata zieht sich also in drei Etappen, die als symbolische Bewegungen konnotiert sind, aus dem bekannten in einen ortlosen, zugleich literarisch stilisierten Raum zurück. Diese Merkmale sind im Filocolo noch deutlich schwächer konturiert, sie ergeben sich hier vor allem aus der schemawidrigen Stellung der Szene im Handlungsverlauf. Das gilt besonders – wie Battaglia Ricci gezeigt hat – für die rhetorische Ausgestaltung der Gärten. Zwar lassen sich auch im Filocolo entsprechende Toposzitate nachweisen, der Umfang der Gartenbeschreibungen fällt aber deutlich geringer aus.144 Zugleich lassen sich sowohl strukturelle als auch semantische Parallelen zwischen den Konzeptionen geselliger Orte in beiden Texten aufzeigen. So ist der Garten Fiammettas in der Liebesfragen-Episode räumlich vor allem über Merkmale der Abschirmung (Mauer, Pforte, kreisrund angeordnete hohe Bäume) konstituiert, wodurch sein Charakter als Schutzraum im Vergleich mit dem offenen, gefahrvollen Meer besonders unterstrichen wird. Die drei Gärten des Decameron zeichnen sich in ihrer Entzogenheit gleichermaßen durch Offenheit und Abgeschlossenheit aus. Offene Orte sind sie insofern, als sie außerhalb der Mauern der Stadt liegen, unter freiem Himmel und inmitten einer Natur, die Heilung statt Verfall und Tod verspricht. So formuliert es Pampinea in ihrem Vorschlag, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu gehen.145 Sowohl der erste 142
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Grubmüller, Boccaccios Florenz, S. 71. Dem entspricht die Bezeichnung der Landsitze als ›ortlose Idyllen‹ (ebd., S. 81). Mit der Gartenmotivik im Decameron haben sich insbesondere Kern, Die Gärten, S. 244–270, und Usher, Frame and novella gardens, S. 274–285, beschäftigt. Im Gegensatz zu älteren Auffassungen, nach denen die locus amoenus-Topik als ›ornamental‹ zu bewerten sei, stellt Kern die engen Bezüge zwischen den Decameron-Gärten und dem Roman de la Rose – und damit zur Tradition mittelalterlicher Liebesgärten – heraus, und zeigt, wie die spezifische Attribuierung diese zu Gärten der Venus macht. Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino,S. 168–179. Dagegen sieht Usher das literarische Modell für die Gärten der Rahmenerzählung vor allem im Garten der Pomena, wie er im Ameto beschriebenist. In einer vergleichendenLektüre der Gärten des Rahmens mit denen der Novellenkommt er zu dem Ergebnis, dass das Kennzeichen der Rahmen-Gärten die auch im Ameto angelegte Kombination aus ›Natur‹ und ›Vernunft‹ sei, die das geordnete Erzählen der zum Teil moralisch anstößigen Novellen ermögliche, vgl. Usher, Frame and novella gardens, S. 283. »[si vede] il cielo piú apertamente, il quale […] non per ciò le sue bellezze eterne ne nega, le quali molto piu´ belle sono a riguardare che le mura vote della nostra città« (I, Introd. 66).
233 als auch der zweite Landsitz erfüllen diese Kriterien. Beide haben ähnliche geographische Eigenschaften, sie liegen etwas erhöht über der Ebene und abseits von Siedlungen und Straßen.146 Gleichzeitig sind sowohl die Gärten der Landsitze als auch die Valle delle Donne abgeschirmte Orte, horti conclusi, die auch dem novellare der brigata einen idealen Schutzraum bieten. Da die Gärten an jedem neuen Rückzugsort weitläufiger werden, ergibt sich die Notwendigkeit, die eigentlichen Versammlungsorte in zunehmendem Maße zu begrenzen. Wird der Garten, in dem sich die brigata auf dem ersten Landsitz konstituiert, als lediglich sonnengeschützt beschrieben,147 so ist der Garten des zweiten nicht nur von einer Mauer umstanden, sondern wird zusätzlich von einem künstlich angelegten Wasserlauf gerahmt. Der eigentliche Versammlungsort der brigata ist hier gegen den übrigen Garten noch ein weiteres Mal durch hohe Orangenbäume und Zedern abgegrenzt.148 Mit der Valle delle Donne werden die Proportionen des Rückzugsorts wiederum erweitert, der Garten weitet sich zum Tal. Umso intensiver sind die Bemühungen des Erzählers, den Talgrund mit Rasenplatz und See als abgeschirmt und den Blicken entzogen auszuweisen: Von den das Tal umgebenden sechs Hügeln senken sich gleichmäßige Terrassen, »come ne’ teatri«, die auf das perfekte Kreisrund des Talgrundes zulaufen. Die symmetrische Bebauung mit Wein, Oliven und Mandelbäumen auf der sonnenzugewandten, Eichen und Eschen auf der sonnenabgewandten Talseite und Nadelbäumen im Tal, die anmuten, als seien sie von Gott selbst als größtem Künstler angepflanzt worden, so dass nicht einmal mehr die Sonnenstrahlen bis zur Wiese am Talgrund vordringen können, betont Abgrenzung und Distanz zur Außenwelt einmal mehr.149 Das markanteste Merkmal der Rückzugsorte der brigata ist die Tatsache, dass sie als Gegen-Orte zur Peststadt Florenz entworfen sind und in dieser binären Konstruktion in spezifischer Weise semantisiert werden. Im Zuge einer medizinischen Argumentation werden sie zum einen identifiziert als Orte des Lebens und der Gesundheit.150 Schon in der Pestbeschreibung spielt die Frage, wie man angesichts des unerklärlichen, unberechenbaren und wahllos ausgreifenden Sterbens die eigene salute 146
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Vgl. I, Introd. 90 und III, Introd. 3. Zu den Versuchen, die beiden Landsitze geographisch zu verorten vgl. Boccaccio, Decameron, S. 41 Anm. 1 und S. 324 Anm. 1. Vgl. I, Introd. 109. Vgl. III, Introd. 5, 10 und 8. Vgl. VI, Concl. 21–24. Die Nähe der Introduzione zum medizinischen Diskurs wird hier zunächst nur an der verwendeten Terminologie festgemacht: salute als körperliche Unversehrtheit und körperliches Wohlergehen ist der zentrale Gegenstand der Medizin, vgl. die Ausführungen bei Schnell, Mittelalter oder Neuzeit, S. 261f. Dass es vor allem um ihre Erhaltung geht, wird sowohl in der Pestbeschreibung (I, Introd. 19 und 35) als auch in der Figurenrede der brigata mehrfach betont (I, Introd. 63 und 77).
234 erhalten könne, eine zentrale Rolle (I, Introd. 19–26). Es heißt, dass fast alle (quasi tutti ) angesichts dieser Frage auf Leben und Tod zu demselben Entschluss kommen: e tutti quasi a un fine tiravano assai crudele, ciò era di schifare e di fuggire gl’infermi e le lor cose; e cosí faccendo, si credeva ciascuno a se medesimo salute acquistare. (I, Introd. 19)151
Die körperliche Flucht vor den infermi e le lor cose kann nun auf unterschiedliche Weise realisiert werden, sei es durch den Rückzug aus den sozialen Zusammenhängen der Stadt (I, Introd. 20) oder aber durch die Flucht aus dem Stadtraum als solchem, die eine noch radikalere Absage an die Bindungen des Gemeinwesens darstellt: Alcuni erano di piú crudel sentimento, come che per avventura piú fosse sicuro, dicendo niuna altra medicina essere contro alle pistilenze migliore né cosí buona come il fuggir loro davanti: e da questo argomento mossi, non curando d’alcuna cosa se non di sé, assai e uomini e donne abbandonarono la propia città, le proprie case, i lor luoghi e i lor parenti e el lor cose, e cercarono l’altrui o almeno il lor contado (I, Introd. 25).152
Die hier zitierte Ansicht, die Flucht sei das einzige Heilmittel gegen die Pest, entspricht einer zeitgenössischen Position, wie sie bspw. von Medizinern an der Sorbonne vertreten wurde.153 Aber obwohl der Erzähler an anderer Stelle die Hilflosigkeit der zeitgenössischen Medizin geißelt,154 gerät die ultima ratio der Flucht hier nicht in die Kritik.155 Vielmehr billigt der Erzähler dem – in sozialer, mitmenschlicher Hinsicht – als überaus grausam (piú crudel ) gewerteten Verhalten der alcuni zu, dass ihrem radikalen Handeln möglicherweise (per avventura) die größte Sicherheit (piú sicuro) korrespondiere. Das Heil in der Flucht zu suchen ist in den Augen des Erzählers also eine menschlich anfechtbare, nicht aber eine medizinisch diskreditierte – obwohl hilflose – Aktion. Im weiteren macht der Erzähler jedoch deutlich, dass, obgleich die Flucht aus der Stadt unter 151
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»[…] und fast alle faßten schließlich den grausamen Entschluß, die Kranken und alles, was zu ihnen gehörte, zu verlassen und zu fliehen, um auf solche Weise die eigene Gesundheit zu bewahren.« (I, 17) »Einige folgten einem noch grausameren Gefühl, welches vielleicht das richtige war: Sie behaupteten, daß es keine bessereund verläßlichereMedizin gegen die Pest gäbe als die Flucht vor ihr. Aus diesem Grunde verließen viele Männer und Frauen, nur auf die eigene Rettung bedacht, ihre Vaterstadt, ihre Häuser und Wohnungen, ihr Hab und Gut und ihre Familie und begaben sich auf einen fremden oder bestenfalls auf den eigenen Landsitz.« (I, 19) So Wehle, Der Tod, S. 225. Vgl. dafür die einschlägigen Bemerkungen in I, Introd.13, wo die »ignoranza de’ medicanti« explizit benannt wird. Obgleich, wie Wehle, Der Tod, S. 225, richtig feststellt, die Position an sich einem Armutszeugnis gleichkomme, das den theoretischen Notstand einer medizinischen Zunft offenbare, die angesichts der Pest weder zureichende diagnostische noch therapeutische Antworten zur Hand gehabt habe.
235 Umständen größere Sicherheit gewähren kann als der Verbleib innerhalb ihrer Mauern, diese Sicherheit doch lediglich eine relative und keine feste Größe sein kann: Denn wie könne man sicher sein, dass der Zorn Gottes das Strafinstrument der Pest auf die Menschen in der Stadt beschränke?156 Auch sein Resümee, das sich auf alle vorgestellten Reaktionsvarianten bezieht, relativiert und begrenzt deren Anspruch, das Überleben garantieren zu können, explizit: E come che questi cosí variamente oppinanti non morissero tutti, non per ciò tutti campavano: anzi, infermandone di ciascuna molti e in ogni luogo, avendo essi stessi, quando sani erano, essemplo dato a coloro che sani rimanevano, quasi abbandonati per tutto languieno. (I, Introd. 26)157
Vor dem Hintergrund dieses auf der intradiegetischen Ebene vom Erzähler selbst gezogenen Schlusses, dass letztgültige Rettung unter den Bedingungen der Pest nicht zu haben sei, müssen jene Überlegungen, die auf der Ebene der Figuren – zwischen den sieben Damen in Santa Maria Novella – angestellt werden, als mindestens widersprüchlich erscheinen. Aus der Perspektive des bereits umfassender informierten Lesers sind sie sogar geradezu rückschrittig: Schließlich macht sich Pampinea mit ihrem Plädoyer, die Stadt zu verlassen, zur emphatischen Fürsprecherin genau jenes piú crudel sentimento, dem der Erzähler – wie auch den anderen Positionen – bereits Vergeblichkeit bescheinigt hatte. Dieser Widerspruch wird dadurch zu kompensieren versucht, dass die bloße Behauptung, vor der Pest könne nur die Flucht retten, nun durch die Berufung auf das Naturrecht der Selbsterhaltung (»[la] conservazione della nostra vita«, I, Introd. 54) von Pampinea einschlägig begründet wird. Das Recht auf Selbsterhaltung, so argumentiert sie, verpflichte zugleich zu entsprechendem Handeln: »Natural ragione è, di ciascuno che ci nasce, la sua vita quanto può aiutare e conservare e difendere« (I, Introd. 53).158 Intradiegetisch sind somit zwei einander widersprechende Positionen gegeneinander gestellt: die des Erzählers, der nach Sichtung und Kategorisierung potentieller Reaktionen auf die Pest zu dem Ergebnis kommt, 156 157
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Vgl. I, Introd. 25. »Wenn nun auch nicht alle diese so verschieden denkenden Menschen starben, so blieben auch nicht alle verschont. Im Gegenteil, es erkrankten allerorts viele Anhänger der verschiedenen Theorien und wurden nach dem Beispiel, das sie selbst, solange sie gesund waren, anderen gegeben hatten, nun von den Gesundgebliebenen verlassen, um elend dahinzusiechen.« (I, 19) »Und für jeden, der auf Erden lebt, ist es ein Gebot der Natur [Kurt Flasch übersetzt: »natürliche[s] Recht«], sein Leben, soweit es in seinen Kräften steht, zu fristen, zu erhalten und zu verteidigen.« (I, 27). Zu den philosophischenImplikationen von natural ragione vgl. Kurt Flasch: Die Gegengesellschaft.Erster Tag: Einleitung (Teil II). In: Giovanni Boccaccio:Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron (Vorwort, Erster Tag: Einleitung, Novelle I–IV). Italienisch-Deutsch. Neu übers. und erkl. von Kurt Flasch. Mainz 1992 (= excerpta classica, 10), S. 95–114, hier S. 98–105, Zitat S. 102.
236 keine Option garantiere letztliche Rettung, und die Pampineas, die stellvertretend für die brigata eine dieser Optionen, nämlich die Flucht aus Florenz, als letzte denkbare Verhaltensvariante verabsolutiert.159 Damit aber fällt die brigata hinter das Wissen des Lesers zurück: Sie verfügt zwar über stichhaltige Argumente zur Begründung der Flucht, ohne dabei aber auf Grund ihrer Position als Teilnehmer der Geschichte bereits zu überblicken, dass auch die Flucht das Heil nicht garantieren kann. Dieser Überblick, besser: erkenntnistheoretische Vorsprung bleibt dem Erzähler und mit ihm dem Leser vorbehalten. Das Erzählerresümee in I, Introd. 26 ließe sich damit als theoretischer Obersatz (›Keine Verhaltensweise garantiert Rettung.‹) für die intradiegetische Erzählebene erweisen, zu dem die Position der brigata (›Rettung liegt allein in der Flucht.‹) notwendig in Spannung gerät. Mit dem konsensualen Beschluss der brigata, nach nur 14 Tagen Landaufenthalt und 100 erzählten Geschichten nach Florenz zurückzukehren, wird diese Spannung allerdings von den Figuren selbst – und damit ganz im argumentativen Zusammenhang der intradiegetischen Ebene verbleibend – wieder aufgelöst. Der Erkenntnisprozess, den die brigata offensichtlich durchlaufen hat, und der – wie Wehle richtig feststellt – darin besteht, dass sich die Figuren 100 Geschichten erzählt haben,160 versetzt sie in die Lage, ihrer eigenen anfänglichen Position eine Antithese entgegenzusetzen, die lautet: ›Es gibt keine endgültige Flucht.‹161 Die Synthese aus beiden Sätzen besteht in der Rückkehr nach Florenz, wo die Situation nach nur 14 Tagen selbstverständlich unverändert ist. Verändert ist allein die brigata. Die Differenz zwischen ihrem Auszug und ihrer Rückkehr liegt allein in dem, was sie im Zuge ihrer temporären Flucht gewonnen hat, und das ist weniger die gestiegene Wahrscheinlichkeit körperlicher Gesunderhaltung als vielmehr soziale Stabilität und mentale Immunität.162 Die prozesshaft hergestellte 159
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Flasch hat sich diesem Paradoxvon philosophischerSeite genähert,vgl. Die Gegengesellschaft, S. 112–114. Wehle, Der Tod, S. 233f.: »Was war geschehen, das ihnen [den Mitgliedern der brigata, C. E.] die Furcht vor dem Tod und einem unehrenhaften Leben genommen hat? Die Antwort ist ebenso einfach wie programmatisch: Sie haben sich hundert Geschichten erzählt. Dadurch wurde ihre Gesinnung von Grund auf verändert. Anders gesagt: die Novellen haben eine Novellierung ihrer Lebenseinstellung bewirkt.« Vgl. zu den gruppenexternen und -internen Argumenten, die Panfilo als König des zehnten Tages hierzu vorträgt, und die den Rückzugsorten des Decameron das Moment der Zeitlichkeit noch stärker einschreiben, als das in der Questioni d’amoreEpsiode der Fall ist, Kap. 5.3.3. Die Frage, inwiefern sich die brigata verändert hat, was sie im Erzählen hinzugewonnen oder gelernt haben könnte, gehört in der Decameron-Forschung wohl zu den schwierigsten. Die hier vorgeschlagene Antwort schließt zum einen an Wehle, Der Tod, bes. S. 234f., zum anderen an Arend, Lachen und Komik, S. 124, an, die die therapeutischeWirkung des Landaufenthaltsbetont:»Die Zeit des Landaufenthalts, die den äußeren Rahmen für das Erzählen der einhundert Novellen bildet, ist
237 Fähigkeit der brigata, ihre Anfangsposition kognitiv und affektiv zu revidieren, bestätigt auf diese Weise implizit die Anerkennung des ErzählerObersatzes als wahrheitswertig. Die Zeitlichkeit, die den Gärten des Decameron damit eingeschrieben ist, kann als ganz allgemeines Merkmal literarischer Rückzugsorte bezeichnet werden.163 Hier ist sie, als Erkenntis der brigata, dass die Flucht an den Rückzugsort nur von temporärem Bestand sein kann, in den Zusammenhang einer Argumentation über die Möglichkeit und Unmöglichkeit letztlicher Selbsterhaltung gestellt. Sie ermöglicht eine Bewegung, die, indem sie in die geselligen Orte nicht nur hinein-, sondern auch wieder hinausführt, kognitive Progression beschreibt.164 Zeitlichkeit, die Entwicklung und Bewegung ermöglicht, unterstreicht zudem den Charakter des Experiments, als das sich dieser temporäre Rückzug der brigata beschreiben lässt. Danach lässt der Erzähler die brigata sich zu einer künstlichen Versuchsanordnung aufstellen (Kap. 5.3.3), innerhalb derer er ein spezifisches kommunikatives Experiment ablaufen lässt (Kap. 5.4), obgleich er auf Grund seiner nachzeitigen Position die prinzipielle Vergeblichkeit aller Experimente schon kennt. Dadurch kommt dem Ausgang – oder stärker: Abbruch – des Experiments besondere Bedeutung zu. Während er einerseits die Erkenntnis des Erzählers zu bestätigen scheint, dokumentiert er andererseits einen Erkenntnisfortschritt auf der Seite der brigata, der über Resignation und Fatalismus hinausgeht. Stimmt man der Lesart zu, dass innerhalb eines für den Leser bereits abgesteckten, jeden Rettungs- und Heilsgedanken relativierenden Erkenntnishorizonts unter der Maßgabe naturrechtlich begründeter Selbsterhaltung ein Experiment mit (noch) unbestimmtem Ausgang abläuft, dann kann die Frage angeschlossen werden, was die brigata inner-
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zugleich als eine Zeit der Quarantäne zu sehen. Freiwillig begeben die Gesunden sich in diesen Schutzraum, um ihre physische, psychische und moralische Gesundheit aufrechtzuerhalten.[…] Das Ende des Decameron verdeutlicht, dass die Gruppe ebenfalls freiwillig in den immer noch gefährdeten Raum zurückkehrt, nunmehr jedoch immunisiert durch eine indirekte Teilhabe an positiven Lebensvollzügen, von denen in den Novellen berichtet wird und die im Zusammenleben der Brigata eingeübt und reflektiert worden sind.« Vgl. die analoge Beobachtung bei Giuseppe Mazzotta: The Decameron. The Marginality of Literature. In: University of Toronto Quarterly 42 (1972/73), S. 64–81, hier S. 68: »The brigata dissolves at the end because no finality is possible for the pastoral interlude.« Die maßgeblichen Referenzgrößen für diese Konzeption sind in der christlichen Literatur das Paradies, in der antiken Literatur die Idyllen und das feste Motivinventar des locus amoenus. Die Beobachtungen in Kap. 3 haben gezeigt, dass jeder Versuch, die Glücks- und Heilsversprechen dieser Rückzugsorte endgültig zu fixieren und auf Dauer zu stellen, sie damit ihrer immanenten Flüchtigkeit zu berauben, unweigerlich zu Stillstand, Paralyse (und Langeweile) führt, vgl. auch Kap. 5.3.3. Das gilt in besonderem Maße schon für die geselligen Orte bei Platon und Cicero.
238 halb ihres Erkenntnishorizonts eigentlich unter conservazione della nostra vita versteht und sich insofern von der Flucht erhofft. Selbsterhaltung könnte zunächst rein physisch verstanden werden: In der Distanz zur Stadt vermindert sich die Gefahr, mit den Infizierten in Berührung zu kommen, die Lebensbedingungen sind auf dem Land besser und der Gesunderhaltung eher zuträglich. Allerdings zielen die Aussagen der brigata nur zum Teil auf diese Dimension, wenn etwa Pampinea ausführt, auf dem Land könne man dem Tod ausweichen (»fuggendo […] la morte«, I, Introd. 65), die Natur biete angenehmere Anblicke und die Luft sei dort besser (I, Introd. 66–67). Auch als Panfilo in der Conclusione des zehnten Tages noch einmal die Gründe für den Auszug aus Florenz resümiert, bleibt der Aspekt der körperlichen Selbsterhaltung eher unspezifisch.165 Die Konzeption der conservazione della nostra vita erschöpft sich also nicht darin, das rein physische Überleben der brigata durch die Distanzierung von der Stadt zu gewährleisten. Es geht darüber hinaus um die mentale Gesundheit der brigata. Dass der Landaufenthalt der brigata mit seinem auf starke zeitliche Gliederung und maßvolle Annehmlichkeit setzenden Programm für Leib (erlesene, aber nicht exzessive Mahlzeiten, kurze Spaziergänge im Freien) und Geist (Konversation, Erzählungen, Gesang) medizinischtherapeutische Züge aufweist, die im zeitgenössischen medizinischen Diskurs verankert werden können, ist in der Forschung verschiedentlich festgestellt und neuerdings von Elisabeth Arend eingehend beschrieben worden.166 Sie zeigt, dass das therapeutische Programm des Landaufenthalts sich als ein ganz allgemeines Krankheits-remedium lesen lässt, wie es sich auch in Pest-Schriften findet,167 dass medizinische Schriften es insbesondere jedoch gegen die zentrale mittelalterliche Seelenkrankheit der Melancholie empfehlen.168 165
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Panfilo spricht ganz allgemein davon, dass man ausgezogen sei, um durch Vergnügen Gesundheit und Leben zu erhalten: »per dovere alcun diporto pigliare a sostentamento della nostra santà e della vita« (X, Concl. 3). Arend, Lachen und Komik, S. 108–140, bezieht sich hierbei maßgeblich auf die Ergebnisse von Schnell, Mittelalter oder Neuzeit?, S. 260–269; zur Aufnahme dieser Vorstellung in der Decameron-Rezeption und zu ihrer Veränderung bei Marguerite de Navarre vgl. Béatrice Jakobs: »Quelque plaisant exercice pour passer le temps…«: L’Heptaméron zwischen Novellentradition und Konversationsidealen? In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 47 (2006), S. 71–94. Vgl. hierzu besonders Glending Olson: Literature as recreation in the later Middle Ages. Ithaca, London 1982, S. 164–183; Giuseppe Mazzotta: Plague and Play. In: G. M.: The World at Play in Boccaccio’s Decameron. Princeton 1986, S. 13–46; die These, dass die im Decameron skizzierten vorbeugenden Maßnahmen gegen die Pest ihrerseits in den medizinischen Diskurs Aufnahme gefunden hätten, vertritt Martin Marafioti: Post-Decameron plague treatises and the Boccaccian innovation of narrative prophylaxis. In: Annali d’italianistica 23 (2005), S. 69–87. Arend, Lachen und Komik, S. 120 und S. 128–130. Melancholiebezeichnetim Kontext der antiken und mittelalterlichen Humoralpathologie ursprünglich einen von
239 Das auf der intradiegetischen Ebene entfaltete therapeutische Programm hat in der Ankündigung des Erzählers im Proemio, er adressiere sein Werk liebeskranken Damen als Beistand oder Trost (sostentamento o conforto), eine auffallende Parallele auf der extradiegetischen Ebene (Proemio, 9–15).169 Rüdiger Schnell hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Liebeskrankheit, der amor hereos, von der mittelalterlichen Medizin systematisch zur Melancholie gestellt wird und ihr sowohl hinsichtlich der Symptomatik als auch der Therapie als verwandt gilt.170 Für Boccaccio lässt sich dieser Befund zuspitzen, denn er setzt Liebeskummer und Melancholie (malinconia) begrifflich in eins. Das zeigt sich nicht nur im Proemio (Proemio, 11 u. 12), sondern auch an zahlreichen Belegen aus dem Filocolo, der mit der Figur des Florio ja einen über weite Strecken liebeskranken, und das heißt bei Boccaccio eben: malinconia-kranken Protagonisten hat.171 Schnell schlägt nun vor,
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vier Habitus, bei dem der Saft der schwarzen Galle im Verhältnis zu den anderen Säften (Blut, gelbe Galle, Schleim) vorherrscht. Im Mittelalter wird sie zunehmend als therapierbares Krankheitsbild behandelt, vgl. grundlegend Erich Schöner: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Wien 1964 (= Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beihefte, 4); Raymond Klibansky / Erwin Panofsky / Fritz Saxl: Saturn und Melancholy. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Übersetzt von Christa Buschendorf. Frankfurt a. M. 1992 (= stw, 1010); Rainer Jehl: Melancholie und Acedia. Ein Beitrag zu Anthropologie und Ethik Bonaventuras. Paderborn u. a. 1984 (= Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, N. F. 32), S. 1–14; sowie Carol Falvo Heffernan: The Melancholy Muse. Chaucer, Shakespeare and Early Medicine. Pittsburgh 1995. Schnell, Mittelalter oder Neuzeit?, S. 266f. Ebd., S. 263–265; grundlegend noch immer der Aufsatz von John Livingstone Lowes: The Loveres Maladye of Hereos. In: Modern Philology 11 (1914), S. 491–546; vgl. auch Heffernan, The Melancholy Muse, S. 68–73; sowie Michael R. McVaugh: Introduction.In: Arnaldi de VillanovaOpera Medica Omnia Bd. III. Edidit et praefatione et commentariis anglicis instruxit M. R. Mc V. Barcelona 1985, S. 11–39. So insbesondere im Buch II des Filocolo, in dem die Trennung von Biancifiori Florio in immer stärkerem Maße der Liebeskrankheit (malinconia) anheim fallen lässt (Filocolo, II,24–76), bis sie schließlich sogar als habitualisiert erscheint (ebd., III,8,1). Während die von Herzog Ferramonte und Ascalion vorgesehene Therapie, Florio durch die erotische Begegnung mit zwei hübschen Mädchen von seiner Fixierung auf Biancifiori abzubringen, scheitert (ebd., III,11), vermag der Aufenthalt in Fiammettas Gartens Florios malinconia temporär zu suspendieren (programmatisch ebd., IV,14,3). Für Boccaccios Bezugnahmen auf den medizinischen Diskurs zum amor hereos vgl. die Untersuchung von Palmieri, Filocolo philocaptus. Mit dem Melancholie-Diskurs in den deutschen Bearbeitungen des Filocolo haben sich eingehend Röcke, Liebe und Melancholie, S. 177–191, und Schünemann, Florio und Bianceffora, S. 251–264, befasst. Beide Beiträge bestätigen die These von Klibansky u. a., Saturn und Melancholy, S. 319–333, dass die Literatur des Spätmittelalters eine spezifisch ›poetische Melancholiekonzeption‹ aufweise, die die Krankheit der Melancholie auf eine vorübergehende Gemütsstimmung reduziere (ebd., S. 319f.). Diese These widerspricht allerdings dezidiert Röckes und
240 den als remedium gegen Melancholie und Liebeskrankheit ausgestalteten Landaufenthalt der brigata als Therapie der im Proemio angesprochenen Damen zu lesen.172 Die Parallelisierung – pointierter: der ›Kurzschluss‹ – der beiden Rahmenebenen übersieht, dass die brigata ihren Landaufenthalt selbst als Melancholie-remedium auffasst: So erklärt Panfilo in der Conclusione des zehnten Tages, man habe Florenz verlassen, um Melancholie, Schmerzen und Angst zu fliehen: cessando le malinconie e’ dolori e l’angosce, le quali per la nostra città continuamente, poi che questo pistolenzioso tempo incominciò, si veggono (X, Concl. 3).173
Es ist unwahrscheinlich, dass hier die im Proemio mit diesem Begriff bezeichnete Liebeskrankheit gemeint ist, denn diese ist in Gestalt punktueller Verliebtheiten und daraus resultierenden Liebeskummers auf Seiten der brigata 174 sowie in Gestalt der von unglücklicher Liebe handelnden Novellen des vierten Tages durchaus an den geselligen
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Schünemanns Textbeobachtungen, nach denen Melancholie, auch wenn sie in den deutschen Texten begrifflich nicht fixiert wird, ausgehend von der Konzeption im Filocolo alle Kennzeichen einer schweren mentalen Krankheit trägt, vgl. Röcke, Liebe und Melancholie, S. 183–186; Schünemann, Florio und Bianceffora, S. 251– 259. Die Tatsache, dass Boccaccio das Krankheitsbild des Liebeskranken, an amor hereos Leidenden, begrifflichdem des Melancholikers subsumiertund damit offensichtlichbeide Krankheitenihrer Entstehung, Symptomatik und Therapienach für identisch hält, ist vielmehr geeignet, die These von Klibansky u. a. zu modifizieren, die offenbar erst für spätere Texte greift. Zwar führen Klibansky u. a., Saturn und Melancholy, S. 321, Boccaccio als frühen Kronzeugen semantischer Entpathologisierung von Melancholie an, die hier zitierten Passagen aus dem Ameto können aber – wie der Vergleich mit dem Filocolo und dem Decameron zeigt – keinesfalls als repräsentativ angesehen werden, vgl. die differenzierten Befunde zu Boccaccios Konzeption der malinconia bei Palmieri, Filocolo philocaptus, S. 109–141. Die ausgearbeitete Pathologie der Liebe im Filocolo zeigt im Übrigen, dass Melancholie/Liebeskrankheitdurchauskeine spezifisch weiblicheKrankheit ist, wie Margarete Zimmermann bezogen auf das Decameron behauptet hat, vgl. Boccaccios Decameron – ein frühes ›Frauenbuch‹? In: Ingrid Bennewitz (Hrsg.): Der frauwen buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik. Göppingen 1989 (= GAG, 517), S. 227–263, hier S. 239f. Das macht auch der Erzähler im Proemio des Decameron deutlich: Liebeskummer sei ein ubiquitäres Problem, allein die Frauen hätten im Gegensatz zu Männern eingeschränkteren Zugang zu entsprechenden remedia (Proemio, 9–12). Das ist eine Aussage, die einmal mehr auf BoccacciosVertrautheit mit dem mittelalterlichen medizinischen Diskurs verweist, vgl. Palmieri, Filocolo philocaptus, S. 123–127. Schnell, Mittelalter oder Neuzeit?, S. 266: »Dass die medizinische Behandlung für Liebeskranke und Pestbedrohte dieselben Heilmittel vorsieht, nutzt Boccaccio zu einem raffinierten Kunstgriff: den eingeschlossenen liebeskranken Frauen vermittelt er über die Dichtung, d. h. über die Rahmenhandlung, eben die Therapie, die ihnen in der Realität vorenthalten wird.« »[…] um […] der Trauer [besser: der Schwermut, C. E.], den Schmerzen und Ängsten, die seit Beginn der schrecklichen Pestzeit in unserer Vaterstadt herrschen, zu entfliehen« (II, 529). Besonders deutlich an der Figur des Filostrato, vgl. III, Concl. 5.
241 Rückzugsorten präsent. Wenn aber an Liebeskummer leidende Mitglieder der brigata – wie Filostrato – ihre Krankheit gar nicht in Florenz zurückgelassen haben, sondern diese mit ihnen in die Gärten der Landgüter eingegangen ist, dann kann diese Variante von Melancholie in Panfilos Kommentar auch nicht angesprochen sein.175 Damit bezieht sich Panfilo offensichtlich auf das breitere Verständnis von malinconia als jenes Schwermut und Trauer verursachenden Krankheitsbilds, bei dem nach Vorstellungen der antik-mittelalterlichen Humoralpathologie ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte zugunsten der schwarzen Galle zu diagnostizieren ist. Warum aber hätte für die brigata in Florenz die akute Gefahr bestanden, an dieser Form von malinconia zu erkranken? Battaglia hat im Rahmen seines historisch angelegten Wörterbuchs dieses Problem auf der semantischen Ebene gelöst, indem er im vorliegenden Beleg eine Verschiebung von der Krankheit zu deren Auslösern ansetzt: Malinconia stehe hier »in senso concreto« für »avvenimento, situazione, pensiero che provoca o che costituisce motivo di sofferenza o di tristezza«.176 Panfilo würde demnach gar nicht auf die Krankheit anspielen, sondern auf die in einem sehr allgemeinen Sinne besorgniserregenden, traurigen Zustände in Florenz. Ob für die besagte Wortverwendung, zumal es sich um den frühesten Beleg in Battaglias Systematik handelt, tatsächlich bereits eine so weitgehende semantische Öffnung zu beobachten ist, kann hier nicht entschieden werden. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die skizzierte Verschiebung und Öffnung der Wortverwendung ganz grundsätzlich mit der Frage nach der Entstehung von Melancholie zusammenhängt. Denn erst wenn als communis opinio angesehen wird, dass bestimmte Umstände oder Ereignisse zu Melancholie führen können, lässt sich die metonymische Verwendung der Krankheitsbezeichnung für die Ursache erklären. Dieser eindeutige Kausalzusammenhang ist innerhalb der medizinischen Geschichte der Melancholie aber gar nicht ohne weiteres abzuleiten.
5.3.1.1 Exkurs: Das Problem der inneren Bilder. Zur Entstehung von Melancholie und amor hereos In der antiken Humoralpathologie galt die Melancholie als einer von vier habitus, das Übermaß schwarzer Galle war hier angeboren – also nicht erworben – und führte seinerseits zu Schwermut und Depression, befähigte aber gleichfalls zu extremer geistiger Leistung. Die Pathologisierung der Melancholie, insbesondere ihre systematische Nachbarschaft zu mentalen oder psychischen Krankheiten wie Wahn und Liebeskrankheit, hatte dagegen die Frage zu beantworten, wie die Entstehung von Melancholie zu denken sei. Ursache und Wirkung waren nicht mehr eindeutig aufeinander bezogen: Bewirkte das Missverhältnis der Säfte die 175 176
Anders Schnell, Mittelalter oder Neuzeit?, S. 266. Battaglia Bd. 9 (1975), S. 549–550, hier S. 550.
242 geistige Disposition oder diese jenes? Die Schwierigkeiten der mittelalterlichen Medizin, ein im Kontext der Temperamentenlehre zunehmend als Geistes- oder Seelenkrankheit aufgefasstes Krankheitsbild mit den überlieferten Begriffen der Humoralpathologie wissenschaftlich zu fassen, lassen sich daran ablesen, dass Melancholie vor allem in Bezug auf Symptom-Diagnostik und Therapie behandelt wird, während theoretische Erklärungen zum Teil knapp und einseitig ausfallen.177 Im Prinzip existieren zwei Erklärungsbereiche: Für die Erklärung der Melancholie im Kontext der Säftelehre dominiert die Frage, durch welche Prozesse das Übermaß an schwarzer Galle entsteht (z. B. durch Verbrennung gelber Galle oder als Rückstand von Blut).178 Erklärungen zu den Krankheiten mania, melancholia und amor hereos rekurrieren dagegen auf das Modell der Dreiteilung des Hirns in einen vorderen, mittleren und hinteren Bereich, in denen je spezifische Hirnfunktionen (imaginatio, ratio und memoria ) lokalisiert sind.179 Geistige Störungen sind hier rückzuführen auf Störungen der Abläufe zwischen diesen drei Funktionen.180 Dass alle drei Krankheiten als Probleme mentaler Bildverarbeitung aufgefasst werden können, lässt sich an dem für den amor hereos typischen Krankheitsbild besonders deutlich nachvollziehen. Amor hereos entsteht, etwa nach der Auffassung des genoveser Theologen und Mediziners Arnaldus de Villanova, als Folge eines anomal verlaufenden mentalen Prozesses: so wirkt sich die erotische Liebe destruktiv auf die Abläufe in der ratio aus, wodurch die Feuchtigkeitsverhältnisse in den Hirnkammern – ein bedingt plausibler Tribut an die Säftelehre – aus dem Gleichgewicht geraten: die imaginatio trocknet aus. Diese Vorgänge bewirken, dass sich das Bild des geliebten Objekts so stark in die memoria einprägt, dass es zu einer obsessiven Präsenz im Hirn wird.181 Der Liebeskranke leidet also an den Bildern seines Liebesobjekts, die – nach dem Eingang durch die imaginatio – in der ratio so unzureichend prozessiert werden, dass sie in der memoria nicht endgültig abgelegt werden; sie drängen immer wieder in die ratio vor. Auf diese Weise entsteht eine nicht zu bewältigende Vielzahl, ein Stau des immer selben Bildes, der alle geistige Aktivität des Subjekts absorbiert. Dadurch wiederum erscheint es seiner Umwelt apathisch, träge und handlungsresistent. Diese Beschreibung des amor hereos als Problem mentaler Bildverarbeitung scheint auch für den Melancholiker nicht unplausibel, der nach der Temperamentenlehre identische Eigenschaften zeigt und dem schon in der Antike eine besondere Neigung und Befähigung zu geistiger Arbeit zugeschrieben wird.182 In der Charakterisierung des Melancholikers als kontemplativ wird dieser Zusammenhang besonders anschaulich, denn contemplatio bezeichnet ge177 178 179
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Klibansky u. a., Saturn und Melancholy, S. 165f. Ebd., S. 151–155. Ebd., S. 156–165. Diese Vorstellung wird unter anderem entfaltet bei Augustinus: Confessiones. In: Jaques-Paul Migne (Hrsg.): Patrologiae cursus completus, series latina. Bd. 32. Paris 1841 (= Augustinus, 1), Sp. 659–808, hier Buch X,8–16. Klibansky u. a., Saturn und Melancholy, S. 156–165. Vgl. Arnaldus de Villanova: Tractatus de amore heroico. In: Arnaldi de Villanova Opera Medica Omnia Bd. III. Edidit et praefatione et commentariis anglicis instruxit Michael R. McVaugh. Barcelona 1985, S. 43–54, hier S. 45–47; zu Arnaldus auch Heffernan, Melancholy Muse, S. 73: »The result is that the pleasing form of the beloved object, even after it may have left, becomes imprinted in memory to the extent that it becomes an obsessive presence. This fixation is a primary aspect of the pathology of the disease of love […]«. Klibansky u. a., Saturn und Melancholy, S. 55–92.
243 nau diese – hier ins Positive gewendete – Fähigkeit, sich in ein inneres, mentales Bild zu versenken.
Dass Boccaccio die Liebeskrankheit als übermächtige, absorbierende mentale Präsenz des geliebten Wesens auffasst, lässt sich vor allem von der Figur Florios im Filocolo aus belegen.183 Da zwischen amor hereos und Melancholie terminologisch nicht differenziert, sondern beides als malinconia bezeichnet wird, spricht viel dafür, dass Boccaccio beide Krankheitsbilder nicht nur in Bezug auf Symptomatik und Therapie, sondern auch hinsichtlich der Entstehung in eins setzt. Die malinconia, von der Panfilo spricht, bezöge sich demnach auf die in Florenz grassierenden Schreckensbilder, deren Eindringlichkeit die Menschen sich nicht entziehen können.184 Dieser über den Mechanismus mentaler Bildverarbeitung gewonnene Kausalzusammenhang zwischen unheilvollen Zuständen und der Gefahr, an Melancholie zu erkranken, der im Italienischen schließlich die metonymische Verwendung von malinconia für ›Trauer auslösende Ereignisse‹ ermöglicht, kann auch über das Zitat von Panfilo hinaus im Text verankert werden. Schon in der Pestbeschreibung findet sich ein Hinweis darauf, dass der Impuls, die eigene Gesundheit durch die Flucht zu erhalten, kausal mit dem Ansturm grauenhafter Bilder verknüpft wird. Es heißt dort resümierend zu den Auswirkungen der Pest: Dalle quali cose e da assai altre a queste simiglianti o maggiori nacquero diverse paure e imginazioni in quegli che rimanevano vivi, e tutti quasi a un fine tiravano assai crudele, ciò era di schifare e di fuggire gl’infermi e le lor cose; e cosí faccendo, si credeva ciascuno a se medesimo salute acquistare (I, Introd. 19).185
Der Entschluss zu fliehen und die eigene Gesundheit in einem ganz allgemeinen Sinne zu erhalten (a se medesimo salute acquistare), erfolgt hier gerade nicht instinktiv, sondern ist durch einen mentalen Prozess im oben skizzierten Sinne initiiert: Die Bilder des allfälligen Sterbens werden nach ihrem Durchgang durch imaginatio und ratio nicht in der memoria abgelegt, sondern produzieren dort Affekte und innere Bildwelten (paure e imaginazione), die ihrerseits in der ratio den Entschluss zu fliehen entstehen lassen.186 Deutlicher noch wird dieser Zusammenhang in 183 184
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Vgl. oben Anm. 822. Wehle, Der Tod, S. 232, sieht in diesem Zusammenhang keinen medizinischen, sondern einen ästhetischen Grund für die Flucht der brigata. »Durch solche und andere ähnliche oder schlimmere Vorgänge entstanden Furcht und Schreckenunter den Überlebenden[besser:Ängste und bildlicheVorstellungen in denjenigen, die am Leben blieben, C. E.], und fast alle faßten schließlich den grausamen Entschluß, die Kranken und alles, was zu ihnen gehörte, zu verlassen und zu fliehen, um auf solche Weise die eigene Gesundheit zu bewahren.« (I, 17) Der ebenfalls im Kontext der Pestbeschreibung gegebene Hinweis, einige Florentiner hätten sich Kräuter vor die Nase gehalten, um das Gehirn zu beleben (»il
244 der Figurenrede der brigata. In ihrer Ansprache an die Damen diagnostiziert Pampinea mehrfach eine fatale Trägheit, die sie alle bislang daran gehindert habe, aktive Maßnahmen zur Selbsterhaltung zu treffen.187 Zugleich betont sie die Intensität der visuellen und auditiven Eindrücke, denen sie in Florenz ausgesetzt seien,188 die gepaart mit der Erfahrung zunehmender sozialer Vereinsamung zu einem Übermaß der inneren Bilder führe: E se alle nostre case torniamo, non so se a voi cosí come a me adiviene: io, di molta famiglia, niuna altra persona in quella se non la mia fante trovando, impaurisco e quasi tutti i capelli adosso mi sento arricciare, e parmi, dovunque io vado o dimoro per quella, l’ombre di coloro che sono trapassati vedere, e non con quegli visi che io soleva, ma con una vista orribile non so donde in loro nuovamente venuta spaventarmi (I, Introd. 59).189
Es scheint einiges dafür zu sprechen, dass sich Panfilos Verweis auf die in Florenz gegebene Melancholie-Bedrohung auf diesen Zusammenhang einer durch ein Übermaß mentaler Bilder ausgelösten Paralyse angemessenen, ›vernünftigen‹ Handelns bezieht. Zu dieser Lesart passt
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cerebro con cotali odori confortare«, I, Introd. 24), wäre ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang von sinnlichen Eindrücken und mentalen Prozessen. Vgl. I, Introd. 55: »[…] ma maravigliomi forte, avvedendomi ciascuna di noi aver sentimento di donna, non prendersi per voi a quello di che ciascuna di voi meritamente teme alcun compenso« (»doch muß ich mich umso mehr verwundern, wenn ich sehe, daß wir, obwohl alle von weiblicher Furcht erfüllt, keinerlei Anstalten treffen, um dem, was jede von uns berechtigterweise fürchtet, zu entgehen« [I, 27]); I, Introd. 63: »perché piú pigre e lente alla nostra salute che tutto il rimanente de’cittadini siamo?« (»Warum sind wir träger und langsamer als alle übrigen Bürger, wenn es sich um unsere Gesundheit handelt?« [I, 29]); I, Introd. 65: »E per ciò, acciò che noi per ischifaltà o per traccutaggine non cadessimo in quello di che noi per avventura per alcuna maniera volendo potremmo scampare […]« (»Und damit wir nicht aus Trägheit oder Unvorsichtigkeit jener Krankheit verfallen, der wir, wenn wir ernsthaft wollten, entgehen könnten […]« [I, 29]). Die Melancholie-Symptomekörperlicher Handlungsrestistenz und Paralyse als Ergebnis mentaler Überlastung sind in den beiden Begriffen ischifaltà (Überdruss, Widerwillen, Trägheit) und traccutagine (Gleichgültigkeit) besonders eindringlich gefasst, vgl. Battaglia Bd. 17 (1994), S. 1015f. (schifiltà ), und Bd. 21 (2002), S. 113 (tracotàggine). Brancas Lesart (»soverchia ritrosia [übermäßige Widerspenstigkeit] e excessiva fiducia [übertriebenes Vertrauen] che rende non curanti [das unachtsam macht]«) verwischt diesen Zusammenhang hingegen, vgl. Boccaccio, Decameron, S. 35 Anm. 3. Nach Augustinus, Confessiones, X,8–16, entstehen die in der memoria gespeicherten inneren Bilder insbesondere durch die sinnliche Wahrnehmung. Vgl. entsprechend die Häufung von Sinneseindrücken in I, Introd. 56–58. »Kehren wir dann nach Hause zurück – ich weiß nicht, ob es euch ebenso ergeht wie mir –, so finde ich von der zahleichen Dienerschaft niemand weiter dort vor als ein einziges Mädchen. Dann packt mich das Grauen, ich fühle, wie meine Haare sich sträuben, und es scheint mir, als sähe ich auf Schritt und Tritt die Schatten der Verstorbenen, doch nicht mit ihren bekannten Gesichtern, sondern mit schrecklichen Antlitzen, die ihnen, ich weiß nicht woher, gekommen sind, um mich zu verstören.« (I, 28)
245 auch Dioneos Plädoyer bei Ankunft der brigata auf dem ersten Landgut, die sorgenvollen Gedanken (»pensieri«, I, Introd. 93) in der Stadt zurückzulassen, das Pampinea mit einer entsprechenden Formulierung bekräftigt.190 Auf der intradiegetischen Ebene gibt es somit – das belegen die Ausführungen – einen offenkundigen Zusammenhang zwischen den Bildern der Pest, der Seelenkrankheit Melancholie und dem remedium des Landaufenthalts, das die Gefahr einer mentalen Erkrankung zumindest temporär aussetzen soll.191 Damit aber bietet sich zugleich ein Rückschluss auf die Funktion der Pestbeschreibung an: Diese bestünde in entscheidendem Maße darin, in der Rückschau jene Bilder zu evozieren, die die mentale Gesundheit der Zeitgenossen bedrohen und denen sich die Damen der brigata nicht länger gewachsen fühlen. Die Bildgewaltigkeit der Pestbeschreibung wäre somit notwendiger Bestandteil ihrer Poetologie. Die Konzeption der Gärten als Orte der Gesunderhaltung und der Heilung verweisen sehr deutlich auf die Teilhabe des Decameron am medizinischen Diskurs der Zeit. Dieser Befund darf jedoch nicht vergessen lassen, dass es sich hierbei um einen weltlichen Diskurs handelt, der seinerseits in Spannung zum theologischen Diskurs steht. Wie Battaglia Ricci und Wehle dargelegt haben, werden die lieblichen Orte aus der Perspektive der Geistlichkeit zur Chiffre für sündhafte Weltverfallenheit.192 Die Rückzugsorte erscheinen damit in doppelter Weise kodiert: Aus der Perspektive weltlicher Medizin ermöglichen sie wenigstens für eine gewisse Zeit Heilung an Körper und Geist, aus der Perspektive der Theologie ist gerade diese Reduktion des Heilsgedankens auf diesseitiges, körperbezogenes Wohlergehen anstößig und provoziert die Mahnung zu Buße und Umkehr und zur Sorge für das Seelenheil im Jenseits. Es dürfte zu den faszinierenden Aspekten des Decameron gehören, dass diese Ambivalenz zunächst einmal erhalten bleibt. Insbesondere die den Gärten eingeschriebene Zeitlichkeit, die zum freiwilligen Abbruch des Experi190
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»[…] festevolmente viver si vuole, nè altra cagione dalle tristizie ci ha fatte fuggire« (I, Introd. 95) (»Wir wollen unser Leben festlich gestalten. Deshalb allein sind wir der Traurigkeit entflohen.« [I, 35]) Diese Beobachtung versteht sich als Ergänzung der bisherigen medizingeschichtlichen Lektüren des Decameron (v. a. Schnell, Mittelalter oder Neuzeit?, und Arend, Lachen und Komik), in denen die Korrespondenzenzwischen MelancholieSymptomatik und -Remedium innerhalb der intradiegetischen Ebene offenkundig übersehen wurden. Ausgehend von der Beobachtung, dass Melancholie bei Boccaccio – sowohl auf der extra- als auch der intradiegetischen Ebene – als mentale Bildfixierungaufgefasst wird,wäre der Status der Novellennoch einmal neu zu prüfen: Inwiefern vermögen sie, den mentalen Bilderstau durch neue, andere ›Bilder‹ aufzulösen? Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 94–99, S. 125–154; Wehle, Der Tod, S. 227–232.
246 ments und zur Rückkehr der brigata in die Stadt führt, macht deutlich, dass die Rückzugsorte keine dauerhaften Glücks- und Heilsversprechen bereit halten. Das ›hedonistische Projekt‹ des Landaufenthalts mag zwar ein plakativer Gegenentwurf zu der von dominikanischer Seite gepredigten Weltverneinung sein,193 aber es ist von begrenzter Autonomie.194 Neben der ambivalenten Semantik körperlicher und mentaler Lebensund Gesunderhaltung wird den geselligen Rückzugsorten des Decameron noch eine weitere semantische Dimension zugeschrieben: Sie werden als Orte sozialer Ordnung markiert und damit in eine sehr eindeutige Opposition zu den zerfallenden Sozialstrukturen der Peststadt gestellt. Der Erzähler berichtet, wie mit dem rasant um sich greifenden Sterben die Verantwortlichkeit füreinander nicht nur innerhalb des Gemeinwesens (zwischen Bürgern und Nachbarn), sondern auch innerhalb der kleinsten sozialen Einheit der Familie (zwischen weitläufig Verwandten, Brüdern und Schwestern, Eltern und Kindern) rapide abnimmt.195 Die Auflösung jedweder sozialer Bindung wiederum führt zur Außerkraftsetzung moralischer Normen (I, Introd. 29). Winfried Wehle hat überzeugend dargelegt, dass diese Entwicklung ein besonders eindringliches Bild in der Auflösung der Bestattungsriten – als eines primären Indikators menschlicher Kultur – findet (I, Introd. 31–35).196 Der Verlust sittlicher Ordnung wiederum verwischt die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Mensch und Tier.197 Diesen Prozessen rapider sozialer Destruktion setzt die brigata in den Gärten der Landgüter eine neue, selbstentworfene, künstliche und zugleich kunstvolle Sozialordnung entgegen, die das Zusammenleben regelt und humanes Verhalten ermöglicht.198 Die Kennzeichnung der Gärten als entzogen, abgeschirmt und zugleich offen, als naturnah und zugleich künstlich arrangiert schafft dem Experiment der brigata, neben körperlicher und mentaler Gesunderhaltung auch eine soziale recreatio zu unternehmen, den entsprechenden Schutzraum und damit eine äußerliche Stabilität. Die Semantik der Ordnung hat aber noch eine zweite 193
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So die vereindeutigende Lektüre Battaglia Riccis, Ragionare nel giardino, S. 179– 183 sowie S. 190–202. Auch der Versuch, geistlicher Weltverneinung mit dem Landaufenthalt der brigata eine Absage zu erteilen, erfährt somit eine Relativierung. Hierin liegt eine Parallele zu den Aussagen des Erzählers über die Möglichkeiten, sich im Angesicht der Pest körperlich/geistig zu retten. Beide Befunde zeigen sehr deutlich, dass es dem Erzähler weder um eine Vereindeutigung noch um eine Verabsolutierung der geselligen Orte als Heilsorte geht. I, Introd. 27. Der Erzähler lässt diese Entwicklung in der Weigerung von Eltern gipfeln, ihre kranken Kinder zu pflegen, so als wären es nicht die eigenen (»quasi loro non fossero«). Wehle, Der Tod, S. 224f. Hierzu bspw. I, Introd. 41 und 45. Dazu eingehend Kap. 5.3.2. und 5.3.3.
247 Dimension, denn die Errichtung einer künstlichen, d. h. vor allem einer menschengemachten Sozialordnung in den Gärten ist zugleich der Versuch, der außerhalb der Gärten herrschenden Kontingenz des Todes ein System entgegenzusetzen, das Kontingenz kategorisch ausschließt.199 Konnte eingangs festgestellt werden, dass sich die Gärten des Decameron vom Garten der Fiammetta im Filocolo insbesondere durch Multiplizierung, Ortlosigkeit und Rhetorisierung abgrenzen, die diesen vor allem utopischen Charakter zuschreiben, lässt sich für die Frage der Semantisierung der geselligen Orte als ›Gegen-Orte‹ in beiden Texten ein durchaus komplexes intertextuelles Verhältnis konstatieren. Grundsätzlich gilt, dass alle semantischen Zuschreibungen, die für die Rückzugsorte des Decameron benannt werden konnten (Orte des Lebens, der Gesundheit und der Ordnung), bereits den Garten der Questioni d’amore-Episode kennzeichnen. Die Gegensätze, zu denen oder auf Grund derer sie sich konstituieren, sind hier allerdings noch von einem deutlich abstrakteren, weit weniger spezifischen Charakter: Im Filocolo ist der Kontrast zwischen der Todesbedrohung durch Sturm und Schiffbruch und der unverhofften Rettung, die Florios Gesellschaft in Fiammettas Garten führt, vor allem über die Chronologie der Erzählung hergestellt, die das Erzählschema und damit die Handlungslogik des Romans kreuzt. Im Decameron ist die Opposition Tod – Leben hingegen kausalisiert: die in der Stadt wütende Pest bedingt den Entwurf der lebensrettenden Gärten, auch wenn diese Kausallogik – wie gezeigt – sowohl vor dem Hintergrund des medizinischen als auch des theologischen Diskurses deutlich relativiert wird. Zugleich erscheint die semantische Füllung dessen, was ›Tod‹ bedeuten kann, gegenüber der schablonenhaften Schiffbruchssituation des Filocolo erzählerisch erheblich ausgeweitet, inhaltlich konkretisiert und historisch spezifiziert. In beiden Texten sind die geselligen Orte als Melancholie-remedia semantisiert. Die im Filocolo angelegte Konzeption der Melancholie als amor hereos, die sich durch gesellige Konsoziation am lieblichen Ort temporär aussetzen lässt, erfährt im Decameron eine Verdoppelung: Hier wird das literarische Werk als solches zum remedium gegen die malinconia als Liebeskrankheit der Damen, die Gärten und die in ihnen zu erzählenden Novellen hingegen sind als remedium gegen die Seelenkrankheit der malinconia der brigata angelegt, die ihr in Florenz in Gestalt lähmender Bilder des Schreckens droht. Der Aufspaltung der Melancholiekonzep-
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Darauf hat insbesondere Flasch, Die Gegengesellschaft, S. 113, hingewiesen: »Er [der Text, C. E.] stellt die Zufallsabhängigkeit des Lebens dramatisch vor Augen und zeigt, wie zehn junge Leute eine zufallsfreie Welt am Rand der Stadt und des Todes zurechtbasteln. Dort draußen wird für 14 Tage, nicht länger, simuliert, die Kontingenz sei ästhetisch und ethisch bewältigt.«
248 tion und der Verdoppelung der jeweiligen remedia entspricht die narrative Verteilung auf extra- und intradiegetische Erzählebene. Auch die Semantik der Ordnung ist beiden Texten nachdrücklich eingeschrieben. Die Opposition, in die sich die gesellige Ordnung des Questioni d’amore-Gartens bringen lässt, ist dabei wiederum lediglich erzählstrukturell zu gewinnen, als Kontrast zu der Kontingenz von Meerfahrt, Sturm und Schiffbruch. Dieser Kontrast ist im Decameron – ebenso wie der von Tod und Leben – nicht nur kausalisiert,200 sondern über die ausführlichen Schilderungen der Korrumption sozialer Bindungen und ihrer Folgen deutlich semantisch konturiert. Betrachtet man den Garten der Fiammetta als Prätext für die geselligen Orte des Decameron, so zeigt sich, dass die semantischen Qualitäten des späteren Textes hier bereits als vorwiegend strukturelle Anlagen vorhanden sind. Die Veränderungen, die im Decameron zu beobachten sind, sind damit keineswegs prinzipieller Natur. Sie können vielmehr als Fortoder Umschreibungen bezeichnet werden, durch die die Kontraste zum einen kausal aufeinander bezogen werden, zum anderen inhaltliche Konkretion und historische Spezifik erhalten. Dieser Befund widerspricht damit grundsätzlich der Darstellung Battaglia Riccis, die allein auf Grundlage der Analyse der locus amoenus-Topik in den Frühwerken Boccaccios zu dem Ergebnis kommt, die kontrastive Gegenüberstellung einer lieta brigata in giardino mit Tod und Vernichtung, Chaos und Kontingenz sei ein absolutes Novum in der Konzeption des Decameron.201
5.3.2 Heterosozialität als Programm: Die Formierung der brigata Geselligkeit wird im Decameron nicht nur über einen spezifischen Ort etabliert, die Phase ihrer Etablierung ist auch hier an soziale Prozesse geknüpft, in denen Egalisierung und Stratifizierung gegeneinander gestellt werden. Ähnlich wie im Filocolo ist der Prozess der Etablierung der geselligen Runde auch im Decameron einer sorgfältigen Choreographie unterworfen, wobei die Akzente dieser Choreographie allerdings anders gesetzt sind. Die Formierung der brigata steht in engem Zusammenhang mit den vier Reaktionen auf die Pest, die der Erzähler in der Pestbeschreibung ausführt (I, Introd., 20–25). Das Thema der Gruppenbildung als Reaktion auf die Pest wird hier bereits vorbereitet, auch der kommunalpolitisch konnotierte Begriff der brigata findet im Sinne ›sozialer
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Vgl. hierzu auch Zimmermann, Krise, S. 141–155. Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 173.
249 Zusammenschlüsse‹ bereits Verwendung.202 Die herausgehobene Thematisierung von Gruppenbildungen lässt sich ihrerseits als Reaktion auf die sozialen Konsequenzen der Pest werten: die Zerstörung besonders der familiären Bindungen durch Tod oder Verrat, die Vereinzelung und Vereinsamung der Überlebenden wie sie später auch Pampinea beschreibt (I, Introd. 59). Margarete Zimmermann hat davon gesprochen, dass diese Krise zum »gruppenkonstituierende[n] Moment« werde.203 Drei der vier skizzierten Handlungsoptionen, die die Menschen angesichts der grassierenden Pest verfolgen, implizieren die Bildung von Gruppen: 1) die Gruppe derjenigen, die sich aus der Stadtgesellschaft in abgeschlossene Häuser zurückziehen und dort ein exquisites, aber nicht exzessives, sondern gemäßigtes Leben führen (I, Introd. 20), 2) die Gruppe der exzessiv und ausschweifend Lebenden, die sich nicht exklusiv zurückziehen, sondern ihre Feiern entweder an öffentlichen Orten wie den taverne, oder – ein besonderes Sakrileg – in leerstehenden Häusern Verstorbener abhalten (I, Introd. 21–22), und 3) diejenigen, die sich der kommunalen Gemeinschaft radikal dadurch verweigern, dass sie sich ganz aus der Stadt auf die contadi zurückziehen (I, Introd. 25).204 Die lieta brigata, die sich in Santa Maria Novella zusammenfindet, kombiniert mit ihrer exklusiven Abschottung, dem Rückzug aufs Land und dem Beschluss, dort ein exquisites aber zugleich unter die Norm der onestà gestelltes Leben zu führen, Aspekte zweier dieser Modelle, und wird damit zum narrativen Exempel für diese Optionen. Anders als im Filocolo liegt die Formierung der brigata im Decameron dem geselligen Ort allerdings voraus: Schon im Auszug aus Florenz erscheint die Gruppe als homogener sozialer Körper, bei dem die Integration der sieben weiblichen und drei männlichen Teilnehmer bereits abgeschlossen ist (I, Introd. 89). Den eigentlichen Gruppenbildungsprozess lässt der Erzähler in der dominikanischen Basilika Santa Maria Novella stattfinden (I, Introd. 49). Er wählt damit einen Ort, der die Gruppenbildung in spezifischer Weise semantisch konturiert. Der Kirchenraum ist zum einen ein öffentlicher Ort, an dem der Kontrast zu der sich aus dem kommunalen und religiösen Gemeinwesen ablösenden brigata besonders deutlich wird: Der exkludierende Prozess der Gruppenbildung wird auf 202
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Vgl. I, Introd. 20: »e fatta lor brigata, da ogni altro separati viveano« (»Sie lebten daher in kleinen Gesellschaften, getrennt von allen übrigen Menschen« [I, 17]). Zum Begriff Battaglia Bd. 2 (1962), S. 377–378; sowie Zimmermann, Krise, S. 148f. Zimmermann, Krise, S. 142. Die vierte Position ist die derjenigen, die eine mezzana via zwischen erster und zweiter Option einschlagen: Sie bleiben in Florenz, ziehen sich nicht aus der Gemeinschaft zurück und leben weder zu gemäßigt noch zu exzessiv. Sie versuchen vielmehr, pragmatisch auf die Situation zu reagieren, indem sie stets mit duftenden Kräutern ausgestattet sind, um nicht vom Verwesungsgeruch gepeinigt zu werden (I, Introd. 24).
250 einer öffentlichen Bühne und für alle sichtbar inszeniert, er unterläuft dabei zugleich die inklusive und integrative Funktion des Kirchenraums. Bei Boccaccio ist der öffentlich zugängliche Kirchenraum zugleich der prädestinierte Ort für potentielle Geschlechterbegegnungen. So heißt es von den drei jungen Männern, die sich nach den sieben Damen ebenfalls in Santa Maria Novella einfinden, diese seien hergekommen, um hier – als einzigen Trost in den Verwirrungen der Zeit – ihre geliebten Damen zu sehen.205 Diese spannungsvolle Überlagerung heiliger und profaner Konnotationen zeigt sich nicht nur im Decameron: Die fingierte Beauftragung des Erzählers durch seine geliebte Dame zu Beginn des Filocolo findet im Tempel der Diana und damit ebenfalls an öffentlichem und heiligem Ort statt. Nicht zuletzt ist mit der dominikanischen Pfarrkirche Santa Maria Novella eine Florentiner Örtlichkeit bezeichnet, die – folgt man dem Vorschlag von Battaglia Ricci – als Abbreviatur des zeitgenössischen geistlichen, zu Weltverneinung und conversio mahnenden Diskurses gelesen werden kann, mit der die Bildung der lieta brigata unter Berufung auf das Naturrecht der Selbsterhaltung in größtmöglicher Weise kontrastiert.206 Initiiert wird der Gruppenbildungsprozess im Decameron durch das zufällige Zusammentreffen sieben junger Damen anlässlich einer Messe. Sämtliche Informationen, die zu den Damen gegeben werden, zielen darauf, sie als sozial gleichrangig auszuweisen: Sie kennen einander bereits, denn sie sind »tutte l’una all’altra o per amistà o per vicinanza o per parentado congiunte« (I, Introd. 49).207 Damit sind solche Beziehungen aufgerufen, die – sei es affektiv, lokal oder blutsmäßig – soziale Nähe herstellen und nicht, wie bspw. rechtliche Beziehungen, soziale Abstände festlegen. Die altersmäßigen Differenzen innerhalb der Gruppe sind beschränkt – keine der Damen ist älter als 28 oder jünger als 18 Jahre (I, Introd. 49) – und selbst optisch sind die Damen einander dadurch angeglichen, dass sie alle Trauerkleidung tragen (I, Introd. 56). Das Resümee des Erzählers, jede von ihnen sei »savia […] e di sangue nobile e bella di forma e ornata di costumi e di leggiadra onestà« (I, Introd. 49),208 unterstreicht mit dem Verweis auf parallele Herkunft, Aussehen, Erziehung und Bildungsgrad noch einmal die soziale Gleichordnung der sieben. Indem er die Damen mit Pseudonymen versieht, führt er in die 205
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I, Introd. 79: »[…] e andavan cercando per loro somma consolazione, in tanta turbazione di cose, di verdere le lor donne« (»Sie waren unterwegs, um ihren einzigen Trost in dieser schrecklichen Zeit, ihre Geliebten, zu sehen […]« [I,32]). Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino, S. 94–99. »[…] untereinander alle durch Freundschaft, Nachbarschaft oder Verwandtschaft verbunden« (I, 25f.). »Alle waren gebildet und von vornehmer Herkunft, schön gewachsen, von besten Sitten und artigem Anstand.« (I, 26)
251 sozial entdifferenzierte Gruppe ein Moment individueller Differenzierung ein, das die Gruppe erst als Zusammensetzung einzelner Figuren erkennbar macht. Die Pseudonyme sind nicht nur sprechende Namen, die – wie der Erzähler anmerkt – implizite Charakterisierungen enthalten (I, Introd. 51), sie können auch – insoweit sie bereits aus vorausliegenden Boccaccio-Texten bekannt sind – als Chiffren für volkssprachliches, vielfach um das Thema Liebe kreisendes Erzählen gelten.209 Das Vexierspiel der Namen und Identitäten, das in der Questioni d’amore-Episode anhand der Anführerfiguren Fiammetta-Maria und Filocolo-Florio vorgeführt wird und dort dazu dient, die im Rahmen der Geselligkeit geforderte soziale Egalität herzustellen, ohne die handlungsstrukturell notwendige Anonymität Florios aufzugeben, wird im Decameron wieder aufgenommen. Hier jedoch wird die Pseudonymität der Figuren mit Rufschädigungen begründet, die die Damen erleiden könnten, da die Grenzen des Vergnügens in heutiger Zeit enger gezogen seien als zur Zeit der Pest.210 Der Auflösung der Gruppe in sieben zugleich identifizierte und nicht-identifizierte Figuren und der Betonung, das Treffen sei ohne alle Verabredung, vielmehr zufällig zustande gekommen,211 wird der formierende Charakter der Gruppenbildung gegenübergestellt, der hier unmittelbar sichtbare Folgen hat: In einem Teil der Kirche setzen sich die sieben in einem Kreis nieder212 und nachdem sie den Vorschlag Pampineas angenommen haben, erheben sie sich wiederum kollektiv von ihren Sitzen,213 als ob sie sich unverzüglich – gefasst in der metaphorischen Wendung »a mano a mano« (I, Introd. 73) – auf den Weg machen wollten. Auf körperlich-performativer Ebene wird so noch einmal jene soziale Egalität sichtbar gemacht, die über die Informationen zu Alter, Gestalt, Bildung und Herkunft bereits als Wissen im Text präsent ist. Die Zusammenführung und Gruppenbildung der sieben Damen verläuft zwar augenscheinlich komplikationslos und der Konsens darüber, dass Pampineas Vorschlag zu folgen sei, stellt sich ebenfalls unmittelbar ein, dennoch bleibt die Konsequenz hieraus, also der gemeinsame Auszug aus Florenz, zunächst aus. Grund hierfür ist der Einwand Filomenas, Frauen allein seien nicht in der Lage, über eine gewisse Zeit hin-
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Vgl. zur Semantik der Pseudonyme Boccaccio, Decameron, S. 31f. Anm. 1; sowie Muscetta, Boccaccio, S. 164f. »[…] essendo oggi alquanto ristrette le leggi al piacere che allora […] erano non che alla loro età ma a troppo piú matura larghissime« (I, Introd. 50) (»da inzwischen den erlaubten Belustigungen wieder engere Grenzen gezogen sind, als es damals […] nicht nur für ihr Alter, sondern auch für viel reifere Menschen der Fall war« [I, 26]). »[…] non già da alcuno proponimento […] ma per caso« (I, Introd. 52). »[…] in cerchio a seder postesi« (I, Introd. 52). »[…] quindi levandosi da sedere« (I, Introd. 73).
252 weg ohne den vorausschauenden Beistand eines Mannes eine Gemeinschaft zu bilden: Ricordivi che noi siamo tutte femine, e non ce n’ha niuna sí fanciulla, che non possa ben conoscere, come le femine sien ragionate insieme e senza la provedenza d’alcuno uomo si sappiano regolare. Noi siamo mobili, riottose, sospettose, pusillanime e paurose: per le quali cose io dubito forte, se noi alcuna altra guida non prendiamo che la nostra, che questa compagnia non si dissolva troppo piú tosto e con meno onor di noi che non ci bisognerebbe (I, Introd. 74f.).214
Der modellhaft und störungsfrei vorgeführten Gruppenbildung der Damen wird auf der diskursiven Ebene vorgehalten, sie sei defizient. Der Bestand der geplanten Geselligkeit, ihre Verstetigung und damit das, was sie hindert, sich wieder aufzulösen (dissolvere), wird dabei an eine Instanz der Ordnung geknüpft, hier aufgerufen durch die Begriffe ragione, provedenza, regolare und guida. Diese Ordnungsinstanz wird als männlich kodiert, womit ›Unordnung‹ im Umkehrschluss als weiblich erscheint. Da es im folgenden jedoch gar nicht darum geht, männliche Anführer, sondern lediglich männliche Teilnehmer zu finden, deutet Filomenas merkwürdige, auf das eigene Geschlecht bezogene Invektive auf einen Argumentationszusammenhang, der jenseits misogyner Topik liegt. Indem sie die Frauen als mobili, riottose, sospettose, pusillanime e paurose bezeichnet, verweist sie auf Verhaltensweisen, die in Gruppen zwischen potentiell gleichrangigen Mitgliedern entstehen können: Gleichrangigkeit erzeugt Konkurrenz, die dann zu Streit, Neid und letztlich zum Zerfall der Gruppe führen kann, wenn es keine Instanz gibt, die die für alle geltende Norm setzt und im Zweifelsfall als Richter auftreten kann.215 Diese Gedankenfigur, die eine horizontale Ordnung unmittelbar mit einer vertikalen Ordnung korreliert, ist grundlegend für den geselligen Formationsprozess der brigata und wird noch in vielfältigen Brechungen begegnen (vgl. hierzu Kap. 5.3.3). An dieser Stelle ist diese Figur allerdings spezifisch instrumentalisiert, indem sie die Motivation dafür liefert, die homosozial strukturierte Gruppe der Damen zu öffnen und in eine heterosoziale zu transformieren. Dass Heterosozialität bei Boccaccio charakteristisches Merkmal für die Formation geselliger Gruppen ist, lässt sich vor allem vom Filocolo aus zeigen, wo dem Prozess der Geschlechterannäherung und -inte214
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»Denkt daran, daß wir Frauen sind! Keine von uns ist mehr so unerfahren, daß sie nicht wüßte, wie es um eine Gesellschaft von lauter Frauen bestellt ist und wie wenig diese ohne die Umsicht eines männlichen Beschützers ihre Dinge vernünftig zu regeln versteht. Wir Frauen sind launenhaft, zänkisch, argwöhnisch, kleinmütig und ängstlich. Aus diesen Gründen fürchte ich, daß – wenn keine andere Führung als unsere eigene da ist – unsere Gesellschaft sich schneller und weniger ehrenhaft wieder auflösen wird, als wir es wünschen.« (I, 31) Diese gedankliche Konstruktion liegt auch dem Sozialmodell des Artushofs zugrunde, vgl. Kap. 3.1.
253 gration besondere Aufmerksamkeit zuteil wird. Gesellige Kommunikation kann erst dort entstehen, wo die homosoziale Gruppe um Florio auf die heterosoziale Gruppe um Fiammetta trifft (vgl. Kap. 4.2.2). Mit der Forderung Filomenas, Männer an der geselligen Interaktion zu beteiligen, stellt sich das Decameron in diese Traditionslinie mittelalterlichhöfischer Geselligkeitskonzeptionen, für die Heterosozialität – im Gegensatz zu antiken Vorstellungen von Geselligkeit – konstitutiv ist.216 Filomenas Frauenschelte liefert in dieser Perspektive einen Vorwand für die strukturelle Notwendigkeit, die homosoziale Gruppe zu öffnen und in eine heterosoziale zu transformieren. Diese Lesart stützt, dass die Damen im folgenden darüber diskutieren, wie ganz allgemein an geeignete Männer zu kommen sei,217 während die – später auf dem Landsitz wiederaufgenommene – Frage nach der vertikalen Ordnung horizontal strukturierter Gruppen zunächst keine weitere Beachtung findet und schließlich auch nicht zugunsten eines männlichen Anführers entschieden wird. Dass Filomena Ordnung und Heterosozialität kausal verbindet, hat also zunächst nur die Funktion, die konzeptionell prekäre Homosozialität der Gruppe zur Disposition zu stellen. Elissas skeptischer Befund, dass es in Zeiten der Pest schwierig sein dürfte, geeignete Männer zu finden, da die in Frage kommenden Bekannten entweder tot oder geflohen seien, und Fremde aus Gründen der 216
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Vgl. Schnell,Konversationim Mittelalter, S. 147–151 und S. 184–194;ders., Männer unter sich. Die höfische Geselligkeitskonzeption wird – vermittelt über die italienische Gesprächspielliteratur – in Harsdörffers Frauenzimmergesprechspielen programmatisch aktualisiert, wenn hier eine ständisch differenzierte, aus drei Damen und drei Herren symmetrisch zusammengesetzteGruppe gemeinschaftlichKonversationsspiele bespricht, vgl. Battafarano, Harsdörffers italianisierender Versuch; sowie ders., Die Frau als Subjekt der Literatur: Harsdörffer auf den Spuren der Intronati, Incogniti, Oziosi. In: Battafarano, Glanz des Barock, S. 117–136; Zeller, Spiel und Konversation,S. 81–89; dies.,Die Rolle der Frauen.Homosozial gedachte Geselligkeit findet sich im späten 15. und 16. Jahrhundert im vorwiegend geistlichgelehrten Diskurs, z. T. in dezidiertem Rekurs auf antike Vorstellungen, z. T. – wie Schnell wahrscheinlich macht – auch auf eine mittelalterliche Praxis, vgl. Schnell, Konversation im Mittelalter, S. 151–173; ders., Männer unter sich, S. 387–403 und S. 423–425. Hiervon zeugt beispielsweisedie Mensa Philosophica,ein 1479 gedrucktes Regelwerk, das Materialien für Tischgespräche im monastischem Kontext zur Verfügung stellt, sowie die Fazetie als Medium der Curiengeselligkeit oder auch Erasmus’ ebenfalls an antikem Vorbild geschulte Convivia (vgl. hierzu Kap. 6, bes. 6.3). Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass Homosozialität stets auf das männliche Geschlecht bezogen ist. Eine gesellige Runde, die nur aus Frauen bestünde, ist – das zeigt sowohl die antike als auch die frühneuzeitliche Entwicklung in Übereinstimmung mit Filomenas Argumenten – bis in die frz. Salonkultur des 17. Jahrhunderts eher der Ausnahmefall. So beteiligt zwar Madeleine de Scudérys narrativer Dialog De la conversation (1680) ausschließlich Damen, diese halten jedoch eine heterosoziale Zusammensetzung von Konversationsrunden für angemessener, vgl. Schmölders, Kunst des Gesprächs, S. 166–177, hier S. 168f. So plakativ formuliert es Elissa: »[…] ma come possiam noi aver questi uomini?« (I, Introd. 76)
254 Schicklichkeit auszuschließen seien, findet im Auftauchen der drei jungen Herren Panfilo, Filostrato und Dioneo eine sehr einfache Auflösung. Die Herren bringen alle Voraussetzungen für eine soziale Integration in die Gruppe der Damen mit: Keiner von ihnen ist jünger als 25, alle drei sind von gefälligem Äußeren und guten Sitten (»assai piacevole e costumato ciascuno«, I, Introd. 79). Wichtiger aber ist, dass man sich bereits kennt: Panfilo, Filostrato und Dioneo lieben drei der sieben Damen218 und mit den übrigen sind sie verwandt (I, Introd. 79). Eine komplizierte Prozedur zur wechselseitigen Identifizierung und Feststellung einer gemeinsamen Wertebasis, wie sie in der Questioni d’amore-Episode zur Integration der zwei einander fremden Gruppen vorgeführt wird, kann somit entfallen. Mit der Charakterisierung der drei Herren als Liebenden werden die bislang aufgerufenen sozialen Beziehungen Freundschaft, Nachbarschaft und Verwandtschaft jedoch um eine weitere Variante ergänzt: die der erotischen Liebe. Die Fähigkeit zu lieben wird als das hervorstechende Merkmal der drei Herren genannt. Es heißt von ihnen, dass weder die auf den Kopf gestellten Zustände noch der Verlust von Freunden und Angehörigen oder die Angst um das eigene Leben ihre Liebe habe löschen oder abkühlen können.219 Die Liebesbeziehungen zu drei der Damen einerseits und die verwandtschaftlichen Beziehungen zu den anderen Damen andererseits sichern somit gleich in doppelter Weise die für eine gesellige Runde erforderliche prinzipielle soziale Gleichrangigkeit der drei Herren und kennzeichnen sie somit als integrationswürdig. Zugleich aber sind gerade Liebesbeziehungen gruppentheroretisch höchst problematisch. Indem sie gruppensprengendes Potential entfalten können, sind sie als Basis zur Bildung einer heterosozialen Gruppe durchaus ungeeignet: Liebesbeziehungen schließen anders als die genannten Sozialbeziehungen körperliche, sexuelle Nähe zwischen zwei Individuen prinzipiell ein, auch wenn sie im Einzelfall nicht oder noch nicht praktiziert wird. Auf Grund dieser Sonderstellung, die zwei Individuen innerhalb der Gruppe privilegieren und isolieren kann, haftet Liebesbeziehungen stets die grundsätzliche Möglichkeit an, eine Gemeinschaft zu sprengen.220 Diese Vorstellung steht in durchaus mittelalterlicher Tradition, arbeitet doch insbesondere die 218
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Dies sind, wie sich im Verlauf der weiterenHandlung herausstellt,Neifile, Filomena und Fiammetta. I, Introd. 78: »Ne’ quali né perversità di tempo né perdita d’amici o di parenti né paura di se medesimi avea potuto amor non che spegnere ma raffreddare.« (»Ihnen hatte die Verrohung der Zeit, der Verlust von Freunden und Verwandten und die Angst um das eigene Leben die Liebe weder abkühlen noch zerstören können.« [I, 32]). Diesen Zusammenhang formuliert z. B. Luhmann, Liebe als Passion, S. 71–96, hier S. 83f., wobei er die gruppenbezogene Nonkonformität der Liebe – hier für das 17. Jahrhundert – an den Begriff des (maßlosen) Exzesses knüpft: »Das Gebot des Exzesses symbolisiert seinerseits Ausdifferenzierungen, nämlich ein Überschreiten
255 höfische Literatur an dieser (potentiell) gesellschaftszerstörenden Macht der erotischen Paarliebe und den Möglichkeiten, diese sozialintegrativ zu bändigen. An dieser Frage der Liebesbeziehungen entzündet sich folglich auch die Kritik der Damen, die hier von Neifile, einer der betroffenen Geliebten, vorgetragen wird. Sie wendet das Problem ins Moralische: Eine Gemeinschaft, die Liebesbeziehungen zwischen einzelnen, also neben heterosozialen auch heterosexuelle, erotische Beziehungen zulasse, mache sich moralisch verdächtig und ziehe üble Nachrede und Tadel auf sich (I, Introd. 82f.). Filomena, als von Filostrato geliebte Dame ebenfalls betroffen, entkräftet Neifiles Bedenken, indem sie darauf verweist, dass es allein darauf ankomme, ehrbar zu leben: […] là dove io onestamente viva né mi rimorda d’alcuna cosa la coszienza, parli chi vuole in contrario: Idio e la verità l’arme per me prenderanno (I, Introd. 84).221
Die Verantwortung für das Gelingen des Gruppengeschehens wird also dem einzelnen Mitglied übertragen. Wenn nur jeder Einzelne auf seine onestà und seine coszienza acht hat, dann muss man um die Gruppe als Ganze keine Sorge haben. Auch hier zeigt sich die Kopplung einer horizontalen Bewegung (gleichmäßige Delegation der Verantwortung an alle Mitglieder der brigata) an eine vertikale (die Verantwortung eines jeden/ einer jeden für sich selbst ist an ein Konzept der Selbst-Beherrschung gebunden). Filomenas Betonung der persönlichen, individuellen Verantwortung bringt in Erinnerung, dass die Gruppe aus einzelnen Personen zusammengesetzt ist und zielt darauf, die erotischen Zweierbeziehungen wieder aus dem Fokus der Betrachtung zu nehmen und ihr gruppengefährdendes Potential zu entschärfen. Es liegt, so lässt sich Filomenas Aussage verstehen, ganz bei den jeweiligen Liebenden, ob sie sich mit der Berufung auf onestà der Gruppe einordnen oder ihre erotische Zweierbeziehung der Gruppe vorziehen. Filomenas Argumentation überzeugt die übrigen Damen und so wird ihr Vorschlag, die Herren um ihre Begleitung zu bitten, im Konsens angenommen. Die brigata definiert sich somit selbst als eine heterosoziale Gruppe, in der erotische, heterosexuelle Beziehungen zwar latent geduldet werden, in der diese dem eigenen Selbstverständnis nach aber nur in sehr reguliertem Umfang präsent werden
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der Grenzen, die vor allem die Familie dem Verhalten zieht. Ferner differenziert Exzeß die Liebe gegen die Gebote der Konversationsgeselligkeit.« »Wenn ich anständig lebe und keine Schuld mein Gewissen belastet, mögen die Leute reden, was ihnen beliebt. Gott und die Wahrheit werden für mich die Waffen erheben.« (I, 32f.)
256 dürfen222 und unter Berufung auf individuelle onestà nicht praktiziert werden.223 Der Konsens der Damen, die Gruppe für die drei Herren zu öffnen, wird nun in Handlung übersetzt. Als Übermittlerin der Anfrage fungiert Pampinea, die für dieses Amt, da sie mit den Herren keine Liebes-, sondern lediglich eine unproblematische verwandtschaftliche Beziehung verbindet (I, Introd. 87), besonders geeignet ist. Ihre integrative Funktion wird dadurch sichtbar gemacht, dass sie sich aus dem Kreis der Damen erhebt und auf die Gruppe der drei Herren zubewegt, die ihrerseits in einigem Abstand stehen geblieben sind und zu den Damen hinüberblicken.224 In ihrer Frage wird die Vereinbarung der Damen noch einmal explizit wiederholt: e pregogli per parte di tutte che con puro e fratellevoleanimo a tener lor compagnia si dovessero disporre (I, Introd. 87).225
Der Begriff des brüderlichen Geistes (fratellevole animo) stellt die zu bildende Gruppe (compagnia) unter eine Chiffre der Verwandtschaft, die über das Konzept der Blutsverwandtschaft größtmögliche soziale Nähe und über das Konzept gemeinsamer, paralleler Abstammung größtmögliche soziale Gleichordnung zusammenspannt, zugleich aber den Aspekt einer erotischen, körperlichen (Liebes-)Beziehung über das Inzest-Tabu explizit ausklammert. Die drei Männer meinen zunächst, Pampinea wolle sie verspotten, willigen aber, als diese ihre Ernsthaftigkeit glaubhaft machen kann, schnell ein (I, Introd. 88). Die Gruppenbildung wird somit durch zwei Konsensentscheidungen besiegelt, die Zusammenführung der beiden Teilgruppen findet aber, nachdem man besprochen hat, was alles vor der Abreise zu regeln sei, erst am nächsten Morgen mit dem Auszug aller aus Florenz statt: »la seguente mattina, […] le donne con alquante delle lor fanti e i tre giovani con tre lor famigliari, usciti della città« (I, Introd. 89).226 Im Ergebnis sind sich die formierten geselligen Gruppen des Decameron und der Questioni -Episode sehr ähnlich, handelt es sich doch in beiden Fällen um gemischtgeschlechtliche, auf der Ebene von Alter, adliger Herkunft, Aussehen und Bildungsgrad egalisierte soziale Gebilde. 222
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Als ritueller Anlass für eine sehr zurückgenommene Thematisierung der gruppeninternen Liebesbeziehungen erweist sich z. B. der abendliche Liedvortrag. So lässt sich beispielsweise die spätere Verfügung durch Pampinea verstehen, nach der männliche und weibliche Mitglieder der brigata getrennte Schlafkammern aufsuchen (I, Introd. 108). Zu dem Problem der Integration der Liebesbeziehungen vgl. auch Wachinger, Erzählen für die Gesundheit, S. 30f. I, Introd. 87: »che fermi stavano a riguardarle«. »Dann fragte sie die drei im Namen aller, ob sie sich entschließen könnten, ihnen in reiner, brüderlicher Gesinnung Gesellschaft zu leisten.« (I, 33) »Am anderen Morgen, […] verließen die Damen mit einigen ihrer Mädchen und die jungen Männer mit drei Dienern […] die Stadt« (I, 33).
257 Die Formierungsprozesse hingegen sind unterschiedlich akzentuiert, was den ganz unterschiedlichen Voraussetzungen für die Gruppenbildung zuzuschreiben ist. Während im Filocolo eine homosoziale einer heterosozialen Gruppe inkorporiert wird, deren Mitglieder sich nicht kennen und einander daher in einem aufwendigen Prozess identifizieren und einordnen müssen, werden im Decameron zwei jeweils gleichgeschlechtliche Gruppen in eine gemeinsame heterosoziale Gruppe überführt, deren Mitglieder sich bereits kennen und durch ein vielfältiges Netz sozialer Beziehungen untereinander verbunden sind. Soziale Gleichrangigkeit ist daher für die brigata des Decameron von vornherein gegeben und wird über die Angaben zu Alter sowie äußerer und innerer ›Bildung‹ lediglich bestätigt. Im Filocolo muss sie dagegen allererst hergestellt werden, was dadurch erschwert ist, dass die beiden Ausgangsgruppen mit den Anführerfiguren Florio und Fiammetta eine klare soziale Hierarchie aufweisen. Dieser Aspekt wird im Decameron – man könnte sagen: programmatisch – zurückgedrängt. Zwar übernehmen auch Pampinea und Dioneo im Zuge der Gruppenkonstitution besonders aktive Rollen, hierfür qualifizieren sie aber allenfalls ihr Alter (Pampinea ist die älteste der Damen) und eine besondere Eloquenz (Dioneo), nicht jedoch ihr sozialer Rang. Insofern also die Gruppenbildung im Decameron von Fragen der sozialen Egalisierung weitgehend entlastet ist, kann ein anderer Aspekt, hier die Beteiligung beider Geschlechter, in den Vordergrund treten. Diese ist in der Zusammensetzung der Gruppe Fiammettas im Filocolo von vornherein gegeben und tritt dort folglich thematisch zurück. Die Öffnung der Damengruppe im Decameron und ihre Verschmelzung mit einer rein männlichen Gruppe wirft das Problem auf, wie mit bestehenden Liebesbeziehungen zwischen einigen der Mitglieder umgegangen werden soll. Diese Thematik ist mit der Liebe Caleons zu Fiammetta auch in der Questioni -Episode präsent. Die gesellige Runde lässt zu, dass sie dort für eine gewisse Zeit sichtbar wird, so in Caleons Beschreibung der Fiammetta, seinem Madrigalvortrag und seiner regelwidrigen Frage. Fiammetta ignoriert diese Regelverletzung jedoch fast vollständig und lenkt das gesellige Spiel sehr schnell in die verabredeten Bahnen zurück.227 Dass die Liebe Caleons zu ihr in diesem Fall keine Sprengkraft in Bezug auf den Bestand der Gruppe entfalten kann, ist somit vor allem ihrer (alleinigen) Autorität als Spielkönigin zuzuschreiben, mit der sie die Einhaltung der (Spiel-)Regeln kontrolliert. Im Decameron ist diese Autorität in Gestalt einer einzigen Figur nicht gegeben, die sozialintegrative Bändigung der erotischen Beziehungen wird hier stattdessen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe überantwortet. Deren jeweiligem ehrenhaften Verhalten wird zugetraut, die gewählte soziale Form zu sichern. Die 227
Vgl. hierzu ausführlich Kap. 4.3.1.
258 Chiffre, die letztlich garantieren soll, dass eine heterosoziale Gruppe, in der erotische Beziehungen in latenter Form geduldet werden, Bestand haben kann, ist das auffällig wiederholt gebrauchte Wort von der Ehrbarkeit.228 Mit der Berufung auf onestà und onore aber knüpft die brigata an einen zentralen Wert der literarisch-höfischen Welt an und macht damit einen wichtigen Bezug zur geselligen Runde des Filocolo sichtbar, für die – wenn auch in anderer Funktion – cortesia und nobilità zentralen Stellenwert haben.229
5.3.3 Das rotierende Amt des Königs und die kommunikative Ordnung des novellare: Die Spielregeln der brigata Nachdem sich die brigata bereits mit dem Auszug aufs Land als gemischtgeschlechtliche Gruppe konstituiert hat, in der Faktoren wie Alter, Herkunft, Gesinnung und die sozialen Beziehungen untereinander die soziale Gleichrangigkeit der Mitglieder sicherstellen, rückt auf dem Landsitz unmittelbar die Frage nach der Stabilisierung und Verstetigung des gemeinsamen Handelns in den Vordergrund, die eng mit dem Begriff der Ordnung zusammenhängt. Wie schon in den Questioni d’amore des Filocolo hat Ordnung dabei eine soziale und eine kommunikative Dimension. Die soziale Dimension war bereits im anfänglichen Einwand der Filomena angeklungen (I, Introd. 74), war dann aber zugunsten der Integration der Männer zurückgestellt worden. Als Dioneo daher nach der Ankunft der brigata auf dem Landsitz vorschlägt, die traurigen Gedanken in den Mauern der Stadt zurückzulassen und stattdessen gemeinsam zu scherzen, zu lachen und zu singen (I, Introd. 93), antwortet ihm Pampinea,
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In der hier besprochenen Szene zur Formierung der brigata finden sich allein elf Belege für onestà oder entsprechende Ableitungen (I, Introd. 50, 53, 61, 65, 72, 82, 84, 91). Vgl. auch die Anmerkung von Branca: Boccaccio, Decameron, S. 29f. Anm. 8. Wehle, Der Tod, S. 233, spricht davon, dass die brigata einem »moralischen Extremismus« und einem »Kult der Ehre« verfalle. Während der Verweis auf onestà im Zusammenhang einer Delegation der Verantwortung für den Gruppenbestand an die Einzelnen eine plausible Funktion hat, gerade weil damit auf das Problem der erotischen Beziehungen geantwortet wird, scheinen die zahlreichen übrigen Belege insgesamt recht willkürlich und plakativ im Text verteilt. Es bedürfte philologischer Recherche, um die These zu prüfen, ob nicht zumindest ein Teil dieser Belege als sekundäre Bearbeitung (durchaus durch den Autor selbst) anzusehen sind, die – ähnlich wie die verteidigenden Passagen in den Metatexten – Kritik an der brigata und ihren Novellen abfedern sollen. In diesem Zusammenhang ist die Aussage Dioneos als König des siebten Tages von zentraler Bedeutung: Er differenziert die gesellige Interaktion der brigata nach Reden und Handeln und legt onestà allein für die soziale Interaktion als verbindlichen Richtwert fest. Das novellare hingegen nimmt er dezidiert von dieser Normierung aus. Erst der auf onestà gegründete Konsens ermöglicht es somit, im Erzählen fallweise von ihr abzusehen, vgl. VI, Concl. 8–15.
259 indem sie die Frage nach den Inhalten der geselligen Interaktion unmittelbar mit deren Form verknüpft: Dioneo, ottimamente parli: festevolmente viver si vuole, né altra cagione dalle tristizie ci ha fatte fuggire. Ma per ciò che le cose che sono senza modo non possono lungamente durare, io, che cominciatrice fui de’ragionamenti da’quali questa cosí bella compagnia è stata fatta, pensando al continuar della nostra letizia, estimo che di necessità sia convenire esser tra noi alcuno principale, il quale noi e onoriamo e ubidiamo come maggiore, nel quale ogni pensierostea di dovercia lietamente vivere disporre. (I, Introd. 94f.)230
Der Passus beinhaltet zwei Prinzipien, die für die Geselligkeitskonzeption bei Boccaccio von zentraler Bedeutung sind: Zum einen setzt Pampinea Ordnung (modo) als Bedingung für die Dauer (durare, continuare) gemeinsamer Interaktion an. Dass der Terminus modo hier noch sehr dicht bei lateinisch modus (Maß) steht und nach dem Vorschlag Brancas somit als »ordine e misura« zu lesen ist,231 bestätigt sich in einer früheren Verwendung. So heißt es im ersten Teil der Introduzione über diejenigen, die sich angesichts des großen Sterbens einem ausschweifenden Leben hingeben, sie zögen nachts durch die Kneipen und tränken »senza modo e senza misura« (I, Introd. 21).232 Formuliert wird also ein kausaler Zusammenhang zwischen formaler Ordnung und zeitlicher Dauer geselliger Interaktion. Dieser Gedanke wiederum entspricht der Relation von Stabilisierung und Verstetigung in Institutionalisierungsprozessen und belegt die Sorgfalt, mit der Geselligkeit als soziale Institution hier inszeniert wird.233 Wenn allerdings Panfilo am Ende des 10. Tages den Abbruch des geselligen Zusammenseins der brigata unter anderem damit begründet, dass der Entstehung von Überdruss aus langer Gewohnheit vorgebeugt werden müsse (»acciò che per troppa lunga consuetudine alcuna cosa che in fastidio si convertisse nascer non ne potesse«, X, Concl. 6),234 dann wird die eingesetzte Ordnung, insofern sie consuetudine erzeugt, gegen ihren eigenen Fortbestand eingesetzt. Dem Begriff 230
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»Dioneo, du hast den richtigenVorschlag gemacht! Wir wollen unser Leben festlich gestalten. […] Weil aber alles, was maßlos ist [besser: was ohne Ordnung ist, C. E.], nicht lange währen kann, so bin ich, als Urheberin aller Erwägungen, nach denen hier diese reizende Gesellschaft zusammengetreten ist, der Meinung, daß wir, zumal mit Rücksicht auf die Fortdauer unserer Freude, irgendein Oberhaupt unter uns wählen sollten, das wir anerkennen und dem wir uns als unserem König fügen. Dieses Oberhaupt aber hat die Pflicht, nach Kräften darauf bedacht zu sein, unseren hiesigen Aufenthalt heiter zu gestalten.« (I, 35) Boccaccio, Decameron, S. 42 Anm. 5. Vgl. zu der Verwendung von modo für Maß, Regel und Ordnung auch Battaglia Bd. 10 (1978), S. 669–678, hier S. 671f. (»forma di vita soziale«, »regola di condotta«, »grado, misura«). So auch Ludger Lieb, Essen und Erzählen, S. 41–44, in seiner knappen institutionellen Analyse des Decameron-Rahmens. »Damit jedoch aus langer Gewohnheit nichts entstehe, was uns zum Überdruß gereiche […]« (II, 529).
260 der Ordnung kommt somit eine ambivalente, dialektische Funktion zu: Indem sie über verbindliche Regeln die Faktoren Gleichmaß und Verlässlichkeit in das Gruppengeschehen einbringt, garantiert sie einerseits den Bestand von Geselligkeit, zugleich aber bergen eben diese stabilisierenden Qualitäten (Wiederholbarkeit, Gleichmaß) die Gefahr von Eintönigkeit, Gewöhnung und Langeweile, mit denen sich wiederum die Zeitlichkeit von Geselligkeit begründen lässt.235 Der zweite grundsätzliche Gedanke, der in Pampineas Vorschlag enthalten ist, bezieht sich auf die soziale Konzeption von Ordnung, die – wie schon in den Questioni d’amore – als hierarchische, nicht aber von vornherein als monarchische gedacht ist: So solle sich die brigata auf ein Oberhaupt (principale) einigen, das alle ehren und dem alle als Anführer Gehorsam leisten (e onoriamo e ubidiamo come maggiore) und dessen Aufgabe es wiederum sei, allen einen fröhlichen Aufenthalt (lietamente vivere) zu verschaffen. Der Möglichkeit, dass die kunstvolle Egalität der brigata durch die Bestimmung eines principale aus dem Gleichgewicht geraten könnte, greift Pampinea mit dem nächsten Vorschlag umgehend vor: E acciò che ciascun pruovi il peso della sollecitudine insieme col piacere della maggioranza e, per conseguente da una parte e d’altra tratti, non possa chi nol pruova invidia avere alcuna, dico che a ciascuno per un giorno s’attribuisca e il peso e l’onore; e chi il primo di noi esser debba nella elezion di noi tutti sia. Di quegli che seguiranno, come l’ora del vespro s’avicinerà, quegli o quella che a colui o a colei piacerà che quel giorno avrà avuta la signoria; e questo cotale, secondo il suo arbitrio, del tempo che la sua signoria dee bastare, del luogo e del mondo nel quale a vivere abbiamo ordini e disponga. (I, Introd. 96)236 235
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Dass der von Pampinea geforderten Ordnung diese doppelte, in sich widersprüchliche Funktion sowohl für die Verstetigung als auch den Abbruch von Geselligkeit zukommt, ist meiner Ansicht nach bislang nicht gesehen worden. Das zeigt bspw. Brancas Kommentar zu den beiden Stellen: Er ist der Meinung, dass beiden Aussagen (I, Introd. 95 und X, Concl. 6) die bei Seneca im Oedipus formulierte sprichwörtliche Wendung quidquid excessit modum, pendet instabili loco zugrunde liegt, vgl. Boccaccio, Decameron, S. 42 Anm. 5 und S. 1250 Anm. 2. Das ist für Pampineas Aussage richtig, ist hier modus doch Garant von Stabilität. Für den von Panfilo formulierten Gedanken, mit dem das genaue Gegenteil postuliert wird, ist das Seneca-Wort hingegen kaum in Anschlag zu bringen, geht es hier doch nicht um das Einhalten des rechten Maßes, sondern allein um die gruppenzersetzende Macht der consuetudo. »Damit nun ein jeder von uns sowohl die Last der Verantwortung als auch das Vergnügen des Vorranges koste, der von einem zum anderen übergehen soll, und folglich niemand übrigbleibt, der, weil er beides nicht erfahren hat, Neid gegen denjenigen empfinden könne, der beides erprobte, schlage ich vor, daß ein jeder von uns Last sowohl wie Ehre für einen Tag auf sich nehmen soll. Wer dabei der erste sei, das möge die Wahl bestimmen. Die Nachfolger aber sollen jeweils um die Abendstunde von demjenigen oder derjenigen erkoren werden, die an dem Tage die Herrschaft gehabt haben. Der Erwählte mag dann nach eigenem Ermessen für die Zeit seiner Würde den Ort unseres Aufenthalts und unsere Lebensgewohnheiten bestimmen und anordnen.« (I, 35)
261 Der Vorschlag ist bestimmt von dem Bestreben, das gesellige Prinzip der Egalität mit der geselligen Notwendigkeit der spielerischen Ordnung zu versöhnen.237 Hierzu entwirft Pampinea das Modell der rotierenden Herrschaft: Jedes Mitglied der brigata (ciascuno) solle gleichermaßen Privileg und Last der Anführerschaft bzw. Herrschaft (maggioranza, signoria) erproben, damit kein auf Grund ungleicher Erfahrungen entstandener Neid (invidia) die Gruppe sprenge. Hierzu solle jeder für einen Tag (per un giorno) sowohl Ehre als auch Verantwortung der Herrschaft übernehmen. Die weiteren Überlegungen zielen bereits darauf ab, dieses Modell in die Praxis zu übersetzen. So soll der erste principale von allen durch Wahl bestimmt werden (nella elezion di noi tutti ), die Benennung aller weiteren ist dann in das Belieben der jeweiligen Amtsinhaber gestellt. Das vorgeschlagene Verfahren hat zwei wichtige Implikationen für den geselligen Interaktionsprozess: Zum einen gibt der Vorschlag, dass jeder für einen Tag die Anführerschaft der Gruppe übernehmen solle, zehn Tage als zeitlichen Rahmen für die Geselligkeit bereits vor.238 Da hingegen nichts darüber ausgesagt ist, wie die soziale Ordnung aufrecht zu halten ist, nachdem jeder das Amt genau ein Mal innehatte, entspricht es exakt der Logik des definierten Rotationsmodells, dass die gesellige Interaktion der brigata nach diesen zehn Tagen beendet wird. In Panfilos Plädoyer für die Auflösung der brigata am Ende des zehnten Tages geht diese Argumentation entsprechend ein.239 Insofern als das Ende der stabilisierenden Ordnung also schon mit ihrer Einsetzung vorprogrammiert ist und dem Bemühen um Verstetigung – und damit Entzeitlichung – der
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Anders Wulf Segebrecht: Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen. In: GRM N. F. 25 (1975), S. 306–322, hier S. 309, der zum Verhältnis von (literarischer) Geselligkeit und Gesellschaft postuliert hat, gesellige Erzählrundenbestätigtenund verteidigtenjeweils diejenigenhierarchischen gesellschaftlichen Strukturen, denen sie sich zunächst entzogen hätten. Die egalisierenden Tendenzen kommen bei ihm nicht in den Blick, obwohl auch er zunächst feststellt, dass gesellige Runden stets eine besondere Homogenität und Zusammengehörigkeit auszeichne. Zum novellare als Spiel vgl. Borek, Erzählen, S. 81–86. Dass der Aufenthalt auf den Landgütern insgesamt 14 Tage umfasst, da an Freitagen und Samstagen aus religiösen Gründen keine Geselligkeit im Sinne der Regel gepflegt wird, widerspricht diesem Befund nicht. Die zweimal zwei Tage fallen als Ausnahme in den Hoheitsbereich des jeweiligen Tageskönigs, vgl. hierzu explizit Neifile am Ende des zweiten Tages: » […] per che, non potendo cosí appieno i quel dí l’ordine da noi preso nel vivere seguitare, similmente stimo sia ben fatto quel dí delle novelle ci posiamo.« (II, Concl., 6) (»Wir können daher den von uns aufgestellten Regeln an diesen Tagen nicht folgen, und ich halte es daher für richtig, mit dem Erzählen auszusetzen.« [I, 282]), sowie Lauretta als Königin der achten giornata am Ende des siebten Tages (VII, Concl. 16–17). X, Concl. 6: »[…] e avendo ciascun di noi la sua giornata avuta la sua parte dell’onore«.
262 geselligen Interaktion gegenläufige Endlichkeit bereits eingeschrieben ist, wird der dialektische Charakter geselliger Ordnung erneut evident. Die zweite Beobachtung bezieht sich auf die prekäre Frage, nach welchem Verfahren in einer Gruppe von Gleichrangigen ein primus inter pares benannt werden kann. Mit dem Modus der Wahl (elezione) kommt hierfür ein Verfahren zum Einsatz, das im politischen Diskurs zwar für sozial egalisierte Gruppen etabliert ist, das aber – das zeigt der doppelte Wahlmodus in der Questioni -Episode – auf Kriterien angewiesen ist, die es allererst ermöglichen, Einzelne qua Wahl zu privilegieren. Für die Geselligkeitskonzeption des Decameron ist symptomatisch, dass, da die brigata weit stärker als Fiammettas Gruppe sozial homogenisiert ist, gerade diese Kriterien fehlen: Was also im Folgenden dafür spricht, Pampinea zur »prima del primo giorno« zu wählen, wird nicht thematisiert (I, Introd. 97). Die Logik der rotierenden Herrschaft liefert hierfür die Erklärung, denn wenn jeder genau einmal die Herrschaft innehat, spielt es keine Rolle, wer der Erste in der Reihe ist. Dieser Logik ist es auch zuzuschreiben, dass der Modus der Wahl auf den ersten Anführer (il primo di noi ) beschränkt bleibt, während die Bestimmung der Nachfolgenden in das Belieben (piacere) der jeweiligen Anführer gestellt ist. Damit aber höhlt das Modell der rotierenden Herrschaft das Prinzip der Wahl gänzlich aus und macht es überflüssig. Angesichts eines Modells, das die gleichberechtigte, temporäre Herrschaft aller über alle vorschreibt, muss das politische Verfahren der Wahl als einzig legitimes bzw. probates Mittel, sozial egalisierte Gruppen mit Organisations- oder Herrschaftsformen zu versehen, versagen, folglich wird es entbehrlich. Pampineas Vorschlag zur Instituierung eines Egalität wahrenden rotierenden Herrschaftsmodells wird wohlwollend aufgenommen und sofort umgesetzt, indem sie selbst einstimmig zum Oberhaupt des Tages gewählt wird: »e a una voce lei prima del primo giorno elessero« (I, Introd. 97). Ihre anschließende Krönung mit Lorbeer schließt die Institutionalisierung der sozialen Ordnung ab. Die Praxis der Wahl, bei der sich alle im Konsens auf eine prima del giorno einigen, wird ergänzt durch die symbolische Praxis der auf Sichtbarkeit angelegten Auszeichnung. Über den Lorbeerkranz, der durch einen Erzählerkommentar als Ehrenzeichen eingeführt ist (I, Introd. 97),240 heißt es, dass er »fu poi mentre durò la lor compagnia manifesto segno a ciascuno altro della real signoria e maggioranza« (I, Introd. 97).241 Auf diese Weise wird das hierarchische Herrschaftsmodell performativ in ein monarchisches umkodiert: Erst das sichtbare Zeichen (manifesto segno) des 240
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Zu den in der Szene aktualisierten Konnotationen des Lorbeer v. a. als Medium zeitgenössischer Dichterkrönungen vgl. Boccaccio, Decameron, S. 43 Anm. 6. »[… galt] fortan,solange die Gesellschaftzusammen blieb, als das sichtbareZeichen der königlichen Würde und Herrschaft« (I, 36).
263 Lorbeerkranzes, das in seiner zeitlichen Geltung, indem es an den Bestand der Gruppe geknüpft ist, von vornherein begrenzt ist, macht die gewählte prima Pampinea wörtlich zur Königin.242 Auch in den Questioni d’amore wird der Aspekt der performativen Herstellung der spielerischen Königsherrschaft betont,243 dort jedoch wird soziale Ordnung von vornherein als Königsherrschaft imaginiert,244 im Decameron hingegen erscheint diese Verbindung entkoppelt: Soziale Ordnung impliziert hier zunächst ein konsensual hergestelltes hierarchisches bzw. vertikales Herrschaftsmodell, das begrifflich dezidiert auf den Bezug zur Monarchie verzichtet, indem die Position des Anführers als principale, maggiore, cotale, primo/prima del giorno, die Sozialform als solche als maggioranza oder signoria bezeichnet wird. Die begriffliche Kodierung der hierarchischen als monarchische Herrschaft (real signoria e maggioranza, reina) erfolgt erst im Anschluss an die bereits abgeschlossene Prozedur der Wahl und ist allein an das arbiträre Zeichen des Lorbeer geknüpft. Die homogene Sozialstruktur der brigata bewirkt zudem, dass alle äußerlichen Kriterien (wie sozialer Stand oder Alter), die das Modell der Königsherrschaft zusätzlich legitimieren könnten, entfallen. Die Reduktion auf das sichtbare Zeichen lässt das Modell der geselligen Königsherrschaft im Decameron im Vergleich mit dem Filocolo als entreferentialisiert erscheinen. Entsprechend dienen alle weiteren Maßnahmen, die Pampinea im folgenden einleitet, dazu, diese Referenzlosigkeit des zeichenhaften Königtums zu kompensieren (I, Introd. 98–102). Mit ihren Maßnahmen will sie ein Beispiel dafür geben, wie die Gruppe (»la nostra compagnia«) als geordnete (»con ordine«), zum Vergnügen aller und ohne Schande auf sich zu ziehen, noch besser fortbestehen könne (»di bene in meglio procedendo«, I, Introd. 98).245 Damit ist wiederum der Konnex von stabilisierender Ordnung und Dauer aufgerufen, der für die Konzeption der brigata im Besonderen (und Geselligkeit im Allgemeinen) grundlegend ist. Zugleich ist Ordnung als präventive Maßnahme allerdings vor allem moralisch funktionalisiert: Da die Gruppe ohne soziale Ordnung in die Gefahr gerate, sich eines Lebens in Schande verdächtig zu machen – das lässt sich ohne weiteres als Anspielung auf die erotischen Verflechtungen
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I, Introd. 98: »Pampinea, fatta reina, comandò […]«. Filocolo IV,17,6: »Facciasi re.« Ausführlich dazu Kap. 4.2.3.1. Filocolo IV,17,5: »ordiniamo uno di noi qui in luogo di nostro re«. »Acciò, che io prima essemplo dea a tutti voi, per lo quale di bene in meglio procedendo la nostra compagnia con ordine e con piacere e senza alcuna vergogna viva e duri quanto a grado ne fia […]« (I, Introd. 98). Die Übersetzung von Macchi löst diese dichte Konstruktion etwas freier auf: »Damit ich euch allen zu Anfang ein Beispiel gebe, wie unsere Gesellschaft immer besser geordnet wird und, solange wir es wünschen, zu unserem Vergnügen fortbestehen kann, ohne daß unser guter Ruf beeinträchtigt wird […]« (I, 36).
264 innerhalb der brigata beziehen –, dient die Instituierung einer solchen Ordnung der kollektiven onestà. Vor allem aber veranschaulichen Pampineas Maßnahmen das Modell der zeichenhaften Königsherrschaft, indem sie es referentiell auffüllen. Die Einsetzung des Figurenpersonals in spezifische Funktionen (»siniscalco«, »servigio della sala«, »spenditore«, »tesoriere«, sowie Kammerund Küchendienst, I, Introd. 98–100), macht zum einen deutliche Anleihen bei der Institution des Hofamtes, wie es für einen Königshof charakteristisch sein dürfte.246 Zum anderen wird, indem die Bediensteten auf Grund der ihnen zugewiesenen Ämter in komplexe hierarchische Relationen zueinander versetzt werden,247 der begonnene Prozess der sozialen Ordnung fortgesetzt, gleichzeitig jedoch auf die sozial unterhalb der brigata angesiedelte Ebene des Personals ausgelagert. Die vorwiegend horizontal strukturierte brigata bleibt somit von diesen Prozessen der Stratifizierung unberührt. Das hofstaatliche Arrangement, das um die brigata herum errichtet wird, hat aber nicht nur die Funktion, die Konzeption sozialer Ordnung als Königsherrschaft eindringlicher zu veranschaulichen, es fungiert zugleich als Kontakt- und Informationsmembran gegenüber der Außenwelt. Da die zur Lebenshaltung notwendigen Kontakte sämtlich an das Personal delegiert sind, lassen sich auch die hieraus entstehenden Nachrichten filtern. Das zeigt sich in dem an das gesamte Personal gerichteten Auftrag, keine anderen als fröhliche Nachrichten (»niuna novella altra che lieta«, I, Introd. 101) von draußen an die brigata heranzulassen.248 Die Verwendung des mehrdimensionalen Begriffs novella (hier als ›Neuigkeit‹) greift dabei bereits vor auf 246
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Darauf verweisen nicht nur die Bezeichnungen der Ämter, besonders das des siniscalco, sondern auch der Begriff des Einsetzens (constituere [I, Introd. 98]) und der des Amtes selbst (uficio [I, Introd. 99]). Der gesamten Dienerschaft (»tutta la nostra famiglia«) vorgesetzt ist Parmeno, dem die Fürsorge (»la cura e la sollecitudine«) für diese übertragen ist (I, Introd. 98). Als Seneschall ist er direkt weisungsbefugt gegenüber Sirisco, dem die Organisation der Einkäufe und Finanzen übertragen ist, sowie gegenüber Misia und Licisca, denen die Küchenarbeit obliegt (I, Introd. 99–100). Tindaro hat den Kammerdienst für Parmeno und Sirisco zu übernehmen, aber nur so lange, wie diese durch ihre Aufgaben selbst davon abgehalten werden (I, Introd. 99). Auf diese Weise sind die drei männlichen Diener über die zugewiesenen Ämter sowohl sozial voneinander differenziert als auch als Kammerherren einander gleichgestellt. In die Herrschaft (»al governo«) von Chimera und Stratilia ist der Zofendienst und die Reinigung der Schlafkammern übergeben (I, Introd. 101). Die Zofen von Neifile, Emilia und Elissa bleiben in diesem Organisationsplan unerwähnt. »E ciascun generalmente, per quanto egli avrà cara la nostra grazia, vogliamo e comandiamo che si guardi, dove che egli vada, onde che egli torni, che che egli oda o vegga, niuna novella altra che lieta ci rechi di fuori.« (I, Introd. 101) (»Und jedem, dem an unserem Wohlwollen gelegen ist, befehlen wir, uns keine andere Botschaft als frohe von draußen zu überbringen, unbeschadet dessen, wohin er gegangen, woher er gekommen und was er draußen gehört und gesehen haben mag.« [I, 36f.])
265 die wenig später getroffene Vereinbarung, die heiße Zeit des Tages erzählend (»novellando«, I, Introd. 111) zu verbringen, nach der sich die brigata selbst den Primat zur Produktion von novelle (als ›Erzählungen von Neuigkeiten‹)249 zuerkennt. Die Maßnahmen zur Fingierung eines Königshofs ergänzt Pampinea um zeitliche Vorgaben zur Einteilung des Tages, die von ihren Nachfolgern im Amt übernommen werden: Mahl- und Ruhezeiten begrenzen Phasen zur freien Gestaltung am Morgen und frühen Abend sowie Phasen gemeinschaftlicher Beschäftigung am frühen Nachmittag und späteren Abend.250 Die Versammlung der brigata am ersten Nachmittag im schattigen Teil des Gartens macht in ihrer kreisförmigen Anordnung, in die die brigata – ohne dass es hierzu eine formulierte Regel gäbe – zum Zweck des geselligen Erzählens stets zurückkehrt, noch einmal die modellhafte Gleichrangigkeit ihrer Mitglieder visuell sichtbar.251 In dieser zeremoniell stabilisierten Situation unterbreitet Pampinea der brigata nun jenen Vorschlag zur kommunikativen Ordnung des gemeinsamen Handelns, die zugleich die für das Decameron zentrale Struktur liefert: Qui è bello e fresco stare, e hacci, come voi vedete, e tavolieri e scacchieri, e puote ciascuno,secondo che all’animo gli è piú di piacere, diletto pigliare.Ma se in questo il mio parer si seguisse, non giucando, nel quale l’animo dell’una delle parti convien che si turbi senza troppo piaceredell’altra o di chi sta a vedere, ma novellando(il che può porgere, dicendo uno, a tutta la compagnia che ascolta diletto) questa calda parte del giorno trapasseremo (I, Introd. 110f.).252
Gegeneinander gestellt werden zwei Modi geselliger Interaktion: giucare und novellare. Mit den gioci sind hier in einem ganz materiellen Sinne am Ort der Versammlung vorfindliche Brettspiele (tavolieri e scacchieri ) angesprochen. Dass Pampinea der brigata davon abrät, sich mit diesen zu beschäftigen, hat wenigstens zwei Gründe: Zum einen erfordern Brettspiele in sozialer Hinsicht die Auflösung der Gruppe in mehrere Zweiergruppen, zum anderen erzeugen sie notwendigerweise Gewinner und Verlierer, führen also ein Moment der Stratifikation ein, das seinerseits Streit implizieren kann. Beide Aspekte fördern also die soziale Desintegration 249 250
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Vgl. Battaglia Bd. 11 (1981), S. 600–602, hier S. 600. Vgl. für Pampineas Vorgaben: I, Introd. 102, 108f., 112; sowie für die Institutionalisierung durch Filomena: I, Concl. 8f. Vgl. I, Introd. 109; II, Introd. 3 u. ö. »Hier ist es frisch und angenehm, und wie ihr seht, stehen Brett- und Schachspiele bereit, so daß jeder sich nach Gefallen vergnügen kann. Wenn ihr aber auf mich hört, so wollen wir nicht spielen, da das Spiel stets einen Partner betrübt, ohne daß der Mitspieler oder die Zuschauer besonderes Vergnügen davon hätten. Wir wollen vielmehr die heißen Stunden des Tages damit verbringen, uns Geschichten zu erzählen. Es wird der ganzen Gesellschaft Spaß machen, anzuhören, was ein jeder zu erzählen weiß.« (I, 38f.)
266 der Gruppe und laufen damit einem integrativen Konzept von geselliger Kommunikation – auf das Pampineas Vorschlag offensichtlich zielt –,253 zwangsläufig zuwider.254 Explizit argumentiert Pampinea mit dem Begriff des Vergnügens: Der Schematismus des Brettspiels, nur Gewinner oder Verlierer zuzulassen, produziere notwendig betrübte Stimmung bei der einen Spielpartei, ohne dass hierdurch gesteigertes Vergnügen auf der anderen Seite oder gar bei den Zuschauern entstehe. Entsprechend der egalitären Konzeption der brigata ist aber allseitiges Vergnügen – die Partizipation aller an den diletti geselliger Interaktion – das Ziel, das mit den Vorschlägen Pampineas erreicht werden soll. Insofern rät sie vom Modus des giucare ab und schlägt stattdessen den Modus des Erzählens (novellare) vor. Dieses gewährleiste, indem einer erzähle, Vergnügen für die ganze Gesellschaft (porgere diletto a tutta la compagnia). Auch das novellare differenziert also die brigata, aber nicht – wie es beim giucare der Fall wäre – in vertikal strukturierte Zweiereinheiten, sondern in je Einen, der erzählt (dicendo uno), und die Übrigen, die zuhören (che ascolta). In der Delegation der Redeerlaubnis an einen Einzelnen und dem Erlass eines Schweigegebots für alle anderen spiegelt sich die Distribution der Machtverhältnisse, wie sie bereits das Ordnungsmodell der Königsherrschaft vorsieht. Neben diesem hierarchischen Moment wird aber auch das Egalität sichernde Verfahren der Rotation auf die kommunikative Ordnung der brigata übertragen. Zwar wird an keiner Stelle regelhaft expliziert, dass reihum zu erzählen ist,255 die Praxis des ersten Tages zeigt aber, dass in exakter Analogie zur rotierenden Königsherrschaft intendiert ist, jedem Mitglied der brigata genau einmal die Redemacht zu übertragen, um es seine Geschichte vortragen zu lassen. Das novellare erweist sich somit als kommunikativer Modus, der die brigata über die eindeutige Zuweisung von Rede- und Schweigeregeln einerseits sozial differenziert, andererseits die Gleichrangigkeit innerhalb der Gruppe dadurch gewährleistet, dass er jedem Einzelnen gleichberechtigte Partizipation am Vergnügen ermöglicht und in der Praxis sicherstellt, 253
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Das zeigen ihre Formulierungen:Es gehe darum, erzählendder ganzen Gesellschaft Vergnügen zu bereiten (porgere diletto a tutta la compagnia), zudem könne später am Abend wieder jeder seinen eigenen Beschäftigungen nachgehen: »e potremo dove piú a grado vi fia andare prendendo diletto« (I, Introd. 112). Der Prätext der Questioni d’amore-Episode führt diese hier nur als abgewiesene AlternativepräsenteVariante aus, indem Fiammettas Vorschlag, sich zu parlamenti zurückzuziehen,die alle Anwesenden beteiligen,explizitgegen die Vereinzelungder Gruppe bei diversi diletti formuliert ist, vgl. Filocolo IV, 17,1–2; sowie Kap. 4.2.2. Das ergibt sich allenfalls aus Bemerkungen am Rande, wie der Pampineas, dass es sicher bis nach Sonnenuntergang dauern werde, bis jeder seine Geschichte erzählt habe: »Voi non avrete compiuta ciascuno di dire una sua novelletta, che il sole fia declinato […]« (I, Introd. 112); oder ihrer Vorgabe, dass an diesem Tag jeder den Gegenstand seiner Erzählung nach Belieben wählen könne: »che libero sia a ciascuno di quella materia ragionare che piú gli sarà a grado« (I, Introd. 114).
267 dass jeder gleichermaßen zu Wort kommt. Das heißt im Ergebnis, dass soziale und kommunikative Ordnung im Decameron aufeinander abbildbar sind, insofern als sie nach denselben Vorgaben funktionieren und in analoger Weise hierarchisierende und egalisierende Tendenzen integrieren.256 Die analoge Konstruktion sozialer und kommunikativer Ordnung macht es wiederum möglich, dass die zweite die erste über weite Strecken ersetzt, denn indem auch das novellare ein vertikal strukturiertes soziales Ordnungsmodell enthält, können im Erzählen die Mechanismen der übergeordneten sozialen Herrschaft suspendiert werden: In der Praxis des novellare wird der jeweilige Tagesherrscher für die Dauer von neun Novellen zum schweigenden Zuhörer, der sich der Macht des jeweiligen Erzählers unterzuordnen hat, als Erzähler wiederum gewinnt er diese Macht zurück, aber wiederum nur auf Zeit. Dass es sich tatsächlich um einen Prozess der Substituierung sozialer durch kommunikative Ordnung handelt, zeigt der Fall des Dioneo: Als Tageskönig verfügt er ein Thema, an das er sich aber – gemäß dem ihm verliehenen Privileg, sich nach eigenem Gutdünken an das Tagesthema zu halten oder auch nicht –, nicht hält. Die Macht, die er als Erzähler einer nicht themenkonformen Geschichte ausspielt, ist aber ihrerseits an das Privileg gekoppelt, das wiederum der Repräsentant der sozialen Ordnung gewährleistet. In dem Moment, wo wie in Dioneos Fall die Funktionen von Tageskönig, Privilegiertem und Erzähler in einer Figur zusammenfallen, werden die aus der Substitution der Ordnungen entstehenden Paradoxien besonders deutlich. Die von Pampinea am ersten Tag verfügten Maßnahmen zur sozialen, zeitlichen und kommunikativen Ordnung der brigata werden am zweiten Tag unter der Herrschaft Filomenas noch einmal prinzipiell bestätigt, im Detail allerdings ergänzt. Während Filomena die dem Personal übertragenen Ämter sowie die zeitlichen Vorgaben zur Tageseinteilung ohne Änderung übernimmt (I, Concl. 5 und 7–9),257 präzisiert sie die kommunikative Ordnung dahingehend, dass an jedem Tag gemäß einem vorab (in der Praxis heißt das: jeweils am Abend vorher) bestimmten Thema erzählt werden soll (I, Concl. 10), wobei sie Dioneo, auf dessen Bitte hin, gestattet, als jeweils letzter Erzähler des Tages nach seinem eigenen Er256
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Cornelia Lehmann: Die Funktionalität der Rahmenerzählung im »Decameron«. In: Beiträge zur romanischen Philologie 22 (1983), S. 287–298, hier S. 294, spricht von einer »Spiegelung [des] demokratischen Prinzips« der rotierenden Herrschaft im Reihum-Erzählen. Filomena begründet die Übernahme der von Pampinea geschaffenen ufici mit dem Veweis darauf, dass sie lobenswert und vergnüglich seien. Sie seien erst zu ändern, wenn ihr andauernder Bestand (»troppa continuanza«) oder andere Gründe zu Langeweile führten (I, Concl. 7). Sie nimmt damit das Argument vorweg, dass zur Gewohnheit werdende Ordnung deren Ende bereits impliziert (vgl. auch X, Concl. 6).
268 messen eine Ausnahme von dieser Regel zu machen (I, Concl. 12–14).258 Die thematische Begrenzung (»ristrignere«, I, Concl. 10) des novellare dient der weiteren Regulierung der geselligen Kommunikation. Sie führt eine systematische Ordnungskategorie ein, die eine Vorbereitung der Teilnehmer ermöglicht und dadurch den Ablauf verbessert.259 Dass mit dem Erlass dieser neuen Regel zugleich das Privileg einer Ausnahme gewährt wird, muss zunächst paradox erscheinen, impliziert doch die Ausnahme per se ein unkalkulierbares, Unruhe und Unordnung stiftendes Moment innerhalb der selbst gesetzten Ordnungsarchitektur der brigata. Dieses Moment wird jedoch dadurch abgeschwächt, dass die Ausnahme selbst regelhaften und strukturgebenden Status erhält, indem Dioneos Erzählung auf die zehnte und damit letzte Position des Tages festgelegt wird. Während alle übrigen Mitglieder der brigata an jedem Tag in eine neue, der Willkür des Königs anheim gestellte Abfolge gebracht werden, ist Dioneos Position als zehnter Erzähler eine stabile Größe, die an jedem der neun verbleibenden Tage für alle den verbindlichen Abschluss des jeweiligen Tages signalisiert. Unberechenbar bleibt damit allein die Frage, ob Dioneo sich an das Thema des Tages halten wird oder nicht. Hier liegt die regelhafte Erwartbarkeit auf Seiten der neun übrigen Erzähler, während sich die thematische Konformität oder Nonkonformität von Dioneos Erzählung jeweils von Fall zu Fall entscheidet.260 Filomena begründet Dioneos Privilegierung, indem sie ihm unterstellt, er wolle sicherstellen, die brigata am Ende eines Tages zu erheitern (»rallegrare con alcuna novella da ridere«), wenn sie vom Erzählen bereits etwas erschöpft sei (»se stanca fosse del ragionare«, I, Concl. 14). Der Verweis auf potentielle Ermüdungserscheinungen, die sich in der wiederholten Erzählabfolge einstellen könnten, nimmt wiederum das Argument der consuetudine vorweg, die der Stabilität der geselligen Interaktion gefährlich werden kann. Insofern lässt sich der Ausnahmestatus Dioneos auch als präventive Maßnahme gegen einen allzu schematischen Ablauf werten. 258
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Zum Ausnahmestatus Dioneos vgl. Emma Grimaldi: Il privilegio di Dioneo. L’eccezione e la regola nel sistema Decameron. Neapel u. a. 1987 (= Pubblicazioni dell’Università degli Studi di Salerno, Sezioni di studi filologici, letterari e artistici, 11); sowie Alessandro Duranti: Le novelle di Dioneo. In: Studi di filologia e critica offerti dagli allievi a Lanfranco Caretti. Bd. 1. Rom 1985 (= Biblioteca di ›Filologia e critica‹, 2), S. 1–38. »[…] acciò che ciascuno abbia spazio di poter pensare a alcuna bella novella sopra la data proposta contare« (I, Concl. 10) (»So hat ein jeder ausreichend Zeit, eine schöne Erzählung zu dem aufgestellten Thema zu bedenken.« [I, 110]). Entscheidend ist, dass Dioneo von seinem Privileg nur sehr begrenzten Gebrauch macht, etwa in IV,10 und VII,10. Für III,10 wäre zu überlegen, ob diese Novelle entgegen Dioneos Behauptung nicht durchaus in das Thema des Tages passt; parodistischauf das Tagesthema bezogenist V,10; in VI,10 macht Dioneo dezidiertnicht von seinem Privileg Gebrauch und orientiert sich vielmehr am Tagesthema.
269 Die maßgeblichen Ordnungsprozesse, die von den Königinnen der beiden ersten Tage instituiert werden, stellen zwar zum einen sehr deutlich die Definitionsmacht des jeweiligen Herrschers aus, sie werden zum anderen aber explizit an die Zustimmung der Gruppe rückgebunden.261 Dieser Konsens sichert die Balance zwischen der legislativen Kompetenz des jeweiligen Herrschers und jenen, für die das Regelwerk gelten soll, und verdeutlicht so, dass es hier nicht um die Durchsetzung der Interessen Einzelner geht, sondern dass alle Verfügungen stets im Sinne des Kollektivs getroffen werden.262 Allein dies ist schließlich das Ziel geselliger Ordnung: den Entfaltungsspielraum der Einzelnen moderat einzuschränken, um das Vergnügen des Kollektivs zu vergrößern. Gesellige Herrschaft erweist sich somit auch in der Umsetzung weniger als Privileg, sondern vielmehr als Verpflichtung, das für alle gleichermaßen Gewinnbringende zu verfügen. Die auf Pampinea und Filomena folgenden Tageskönige und -königinnen übernehmen die durch diese Regeln konstituierte Ordnung, sie verfügen lediglich fallweise Änderungen in Bezug auf den Ort der Geselligkeit (dazu bereits Kap. 5.3.1). Panfilo, dem König der zehnten giornata, kommt es schließlich zu, die gesellige Ordnung wieder aufzulösen. Er stellt zunächst fest, dass trotz der Sinnlichkeit einiger der erzählten Novellen zu keiner Zeit die Grenzen des Anstands im Handeln der brigata übertreten worden seien.263 Vielmehr habe sich die brigata, nach dem, was er gesehen und gehört habe, durch »continua onestà, continua concordia, continua fraternal dimestichezza« ausgezeichnet (X, Concl. 5).264 Diese drei Begriffe machen das Programm, unter dem die brigata anfänglich zusammengetreten ist, noch einmal schlagwortartig präsent: fraternal dimestichezza nimmt die Formulierung Pampineas auf, die die heterosozial organisierte Gruppe zu Beginn einem puro e fratellevole animo (I, Introd. 87) unterstellt wissen möchte. Sie impliziert strukturelle Egalität, soziale Nähe und die Absenz von Erotik. Concordia bezeichnet das aus der sozialen Nähe resultierende mentale, aber auch das rationale Einvernehmen, das in allen Belangen sozialer Ordnung zwischen Tageskönig und brigata zu beobachten war. Darüber hinaus lässt sich der Begriff in Anschlag bringen für jene programmatische und kaum je nach261
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Und zwar sowohl in der Form, dass sich die Königin explizit der Zustimmung der brigata versichert (I, Introd. 112) und diese auch zugesprochen bekommt (ebd., 113), oder aber dadurch, dass die brigata von sich aus die gemachten Vorschläge positiv bestätigt (ebd., 102, sowie I, Concl. 12 und 14). Diese Kombination aus herrscherlichem Regelerlass und konsensualer Bestätigung durch das ›regierte‹ Kollektiv ist analog auch in der Geselligkeitskonzeption der Questioni -Episode zu beobachten, vgl. Kap. 4.2.3.1. Vgl. X, Concl. 4. »[. . . ] ständige Ehrbarkeit, Eintracht und geschwisterliche Vertraulichkeit« (II, 529).
270 haltig getrübte Einigkeit in Bezug auf die erzählten Novellen.265 Onestà aktualisiert abschließend noch einmal das moralische Programm der brigata, das als Entgegnung auf die sozialen Zersetzungsprozesse in Florenz gewertet werden kann, aber auch als Leitvokabel für eine Gruppe dient, die beide Geschlechter vereinigt, ohne den erotischen Beziehungen Handlungsspielraum zu gewähren. Die rhetorische Aufladung dieses Programms durch die dreimalige Wiederholung des continua bestätigt eindringlich das erfolgreiche Ergebnis der Bemühungen der brigata, die auf kollektiven diletto ausgerichtete gesellige Interaktion durch Strategien sozialer und kommunikativer Ordnung zu stabilisieren und zu verstetigen.266 Doch obwohl die brigata die Kompetenz, ihr Programm auf Dauer zu stellen, bewiesen hat, schlägt Panfilo die Rückkehr nach Florenz vor. Er begründet seinen Vorschlag, indem er die Dialektik der Zeitlichkeit jeder sozialen und kommunikativen Ordnung herausstellt, auf die zum Teil schon bei deren Instituierung angespielt worden war: So sei erstens der Gefahr vorzubeugen, dass aus langer Gewohnheit Überdruss entstehe,267 zweitens könne die lange Abwesenheit der brigata Kritik von außen provozieren,268 drittens sei jedem der Anwesenden an einem Tag die Ehre, König zu sein, zuteil geworden269 und viertens bestehe die Gefahr, dass die brigata sich, weil sie in der Umgebung bereits bekannt geworden sei, vergrößere und dadurch die Annehmlichkeit verlöre.270 Alle vier Argumente zielen darauf nachzuweisen, dass dem Erfolg der geselligen Institution die Notwendigkeit ihres temporären Bestands bereits immanent ist. Das lässt sich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zeigen: Die dauerhafte Stabilität des Rückzugsortes ist zum einen durch die Außenwelt bedroht, deren Wertung sich die brigata in moralischer Hinsicht ausgesetzt sieht und die die ausbalancierte Sozialordnung der Zehn durch unkontrollierbaren und sozial inhomogenen Zuwachs zer265 266
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Dazu eingehender Kap. 5.4. Vgl. den analogen Befund bei Flasch, Die Gegengesellschaft, S. 112: »Die gesamte Lebensordnung wird so eingerichtet, daß sie auf den Zusammenfall von Vernunft und Vergnügen hinführt.« Meiner Ansicht nach lässt sich das, was Flasch als ›Vernunft‹ bezeichnet, mit dem hier verwendeten Begriff der Ordnung parallelisieren. Gegen Flasch wäre festzuhalten,dass Ordnung literarischenDarstellungen von Geselligkeit grundsätzlich immanent ist, bei Boccaccio allerdings in besonders eindringlicher Weise vorgeführt wird. »[…] che per troppa lunga consuetudine alcuna cosa che in fastidio si convertisse nascer non ne potesse« (X, Concl. 6). »[. . . ] e perché alcuno la nostra troppo lunga dimoranza gavillar non potesse« (X, Concl. 6). »[. . . ] e avendo ciascun di noi la sua giornata avuta la sua parte dell’onore« (X, Concl. 6). »Senza che, se voi ben riguardate, la nostra brigata, già da piú altre saputa da torno, per maniera potrebbe multiplicare che ogni nostra consolazion ci torrebbe« (X, Concl. 7).
271 stören könnte. Die zweite, gleichermaßen virulente Gefahr droht der brigata jedoch von innen, also aus sich selbst heraus: So birgt die verstetigte Ordnung geselliger Interaktion, indem sie zur Gewohnheit (troppa lunga consuetudine) wird, immer schon die Gefahr von Überdruss und Langeweile (fastidio) in sich. Dieses Argument wird gestützt durch Panfilos Befund, dass jeder der Anwesenden bereits einmal das Amt des Königs der brigata übernommen hat, denn damit erfüllt sich die von Filomena gesetzte ordnungsgenerierende Regel (I, Introd. 96) gewissermaßen selbst: Indem die Regeln des geselligen Spiels verabredungsgemäß befolgt werden, findet es ein vorhersehbares Ende. Jede weitere Runde wäre reine Wiederholung, die consuetudo und damit Langeweile erzeugte. Diese Argumentationsfigur scheint für die Geselligkeitskonzeption des Decameron zentral zu sein: Geselligkeit als modellhafte soziale Institution, die versucht, ein Äquilibrium aus egalisierenden und hierarchisierenden Ordnungen zu schaffen, ist nur auf Zeit zu haben, das Modell darf also nur temporär bestehen. Der insofern konsequente Abbruch der geselligen Praxis macht es wiederum möglich, Geselligkeit als Medium literarischer Autonomie zu einem überzeitlichen ästhetischen Ideal werden zu lassen. Da Ideale Zeitlichkeit ausschließen, impliziert der Abbruch des modellhaften Experiments zugleich die Rettung des Ideals.
5.3.4 Zwischenresümee: Soziale Entdifferenzierung und spielerische Differenzierung. Geselligkeit als Äquilibristik Die Regeln, nach denen sich die brigata des Decameron an spezifischem Ort in spezifischer Zusammensetzung für eine gewisse Zeit etabliert, nach denen sie ihre Interaktion stabilisiert, verstetigt und sich so zu einer ›ephemeren Institution‹ formiert, zeichnen sich auf allen Ebenen der Beschreibung dadurch aus, dass sie gegensätzliche Prinzipien zu integrieren versuchen: Für den Raum der Geselligkeit, die Gärten der Landgüter, gilt, dass sie – obgleich geographisch nicht sehr fern von der Stadt gelegen – durch den gestaffelten Rückzug ins Unbenannte in eine symbolische Distanz zu ihr gebracht werden. Die Ausgestaltung der Gärten kombiniert Merkmale der Offenheit und der Abgeschlossenheit. Auch die kontrastiv zur Stadt der Pest angelegte Semantik der Gärten als Orte des Lebens, der Gesundheit und der Ordnung ist, durch die ihnen eingeschriebene Zeitlichkeit, nur von eingeschränkter, ambivalenter Gültigkeit. Die ordnungsgenerierenden Regeln, die sich die brigata selbst gibt, sorgen zwar für die Verstetigung und damit Entzeitlichung der kollektiven Interaktion, zugleich ist ihnen begrenzte Geltung und damit Zeitlichkeit von Anfang an immanent. Am stärksten ausdifferenziert sind diese dialektischen Bewegungen für die Interaktion der brigata. Deren Versuche, so-
272 ziales und kommunikatives Handeln selbstbestimmt zu organisieren, führen zu einem multiplen Nebeneinander vertikaler (hierarchischer) und horizontaler (egalisierender) Ordnungen. Am deutlichsten sichtbar wird dies im sozialen Ordnungsmodell der rotierenden Königsherrschaft und im kommunikativen Ordnungsmodell des novellare : Beide Modelle versuchen den Ordnungsfaktor stratifizierender Herrschaft – als König mit der Macht, den Tagesablauf zu bestimmen; als Erzähler mit der Macht über die Worte, denen alle übrigen (schweigend) zuhören müssen – durch die egalisierenden Prinzipien von Zeitlichkeit und Rotation zu kompensieren. Aber auch im Detail zeigt sich die dialektische Struktur: 1) in der Argumentation, eine Gruppe von sozial gleichgeordneten Frauen käme ohne die ordnende Macht von Männern nicht aus, die zur Bildung einer heterosozialen, wiederum egalisierten Gruppe führt; 2) in den das zeichenhafte Königtum ergänzenden Hofämtern, die für ein komplexes Netz von sozialer Schichtung sorgen, dieses aber gerade nicht auf der Ebene der brigata, sondern stellvertretend auf der ihres Personals etablieren; 3) in der Vorstellung, dass jedes einzelne Mitglied durch Selbstbeherrschung Verantwortung für die onestà des Kollektivs trage; schließlich 4) in der Privilegierung Dioneos, dessen Ausnahmestatus zugleich regulierenden und stabilisierenden Charakter hat. Da in der narrativen Darstellung die Konkurrenz der gegensätzlichen Bewegungen nicht simultan, sondern nur sukzessiv entfaltet werden kann, wird eine Dynamik erzeugt, die am besten mit dem Begriff der Kippfigur gefasst werden kann: Die Referenz auf ein vertikales Modell provoziert die Referenz auf ein horizontales Modell, diese wiederum fordert Kompensation durch vertikale Strukturen und so fort. Da keine der Strukturen die jeweils andere dominiert, ergibt sich im Ergebnis eine Kreisfigur: die Dynamik der dialektischen Bewegungen führt im Auge des Betrachters zu perfekt ausbalancierter, zirkulärer Stabilität. In der Forschung ist viel nach den soziokulturellen (weniger nach den literarischen) Mustern für diese Konzeption gefragt worden, nicht zuletzt, weil es den Anschein hat, dass Boccaccio nach dem faktenbasierten Bericht zu den sozialen Folgen der Pest und zu den Optionen, nach denen die Zeitgenossen ihr Weiterleben organisieren, nun veranschauliche, wie eine konstruktive, sozialintegrative und zukunftsgerichtete Antwort auf die Katastrophe auszusehen habe.271 Bezeichnenderweise ist das gesellige Modell der brigata auf die unterschiedlichsten politischen Konzeptio271
Besonders plakativ formuliert findet sich diese Einschätzung bei Potter, Five frames, S. 155: »the content to be learned by the protagonists of the cornice (knowledge of the world) is equally to be learned by the readers of the Decameron, who are thus led to share in the training for leadership and responsible civic behavior on the upper levels of society.« Vgl. auch Zimmermann, Krise, S. 149; Squarotti, La cornice del Decameron, S. 63.
273 nen bezogen worden – Monarchie, Anarchie, Oligarchie und Demokratie –, ohne dass diese im Einzelnen hinreichende Referenzmodelle abgäben.272 Margarete Zimmermann hat in einem etwas kleinräumiger angelegten Versuch vorgeschlagen, die brigata vor dem Hintergrund »sozialer Gruppierungen im spätmittelalterlichen Florenz« zu lesen, für die sie das Modell der Gilde, das Modell der famiglia und das Modell der monastischen Kommunität anführt.273 Nun kann zwar weder das Modell der famiglia noch das der klösterlichen Gemeinschaft als spezifisch für das Florenz des Trecento angesehen werden, insofern als es sich in beiden Fällen um ubiquitäre soziale Organisationsformen der mittelalterlichen Gesellschaft handelt. Das allein müsste jedoch noch kein Argument dagegen sein, sie als Muster für die brigata anzusetzen. Allerdings sind auch die benennbaren Analogien begrenzt: So erschöpfen sich die Referenzen auf das monastische Modell in der festen Struktur des Tages- und Wochenablaufs, auf die das Kollektiv verpflichtet wird.274 Das Modell der famiglia als eines statischen, hierarchisch strukturierten und vor allem durch rechtliche Bindungen konstituierten Personenverbands ist als Referenzmodell für die brigata noch weitaus schlechter geeignet, denn die sozialen Beziehungen, die zwischen den Mitgliedern bestehen (Freundschaft, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Liebe), schließen stratifizierende rechtliche Beziehungen geradezu programmatisch aus.275 272
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Flasch, Die Gegengesellschaft, S. 108: »Die Herrschaft innerhalb dieser Gruppe wird daher so eingerichtet, daß eine poetische Mischung von Monarchie und Anarchie entsteht […]«; auf die kommunale politische Praxis im zeitgenössischen Florenz verweist etwa Wetzel, Narrative und ideologische Funktion des Novellenrahmens, S. 406: »Auch die Terminologie und die Praxis der Autonomie der Rahmenerzählung – etwa die Wahl des Titels »König«, selbst wenn es sich um einen gewählten und nur für einen Tag regierenden handelt – verrät einen konservativ aristokratischen Einschlag und geht zumindest über die den Popolo grasso privilegierende Verfasssungswirklichkeit der Republik Florenz um 1350 nicht hinaus.«; Brockmeier, Lust und Herrschaft, sieht in der brigata einerseits eine Spiegelung der oligarchischorganisiertenFlorentinerStadtgesellschaftals der ›herrschendenKlasse‹, der allein das Privileg des Novellenerzählens als Produktion und Rezeption von ›Kunst‹ zukomme. Zugleich aber werde dem Patriziat das stilisierte Verhalten der brigata als Modell vor Augen gestellt (S. IX und S. 3); Lehmann, Funktionalitätder Rahmenerzählung, S. 294, sieht im Tageskönigtum und der Praxis des novellare die »Spiegelung [eines] demokratischen Prinzips«. Zu sowohl aristokratischen als auch kommunalen Tendenzen in Boccaccios Werk immer noch grundlegend der Aufsatz von Giorgio Padoan: Mondo aristocratico e mondo comunale nell’ideologia e nell’arte di Giovanni Boccaccio. In: G. P.: Il Boccaccio e le Muse, il Parnaso e l’Arno. Florenz 1978 (= Biblioteca di »Lettere Italiane«: Studi e testi, 21), S. 1–91. Zimmermann, Krise, S. 148. Dass mit dieser punktuellen Referenz tatsächlich gezielt monastische Lebensformen zitiert werden, erscheint eher unwahrscheinlich, es dürfte vielmehr ein für das Spätmittelalter ubiquitäres – nicht spezifisch geistliches – zeitliches Ordnungsmuster damit angesprochen sein, vgl. Boccaccio, Decameron, S. 45 Anm. 4. Die von Zimmermann, Krise, S. 148f., behauptete Synonymität von famiglia und brigata für das ältere Italienisch lässt sich lexikologisch bestätigen, allerdings deu-
274 Das Modell der Gilde liefert dagegen eine durchaus brauchbare Folie für die Konzeption der brigata, indem es – ausgehend von der Existenz gemeinsamer Interessen – eine genossenschaftlich-korporative, horizontale Sozialstruktur mit einer vertikalen, einerseits Kontinuität gewährleistenden, andererseits prinzipiell revidierbaren, temporären Ordnung verbindet.276 Der gruppenkonstituierende Eid bzw. die konsensbasierten Vereinbarungen, denen alle Mitglieder zustimmen, erzeugen zum einen Parität innerhalb der Gruppe und liefern zum zweiten die Grundlage für einen Raum autonomen, gesetzten Rechts, dessen Operationalisierbarkeit und Effizienz wiederum entsprechende Organisationsformen hervorbringen.277 Zimmermann beschränkt die Analogie zwischen brigata und Gilde allerdings ganz auf »die Wahl eines ›Oberhaupts‹, eines ›Vorstehers‹, dem die übrigen Gehorsam leisten, wobei aber die Zeit seiner Herrschaft von vornherein begrenzt ist«.278 Die Bestimmung eines temporären Vorstehers ist wiederum kaum als Proprium des Florentiner Zunft- und Gildewesens zu bezeichnen. In dieser Allgemeinheit lässt es sich nicht nur im ökonomischen Sektor, sondern auch in anderen Bereichen korporativer Organisation – den geistlich-caritativen Bruder-
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ten die Belege auf einen engen Begriff von famiglia im Sinne von (Bluts-) Verwandten, vgl. Battaglia Bd. 2 (1962), S. 377. Im Decameron findet zwar famiglia im Sinne der mittelalterlichen Bedeutung von familia Verwendung (z. B. I, Introd. 48), daraus aber lässt sich für das Verständnis von brigata – anders als Zimmermann es nahelegt – kaum etwas ableiten. Diese paradoxe Struktur ist für soziale Gruppen – mehr noch als für Institutionen, die die Entzeitlichung ihrer eigenen Struktur anzielen – grundlegend. Oexle fasst sie in die schöne Formulierung »relative[r] Dauer und Kontinuität in der Zeit«, vgl. Otto Gerhard Oexle: Gilden als soziale Gruppen in der Karolingerzeit. In: Herbert Jankuhn u. a. (Hrsg.): Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Tl. 1: Historische und rechtshistorische Beiträge und Untersuchungen zur Frühgeschichte der Gilde. Göttingen 1981 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Kl., Folge 3,122), S. 284–354, hier S. 291. Oexle, Gilden als soziale Gruppen, S. 301f., beschreibt diese doppelte Funktion des Eids: »[…] die Gilde wird also durch einen gegenseitig geleisteten Eid konstituiert. Durch diesen Eid gewinnt sie Dauer in der Zeit. [… Der] Eid […] bewirkte die Schaffung eines eigenen ›gewillkürten‹Rechts- und Friedensbereichs, d. h. eines Bereichs von autonom vereinbartem und gesetztem Recht. […] Außerdem wurden die Gildemitglieder durch den gegenseitigen Eid zu Gleichen (pares) – ungeachtet ihrer sonstigen sozialen und rechtlichen Stellung außerhalb der Gilde. Diese ›Parität‹ gehört zu den grundlegenden Normen des Alltagslebens in den Gilden.« Die »innere Organisiertheit, die in der Verteilung unterschiedlicher Funktionen an die Mitglieder zum Ausdruck kommt« und die Oexle als zentrales Merkmal von Gilden als sozialen Gruppen ansetzt (ebd., S. 291), wird – vermutlich auf Grund fehlender Informationen in den Quellen – nicht näher beschrieben. Zimmermann, Krise, S. 148.
275 schaften,279 den aristokratischen Konsorterien,280 dem parteipolitischen Verband der Parte Guelfa –, insbesondere aber auch auf dem politischen Sektor der kommunalen Selbstverwaltung wiederfinden: der Podestà als Oberhaupt des comune militum sowie der Capitano del popolo als Oberhaupt des comune popolo wären dann keinesfalls weniger plausible Referenzmodelle.281 Der Blick auf den Beitrag von Zimmermann lässt schnell deutlich werden, wie überaus schwierig es ist, die »Strukturen jener sozialen Wirklichkeit, in der das Decameron entstanden ist«282 und auf die es gegebenenfalls reflektiert, zu identifizieren und schlüssig zu begründen. In Zimmermanns Beitrag bleiben vor allem die Referenzen auf andere als korporative Modelle ausgeblendet: die aristokratische Dimension der brigata, das monarchische Element des Tageskönigtums und die von den Figuren verwendete, explizit legislative Verfahren aufrufende Begrifflichkeit, die dem politischen – spezifischer: kommunalen – Diskurs zugeschrieben werden könnte.283 Im Folgenden soll versucht werden, diese unterschiedlichen Diskurse im sozialen Modell der brigata zu separieren.284 Die Informationen, die über die Mitglieder der brigata zu erhalten sind, weisen diese als aristokratisch aus:285 Sie sind von vornehmer Abkunft (I, Introd. 49), sie besitzen contadi, und Blutsverwandtschaft wird 279
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Ronald F. E. Weissman: Ritual Brotherhood in Renaissance Florence. New York u. a. 1982, bes. S. 43–106. In dieser ständisch gebundenen und zugleich ökonomisch motivierten Vereinigung ranghoher Familien sieht Surdich, La cornice di amore, S. 248, das zentrale Referenzmodell für die brigata. Zum consortium vgl. Sergio Bertelli: Il potere oligarchico nello stato-città medievale. Florenz 1978, S. 46–51. Gene A. Brucker: Florentine Politics and Society. 1343–1378. Princeton 1962 (= Princeton studies in history, 12), S. 57–71; ders.: Florenz. Stadtstaat, Kulturzentrum, Wirtschaftsmacht. München 1984, S. 109–136. Zimmermann, Krise, S. 154 Anm. 64. Das Bemühen, Boccaccios Texte für die eine (›borghese‹ ) oder die andere (›aristocratico‹, ›medievale‹ ) Seite zu vereinnahmen, ist wiederum ein Reflex, der in der Boccaccio-Forschung nur allzu oft zu beobachten ist. Das Sperrige und zugleich das ästhetisch Reizvolle an Boccaccios Texten ist aber eben diese Dialektik zwischen Altem und Neuem, deren Spannungspotential sich in der sozialen und politischen Konstruktion der Gegenwelt der brigata gerade nicht zugunsten der einen oder anderen Position auflösen lässt. Die verwendete Terminologie bezieht sich zum einen auf die Arbeiten von Brucker (›aristocratic‹ – ›corporative‹), zum anderen auf die Studie von Padoan (›aristocratico‹ – ›comunale‹); vgl. Gene A. Brucker: The Civic World of Early Renaissance Florence. Princeton 1977, S. 14 – 47; sowie Padoan, Mondo aristocratico, S. 1–91. So auch Surdich, La cornice di amore, S. 248. Dass die magnati trotz der von den Zünften dominierten kommunalen Stadtpolitik auch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhundertsnoch eine einflussreicheGröße waren, die sich insbesonderein den 1340er Jahren mit den popolani um die Frage politischerPartizipationauseinandersetzten, belegt Brucker, The Civic World, S. 40. Brockmeier, Lust und Herrschaft, S. 1–7, scheint die brigata eher dem popolo grasso zuzuordnen, der sich lediglich auf aristokratische Lebensmuster beziehe.
276 als wichtiges soziales Band zwischen ihnen benannt.286 Im Anschluss an die Novelle X,6, die von dem – mit den Guelfen verbündeten – König Karl von Anjou handelt, wird von der Kritik einer der Damen, »che quivi era ghibellina« (X,7,2) berichtet, die sich erst mit der folgenden Novelle wieder ausbalancieren lässt (X,8,2). Mit der Erwähnung der ghibellinischen Ausnahme wird die brigata also mehrheitlich der guelfischen Partei zugeordnet. Dieser – ganz randständige – Verweis auf die den politischen Diskurs des Trecento-Florenz beherrschende Frage nach Kaiseroder Papsttreue kann ebenfalls als Hinweis auf die Verortung der brigata in der alten adligen Oberschicht der magnati gewertet werden: spielt die Zuordnung zu einem der Lager hier doch traditionell – und weniger in der Schicht des popolo grasso – eine entscheidende Rolle.287 Das wichtigste Argument dafür, dass sich die brigata auf ein aristokratisch-höfisches Lebensmodell beruft, besteht jedoch in ihrem Leit-Begriff der onestà, der seit dem Hochmittelalter den zentralen Wert einer ritterlich-adligen Elite darstellt und auch in der Florentiner Oberschicht des 14. Jahrhunderts noch nichts von seiner normativen Kraft eingebüßt hat.288 Zu den korporativen Dimensionen der brigata sind die sozialen Bindungen von Freundschaft und Nachbarschaft289 zu nennen, die – neben berufsständischen Kriterien, die für die aristokratische und heterosozial zusammengesetzte brigata keine Rolle spielen – zur Grundlage von kollektiven Zusammenschlüssen sowohl in korporativen als auch kommunalen Institutionen werden, damit aber quer zum Kriterium der Verwandtschaft stehen.290 Auch die Berufung der brigata auf eine Brüderlichkeit im Geiste (fratellevole animo, fraternal dimestichezza ) lässt sich auf die korporativen Institutionen beziehen, die trotz ihrer Konkurrenz zu verwandtschaftlichen Bindungen paradoxerweise die Chiffre der Brüderlichkeit als Ausdruck für die paritätische Konstruktion der Korporation bemühen.291 Grundlage für den Zusammenhang von Parität und nach innen gerichteter Organisation in Gilden ist – nach Oexle – der von allen Mitgliedern geschworene Eid, den auch die Zünfte und Bruderschaf286
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Brucker, The Civic World, S. 18f., vertritt die These, dass Blutsverwandtschaft aristokratisch konnotiert sei, insofern als mit ihr ein Prinzip der Herkunft exponiert werde, das der egalisierenden Konzeption der Zünfte entgegenstehe. Brucker, Florenz, S. 113–124; sowie Carol Lansing: The Florentine Magnates. Lineage and Faction in a Medieval Commune. Princeton 1991. So Wehle, Der Tod, S. 233; vgl. auch Brucker, The Civic World, S. 14–47. Florenz war in 16 Bezirke (gonfaloni ) aufgeteilt, die jeweils eigene Milizen mit entsprechenden Anführern (gonfaloniere) hatten. Diese wiederum spielten eine wichtige Rolle in den kommunalen Gremien, vgl. Brucker, The Civic World, S. 14f. Brucker, The Civic World, S. 14–19. Ebd., S. 15; Oexle, Gilden als soziale Gruppen, S. 302, sieht in dem Aspekt der Brüderlichkeit als Ausdruck für die Parität innerhalb der Gruppe einen Reflex auf die Vorstellung der christlichen Urgemeinde.
277 ten im Florenz des Trecento kennen.292 An die Stelle des Eides tritt bei der Konstitution der brigata eine Kombination aus herrscherlicher Verfügung und kollektiver Zustimmung, die sich am besten mit dem Begriff des Konsenses (consentimento) fassen lässt. Der Konsens darüber, wie die gesellige Interaktion zu gestalten ist, entspricht, indem er gleichermaßen Partizipation und innere Ordnung gewährleistet, dem Eid auf die Statuten der Korporation. Zum kommunalen Diskurs ist jene Begrifflichkeit zu rechnen, die die exekutiven und legislativen Funktionen der selbst gesetzten Ordnung bezeichnet: So sind in der Bezeichnung des zunächst vorgeschlagenen Ordnungsmodells als signoria oder maggioranza und seines in der Wahl zu bestimmenden Vorstehers als maggiore, principale und primo di noi die Referenzen auf die Struktur der Florentiner Kommune – die Signoria als politische, der Podestà und Capitano del Popolo als juristische und polizeiliche Exekutive – evident. Auch in der Bezeichnung der von den Tageskönigen verfügten Maßnahmen zur geselligen Ordnung als Gesetze (legge),293 zeigt sich eine Referenz auf das politische System: In Florenz um 1350 ist es die Signoria, die Gesetzesinitiativen vorlegt und durch die Ratsversammlungen (comune militum, comune del popolo) absegnen lässt. Ämterrotation und Wahl auf Zeit, die die Partizipation Vieler ermöglichen und die Interessenspolitik Weniger erschweren sollen, sind wiederum Verfahren, die sowohl in den korporativen als auch den kommunalen Institutionen der politischen Kultur Florenz’ ihren Ort haben. Drei zentrale Aspekte des Ordnungsmodells der brigata lassen sich nach diesem Verfahren nicht in dem im weitesten Sinne politischen Diskurs des zeitgenössischen Florenz’ identifizieren: 1) die Instituierung der Königsherrschaft im Zeichen des Lorbeers, 2) das die Partizipation aller erzwingende Verfahren der Rotation und 3) die Beteiligung beider Geschlechter. 1) Die spielerische Königsherrschaft ist ganz offensichtlich ein intertextuelles Zitat aus der Questioni d’amore-Episode, über das die Monarchen der brigata mit den Königen und Königinnen der literarischen Konzeption des Liebeshofs verbunden werden.294 Prinzipiell gemeinsam ist den Konzeptionen des Königtums in den Questioni d’amore und im Decameron der Aspekt der gesetzten Herrschaft; sowohl Fiammetta als auch die Mitglieder der brigata werden – in allerdings unterschiedlichen Verfahren – zu Königen ›gemacht‹. Ansonsten aber unterscheiden sich 292 293 294
Oexle, Gilden als soziale Gruppen, S. 302f.; Brucker, The Civic World, S. 15. Vgl. etwa VIII, Concl. 4. So auch Lucia Marino: The Decameron ›Cornice‹.Allusion, Allegory and Iconology. Ravenna 1979 (= L’interprète, 14), S. 151. Zimmermann, Krise, S. 154 Anm. 64, lehnt eine intertextuelle Interpretation hingegen strikt ab, ohne allerdings für die Figur des Königs eine alternative Erklärung zu haben.
278 die beiden Konzeptionen durchaus markant: Die Herstellung der Monarchie ist im Decameron ausschließlicher Bestandteil der sozialen Ordnung und vollzieht sich im Gegensatz zum Filocolo in zwei Stufen. Zunächst wird das Modell einer sozial stratifizierten Ordnung mit einem principale an der Spitze entworfen. Erst nachdem dieser – in Gestalt von Pampinea – bestimmt ist, vollzieht sich die Transformation der prima di giorno – durch die zeichenhafte Krönung mit Lorbeer – in eine Königin. Im Filocolo fallen hingegen soziale und kommunikative Ordnung im Vorschlag, einen König zu wählen, in eins. Das spielerische Königtum wird hier – vielleicht gerade weil ihm die Verantwortung für soziale und kommunikative Stabilität zukommt – an Kriterien gebunden, die aus dem politischen Diskurs importiert werden: sozialer Rang, Alter, Erfahrung, Eignung. Die Kriterien machen es wiederum notwendig, geeignete Kandidaten auszuwählen, was zu dem Mechanismus der doppelten Wahl (die Gruppe wählt Ascalion, Ascalion benennt Fiammetta) führt. Im Ergebnis wird mit Fiammetta diejenige zur Spielkönigin bestimmt, die als Königstochter auch außerhalb der geselligen Interaktion eine herausgehobene Stellung innehat. Einmal nominiert, behält sie ihr Amt für die Dauer der geselligen Interaktion bei. Anders die Königsherrschaft im Decameron: Da von vornherein festgelegt ist, dass jeder aus Gründen der Parität einmal die Herrschaft übernehmen soll, kann auf die Verhandlung von Kriterien, die Einzelne geeignet oder ungeeignet erscheinen lassen würden, gänzlich verzichtet werden. Dieser Verzicht wird anschaulich in der Reduktion des Königtums auf ein äußerliches Zeichen: den Lorbeerkranz. Die Adaptation der spielerischen Königsherrschaft im Decameron folgt somit zwei Prinzipien: sie erhält die Konzeption temporärer stratifizierender Herrschaft (begrifflich gefasst als maggioranza, signoria) in vollem Umfang bei, baut aber zugleich die Konzeption eines auf Kriterien wie Herkunft oder Eignung gegründeten, somit ›referentiellen‹ Königtums zugunsten der Partizipation aller Teilnehmer am geselligen Geschehen ab. 2) Das Herrschaftsmodell der brigata ist eine im Zeichen der Egalität stehende, temporäre Herrschaft aller über alle. Mit einer demokratischen Herrschaftsform hat es nur wenig gemein.295 Das zeigt sich insbesondere an dem für demokratische Partizipation in sozial egalisierten Gruppen etablierten Verfahren der Wahl: Im Kontext der Selbstorganisation der brigata werden Wahlverfahren dezidiert überflüssig, da ja schon von vornherein festgelegt ist, dass jeder einmal an die Reihe kommt. Die Wahl (elezione) Pampineas zur prima del primo giorno ist somit allenfalls ein 295
Zu solchen Überlegungen verleiten v. a. die korporative Erscheinungsform der brigata, der paritätische Modus der rotierenden Herrschaft und des ReihumErzählens, vgl. etwa Lehmann, Funktionalität der Rahmenerzählung, S. 294.
279 zeichenhafter Akt, der vorwiegend den gemachten Charakter der selbst gesetzten Ordnung dokumentiert. Das vermeintlich ›demokratische Prinzip‹ im Decameron ist demnach beschränkt auf die autonome Herstellung von und die Partizipation an Herrschaft, während die Aushöhlung des Wahlprinzips durch die Zwangsinstituierung jedes Beteiligten als König diesem Prinzip grundlegend widerspricht. Das Modell erzwungener – statt, wie es der politische Diskurs vorsieht, möglicher – Partizipation lässt sich ebenso wie das Modell der Königsherrschaft als Ausformulierung einer bereits in der Questioni d’amore-Episode präsenten Vorstellung lesen. In den Questioni ist die Partizipation aller auf die kommunikative Praxis beschränkt. Als Element der institutionellen Ordnung erscheint sie nur ex negativo, in der Bemerkung Fiammettas, dass derjenige, der keine Frage vorlege – und sich der Ordnung also verweigere –, aus der geselligen Runde ausgeschlossen werde.296 Im Decameron ist dieser Mechanismus zum einen als Bestandteil der gesetzten Regeln institutionalisiert, zum anderen erscheint er verdoppelt, insofern nicht nur alle auf die Teilhabe an der Tagesherrschaft, sondern auch auf einen täglichen Erzählbeitrag verpflichtet werden. Prinzipiell lässt sich diese Form der ›Zwangspartizipation‹ in beiden Texten als Element des Spiels identifizieren, dessen Gelingen ganz allgemein darauf angewiesen ist, dass sich alle für eine bestimmte Zeit an ihm beteiligen. Das Besondere an den vorliegenden beiden Texten ist es, dass dieses Element als einer von vielen Faktoren dazu eingesetzt wird, gesellige Interaktion als Integration horizontaler und vertikaler Ordnungen zu thematisieren. Gerade weil es sich somit um ein durch und durch künstliches Modell handelt, das auf die radikalen Prinzipien von größtmöglicher Parität und eindeutiger – legislativer und exekutiver – Ordnung reduziert ist und das die Existenz von Partikularinteressen nahezu vollständig ausblendet,297 kann es kaum verwundern, dass diese »ideale Form der Ordnung«298 im politischen Diskurs kein Korrelat hat. Und auch die Frage, ob es als utopisches Modell auf diesen zielt, muss dahingestellt bleiben.299 296 297
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Filocolo, IV,18,7; vgl. Kap. 4.2.3.1. Eine Ausnahme liegt mit dem Privileg Dioneos vor, das seinerseits jedoch systemstabilisierend integriert ist. So Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 125: »Damit ist eine ideale Form der Ordnung geschaffen, in der jeder König auch Untertan, jeder Untertan auch einmal König wird, so daß alle gleich sind und trotzdem immer einer verantwortlich regiert.« Der Befund von Segebrecht, Geselligkeit und Gesellschaft, S. 309, dass die »geschlossene Gesellschaft der Erzähler […] die bemerkenswerte Neigung [entwickelt], die gesellschaftlichen Ordnungen, aus denen sie sich herausbegeben hat, um zu erzählen, im eigenen Kreis sogleich wieder zu erneuern« und die »theoretisch gegebene Chance zur Konstituierung einer neuen Gesellschaft« nicht wahrnimmt, sondern vielmehr »die herkömmlichen hierarchischen Strukturen bestätigt und damit verteidigt«, ist somit zu revidieren.
280 3) Ebenfalls nicht mit dem politischen Diskurs verrechenbar ist die für die gesellige Formation der brigata so zentrale Beteiligung beider Geschlechter.300 Die Anknüpfung an eine über die Literatur vermittelte höfische Geselligkeitskonzeption, die – insofern sie sich inhaltlich zumeist am Thema höfischer Liebe abarbeitet – als spezifisch mittelalterlich angesehen werden kann, ist hier ganz besonders deutlich. Anders als das im Humanismus im Rückgriff auf antike Geselligkeitsvorstellungen aktualisierte Modell homosozialer Geselligkeit verbindet das Modell der brigata somit die gesellige Konzeption der mittelalterlichen cours d’amours mit der europäischen Salonkultur des 17.–19. Jahrhunderts. Die Geselligkeitskonzeption des Decameron basiert damit in wesentlichen Punkten auf der des Filocolo. Beide Texte teilen die Vorstellung, dass gemeinschaftliche Interaktion im Zeichen des diletto sozial und sprachlich zu ordnen ist. Dabei entsprechen sich jeweils die hierfür gewählten Ordnungen: In der Questioni -Episode wird eine konsensual und durch Wahl bestätigte Königin dazu bestimmt, Liebesfragen autoritativ zu entscheiden, im Decameron gibt sich die über ein rotierendes, nurmehr zeichenhaftes Königtum organisierte brigata die kommunikative Ordnung des Reihum-Erzählens (novellare). Die hinsichtlich der sozialen Ordnung beobachtbaren Veränderungen zwischen beiden Texten könnten also – zugespitzt formuliert – der Entscheidung zugeschrieben werden, unterschiedliche Modelle geselliger Kommunikation vorzuführen. Dass der jeweilige kulturelle Entstehungskontext der Texte (der neapolitanische Hof für die Questioni -Episode, das kommunale Florenz für das Decameron) dieser Differenz eine gewisse historische Plausibilität verleiht, soll nicht in Abrede gestellt werden, auch wenn der kommunikative Modus des Erzählens für sich genommen in einer Stadtrepublik keine höhere Plausibilität hat als an einem Hof.301 Allzu schlichte historische Referenzmodelle verbieten sich also in jedem Fall: Die Lektüre der Geselligkeitskonzeption des Filocolo als intertextuelle Montage vermag das ebenso zu verdeutlichen wie das in beiden Texten präsente, im Decameron jedoch zur Kunstfigur gesteigerte Ausbalancieren dialektischer Bewegungen zwischen vertikalen und horizontalen Ordnungen, für die sich so keine Referenz im politischen Diskurs benennen lässt und die somit ein Proprium des literarischen Textes bleibt.
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Dass Frauen und insbesondere Meisterwitwen die Mitgliedschaft in Zünften gestattet war, so Oexle, Gilden als soziale Gruppen, S. 331 und S. 337, wird hier vernachlässigt, da hiermit kaum das relevante Referenzmodell für die heterosoziale Konzeption der brigata vorliegen dürfte. Vgl. dazu Kap. 3.2.2.
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5.4
Gesellige Kommunikation im Decameron
Während sich hinsichtlich der Vorstellungen von Geselligkeit als sozialer Struktur deutliche Bezüge zwischen Questioni d’amore-Episode und Decameron aufzeigen lassen, erscheinen die Verbindungen zwischen dem kasuistischen Kommunikationsmodell der Questioni und dem im Decameron vorgeführten Modell geselligen Erzählens weniger evident: Werden im älteren Text dilemmatische Fragen vorgelegt, erörtert und entschieden, so werden hier zu einem vorab bestimmten Thema Geschichten erzählt, die in der Mehrzahl der Fälle affektive Zustimmung und konsensuales Lob erfahren, und deren Botschaft – in den Fällen, wo die Erzähler eine solche andeuten und die brigata diese registriert – kaum je Anlass zu ernsthaften Differenzen innerhalb der Gruppe geben.302 Dort wo es ausnahmsweise doch zu einem Dissens innerhalb der brigata kommt, findet dieser lediglich Eingang in einen resümierenden Erzählerkommentar, auf eine ausführliche Darlegung von Positionen aus Sicht der Figuren – die ja in der Questioni d’amore-Episode breiten Raum einnimmt – wird vollständig verzichtet. Auch wenn dieser Befund die Schlussfolgerung nahelegt, dass beide Modelle nicht aufeinander zu beziehen seien, soll im Folgenden versucht werden, das kommunikative Modell des Decameron als Ausdifferenzierung von Ansätzen zu lesen, die im kasuistischen Modell des Filocolo bereits angelegt sind. Dass die produktive Rezeption eines Prätexts – hier durch denselben Autor – in dezidierten Gegenbewegungen und Negationen sichtbar wird, wäre noch kein Argument dafür, dass nicht ein spezifisches Muster im Hintergrund steht, auf das sich die Absetzung bezieht. Die folgenden Analysen zur kommunikativen Interaktion der brigata des Decameron zielen insofern darauf zu zeigen, dass die irritierende Indifferenz und Einmütigkeit, mit denen die brigata auf die erzählten Novellen reagiert, eine programmatische Abkehr vom Modell kasuistischer Kommunikation implizieren. Um diese These plausibel zu machen, wird es nötig sein, den kasuistischen ›Palimpsest‹ des Decameron herauszuarbeiten, der sich auf unterschiedlichen Ebenen des Textes sichtbar machen lässt (Kap. 5.4.2).303 In einem zweiten Schritt werden 302
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An dieser Stelle ist noch einmal daran zu erinnern, dass mit dem Erzählen im Decameron ein Modus kommunikativer Interaktion inszeniert wird, der in der Questioni -Episode gescheitert war, weil die Anwesenden sich fortlaufend wechselseitig unterbrochen hatten (Filocolo IV,17,4). Erst das Spiel der Liebesfragen hatte dort die Kommunikation ordnen und den sozialen Zusammenhalt der Gruppe stabilisieren können. Das Decameron geht den umgekehrten Weg: Hier wird eine Erzähl-Ordnungetabliert,die das Reden und Schweigender brigata in ein ideal ausbalanciertes Verhältnis bringt, sich zugleich aber von der in den Questioni d’amore dargestellten Streitkultur abzusetzen sucht. Der Begriff des ›Palimpsests‹ bezieht sich auf den Titel des Buchs von Genette, in dem das Wort lediglich als metaphorischer Oberbegrifffür verschiedene Trans- und
282 dann Tendenzen zu erörtern sein, die dieser Negationsbewegung genau zuwiderlaufen: So erzeugt das kommunikative System des novellare unter dem Anspruch, alle gleichermaßen an den kommunikativen Vollzügen zu beteiligen, eine erzählerische Agonistik, deren Konkurrenzgedanke die kunstvolle Balance der egalitären Ordnung der brigata zu bedrohen scheint. In der Verknüpfung von Egalität und Konkurrenz kommt ein Aspekt zum Vorschein, der insbesondere in einer Soziologie des Adels seinen Ort hat, und der in dieser Arbeit am literarischen Modell des Artushofs exemplifiziert wurde (Kap. 3). Dass dieser Bezug mehr als eine willkürliche Assoziation ist, zeigt sich in der dem höfischen Turnierwesen entliehenen Metapher des correre un aringo, die die brigata für die agonalen Implikationen des novellare findet (dazu Kap. 5.4.3). Vorangestellt ist diesen Ausführungen im Folgenden zunächst ein Versuch, die Mechanismen, nach denen die kommunikative Interaktion der brigata im Decameron funktioniert, zu systematisieren.
5.4.1 Strukturen kommunikativer Interaktion im Decameron Die kommunikative Interaktion der brigata entfaltet sich im Gegensatz zur Questioni d’amore-Episode nicht schematisch im Anschluss an die vorgelegten Kasus, sondern repräsentiert ihrerseits einen übergeordneten Diskurs, dem die Novellen untergeordnet sind.304 Dieser Gesprächszusammenhang lässt sich als Montage aus kollektiven und individuellen Reaktionen der brigata-Miglieder beschreiben, die in der Wiederholung zu einer festen Struktur werden. So beginnt jeder der durch die Überschriften (rubriche) markierten Abschnitte, in denen jeweils eine neue Novelle erzählt wird, mit einem Erzählerkommentar, der die kollektive Reaktion der brigata auf die zuvor erzählte Novelle wiedergibt. Dabei handelt es sich zum einen um affektive Reaktionen wie Lachen (ridere), Lächeln (sorridere), Erröten (arrossare) und – vor allem im Kontext der vierten giornata – Seufzen (sospirare) sowie compassione anzeigende lagrime. Zum anderen zeigt die brigata diskursive Reaktionen wie Lob (commendare, lodare), Gefallen (piacere), seltener Kritik (biasimare), deren Bezug zu den erzählten Novellen allerdings entweder ganz allgemein bleibt, wie in der Reaktion auf die Novelle V,2: »Niuno ne fu tra
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Intertextualitätsverhältnisse verwendet wird. Die Kategorie, die in diesem Fall einschlägig ist, ist die von Hypo- und Hypertext, also einer Überlagerung zweier Texte über die Verfahren von Transformation und Nachahmung; vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2004 (= edition suhrkamp N. F., 683), S. 9–47, bes. S. 9f. und S. 14–21. Narratologisch ist dieser Befund als Wechsel aus der intra- in die metadiegetische Erzählebene zu beschreiben.
283 tutti che la novella d’Emilia non commendasse«305 (V,3,2), oder an zentrale Inhalte der Novelle anknüpft, wie in der Reaktion auf die Novelle I,5: »essendo già stato da tutte commendato il valore e il leggiadro gastigamento della marchesana fatto al re di Francia«306 (I,6,2).307 An die kollektive Reaktion der brigata schließt sich die Übergabe der Redehoheit an den nächsten Erzähler an. In der Mehrzahl der Fälle nehmen die Figuren zunächst den durch den allgemeinen Erzählerkommentar vorgegebenen Bezug zur vorausgegangenen Novelle noch einmal auf und fügen der kollektiven somit eine individuelle Reaktion hinzu, die wiederum affektiv und/oder diskursiv sein kann.308 Erst daran schließt sich die Einführung der folgenden Novelle, die den Status einer inhaltlichen Ankündigung haben, aber auch zu einem Kommentar erweitert sein kann. In einigen Fällen knüpft ein abschließender Kommentar der Erzählerfigur im Anschluss an die erzählte Novelle noch einmal an den Eingangskommentar an.309 Die Abfolge von kollektiven Reaktionen und individuellen – rückbezüglichen und vorausweisenden – Kommentaren, erscheint somit als kunstvolle Verkettung stabiler zirkulärer Strukturen.310 Eine markante Zäsur innerhalb dieses Ablaufs bilden allerdings die paratextuellen Überschriften (rubriche),311 die zwischen das Ende der jeweiligen 305
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»Niemand von der Gesellschaft hatte Emilias Geschichte ohne Lob angehört.« (I, 571) »Nachdem alle die Tugend der Marchesa und die zarte Abfuhr, die sie dem König von Frankreich erteilte, gelobt hatten […]« (I, 83). Die Unterscheidungvon affektivenund diskursivenReaktionen bezieht sich grundsätzlich auf Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 192. Hier werden Lob und Bewunderung allerdings anders als bei Geyer nicht als affektive, sondern als diskursive Reaktionen gewertet; vgl. zu den Reaktionen der brigata auch Schoell, Das Lachen, S. 189–196; sowie ausführlich Arend, Lachen und Komik, S. 180–194. Eine affektive Reaktion liegt etwa mit Dioneos Reaktion auf die Novelle III,9 vor: »Dioneo, che diligentemente la novella della reina ascoltata avea, […] sorridendo cominciò a dire […]« (III,10,2), eine Kombination affektiver und diskursiver Reaktionen zeigt bspw. Filomena bezogen auf die Novelle IV,4: »la quale [Filomena, C. E.], tutta piena di compassione del misero Gerbino e della sua donna, dopo un pietoso sospiro incominciò: – La mia novella, graziose donne, non sarà di genti di sí alta condizione come costor furono de’ quali Elissa ha raccontato, ma ella per avventura non sarà men pietosa« (IV,5,2–3). Etwa in III,6; IV,9; VII,10; X,4; X,5; X,8; X,9; X,10. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6., neu bearb. Aufl. München 2001, S. 159–164, macht am Beispiel der in den Erzählerkommentaren verwendeten Tempusformen den »nahtlosen Übergang« (S. 164) zwischen besprochener und erzählter Welt deutlich. Arend, Lachen und Komik, S. 170, sowie Franco Fido: Architettura. In: Bragantini / Forni (Hrsg.), Lessico critico decameroniano, S. 13–33, hier S. 14, sehen die rubriche analog zum Proemio, der Conclusione dell’autore und der Einleitung zur vierten giornata als Bestandteile der extradiegetischen Erzählung an. Zwar weist der extradiegetische Erzähler in der Conlusione dell’autore auf die rubriche als Instrumente selektiverLektüre hin (Concl. dell’autore,19), er tritt in diesen aber nicht wie in den vorgenannten Passagen als homodiegetischer Erzähler, also als Figur in
284 Novellen und die Reaktion der brigata eingefügt sind, und – indem sie die nächste Novelle inhaltlich annoncieren – nicht nur die organische Einheit von Narration und diskursiver Reaktion aufbrechen, sondern auch dem Kommentar des folgenden Erzählers vorgreifen und damit Informationen zu der folgenden Geschichte verdoppeln.312 Den rubriche kommt also eine paradoxe Funktion zu: Als Strukturmerkmale, die vor allem der Orientierung im schriftlichen Text dienen, bilden sie eine dezidierte Gegenbewegung zu der geordneten und gleichmäßigen Chronologie der kommunikativen Interaktion. Zugleich bewirkt ihre vorgezogene Platzierung noch vor der kollektiven Reaktion der brigata, dass die bereits abgeschlossene Novelle durch die explizite Wiederaufnahme im nächsten Kapitel im diskursiven Gesprächszusammenhang der geselligen Gemeinschaft präsent bleibt und damit die Kontinuität der Kommunikation erhalten werden kann.313 Als Paratexte verweisen die rubriche auf die Ordnungsinstanz des Autors und richten sich an die Rezipienten. Sie können insofern als Mittel aufgefasst werden, die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der brigata partiell durch kommunikative Interaktion zwischen Autor und Leser zu überschreiben.314 Dieser Ebenenwechsel wäre zugleich eine regelmäßig wiederholte Erinnerung an die Gemachtheit
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seiner Erzählung auf, sondern müsste als heterodiegetischer Erzähler bezeichnet werden. Diese weitere Differenzierung wird hier dadurch umgangen, dass die rubriche aus der Diegese herausgenommen, und – wie auch Incipit und Explizit – als Paratexte aufgefasst werden. Instruktiv hierzu Lehmann, Funktionalität der Rahmenerzählung, S. 291, die in der »Doppelungvon Autorenhinweis(»rubrica«)und Erzählerkommentar«die von Boccaccio angelegte Möglichkeit sieht, »die jeweils folgende Geschichte auf zweierlei Ebene zu kommentieren, ohne den Anschein moralistischer Auswertung zu geben, wie sie vom mittelalterlichen Exemplum her geläufig und in seiner Zeit noch weit verbreitetwar.« Diese Deutung ist plausibel,einzuwendenist lediglich,dass die Einführung der folgenden Novelle durch ihren Erzähler nur fallweise kommentierenden Status aufweist, also auch nur fallweise ein entsprechendalternatives Rezeptionsangebot macht. Arend, Lachen und Komik, S. 179, bezeichnet es als »subtiles Mittel der Kohärenzbildung«, dass das »Ende der alten und der Anfang der neuen Novelle« auf Grund der Platzierung der rubriche zusammenfallen; vgl. auch Lehmann, Funktionalität der Rahmenerzählung, S. 291f. Lehmann, ebd., S. 292, argumentiert, dass dem Rezipienten über die rubriche zunächst Wissen zur Verfügung gestellt werde, das jenes der brigata übersteige, dass er aber durch den Figurenkommentar wieder in die Gemeinschaft der brigata hineingenommen werde, »der ihn zusammen mit den Mitgliedern der ›brigata‹ in die Rolle des Beurteilers«, dränge, so dass er sich schließlich »in der Lage des ungesehenen Zeugen« befinde: »Seine Reaktion auf das Erzählte, auf Erzähler- und Zuhörerkommentaresowie auf die gesamte Leistung des Autors bleibt verborgen,und doch wird seine Urteilsfähigkeit auf allen drei Ebenen ständig stimuliert und geleitet.«
285 des Textes und somit als Signal für einen (Fiktionalitäts-)Kontrakt315 zwischen Autor und Leser zu werten. Die kommunikative Interaktion der brigata wird also vor allem durch die auf Wiederholbarkeit angelegte Disposition ihrer einzelnen Bestandteile stabilisiert. Daneben gibt es eine Fülle von groß- und kleinräumigen thematischen Strukturen, die die Interaktion der brigata organisieren. Das wichtigste strukturgebende Prinzip der Überordnung der diskursiven Interaktion über die Narration ist das für alle – Dioneo ausgenommen – verbindliche Tagesthema, das acht der zehn giornate eine weitgehend homogene inhaltliche Kontur verschafft.316 Die thematischen Bezüge, die innerhalb einer giornata die Redebeiträge der brigataMitglieder miteinander verbinden, sind allerdings nur in einigen Fällen direkt auf das Tagesthema bezogen.317 Zumeist sind sie – indem sie nur zwei Novellen miteinander verbinden – kleinräumiger angelegt und unabhängig vom Tagesthema gestaltet. Es handelt sich dabei um Bezüge, die die folgende Novelle mit der vorausgehenden verknüpfen, indem sie Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder auch Gegensätze herausstellen. Häufig zu beobachten ist die Herstellung von Bezügen über analoge Gegenstände (res) der Novellen. So bezieht Lauretta die Novelle I,8 über den wegen seines Geizes verspotteten Messer Ermino auf die ebenfalls von einem Geizigen handelnde Novelle Filostratos (I,7) zurück, indem sie die Ähnlichkeit (similitudo) zwischen beiden Novellen betont: La precedente novella,care compagne, m’induce a voler dire come un valente uomo di corte similmente, e non senza frutto, pugnesse d’un ricchissimo mercatante la
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Zum Begriff vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischerAnthropologie.Frankfurta. M. 2001 (= stw, 1101), S. 18–51, bes. S. 35–37. Am ersten und neunten Tag gibt es keine verbindlichen Themen. Am ersten Tag ist die Verfügung von Tagesthemen noch kein Bestandteil der kommunikativen Ordnung, am neunten Tag verfügt Emilia die Ausnahme von den unter Filomena geschaffenen»legge ristretti«,damit die brigata wie ein aus dem Joch entlassenerOchse beim freien Umherstreifen neue Kraft für das thematisch ›gebändigte‹ Erzählen schöpfen könne (VIII, Concl. 3–4). Ein Beispiel hierfürsind etwa die Kommentarezu den Novellender sechstengiornata, die das Tagesthema der Schlagfertigkeit variieren, indem sie Schlagfertigkeit als Eigenschaftan unterschiedlichenPersonen vorführen(VI,1: die schlagfertigeadlige Dame, VI,2: der schlagfertige Bäcker, VI,3: die forsche Schlagfertige, VI,4: der aus Angst Schlagfertige) sowie die Figurenkommentare in der zehnten giornata, die das Tagesthema (hochherzigeund großmütige Taten) kompetitiv auffassen und die Novellen entsprechend um Überbietung bemüht einführen;vgl. hierzu Kap. 5.4.3. Zur Tektonik des Decameron vgl. auch Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 65 Anm. 19: »In der Abfolge von Einleitung zum vierten Tag, erster, zweiter und dritter Novelle, läßt sich zugleich auch so etwas wie ein Aufbauprinzip der Novellensammlung erkennen. Ein so exaktes Ineinanderübergehen verschiedener Novellen ist freilich nicht immer nachzuweisen; zumeist ist der durch das Oberthema des Erzähltages gegebene thematische Zusammenhang recht locker.«
286 cupidigia; la quale, perché l’effetto della passata somigli, non vi dovrà per ciò esser men cara, pensando che bene n’adivenisse alla fine. (I,8,3)318 [Hervorhebung C. E.]
Über das Prinzip der Ähnlichkeit der Gegenstände werden die Novellen VII,4 und VII,5 (Figur des Eifersüchtigen)319 sowie die Novellen IV,5 und IV,6 verbunden: Das verbindende Element ist hier der Gegenstand des Traums, der thematisch in die Novelle IV,6 übernommen wird, und durch die Verdopplung sogar eine Intensivierung erfährt.320 In der neunten giornata knüpft die Einführung zur Novelle IX,7 noch einmal an dieses Thema an.321 Die Novellen VII,1 und VII,3 werden durch das gemeinsame Thema der Beschwörung (incantagione) verknüpft,322 IV,6 und IV,7 werden dadurch verbunden, dass in ihnen jeweils Liebhaber in einem Garten sterben323 und die Novelle V,5 ist wie auch V,4 in der Romagna angesiedelt.324 Komplexer gestaltet sich die diskursive Verknüpfung von IX,1 und IX,2: In der Einführung zur Novelle IX,2 greift Elissa die 318
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»Liebe Freundinnen, die letzte Geschichte veranlaßt mich, euch zu erzählen, wie ein kluger Höfling auf ähnliche Weise den Geiz eines schwerreichen Kaufmanns erfolgreich bekämpfte. Auch wenn meine Geschichte der vorigen ähnelt, soll sie euch deswegen nicht weniger gefallen, da sie einen so guten Abschluß findet.«(I, 96) »Nobilissime donne, la precedente novella mi tira a dovere similmente ragionar d’un geloso« (VII,5,3). »Il sogno nella precedente novella raccontato mi dà materia di dovervene raccontare una nella quale di due si fa menzione, li quali di cosa che a venireera, come quello di cosa intervenuta, furono« (IV,6,3) (»Der Traum, den unsre letzte Geschichte enthielt, bringt mich auf den Gedanken, euch eine Novelle zu erzählen, in der sogar von zwei Träumen die Rede ist. Während aber der Traum in Filomenas Geschichte vergangenesGeschehenaufdeckte,sagen die meinen zukünftigeEreignissevoraus.« [I, 490]). »Altra volta, piacevolidonne, delle verità dimostrate da’ sogni, le quali molte scherniscono, s’è fra noi ragionato; e però, come che detto ne sia, non lascerò io che con una novelletta assai brieve io non vi narri quello che a una mia vicina, non è ancora guari, addivenne, per non crederne uno di lei dal marito veduto.« (IX,7,3) (»Schon einmal, ihr reizenden Mädchen, haben wir uns über die Wahrheit mancher Träume unterhalten, die von vielen Menschen verlacht wird. Obwohl schon davon gesprochen wurde, will ich es nicht unterlassen, euch in einem kurzen Geschichtchen zu berichten, was vor gar nicht langer Zeit meiner Nachbarin zugestoßen ist, die nicht glauben wollte, was ihr Mann von ihr geträumt hatte.« [II, 364f.]). »Piacevoli donne, lo’ncantar della fantasima d’Emilia m’ha fatto tornare alla memoria una novella d’un’altra incantagione […]« (VII,3,3) (»Reizende Freundinnen, Emilias Geschichte von der Gespensterbeschwörung hat mir die Begebenheit einer andern Beschwörung ins Gedächtnis zurückgerufen.« [II, 90f.]). »[…] la novella detta da Panfilo mi tira a doverne dire una in niuna cosa altra alla sua simile, se non che, come l’Andreuola nel giardino perdè l’amante, e cosí colei di cui dir debbo« (IV,7,3) (»[…] Panfilos Geschichte reizt mich, euch eine ähnliche Begebenheitzu berichten.Die Frau, von der ich sprechenwill, verlorwie Andreuola ihren Geliebten in einem Garten.« [I, 501]). »Poi che Filostrato ragionando in Romagna è intrato, a me per quella similmente gioverà d’andare alquanto spaziandomi col mio novellare.« (V,5,3) (»Filostrato hat uns mit seiner Geschichte in die Romagna geführt, und auch ich beabsichtige, mich mit der meinen ein Weilchen dort aufzuhalten.« [I, 591]).
287 im kollektiven Kommentar zu Novelle IX,1 verhandelte Dichotomie klugen (senno) und törichten (pazzia) Verhaltens auf,325 indem sie die Torheit (stoltezza) einer sich selbst überschätzenden Äbtissin von einer schlagfertigen (leggiadramente parlando) jungen Nonne entlarven lässt und somit dem klugen (saviamente) Handeln der Francesca aus IX,1 korreliert: Carissime donne, saviamente si seppe madonna Francesca, come detto è, liberar dalla noia sua; ma una giovane monaca, aiutandola la fortuna, sé da un soprastante pericolo leggiadramente parlando diliberò. E come voi sapete, assai sono li quali, essendo stoltissimi, maestri degli altri si fanno e gastigatori, li quali, sí come voi potrete comprendere per la mia novella, la fortuna alcuna volta e meritamente vitupera: e ciò addivenne alla badessa sotto la cui obedienzia era la monaca della quale debbo dire. (IX,2,3–4)326
Solche auf die Gegenstände oder das setting bezogenen Analogien werden aber nicht nur für unmittelbar aufeinander folgende Novellen thematisiert, sondern können – wie an den Traumnovellen IV,5 und 6 schon deutlich wurde – auch weiträumiger auseinander liegende Novellen zusammenrücken. So bezieht sich die Novelle VII,10 zurück auf VII,3 (beide spielen in Siena, in beiden spielt die erotische Beziehung zwischen einer Frau und einem compare eine Rolle)327 , der Kommentar zu IX,8 knüpft mit der Wiederaufnahme des Themas Rache (vendetta) an die Novelle VIII,7 des vorigen Tages an328 und die Novelle IX,9 bezieht sich mit 325
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»[…] il senno della donna a torsi da dosso coloro li quali amar non volea da tutti era stato commendato; e cosí in contrario non amor ma pazzia era stata tenuta da tutti l’ardita presunzion degli amanti« (IX,2,2) (»[…] alle lobten die Dame, die es so klug verstanden hatte, sich ihrer zwei Liebhaber, die sie nicht leiden konnte, zu entledigen. Die übertriebene Kühnheit der beiden jungen Männer dagegen wurde von allen nicht als Liebe, sondern als Torheit bezeichnet.« [II, 324f.]). »Ihr teuren Mädchen, ganz gewiß verstand Madonna Francesca es vorzüglich, sich von der langweiligen Belästigung zu befreien, wie uns berichtet wurde, doch auch eine junge Nonne brachte es mit Fortunas Hilfe fertig, sich mit ein paar freimütigen Worten aus einer drohenden Gefahr zu retten. Wie ihr wißt, gibt es nicht wenige Menschen,die trotz eigener Verfehlungensich gern als Lehrer und Zuchtmeisterder übrigen aufspielen. Aus meiner Geschichte werdet ihr erkennen, daß das Schicksal solche Menschen zuweilen mit Recht demütigt, wie es auch der Äbtissin geschah, unter deren Gebot die junge Nonne stand, von der ich berichten will.« (II,325) »E dico che la novella detta da Elissa del compare e della comare e appresso la bessaggine de’sanesi hanno tanta forza […]« (VII,10,7) (»Ich gestehe, liebste Freundinnen, daß die von Elissa erzählte Begebenheit über den Gevatter und seine Gevatterin sowie jene andre über die Torheit der Sieneser mich sehr beeindruckt haben.« [II,160]). »Come costoro, savissime donne, che oggi davanti da me hanno parlato, quasi tutti da alcuna cosa già detta mossi sono stati a ragionare, cosí me muove la rigida vendetta, ieri raccontata da Pampinea, che fé lo scolare, a dover dire d’una assai grave a colui che la sostenne, quantunque non fosse per ciò tanto fiera.« (IX,8,3) (»Ihr klugen Mädchen, fast alle, die heute vor mir erzählt haben, wurden von einer bereits besprochenen Sache zu ihrer Geschichte angeregt. Ebenso bringt mich die harte Rache des Studenten, von der gestern Pampinea berichtete, auf den Gedanken, euch von einer andren Rache zu erzählen, die freilich dem, der sie über sich
288 dem Thema der Frauendisziplinierung auf die Novelle IX,7.329 Besonders augenfällig wird das Bemühen um diskursive Verknüpfung in Bezug auf jene Novellen, die, indem sie etwa mit denselben Figuren operieren (vgl. die Novellen um das Trio Calandrino, Bruno und Buffalmacco)330 oder an spezifischen Diskursen partizipieren (Geistlichkeitskritik,331 Allmacht der Liebe332 ), sich zu eigenständigen Korpora formieren. Diese bilden nicht nur thematisch, sondern auch strukturell ein System zweiter Ordnung, das mit dem Ordnungssystem der Tagesthemen konkurriert und dieses partiell unterläuft.333 Die Herstellung von Bezügen zu setting, Gegenständen, Figuren oder auch thematischen Konstellationen vorausliegender Novellen ist somit mehr als nur ein rhetorisches Verfahren der inventio: Sie dient zugleich der Stabilisierung und Verstetigung der kommunikativen Interaktion jenseits der verabredeten Regeln. Das zweite Prinzip, unterhalb der thematischen Ebene des Tagesthemas Bezüge zwischen den Novellen herzustellen, ist das der Gegensätzlichkeit (contrarietas). Gegensätzlichkeit als Verknüpfungsprinzip betont etwa Emilias Kommentar zu Novelle III,7, die – anders als die beiden Vorgängernovellen III,5 und III,6 – wieder in Florenz spielt.334 Die von Filostrato erzählte Novelle IX,3 motiviert Neifile, mit IX,4 eine Novelle von entgegengesetzter Art zu erzählen.335 Institutionalisierte Gegensätzlichkeit liegt in Dioneos Privileg, eine Novelle ganz nach seinem Ermessen zu erzählen, das er – wie schon zu Beginn von Filomena gemutmaßt worden war (vgl. I, Concl. 14) – kompensatorisch nutzt: Diese Strategie zeigt sich insbesondere in der vierten giornata in seinem Bemühen, die Reihe der traurigen Liebesgeschichten mit einer betont
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ergehen lassen mußte, übel bekam, aber bei weitem nicht so grausam war wie jene.« [II, 368f.]). Vgl. IX,9,6. VIII,3; VIII,6; VIII,9; IX,3; IX,5; mit VIII,3 lose verbunden auch VIII,5. Vgl. u. a. I,7,4; VIII,2,3. Explizit zu diesem Thema eingeführt werden V,6 und IX,1. Küpper spricht von »Isotopie[n]«, vgl. Affichierte ›Exemplarität‹, S. 62–64, hier S. 63; vgl. auch Arend, Lachen und Komik, S. 193. »A me piace nella nostra città rittornare, donde alle due passate piacque di dipartirsi« (III,7,3) (»Ich möchte in unsre Vaterstadt zurückkehren, aus der die beiden letzten Erzähler sich entfernt haben […]« [I, 355f.]). Dass aus der Perspektive der brigata der Link zwischen den Novellen III,5–III,7 tatsächlichüber das setting hergestellt wird, zeigt auch der Kommentar Fiammettas zu III,6, der die Gemeinsamkeit mit der ebenfalls nicht in Florenz verorteten Novelle III,5 betont (vgl. III,6,3). »La qual cosa una a sé contraria nella mente me n’ha recata […]« (IX,4,4) (»Diese Geschichte hat mir einen Streich ganz anderer Art ins Gedächtnis zurückgerufen […]« [II, 338]). InwiefernNeifile ihre Novelleals gegensätzlichzu der vorherigenansieht, lässt sich nur andeutungsweise ermitteln: Sie selbst hebt die Boshaftigkeit des folgenden Streichs und seine heftigen Konsequenzen für den Geschädigten hervor, die tatsächlich im Kontrast zu dem zuvor erzählten gutmütigen Streich und dessen eher harmlosem Ergebnis stehen (vgl. IX,4,4).
289 heiteren abzuschließen (IV,10,3).336 Die exponierte Gegensätzlichkeit der folgenden zur vorausgehenden Novelle gewinnt allerdings nur in wenigen Fällen argumentative Qualität. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Kommentar Laurettas zu der von Pampinea erzählten Novelle VIII,8, in dem sie sich mit der transportierten Botschaft (›Wer andern einen Streich spielt, ist zu tadeln.‹) nicht einverstanden erklärt und ihre Novelle als Gegenposition ankündigt: Assai bene, amorose donne, si guadagnò Spinelloccio la beffa che fatta gli fu dal Zeppa; per la qual cosa non mi pare che agramente sia da riprendere, come Pampinea volle poco innanzi mostrare, chi fa beffa alcuna a colui che la va cercando o che la si guadagna. Spinelloccio la si guadagnò; e io intendo di dirvi d’uno che se l’andò cercando, estimando che quegli che gliele fecero non da biasimare ma da commendar sieno. (VIII,9,3)337
Insgesamt jedoch kann die diskursive Thematisierung der Gegensätzlichkeit der Novellen als Ausnahme gelten.338 Das zeigt auch der Fall der Novelle VII,6, in deren einführendem Kommentar die angekündigte Gegensätzlichkeit noch einmal anders motiviert ist. Pampinea führt ihre Novelle als argumentative Gegenposition zu dem Satz an, die Liebe bringe um den Verstand. Diesen Satz leitet sie allerdings nicht von 336
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Auf Kompensation einer bedrückenden durch eine heitere Geschichte zielt auch Fiammettas Novelle VIII,8: »[…] per ciò che mi pare che alquanto trafitte v’abbia la severità dell’offeso scolare, estimo che convenevole sia con alcuna cosa piú dilettevole ramorbidare gl’innacerbiti spiriti« (VIII,8,3) (»[…] weil ich annehme, daß die Härte des Studenten euch alle ein wenig mitgenommen hat, glaube ich, daß es jetzt angebracht wäre, die bekümmerten Herzen mit einer amüsanten Begebenheit wieder ein wenig aufzuheitern.« [II, 260]). »Ihr lieben Mädchen, Spineloccio verdiente wirklich den Streich, den Zeppa ihm spielte. Mir scheint auch nicht, daß – wie vorhin Pampinea uns klarzumachensuchte – sehr zu tadeln ist, wer andern, die es verdienen oder sich selber zuziehen, einen Possen spielt. Spineloccio hatte es sich selber zuzuschreiben. Ich beabsichtige, euch nun von einem Manne zu berichten, der sich freiwillig einem solchen Streich aussetzte und am Ende noch meinte, daß jene, die ihn verübten, nicht zu tadeln, sondern zu loben seien.« (II, 266f.) Dieser – ganz auf die Ebene der Kommentare und Reaktionen der brigata beschränkte – Befund ist sorgfältig zu unterscheiden von Küppers Beobachtung einer prinzipiellen »a-systematische[n]Organisation« der Novellen, nach der sich aus der »Zusammenschau […] der Novellen […] überhaupt keine Regularitäten ansetzen lassen«: »die aus den je für sich genommenen Geschichten möglicherweise noch extrapolierbaren verhaltenssteuernden Normen erweisen sich spätestens dann als vorschnelle und letztlich abwegige Generalisierungen, wenn die Novelle im Licht ihres Pendants betrachtet wird.«; vgl. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 69–77, hier S. 76 und S. 70f. Küpper argumentiert von der Position des textexternen Rezipienten aus, dessen Versuch diskursiver Kohärenzbildung an der ›A-Systematik‹ der Novellen scheitern müsse. Hier geht es dagegen um die Perspektive der brigata, deren Versuche, die Novellen miteinander zu verbinden, gerade weil sie auf konkrete Bezüge, die das Verständnis oder die Deutung der Novellen betreffen, verzichten und sich ganz auf die res der Geschichte beschränken, zu der potentiellen Deutungspluralität des Novellenkollektivs nicht nur in Kontrast stehen, sondern diese sogar verdecken.
290 der vorausgehenden, von Fiammetta erzählten Novelle ab (VII,5), sondern zitiert ihn als allgemeine, für wahrheitswertig erachtete Position der außergeselligen Welt in die Welt der geselligen Kommunikation hinein. Zugleich stellt Pampinea ihre Novelle explizit in eine Reihe mit bereits erzählten Novellen, die ebenfalls die Gültigkeit dieser Behauptung widerlegen: Molti sono li quali, semplicemente parlando, dicono che Amore trae altrui del senno e quasi chi ama fa divenire smemorato. Sciocca opinione mi pare: e assai le già dette cose l’hanno mostrato, e io ancora intendo di dimostrarlo. (VII,6,3)339
Die Novelle VII,6 ist somit zwar argumentativ funktionalisiert, in diesem Fall jedoch wird über die Positionierung gegen eine willkürlich gesetzte Position wiederum ein diskursiver Zusammenhang mit den übrigen Novellen aufgerufen. Dass die brigata-Erzähler sich bemühen, die Sukzession der Novellen durch die Bildung von Kohärenzen zu strukturieren, für die Äquivalenzen eine weit größere Rolle spielen als Gegensätze, korreliert der Beobachtung, dass die Reaktionen des Kollektivs vor allem den Konsens der Gruppe dokumentieren, während differierende Meinungen nur am Rande eine Rolle spielen: Die Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen den Novellen schafft von vornherein – wenn auch nur an der kommunikativen Oberfläche – eine konsensuale Basis, die Voraussetzungen für potentielle Dissense der Zuhörer werden hingegen minimiert.340 Lachen (ridere), Gefallen (piacere) und zustimmendes Lob (lodare, commendare) sind die Reaktionen, die den Konsens der Gruppe – ersichtlich an der vereinnahmenden Formulierung a tutti / da tutti – besonders häufig dokumentieren: »Già si taceva Fiammetta lodata da tutti« (III,7,2)341 , »Maravigliosamente era piaciuta a tutti la novella della Fiammetta« (VII,6,2)342 , oder auch: »Con grandissime risa di tutta la brigata erano state ascoltate le parole da Calandrin dette della sua moglie« (IX,4,2)343 . Seltener sind andere als heitere oder zustimmende Reaktionen: So zeigt die brigata vor allem anlässlich der Novellen der vierten giornata mehrfach Trau339
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»Es gibt viele Menschen, die unbefangen behaupten, die Liebe trübe den Verstand und mache die Liebenden zu Toren. Ich halte dies für ungerechtfertigt, und alle bereits erzählten Geschichten haben meine Auffassung bekräftigt; trotzdem will ich es jetzt nochmals tun.« (II, 118) Vgl. zur gemeinschaftsstiftenden Funktion des Lachens am Beispiel der Calandrino-Novellenauch Helmut Meter: Die ritualisiertebeffa. BoccacciosCalandrinoNovellen. In: Werner Helmich / Helmut Meter / Astrid Poier-Bernhard (Hrsg.): Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich SchulzBuschhaus. München 2002, S. 29–45. »Als Fiammetta ihre von allen gelobte Geschichte beendet hatte […]« (I, 355). »Fiammettas Geschichte hatte allen ausgezeichnet gefallen.« (II, 117) »Mit großem Gelächter war von der ganzen Gesellschaft gehört worden, wessen Calandrino seine Frau beschuldigte.« (II, 337)
291 er,344 hin und wieder reagiert sie auch mit Kritik (biasimare),345 wobei sich diese dann nicht auf die Novellen als solche, sondern auf einzelne Figuren oder Handlungen in den Novellen richtet.346 Keine der Novellen stößt auf kollektives Missfallen.347 Nur in ganz wenigen Fällen wird von geteilten Meinungen der brigata zu einer Novelle berichtet.348 Eine entlang der Geschlechtergrenze gespaltene Reaktion zeigt sich anlässlich der Novelle IX,9: »Questa novella dalla reina detta diede un poco da mormorare alle donne e da ridere a’ giovani.« (IX,10,2).349 Ein mehrstimmiges Echo erfährt die Novelle IV,3: La Lauretta, fornita la sua novella, taceva, e fra la brigata chi con un chi con un altro della sciagura degli amanti si dolea, e chi l’ira della Ninetta biasimava, e chi una cosa e chi altra diceva […] (IV,4,2),350
sowie die Griselda-Novelle (X,10): La novelladi Dioneo era finita, e assai le donne,chi d’una parte e chi d’altra tirando, chi biasimando una cosa, un’altra intorno a essa lodandone, n’avevan favellato […] (X, Concl., 1).351
Besonderer Stellenwert kommt daher der kontroversen Auseinandersetzung im Anschluss an die Novelle X,5 zu, die noch genauer zu beleuchten sein wird.352 Der Befund, dass die kollektiven Reaktionen der brigata weitgehend auf konkrete Stellungnahmen und Positionierungen, schon gar auf plurale Meinungsäußerungen verzichten und vielmehr immer wieder – in geradezu ritueller Weise – den Konsens aller Beteiligten exponieren, könnte zu der Annahme verleiten, diese lege auf die spezifische, gerichtete 344 345 346 347
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Vgl. auch die Reaktion anlässlich von VIII,7. Vgl. die Reaktion auf die Novelle IV,3 oder Filostratos Kommentar zu IV,2. Vgl. auch Arend, Lachen und Komik, S. 182. Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 192, deutet das explizite Absehen von einer affektiven und diskursiven Reaktion auf die Novelle IX,4 (»senza troppo o riderne o parlarnepassatasenela brigata« [IX,5,2]) als Ausdruck prinzipiellenMissfallens seitens der brigata. Dabei kann diese (Nicht-)Reaktion auch den bedrückten Reaktionen zugerechnet werden, da die Novelle vom ungerechtfertigten Erfolg einer dreisten Boshaftigkeit handelt. Gelächter seitens der brigata würde auf Schadenfreude verweisen und wäre hier somit keine angemessene Reaktion. Vgl. Geyer, Decameron als Schwellenwerk, S. 192f. Arend, Lachen und Komik, S. 190–194, bezeichnet diese als »komplexe Reaktionen«. »Diese Geschichte der Königin gab den Damen Veranlassung, ein wenig zu lästern, brachte jedoch die jungen Männer zum Lachen.« (II, 382) »Lauretta war am Ende ihrer Erzählung angelangt und schwieg. Die Gesellschaft äußerte sich teils mitleidig über das Unglück der Liebenden, teils tadelnd über Ninettes eifersüchtiges Vorgehen und unterhielt sich über dieses oder jenes […]« (I, 474). »Die Geschichte Dioneos war beendet und von den Damen in allen Punkten besprochen worden, wobei die eine dieses tadelte, die andre wieder jenes lobte.« (II, 529) Vgl. Kap. 5.4.2.4 und 5.4.3.
292 Rezeption ihrer Novellen keinen Wert. Das ist allerdings durchaus nicht der Fall: Gerade in jüngerer Zeit ist darauf hingewiesen worden, dass die einzelnen Erzähler mit ihren Novellen durchaus den Anspruch verbinden, etwas zeigen (mostrare) oder beweisen (dimostrare) zu wollen.353 Auf diese Weise ergibt sich jene hierarchische Struktur aus übergeordnetem Diskurs und untergeordneter Narration, mit der das Decameron an den Gestus traditionell-mittelalterlichen, exemplarischen Erzählens anknüpft: Die einzelnen Erzählerkommentare liefern dabei einen Satz, den die Novelle belegen soll.354 Dieser Gestus wird mehrfach explizit, so z. B. im Kommentar der Pampinea zu der Novelle III,2: Sono alcuni sí poco discreti nel voler pur mostrare di conoscere e di sentire quello che per loro non fa di sapere, che alcuna volta per questo, riprendendo i disaveduti difetti in altrui, si credono la lor vergogna scemare là dove essi l’acrescono in infinito: e che ciò sia vero nel suo contrario, mostrandovi l’astuzia d’un forse di minor valore tenuto che Masetto, nel senno d’un valoroso re, vaghe donne, intendo che per me vi sia dimostrato. (III,2,3) [Hervorhebung C. E.].355
Entsprechende argumentative Bezüge zwischen Satz und Geschichte bestehen auch in den folgenden Fällen: 353
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Grundsätzlich zu dieser Tendenz bereits Branca / Degani, Studi sugli »exempla«, S. 178–189; sowie Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 58–62, und – mit wortgeschichtlichen Ergänzungen zum synonymen Gebrauch von novella und esempio im Trecento – Lucia Battaglia Ricci, Una novella per esempio, S. 105–124. Das Exempel wird hier nicht texttypologisch, sondern von seiner Funktion in einem argumentativen Kontext ausgehend bestimmt. Vgl. etwa die pragmatische Definition bei Burghart Wachinger: pietas vel misericordia. Exempelsammlungen des späten Mittelalters und ihr Umgang mit einer antiken Erzählung. In: Klaus Grubmüller / L. Peter Johnson / Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Paderborn 1988 (= Schriften der Universität-Gesamthochschule-Paderborn, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft, 10), S. 225–242, hier S. 229f.: »Exempel ist, was als Exempel für etwas anderes dient. Erst die Funktion im Kontext macht das Exempel zum Exempel.« Peter von Moos bezeichnet Texte in dieser Funktion als argumentative oder rhetorische Exempla, vgl. ders.: Das argumentativeExemplum und die ›wächserneNase‹ der Autorität im Mittelalter. In: Willem Johan Aerts / Martin Gosman (Hrsg.): Exemplum et similitudo. Alexander the Great and other heroes as points of reference in medieval literature. Groningen 1988 (= Mediaevalia Groningana, 8), S. 55–84; sowie ders.: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Policraticus«Johanns von Salisbury. Hildesheim u. a. 2 1996 [= Ordo, 2]; vgl. weiterhin Haug, Exempelsammlungen im narrativen Rahmen, S. 264–270. »Es gibt Menschen, die so unverständig sind, zu zeigen, daß sie Dinge wissen und erfahren haben, von denen sie besser keine Kenntnis hätten, und die dann die unbekannten Vergehen anderer öffentlich rügen, in der Annahme, dadurch die eigene Schande zu verringern, die doch gerade durch ein solches Verhalten unendlich vermehrt wird. Daß dies wahr ist, beabsichtige ich euch, ihr reizenden Damen, durch das entgegengesetzte Betragen eines klugen Königs zu beweisen, nachdem ich euch zuvor die List eines Burschen aufzeigen will, der vielleicht von weit geringerem Werte war als Masetto.« (I, 303f.)
293 – die Novelle II,9 soll die Wahrheit eines Sprichworts beweisen,356 – die Novelle III,1 wird als Beleg gegen die Ansicht eingeführt, die monastische Lebensform reduziere die appetiti,357 – als Mahnung vor den unberechenbaren Konsequenzen der Affekte (hier der ira, bzw. der gelosia) annonciert Lauretta die Novelle IV,3,358 – die Novelle IV,4 soll die These belegen, man könne sich nicht nur durch Inaugenscheinnahme, sondern auch über das Hörensagen verlieben,359 – Panfilo führt die Novelle IV,6 als Beweis für die These an, dass Träume prophetischen Charakter haben können,360 356
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»Suolsi tra’ volgari spesse volte dire un cotal proverbio:che lo ’ngannatorerimane a piè dello ’ngannato; il quale non pare che per alcuna ragione si possa mostrare esser vero, se per gli accidenti che avvengono non si mostrasse. E per ciò, seguendo la proposta, questo insiememente,carissime donne, esser vero come si dice m’è venuto in talento di dimostrarvi« (II,9,3) (»Im Volke gibt es das Sprichwort vom Betrüger, der zu den Füßen des Betrogenen endet. Wenn seine Wahrheit auch nicht sogleich jedem einleuchtet, so wird sie doch durch viele Begebenheiten bewiesen, die sich im Leben abspielen. Unserem Thema folgend, bin ich auf den Einfall gekommen, meine lieben Mädchen, mit einer Geschichte zu beweisen, daß es in Wahrheit so ist, wie man sagt.« [I, 252]). »Ma quanto tutti coloro che cosí [i. e. jene Ansicht, nach der monastisches Leben das sexuelle Begehren minimiere, C. E.] credono sieno ingannati, mi piace, […] di farvene piú chiare con una piccola novelletta.« (III,1,5) (»[…] möchte ich euch jetzt mit einer kleinen Geschichte […] beweisen, wie sehr jene Menschen sich täuschen, die solche Ansichten haben.« [I, 294]). »[…] l’amor di tre giovani e d’altrettante donne, come di sopra dissi, per l’ira d’una di loro di felice essere divenuti infelicissimi intendo con la mia novella mostrarvi.« (IV,3,7) (»Meine Geschichte wird euch zeigen, wie das Liebesglück dreier Jünglinge und ebenso vieler Mädchen durch die Eifersucht der einen in Unglück und Elend für alle sechs umschlug.« [I, 465]). Sowohl in Laurettas Einführung der Novelle als auch im abschließenden Kommentar (IV,3,34) findet das Wort ira Verwendung, während in der rubrica – treffender – von gelosia die Rede ist. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 60f., sieht in dieser Einwechslung eines Begriffs aus dem klassischen Lasterkatalog eine weitere Referenz auf das Modell exemplarischen Erzählens. »Piacevoli donne, assai son coloro che credono Amor solamente dagli occhi acceso le sue saette mandare, coloro schernendo che tener vogliono che alcun per udita si possa innamorare; li quali essere ingannati assai manifestamente apparirà in una novella la qual dire intendo […]« (IV,4,3) (»Meine schönen Freundinnen, viele Menschen glauben, daß Amor seine Pfeile nur von den Augen entflammt abschösse, und sie verspotten jeden, der meint, man könne sich auch aufs reine Hörensagen hin verlieben. Daß diese Leute sich irren, möchte ich euch jetzt mit der Geschichte beweisen, die ich euch jetzt erzählen will.« [I, 475]). »Che essi non sien tutti [i. e. die sogni (Träume), C. E.] veri assai volte può ciascun di noi aver conosciuto: e che essi tutti non sien falsi, già di sopra nella novella di Filomena s’è dimostrato e nella mia, come davanti dissi, intendo di dimostralo.« (IV,6,6) (»Daß sie nicht alle auf Wahrheit beruhen, wird jeder von uns schon selber festgestellt haben; daß sie aber auch nicht alle bedeutungslos sind, bewies schon der Traum aus Filomenas Geschichte, und ich möchte euch, wie ich schon sagte, in meiner Erzählung von einem ähnlichen Fall berichten.« [I, 490f.] Wörtlicher wä-
294 – die Novellen V,1361 und V,6362 sollen die Macht der Liebe illustrieren, – Laurettas Novelle V,8 belegt die These, dass Mitgefühl belohnt und Grausamkeit bestraft werde,363 – die Novelle VI,4 soll beweisen, dass auch Schüchterne gelegentlich schlagfertig sein können,364 – schließlich wird die Novelle VII,6 als Beleg gegen die These eingeführt, dass die Liebe um den Verstand bringe.365 Die jeweiligen Formulierungen zeigen, dass – zumindest aus der Perspektive der brigata-Erzähler – der Gestus exemplarischen Erzählens keines-
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re zu übersetzen: und in der meinen beabsichtige ich dieses, wie bereits gesagt, zu beweisen [Übers. C. E.]). »[…] delle quali [i. e. von diesen Novellen, C. E.] una piú nell’animo me ne piace, per ciò che per quella potrete comprendere non solamente il felice fine per lo quale a ragionare incominciamo, ma quanto sian sante, quanto poderose e di quanto ben piene le forze d’Amore, le quali molti, senza saper che si dicano, dannano e vituperano a gran torto« (V,1,2) (»Eine aber gefällt mir besser noch als alle übrigen, da ihr von dieser nicht nur den glücklichen Ausgang behalten werdet, der für heute vorgeschrieben ist, sondern auch erkennen könnt, wie heilig, mächtig und wundersam die Kräfte der Liebe sind, die viele Menschen, ohne zu wissen, was sie reden, mit Unrecht verdammen und verspotten.« [I, 546]). »Grandissimi forze, […] son quelle d’amore, e a gran fatiche e a istrabocchevoli e non pensati pericoli gli amanti dispongono, come per assai cose raccontate e oggi e altre volte comprender si può; ma nondimeno ancora con l’ardire d’un giovane innamorato m’agrada di dimostrarlo.« (V,6,3) (»[…] daß die Kräfte Amors grenzenlos sind und Liebende zu ungeheuren Anstrengungen und zu außerordentlichen, unglaublichen Taten veranlassen, haben wir heute und an früheren Tagen aus mancher Erzählung bereits erfahren. Dennoch reizt es mich, euch dies an der kühnen Verwegenheit eines verliebten jungen Mannes nochmals darzustellen.« [I, 599f.]). »[…] come in noi è la pietà commendata, cosí ancora in noi è dalla divina giustizia rigidamente la crudeltà vendicata: il che acciò che io vi dimostri e materia vi dea di cacciarla del tutto da voi, mi piace di dirvi una novella non meno di compassion piena che dilettevole.« (V,8,3) (»[…] wie unser Mitleid belohnt wird, so wird auch jede Grausamkeit von der göttlichen Gerechtigkeit mit Strenge bestraft. Um euch hiervon einen Beweis zu erbringenund euch zu veranlassen,alle Grausamkeitgänzlich aus euren Herzen zu verbannen, möchte ich euch eine Geschichte erzählen, die ihr nicht weniger rührend als ergötzlich finden werdet.« [I, 620]). »[…] la fortuna ancora, alcuna volta aiutatrice de’ paurosi, sopra la lor lingua subitamente di quelle pone che mai a animo riposato per lo dicitore si sareber sapute trovare: il che io per la mia novella intendo di dimostrarvi.« (VI,4,3) (»Manchmal aber läßt das Glück [besser: Fortuna oder das Schicksal, C. E.], das zeitweilig die Beschützerin der Furchtsamen ist, auch diese in der Angst eine Antwort finden, die ihnen in ruhigen Stunden niemals in den Sinn gekommen wäre: Meine Geschichte soll euch hiervon ein Beispiel bringen« [II, 24f.]). »Molti sono li quali, semplicemente parlando, dicono che Amore trae altrui del senno e quasi chi ama fa divenire smemorato. Sciocca opinione mi pare: e assai le già dette cose l’hanno mostrato, e io ancora intendo di dimostrarlo.« (VII,6,3) (»Es gibt viele Menschen, die unbefangen behaupten, die Liebe trübe den Verstand und mache die Liebenden zu Toren. Ich halte dies für ungerechtfertigt, und alle bereits erzählten Geschichtenhaben meine Auffassung bekräftigt; trotzdem will ich es jetzt nochmals tun.« [II, 118]).
295 falls desavouiert ist. Die Veranschaulichung eines Satzes über eine Geschichte scheint vielmehr zum erwartbaren Inventar geselligen Erzählens zu gehören, dem von den Erzählern kein (jedenfalls kein explizites) Misstrauen entgegengebracht wird.366 Joachim Küpper relativiert diesen Befund, indem er die (metadiegetische) Ebene der Novellen hinzuzieht und sie mit der intradiegetischen Ebene der brigata kontrastiert: Seiner Ansicht nach widersprechen die erzählten Novellen selbst dem exemplarischen Erzählgestus der brigataErzähler: Ihre Aussage sei nicht auf den zu ihnen gebildeten Obersatz zu reduzieren367 und widerspreche daher den pragmatischen Erfordernissen des Exemplums.368 Darüber hinaus sei es nicht möglich, aus dem Kollektiv der Novellen verbindliche (Handlungs- und Verhaltens-)Maximen abzuleiten.369 Gegen Küppers Beobachtung ist einzuwenden, dass beide Merkmale – wie Walter Haug gezeigt hat – prinzipiell auch für Exempelsammlungen gelten. Auch die exempla kennen das Problem des ›narrativen Sinnüberschusses‹ und auch in den entsprechenden Sammlungen kann die Lehre des einen Exempels der des nächsten prinzipiell widersprechen, so dass sich eine Pluralität der Welterfahrung ergibt.370 Vorerst lässt sich festhalten: Erstens ist die von Neuschäfer registrierte ›Offenheit‹ der Boccaccio-Novelle zumindest aus der Perspektive der einzelnen Erzähler zunächst nicht gegeben. Zweitens ist die von Küpper beobachtete ›A-Systematik‹ des Novellenkollektivs ein Sammlungen narrativer Texte immanentes Prinzip, das im Decameron – im Ver366
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Die Verteilung der Belege auf die ersten sieben giornate lässt allenfalls den Schluss zu, dass der Gestus exemplarischen Erzählens in den letzten Tagen weniger prominent ist. Dieser Befund korreliert wiederum der Beobachtung, dass die brigata in den letzten Tagen mit dem konkurrierenden Erzählen ein alternatives Modell geselligen Erzählens etabliert, das entsprechend veränderte kollektive und individuelle Reaktionen erfordert, vgl. Kap. 5.4.3. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 64–69, hier bes. S. 66f. Zum Verhältnis von Exempel und moralischem Satz vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: K. S.: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975 (= UTB, 423), S. 14–48, bes. S. 23–25. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 69–77. Ein dritter Aspekt bezieht sich auf die Pragmatisierbarkeit der jeweiligen ›Lehre‹: Küpper kann zeigen, dass die erzählten Begebenheiten deshalb geringe pragmatische Relevanz haben, weil sie häufig kontingent seien und sich somit kalkulierter Nachahmung entzögen (ebd., S. 64f.). Haug, Exempelsammlungen im narrativen Rahmen, S. 264–270, bes. S. 266 und 269. Realisiert sieht Haug dieses ›induktive‹ Prinzip der Aneignung von Weltwissen oder ›Weisheit‹ allerdings vor allem in den orientalischen Exempelsammlungen wie dem Pancatantra, während er für die mittelalterlichen Sammlungen, wie etwa den Conde Lucanor, ein ›deduktives‹ Sammlungsprinzip beobachtet, das sich von vornherein im Besitz der Wahrheit meint, die es dann in Beispielen zu illustrieren gelte. Vor diesem Hintergrund liest Haug wiederum das Decameron, ohne jedoch näher auf die Frage der Bezüge der Novellen untereinander einzugehen (ebd., S. 280 und S. 281–285).
296 gleich mit mittelalterlichen Exempelsammlungen – allerdings neu zum Vorschein gebracht sein könnte. Zugleich bleibt der – durchaus in Übereinstimmung mit Neuschäfer und Küpper – zu formulierende Eindruck, dass diese Geschichten tatsächlich keine eindeutige Lehre vermitteln wollen. Das Argument dafür, warum das so sein könnte, ist meiner Ansicht nach allerdings weniger auf der Ebene des Erzählten zu suchen, als vielmehr auf der Ebene des Diskurses. Es hängt unmittelbar mit der oben skizzierten Art und Weise zusammen, wie die brigata auf die erzählten Novellen reagiert bzw. nicht reagiert. Denn auffällig ist: Zwar exponieren die brigata-Erzähler den Gestus exemplarischen Erzählens, indem sie über die argumentative Funktionalisierung ihrer Novelle die Bewegung aus Satz und Geschichte vorführen, die komplementäre Bewegung von Exempel und Auslegung fehlt dagegen.371 Nur in Ausnahmefällen – die noch zu beleuchten sein werden – reagieren Kollektiv und/oder nachfolgender Erzähler tatsächlich auf den Satz, unter den die vorausgehende Novelle gestellt war.372 Indem somit die von den einzelnen Erzählern vorgenommene argumentative Positionierung der Novelle vom Kollektiv weder affirmativ noch ablehnend, noch überhaupt diskursiv aufgenommen wird, läuft der Gestus exemplarischen Erzählens ins Leere. Die dominierende affektive (Lachen) und gänzlich allgemein bleibende diskursive Reaktion (Lob, Zustimmung) stellen vielmehr programmatischen Konsens her, in der Regel ohne explizit auf den eingangs vom Erzähler formulierten Satz zu reagieren: Gegenstand der Reaktion ist zumeist ganz vordergründig die Geschichte selbst und nicht das, wofür sie stehen soll.373 Die Aussparung – und damit auch: die Offenhaltung – der exegetischen Position hat für die kommunikative Interaktion der brigata erhebliche Konsequenzen: Der Verzicht auf die Thematisierung potentieller Sinnfixierung der Novellen reduziert in erheblichem Maße deren kontroverses Potential: Auseinandersetzung, Diskussion, gar Streit werden entbehrlich. Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass sich der Verzicht auf verbale Auseinandersetzung als dezidierte Reaktion auf den kasuistischen Prätext der Questioni d’amore-Episode des Filocolo verstehen lässt. Inwiefern dieser noch im Decameron präsent ist, und – 371
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Vgl. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 64 und 68, der den exemplarischen Gestus der brigata als ›oberflächenhaftes Moment‹ bzw. als reinen Effekt oder Stilisierung wertet. Gemeint sind einzelne Reaktionen auf Novellen in den giornate III, VI, IX und vor allem X, deren Tagesthema in besonderer Weise kompetitives Erzählen provoziert. Die kollektiven Reaktionen zeigen, dass sich die brigata auf den Konkurrenzdiskurs einlässt, vgl. Kap. 5.4.3. Auch Arend, Lachen und Komik, stellt fest, dass zumeist nicht gesagt werde, »worauf Lob und Tadel sich […] beziehen« (S. 190), oder aber die brigata »manchmal recht pauschale Impression[en] oder Wertung[en] […] bezogen auf den Inhalt der Novellen oder Aspekte des Verhaltens der Protagonisten« abgebe (S. 194).
297 als ›Palimpsest‹ im Genetteschen Sinn – die Struktur abgibt, auf die sich die kommunikative Interaktion der brigata bezieht, wird im folgenden Kapitel zu zeigen sein.
5.4.2
casi d’amore und die Vermeidung ihrer Verhandlung: Zum minnekasuistischen Palimpsest des Decameron
Der Nachweis eines minnekasuistischen Palimpsests in der kommunikativen Struktur des Decameron ist notwendig auf zwei Ebenen zu führen: auf der der Novellen und der des Diskurses. Zwei Fragen ist daher im Folgenden nachzugehen: 1) In welcher Relation steht die DecameronNovelle zu den Kasus der Questioni d’amore-Episode?374 2) Wie verhält sich der auf Konsens zielende Diskurs der brigata zur der parteiisch geführten und auf eindeutige Urteile abzielenden Disputation?375
5.4.2.1 Kasus, narratio, Novelle Im Proemio benennt der extradiegetische Erzähler das, was er den adressierten verliebten Damen in soccorso e rifugio vorzulegen gedenkt: »[…] intendo di raccontare cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo« (Proemio, 13).376 In der Forschung ist diese Aussage unter dem Aspekt der Gattungsdefinition der Novelle kontrovers diskutiert worden, denn die gewählte Formulierung lässt kalkuliert offen, ob die Novelle hier in die Tradition der mittelalterlichen Kurzerzählung eingeschrieben oder von dieser abgesetzt wird.377 Die Art und Weise der Formulierung, die gleichordnende 374
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Es gibt bislang kaum Arbeiten, die für einen systematischen Vergleich von Kasus und Novelle die Questioni d’amore als Prätext für das Decameron berücksichtigen. So bleiben sie etwa im entsprechenden Abschnitt bei Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 71–75, ohne Erwähnung. Der Beitrag von Cherchi, From controversia to novella, S. 89–99, fragt zwar grundsätzlich nach einer generischen Verbindung zwischen den Fällen der rhetorischen, juristischen und höfischen Streitliteratur und der mittelalterlichen Kurzerzählung, da er die Bezüge jedoch vor allem inhaltlich und nicht strukturell bestimmt, beschränken sich die Analysen zu den Questioni d’amore auf die Übernahmen von Q IV und Q XIII in das Decameron. Mit dieser Frage hat sich vor allem Sanguineti, Lettura del Decameron, S. 49–57, beschäftigt.Sein Befund, dass »[l]’eco della quaestio rimane nel Decamerone«,geht von der diskursiven Umgebung der Novellen X,4 und X,5 aus und kann als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen betrachtet werden (ebd., S. 49). »Als Hilfe und Zuflucht der Liebenden […] will ich hundert Geschichten, Fabeln, Parabeln oder wahre Geschehnisse, wie man sie nennen will, berichten« (I, 9f.). Gegen die etwa von Branca vertretene Ansicht (Boccaccio, Decameron, S. 9 Anm. 1), dass es sich bei der Aufzählung um eine Reihe von synonymen Ausdrücken handele, die Novelle also bewusst in die Formtradition der mittelalterlichen narratio brevis gestellt werde, stehen Positionen, die in der Formulierung ein antithetisches Prinzip sehen: Demnach werde die volkssprachige novella von den
298 Reihung von benachbarten Bezeichnungen für kürzere Erzählungen und der Zusatz che dire le vogliamo geben allerdings deutliche Hinweise darauf, dass es dem Erzähler nicht darauf ankommt, die mediale Gestaltung der Erzählungen, die Ebene des discours,378 von vornherein festzulegen.379 Im Gegenteil scheint er unterschiedliche Realisationsformen für möglich zu halten. Dagegen präzisiert er die histoire-Ebene seines Erzählens, indem er angibt, was inhaltlich von den novelle zu erwarten sei: Nelle quali novelle piacevoli e aspri casi d’amore e altri fortunati avvenimenti si vederannocosì ne’ moderni tempi avvenuticome negli antichi […] (Proemio, 14).380
Die Forschung hat an dieser Bestimmung zum einen der Anspruch des Erzählers auf die historische Verbürgtheit seiner materia interessiert.381 Zum anderen wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern Novellen angesichts der in ihnen erzählten Singularität des Zufälligen, wie sie sich in ihren Gegenständen – Liebesfällen und anderen zufälligen Ereignissen – dokumentiere, noch exemplarischer Charakter beigemessen werden könne.382 Unbeachtet ist geblieben, dass mit dem Begriff casi d’amore der Liebeskasus als generische Bezugsgröße für die novella des Decameron explizit in Erscheinung tritt. Casi d’amore sind im literarischen System der Texte Boccaccios wiederum vor allem in jener spezifischen Transformation und Adaptation zu denken, die die Questioni d’amore-Episode des Filocolo vorführt.383 Damit kommt an exponierter Stelle die Questioni d’amore-Episode als Prätext für das Decameron in den Blick, und zwar nicht nur über das gesellige setting, sondern auch auf der Ebene der Kommunikation: Sie macht nicht nur anschaulich, was in einem Text Boccac-
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tradierten Formen der lateinischen Rhetorik abgesetzt, vgl. Michelangelo Picone: L’invenzionedella novellaitaliana. Tradizionee innovazione.In: La novella italiana Bd. 1, S. 119–154, hier bes. S. 141–149; Walter Haug: La problematicadei generi nelle novelle di Boccaccio: La prospettiva di un medievista. In: Picone (Hrsg.), Autori e lettori, S. 127–140; ders.: Boccaccio und die Tradition der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Haug, Die Wahrheit der Fiktion, S. 394–409; dafür, dass novella als Oberbegriffzu verstehen sei, der die älteren Begriffeder rhetorischenTraditionsubsumiere, plädiert Enrico Malato: La nascita della novella italiana: Un’alternativa letteraria borghese alla tradizionecortese. In: La novella italiana Bd. 1, S. 3–45, bes. S. 28–32. Zur Begrifflichkeit vgl. Todorov, Les catégories, S. 125–151; Schmid, Elemente der Narratologie, S. 245–250. Dass die offene Formulierung der Absicht des Erzählers entspricht und nicht etwa Ergebnis terminologischer Unsicherheit ist, betont Malato, La nascita della novella, S. 28–32. Abweichend von Macchi (I, 9) ist zu übersetzen: In diesen Geschichten zeigen sich vergnügliche und bittere Liebesfälle und andere unberechenbare Vorfälle, die sich in heutigen und in alten Zeiten ereigneten. (Übersetzung C. E.). Vgl. Branca, Boccaccio medievale, S. 165–188, bes. S. 167f. und S. 175f.; sowie in deutscher Übersetzung ders.: Die neuen Dimensionen des Erzählens. In: Brockmeier (Hrsg.), Boccaccios Decameron, S. 125–147, hier S. 132f. Vgl. Küpper, Affichierte ›Exemplarität‹, S. 56–58. Vgl. Kap. 4.3.1.
299 cios unter einem caso d’amore verstanden werden kann, sie führt mit der Erweiterung der Fragen um narrative Fallexpositionen auch bereits eine spezifische Korrelation von Fall und narratio vor (vgl. Kap. 4.3.1). Die Bestimmung der histoire der Novelle durch den extradiegetischen Erzähler des Decameron liefert insofern eine konkrete Bestätigung für André Jolles’ These, dass »die Kunstform, die wir im besonderen toscanische Novelle nennen, zum guten Teil aus dem Minnehof und dem Minnekasus hervorgegangen« sei.384 In den Arbeiten, die einen systematischen Vergleich zwischen Kasus und Novelle unternehmen, ist dieser intertextuelle Bezug bislang nicht zur Kenntnis genommen worden.385 Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis von Liebeskasus und Novelle noch einmal neu zu bestimmen. Das soll hier auf der Basis eines Vergleichs von Questioni -Episode und Decameron erfolgen, für den drei Aspekte herausgegriffen werden: die Verwendung des Wortes novella in der Erzähler- bzw. Figurenrede, die Erzählhaltung der intradiegetischen Erzähler und das raum-zeitliche setting ihrer Geschichten. Im Decameron ist der Begriff novella, wie bereits gesehen, deduktiv vom extradiegetischen Erzähler gesetzt. Fixiert wird er für die Ebene der histoire, während die Ebene des discours unbestimmt bleibt. In den Questioni d’amore erfolgt die Bestimmung von novella induktiv, indem die Figuren selbst die narrative Exposition einer questione im nachhinein so bezeichnen. Analog zu dimanda und questione wird novella von den Figuren zur Bezeichnung der Redeteile verwendet, damit handelt es sich um Begriffe, die auf die Ebene des discours (hier den der intradiegetischen Erzähler) zielen.386 Dagegen bleibt die histoire-Ebene des Begriffs unbestimmt.387 Die unterschiedliche semantische Füllung der Bezeichnung novella in der Liebesfragen-Episode und im Decameron spiegelt die diffe384
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Jolles, Einfache Formen, S. 196; vgl. auch ebd., S. 191: »Wir haben […] festgestellt, daß der Kasus eine Neigung besitzt, sich zur Kunstform zu erweitern – wir fügten hinzu, Novelle zu werden.« Jolles’ Befund basiert offenkundig – vgl. den Nachweis in Anm. 95 – auf der vergleichenden Lektüre von Filocolo und Decameron. Da er sein Quellenmaterial nicht bezeichnet, wird dieser Bezug allerdings nicht deutlich. Weder Neuschäfer, Beginn der Novelle, noch Geyer, Vom Karnevalesken zum Kasuistischen, berücksichtigen die Questioni -Episode für das generische Verhältnis von Kasus und Novelle. Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 52–75, bes. S. 71– 75, greift aus dem heterogenen Textcorpus der mittelalterlichen Liebeskasuistik das aprov. Partimen und die iudicia amoris des Andreas Capellanus für den Vergleich mit der Decameron-Novelle heraus, somit zwei nicht-narrative Textsorten, die kaum formale Bezüge zur Novelle aufweisen. Vgl. Fiammettas Reaktion auf Menedons Frage: »Bellissima è la novella e la dimanda« (Filocolo, IV,32,1). Für weitere Beispiele vgl. Kap. 4.3.1. Als Ausnahme kann Menedons Rechtfertigung seiner langen novella angesehen werden, die für das Verständnis der Frage notwendig sei (Filocolo, IV,31,1). Sofern also der Anspruch an die novella gestellt wird, Sinn zu generieren, ändert sich umgehend auch ihre Struktur. Vgl. hierzu Kap. 4.3.1.
300 rente Konzeption der hiermit jeweils bezeichneten narrativen Textstrukturen. Der Unterschied lässt sich mit den Begriffen von Wolf Schmid als Differenz zwischen Geschehen und Geschichte bezeichnen.388 In den Questioni d’amore ist novella ein Begriff für das präsentierte Geschehen: Es entfaltet den Sachverhalt zur dilemmatischen Frage, die der Spielteilnehmer noch einmal explizit als questione formuliert, bevor sie kontrovers verhandelt und abschließend beurteilt wird. Novella bezeichnet also den Bericht eines strittigen Fallgeschehens, dessen Urteil noch aussteht. Das Geschehen hat bislang zu keinem Abschluss gefunden und ist daher auch axiologisch noch offen.389 Analog zur narratio der Gerichtsrede steht die novella der Liebesfragen in einem spezifisch diskursiven Funktionszusammenhang und wird erst von hier aus vervollständigt.390 Im Decameron bezeichnet novella dagegen die Ebene der Geschichte, also einer axiologisch basierten narrativen Struktur mit Anfang, Mitte und Ende. Die casi d’amore, die die Geschichten konstituieren, sind als Fälle zu denken, deren Verhandlung und Beurteilung bereits abgeschlossen ist. In der novella des Decameron hat das Fallgeschehen also immer schon zu einem Ende gefunden, sei dies nun ein vergnügliches (piacevole) oder ein bitteres (aspro). Der Begriff des caso d’amore, der in der Liebesfragen-Episode bezeichnenderweise fehlt, steht im Decameron also nicht mehr für jenes offene »Schwanken und Schwingen der wägenden und erwägenden Geistesbeschäftigung«, das den Kasus nach Jolles kennzeichnet,391 sondern integriert die zwischen questione und risposta, Fallgeschehen und Urteil bestehende Spannung. Dabei wird die diskursive Dynamik der Fallverhandlung konsequent in narrative Dynamik übersetzt.392 388
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Schmid, Elemente der Narratologie, S. 251–284, bes. S. 256–259, unterscheidet damit zwei narrative Organisationsgrade auf der Ebene der histoire. Die Begriffe werden bereits verwendet bei Karlheinz Stierle: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: Stierle, Text als Handlung, S. 49–55. Das gilt nicht für alle Questioni -Novellen gleichermaßen: In ihrer Heterogenität führen sie den Übergang vom Fallgeschehen zur Geschichte vielmehr prototypisch vor. Dort, wo die narrationes zu abgeschlossenen Geschichten werden (wie in Q IV und Q XIII), drohen entsprechend die Fragen ihre Funktion einzubüßen, vgl. hierzu Kap. 4.3.1. Im Unterschied zur narratio der Gerichtsrede sind die novelle der Questioni d’amore-Episode allerdings nicht parteiisch perspektiviert. Das liegt in der Logik des Spiels, denn dessen Praxis des Teilens und Wählens schließt Parteilichkeit aus. Jolles, Einfache Formen, S. 191. Die Tendenz des Falls, über Urteil und Strafe eine Geschichtsstruktur auszubilden, beschreibt Stierle, Geschichte als Exemplum, S. 21f., am Beispiel von Paragraphen des Strafgesetzbuches als »Übergang aus dem Textbereich der systematischen in den Textbereich der narrativen Texte« (ebd., S. 22). Zum narrativen Sinndesiderat der rhetorischenStruktur des Falls (›Kasus‹) im Vergleich mit der hermeneutischen Struktur der Geschichte (›Exempel‹) vgl. Hartmut Bleumer / Caroline Emmelius: Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers
301 Den Differenzen auf der histoire-Ebene der novelle der Questioni Episode und denen des Decameron entsprechen Unterschiede auf der Ebene ihrer Vermittlung. Sie erklären sich vor allem von der jeweils dargestellten kommunikativen Praxis – geselliges Disputieren bzw. geselliges Erzählen – aus. In der Liebesfragen-Episode sind die novelle Teil eines quasi-juristischen Verfahrens aus Vorlage, Verhandlung und Beurteilung von Fragen.393 Somit ist es ihre Funktion, den jeweiligen Liebeskasus so anschaulich und authentisch wie möglich zu exponieren. Im Decameron fehlt dieser juristische Kontext, im Vordergrund steht das vergnügliche Erzählen als Melancholie-Remedium, als Mittel körperlicher, geistiger und sozialer Gesunderhaltung. Die Einbindung in unterschiedliche kommunikative Praktiken und die hieraus resultierende Funktionalisierung hat wiederum Auswirkungen auf die narrative Gestaltung der novelle. Sowohl in den Fallexpositionen der Questioni d’amore als auch in den Decameron-Novellen ist das Erzähltempus das Präteritum, so dass sich beide Textformen als »klassische Vertreter für narrative Vergangenheitstempora« präsentieren.394 Unterschiede zeigen sich jedoch in der Relation von Erzählinstanz und präsentiertem Geschehen: Die Spielteilnehmer der Questioni -Episode sind homodiegetische Erzähler. Sie bemühen sich grundsätzlich, die Kasus möglichst dicht an die eigene Person anzubinden. So setzt die Rede der einzelnen Figuren regelmäßig in der ersten Person ein: Io mi ricordo che in quella città dov’io nacqui si faceva un giorno una grandissima festa […] (Filocolo, IV,19,1),395
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»Ring«. In: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006. In Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Eckart Conrad Lutz hrsg. von Klaus Ridder. Berlin 2008 (= Wolfram-Studien, 20), S. 177–204, bes. S. 194f. Der für das Decameron beobachtetegenetischeZusammenhang von Kasus und Novelle, lässt sich auch in einem allgemeineren Sinne für die erzähltheoretische Beschreibung der mhd. Märendichtung produktiv machen, vgl. hierzu demnächst Caroline Emmelius: Kasus und Novelle. Beobachtungen zur Genese des Decameron. Mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung. [erscheint voraussichtl. in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 51 (2010)]. Jene Fragen, die ohne novella vorgelegt werden, sind theoretische Kasus, vgl. Kap. 4.3.1. So in Bezug auf die Novelle Wehle, Novellenerzählen, S. 99. Was Harald Weinrich, Tempus, S. 159–164, für das Decameron gezeigt hat, gilt somit auch für die Questioni d’amore: In beiden diskursiven Situationenwird sorgfältig zwischen erzählenden und besprechenden Tempora unterschieden (zur Definition der Begriffe vgl. ebd., S. 29–33). Die Verwendung des Präteritum in den Fallexpositionen der Questioni ist dabei nicht allein dadurch begründet, dass die Kasus aktuell zu verhandeln und zu beurteilen sind, während die Ereignisse, die ihr Zustandekommen bedingen, ihnen zeitlich vorausliegen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Fallgeschehen der besprechenden Welt überhaupt erst als erzähltes verfügbar wird. »I recall that in the city where I was born, one day there was a great feast […]« (S. 245).
302 E’ non sono molti giorni passati, che io soletto in una camera dimorando […] (ebd., IV,23,2),396 Io di nobili parenti discesa, sì come voi sapete, nacqui in questa città […] (ebd., IV,27,2),397 […] però che un giorno già per lo rinnovellato tempo lieto andando io su per li salati liti […] (ebd., IV,35,3).398
In einigen der Kasus treten die Figuren selbst als Partei auf, aus den homodiegetisch erzählten werden dann autodiegetisch erzählte novelle (Q III, Q V). Eine zweite Gruppe von Figuren legt Kasus vor, in die Freunde oder Verwandte verwickelt sind (Q I, Q II, Q VI, Q XII), von denen die Novellen folglich in der dritten Person sprechen. In den genannten Fällen betonen die Erzähler ihre persönliche Involviertheit in das Fallgeschehen, indem sie Augen- oder Ohrenzeugenschaft reklamieren. Drei der Questioni -Novellen verzichten auf einen engen Bezug zwischen Erzähler und präsentiertem Geschehen: Menedon (Q IV), Ascalion (Q X) und Messaallino (Q XIII) sind die von ihnen vorgelegten Fälle lediglich vom Hörensagen aus ihren Heimatorten bekannt, sie werden zeitlich unbestimmt in der Vergangenheit verortet: Nella terra là dov’io nacqui, mi ricorda essere un ricchissimo e nobile cavaliere […] (Filocolo, IV,31,2),399 […] io mi ricordo che già fu nella nostra città una bella e nobile donna rimasa di valoroso marito vedova […] (ebd., IV,55,1),400 Io udii già dire che nella nostra città un gentile uomo ricco molto avea per sua sposa una bellissima e giovane donna […] (ebd., IV,67,2).401
Zwar steht auch hier noch die persönliche Erinnerung des Erzählers am Anfang (io mi ricordo, io udii ), als Figuren kommen sie im Fallgeschehen aber nicht länger vor. Damit sind die Sprechinstanzen dieser Fälle nicht länger homo-, sondern heterodiegetische Erzähler. Sie nehmen zugleich jene »markante Dissoziation« von Erzähler und Erzähltem voraus, die als Spezifikum der Decameron-Novellen beschrieben worden ist.402 Die brigata-Erzähler entkoppeln ihre Novellen – wie Wehle dargelegt hat – vom eigenen Erleben; diese handeln ausschließlich von abwesenden Dritten, die zwar dem Kollektiv der Zuhörer namentlich bekannt sein mögen, die 396 397 398
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»Not many days ago, I was alone in a chamber […]« (S. 249). »I was born in this city of a noble family, as you know […]« (S. 252). »[…] since one day when I was walking on the beach delighting in the season of renewal […]« (S. 266). Vgl. auch die Anfänge zu Q VI und Q XII. »In the land where I was born, I remember there was a wealthy and noble knight […]« (S. 254). »[…] I recall that once upon a time there dwelt in our city a beautiful and noble lady who had been left a widow by her valiant husband« (S. 286). »I once heard that in our city a very rich nobleman had as his wife a most lovely young lady […]« (S. 294). Wehle, Novellenerzählen, S. 98.
303 aber nicht in einer bezeichneten persönlichen Beziehung zu den Erzählern stehen.403 Entsprechend setzen die Novellen niemals mit Figurenrede in der ersten Person ein, sondern verweisen höchstens auf einen kollektiven Erfahrungshorizont, für den der Gebrauch des Pronomens noi bzw. nostro bezeichnend ist, wie sich an den Novellen des dritten Tages beispielhaft zeigen lässt: In queste nostre contrade fu e è ancora un munistero di donne assai famoso di santità […] (III,1,6),404 Nella nostra città, piú d’ingannipiena che d’amore o di fede, non sono ancora molti anni passati, fu una gentil donna di bellezze ornata e di costumi, d’altezza d’animo e di sottili avvedimenti quanto alcuna altra dalla natura dotata, il cui nome, né ancora alcuno altro che alla presente novella appartenga come che io gli sappia, non intendo di palesare […] (III,3,5),405 Alquanto è da uscire della nostra città […] e per ciò, a Napoli trapassando, come una di queste santesi, che cosí d’amore schife si mostrano, fusse dallo ’ngegno d’un suo amante prima a sentir d’amore il frutto condotta che i fiori avesse conosciuti […] (III,6,3).406
Die Distanz der brigata-Erzähler zu ihren Novellen lässt sich mit der veränderten Funktion der Novellen in der kommunikativen Interaktion erklären. Anders als in der Liebesfragen-Episode stehen die in ihnen erzählten casi d’amore hier nicht in einem juristisch kodierten pragmatischen Kontext, sondern dienen als Geschichten der vergnüglichen Unterhaltung. Dass in den Decameron-Novellen Fallgeschehen zu Fallgeschichten wird, ist insofern auch begünstigt durch die extradiegetisch-heterodiegetische Position der Novellenerzähler. In der Liebesfragen-Episode lassen sich dagegen unterschiedliche Relationen von Erzählinstanz und Erzähltem ausmachen. Dabei gilt: Je deutlicher die Distanz der Sprecher zu dem von ihnen präsentierten Fallgeschehen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass das strittige Geschehen bereits zu einer Lösung gefunden hat und der Fall insofern zu einer Geschichte geworden ist. Am Beispiel der Questioni d’amore wird insofern das Potential der novella angedeutet, sich aus den Bindungen einer pragma403 404
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Ebd., S. 98–100. »In unserer Gegend bestand und besteht noch heute ein ob seiner Heiligkeit berühmtes Frauenkloster […]« (I, 294). »In unserer Vaterstadt, die mehr Falschheit in ihren Mauern beherbergt als Liebe und Treue, lebte vor noch nicht langer Zeit eine Edelfrau, die von der Natur mit mehr Schönheit,Tugend, edlererGesinnung und feinerem Verstandebegabt war als manche andere. Ich verschweige ihren Namen, obwohl er sehr bekannt ist, ebenso wie die Namen aller andren Personen meiner Geschichte […]« (I, 312). »Wir wollen nun unsere Vaterstadt […] eine Zeitlang verlassen […]. Laßt uns also nach Neapel schauen, denn ich möchte euch erzählen, wie einst eine von den ganz Spröden, die sich aller Liebe abhold zeigen, durch einen schlauen Liebhaber gezwungen wurde, die Frucht der Liebe zu genießen, noch ehe sie sich an deren Blüten erfreut hatte.« (I, 343).
304 tischen Kommunikationssituation zu lösen und als Geschichte zu einem selbständigen und eigenwertigen Beitrag innerhalb einer entpragmatisierten Interaktionssituation zu werden. Ein weiterer markanter Unterschied zwischen Questioni - und Decameron-Novellen betrifft schließlich das raum-zeitliche setting des Fallgeschehens bzw. der Fallgeschichten. Die allenfalls vagen Angaben zu Zeit und Raum, wie sie in den Questioni -Novellen gemacht werden, weichen in den Decameron-Novellen einer »manischen Realitätsbesessenheit« im Detail, die vor allem die exakte topographische Verortung der Novellen407 sowie das historisch identifizierbare Figurenpersonal betrifft.408 Diese Tendenz lässt sich an der Transformation der Kasus Q IV und Q XIII in den Novellen X,5 und X,4 besonders gut ablesen. In der novella zur dreizehnten questione tragen die handelnden Figuren keine Namen, sie sind lediglich durch die für den Kasus relevante Relation zueinander bezeichnet: als Ehemann (un gentile uomo, il marito), Ehefrau (sua sposa, una bellissima donna) und verliebter Ritter (un cavaliere).409 Ort der Handlung ist die Heimatstadt Messaallinos, die nicht namentlich genannt wird.410 Die Novelle X,4 versieht hingegen sowohl die Figuren als auch den Ort mit Namen: Fu adunque in Bologna, nobilissima città di Lombardia, un cavaliere […] il qual fu chiamato messer Gentil Carisendi, il qual giovane d’una gentil donna chiamata madonna Catalina, moglie d’un Niccoluccio Caccianemico, s’innamorò […] (X,4,5).411
In der Zusammenschau evozieren die Novellen damit eine höchst konkret ausgestaltete Welt, in der die heterodiegetischen Erzähler zwar selbst keine Rolle spielen, die ihnen aber als kollektiver historischer, sozialer und
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Grubmüller, Boccaccios Florenz, S. 71–80, Zitat S. 71. Ausführlich hierzu Branca, Die neuen Dimensionen des Erzählens, S. 125–135. Die Ansicht Brancas, dass die historische »Präzisierung der Personen und Orte« den exemplarischen Charakter der Novellen unterstreiche (ebd., S. 132–135, Zitat S. 133), wird hier nicht geteilt. Sie kann vielmehr als ein Indiz für die generische Nähe von Kasus und Novelle gelten, s. u. Vgl. Filocolo, IV,67,2 u. 18. Filocolo, IV,67,2. »In der bekannten Stadt Bologna in der Lombardei lebte einst ein Ritter […]. Es war Messer Gentil de’Carisendi, der sich als Jüngling in eine Edeldame namens Madonna Catalina verliebte, welche die Ehefrau eines gewissen Niccoluccio Caccianemico war.« (II, 419). Vgl. hierzu auch Branca, Die neuen Dimensionen des Erzählens, S. 133f. Der Vergleich von Q IV und X,5 ergibt ein analoges Ergebnis. In Q IV bleiben die Dame und ihr Ehemann anonym, nur der Ritter Tarolfo und der Zauberer Tebano werden namentlich benannt. Ort der Handlung ist Menedons Heimatland, das ungenannt bleibt (Filocolo, IV,31,2 u. 13). In der Decameron-Novelletragen hingegenalle vier handlungsrelevantenFiguren Namen; Ort der Handlung ist Udine im Friaul (X,5,4).
305 kultureller Gedächtnisraum und somit als Fundament konsensualer Vergemeinschaftung dient.412 Nimmt man die Beobachtungen zusammen, dann scheint die Decameron-Novelle im Vergleich zu den novelle der Liebesfragen zwei gegensätzliche Tendenzen aufzuweisen: Zum einen werden die erzählten Fälle mit der konsequenten ›Dissoziation‹ von Erzähler und Erzähltem nicht nur raum-zeitlich distanziert, sondern auch von einer persönlichen Beteiligung ihrer Erzähler abgelöst und damit objektiviert. Insbesondere die raum-zeitliche Distanz der Erzähler zum erzählten Fall unterstützt dessen aktantielle und axiologische Vervollständigung: Das offene Geschehen kann so zur geschlossenen Geschichte werden. Zum anderen wird die Tendenz der Questioni d’amore, theoretische Fragen als praktische Fälle aufzufassen, in den Novellen des Decameron mit der Konkretisierung von Raum, Zeit und Personal konsequent fortgesetzt: Die erzählten Geschichten werden über die detaillierte Verortung in einem bekannten Raum, einer nahen Vergangenheit und über die Angabe namentlich identifizierbaren Figurenpersonals weit stärker noch als die Questioni -Novellen zu spezifischen, singulären, historischen Fällen.413 Auch das Novellenerzählen des Decameron zeigt somit kasushafte Merkmale. Es übernimmt von den Questioni -Novellen den Anspruch des juristischen Falls auf Konkretheit, entkleidet ihn aber zugleich jeder persönlichen Dimension, die sich in der Liebesfragen-Episode aus der Pragmatik der Gerichtsszenerie ergibt. Der in den Questioni d’amore durch die Kommunikationssituation determinierte juristische Liebeskasus wird so im Decameron zu einer erzählten Fallgeschichte. Die bisherigen Ausführungen haben versucht, eine Verbindung zwischen der Questioni d’amore-Episode und dem Decameron auf der Ebene jener Text(teil)e herzustellen, für die beide Werke die Bezeichnung novella verwenden. Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass das Decameron nicht nur punktuell auf die Questioni d’amore rekurriert, sondern dass diese einen zentralen strukturellen Prätext darstellen, vor dessen Hintergrund die gesellige Kommunikation des Decameron erst ihre Kontur erhält. Dafür soll gezeigt werden, inwiefern die Transformation der (Liebes-)Kasus zu Novellen auch auf die – im Spiel der Questioni 412
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So schon Wehle, Novellenerzählen, S. 100: »Novellen als Geschichten von Dritten behandeln Fälle, die der Erzähler und ›sein‹ Publikum gleichermaßenals ein tertium comparationis kollektiv einlösbarer Erfahrungen identifizieren können.«; vgl. auch Grubmüller, Boccaccios Florenz, S. 80f. Es ist immer wieder beobachtet worden, dass die Konkretisierung von Zeit, Raum und Figurenpersonal in den Novellen des Decameron exempelhaftem Erzählen diametral entgegensteht. Der Kasus als generischer Prototyp der Novelle würde dieses Spezifikum erklären können: Der sog. ›Realismus‹ Boccaccios wäre in dieser Perspektive das Produkt eines in der Tradition der klassischen Rhetorik stehenden, konsequent juristischen Erzählers.
306 d’amore konstitutiven – Teile von Verhandlung und Urteil ausgreift. Das Decameron führt hierbei zwei Verfahren vor: 1) Die Verlagerung von Verhandlung und Urteil in die Novelle selbst; 2) Die Parodierung und Ablehnung von Verhandlung und Urteil und zugleich deren Ersetzung durch den Konsens der brigata.
5.4.2.2 Eine Frage der liberalità : Kasus-Verhandlung in der Novelle X,4 Die Übernahme der dreizehnten Liebesfrage als Decameron-Novelle X,4 ist ein besonders eindringliches Beispiel für den Umbau eines Kasus zur Novelle.414 Die narratio zu Q XIII entfaltet den Kasus einer als scheintot begrabenen, schwangeren Dame, die von einem sie liebenden Ritter aus dem Grab gerettet wird. Dieser gibt sie, nachdem sie genesen ist und ihr Kind geboren hat, ihrem Ehemann wieder zurück. Die narratio mündet in die Frage, was als größer bzw. höher zu bewerten sei: das normenkonforme, rechtmäßige Verhalten (lealtà ) des Ritters gegenüber dem Ehemann oder die Freude des Ehemanns (allegrezza) über seine unverhofft wiedergewonnene Frau.415 Die Zuordnung zum Thema des zehnten Tages, das vorgibt, von Menschen zu erzählen, die sich als großzügig (liberalmente) und wahrhaft großmütig (vero magnificamente) in Liebesangelegenheiten erwiesen haben,416 macht die Novelle X,4 zum Fall-Beispiel.417 Damit ist bereits entschieden, dass in dieser Geschichte allein die Taten des liebenden Ritters Gentil Carisendi im Vordergrund stehen. Die Bewertung von Carisendis Handeln erfährt allerdings eine grundsätzliche Reformulierung, sie erscheint nicht mehr unter dem Stichwort der Rechtmäßigkeit (lealtà ), sondern unter dem der Großmütigkeit (magnificenzia) und der Großzügigkeit (liberalità ).418 Damit aber werden die Wertsetzungen der narratio zu Q XIII exakt invertiert, implizie414
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Vgl. hierzu Dutschke, Boccaccio; sowie Surdich, La cornice di amore, S. 38–40 und S. 277–279; wenig ergiebig ist Sanguineti, Lettura del Decameron, S. 68–70; zu den in beiden Texten verwendeten Vorlagen vgl. Branca (Boccaccio, Decameron, S. 1137 Anm. 1) und Quaglio (Boccaccio, Filocolo, S. 792f. [Anm. IV,70,2]). »Per che si dubita qual fosse maggiore, o la lealtà del cavaliere o l’allegrezza del marito, che la donna e ’l figliuolo, i quali perduti riputava sì come morti, si trovò racquistati […]« (Filocolo, IV, 67,23). Vgl. IX, Concl. 4. Die Novelle wird damit in einen neuen rhetorischen Kontext gestellt: Ihre Aufgabe ist es hier nicht mehr, einen Fall zu exponieren, sondern großmütige Handlungen in Liebesdingen, zu illustrieren. Die spezifische Eigendynamik des zehnten Tages führt allerdings dazu, dass X,4 im Diskurs der Figuren wieder in die Struktur kasuistischer Rede zurückgeholt wird, vgl. Kap. 5.4.3. Vgl. für die deutliche Bezugnahme der Novelle auf das Tagesthema die Ankündigung Laurettas: »[…] una magnificenzia da uno inamorato fatta mi piace di raccontarvi« (X,4,4), sowie ihre abschließendeBemerkung: »Il quale [i. e. Messer Gentile, C. E.] […] non solo temperò onestamente il suo fuoco, ma liberalmente quello
307 ren beide Begriffe doch eine Freiwilligkeit des Handelns, die wiederum nur dort gegeben ist, wo Recht und Gesetz nicht bereits den normativen Rahmen für eine Handlung setzen. Zugespitzt: Die Einordnung von X,4 unter das Thema der zehnten giornata kann nur funktionieren, wenn Gentil Carisendi als rechtmäßiger Eigentümer der Madonna Catalina erwiesen wird, denn nur dann erfüllt die freiwillige Rückgabe der Dame an ihren Ehemann den Tatbestand einer als großmütig zu bezeichnenden Handlung. Diese Kontextualisierung der Geschichte als Fall-Beispiel für magnificenzia und liberalità generiert damit einen neuen Kasus, nämlich die Frage, ob der Ehemann Niccoluccio Caccianemico oder der Lebensretter Gentil Carisendi ein juristisch begründbares Anrecht auf Madonna Catalina habe.419 Sie macht es überdies erforderlich, diesen Kasus im Sinne Carisendis zu entscheiden. Entsprechend verändert erscheint die Novelle X,4 gegenüber der Questioni -Novelle Q XIII. Der Novelle wird ein Kasus inkorporiert, dessen Verhandlung und Beurteilung Carisendi per analogiam als rechtmäßigen Eigentümer der Madonna Catalina ausweisen.420 Um für die Übergabe der Madonna Catalina einen angemessenen Rahmen zu schaffen, lässt Messer Gentile eine ganze Reihe Bologneser Freunde, darunter Niccoluccio, zu einem Gastmahl laden. Bei diesem kündigt er eine orientalische Sitte an: Um die Gäste zu ehren, wolle er ihnen das Liebste zeigen, was er besitze.421 Zuvor jedoch erbitte er die Meinung seiner Gäste hinsichtlich eines Dilemmas (un dubbio),422 das ihn beschäftige.423 Der Kasus, den er vorlegt, ist so konstruiert, dass er den Fall der Madonna Catalina aus seiner Perspektive spiegelt: Ein schwer erkrankter Diener wird von seinem Herrn auf die Straße geworfen, ein
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che egli soleva con tutto il pensier disiderare e cercare di rubare, avendolo, restituí.« (X,4,48) Dass der Ritter durch seine Rettungstat zumindest so etwas wie Definitionsmacht über die geliebte Dame erlangt, wird in Q XIII im Gegensatz zu X,4 nur ganz am Rande thematisiert, etwa, wenn er die Dame mit dem Hinweis zum Schweigen verpflichtet, sie sei an seinen Willen gebunden und sie antwortet, sie werde ihm keinen Wunsch abschlagen (Filocolo, IV,67,15 und 16). Auf der Seite der Disputanten des Kasus ist die Frage des Besitzrechts allerdings von vornherein entschieden: Sowohl Messaallino als auch Fiammetta betonen, dass es die (gesetzmäßig verankerte) Pflicht des Ritters sei, die Dame ihrem Ehemann zurückzugeben. Strittig ist zwischen ihnen lediglich, ob die Erfüllung dieser Pflicht als Tugend spezifisch zu würdigen oder schlichtweg erwartbar sei (Filocolo, IV,68–70). Vgl. X,4,24–30. Auch dieser Brauch, der dem cavaliere die Möglichkeit verschafft,die Dame effektvoll zu präsentieren, fehlt in Q XIII. Hier wohnt sie dem Gastmahl als Tischdame ihres Ehemannes bei (Filocolo, IV,67,18–21). »Ma prima che io faccia questo, vi priego mi diciate quello che sentite d’un dubbio il quale io vi moverò.« (X,4,25) Auch hier wird also – wie in den Questioni d’amore – der kommunikative Modus fallbezogener Urteilsfindung an eine gesellige Situation gekoppelt.
308 Fremder nimmt sich seiner an und pflegt ihn gesund. Er mündet in die folgende quaestio: Vorrei io ora sapere se, tenendolsi e usando i suoi servigi, il suo signore si può a buona equità dolere o ramaricare del secondo, se egli raddomandandolo rendere nol volesse. (X,4,27)424
Die Gäste diskutieren den Fall und kommen schnell zu einem einhelligen Ergebnis. Die Formulierung einer Antwort übertragen sie dem rhetorisch geschulten Niccoluccio, der erklärt, der erste Besitzer habe sein Recht auf den Diener verwirkt, dieser sei auf Grund der hilfreichen Taten des Fremden in dessen Besitz übergegangen. Wenn der Fremde den Diener also behalte, sei das rechtens. Diesem Urteil stimmen die Gäste abschließend noch einmal ausdrücklich zu.425 Vor dem Hintergrund von Niccoluccios Antwort präsentiert Messer Gentile nun das Liebste, was er hat: Madonna Catalina und ihren Sohn. Da er sie zum Schweigen verpflichtet hat, bleiben die Gäste und auch Niccoluccio über ihre Identität vorläufig im Unklaren. Messer Gentile klärt das Rätsel der schönen Unbekannten, auf: Dazu nimmt er zunächst eine Exegese seines Fall-Beispiels vor, in der er Madonna Catalina mit dem Diener, Niccoluccio mit dessen Herren und sich selbst mit dem fremden Helfer identifiziert, und dann einen Bericht über den Ablauf der Dinge anschließt. Seine Ausführungen gipfeln in der folgenden Schlussfolgerung: Per le quali cose, se mutata non avete sentenzia da poco in qua, e Niccoluccio spezialmente, questa donna meritamente è mia, né alcuno con giusto titolo me la può radomandare. (X,4,40)426
Diese Position ist sorgfältig vorbereitet: Die narratio zum Kasus des Dieners ist – entsprechend ihrer rhetorischen Funktion, Parteilichkeit zu erzeugen – auf den Aspekt des achtlosen Wegwerfens perspektiviert. Sie verfehlt ihre Wirkung nicht und stiftet unmittelbar Konsens unter den Zuhörern. Effektvoll inszeniert ist auch die Rolle Niccoluccios als desjenigen, der den Konsens der Übrigen in seinem Urteilsspruch manifestiert und damit – übertragen auf den Analogiefall der scheintoten Catalina – unwissentlich ein Urteil gegen sich selbst spricht. Die Regieführung dieser inszenierten Urteilsfindung läuft dann auf den Auftritt Gentile Carisendis hinaus, der über die Analogsetzung der beiden Kasus auch die 424
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»Jetzt möchte ich wissen, ob der erste Herr des Dieners sich wohl mit gutem Recht beklagen oder beschweren könnte über den zweiten, wenn dieser den Diener behielte und in seine Dienste stellte und trotz aller Aufforderung jenen nicht zurückgeben wollte.« (II, 424) Vgl. X,4,28–29. »Aus diesen Gründen gehört – wenn ihr und vor allem Niccoluccio nicht inzwischen eure vor kurzem geäußerte Auffassung geändert habt – diese Frau mit gutem Recht mir, und niemand könnte sie mir mit stichhaltigerBegründungabverlangen.« (II, 426f.)
309 analoge Gültigkeit des Urteils plausibel machen kann. Dass die Anwesenden hinter ihr eigenes, sorgfältig hergestelltes Urteil nicht zurück können, macht seine Position besonders unangreifbar.427 Das kasuistische Verfahren, mit dem sich Messer Gentile kunstvoll ins Recht setzt, erzeugt insofern den Maßstab, von dem aus sich die Fallhöhe seiner weiteren Handlungen bestimmen lässt: Vor dem Hintergrund der Festschreibung seiner Besitzansprüche auf Madonna Catalina als legitim erscheint die magnificenzia, die sich in der anschließenden Rückgabe der Dame an ihren Ehemann zeigt, umso größer.428 Die Übernahme der Questioni Novelle zu Q XIII als Decameron-Novelle X,4 führt somit einen Funktionswechsel vor: Aus der fallexponierenden wird die illustrierende narratio. Eine Reduktion von Strittigkeit impliziert dieser Funktionswechsel allerdings nicht, denn auch hier mündet die Novelle – auf Grund der dem zehnten Tag inhärenten kompetitiven Eigendynamik – in eine quaestio und ein vorweggenommenes Urteil.429 Darüber hinaus erzeugt der Funktionswechsel, der die Novelle zum Exempel werden lässt, neue Strittigkeit, die wiederum kasuistisch – diesmal nicht außerhalb, sondern innerhalb der Geschichte – gelöst wird. Im Regelfall jedoch werden sowohl die Debatte als auch das abschließende Urteil in der strukturellen Transformation der Questioni d’amore im Decameron durch konsensuale Zustimmung und Lob der brigata ersetzt (dazu oben ausführlich Kap. 5.4.1). Dass diese Distanznahme des Decameron zum kommunikativen Modell der Questioni d’amoreEpisode grundlegend ist, zeigt sich an zwei Episoden, in denen die brigata über den Modus ihres kommunikativen Handelns reflektiert: der LiciscaEpisode430 zu Beginn der sechsten giornata und der Reaktion der brigata auf die Novelle X,5.
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Dutschke, Boccaccio, S. 309–312, liest das konsequente methodischeVorgehen, mit dem sich Messer Gentile gegenüber seinen Gästen als rechtmäßiger Besitzer der Madonna Catalina ausweist, als zentralen Bestandteil der in X,4 gegenüber Q XIII exponierten Selbstkontrolle Gentiles, mit der sein Affektverhalten am Grab kompensiert werden soll. In Laurettas abschließendem Kommentar werden die in der Novelle hergestellten Rechtsverhältnisse noch einmal bekräftigt: »Il quale giovane e ardente, e giusto titolo parendogli avere in ciò che la tracutaggine altrui aveva gittato via e egli per la sua buona fortuna aveva ricolto, non solo temperò onestamente il suo fuoco, ma liberalmente quello che egli soleva con tutti il pensier disiderare e cercare di rubare, avendolo, restituí.« (X,4,48) (»Dieser [i. e. Messer Gentile, C. E.], jung und voller Liebesglut, glaubte ein gutes Recht auf das zu haben, was er zu seinem eigenen Heile aufgelesen hatte, nachdem die Nachlässigkeit anderer es achtlos beiseite geworfen hatte. Er bezwang jedoch nicht nur auf die edelste Weise sein Verlangen, sondern gab, als es wirklich sein eigen geworden war, zurück, was er jahrelang mit allen Sinnen begehrt und schließlich geraubt hatte.« [II, 428]). X,4,47–48. Vgl. Kap. 5.4.3. Vgl. VI, Introd. 4–15.
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5.4.2.3 Parodierte Kasuistik: Die Licisca-Episode Der sechste Tag steht unter der Herrschaft der Elissa. Bevor die brigata mit dem täglichen novellare beginnen kann, wird sie durch großes Geschrei (un gran romore) unterbrochen, das sich in der Küche erhebt.431 Als Verursacher werden Tindaro und Licisca ausgemacht, sie werden von der Königin zitiert und nach der Ursache ihres Streits befragt. Licisca reißt das Wort an sich und tut unter wüsten Beschimpfungen kund, Tindaro behaupte, die Frau eines gewissen Sicofante sei erst in ihrer Hochzeitsnacht entjungfert worden. Sie selbst halte das nicht für wahr und meine vielmehr zu wissen, dass Sicofante sich mit einer Entjungferung nicht habe plagen müssen (VI, Introd. 8). Überhaupt sei heute wohl keine Frau mehr so dumm, bis zu ihrer Verheiratung Jungfrau zu bleiben und auch Ehefrauen kenne sie genug, die ihren Männern entsprechende Streiche spielten (VI, Introd. 9–10). Die Königin verweist den Fall (quistion) an Dioneo und fordert ihn auf, ein Urteil (sentenzia finale) zu sprechen. Dioneo urteilt, dass Licisca recht und Tindaro unrecht habe. Licisca spottet weiterhin über Tindaro und kann von der Königin nur unter Androhung von Schlägen zum Schweigen gebracht werden (VI, Introd. 14–15). Erst nachdem sie und Tindaro wieder in die Küche verschwunden sind, nimmt die brigata das Erzählen auf. Hinsichtlich der Figuren (Dienstboten), des Orts (Küche), des Modus der Auseinandersetzung (lautstarkes Streiten), auch hinsichtlich des Gegenstands (voreheliche weibliche Sexualität) entfaltet die LiciscaEpisode ein kommunikatives Kontrastprogramm zu der ästhetischen Rede-Ordnung der brigata.432 Der Streit des Küchenpersonals vermag das novellare der brigata sogar zeitweilig auszusetzen. Die Königin reagiert auf die Anfechtung der gesetzten kommunikativen Ordnung mit den Mitteln, die ihr als Oberhaupt über dieselbe zur Verfügung stehen: Sie versucht, die entgleiste kommunikative Interaktion zwischen Tindaro und Licisca ihrerseits zu strukturieren. Sie bedient sich hierfür – wie an der verwendeten Terminologie ersichtlich ist – der Gerichtsverhandlung
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»[…] cioè che per la reina e per tutti fu un gran romore udito che per le fanti e’ famigliari si faceva in cucina.« (VI, Introd. 4). So ist die Szene auch bislang gelesen worden, wobei der thematische Aspekt, also der Einbruch derber Erotik in die ästhetische Welt der brigata und ihre Bewältigung, zumeist im Vordergrund steht, vgl. Squarotti, La cornice del Decameron, S. 53–57; Francesco Bruni: Boccaccio. L’invenzione della letteratura mezzana. Bologna 1990 (= Collezione di testi e di studi, Linguistica e critica letteraria), S. 236– 237; Arend, Senza modo, S. 354–356; Lehmann, Funktionalität der Rahmenerzählung, S. 292f.; und Zimmermann, Krise, S. 149. Dicke, Fazetieren, S. 157f., liest die Szene unter kommunikationstheoretischem Aspekt und deutet sie als »Negativbeispiel« für das Thema des sechsten Tages, die gewitzte Schlagfertigkeit.
311 als des etablierten Ordnungsmusters für zu schlichtende Streitfälle.433 Den ersten Schritt, die Vorlage des Falls, leitet sie ein, indem sie ein entsprechendes Redegebot gegenüber Tindaro erlässt. Das Gebot läuft allerdings ins Leere, denn Tindaro kommt, da ihn Licisca nachhaltig unterbricht, gar nicht zu Wort. Stattdessen spricht Licisca, die ihrerseits Tindaro vorwirft, er wolle sich in ihrer Gegenwart mit seinem Redebeitrag vordrängen: Alla quale [la reina, C. E.] volendo Tindaro rispondere, la Licisca, che attempatetta era e anzi superba che no e in sul gridar riscaldata, voltatasi verso lui con un mal viso disse: – Vedi bestia d’uom che ardisce, là dove io sia, a parlare prima di me! Lascia dir me – (VI, Introd. 7).434
Auch der Versuch der Königin, Licisca wieder zum Schweigen zu bringen, scheitert: […] la reina l’aveva ben sei volte imposto silenzio ma niente valea: ella non ristette mai infino a tanto che ella ebbe detto ciò che ella volle. (VI, Introd. 11)435
Die Königin reagiert auf ihr Scheitern als oberste Instanz der Verhandlung, indem sie Dioneo als Richter über den Fall einsetzt. Dieser übernimmt zwar das Amt, doch auch er widersetzt sich ihren Anweisungen, da er das Urteil sofort (prestamente) und nicht erst, wie Elissa vorgeschlagen hatte, nach Beendigung des täglichen novellare spricht. Zudem bricht er, indem er es ablehnt, die zweite Streitpartei anzuhören, eine fundamentale Regel der Rechtsprechung, das audiatur et altera pars: Madonna, la sentenzia è data senza udirne altro: e dico che la Licisca ha ragione, e credo che cosí sia come ella dice, e Tindaro è una bestia. (VI, Introd. 13)436
Darüber hinaus verfehlt das Urteil seine Wirkung, es vermag die kommunikative Handlung nicht abzuschließen: Licisca redet vielmehr mun433
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Squarotti, La cornice del Decameron, S. 55–57, hier 55f., hat darauf hingewiesen, dass es ein gelehrter Diskurs ist, mit dem die brigata auf die Provokation Liciscas reagiert und mit dem sie versucht, die gestörte Ordnung wiederherzustellen: »[…] il Boccaccio riporta la violenza dell’evento osceno al piano del trattato, al livello dove ciò che conta non sono tanto la violenza e la vitalità del fatto, ma la rispondenzaalle regole, la necessità di misurare ciò che è accaduto a norme stabili, o, comunque, a un tribunale, in questo, allora riconfermando e stabilendo il gruppo nella funzione privilegiata della determinazione dell’ordinamento esemplare delle cose.« »Tindaro schickte sich an, ihre Frage zu beantworten, jedoch die schon ein wenig angejahrte und recht hochfahrende Licisca wandte sich, vom Streit erhitzt, mit bösen Blicken nach ihm um und rief: »Sieh einer diesen ungeschliffenen Kerl an! Er wagt es wohl gar, in meiner Gegenwart vor mir das Wort zu ergreifen! Laß mich gefälligst reden!« (II, 8) »Die Königin gebot der Licisca wohl an die sechsmal, zu schweigen, doch es war umsonst. Jene hörte nicht auf, bis alles, was sie auf dem Herzen hatte, gesagt worden war.« (II, 9) »Madonna, das Urteil liegt auf der Hand, ich brauche nichts weiter über die Sache zu hören. Meiner Meinung nach hat Licisca recht, und ich glaube wohl, es stimmt, was sie sagt: Tindaro ist wirklich ein Esel!« (II, 10)
312 ter weiter. Das erneuerte Schweigegebot der Königin greift erst, nachdem sie Licisca körperliche Züchtigung androht: […] e, se non fosse che la reina con un mal viso le ’mpose silenzio e comandolle che piú parola né romor facesse se esser non volesse scopata e lei e Tindaro mandò via, niuna altra cosa avrebbero avuta a fare in tutto quel giorno che attendere a lei. (VI, Introd. 15)437
Der Versuch, die Auseinandersetzung zwischen Tindaro und Licisca über das Muster der Gerichtsverhandlung in kommunikativ geordnete Bahnen zu lenken, versagt auf der ganzen Linie.438 Es scheitert vor allem die Tageskönigin als Herrin über Reden und Schweigen. Die im Kreis der gleichrangigen brigata-Mitglieder etablierte Rede-Ordnung lässt sich auf die Interaktion zwischen brigata und Personal nicht übertragen, obwohl die soziale Rangordnung mit einem hierarchischen, von oben nach unten gerichteten Kommunikationsmodus eigentlich korrespondieren müsste. Der Grund für das Scheitern der Königin hängt also offensichtlich damit zusammen, dass Licisca die kommunikativen Ordnungshandlungen Elissas nicht versteht: Das zeigt sich an ihrer Reaktion auf Tindaros Versuch, den Fall darzulegen. Hier nimmt sie gar nicht wahr, dass dieser durch das Sprechgebot einer dritten Instanz autorisiert worden ist. Ihre Wahrnehmung ist ganz auf die duale Interaktion mit Tindaro eingeschränkt, und hier gilt: Macht hat, wer spricht. Entsprechend schneidet sie ihm umgehend das Wort ab, obwohl er selbst es noch gar nicht ergriffen hat. Dieser Perspektive entspricht es auch, dass sie auf die Schweigegebote der Königin nicht eingeht. Es ist insbesondere das von der Königin gewählte kommunikative Ordnungsmuster der gerichtlichen Verhandlung, das Licisca nicht bekannt zu sein scheint, so dass sie dessen Mechanismen konsequent ignorieren kann. Daher nützt es auch nichts, dass Elissa die Richterfunktion an Dioneo delegiert, denn die Ignoranz Liciscas bezieht sich nicht auf die Person Elissas, sondern auf die kommunikative Struktur. Diese stellt sich zum einen über die Art und Weise der Interaktion, zum anderen über die von der Königin verwendeten Termini her. Liciscas Unvermögen, sich auf eine Struktur einzulassen, die durch die Begriffe quistion und sentenzia finale indiziert ist, zeigt, dass die Struktur begrenzt – nämlich sozial exklusiv – zugänglich ist. Wer aber die Begriffe nicht versteht, die das Ordnungsmuster aufrufen, wird sich seiner Struk437
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»Hätte die Königin ihr jetzt nicht mit bösem Gesicht geboten, den Mund zu halten, und ihr nicht unter Androhung einer Züchtigung jedes weitere Wort und alle Streitereien untersagt, [und sie und Tindaro fortgeschickt, C. E.], so hätte die Gesellschaft wohl den ganzen Tag lang Liciscas Gezänke anhören müssen.« (II,10) Die bisherige Forschung hat dagegen den konstruktiven Charakter des Schlichtungsmodells hervorgehoben: vgl. Squarotti, La cornice del Decameron, S. 55; sowie Arend, Senza modo, S. 354 Anm. 27: »Mit dieser Episode wird verdeutlicht, daß der utopische Gegenentwurf zur Anarchie der Pest-Stadt über eine ›humane‹ und um ›sozialen Frieden‹ besorgte Gerichtsbarkeit verfügt.«
313 tur auch kaum einordnen können. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Licisca trotz des gefällten Urteils einfach weiter spricht. Elissas Versuch, den Streit der Dienstboten über das Modell fallbezogener Urteilsfindung zu ordnen, scheitert also an der sozialen Exklusivität dieses kommunikativen Modus, denn als Bestandteil des juristischen Diskurses setzt dieser ein Bildungsniveau voraus, dem zwar die brigata selbst, nicht aber ihr Personal entspricht. Die Licisca-Episode beschränkt sich allerdings nicht darauf, den Kontrast zwischen solchen, die den Diskurs beherrschen, und solchen, die ihn nicht beherrschen, vorzuführen. Vielmehr wird der kasuistische Diskurs durch diejenigen, die ihn beherrschen, parodiert und damit zugleich diskreditiert: Weder läuft die Vorlage des Falls nach Plan, noch werden beide Streitparteien an der Verhandlung beteiligt. Das Richteramt wird im laufenden Prozess neu besetzt und schließlich disqualifiziert der erklärte Verzicht auf die Anhörung der altera pars das gefällte Urteil. Auch die Figuren erscheinen in den ihnen zufallenden Rollen unglaubwürdig: Zunächst tritt mit der Königin eine Figur in der Rolle der Verhandlungsführerin auf, deren Regeln nicht befolgt werden. Mit Dioneo rückt dann eine Figur in die normsetzende Richterposition nach, die zwar sachlich geeignet erscheint, insofern es sich um einen erotischen Kasus handelt, die aber im Übrigen gerade nicht durch Regelkonformität, sondern durch lizenziöses Verhalten markiert ist und damit die Ausnahmeposition im Ordnungssystem der brigata einnimmt. Das Urteil wiederum entspricht dieser Markierung.439 Mit der parodistischen Doppelbewegung aus Zitat und Verkehrung beweist die brigata einerseits ein elaboriertes Bewusstsein für den kommunikativen Modus der Kasuistik,440 andererseits aber weist sie ihn ab. Kasuistische Kommunikation scheint mit dem, was die Erzähler-Figuren für die angemessene Art und Weise zu kommunizieren halten, nicht kompatibel zu sein. Pointiert: Kasuistik widerspricht ihrer Konzeption eines kommunikativen decorum. Die Gründe hierfür liegen zum einen auf ästhetischer, zum anderen auf sozialer Ebene: Wenn die Vorlage des Kasus durch Licisca nicht den Anforderungen an Kommunikation im Zeichen von onestà entspricht, wie sie sich die brigata als Leitbild gesetzt hat,441 dann ist das weniger eine Frage des Gegenstands. Das zeigt sich, 439
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Zu Dioneos Rolle in der Licisca-Episode vgl. Giuseppe Mazzotta: The Law and its Transgressions. In: Mazzotta, The World at Play, S. 213–240, hier S. 232f. Auch Lehmann, Funktionalität der Rahmenerzählung, S. 292, hat angemerkt, dass die Licisca-Episode eine Parodie der »mittelalterlich-höfischen Liebeskasuistik« sei, sie sieht das parodistische Element allerdings in der thematischen Inversion von einem Liebes- zu einem obszönen Kasus. Dazu vor allem I, Introd.50–91 und oben Kap. 5.3.2. Dass es in der Licisca-Episode auch abseits der Frage nach der Bewertung kasuistischen Disputierens um die Thematisierung des decorum in Rede und Verhaltengeht, zeigt sich an der Reaktion der
314 wenn Dioneo den Kasus der Licisca zu Beginn seiner Tagesherrschaft (VI, Concl.) noch einmal aufnimmt, um davon ausgehend sein Thema zu formulieren. Die Damen legen dagegen zwar zunächst Einspruch ein, stimmen Dioneos Argumentation, unmoralisch (disonesto) sei nur unrechtes Handeln, nicht aber das Sprechen von unrechten Taten, dann aber doch zu. In dieser Perspektive dient Liciscas Kasus somit dazu, erotische, frivole oder obszöne Gegenstände im weiteren auch für das Novellenerzählen zu legitimieren. In der Licisca-Episode selbst aber ist die moralische Kategorie der onestà nicht auf die Ebene der res, sondern auf die der verba zu beziehen. Entsprechend expliziert es der Erzähler in der Conclusione dell’autore, in der er sich prophylaktisch gegen Kritik an seinem Werk verteidigt: Sarrano per avventura alcune di voi che diranno che io abbia nello scriver queste novelle troppa licenzia usata, sí come in fare alcuna volta dire alle donne e molto spesso ascoltare cose non assai convenienti né a dire né a ascoltare a oneste donne. La qual cosa io nego, per ciò che niuna sí disonesta n’è, che, con onesti vocaboli dicendola, si disdica a alcuno: il che qui mi pare assai convenevolmente bene aver fatto. (Concl., 3)442
Das hier entworfene Programm eines onestamente parlare verschränkt moralische und stilistische Kategorien.443 Dabei erhebt es nicht den Anspruch, zum elaborierten, hohen Stil zu gehören, der Erzähler bezeichnet den Stil seines Werkes vielmehr dezidiert als umile.444 Wenn der Erzähler also betont, nichts sei unehrenhaft, was mit onesti vocaboli gesagt werde, dann ist dieses u. a. auf den gekonnten und gewitzten Umgang mit den
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Damen auf Liciscas Bericht.Das fröhliche,aber in der Regel gemäßigte Lachen,wie es häufig im Anschluss an erzählte Novellen zu beobachten ist, weicht hier einem wenig vornehmen, Zähne bleckenden Lachen: »Mentre la Licisca parlava, facevan le donne sí gran risa, che tutti i denti si sarebbero loro potuti trarre« (VI, Introd. 11) (»Während dieser Tirade Liciscas hatten die Damen ein solches Gelächter angestimmt, daß man ihnen mühelos alle Zähne hätte ziehen können.« [II,9]). Die unangemessene kommunikative Situation, ggf. auch der unziemliche Gegenstand provozieren also ein unmäßiges Lachen auf Seiten der brigata. Daher lässt sich Elissas Schweigegebot an Licisca auch als Versuch verstehen, diese Überschreitung des decorum durch die brigata zu unterbinden.Auf diese Weise ließe sich die bei Arend, Lachen und Komik, S. 203f., nur angedeutete These stützen, dass das maßlose Lachen auch negative Konnotationen hat. »Vielleichtwerden einige von euch behaupten,ich hätte bei der Niederschrift dieser Geschichten mir zuviel Freiheiten herausgenommen, indem ich die Damen Dinge sagen und mit anhören ließ, die von tugendsamen Frauen weder gesagt noch angehört werden dürfen. Dies verneine ich durchaus, da nichts so unzüchtig ist, daß es, in ehrbare Worte gekleidet, nicht für jedermann schicklich sei. Solche Worte nun hoffe ich gefunden zu haben.« (II, 533) Über die im Proemio des Novellino skizzierte Konzeption eines vorbildhaften bel parlare geht es damit deutlich hinaus, vgl. Il Novellino / Das Buch der hundert alten Novellen. Italienisch / deutsch. Übersetzt und hrsg. von Jánosz Riesz. Stuttgart 1988 (= RUB, 8511), S. 16. Vgl. IV, Introd. 3 und 36.
315 rhetorischen Mitteln des uneigentlichen Sprechens zu beziehen. Hierzu wäre die Fähigkeit zu zählen, für erotische, ggf. auch obszöne Sachverhalte auf den ersten Blick unverdächtige, zugleich jedoch sprechende Bilder zu finden: Etwa die Verwendung der Metapher usignolo (Nachtigall) für das männliche Genital in der Novelle V,4.445 Die Art und Weise, wie Tindaro und Licisca ihren Kasus verhandeln, ist mit einer solchen Konzeption von kommunikativem decorum nicht kompatibel: Die Figuren disqualifizieren sich nicht nur durch die unziemliche Lautstärke und die Unbeherrschtheit, mit der sie ihren Streit führen, sondern auch durch die vulgären, wenig ambitionierten Metaphern, die Licisca in ihrer Darlegung des Kasus verwendet (VI, Introd. 8).446 Dass die brigata diesem Kasus, der jeglichem rhetorischen aptum zuwiderläuft, ein geordnetes und regelkonformes Verfahren, wie es in der Questioni d’amore-Epsiode vorgeführt wird, versagt, lässt sich also wiederum mit der sozialen Differenz zum Küchenpersonal erklären. Der Modus kasuistischer Verhandlung selbst wäre damit aber noch nicht aus einer Konzeption des onestamente parlare ausgenommen. Wenn also die beobachtete Parodierung von Kasuistik diese in einem umfassenden Sinne diskreditiert, muss es noch weitere Argumente gegen diesen Sprechmodus geben. Das führt auf den zweiten Grund: Kasuistisches Sprechen ist deshalb nicht mit dem für die brigata geltenden kommunikativen decorum vereinbar, weil dieses in der Konfrontation von gegensätzlichen Positionen und in der abschließenden Privilegierung einer dieser Positionen auf Dissoziation zielt, die dem ausbalancierten sozialen Gefüge der brigata diametral entgegensteht. Das zeigt abschließend das folgende Beispiel.
5.4.2.4 disputare als Dissoziation: Fiammettas Kommentar zur Novelle X,5 Abweichend vom üblichen Verhalten der brigata kommt im Anschluss an die Novelle X,5 eine Auseinandersetzung zwischen den Damen über die Bewertung der bislang vorgetragenen Novellen auf.447 Der König lässt die Streitenden zunächst gewähren und bittet dann Fiammetta, dem Streit mit der nächsten Novelle ein Ende zu machen:
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Im Kontext der Novelle V,4, in der die Eltern Caterinas diese nach einem Stelldichein mit der Hand am Genital ihres Geliebten vorfinden, wird die Wirkung der gewählten Metapher dadurch intensiviert, dass Caterina zuvor ihren dringlichen Wunsch, auf dem Balkon zu übernachten, mit dem Gesang der Nachtigallen begründet hatte. So auch Dicke, Fazetieren, S. 158. X,6,2. Zu den Gründen für diese Auseinandersetzung vgl. Kap. 5.4.3.
316 Ma poi che il re alquanto disputare ebbe conceduto, alla Fiammetta guardando, comandò che novellando traesse lor di quistione (X,6,2)448
Die Terminologie (disputare, quistione) zeigt an, dass die brigata den Modus konsensorientierten geselligen Erzählens verlassen hat und in den Modus gelehrt-juristischer Auseinandersetzung übergewechselt ist, wie er auch für die Licisca-Episode kennzeichnend war. Aber auch in dieser Szene ist der Diskurswechsel von begrenzter Reichweite: Der König lässt die Verhandlung (alquanto disputare) kurzfristig zu, verweigert sich dann aber der ihm in diesem Modus zukommenden Rolle des Richters, indem er kein Urteil spricht, sondern die Beendigung des Streitfalls (quistione) an die nächste Erzählerin delegiert. Auch Fiammetta soll jedoch kein Urteil fällen, sondern dem Streit mit der Rückkehr zur alten kommunikativen Ordnung des novellare (novellando ) ein Ende setzen. Der König lässt sich also nur scheinbar auf den neuen Modus ein, tatsächlich aber verschafft er der alten Ordnung neue Geltung. Der ausführliche Kommentar, den Fiammetta im Folgenden ihrer Novelle vorausschickt, reflektiert das kommunikative Geschehen und komplettiert auf diese Weise das praktische Handeln des Königs. Die strukturelle Position des Urteils wird ersetzt durch die Reflexion über den Modus von Verhandlung und Urteil: Splendide donne, io fui sempre in opinione che nelle brigate, come la nostra è, si dovesse sí largamente ragionare, che la troppa strettezza della intenzion delle cose dette non fosse altrui materia di disputare: il che molto piú si conviene nelle scuole tra gli studianti che tra noi, le quali appena alla rocca e al fuso bastiamo. E per ciò io, che in animo alcuna cosa dubbiosa forse avea, veggendovi per le già dette alla mischia, quella lascerò stare […] (X,6,3–4).449
Die Beendigung des Streits durch Fiammetta besteht darin, dass sie die kommunikative Interaktion explizit als disputare bezeichnet und diesen Modus als für die brigata nicht adäquat erklärt: disputare sei in Schulen und bei Studenten angemessen, nicht aber in einer Gruppe von Damen. Analog zur Figur Fiammettas in der Questioni d’amore-Episode grenzt die Fiammetta des Decameron das ragionare der geselligen Runde von 448
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»Als der König dem Wortwechsel eine Weile stattgegeben hatte, sah er Fiammetta an und gebot ihr, die Streitigkeiten mit einer neuen Geschichte zu beenden.« (II, 437). Da es hier insbesondere auf die genaue Erfassung der verwendeten rhetorischdialektischenTerminologieankommt, gebe ich meine eigeneÜbersetzung:Vortreffliche Damen, ich war immer der Meinung, dass man in einer Gesellschaft wie der unsrigen so ausführlich erzählen müsse, dass durch eine zu große Verengung des Sinns der vorgetragenen Dinge kein Stoff zum Streiten entstehe. Das passt viel eher auf die Universitäten und zu den Studenten als für uns, die wir kaum mit Spindeln und Rocken umzugehen wissen. Darum will ich, die ich ebenfalls eine strittige Sache im Sinn hatte, auf diese verzichten, da ich euch über die bereits Vorgetragenen [i. e. Dinge, Erzählungen, C. E.] im Streit sehe.
317 dezidiert wissenschaftlicher Kommunikation ab.450 Der Hintergrund für diese Differenzierung war allerdings in den Questioni d’amore ein ganz anderer: Ging es dort darum, die Übernahme schulischer Argumentationsverfahren in den geselligen Diskurs der festa zu legitimieren, zugleich aber die in diesem Verfahren erzielten Ergebnisse (Urteile) von einem wissenschaftlichen Anspruch auf Wahrheitswertigkeit freizustellen, also um die grundsätzliche Harmonisierung von wissenschaftlichem und geselligem Diskurs, so geht es im Decameron darum, das novellare der brigata gänzlich von wissenschaftlichen Kommunikationsverfahren freizuhalten. Das Stichwort disputare verweist dabei besonders auf das Beziehen von Positionen und deren agonale Verhandlung. Die eindeutige Separierung von geselligem und wissenschaftlichem Diskurs wird im Decameron anders als in der Questioni d’amore-Episode geschlechtsspezifisch begründet: Das gelehrte Verfahren des disputare zieme sich nicht für Frauen.451 Der anlässlich von X,5 ausgebrochene Streit macht deutlich, dass die Novellen selbst zum Auslöser agonaler Auseinandersetzung werden können. Es ist insofern konsequent, dass Fiammetta die Verantwortung für die systematische Verhinderung von Streit den einzelnen Novellenerzählern zuweist und sie mit einer diesbezüglichen Minimalpoetik ausstattet: Die verbale Darstellung der Gegenstände müsse so ausführlich (largamente) sein, der Sinn (intenzion) des Erzählten dürfe sich an keiner Stelle so verdichten (troppa strettezza), dass er unterschiedliche Auslegungen (materia di disputare) provoziere. Dieser Vorgabe entsprechend kündigt sie an, entgegen ihrer Absicht im Folgenden keinen strittigen Sachverhalt (alcuna cosa dubbiosa) vorzutragen. Der Grund für die dezidierte Ablehnung verbaler Auseinandersetzung erschließt sich aus ihrer Wertung des vorausgehenden Meinungsstreits als mischia (Streit, Zank, Aufruhr)452 , mit der auch die sozial dissoziierenden Implikationen agonaler Auseinandersetzung erfasst werden: Meinungsdifferenz erzeugt nicht nur Antagonisten, sondern – in letzter Konsequenz – auch Gewinner und Verlierer: solche, deren Position sich als richtig oder wenigstens mehrheitsfähig erweist, und solche, für die das Gegenteil zutrifft. Beide Aspekte widersprechen dem kommunikativen Konsensmodell der brigata, das seinerseits der kommunikative Ausdruck für die geschaffene soziale Balance ist.453 Das Zusammenspiel aus der Urteilsverweigerung des 450
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Die Spielkönigin Fiammetta resümiert hier, dass man sich um ein festeggevole ragionare und weniger um ein quistionare bemüht habe (Filocolo, IV,71,2). Für den älteren Filocolo, der der höfischen Literatur noch deutlich näher steht, ist die Vorstellung von disputierenden Damen hingegen kein Problem. Vgl. Battaglia Bd. 10 (1978), S. 535f. Der kommunikativeModus des disputare wird hier also wie die Brettspiele, von denen Pampinea ganz zu Beginn abrät, weil sie die Gruppe in Gewinner und Verlierer
318 Königs und der erklärten Ablehnung agonaler Kommunikation durch Fiammetta expliziert die kommunikative Ideologie der brigata unmissverständlich: Kasuistische Kommunikationsverfahren haben im Decameron keinen Ort. Zur Wahrung eines kommunikativen decorum und der diesem zugrunde liegenden sozialen Konstellation ist programmatisch auf Verhandlung und Beurteilung von individuellen Meinungen zu verzichten und deren Entstehung prospektiv zu verhindern.454
5.4.3 Erzählen als Turnier: Kommunikative Konkurrenz im Decameron Die in der Licisca-Episode und im Kommentar Fiammettas zum Ausdruck kommende eindeutige Ablehnung agonaler Kommunikationspraktiken lässt die Frage entstehen, warum die brigata dennoch gelegentlich in Auseinandersetzungen über die Novellen gerät. Eine mögliche Antwort könnte lauten, dass es das strittige Potential der Novelle ist, das diese Auseinandersetzungen erzeugt.455 Die Annahme, dass die Novelle als generischer Fortsetzer der fallexponierenden narratio anzusehen ist, würde diese Lesart bestätigen. Hier soll jedoch eine zweite Möglichkeit erörtert werden, nach der der Dissens zwischen den Mitgliedern der brigata ein Produkt der Konkurrenz ist, die einerseits auf Grund der sozialen Ordnung der Gleichrangigkeit, andererseits auf Grund der kommunikativen Vorgabe der Tagesthemen entsteht, die von der brigata zunehmend kompetitiv aufgefasst werden. Die Bezüge, mit denen die Erzähler die Vielfalt der erzählten Geschichten unterhalb der Ebene des Tagesthemas strukturieren, mit denen sie Kohärenzen herstellen, Korpora bilden oder Gegensätze benennen
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spalten, als eine ungesellige, der sozialen Balance der geselligen Runde abträgliche Interaktionsform gewertet. Die Abwehr von Streit im Sinne der Austragung von Meinungsverschiedenheiten gilt nicht nur für die kommunikative Interaktion der brigata, sondern auch für die Interaktionzwischen dem extradiegetischen Erzähler und den von ihm adressierten Damen. Das zeigt eine Bemerkung des Erzählers in der Conclusione dell’autore, die im Kontext seiner Verteidigung gegen den Vorwurf der Anstößigkeit der erzählten Novellen steht: »Ma presuppognamo che cosí sia, ché non intendo di piatir con voi, che mi vincereste. Dico […]« (Concl. dell’autore, 4) (Doch selbst wenn wir unterstellen, dass dies so sei [dass der Einwand berechtigt sei, er habe sich beim Niederschreibender Novellen zu viele Freiheitenherausgenommen,C. E.], worüber ich nicht beabsichtige mit euch zu streiten, da ihr mich besiegen würdet, sage ich […], Übersetzung C. E.). Zu den juristischen Konnotationen von piatire vgl. Boccaccio, Decameron, S. 1255 Anm. 2. Diese Aussage billigt den adressierten Damen zwar argumentative Fähigkeiten zu (und bezieht damit eine andere Position als die intradiegetische Erzählerin Fiammetta), verbannt den Modus des Streitens aber ebenfalls aus dem Werk. So Neuschäfer, Beginn der Novelle, S. 52–67, bes. S. 60 und S. 64.
319 (vgl. Kap. 5.4.1), sind keiner Wertung unterzogen, das heißt, sie setzen die Novelle weder in eine qualifizierende noch in eine quantifizierende Relation zu den vorausgehenden Novellen. Das ausgegebene Tagesthema liefert hingegen einen Maßstab, an dem sich die Novellen einzeln und auch gegeneinander messen lassen. Am zweiten Tag, an dem es um diejenigen gehen soll, »chi, da diverse cose infestato, sia oltre alla sua speranza riuscito a lieto fine« (II,1,1),456 kündigt Lauretta ihre Novelle wie folgt an: E per ciò che a qualunque della proposta materia da quinci inannzi novellerà converrà che infra questi termini dica, non mi vergognerò io di dire una novella, la quale, ancora che miserie maggiori in sé contenga, non per ciò abbia cosí splendida riuscita. (II,4,4)457
Maßstab für die Einordnung der eigenen Novelle ist zum einen das zweiteilige Tagesthema mit seiner Spannung aus widerfahrenen Unannehmlichkeiten und glücklichem Ausgang, zum anderen aber die vorausgehende Novelle der Pampinea, gegenüber der Laurettas Novelle größeres Unglück (miserie maggiori ), aber ein weniger spektakuläres Ende verheißt (non per ciò abbia cosí splendida riuscita). Fiammetta, die am zweiten Tag auf Lauretta folgt, nimmt den qualifizierenden Vergleich mit der Vorgängernovelle auf: Le pietre da Landolfo trovate […] m’hanno alla memoria tornata una novella non guari meno di pericoli in sé contenente che la narrata dalla Lauretta, ma in tanto differente da essa, in quanto quegli forse in piú anni e questi nello spazio d’una sola notte addivennero, come udirete. (II,5,2)458
Hier ist der Vergleich auf den Gegenstand der Gefahren beschränkt, die quantifizierende Formulierung non meno di pericoli in sé contenente verweist aber – ganz ähnlich wie die Laurettas – auf den Anspruch der Erzählerin, die vorangegangene Novelle zu überbieten. Diesen Anspruch formuliert auch Elissa als Königin der sechsten giornata, in der von prekären Situationen zu erzählen ist, die durch leggiadri motti und pronte risposte (VI,1,1) bewältigt wurden: Quantunque, leggiadre donne, oggi mi sieno da voi state tolte da due in sú delle novelle delle quali io m’avea pensato di doverne una dire, nondimeno me ne pure è
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»[…] die von mancherlei Ungemach bedroht, entgegen ihrer eigenen Hoffnung doch noch ein fröhliches Ziel erreichten.« (I, 113) »Weil nun ein jeder, was er auch immer über das aufgegebene Thema noch erzählen mag, sich in dessen Grenzen halten muß, will ich mich nicht schämen, eine Geschichte vorzutragen, die zwar von noch größerem Mißgeschick berichtet, aber trotzdem keinen so großartigen Abschluß findet.« (I, 149) »Die von Landolfo gefundenen Edelsteine […] haben mich an eine Geschichte erinnert, die nicht geringere Gefahren schildert als Laurettas Erzählung, sich aber dadurch von jener unterscheidet, daß ihre Unglücksfälle nicht, wie dort, im Laufe mehrerer Jahre, sondern alle in einer einzigen Nacht eintreten, wie ihr sogleich hören sollt.« (I, 157f.)
320 una rimasa da raccontare, nella conclusion della quale si contiene un sí fatto motto, che forse non ci se n’è alcuno di tanto sentimento contato. (VI,9,3)459
Der Überbietungsgestus überrascht hier, denn zum einen hat ja Elissa selbst als Königin das Thema vorgegeben und es ist insofern erwartbar, dass sie einen treffenden Beitrag zu diesem leisten wird. Zum anderen kollidiert der Gestus mit der vornehmen Zurückhaltung, die alle Tageskönige in Bezug auf ihre Position im täglichen novellare üben, indem sie stets die letzte vor der von Dioneo vorgetragenen zehnten Novelle übernehmen. Hier deutet sich bereits an, dass eine kompetitive Auffassung des novellare nicht nur das Potential birgt, das kommunikative decorum zu verletzen. Der postulierte Anspruch, eine Geschichte zu erzählen, die die vorausgegangenen überbieten will, lässt sich überdies als Provokation auffassen, die leicht zu Widerspruch und daraus resultierend zu Streit führen kann. War der Vergleich mit den Vorgängernovellen in den bisherigen Beispielen auf die inhaltlichen Vorgaben des Tagesthemas bezogen,460 so zielen die qualifizierenden Vergleiche der brigata-Erzähler weit häufiger noch auf die beabsichtigte Wirkung der eigenen Novelle. Da das novellare der brigata bis auf die Ausnahme des vierten Tages prinzipiell größtmögliches Vergnügen für alle intendiert,461 ist es die Pflicht jedes Einzelnen, sich um eine in diesem Sinne wirkungsvolle Geschichte zu bemühen. Wiederum liefert die zuvor erzählte Novelle einen brauchbaren Maßstab, anhand dessen sich die Wirkung der eigenen abschätzen lässt. Dieses Verfahren zielt nicht notwendig auf Überbietung, zuweilen bemühen sich die Erzähler auch durch Bescheidenheitsfloskeln um die Gunst ihrer Zuhörer, so Neifile, bevor sie als Königin des dritten Tages ihre Novelle vorträgt: Chi dirà novella omai che bella paia, avendo quella di Laurettaudita? Certo vantaggio ne fu che ella non fu la primiera, ché poche poi dell’altre ne sarebbon piaciute: e cosí spero che avverrà di quelle che per questa giornata sono a raccontare. Ma pure, chente che ella si sia, quella che alla proposta materia m’occorre vi conterò. (III,9,3)462
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»Obwohl mir heute von euch, meine reizenden Gefährtinnen, schon mehr als zwei Geschichten, die ich selbst zu erz