Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie: Eine philosophische Klärungsskizze [1. Aufl.] 978-3-476-04995-7;978-3-476-04996-4

Daniel Plenge bietet Ansätze einer historisch orientierten und zugleich systematischen Integration der heterogenen Praxi

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Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie: Eine philosophische Klärungsskizze [1. Aufl.]
 978-3-476-04995-7;978-3-476-04996-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Einleitung (Daniel Plenge)....Pages 1-14
Wohin mit der Philosophie der Geschichte? (Daniel Plenge)....Pages 15-69
Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung (Daniel Plenge)....Pages 71-120
Was machen Geschichtswissenschaftler? (Daniel Plenge)....Pages 121-175
Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode? (Daniel Plenge)....Pages 177-242
Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen? (Daniel Plenge)....Pages 243-353
Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme der philosophischen Methodologie und der Sozial(meta)theorie zu klären helfen? (Daniel Plenge)....Pages 355-516
Noch einmal Forschung, Verstehen und wissenschaftsorientierte Ontologie: Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“? (Daniel Plenge)....Pages 517-563
Abschluss: Wohin mit der Geschichtsphilosophie? (Daniel Plenge)....Pages 565-573
Back Matter ....Pages 575-604

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Daniel Plenge

Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie Eine philosophische Klärungsskizze

Geschichtswissenschaften, ­Sozialontologie und Sozialtheorie

Daniel Plenge

Geschichtswissen­ schaften, Sozialontologie und Sozialtheorie Eine philosophische Klärungsskizze

Daniel Plenge Münster, Deutschland Dissertation, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2018 D6

ISBN 978-3-476-04995-7 ISBN 978-3-476-04996-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Für Eileen.

Vorwort zur Druckausgabe Die vorliegende Arbeit wurde spätestens im Dezember 2016 unter dem Titel Geschichtswissenschaften und Sozial(meta)theorie. Eine metageschichtswissenschaftliche Klärungsskizze abgeschlossen. Sie reifte mit minimalen Änderungen bis zur Einreichung als Dissertation am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Fachbereich 8) im Dezember 2017. Am 9.8.2018, als in Münster die Fische starben, wurde sie verteidigt und letztlich angenommen. Der vorliegende Text ist eine um knapp 40 Seiten gekürzte Fassung des ursprünglichen Manuskripts, das hier als Dokument eines Forschungsprozesses bis auf kleinere stilistische, rechtlich sowie technisch bedingte Korrekturen ansonsten unverändert vorgelegt wird. Ich danke Prof. Dr. Oliver R. Scholz für die Übernahme des Erstgutachtens und Prof. Dr. Ulrich Krohs für die Übernahme des Zweitgutachtens – auch angesichts der Manuskriptlänge und des seltsamen Aufbaus der Arbeit kein Pappenstiel. Die Arbeit entstand im Kontext der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschergruppe Kausalität, Gesetze, Dispositionen und Erklärungen am Schnittpunkt von Wissenschaften und Metaphysik (Sprecher: Prof. Dr. Andreas Hüttemann), dem darin in der ersten Phase angesiedelten Teilprojekt Erklärungen, Kausalität und Gesetze in den historischen Wissenschaften (Scho 401/5-1) sowie dem daraus entsprungenen Projekt der zweiten Förderungsphase Erklärungen, Gesetze, Mechanismen und Mikrofundierung in den Sozialwissenschaften (Scho 401/5-2), jeweils unter der Leitung von Prof. Dr. Oliver R. Scholz. Die daraus resultierenden Einflüsse und Unterschiede zu anderem sind für jeden, der sich im Feld bewegt hat, leicht erkennbar. Ich danke der DFG für die Förderung und den Gutachtern der DFG für die damals überraschende Bewilligung der zweiten Förderphase, ohne die keine der folgenden Zeilen entstanden wäre. (Mea culpa: In meinem Objektivitätsaufsatz habe ich diesen Hinweis vergessen; Plenge 2018.) Der Schnittpunkt mit der Wissenschaft wurde hier sehr – vielleicht bedauerlich – ernst genommen. Vielleicht war die Zeit, die es brauchte, um den methodischen Zweifel auf die Spitze zu treiben und für alles ein echtes Beispiel in der Wissenschaft zu finden, bloß verloren, aber nicht vergeudet. Was auch immer der Nutzen dieser Schrift für wen auch immer sein mag, sie zeugt davon, dass man in ehrlicher Forschung am Anfang glücklicherweise keinerlei Vorstellung davon haben kann, was am Ende auf welchem Weg dabei herauskommt, die allerdings nur möglich ist, wenn man über die Ressourcen verfügt, sie sich leisten zu können, was alsbald vorbei ist. Vielleicht gelingt es jemandem mit ähnlichen Interessen, in die Position zu gelangen, die Klärungsskizze transdisziplinär ausfüllen und substanziell erweitern zu können. Ihren Nutzen kann die Skizze der Natur der Sache entsprechend erst richtig in einer Fortsetzung entfalten. Bleiben noch die üblichen zwei Floskeln, dass zu hoffen bleibt, dass es nicht länger dauert, dieses Buch zu lesen, als die darin behandelten Gedanken selbst zu formulieren, und dass, wie üblich in solchen Abhandlungen, der Autor sicherlich nicht allein verantwortlich für den Inhalt ist, da Wissen und Unwissen ja sozial sind, weshalb man seinen Dank gewöhnlich in Bibliographien ausdrückt, gar selbst dann, wenn man zuvor Kritik für notwendig hielt. Ein griechischer Weiser soll es wohl gewesen sein, der irgendwo die Sache mal abschließend auf den Punkt gebracht hat: … deine Strafe wird sein, es gemacht zu haben. Münster, im April 2019 Daniel Plenge

Inhalt Vorwort zur Druckausgabe Abbildungsverzeichnis

VII XIII

1

Einleitung

1

1.1

Vorwort als Einleitung

1

1.2

Terminologie: Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie

6

1.3

Skizze des Verlaufs der Klärungsskizze, Lektürevorschlag

7

2

Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

15

2.1

Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

16

2.2

Warum könnte es sich lohnen, ins Historische Seminar zurückzukehren?

41

2.3

Ist klar, worum es sich bei dem Gegenstand handelt? Gibt es eine beste Praxis?

53

2.4

Zusammenfassung

68

3

Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

71

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.1.8 3.1.9

Die Auswahl der „Mini-Anatomie“ William H. McNeill Antoinette Chamoux & Cécile Dauphin Rolf Rilinger Fergus Millar William H. Sewell Jr. Jerzy Topolski M. J. Stephenson Peter Kirby Melissa Calaresu

72 77 79 82 89 92 98 108 110 112

3.2

Geschichtsphilosophie in einem ersten kurzen Test: Ist Geschichtswissenschaft heterogen? Neue Probleme und die Beantwortung einiger Fragen auf der Basis der gewonnenen Impressionen

114

4

Was machen Geschichtswissenschaftler?

121

4.1

Proseminar Geschichtswissenschaft

121

X

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.2

Inhalt

Trivialerkenntnis 1, aber …: Geschichtswissenschaftler stellen Fragen. Trivialerkenntnis 2, aber …: Geschichtswissenschaftler suchen Antworten auf die gestellten Fragen Trivialerkenntnis 3, aber …: Geschichtswissenschaftler knüpfen an Forschungstraditionen an Trivialerkenntnis 4, aber …: Geschichtswissenschaftler suchen begründete Antworten auf geschichtswissenschaftlich signifikante Fragen Trivialerkenntnis 5, aber …: Geschichtswissenschaftler motivieren ihre Forschung durch die Anknüpfung an unterschiedliche Ansätze Zusammenfassung

122 126 127 135 138 142

In welchem Verhältnis stehen die Erklärung-Verstehen-Erzählen-Kontroversen zur geschichtswissenschaftlichen Praxis der Mini-„Anatomie“?

145

4.3

Zusammenfassung: Neue Probleme und die Beantwortung einiger Fragen

174

5

Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

177

5.1

Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

177

5.2

Vom Problem zum Verstehen (über Erklärungen)?

193

5.3

Eine Präzisierung: Verstehen. Was bleibt, was nicht?

200

5.4

Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

206

5.5

Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

222

5.6

Zwischenfazit: Neuer Überzeugungshintergrund, neue Probleme, alte Fragen

236

6

Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

243

6.1

Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“) Anhang: Regelmäßigkeiten oder „Demi-Regs“ in der Forschung

246 274

6.2

Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

280

6.3

Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

298

6.4

Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

332

6.5

Zusammenfassung: Was soll inwiefern genauer erklärt und verstanden werden? 348

7

Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme der philosophischen Methodologie und der Sozial(meta)theorie zu klären helfen?

355

7.1

Systemismus und Realismus: Grundlagen

358

7.2

Systemismus als echte Alternative zu Individualismus und Holismus?

371

7.3

Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

378

Inhalt

7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4

XI

7.3.5 7.3.6 7.3.7 7.3.8

Dinge, Systeme und Aggregate Emergente, resultierende und soziale Eigenschaften Bindende, nicht-bindende Relationen und Gesellschaft Strukturen, Umgebungen und Grenzen von Systemen und das CES-Modell Exkurs: Ein kurzer systemischer Blick auf „Struktur“ Zustände, Ereignisse, Prozesse und Geschichten von Systemen Soziale Mechanismen und CESM-Modelle Tatsachen und Tatsachenaussagen Kausalität (im Rahmen der Systemik)

379 385 399 408 415 418 431 447 453

7.4

Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

461

7.5

Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

478

7.6

Der Systemismus im Kontext: Ontologie und Methodologie, eine liaison dangereuse oder eine Verbindung von Selbstverständlichkeiten?

494

7.7

Zusammenfassung: Kurze Beantwortung einiger zentraler Fragen

516

8

Noch einmal Forschung, Verstehen und wissenschaftsorientierte Ontologie: Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“? 517

8.1

Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“? Annäherung an das Forschungsprogramm auf der Basis der Mini-Anatomie und des Systemismus

517

8.2

Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen?

547

9

Abschluss: Wohin mit der Geschichtsphilosophie?

565

Literaturverzeichnis

575

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11:

Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26:

Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29:

„Taux de fécondité légitime suivant l’âge de la femme au mariage“ und „Taux de fécondité legitime par âge“ 80 „Population of Marseille, 1660-1901“ 92 „Number of ships entering the port of Marseille, 1710-1814“ 93 Die Frühform einer Boudon-Coleman-Badewanne im Anschluss an Jerzy Topolski 104 „Index of Winchester estate fleece weights (100 = mean 1210-1454 (1.35 lbs)“ 109 „Mean age-specific heigths of male children in different occupations, 1841 (inches)” 111 Die „Entwicklung der Fischpreise im niedersächischen Raum“ 1501-1650 115 Topolskis Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung, Teil I 133 Topolskis Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung, Teil II 141 „Vergleich von 8 geschichtstheortischen Ansätzen“ 145 „Understanding as systematization. (a) Before understanding item symbolized by black dot. (b) Item is understood by fitting into pre-existing epistemic network. (c) Item is understood by transforming epistemic network“ 181 Allgemeine Problemtypen 184 Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 1 191 Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 2 199 Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 3 200 Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 4 223 Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 5 229 „(a) Analysis through reduction. (b) Analysis through integration“ 234 Die Geschichtswissenschaftliche Meta-Methode 242 Schlangenmodell „historischer“ Kausalerklärung 303 „The Transformational Model of Social Activity” 311 „The morphgenetic sequence“ der realistischen Sozialtheorie 312 „Strukturindividualistisches Erklärungsmodell“ 345 „Menschliche Wesen und ihre Subsysteme und Supersysteme“ 357 „Die logische Abfolge der zentralen Begriffe unserer Ontologie“ 362 „Holism: the individual is just a drop in the social sea (e.g., Marx) (b) radical individualism: individuals, who are free and mutually independent, are the source of everything social (c) institutional individualism: individuals are constrained by institutions (e.g., Weber) (d) internalist systemism: structure prevails over environment (e) environmentalist systemism: system embedded in environment (f) full-fledged systemism: the constituents interact both among themselves and with their environment” 377 „Systemintegration und soziale Integration in Netzwerken“ 390 Ein System aus vier Komponenten 409 „Macro- and micro-level propositions: effects of religious doctrine on economic organization” 419

XIV

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 30: „A black box theory regards its referent as a black box devoid of structure. Its overall behaviour is accounted for by peripheral variables I and O eventually linked by auxiliary (intervening) variables M” 442 Abbildung 31: „Relations among the five concepts of function (function1-5) in biology. The figure can be read from left to right (‚is needed to define‘), or else from right to left (‚implies‘)“ 443 Abbildung 32: Ein System und dessen Struktur 469 Abbildung 33: Bunges Boudon-Coleman-Diagramm zum Toqueville-Modell 481 Abbildung 34: „A typology of social mechanisms“ 508 Abbildung 35: „Distribution of Amber Beads in early Anglo-Saxon cemeteries“ 523 Abbildung 36: „Schematische Darstellung einer stadtrömischen Wasserleitung und der angeschlossenen Versorgungsbereiche“ 526 Abbildung 37: „Die Bevölkerung Laichingens 1605-1900“ 532 Abbildung 38: „Bevölkerung nach Vermögen im 14. Jahrhundert“ 537 Abbildung 39: „Bevölkerung nach Vermögen im 16. Jahrhundert“ 538 Abbildung 40: Forschungsgemeinschaften versus Glaubensgemeinschaften nach Bunge 549

1 Einleitung Der Zweifel ist ein Ausgangspunkt oder eine Zwischenetappe, nicht das Ziel (Bunge 2013b 1985, 71).

Dies ist ein Buch in Philosophie, „kleine Buchstaben, große Worte, kein Geschäft“ (A. Hitchcock, Rope). Da dieses Buch in Geschichtswissenschaftsphilosophie teilweise von Anfang bis Ende etwas anders ist, sei ein „narratives“ Kurzwort einleitend, bevor wir recht unvermittelt in die Materie einsteigen, vorweggeschickt. Es sollte einige Seltsamkeiten, die der eine oder andere Leser, je nach akademischer Herkunft, ausmachen wird, plausibilisieren oder „erklären“. Zu den offensichtlichen Besonderheiten gehört, dass ich nicht von Anfang an unterstelle, Philosophie sei relevant für Geschichtswissenschaft, sondern den Nachweis der Plausibilität einer solchen These einfordere und auch ansatzweise versuche. Die zweite Besonderheit besteht darin, dass ich nicht von Anfang an unterstelle, Geschichtswissenschaft könne in Geschichtsphilosophie als bekannt unterstellt werden. Wie das gemeint ist, wird in Kapitel 2 geklärt. Wir nehmen also hier den Ausgangpunkt beim Zweifel, behalten ihn auf den Zwischenetappen bei und versuchen darüber hinwegzukommen, vielleicht erst jenseits der folgenden Seiten. Chris McCullagh (2008, 273) schrieb: „I don’t know why historians by and large have little interest in philosophy of history.” Ich glaube es zu wissen. Wie auch sonst fast alles, ist dies ein Produkt von Zufall, Möglichkeit, Notwendigkeit, Naivität und am Ende Verzweiflung.

1.1

Vorwort als Einleitung

Die Arbeit geht zurück auf meine nun vergleichsweise lang zurückliegende Zeit am Historischen Seminar (an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster). Ich muss irgendwann die Idee gehabt haben, mich für eine Promotion in Geschichtswissenschaft zu präparieren. Das beginnt für gewöhnlich damit, dass man eine Forschungslinie und eine Problematik sucht. Die gleichsam interessante und umsetzbare geschichtswissenschaftliche Problematik wurde am Ende nicht gefunden oder ergab sich nicht. Vielleicht wurde sie einfach nicht weiter verfolgt. Stattdessen ergaben sich hin und wieder metatheoretische Fragen. Ich erinnere mich noch grob, dass ich mich bezogen auf Forschungskontexte in Spätmittelalter- und Frühneuzeitforschung fragte, was im Rahmen der Forschung unter „Prozessen“ verstanden wird, wie man eigentlich bezogen auf „Makro“-Themen oder -Prozesse, die teilweise Jahrhunderte übergreifen sollen, „Tatsachen“ feststellt oder Tatsachenhypothesen begründet und solche „Prozesse“ möglicherweise „erklärt“. Zur ungefähr gleichen Zeit irritierte und verwunderte mich der in Historischen Seminaren in metatheoretischen Äußerungen durchscheinende Konstruktivismus-Relativismus, der mit der praktischen Forschung eigentlich so gut wie nichts zu tun zu haben schien. Mancher schien gar nicht an die Existenz der Welt zu glauben. Durch Zufall stolperte ich im Philosophischen Seminar in ein Seminar mit dem Titel „Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Probleme der Geschichtswissenschaft“, in dem sogenannte „kontinentale“ und „analytische“ Literatur aus der Philosophie „der Geschichte“ verhandelt wurde. Überraschenderweise durfte man sich hier noch mit realistischem Vokabular äußern. Das war im Wintersemester 2006/07. Da ich einen meiner Hauptseminarleiter in Geschichtswissenschaft mit einem 80-Seiten-Manuskript bombardiert hatte, fiel mir für die Staatsexaminierung und zu obiger Problematik nichts Neues ein. Es blieben aber metatheore-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_1

2

1 Einleitung

tische Fragen. Es ergab sich eine metatheoretische Staatsexamensarbeit mit dem Titel „Historische Erklärung – Der Streit um die nomologische Struktur“, nun im Philosophischen Seminar. Ich hatte kurzfristig auch die naive Vorstellung, die Beschäftigung mit Metatheorie als Vorbereitung auf eine geschichtswissenschaftliche Studie zu nutzen. Die Vorstellung ist entscheidend im Hinblick auf viele der auf den nächsten sechshundert Seiten folgenden Seltsamkeiten oder Selbstverständlichkeiten. Zuvor oder beinahe zeitgleich hatte ich für den Fall, in dem sich doch noch eine Problematik fände, zu selbigem Zweck erneut in Lateinkursen gesessen. Es ergab sich dann die Möglichkeit, der von der DFG geförderten Forschergruppe Causes, Laws, Explanation and Dispositions at the Intersection of Science and Metaphysics beizutreten und das Teilprojekt Erklärungen, Kausalität und Gesetze in den historischen Wissenschaften zu beackern. Viele Geschichtswissenschaftler dürfte angesichts der Thematik irgendetwas zwischen Verwunderung und Panik befallen. Nach den ersten Monaten der weiteren, auf die Staatsexaminierung folgenden Beschäftigung mit der verstreuten philosophischen Literatur, befielen mich erste Zweifel darüber, inwiefern philosophische Ideen, z. B. im Umfeld von Kausalitätsproblematiken, mit der Arbeit in Historischen Seminaren zu tun haben und ob Geschichtswissenschaftler glauben würden, jene Literatur sei für sie relevant, wenn man sie ihnen vorlegte und sie diese verstehen könnten. Ich verstand sie natürlich auch nicht. Das Problem war hauptsächlich, dass eigentlich kaum geschichts- und sozialwissenschaftsnahe Literatur zu finden war, und dass diejenige Literatur aus dem Themenkontext, die verfügbar war, keinen Kontakt zu geschichtswissenschaftlicher Praxis oder Sozial(meta)theorie suchte. Zuvor hatte ich im Examinierungskontext dieselben Zweifel wohl mit dem Mut der Verzweiflung in Normativismus und Unklarheit versenkt. Auch die Lehren daraus sind recht entscheidend in der Genese der folgenden Seiten und der darin eingenommenen Haltung. Aufgrund dieser offenen Antworten auf unklare Fragen wechselte ich schnell teilweise das Spielfeld, indem ich in sozial(meta)theoretischen Gefilden zu wildern begann, vor allem vermittelt durch das schmale Mammutwerk von M. Schmid (2006a). Ich machte also dasselbe, was Nachwuchsgeschichtswissenschaftler und auch Profis machen, wenn sie sich für Metatheorie interessieren. Das heißt im Klartext, sie wenden sich nicht der Philosophie zu. In dieser Literatur zu sogenannten „sozialen Mechanismen“ gab es und gibt es direkte Anknüpfungen an die obige Thematik und die entsprechenden Begrifflichkeiten, nämlich Kausalität, Gesetze, Mechanismen, Dispositionen und Erklärung, und man bewegt sich zumeist in der Sozial(meta)theorie und nicht in der Philosophie. Geschichtswissenschaftler können in der Regel mit diesem Vokabular wenig oder nichts anfangen, aber man bewegt sich im Rahmen der sogenannten „Makro-Mikro-Makro“- oder „Struktur-versus-Handlung“-Problematiken, mit denen Nachwuchsgeschichtswissenschaftler per „akademischer Osmose“ (W. H. Sewell Jr.) beinahe notwendig in Kontakt kommen. Wenn man so will und wovon hier ausgegangen wird, dann kommen sie damit auch unvermeidlich mit jenen philosophischen Problematiken in Kontakt. Das heißt eventuell, sie betreiben Philosophie, ohne es unbedingt zu wissen, und sie bewegen sich in thematischen Bereichen, die ihnen vielleicht seltsam erscheinen, wenn sie außerhalb ihrer gewohnten Kontexte verhandelt werden, nämlich im Kontext von Begrifflichkeiten wie Erklärung, Gesetz, Kausalität oder Mechanismus. Ein Winter mit dem Critical Realism und dessen Pan-Dispositionalismus, der Mechanismusliteratur „mikrofundierender“, „analytischer“ und „erklärender“ Sozialtheorie und der philosophischen Systemik mündete in der Mitarbeit in einem Anschlussprojekt Erklärungen, Gesetze, Mechanismen und Mikrofundierung in den Sozialwissenschaften. Ein Sommer dazwischen mündete in einen Literaturbericht zur sogenannten „Philosophie der Geschichte“ (Plenge 2014b/c). Die Disparatheit der Literatur in der gesichteten Geschichtsphilosophie, Sozial(meta)theorie und Philosophie der Sozialwissenschaften führte dazu, dass die Naivität

1.1 Vorwort als Einleitung

3

der Vorstellung, zu metatheoretischen Fragen irgendetwas sagen zu können, (erneut) schnell dahinschwand. Die Widersprüchlichkeit zentraler Thesen und die Unterschiedlichkeit der Auffassungen der Gegenstände der metatheoretischen Reflexion erschienen mir zunehmend enorm, gerade auch bezogen auf die Geschichtswissenschaft. A. Tucker (2004a) hatte mir zwischenzeitlich den Floh ins Ohr gesetzt, dass meine Thematiken bezogen auf die „Wissenschaftliche Geschichtsschreibung“ („Scientific Historiography“) völlig obsolet seien, was meinen eigenen Zweifeln Nahrung gab, zumal ich noch weniger verstand als je zuvor und auch zunehmend keine Vorstellung mehr davon hatte, was der Gegenstand von Metatheorie („Philosophie“) der Geschichts- und Sozialwissenschaften genau ist. Zwischenzeitlich las ich zur Selbstvergewisserung natürlich immer mal wieder sporadisch in geschichtswissenschaftlicher Literatur, da mir u. a. M. Bunge eingeimpft hatte, als Philosoph einer Wissenschaft solle man dies in der Beschäftigung mit einer Wissenschaft tun, und ich mich zunehmend fragte, ob die Autoren aus der disparaten Literatur überhaupt ansatzweise einen geteilten Gegenstand vor Augen haben. Ohnehin interessierte mich ja eigentlich jene Forschung, was man in metatheoretischen Kontexten allerdings schnell mal vergisst. Nachdem die Zweifel bezüglich der Relevanz von Geschichtsphilosophie eigentlich auf dem Höhepunkt waren, erreichte die Skepsis mit der metatheoretischen Literatur im Kontext der sozial(meta)theoretischen Literatur zu sogenannten „Mechanismen“ schnell ihren Höhepunkt, denn (auch) dort schien jeder seine zentrale Terminologie leicht oder radikal anders zu verwenden, obwohl oder weil wechselseitige Klärungsbemühungen selten sind. Auch beinahe jeder bestimmt den Gegenstand von sozialwissenschaftlichen Erklärungen („Makro“) leicht oder radikal anders, weshalb sich ontologische Fragen auftaten, die schlicht betreffen, was denn eigentlich überhaupt erklärt und verstanden werden soll und wo denn die „Ursachen“ genannten Irgendwasse oder auch „Mechanismen“ genannten Irgendwasse zu verorten sind. Auch über Methodologie und Methoden schien eher wenig Einigkeit zu herrschen, was gerade dann misslich ist, wenn man einen Meta-Standpunkt sucht, aber selbst nicht forscht. Zum Beispiel ist aus der metatheoretischen Literatur zu allen Sozialwissenschaften teilweise leicht zu entnehmen, dass man hier unter Umständen gar keine Erklärungen von irgendetwas sucht und vielleicht auch gar nichts verstehen will. Es blieb noch die Wahl zwischen Abbruch und Neuanfang, denn eine irgendwie kohärente Sicht der Dinge – welche auch immer – war nicht in Sicht, zumal es galt, plumpen Normativismus zu vermeiden. Der Quasi-Neuanfang wurde in der Form der Mini-„Anatomie“ geschichtswissenschaftlicher Forschung versucht, d. h. dem recht konsequenten Rückbezug auf Forschungsliteratur. Wenn alle etwas anderes „erzählen“, muss irgendwo nach Erdung gesucht werden, wenn Apriorismus, Normativismus und alles in allem Dogma nicht die erste Wahl sein sollen. Ich war mir immer mehr nicht sicher, was für eine „Geschichte“ Philosophen „der Geschichte“ vor Augen haben, wenn sie metatheoretisierend über Geschichte schreiben und auch teilweise munter darüber urteilen, ohne irgendeinen geschichtswissenschaftlichen Text auch nur zu nennen. Ich selbst wusste auch weniger denn je, was Geschichtswissenschaft ist oder darunter verstanden werden könnte, was insofern unproblematisch schien, als in Historischen Seminaren darüber seit Jahrzehnten gestritten wird. Ob es diesbezüglich ein Vorteil war, dass ich im Rahmen meines Studiums die in der deutschen Geschichtswissenschaft üblichen Epochen abschreiten musste, wage ich nicht zu beurteilen, denn dies führt zu weiteren Komplikationen. Auch diese Monate der Beschäftigung mit nichts als geschichtswissenschaftlicher Literatur waren selbstredend naiv, führten letztlich zu der Schwierigkeit, das Gesichtete mit philosophischen, geschichtstheoretischen und sozial(meta)theoretischen Traditionen irgendwie – also wirklich: irgendwie – in Einklang zu bringen. Die folgenden Seiten sind das Produkt. Aus den ursprünglich geplanten, nicht zu überschreitenden 199 Seiten plus Anhang wurde bedauerlich mehr, ein Zeichen für bleibende Unklarheit.

4

1 Einleitung

Letztlich resultiert diese Nachspielzeit aus dem Rekurs auf Praxis, den Seitenblick auf Geschichts- und Sozial(meta)theorie und den Verbindungsversuch mit obigen, durchaus traditionellen philosophischen Thematiken, die zumeist gar nicht mehr auf der Agenda stehen, hier aber durch leicht andere Kontextualisierung sozusagen reanimiert werden. Hier wird auch versucht, durch Materialsammlung oder Materialschlacht etwas zu zeigen oder anzudeuten (d. h. z. B. Unklarheiten und mögliche Relevanz oder auch Irrelevanz), was ebenfalls verschiedentlich die Geduld des Lesers fordern wird, zumal das Material auch dazu dient, zuvorderst die Problematiken zu klären und die teilweise nicht überbietbare Konfusion in der Geschichtsphilosophie sichtbar zu machen.1 Einige zu vermutende Seltsamkeiten haben ihre Wurzel also auch in einer anderen Perspektive und Versuchen der Grenzüberschreitung. Teilweise schaue ich aus der Perspektive der gesichteten Praxis auf die Philosophie, teilweise umgekehrt. Teilweise schaue ich auf Geschichtstheorie aus der Sicht der Philosophie, teilweise umgekehrt. Teilweise schaue ich mit der gesichteten Sozial(meta)theorie auf Philosophie, teilweise umgekehrt, das natürlich immer in ganz engen Grenzen. Aus den jeweiligen Perspektiven wird man bei der Formulierung von Thesen beinahe notwendig in unterschiedliche Richtungen gezogen, was fortwährend eine Spannung erzeugt, die auch bis zum Ende nicht aufgelöst werden kann. Vermutlich wäre das Projekt auch versandet oder zu einem gewissen Zeitpunkt der „nagenden Kritik der Mäuse“ (Marx/Engels) übergeben worden, wenn durch einen Zufall nicht zweierlei zusammengekommen wäre. Ich kam zu der Vermutung, dass M. Bunges Systemismus im Rahmen der sozial(meta)theoretischen Mechanismusliteratur (oder Ontologie der Sozialwissenschaften) das klarste ontologische Angebot darstellt. Angesichts des Umstands, dass wenig klar ist, worum es in den Sozialwissenschaften genau geht, war dies ein zweiter Fixpunkt neben der Mini-„Anatomie“ der Forschung. Die Vermutung ergab sich dadurch, dass ich begann, die Terminologie verschiedener anderer Schulen in die Kategorientafel der Systemik zu übersetzen, womit sie entweder verstehbar wurde oder eben nicht. Insbesondere Strukturvokabular ließ sich nach und nach einordnen und (besser) verstehen. Mein letztes Seminar im Historischen Seminar hatte mit Individuum und Struktur zu tun, wenn dies nicht gar im Titel stand. Was mit „Struktur“ gemeint ist, wurde in diesem Rahmen in meiner Erinnerung nicht gefragt und wird auch sonst selten erläutert. Damit war die Antwort auf die Frage aber noch offen, ob die Systemik überhaupt mit irgendetwas in der geschichtswissenschaftlichen Praxis harmoniert, was ich glücklicherweise nicht unterstellte. Zugleich flatterte im April 2014 ein Manuskript mit dem Titel „Texte interpretieren“ (Scholz 2015a) ins Postfach. Obwohl die Thematik vordergründig nicht direkt zu obigen zu passen scheint, ergab sich eine Möglichkeit, die in dem Titel von Scholz 2016b klarer ersichtlich wird („Verstehen = Zusammenhänge erkennen“). Da ich zu diesem Zeitpunkt die Mini„Anatomie“ geschichtswissenschaftlicher Forschung wie auch die herangeschaffte Sozial(meta)theorie im Kurzzeitgedächtnis hatte, deutete sich zumindest die Perspektive an, die Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ durch die Verbindung von systemischer Ontologie, basaler Methodologie und Allgemeiner (nicht „philosophischer“) Hermeneutik sozusagen zu vereinheitlichen. Das war ein dritter Angelpunkt. Es mussten nur noch sozial- und/oder geschichtstheoretische Themen integriert und mit der Mini-„Anatomie“ (irgendwie) gearbeitet werden, um die Quadratur des Kreises zu erreichen. Ob sie ansatzweise gelingt, wird man am Ende sehen müssen. Denn hier wird auch insofern Forschung dargestellt, als bis zur Abfas1

Wenn man sich für die Dokumentation dieser Unklarheiten im Rahmen der Geschichtsphilosophie nicht interessiert, kann man auf die Lektüre eines Großteils der Fußnoten verzichten. Aus meiner Sicht resultiert die Nachspielzeit auch aus einem nun bis zu 40 Jahre aufgestauten Defizit an Analyse, das wir hier gewissermaßen ausbaden müssen und das auch teilweise die Sozial(meta)theorie auzuzeichnen scheint. Aber das nimmt bereits ein zentrales Ergebnis vorweg.

1.1 Vorwort als Einleitung

5

sung oder Skizzierung des letzten Kapitels nicht ansatzweise klar war, inwieweit die Verbindung überhaupt gelingen kann. Wie in der Geschichtswissenschaft auch, handelt es sich hier also, mit H. Medicks (1996), nicht ganz wörtlich zitierten Worten, um die „Darstellung eines Stücks Forschung und des Experimentierens“, nicht um die ganze und auch noch wahre Geschichte, noch nicht einmal um eine gänzlich wohlverplottete (integrierte). Marc Bloch schrieb bereits: „Eine falsch verstandene Geschichtsschreibung könnte durchaus, wenn man sich nicht in acht nimmt, eine besser verstandene in Verruf bringen“ (Bloch 2002 1949, 7). Bekanntlich glauben Geschichtswissenschaftler häufig, dass Geschichtsphilosophen Geschichtswissenschaft nicht (oder unzureichend) verstanden haben und auch daher immer mal wieder in Verruf bringen. Auch deshalb scheue ich den virtuellen Gang ins Proseminar Geschichte nicht, obwohl diese Studie einem Philosophischen Seminar entspringt. Das Folgende ist also ein Versuch, Geschichtsphilosophie in Auseinandersetzung mit einer Praxis und mit einem Seitenblick auf Geschichtstheorie und Sozial(meta)theorie zu betreiben. Der Rekurs auf Geschichts(meta)theorie müsste eigentlich breiter ausfallen. Unterschiedliche Leser werden die Klärungsskizze in unterschiedlichen Kapiteln aus unterschiedlichen Gründen womöglich seltsam finden. Geschichtstheoretiker und Geschichtsphilosophen werden sich gleichermaßen fragen, warum das scheinbar Offensichtliche (Kapitel 2, Kapitel 4) problematisiert oder scheinbar zum wiederholten Male neu erfunden werden muss. Ein Blick in jüngere Geschichtsphilosophie (Plenge 2014b/c) plausibilisiert die Strategie. Geschichtstheoretiker werden sich fragen, warum das Seltsame lang diskutiert werden muss und am Ende gar in eine Metaphysik mündet (Kapitel 5 bis 7), die von der Praxis, von der hier der Ausgang genommen wird, vielleicht weit entfernt ist. Eine Versöhnung wird zumindest versucht (Kapitel 8), denn die Vermutung ist, dass sie überhaupt nicht allzu weit entfernt davon ist, zumindest im Vergleich mit anderen Angeboten. Der Seitenblick in Geschichts(meta)theorie plausibilisiert die Vermutung genauso wie die konsultierte Forschungspraxis. Anders gesagt, die Entstehungs-„Geschichte“ (2.1, 7.3.5) dieser Metageschichtswissenschaft (2.4) birgt zwei Gefahren, die zwei bekannte Geschichtswissenschaftler beiläufig benannt haben. Dass ich als Nicht-Historiker im Historischen Seminar anzufangen gedenke, birgt „alle Gefahren der Willkür einer verkürzenden […] Konstruktion und des Neuzusammenstellens von immer schon Gewußtem“ (Medick 1996, 26). Wenn das immer schon Gewusste hier teilweise zusammengetragen würde, wäre ich allerdings ganz froh, denn es könnte sein, dass es in der Disparatheit der Metaliteratur versunken ist. Bezogen auf den Gedanken, im Historischen Seminar anzufangen, aber das dort Anzutreffende dann auch mit Philosophie und auch ein wenig Sozial(meta)theorie zu konfrontieren, könnte man auch befürchten, „daß man fast immer Gefahr läuft, einerseits mühsam das Offensichtliche aufzudecken, und andererseits sich bei dem aufzuhalten, was […] abwegig ist (Ginzburg 2002, 18). Hier wird also ein Bottom-up-Ansatz (Geschichtswissenschaft → Philosophie) mit einem Top-down-Ansatz (Philosophie → Geschichtswissenschaft) verbunden. Beides wird aufgrund der genannten und nun weiter zu beschreibenden Unwägbarkeiten des Verhältnisses von Philosophie, Geschichtstheorie wie auch Geschichtswissenschaft zu einer metageschichtswissenschaftlichen Klärungsskizze verbaut. Klärung bedarf es vornehmlich nur bei Problemen. Diese werden in Kapitel 2 weiter dargestellt. Hier war von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie die Rede, weshalb nun kurz geklärt werden muss, was damit an dieser Stelle gemeint ist, bevor der Verlauf der Studie kurz skizziert wird.

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1.2

1 Einleitung

Terminologie: Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie

Unter „Geschichtstheorie“ verstehe ich hier die Metatheorie, die innerhalb der Geschichtswissenschaft im disziplinären Sinne betrieben wird. Unter „Geschichtstheorie“ wird wohl recht Vielfältiges verstanden, was sich auch an der Heterogenität dieser Literatur ablesen lässt. Geschichtswissenschaftler nennen diejenige Metatheorie, die sie betreiben, jedoch regelmäßig selbst Geschichtstheorie oder Theorie der Geschichte und nicht Geschichtsphilosophie.2 Unter „Geschichtsphilosophie“ fasse ich das zusammen, was Philosophen, vornehmlich akademischer Herkunft, schreiben, wenn sie sich mit demjenigen, was sie zumeist „Geschichte“ (2.1) nennen, beschäftigen. Trennschärfe ist hier nicht beabsichtigt. Es ist aber klar, dass in diesen Bereichen unterschiedliche Themen regieren und man wenig und teilweise nichts miteinander zu tun hat. Einen Eindruck von Unterschieden und Überlappungen bekommt man auch, wenn man die neuesten Handbücher Companion to the Philosophy of History and Historiography (Tucker 2009a) und das SAGE Handbook of Historical Theory (Partner/Food 2012) heranzieht. Was unter „Geschichtsphilosophie“ verstanden wird, ist offensichtlich auch vielfältig. Kürzer gesagt, akademisch oder disziplinär betrachtet ist das Feld (überaus) unklar, in dem wir uns hier teilweise bewegen, obwohl wir beide Felder im Anschluss zum größten Teil beiseite schieben (müssen). Manchmal verwenden Autoren statt der Ausdrücke „Geschichtsphilosophie“ oder „Geschichtstheorie“ (Seifert 1980, Lorenz 1997) auch „theoretische Geschichte“ (Meier 1976), „Theorie der Geschichte“ (Gardiner 1959, Rama 1974, Wiersing 2007), „Methodologie der Geschichte“ (Topolski 1976), „Historische Theorie“ (Partner/Foot 2012, Fulbrook 2002a) oder auch „Philosophie der Geschichtsschreibung“ (Tucker 2004a, 2009b) und „(Analytische) Philosophie der Geschichte“. Zu dieser analytischen Spielart gibt es gar „Einführungen“ (Walsh 1956; Dray 1964, 1993; Atkinson 1978; Acham 1974, Gorman 1992), obwohl sich klare Programmatiken und Abgrenzungen wohl nie ergeben haben (Day 2008). Diese analytische Literatur ist Geschichtswissenschaftlern auch in ihrer Rolle als Geschichtstheoretiker (heute) zumeist unbekannt. Das ist an dieser Stelle erwähnenswert, da ich mich hier vornehmlich in dieser Sparte situieren würde. Manchmal war in neo-kantianischen Schulen auch von „Kritischer Philosophie der Geschichte“ die Rede. Auch die eher analytische Sparte wurde in früheren Zeiten „kritische“ genannt, vornehmlich in Abgrenzung zur (unkritischen) spekulativen Philosophie der Geschichte, die wohl zumeist im Deutschen als „Geschichtsphilosophie“ firmiert. „Historik“ (Rüsen 1986, 2013; Droysen 1972 1858) ist bekanntlich im deutschen Sprachraum zu finden. Ganz selten ist die Rede von „Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften“, wobei 2

D. h. dasjenige, was ich hier unter das Label „Geschichtstheorie“ subsumiere, ist recht oder gar äußerst heterogen. Ich fasse darunter genauso klassische, heute weitgehend unbekannte Lehrbücher zur Historischen Methode, Literatur zu spezifischeren Methoden in Hilfswissenschaften und Bindestrich-Geschichten, Literatur aus Kontroversen um Ansätze oder auch Literatur von Geschichtswissenschaftlern zu vermeintlichen Zentralausdrücken wie „Fakt“ sowie Verteidigungsliteratur gegenüber philosophischen Eindringlingen, z. B. zum sogenannten Postmodernismus. Ich zähle dazu aber auch Literatur mit Titeln wie „Proseminar: Mittelalter“ oder „Freud (oder Luhmann oder Foucault oder x) für Historiker“. Auch Auseinandersetzungen mit spekulativer Geschichtsphilosophie auf geschichtswissenschaftlicher Seite gehören dazu. Beispiele für Geschichtstheorie sind Abrams (1982), Appleby et al. (1995), Baberowski (2005), Beard (1934, 1935), Becker (1932, 1955), Brzechczyn (2009b), Bernheim (1908), Bloch (2002 1949), Borowsky (1989), Cardoso (1982), Cardoso/Brignoli (1984), Chitnis (2012), Collingwood (1994 1946), Daniel (2002), Elton (1967), Evans (1999), Fischer (1970), Forland (2004, 2008), Frings (2007b), Fulbrook (2002a), Gaddis (2002), Goertz (1995), Goertz (2007), Gottschalk (1951), Hexter (1971a/b), Imhof (1977), Medick (1984a), Marwick (2001), Milligan (1979), Norkus (2005, 2007), Paravicini (2010), Roberts (1996), Ruloff (1985), Sewell (2005), Tilly (2008), van Dülmen (2001), Wehler (1980).

1.3 Skizze des Verlaufs der Klärungsskizze, Lektürevorschlag

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unter die Geisteswissenschaften dann auch Geschichtswissenschaft fallen soll (SimonSchäfer/Zimmerli 1975). Von „Wissenschaft“ oder „Wissenschaftstheorie“ ist in diesen Bereichen fast nie die Rede, was daran liegt, dass Geschichte (2.1) außerhalb des deutschen Sprachraums zumeist nicht zu den Wissenschaften („sciences“) gezählt wird (2.1) und die philosophische Wissenschaftstheorie sich – vielleicht auch aus diesem Grund – nicht signifikant mit Geschichte (2.1) oder Geschichtswissenschaft befasst hat und befasst. Letztlich kann kein Zweifel bestehen, dass das Feld unüberblickbar ist (Plenge 2014b/c). Wie dem auch sei, besonders die früher auch als „angelsächsisch“ bezeichnete analytische („kritische“) Philosophie der Geschichte sollte nicht mit der eher deutschen Geschichtsphilosophie oder Philosophie der Geschichte verwechselt werden. Für vermutlich die meisten Akademiker meint „Philosophie der Geschichte“ oder „Geschichtsphilosophie“ wie noch für M. R. Cohen (1947, 9) grob „a conception or picture of the whole course of human events as a continuous unitary play in which successive generations or eras play distinctive parts“. Auch Geschichtswissenschaftler haben vermutlich zumeist noch immer, wenn von Philosophie der Geschichte die Rede ist, Thesen über den „Gesamtverlauf der Geschichte“ vor Augen, denn sie fragen häufiger, ob man sich mit bestimmten Personen beschäftige, die in meinem Literaturverzeichnis nicht vorkommen (siehe Literaturverzeichnis), wenn man sagt, man betreibe Geschichtsphilosophie. Daher lehnen sie Geschichtsphilosophie auch zumeist ab und nennen ihre metatheoretischen Projekte anders, z. B. „Theorie der Geschichte“ oder „Geschichtstheorie“. An dieser Stelle ist nur zweierlei von Wichtigkeit: Erstens spielt hier jene spekulative Philosophie „der Geschichte“ keine Rolle. Zweitens unterscheide ich jene beiden Gruppen terminologisch. Diese Terminologie ist zwar in keiner Hinsicht eindeutig und die jeweiligen Gruppen sind in sich äußerst heterogen. Es ist aber klar, dass die Projekte sich hinreichend unterscheiden, weshalb die eine Gruppe im Normalfall die Literatur der anderen nicht oder kaum konsultiert. Dies lässt sich leicht anhand von Bibliographien überprüfen. L. Mink (1966, 24) schrieb über dieses Verhältnis von „guild-historians” und „guild-philosophers” bereits: „[T]he fact seems to be that there is an absence of either agreement or controversy between philosophers and historians who devote some thought to problems of historical knowledge.” Letztlich liegt in dieser Studie der Fokus weder auf den Beiträgen der einen heterogenen Gruppe noch auf denen der anderen, da ich versuche, problemorientiert vorzugehen. Dabei bediene ich mich im Bereich der Geschichtsphilosophie zunächst als Abgrenzungsfolie und Problemgenerator, weil Geschichtstheoretiker von ihr in aller Regel wenig halten (2.2). Anschließend bediene ich mich freimütig in beiden Gruppen, vornehmlich jedoch wohl außerhalb. Eine exaktere Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen Traditionen („Schulen“, „Paradigmen“, „Ansätzen“, „Turns“) liegt außerhalb des Rahmens dieser Studie, wäre aber notwendig. Die Formulierung, Abgrenzung und Verteidigung jener Ansätze (4.1, 5.6) ist aber sicherlich das Kerngeschäft dessen, was hier „Geschichtstheorie“ genannt wird.

1.3 Skizze des Verlaufs der Klärungsskizze, Lektürevorschlag Zur groben Orientierung des Lesers will ich kurz skizzieren, wie „die Geschichte“ im weiteren Verlauf ihren Gang nehmen wird. Es soll hier ansatzweise problem- und nicht personenorientierte Philosophie der Geschichtswissenschaft betrieben werden. Damit ist auch verbunden, dass vor einem Hintergrund von Überzeugungen Fragen gestellt werden, wobei notwen-

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1 Einleitung

digerweise diese Fragen und ihre Antworten diejenigen nicht unbedingt interessieren müssen, die jenen Hintergrund nicht teilen (5.1). Um problemorientiert vorgehen zu können, wird im Folgenden (Kapitel 2.1) geklärt, was hier unter „Geschichtswissenschaft“ verstanden wird. Dies muss ansatzweise am Anfang geklärt werden, da der Gegenstand dieser Studie vornehmlich Geschichtswissenschaft sein soll und nicht Geschichtsphilosophie. Am Rande klären wir kurz die Bedeutungen des Ausdrucks „Geschichte“ in den sich im Rahmen der Metatheorie am meisten aufdrängenden Verwendungen (2.1). Dem Kapitel wird mit der Frage „Wohin mit der Geschichtsphilosophie?“ ein weiterer Rahmen gegeben, was andeutet, dass nicht klar ist, worum es sich dabei handelt. Die erste Frage scheint trivial, lautet aber „Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?“. Die Problematik wird dann weiter begründet, indem die Frage gestellt wird, warum es sich lohnen könnte, sich mit Geschichtswissenschaft im dann bestimmten Sinn erneut zu beschäftigen. Eine Antwort ist, dass die Geschichtsphilosophie keinen klaren Stand der Dinge zu einem klaren Gegenstand hervorgebracht hat. Die zweite Antwort ist, dass Geschichtstheoretiker behaupten, Geschichtsphilosophen beschäftigten sich zu wenig (oder gar nicht) mit diesem Gegenstand, den ich „Geschichtswissenschaft“ nenne. Das führt erneut zu dem Ergebnis, dass die Antwort auf die Frage „Wohin mit der Geschichtsphilosophie?“ vor dem Hintergrund des geschilderten Überzeugungs- oder Hypothesenhintergrunds „Ins Historische Seminar!“ lauten muss. Diese Programmatik wird vertiefend durch die Feststellung begründet, dass Geschichtstheoretiker seit einhundertundfünfzig Jahren behaupten, die eine Geschichtswissenschaft als klar konturierte Disziplin existiere überhaupt nicht. Das ist problematisch, da die Philosophie „der Geschichte“ gewöhnlich voraussetzt, es gäbe so eine einzige, sich durch klare Charakteristiken auszeichnende Geschichte (Geschichtswissenschaft oder Geschichtsschreibung). Es wird dann eine Heterogenitätshypothese formuliert (2.3) und beiläufig wird die simple Frage „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ gestellt, womit wir der philosophisch aufgeladenen Fragestellung „Was ist Geschichtswissenschaft?“ vorerst aus dem Weg gehen (bis Kapitel 8.2). Wir umgehen damit auch z. B. traditionelle Fragen um das Verhältnis von Wissenschaft und Geschichte, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, Sozialwissenschaft und Geschichte und damit Fragen aus dem philosophischen Kontext bezüglich desjenigen, was manchmal mit eher ontologischer Zunge „Naturalismus“, manchmal „Methodenmonismus“ genannt wird. Die simple Frage „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ wird auch gestellt (2.3), weil Geschichtsphilosophen gänzlich unterschiedliche Auffassungen von dem Gegenstand haben, der zumeist „Geschichte“, von mir aber „Geschichtswissenschaft“ genannt wird. Die Frage „Ist klar, worum es sich bei diesem Gegenstand handelt?“ wird also verneint, was erneut im Rahmen einer Klärungsskizze den Gang ins Historische Seminar erforderlich macht, das heißt, in nicht-metaphorischer Sprache formuliert, die Sammlung von Impressionen aus Forschungsliteratur, die hier als „geschichtswissenschaftlich“ klassifiziert wird. Was ich darunter verstehe, wird kurz und auf eigentlich selbstverständliche Art erläutert, die nur vor dem Hintergrund der geschichtsphilosophischen Lage expliziert werden muss (Kapitel 3.1). An dieser Stelle werden alle traditionellen Fragen und Antworten aus der geschichtsphilosophischen Tradition eingeklammert, bevor wir uns einer Praxis widmen, die nicht als „beste Praxis“ aufgefasst werden kann (2.3). Zum Beispiel werden Thesen zu Erzählung, Verstehen und Erklärung genauso eingeklammert wie damit Verbundenes (z. B. Nomothetik versus Idiographik, Kausalismus versus Antikausalismus, Struktur versus Handlung). Im Anschluss werden einige Impressionen aus dem Sample beschrieben (3.1.1 bis 3.1.9), was an Terminologie von Maurice Mandelbaum anknüpfend eine „Anatomie geschichtswis-

1.3 Skizze des Verlaufs der Klärungsskizze, Lektürevorschlag

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senschaftlicher Forschung“ ergibt, allerdings natürlich in einer Mini-Version. Ihr unzureichender und letztlich zufälliger Charakter wird von Anbeginn eingestanden. Nachdem zuerst der Eindruck der Heterogenität der Geschichtswissenschaft nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist und sich einige traditionelle philosophische Auffassungen bezogen auf „die Geschichte“ als einseitig oder gänzlich falsch erweisen (3.2), wird kurz die scheinbar triviale Frage „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ beantwortet (Kapitel 4). Hier bewegen wir uns, ohne schlechtes Gewissen, im Proseminar Geschichtswissenschaft. Obwohl auch die Ziele von Geschichtswissenschaftlern hier von Anfang an nicht als klar unterstellt werden und unterstellt werden können (2.2), steht im Hintergrund die Thematik, die traditionell mit Wörtern wie „Erklärung“, „Verstehen“ und „Erzählung“ beschrieben wird. Es wird daher anschließend (in Kapitel 4.2) die Frage „In welchem Verhältnis stehen die Erklären-Verstehen-Erzählung-Kontroversen zur geschichtswissenschaftlichen Praxis der MiniAnatomie?“ gestellt. Sie wird mit „In der Relation der Irrelevanz!“ beantwortet, was neue Probleme ergibt. Denn obwohl die traditionelle Literatur aus der hier eingenommenen Perspektive die gesichtete Praxis kaum oder gar nicht einfangen kann, benennen unsere SampleGeschichtswissenschaftler ihre Ziele doch teilweise mit „Erklärung“ und „Verstehen“. Das ergibt das Problem für Kapitel 5. Das ist das nach wie vor komplexe Problem der Klärung, was mit „Erklärung“ und „Verstehen“ gemeint ist oder gemeint sein soll. Das versuchen wir im Kapitel 5 zu klären. Dabei werden unterschiedliche grobe Erklärungsbegriffe aus der Metatheorie (vor allem der Allgemeinen Wissenschaftstheorie) zusammengetragen, die anschließende Verwendung von „Verstehen“ wird auf der Basis eines Vorschlags aus der Allgemeinen Hermeneutik geklärt und wir generieren ein Forschungsprogramm dadurch, dass wir unterstellen, dass jede geschichtswissenschaftliche Forschung mit einem Problem beginnt und Verstehen (idealtypisch) zum Ziel hat. Neu ist das nicht, denn z. B. in Geschichtstheorie findet sich die Grundidee natürlich fast überall. Das Forschungsprogramm gründet auch auf die These, dass immer ein Zusammenhang zwischen Erklärung und Verstehen besteht. Auch das ist nicht mehr neu, aber diese These entstammt weder der Geschichtsphilosophie noch der Geschichtstheorie, denn dort herrschen ja traditionell Dualismen vor. Diesen Zusammenhang bzw. die Problematik diesbezüglich versuchen wir im Kontext unserer Überlegungen etwas zu klären. Wir klären auch mit Seitenblick auf Sozial(meta)theorie, was hier unter „Verstehen“ nicht verstanden wird und auch nicht verstanden werden sollte. Auf ontologische Problematiken sind wir zu diesem Zeitpunkt beiläufig gestoßen. Nicht nur generieren Geschichtswissenschaftler ihre Forschungsprobleme teilweise auf der Basis von Ansätzen, die ontologische Hypothesen implizieren oder zu implizieren scheinen (4.1.5). Unterschiedliche geschichtstheoretische Traditionen verknüpfen zudem ontologische Kategorien (oder Quasi-Kategorien) mit epistemischen Zielen, z. B. Erklärung mit Struktur und Prozess einerseits und Verstehen mit Ereignis und Handlung andererseits. Auch Erzählung wird manchmal mit Ereignis und Handlung korreliert. Die Impressionen diesbezüglich aus der Geschichtstheorie werden zwar aufgenommen, aber vor dem Hintergrund der Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ geschichtswissenschaftlicher Forschung für willkürlich und vor dem Hintergrund unserer Allgemeinen Hermeneutik für ebenso unhaltbar gehalten. Ferner bleibt eine Klärung von ontologischen Kategorien wie „Struktur“, „Prozess“ und „Ereignis“ zumeist aus. Diese Klärung wird in Kapitel 7 unternommen. Eine weitere Problematik ergibt sich dadurch, dass hier ab Kapitel 5 vorausgesetzt wird, dass Geschichtswissenschaftler im Speziellen und Sozialwissenschaftler im Allgemeinen etwas verstehen wollen, aber nicht klar ist, was überhaupt verstanden werden soll (oder auch verstanden werden kann). Ferner wird dies selten auf philosophischer Seite problematisiert, obwohl Geschichts- und Sozial(meta)theoretiker immer wieder und jüngst erneut behauptet

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1 Einleitung

haben, neben Methoden seien gerade die Gegenstände der Sozialwissenschaften, darunter die Geschichtswissenschaften, unklar. In der philosophischen Tradition, besonders im Rahmen der Geschichtsphilosophie, findet man zu diesen Gegenständen wenig, gerade auch beispielsweise im Kontext der Rede von „Kausalität“, oder die Kategorien, die Geschichts- und Sozialwissenschaftler verwenden, kommen kaum vor. Ohne eine wenigstens grobe Eingrenzung des Gegenstandes oder der Gegenstände lässt sich aber über geschichtswissenschaftliche Probleme und auch geschichtswissenschaftliches Verstehen nichts sagen. Auch über Erklärung, Kausalität, Gesetze und auch Mechanismen lässt sich ohne Gegenstände nichts sagen, natürlich auch nicht zu ontischen Geschichten oder der Rolle von „Strukturen“ genannten Gegenständen in Erklärung, Verstehen oder Erzählung. Eine weitere ontologische Problematik wird in Kapitel 6 mit der Frage „Gibt es ein Ontologiedefizit in der Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur?“ skizziert. Es bleibt nicht aus, sie zu bejahen. Weder im Rahmen der Literatur zu Subsumtionsmodellen („Covering Law“) noch in Handlungserklärungsgeschichtsphilosophie oder in Vorstellungen zu Kausalerklärungen, dem „Social Realism“ (Critical Realism oder Pan-Dispositionalismus) und dortigen Vorstellungen der Erklärung durch dasjenige, was (dort!) „Mechanismus“ genannt wird, finden sich irgendwelche, klare oder unproblematische Vorstellungen zu (a) den Gegenständen im Allgemeinen und (b) den Relationen, in denen diese Gegenstände stehen oder stehen sollen. Signifikante Beispiele aus der Forschung sind bezüglich aller dieser Traditionen in der Philosophie der Geschichte wie auch der weiteren Metaliteratur letztlich nicht zu finden. Wo dies möglich ist, werden Beispiele aus der Mini-„Anatomie“ zusammengetragen. Die Frage nach Relationen wird explizit gestellt, da wir zuvor die These übernehmen, dass jedes Verstehen (und Erklärung/Erklären) etwas mit dem Erfassen (oder Beschreiben, Modellieren) von Zusammenhängen (Relationen, Beziehungen etc.) zu tun hat. Das ergibt die Frage, um welche Relationen es sich dabei handelt, zumal alle Kandidaten, die Philosophen favorisieren, in Geschichts- und Sozial(meta)theorie umstritten sind oder als irrelevant gelten. Zuvor (Kapitel 4.2) wurde schon zum Problem erhoben, dass es im Rahmen der Mini„Anatomie“ keine überwältigende oder signifikante Zahl von Fällen von Kausalerklärungen und nomologischen Erklärungen gibt, auch keine von „narrativen“ Erklärungen oder von Erklärungen von Handlungen. Vor dem Hintergrund der Traditionen der Philosophie könnte man die These aufstellen, dass Geschichtswissenschaftler überhaupt nichts erklären, verstehen oder erzählen, wenn man das dortige Verständnis von „erklären“, „verstehen“ und „erzählen“ voraussetzt. Die Diagnose wird in Kapitel 6 zum einen etwas gelindert und zugleich verschärft, da sich dann wenigstens einige Fälle finden lassen, wenn man aus der globalen Sicht auf die Studien der Mini-„Anatomie“ („Vogelperspektive“) in eine detailliertere Sicht („Straußperspektive“) wechselt. Zum anderen nehmen die Probleme nur zu, wenn man die Literatur beispielsweise zur Kausalitätsproblematik im Rahmen der Geschichts- und Sozialwissenschaften sichtet. Am auffälligsten ist, dass es nicht nur über die Kausalrelation keinerlei Einigkeit gibt (und im Rahmen von Geschichts- und Sozial(meta)theorie letztlich wenig Literatur), sondern auch nicht über die möglichen Relata von Kausalrelationen im Sozialen (Makro-Mikro, Struktur-versus-Handlung, Mikro-Makro, Makro-Makro etc.). Auch einige Probleme bezogen auf Relata und Relationen in ausgewählten Traditionen „narrativer“ Erklärungsvorstellungen werden gestreift. Eigentlich bedürfte es hier jeweils längerer Kapitel zu (i) Subsumtionsmodellen, (ii) Handlungserklärungen, (iii) narrativen Erklärungsvorstellungen, (iv) Kausalerklärungen und (v) mechanismischen Erklärungen, womit man die groben Schulen der Traditionen der Philosophien der Geschichts- und Sozialwissenschaften beisammen hätte („Positivismus“, „Her-

1.3 Skizze des Verlaufs der Klärungsskizze, Lektürevorschlag

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meneutik“, „Narrativismus“, „Kausalismus“, „Realismus“).3 Das heißt, die Diskussion der Vor- und Nachteile bezogen auf alle diese Vorstellungen, auch in Auseinandersetzung mit der Mini-„Anatomie“ und eine mögliche Vereinheitlichung der Debatten, die wir in Kapitel 8.1 skizzieren, fällt vielleicht weniger differenziert aus als möglich wäre. Das ist insofern schade, als hier auch der Versuch unternommen wird, vor dem Hintergrund der Praxisbeispiele ein höheres Maß an Differenzierung anzustreben und Metaideologie einzudämmen. Da ein Ontologiedefizit diagnostiziert wird, das auch Sozial(meta)theoretiker in jüngerer Vergangenheit vehement diagnostiziert haben, ergibt sich das Desiderat einer kategorial komplexeren und sozialwissenschaftsnahen Ontologie, welche es erlaubt, ansatzweise (mögliche) Gegenstände der Geschichts- und Sozialwissenschaften entweder klarer zu benennen oder wenigstens kritisch zu diskutieren. Das wird versucht, indem Mario Bunges, in der „westlichen“ Philosophie wenig zitierte, wenn auch wohl öfters mit Abstrichen neu erfundene, Systemik und die dort enthaltene Kategorientafel kritisch erörtert und mit Sozial(meta)theorie und einigen Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ konfrontiert wird (und umgekehrt). Dadurch kann das zentrale Begriffsarsenal der Sozialwissenschaften (System, Aggregat, Gruppe, Struktur, Ereignis, Prozess, Geschichte, Emergenz, Institution, Situation, Mechanismus etc.), jenseits von letztlich unklaren begrifflichen Oppositionen („Struktur versus Ereignis“, „Prozess versus Handlung“), kategorialer Verarmung und kategorialer Isolation in Form von Einkategorienontologien (z. B. Ereignis oder Struktur oder Handlung) zumindest geklärt werden, indem es in einem systematischen Rahmen situiert wird.4 Das führt letztlich auf die notorische „Mikro-Makro“- oder „Structure-Agency“-Problematik in ontologischer Perspektive. Nicht nur können potenzielle Gegenstände im Rahmen der Systemik benannt werden, sondern auch Fragen bezogen auf Problematiken zu „Sozialer Kausalität“ oder „Makro-Mikro“-Kausalität können klarer gestellt werden, da die potenziellen Relata der Kausalität benannt werden können. Hier muss man im Blick haben, dass hier ein Klärungsversuch unternommen wird, der sich auf Fragen am Schnittpunkt von Ontologie, Sozial(meta)theorie und Geschichtstheorie bezieht, was auch heißt, dass dieser Schnittpunkt für diejenigen nicht relevant ist, die jene Problematik nicht teilen, d. h. für viele Geschichtsund Sozialwissenschaftler. Anders gesagt, die Vielfalt der Gegenstände von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern in der Vielzahl der Ansätze wird natürlich nicht in den Fokus kommen (8.1). Der Fokus auf die zuvor als notwendig erachtete Ontologie der Geschichts- und Sozialwissenschaften wird dann insofern relativiert, als die These vertreten wird, dass die Problematik der Makro-Mikro-Verbindung letztlich keine ontologische ist, sondern eine substanziell theoretische. Obwohl die (philosophische) Systemik das Begriffsarsenal der erklärenden, analytischen oder mechanismus-basierten Soziologien sehr gut abdeckt, überaus klar ist und ferner auch der geschichtstheoretischen Entwicklung der letzten 50 Jahre in ihrer Tendenz ge3

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Eine adäquate „Geschichte“ diesbezüglich gibt es meines Wissens noch immer nicht, was auch am Mangel an Interdisziplinarität liegen dürfte. Die vielen Seitenzweige der Geschichts- und Sozial(meta)theorien sind hier noch gar nicht berücksichtigt. Weil man Sozialtheorie oder Soziologische Theorie oder Gesellschaftstheorie oder Kulturtheorie manchmal nicht von Philosophie unterscheiden kann und ferner auch unter Sozialtheoretikern als umstritten und unklar gilt, was dort unter „Theorie“ jeweils verstanden wird, war im ursprünglichen Titel dieser Studie von „Sozial(meta)theorie“ die Rede. Der Begriff ist auch im weiteren Text zu finden. Da es systematische Überlappung von Sozialtheorie und Philosophie gibt, was nun auch im Titel angedeutet wird, behandeln wir auch beides vor dem Hintergrund der Problemlage im Ontologiekapitel (Kapitel 7). „Sozialmetatheorie“ meint in dieser Studie aber letztlich jene Metatheorie, die in anderen Sozialwissenschaften (mit der Ausnahme der Geschichtswissenschaften; 1.2) betrieben wird. Frings (2016) ist zu entnehmen, dass Historiker keine Einigkeit darüber erzielen konnten, was sie unter „Theorie“ oder „Theorien“ verstehen wollen. Das gilt auch für jene Theorie, von der in „Geschichtstheorie“ die Rede ist.

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recht zu werden verspricht, wird eine realistische Deutung dieser Ontologie aufgeschoben, da nicht klar ist, welche Ergebnisse, Modelle oder Theorien in den Geschichts- und Sozialwissenschaften eine realistische Deutung begründen können. Zudem fehlt noch ein expliziterer Abgleich der Systemik mit den genannten Metatheorien und entsprechender Forschungspraxis, auch in den Geschichtswissenschaften. Letztlich sind dies jene Hypothesen, Modelle oder Theorien, die nicht nur Makro-Mikro-Makro-Probleme zufriedenstellend lösen könnten, sondern auch jene, die einen herausgehobenen, onto-methodologischen Erklärungsanspruch von sozialen Prozessen (oder Geschichten; 7.3.5) rechtfertigen könnten, jenseits von rein pragmatischen oder erotetischen Erklärungsvorstellungen (5.4). In Kapitel 8.1 wird das Forschungsprogramm zum Verstehen und zum Zusammenhang von Erklärung und Verstehen vor dem Hintergrund der systematischen Ontologie der Systemik wieder aufgenommen und beides mit den Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ konfrontiert, was wenigstens die Perspektive einer pluralistischen, aber dennoch mit der Tendenz zur Vereinheitlichung ausgestatteten Metatheorie der Geschichtswissenschaften ergibt, die mit der Heterogenität dieser Wissenschaften zumindest besser umzugehen erlaubt. Die Notwendigkeit einer pluralistischen Sicht hat sich bereits in Kapitel 4.2 ergeben. Die Ontologie hat hier also einen methodologischen Fluchtpunkt und ist insofern wissenschaftsorientiert. Sie ist insofern wissenschaftsnah, als zumindest angestrebt wird, die fortschreitende geschichtsund sozial(meta)theoretische Diskussionslage aufzunehmen, zumindest perspektivisch, obwohl sie, wie teilweise auch gezeigt wird, auf bewundernswerte Art und Weise bereits im Rahmen der Bungeschen Systemik aufgenommen worden ist. Die Ontologie ist auch insofern wissenschaftsnah, als sie letztlich nur durch geschichts- und sozialwissenschaftliche Theorien, Modelle und Hypothesen gestützt werden kann. Ob diese existieren, bleibt hier allerdings offen. Vielleicht ist die Zurückhaltung an dieser Stelle bloß taktischer Natur. Sie soll aber dazu einladen, die Sozialwissenschaften im Hinblick auf das vorhandene oder auch nicht vorhandene Wissen zu befragen, statt generisch dessen Unmöglichkeit vorauszusetzen. In Kapitel 8.2 wird kurz, vor dem Hintergrund der Voraussetzung eines Wissenschaftsverständnisses und im Rückgriff auf die Studien der Mini-„Anatomie“, die (traditionelle) Frage „Ist Geschichtswissenschaft eine Wissenschaft?“ beantwortet. Vor dem Hintergrund der Auswahl aus der Mini-„Anatomie“ spricht nichts dagegen, dass die Antwort weitgehend positiv ausfällt. Es wird auf der Basis dieses Wissenschaftsverständnisses und des Vorangegangenen grob geklärt, in welchen Hinsichten Geschichtswissenschaften heterogen sind, was weitere Forschungsperspektiven für eine Metageschichtswissenschaft eröffnet. Da die Auswahl der Beispiele aus der Mini-„Anatomie“ letztlich willkürlich und nicht repräsentativ ist, werden an der positiven Antwort leise Zweifel geäußert und ferner eine Vermutung darüber aufgestellt, warum so viele Philosophen seit Dekaden Schwierigkeiten damit haben, Geschichtswissenschaft („history“) als Wissenschaft („science“) einzustufen. Aus der hier eingenommenen Perspektive liegt die (bereits alte) Vermutung nahe, dass sie regelmäßig den Gegenstand einfach verfehlen, weshalb die umständliche Festlegung des Gegenstands am Anfang (2.1) keineswegs zu pedantisch ist. Vorstellungen dessen, was Geschichte oder Geschichtswissenschaft ist, werden in der Philosophie allzu häufig offenbar a priori vorausgesetzt und entstammen nicht einer Beschäftigung mit Geschichtswissenschaft. Die Vermutung ergibt sich später auf der Basis der Mini-„Anatomie“ (Kapitel 3) von ganz alleine, obwohl Geschichtstheoretiker dies schon immer vermutet haben (2.2). Zu dem Ergebnis gelangt man aber wohl bloß, indem man traditionelle philosophische Fragen zum Verhältnis von Geschichte und Wissenschaft, der „wissenschaftlichen Methode“ und einer „historischen Methode“ oder der „Methode der Historischen Wissenschaft“ und jeglichen Normativismus zunächst ausblendet. Dann kommt eventuell auch heraus, dass Ge-

1.3 Skizze des Verlaufs der Klärungsskizze, Lektürevorschlag

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schichtswissenschaftler der wissenschaftlichen Methode oder so etwas ähnlichem folgen (Kapitel 5, 7.1, 8.2). Damit kommen wir zur Lektüreempfehlung. Diese Studie ist aufgrund ihrer Entstehung und des Versuchs der Interdisziplinarität von Anfang bis zum Ende explorativ angelegt. Wie man Philosophie „der Geschichte“ betreiben kann oder soll, ist noch eine offene Frage, zumal sogar keine Einigkeit über den Gegenstand besteht. Es gibt zwar, wie angedeutet wurde, einen roten Faden und der Pfiff des Ganzen hängt letztlich von dessen Plausibilität ab. Das Ganze lässt sich aber auch als ein Gebilde aus locker integrierten Bausteinen auffassen, die man teilweise unabhängig voneinander lesen kann. Das etwas unbefriedigende Ende (bereits in 8.1) lasse ich an dieser Stelle offen. Wenn man sich für Ontologie der Sozialwissenschaften am vermuteten Schnittpunkt von Philosophie, Geschichtstheorie und Sozial(meta)theorie interessiert, dann bietet es sich an, Kapitel 7 zu lesen und alles andere zu ignorieren. Die Genese der ontologischen Problematik lässt sich dann zum Beispiel in Kapitel 6 kurz studieren. Die Einbettung in den Kontext der Problematik des Verstehens findet sich in Kapitel 5.5. Wenn man sich bloß für eine etwas andere Sicht auf Verstehen und das Verhältnis von Erklärung und Verstehen (und auch „Erzählung“) interessiert, bietet es sich an, Kapitel 5 zu lesen und gegebenenfalls auf die Genese der Problematik in Kapitel 4.2 zurückzugreifen. Weiteres zur „Geschichte“ der Debatte findet sich dann in Kapitel 6, allerdings weitgehend aus ontologischer Perspektive. Wenn man sich für Proseminargehalte zur Frage „Was ist Geschichtswissenschaft?“ interessiert, kann man auf Kapitel 4.1 zurückgreifen und alles andere ignorieren. Will man die Frage „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ philosophisch vertiefen oder zur Frage „Ist Geschichtswissenschaft Wissenschaft?“ aufblasen, kann man direkt zu Kapitel 8.2 springen und ggf. in Kapitel 2.1 kurz nachvollziehen, warum die Frage in der Philosophie mal als wichtig erschien und weltanschaulich aufgeladen gewesen ist. Die dort vorausgesetzte Ontologie findet sich dann erneut in Kapitel 7. Wenn man lediglich einen kurzen Schnupperkurs in geschichtswissenschaftlicher Praxis oder, besser, demjenigen, was hier dafür gehalten wird, machen möchte, kann man einzig Kapitel 3 lesen und dann entscheiden, ob einen so etwas dann noch weiter interessiert, denn aus der einen oder anderen Perspektive wird dies als recht langweilig erscheinen. Wenn man sich bloß für Philosophie interessiert, sollte man dieses Kapitel meiden. Wer bloß etwas zur Bedeutungsvielfalt von „Geschichte“ erfahren möchte, findet dazu etwas in Kapitel 2.1, also den Stoff für die zweite Sitzung im Proseminar Geschichte. Diese Studie sollte ohne philosophische Vorkenntnisse verstehbar sein, zum Beispiel auch in dem Fall, in dem sich Geschichtswissenschaftler oder Nachwuchsgeschichtswissenschaftler hierhin verlaufen. Auch um diese einzuladen (vgl. McCullagh 2008), wird die Relevanz von Philosophie nicht vorausgesetzt, sondern zur Debatte gestellt. Einzig das eingekürzte Kapitel 6.3 setzt hier oder dort sicherlich etwas voraus. In Hüttemann 2013 findet man alles, was man eventuell für kleinere Kontextualisierungen der vertrackten Kausalitätsproblematiken braucht. In Plenge 2014a findet man, was man zur Einordnung des critical realism minimal benötigt, dessen breitere Exposition der Eindämmung des Manuskripts zum Opfer gefallen ist. Auch generell gilt, dass der critical realism zu knapp gehalten und eigentlich nur kursorisch gestreift wird, weil dieser auch in Kapitel 7 als kritische Abgrenzungsfolie herhalten muss, was eine längere Behandlung zuvor eigentlich notwendig macht. Diese musste aus Platzgründen gelöscht werden. Beim Versuch des Nachvollzugs des Vergleichs der philosophischen Systemik mit den Metatheorien vornehmlich der „Erklärenden Soziologie“, der „Analytischen Soziologie“ und Aspekten unterschiedlicher „Institutionalismen“ in Kapitel 7.6 hilft vermutlich eine Vorkenntnis bezüglich der Grundproblematik. Die Grundproblematik wird aber auch vor dem Vergleich breit eingeführt, bloß die Spezifik dieser Traditionen kann nicht jeweils

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1 Einleitung

gewürdigt werden. Ein intensiverer Vergleich muss auch diesbezüglich an anderen Orten anvisiert werden, da ich hier ohnehin nur an der Oberfläche entlangkratze, allerdings an einer solchen, an der sich Philosophen eher selten abmühen. Eine Warnung sei noch vorweg geschickt. Der Leser wird sich teilweise in Geduld üben müssen. Der vermutete Pfiff der Kapitel wird zumeist erst vollständig im darauf folgenden Kapitel oder gar den folgenden Kapiteln klar. Der „Sinn“ von Kapitel 2 wird erst in Kapitel 3 richtig manifest. Kapitel 3 gewinnt durch Kapitel 4.2 und wird durch Kapitel 5 beinahe philosophisch. Kapitel 4 gewinnt den Pfiff erst durch Kapitel 5, das wiederum erst durch Kapitel 7 oder auch Kapitel 6 seine Berechtigung erhält. Kapitel 7 wird durch Kapitel 8 weiter legitimiert. Alles weist dann zurück auf das folgende Kapitel 2. Der lockere Fluchtpunkt aller Kapitel ist Kapitel 3. Manche vermeintlich lang oder zu lang eingeführte Trivialität erweist sich dann vielleicht im folgenden Kapitel als keinesfalls so trivial, da der Kontext dort erweitert wird. Jetzt muss aber der Gegenstand festgelegt und damit in den Blick genommen werden. Hier wird dies so aufgefasst, dass die letztlich triviale Festlegung diesen Blick erst freigibt. Diese Annahme sollte den etwas umständlichen Weg zu dieser Festlegung rechtfertigen. Mit anderen Worten: Am Anfang soll so viel philosophischer Ballast wie möglich über Bord geworfen werden, damit im weiteren Verlauf immer mehr davon aufgeladen werden kann – ohne allzu schlechtes Gewissen.5

5

Übersetzungen sind, in allerdings seltenen Fällen, meine eigenen, wobei meinen Helfern für deren Unangemessenheit keinerlei Schuld zukommt. Im Rahmen der Mini-„Anatomie“ wird, da es auf Kleinigkeiten ankommen könnte, die auch mein Missverständnis betreffen könnten, im Fall des Französischen darauf verzichtet. In Fußnoten wird auch in anderen Fällen darauf verzichtet. Aufgrund von terminologischen Unschärfen werden englische Passagen nicht nur – wie nun ja auch allseits üblich – immer im Original beibehalten, sondern auch öfters in Mischsätzen zitiert. Stilistisch ist das debattierbar, kürzt die Sache aber ferner ab und hat den Vorteil, z. B. „structure“ nicht übersetzen zu müssen, weil „Struktur“ in den meisten Bedeutungen zumeist nicht infrage kommt. Ich folge in diesem Fall dem Fetisch zum Original, der in Historischen Seminaren verbreitet ist. Ich leiste mir auch einen gewissen Sprachdilettantismus, um einigermaßen an den Stand der Dinge oder auch dessen Nicht-Existenz heranzukommen. D. h., es werden auch aus der internationalen Geschichtstheorie so viele Steine wie möglich wenigstens einmal kurz umgedreht. Auch hier halte ich es notgedrungen wie viele praktizierende Geschichtswissenschaftler, die einmal bekannte Quellen nicht einfach irgnorieren können. Ferner wird hier teilweise, wie bereits gesehen, auf die berühmt-berüchtigten Topflappen-Anführungszeichen zurückgegriffen, die notorische Unklarheit andeuten, aber manchmal selbst für Unklarheit bezüglich ihrer Funktion sorgen. Das kann sicherlich öfters verwirren, ist aber verschiedentlich ein notwendiges Übel im Kontext der Philosophie „der Geschichte“. Der Kontext klärt die Verwendung in der Regel. Das Ziel sollte natürlich sein, solche Topflappen auszumerzen. Hier soll aber keine Klarheit suggeriert werden, die es in diesem Feld so gut wie nirgends gibt.

2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte? The first, indispensable steps in any philosophical inquiry are liable to seem entirely negative, both in intention and in effect. Distinctions are made, objections are pressed, accepted doctrines are found wanting, and such appearance of order as there was in the field is destroyed; and what, asks a critic, can be the use of that? (Toulmin 1969 1958, 253.)

Es soll nun versucht werden, den Gegenstand dieser Studie ganz grob zu umreißen (2.1). Das könnte trivial erscheinen, ist es vor dem Hintergrund der überkommenen Geschichtsphilosophie aber vermutlich nicht, denn diese hat beinahe offenkundig keinen klaren Gegenstand und wohl keine geteilte Grundauffassung von einem solchen Gegenstand (Plenge 2014b/c). Dieser Hintergrund wird anschließend kurz angedeutet (2.2, 2.3), denn das weitere Vorgehen hängt davon ab. Die Festlegung des Gegenstandes dient dazu, die philosophische Beschäftigung hiermit zunächst minimal in der Praxis der Geschichtswissenschaft zu verankern und bestimmte normative Probleme zu vermeiden. Es soll ausgeschlossen werden, aufgrund von Unklarheiten auch im Umfeld der Bedeutungen des Ausdrucks „Geschichte“ irgendwelche noch so intuitiv klingenden Vorannahmen in die Untersuchung einzuschleusen, die sich bei genauerem Blick auf dasjenige, was später für geschichtswissenschaftliche Praxis gehalten wird, als hochproblematisch erweisen. Die übergeordnete Frage dieses einleitenden Kapitels wird hier knapp wie folgt beantwortet: Zurück ins Historische Seminar bzw. zurück zur Geschichtswissenschaft, weil beinahe jede Ordnung in unserem Feld zweifelhaft oder inexistent ist und jeder Anschein von dergleichem vielleicht zerstört werden muss. Mit dieser Antwort ist für jemanden, der aus einem Philosophischen Seminar stammt, von vornherein eine offenkundige Schwierigkeit verbunden. Die erste Schwierigkeit liegt darin, dass dies Mitgliedern philosophischer Seminare schlechterdings kaum möglich ist. Von dieser Schwierigkeit handelt der Rest dieser Skizze, mit der sie fortwährend ringt. Die zweite Schwierigkeit liegt darin, dass nicht von vornherein klar ist, was Geschichtswissenschaft und damit der Gegenstand einer Philosophie oder Metatheorie derselbigen eigentlich ist, wobei sich diese Unklarheitsthese, die seltsam klingt, vor dem Hintergrund der überkommenen Geschichtsphilosophie wie auch anhand mancher Beobachtung der Geschichtstheorie aufstellen lässt (2.3). Diese Unklarheit kann man in einer Art Heterogenitätsthese einer Homogenitätsthese gegenüberstellen. Im Rahmen von Homogenitätsthesen wird unterstellt, es sei klar, was Geschichte oder Geschichtswissenschaft ist. Im Rahmen von Heterogenitätsthesen wird dies bezweifelt. Homogenitätsthesen entstammen normalerweise der philosophischen Tradition, Heterogenitätsthesen der geschichtstheoretischen Tradition. Auch von dieser Unklarheit handelt der Rest der Skizze, denn obwohl hier Geschichtswissenschaft als Gegenstand anvisiert wird, gilt sie bis zum Ende als weitgehend unbekannt. Wie das gemeint ist, wird in den Kapiteln 3 und 4 klar werden. Die dritte Schwierigkeit, die mit der zweiten und der ersten in Verbindung stehen dürfte, besteht darin, dass bisher ungeklärt ist, was eine Philosophie der Geschichte ist oder sein sollte, was ihr Anspruch ist, womit sie sich beschäftigt, wie man das betreibt, wen sie eigentlich adressiert, wozu sie am Ende gut oder nützlich sein könnte, und was sie Interessantes über Geschichtswissenschaft hervorgebracht hat. Das ergibt das Problem, für diese Studie einen handhabbaren Anfang zu finden, der nicht vorwiegend in der Geschichtsphilosophie liegt. Nach diesem etwas holprigen Auftakt haben wir einige mögliche Vorurteile in der Beschäftigung mit Geschichtswissenschaft(en) entschärft, indem sie wenigstens problematisiert werden. Dies ermöglicht einen etwas anderen Blick auf Praxisbeispiele im fiktiven Gang ins Historische Seminar, in dem sich letztlich alle Auffassungen über die Charakteristiken von

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_2

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtswissenschaft (etc.) als einseitig oder schlicht falsch erweisen oder noch erweisen würden, wenn man den Weg fortführte.

2.1

Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

Am Anfang einer Studie wird irgendwann ihr Gegenstand benannt (2.1). Im Anschluss daran folgen gewöhnlich vor einem existenten oder fingierten Stand der Dinge (2.2) offengebliebene oder scheinbar offengebliebene Fragen (2.3), die im weiteren Verlauf auch zumindest grob beantwortet werden sollen, um einen Beitrag zu einem disziplinären Stand der Dinge zu leisten, der auch in Andeutung anderer oder gar neuer Fragen bestehen kann. Der Gegenstand wird an dieser Stelle nicht „Geschichte“ und nicht „Geschichtsschreibung“ genannt, wie es in der angelsächsischen Tradition heißt, sondern mit Geschichtswissenschaft identifiziert. Worum soll es also grob gehen? Scheinbar offenkundig gilt: Geschichtswissenschaft ist, wie jede andere Wissenschaft, eine Disziplin. Zumindest wird hier unter „Geschichtswissenschaft“ eine solche Disziplin verstanden, denn es könnte sein, dass die Annahme bezogen auf die Geschichtswissenschaften unklar oder gar falsch ist (2.3). Disziplinen werden – soweit bekannt – von Menschen gebildet. Diese Menschen interagieren in bestimmter Hinsicht miteinander (Kooperation) oder auch gegeneinander (Konflikt). In außerphilosophischen Kontexten redet man an dieser Stelle manchmal (mit M. Weber) von sozialen Gebilden (Greshoff 2011c), sozialen Systemen (Bunge 1988) oder auch schlicht von sozialen Phänomenen (Hedström 2008). Geschichtswissenschaft ist im Sinne dieser Studie ein soziales Gebilde. Was man hier genauer sagt, ist eigentlich bereits ein sozialtheoretisches oder sozialontologisches Problem (Kapitel 7; „Disciplines […] exist“; Megill 2007, 117). In einen Slogan gepackt heißt dies: Eine Person macht noch keine (Geschichts-)Wissenschaft, auch wenn es manchmal danach aussieht (8.2). Denn soziale Systeme bestehen aus mindestens zwei Personen, zumindest im Rahmen der später diskutierten Systemik (Kapitel 7). Geschichtswissenschaft in diesem Sinne ist hier der anvisierte Gegenstand. Eine Einschränkung dieser Behauptung folgt später, schließlich handelt es sich hier um eine philosophische oder methodologische Abhandlung im weitesten Sinne. Vielleicht etwas exakter kann man sagen, die Disziplin mit dem Namen „Geschichtswissenschaft“ soll primärer Gegenstand dieser Abhandlung sein. Auf das Problem, dass dieser Anspruch natürlich streng besehen unerfüllbar ist, kommen wir auch sogleich. Mit dieser Festlegung des Gegenstands sind zunächst terminologisch, aber auch gegebenenfalls substanziell, Schwierigkeiten verbunden, wenn man aus der Perspektive der innergeschichtswissenschaftlichen und außergeschichtswissenschaftlichen metatheoretischen Traditionen den Gegenstand so festlegt. Wissenschaft im hier relevanten Sinne existiert prima facie nur im Plural, das heißt, es gibt Wissenschaften (nicht Wissenschaft). Im Jahr 1985 wurde einmal geschätzt (Bunge 2014 1980, 35), dass zweitausend Wissenschaften existieren und deren Zahl stetig steige. Das heißt ganz einfach zunächst Folgendes: Der Gegenstand dieser Studie und der korrespondierende Begriff von Wissenschaft ist primär sozial oder, wie es manchmal heißt (z. B. Nowak 1977), institutionell und mit „Geschichtswissenschaft“ ist zunächst eine dieser Wissenschaften gemeint. Worum geht es also nicht primär? Es geht nicht um philosophische Begriffe von, z. B., „Historischer Wissenschaft“ (siehe unten). Ein erster Haken liegt darin, dass ein erstes philosophisches (oder metageschichtswissenschaftliches) Problem an dieser Stelle bereits auftaucht oder auftauchen kann, wenn man sich darauf einlässt. Nicht jedes soziale Gebilde ist eine Disziplin, da in Disziplinen minimal kognitive Ziele verfolgt werden. Auch ist nicht jede Disziplin eine Wissenschaft, da diese kogni-

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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tiven Ziele nicht auf eine bestimmte Art und Weise verfolgt werden, nämlich die berühmtberüchtigte wissenschaftliche Art und Weise. Zumindest scheint es so zu sein, dass nicht jeder gewillt ist, jede Disziplin „Wissenschaft“ zu nennen, wie auch kaum jeder jedes soziale Gebilde für eine Wissenschaft halten will. Schnellrestaurants oder deren „Ketten“ sind keine Disziplinen und keine Wissenschaften. Astrologie, Psychohistorie, Psychoanalyse und Neoklassische Ökonomik, vielleicht gar Geheimdienste oder die Redaktion der Bildzeitung, können als Disziplinen bzw. soziale Systeme gelten, deren spezifische oder partielle Funktion dem ersten Anschein oder dem Anspruch ihrer Mitglieder zufolge die Gewinnung von Erkenntnissen ist. Eventuell gelten sie aber nicht als Wissenschaften oder „(geschichts-) wissenschaftliche“ Disziplinen, obwohl in ihnen eben auch kognitive Ziele verfolgt werden, vielleicht gar „historische“. Zumindest werden die ersten vier als Kandidaten für Pseudowissenschaft regelmäßiger genannt (Bunge 1985b, 1988, 2010b). Wie gleich angedeutet wird und allseits bekannt ist, betrifft das hier verborgene Problem, irgendwelche Wissenschaftlichkeitskriterien zu formulieren oder anzuwenden, in gewissem Sinne seit jeher die metatheoretische Beschäftigung mit demjenigen, was zumeist „Geschichte“ genannt wird. Wir können daher, sobald wir den Gegenstand unserer Studien mit dem Ausdruck „Geschichtswissenschaft“ benennen, die Problematik nicht völlig umgehen, obwohl der Zweck dieses Kapitels darin liegt, normative Wissenschafts- und/oder Geschichtswissenschaftskriterien so lange zu vermeiden wie irgendwie möglich. Die traditionelle Problematik, die Philosophen „der Geschichte“ spätestens seit dem 19. Jahrhundert umtreibt, ist, ob und inwiefern Geschichtswissenschaft eine Wissenschaft in einem methodologischen (oder epistemologischen) Sinn ist. Die alternative Antwort zur Antwort „Geschichte ist Wissenschaft!“ war bekanntlich „Geschichte ist Kunst!“, „Geschichte ist Literatur!“, „Geschichte ist Erzählung!“ oder ähnliches (siehe z. B. zuletzt Martin 1997, Brzechczyn 2009a, Kitcher/Immerwahr 2014). Auch in traditionelleren angelsächsischen geschichtstheoretischen Abhandlungen werden Probleme im Umfeld der epistemologischen oder methodologischen Standortbestimmung dessen, was hier „Geschichtswissenschaft“ genannt wird, in der Frage „Was ist Geschichte?“ ausgedrückt (z. B. klassisch E. H. Carr 1962, Elton 1967). Metatheoretiker haben offenkundig zunächst meistens etwas anderes vor Augen als Disziplinen oder soziale Systeme, wenn sie von Wissenschaft reden. Reden Metatheoretiker von Wissenschaft oder kennzeichnen Philosophen etwas als „wissenschaftlich“, dann geht es dabei offenkundig nicht um „Wissenschaft“ im obigen Sinn eines Zusammenhangs von Personen, obwohl manche Autoren doch auch ganze Disziplinen als (mehr oder weniger) wissenschaftlich, unwissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich auszeichnen oder abqualifizieren. Nennen Metatheoretiker etwas „wissenschaftlich“ oder auch generisch „Wissenschaft“, haben sie ganz grob etwas aus der folgenden Liste vor Augen: (a) Produkte von Handlungen oder Interaktionen im weitesten Sinne (Hypothesen oder auch deren Rechtfertigung, Texte, Theorien, Modelle, Erzählungen, Erklärungen, vielleicht Verstehen etc.), (b) Tätigkeiten oder Interaktionen im weiten Sinne, durch die diese Produkte hervorgebracht werden (Experimente, Ausgrabungen, Tagungen, Hypothesentests, peer review, Methodenanwendungen etc.; siehe z. B. Danermark et al. 2002, 15, 18, 24) oder auch (c) Verfahrensweisen (Methoden) verschiedener Allgemeinheit oder Spezifik, die in diesen Tätigkeiten oder Interaktionen angewendet werden. Manchmal, aber eher seltener oder am Rande, haben sie noch weiteres vor Augen:

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

(d) die metatheoretischen oder philosophischen Grundlagen von (a), (b) und (c) im weiten Sinn in irgendwelchen Disziplinen oder Sub-Disziplinen (Ansätze, Begriffsrahmen, Paradigmen, Problematiken, Ontologien etc.). Diese Grundlagen werden dann zwar kaum oder selten völlig generisch „Wissenschaft“ genannt, aber ebenso manchmal als „wissenschaftlich“ oder „unwissenschaftlich“ bezeichnet wie die Produkte, die sozusagen auf diesen Fundamenten erbaut werden. Letzteres spielt in der Geschichtstheorie und der Sozialwissenschaftsmetatheorie („Soziologische Theorie“) eine größere Rolle als andernorts, da man hier noch immer regelmäßig über die Geschichts- oder Sozialwissenschaftlichkeit von diesen Grundlagen oder Ansätzen streitet. Manchmal schwebt Metatheoretikern auch grob der gesamte Ablauf von innerwissenschaftlicher Aktion oder Interaktion vor, was man grob zumeist „Forschung“ nennt (Kapitel 5), also sozusagen die irgendwie forschungslogisch wie forschungspraktisch geordnete Gesamtheit von (a) bis (d). Kürzer formuliert: Metatheoretiker nennen scheinbar auch abstrakte Mengen von Forschungsergebnissen (Theorien oder auch Wissen etc.), Methoden oder Forschungsaktivitäten kurz und bündig, daher etwas generisch und verwirrend, „Wissenschaft“.6 Und sie meinen zumeist keine sozialen Gebilde bzw. Disziplinen, wenn sie über Wissenschaft reden. Letztere werden von konkreten Personen gebildet, Theorien und Methoden oder ähnliches nicht. Im Fall von Geschichte und ihrer Metatheorie, auf den wir noch kommen, ist es ähnlich. Geschichtsphilosophen der älteren Generation werden mit den Ausdrücken „Wissenschaft“ und „Geschichtswissenschaft“ sofort ein anderes Problem assoziieren, das mit dem oben angedeuteten der Formulierung von (normativen) Wissenschaftlichkeitskriterien zu tun hat. Philosophen der Wissenschaft und Metatheoretiker in den Einzelwissenschaften hatten schließlich häufiger und haben seltener noch immer, wenn sie von „der (einen) Wissenschaft“ sprechen, auch „die eine wissenschaftliche Methode“ vor Augen bzw. haben sie diese lange Zeit gesucht, im Unterschied zu den vielfältigen, unterschiedlichen, spezifischen Methoden (speziellen Techniken) in unterschiedlichen Disziplinen. Auch Folgendes wird manchmal generisch „Wissenschaft“ genannt: (e) die (eine) wissenschaftliche Methode, manchmal auch „Methode der Wissenschaft“ genannt (siehe z. B. klassisch Naville 1985, Bochenski (1971 1954, M. R. Cohen/E. Nagel 1934, Kraft 1971, Bunge 2013a 1959, oder auch im Kontext Cardoso 1982). Es ist dann traditionell von so etwas wie der „Einheit der Wissenschaft“ oder dem „Wesen der Wissenschaft“ oder eben „der (einen) wissenschaftlichen Methode“ die Rede. Unter der einen Methode wurde und wird dann scheinbar Vielfältiges verstanden, was uns hier nicht sonderlich beschäftigen kann und soll, obwohl wir nach der Beschäftigung mit etwas Praxis so etwas Ähnliches wohl streifen (Kapitel 5). Umstritten ist dann jedoch seit jeher im hiesigen 6

Die Liste ergibt sich z. B. durch einen Blick in Bunge (1959a, 28), für den „Wissenschaft“ damals ein „body of ideas“ meinte. Für Poser (2001) ist Wissenschaft ein „System wahrer Aussagen“. Für Bochenski (1971 1954, 18) bezeichnet „Wissenschaft“ „subjektiv“ verstanden eine Eigenschaft eines „Subjektes“ (Wissen), „objektiv“ ein „Gefüge von objektiven Sätzen“. Schutt (2004, 8), ein sozialwissenschaftlicher Metatheoretiker, schreibt, ohne dies zu unterscheiden, (Sozial-)Wissenschaft sei (i) eine Menge von Methoden, (ii) Wissen, das deren Anwendung entspringe und wohl auch (iii) Forschung. Körner (1980, 726 f.) schreibt, Wissenschaft sei „jede intersubjektiv überprüfbare Untersuchung von Tatbeständen und die auf ihr beruhende, systematische Beschreibung und – wenn möglich – Erklärung der untersuchten Tatbestände.“ Für weitere Auffassungen siehe Kapitel 8.2.

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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Kontext, ob in Geschichtswissenschaft (oder Geschichte) die (eine) wissenschaftliche Methode irgendwo vorkommt. Anders ausgedrückt wurde und wird das Problem in der Frage, ob die „historische Methode“ (z. B. Bernheim 1908, Meier/Rüsen 1988) oder das „historische Denken“ (z. B. Collingwood 1994 1946, Walsh 1951, Stover 1967, Wiersing 2007) oder die „historische Vernunft“ (Dilthey) mit der wissenschaftlichen Methode, dem wissenschaftlichen Denken oder der „wissenschaftlichen Vernunft“ zusammenfällt, ob diese zumindest Ähnlichkeiten miteinander aufweisen oder völlig unterschiedlich sind. Das Anschlussproblem, das sich seit jeher dann stellt, ist in unserem Kontext gewohnt paradox formuliert: Ist Geschichtswissenschaft (was immer damit dann genauer gemeint ist) Wissenschaft (was immer damit dann genauer gemeint ist)? Oder weniger paradox in einer anderen Sprache formuliert: Is history science? Die Hauptfrage ist dann also, ob irgendwelche als allgemeingültig angesehen Kriterien für Wissenschaftlichkeit auch im Fall von Geschichte gelten oder erfüllt sind. Vor diesem Hintergrund gibt es dann die Alternativen, jene Kriterien anzuerkennen und vor dem Hintergrund der Annahme, dass sie auch tatsächlich erfüllt sind, (i) Geschichte auch „Wissenschaft“ in demselben Sinn zu nennen. Es gibt ferner die Möglichkeit, (ii) jene Kriterien oder auch ihre Erfüllung abzulehnen, Geschichte nicht „Wissenschaft“ zu nennen oder aber (iii) gänzlich andere Kriterien für Wissenschaftlichkeit zu suchen und ihre Erfüllung im Fall von Geschichte zu behaupten, z. B. solche Kriterien, die ein Erkenntnisprojekt sui generis charakterisieren sollen, das „Geschichte“ oder „Geschichtsschreibung“ genannt wird. Um die in der Wissenschaftlichkeits- oder Geschichtswissenschaftlichkeitsproblematik bis kürzlich verborgenen Fallstricke zunächst zu überspringen, müssen wir kurz ein wenig ausholen. Eine kurze Erinnerung ist an dieser Stelle notwendig, denn ohne diese „Geschichte“ ist der Zweck der obigen Festlegung des Gegenstandes nicht nachzuvollziehen: Ein Großteil der sogenannten „philosophy of history“ wollte nachweisen, dass Geschichte („history“) keine Wissenschaft („science“) ist, was man im deutschsprachigen Raum zu vergessen geneigt ist. Christopher Lloyd fasste diese Tendenz folgendermaßen zusammen: In its heyday in the 1960s analytical philosophy of history was not as concerned with criticism as with analysis. It saw its task as the passive articulation and examination of the existing explanatory assumptions and practices of historians – the counterpart to analytical philosophy of science. Many of its practitioners were concerned to show that historical knowledge is a distinctive and viable form of knowing with its own logic, standards, and rationale. Since then this attitude has been eroded for several reasons (Lloyd 1991, 187; Hervorhebung dp). Dass diese These teilweise nicht zu der verbreiteten Auffassung passt, dass sich die „Philosophie der Geschichte“ mit der Analyse von Praxis nicht befasst hat, kommen wir erst noch (2.2). Philosophy of History (oder Historiography, Tucker 2009a) kann jedoch – obwohl Lloyd dies hier natürlich nicht im Blick hat – seit der Publikation dieser Zeilen weithin erneut als Verkörperung der Auffassung verstanden werden, dass history eben nicht ansatzweise science ist, sein kann oder genannt werden darf („Narrativismus“), also sich wohl – was jedoch nicht recht klar geworden ist – hinsichtlich der obigen Punkte (a), (b), (c) und (d) und eventuell (e) von science fundamental unterscheidet. Scheinbar sind auch Geschichtswissenschaftler (bzw. Geschichtstheoretiker), zumindest einige Gruppen und zumal einer jüngeren Generation, weniger denn je dem zuzustimmen abgeneigt, wie dies Geschichtstheoretikern zu entnehmen ist, die diese Fragen unter anderen Stichwörtern diskutieren (siehe z. B. kritisch den Geschichtstheoretiker Paravicini 2010).

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Dass diese Sichtweise nicht auf die „philosophy of history“ beschränkt ist und beschränkt war, sollte man beinahe als bekannt voraussetzen dürfen. Im angelsächsischen Schrifttum oder Sprachverständnis und eigentlich schon immer gilt ganz selbstverständlich, dass „history“ eben nicht „science“ ist, was durchaus mit korrespondierenden Wertungen verbunden ist (siehe dazu zuletzt Glennan 2014, Kitcher/Immerwahr 2014). Es geht hier also latent immer mal wieder um den „scientific status of history“ (Bunge 1988). Allein aus diesem Grund gibt es keine unschuldige Festlegung oder nur Bezeichnung des Gegenstandes. Weitere Gründe werden wir später noch suchen (2.3). Diese Wissenschaftlichkeits-Debatten sind im Allgemeinen zwar außer Mode gekommen. Der letzte zentrale Autor, der offensiv fragte, ob „social history“ ein Diskurs sui generis oder aber an Wissenschaftsstandards gemessen werden sollte, war wohl C. Lloyd (1986) selbst, der auch eine Verteidigung von „scientific history“ oder eine „science of history“ (Lloyd 1993, 3, 4) anstrebte. Diese Debatten sind aber zweifellos noch immer unterschwellig virulent, und zwar auch außerhalb der Geschichtsphilosophie in den Debatten der wissenschaftsinternen Metatheorie, der Geschichtstheorie. Sie kommen z. B. latent in intra-„historischen“ Schulstreitigkeiten immer wieder zum Vorschein, bei denen es im Kontext von Fragen um die obigen Grundlagen, Ansätze oder „Paradigmen“ z. B. darum geht, welche Gegenstände in welcher Hinsicht mit welchen Mitteln und welchen Zielen behandelt bzw. erforscht werden sollen und ferner darum, ob das Ganze überhaupt (noch) einen „wissenschaftlichen“ oder „geschichtswissenschaftlichen“ Anspruch hat oder haben sollte. Die Debatten über Geschichte bzw. auch in der Geschichte (Prima-facie-Disziplin) bzw. in der Geschichtstheorie wurden bekanntlich im 20. Jahrhundert, vornehmlich den 60er/70er Jahren und zuvor wie danach in unterschiedlichen Wellen, teilweise in der Wortwahl geführt, in der es um die Frage geht, ob Geschichte denn Wissenschaft werden könne und überhaupt müsse, was jeweils voraussetzte, dass sie keine war oder keine mehr war (siehe z. B. auch knapp Stone 1979, 5 ff.). Das verwunderte manchen Geschichtswissenschaftler sicherlich, schließlich war bei Klassikern der Geschichtstheorie schon zuvor die Rede davon, sie sei es bereits (Bernheim 1908, 1926), z. B., weil man glaubte, die Historische Methode zu kennen und diese auch noch weiter entwickeln wollte. Diese Debatten kommen auch auf der philosophischen Seite zum Vorschein, zumal der recht dezidiert antiszientistischen, wenn beispielsweise postmoderne Philosophen der Geschichte Historikern entgegenhalten, ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, „Objektivität“ (Plenge 2014b) oder „Realismus“ (Kapitel 7.1) sei obsolet geworden, weil „die Philosophie“ die Unhaltbarkeit jeder Möglichkeit von Wissenschaftlichkeit oder auch bloß Erkenntnis bewiesen habe (z. B. Jenkins 1991 oder Munslow 2007, 2010 und andere), was andere dann zum Anlass für weitere Analysen und Kritik nehmen (z. B. Kistenfeger 2011). Bekannterweise haben diese oder ähnliche Thesen sogar manche Historiker dazu bewogen, als Geschichtstheoretiker eine Haltung der Selbstverteidigung gegen die Eindringlinge aus anderen Prima-facie-Disziplinen einzunehmen und eine metatheoretische Antwort zu geben (z. B. Windshuttle 1996, Evans 1999, Appleby et. al. 1995). Der Geschichtswissenschaftler P. Schöttler (2015, 19) schrieb noch in seinem Buch zur Annales, „die Wissenschaftlichkeit der ‚Geschichte‘ (als Geschichtsforschung + Geschichtsschreibung) ist besonders umstritten, und wird es wohl immer bleiben“. Entsprechende Details sind an dieser Stelle nicht relevant. Es geht zunächst um einen viel einfacheren Punkt. Scheinbar oder gar offensichtlich ist seit jeher also in unterschiedlichen metatheoretischen Gruppen umstritten, was „Geschichte“ und so etwas wie „wissenschaftliche Geschichte“ oder eben „Geschichtswissenschaft“ genauer heißen könnte. Darunter wird in unterschiedlichen Zeiträumen und Gruppen von Historikern und auch Philosophen offensichtlich Unterschiedliches, teilweise wohl völlig Unterschiedliches verstanden. Diese Unklarhei-

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

21

ten könnten zunächst einen ersten einfachen Grund haben (der zweite folgt in 2.2 sowie 2.3), den M. R. Cohen vor einiger Zeit formulierte: Is History a Science? Much paper and ink have been wasted in discussing whether history is a science. The quarrel has been largely verbal, more concerned with maintaining or rejecting the prestige that the word ‚science’ carries nowadays than with the precise meaning of the question (Cohen 1947, 35 f.). Für unsere Zwecke stellen sich die hiesigen Fragen um Wissenschaft, wie bereits angedeutet, zunächst einzig und allein, um den Gegenstand dieser Studie zu umreißen, die „Geschichtswissenschaft“ im Titel trägt, und wir nicht als geklärt unterstellen wollen, was eventuell oder geradezu offensichtlich (Plenge 2014b) unklar ist. Eine präzisere Fassung der Fragestellung versuchen wir erst ganz am Ende (8.2). Halten wir aber in übersichtlicher Form fest, dass es nützlich zu sein scheint, (i) Wissenschaft als soziales Gebilde (soziales System) oder auch Menge solcher Gebilde (z. B. Railton 1980 17 f.), (ii) Wissenschaft als Tätigkeit (Prozess), (iii) Wissenschaft als (Meta-)Methode (Verfahrensweise) und (iv) Wissenschaft als kognitives Produkt zu unterscheiden (vgl. auch Cardoso 1982, 44).7 Schreibt man dies hin, dann wird nämlich auch erneut klar, was schon länger bekannt ist (Goldstein 1976, Tucker 2004a), nämlich dass sich Philosophie der Geschichte vornehmlich mit der Sprache der Geschichte befasst, also der Rubrik (iv), zumeist unter dem Label „Narrativität“ oder der These, dass Geschichte Geschichten erzähle. An dieser Stelle muss zwangsläufig daran erinnert werden, dass in loser Analogie zu den obigen Begriffen von Wissenschaft eben eine Vielzahl von Begriffen von Geschichte zu finden ist, die man ebenfalls möglichst genauso auseinanderhalten sollte. Der Geschichtstheoretiker J. Topolski (1976, 51) hat vor langer Zeit etwas Übersicht geschaffen, an den ich teilweise anknüpfe. Das ist allein deshalb nützlich, weil bezüglich der Verwendung dieses Ausdrucks immer wieder Unklarheit herrscht (vgl. Kaiser et al. 2014). Mit dem Ausdruck „Geschichte“ kann vielerlei gemeint sein und ist tatsächlich hier und dort vielerlei gemeint, sogar so viel, dass verschiedene Verwendungen im Ohr des einen oder anderen in verschiedenen Sprachen teilweise sprachwidrig klingen mögen. Ganz grob und impressionistisch ergibt sich mindestens folgende Liste, wobei wir hier auf korrespondierende Sammlungen von Zitaten, welche diese Redensarten oder Begriffsverwendungen belegen, verzichten müssen. Zunächst haben wir einen vagen ontologischen (oder quasi-ontologischen) Begriff: (1) Geschichte (oder eine Geschichte) ist irgendetwas vage Ontisches oder QuasiOntisches (bei Topolski „History as past events“), das als existent angenommen wird, und der Ausdruck „Geschichte“ bezeichnet dies.

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Dass man Wissenschaft als Soziales, Wissenschaft als Tätigkeit, Wissenschaft als Methode und Wissenschaft als Produkt trennen sollte, zeigen auch die terminologischen Konfusionen in Plenge 2014b deutlich. Sie findet sich aber auch andernorts, z. B. in geschichtstheoretischen Handbüchern; Halkin 1982, 60, 56.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Hierauf werden wir noch zurückkommen. Die zweite Gruppe umfasst vage methodologische Verwendungsweisen. (2a) Geschichte ist ein (einziges) Forschungsprozedere bzw. Forschungsverfahren (ein spezifischer Verfahrenstyp, eine spezifische Verfahrens- oder Vorgehensweise; bei Topolski „History as research procedure for reconstruction of past events“) und der Ausdruck „Geschichte“ bezeichnet dieses Verfahren. Hier ist zumeist wohl an die sogenannte „Historische Methode“ (Bernheim 1908) oder „Die Kritik“ (Halkin 1982) zu denken. Verwandt damit ist eine eher pluralistische Redeweise: (2b) Geschichte ist eine Menge von unterschiedlichen Forschungsprozeduren unterschiedlicher Typen (z. B. auch sogenannte „historische Methoden“ in Sozialwissenschaften (Schutt 2004) oder eine Menge von Methoden in geschichtswissenschaftlichen Forschungslinien) und der Ausdruck „Geschichte“ bezeichnet generisch diese Menge.8 (2c) Geschichte ist konkrete Forschung (ein konkreter Prozess in einem Forscher, konkretes Vorgehen oder konkretes Verfahren, keine abstrakte Verfahrenweise, Methode oder Technik), also hier geschichtswissenschaftliche Forschung, und „Geschichte“ bezeichnet diese Forschung.9 Die dritte Gruppe umfasst vage sprach- oder literaturtheoretische Geschichtsbegriffe: (3) Geschichte (oder eine Geschichte) ist eine Menge von Sätzen oder Aussagen über etwas (bei Topolski „History as a set of statements about past events“) und der Ausdruck „Geschichte“ bezeichnet diese Satz- oder Aussagenmengen. Trivialerweise meint „Geschichte“ also hier zunächst eine Ganzheit, deren Komponenten Sätze oder Aussagen sind, wie manchmal klar gesagt wird: „The acceptability of a whole history depends much more upon the acceptability of the statements which compose it, than the other way round“ (McCullagh 1984, 12, Hervorhebung dp). In unterschiedlichen Kontexten bedeutet „Geschichte“ jedoch natürlich wieder leicht Unterschiedliches oder Konkreteres, denn bestimmt man „Geschichte“ grob in der Art von (3) oben, gibt es kaum Texte oder Mengen von Sätzen, die nicht „Geschichte“ genannt werden können: (3a) Geschichte ist die Gesamtheit der von Historikern formulierten Sätze bzw. bestimmter Mengen von Geschichtswissenschaftlern, also z. B. derartige Satzmengen in bestimmten Forschungslinien oder sogenannten Bindestrich-Geschichten (z. B. Urban History, Gender-Geschichte, Neuere Geschichte, Mediävistische Sozialtopographie, Technikgeschichte), sozusagen der dortige Stand der Dinge, der auch in

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Methodologische Konnotationen schimmern in einer beiläufigen Bemerkung bei Evans (1999, 222) durch: „Setzt man die Prämissen des extremen postmodernen Relativismus voraus, so kann Geschichte in der Tat, ohne ihren Charakter als Geschichte zu verlieren, nicht bloß als radikales oder konservatives, sondern ebenso ein faschistisches oder stalinistisches Unterfangen werden.“ So schrieb auch Bloch (2002 1949, 25), das Wort „Geschichte“ bzw. „Historia“ enthalte „keinerlei Glaubensbekenntnis und verpflichtet entsprechend seiner Grundbedeutung zu nichts anderem als zum ‚Forschen‘“.

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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Buchtiteln angedeutet wird (z. B. „Beiträge zur Geschichte des Ostseeraums in Mittelalter und Frühneuzeit“), und „Geschichte“ bezeichnet dies generisch. (3b) Eine Geschichte ist das singuläre konkrete Produkt eines Forschungsprozesses eines Forschers oder einer Gemeinschaft von Forschern innerhalb der Geschichtswissenschaft und sozusagen als Output der Geschichtswissenschaft. Auch das Letztere ist vage, denn darunter fallen z. B. „Geschichten“ im Sinne von (a) „Erzählung“10 oder einfach (b) „Beschreibung“ (z. B. Gottschalk 1951, 193) oder (c) im Sinne von „Forschungsbericht“ (z. B. Topolski 1976) oder auch (d) „historische Theorien“ (z. B. Pape 2006) oder (e) irgendeine irgendwie strukturierte Menge von Aussagen, vielleicht mit einem spezifischen Gegenstand oder Gehalt („causal histories“, Railton 1980, 222), eventuell bloß eine einzige Hypothese. Wie auch immer die Spezifikation der Textgattung, die hier „Geschichte“ genannt wird, genauer aussehen mag, in den letzten beiden Fällen ist die Herkunft aus der Disziplin mit dem Namen „Geschichte“ zu vermerken. Im Common Sense wie auch in der Philosophie der Geschichte gibt es aber einen weiten und verstörend allgegenwärtigen Begriff von Geschichte, der bereits unter (3) zu finden ist. Man könnte ihn auch folgendermaßen auf den Punkt bringen: Eine Geschichte ist eine Menge von Aussagen von irgendwem über irgendwas in irgendeiner Form und nicht bloß von Menschen, die Geschichtswissenschaften angehören oder „Geschichte“ betreiben. M. R. Cohen (1947, 8) schrieb bereits im Rückblick auf die Antike11: „The word ‚history‘ originally denoted any account of the nature of anything.“ In dieser Rubrik darf man ebenso an vielerlei mögliche vage Spezifikationen denken, z. B. „Geschichte“ im Sinne von „Bericht“, „Darstellung“ oder auch „Erzählung“, z. B. auch die Behauptungen des Alltagsmenschen über irgendetwas, ob wahr oder falsch („Story“), gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, dem Anspruch nach faktiv oder fiktiv („Geschichte“ im Sinn von „Märchen“), „kausal“ strukturiert oder nicht, chronologisch strukturiert oder nicht (etc.), ob über menschliches Verhalten oder Naturereignisse, aber ggf. mit Einschränkung auf Vergangenes12, ob irgendeiner (systematischen) Bemühung entsprungen oder ad hoc erfunden. Wenn man so will, dann ist hier mit „Geschichte“ wirklich nichts anderes gemeint als eine Menge von Sätzen, wobei deren Herkunft aus einer Disziplin und weitere epistemische Eigenschaften (Signifikanz in einem Kontext, Rechtfertigung, Wahrheit) irrelevant sind. Das ist wenig spannend. Mit „Geschichte“ meinen andere aber gerade etwas, das einer solchen Aussagenmenge eine Spezifik verleiht, welche auch etwas mit der Geschichte der Historiker zu tun haben soll.

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„Die Geschichte ? ist Erzählung“ (Mann 1999, 15). Beispielsweise titelte bild.de am 16.10.2014, um 19:40 Uhr: „Trennungsgerüchte um Mandy Capristo und Mesut Özil: Die Geschichte ihrer Liebe“. Sport1.de titelte am 25.11.2014 „Messi schreibt Geschichte“. Hinter den Titeln bzw. darunter fanden sich dann auch Geschichten. Zur Etymologie siehe z. B. Topolski (1976). Voltaire (2013, 196): „Histoire. Der Bericht von Ereignissen, die wirklich stattgefunden haben, im Gegensatz zur Fabel, die von Ereignissen berichtet, die in Wirklichkeit nicht stattgefunden haben.“ Cohen (1947, 8) schreibt, allerdings scheinbar mit Einschränkung auf „Felder“ oder Disziplinen: „In general current usage the term ‚history‘ is restricted to an account of past events, no matter in what field.“ „The records of a physicist’s observations constitute a history (…)“ (Cohen 1947, 41). McCullagh (1984, 1) schrieb: „An historical description is here understood to be a statement which is intended to describe the past, though in fact it may not do so, or not do so accurately.“ Diese Geschichten haben also mit der Disziplin, die „Geschichte“ genannt wird, begrifflich noch nichts zu tun.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

(4) Eine Geschichte ist eine spezifische Form von Darstellung oder ein Typ von Erzählung von irgendetwas, worum auch immer es sich genauer dabei handelt, vielleicht im Unterschied zu Chroniken oder Annalen oder anderem (auch Mythen werden genannt; Pandel 2010). Ein Großteil der sogenannten „Philosophie der Geschichte“ wollte, seit Mitte der 1960er Jahre unter dem Label „Narration“ und seltener „Geschichte“, bestimmen, welche Form von Darstellung, die dann manchmal auch „Geschichte“ oder „historische Erzählung“ oder „history proper“ genannt wurde, typisch ist für Geschichte (Disziplin?). Vielerlei Vorschläge sind dazu gemacht worden, die scheinbar noch immer recht ungeordnet und unsystematisiert sind (vgl. z. B. kritisch Frings 2008, ferner Topolski 1994b, G. Roberts 2001). Ein hübsches und ferner klassisches Beispiel, das grob erläutern helfen kann, was auch bereits als Darstellungstyp oder Erzählung und mithin als Geschichte gelten kann, bietet noch immer Morton G. White, einer der Begründer der analytischen Geschichtsphilosophie: The chronicler is likely to tell us: ‚The King of England died, and then the Queen of England died, and then the Prince of England died, and then the Princess of England died. And there endeth our chronicle.‘ But a corresponding history is likely to read: ‚The King of England died, so the Queen of England died of grief. And because he worried so much about the Queen’s death, the Prince of England died later of loneliness. And so endeth our lugubrious history“ (M. G. White 1963, 6; Hervorhebung dp; siehe auch M. G. White 1965). Der Titel dieses früher klassischen Textes handelt von der „Logik der historischen Erzählung“. Hier soll also bereits eine Erklärung im Sinn einer Antwort auf eine Warum-Frage zentral sein für Darstellungen, die „Geschichte“ genannt werden dürfen. Manchmal sind auch direkt der Gegenstand der Darstellung und dessen ontologische Deutung dafür relevant, etwas „Geschichte“ zu nennen. Beispielsweise hieß es bei Cohen: „The difference between annals and history lies in the absence or presence of connections between the events of different times“ (M. R. Cohen 1947, 96; Hervorhebung dp). Wenn man den Gegenstand der Studie mit Geschichtswissenschaft als sozialem Gebilde bestimmt hat, stellt sich vor dem Hintergrund der Thesen von M. G. White und anderen sofort eine Frage, die auch andeutet, dass diese Festlegung gar nicht so trivial ist: Ist das Analogon zu „history“ im Zitat von White aber etwa „historian“? Und sehen dann Geschichten in der Geschichte wirklich so aus, sind deren Aussagenmengen typischerweise von jener Art (Kapitel 3)? Ist daran etwas spezifisch „geschichtlich“ oder „historisch“, denn solche Geschichten schreiben auch Schüler, Journalisten und Philosophen. Hier sei nur festgehalten, dass dies auch in analogen Fällen bei anderen eher literaturtheoretisch orientierten Metatheoretikern der „kontinentalen“ Geschichtsphilosophie (z. B. H. White 2008 1973, Munslow 2007), die Geschichte für Erzählung halten und unter „Geschichten“ oder „Erzählungen“ etwas völlig anderes verstehen, gewöhnlich stipuliert wurde und damit die Behauptung in den Raum gestellt worden ist, in Geschichte (Geschichtswissenschaft) würden Geschichten (konkrete Texte) produziert, die solche Geschichten (Darstellungs- oder Erzähltypen) sozusagen instanziieren oder manifestieren und damit auch als typisch für das gelten, was in geschichtswissenschaftlichen Disziplinen zu finden ist. In einem vormals berühmten Text ist statt von „history“ von „stories“ die Rede: „Die Geschichte erzählt Geschichten“ („History tells stories“, A. C. Danto 1980 [1965], 184). Was Danto hier „story“ nennt und M. G. White „history“, nennen andere bekanntermaßen auch „narrative“. Eine jüngere und dennoch eher klassische Äußerung dazu findet sich bei D. Little: „What is a narrative? Most generally, it is an account of the unfold-

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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ing of a series of events, along with an effort to explain how and why these processes and events came to be“ (Little 2010, 29). Auch von Narrationen wurde bekanntlich wiederholt behauptet, diese seien spezifisch für Geschichte und alles, was nicht „narrativ“ sei, wäre keine Geschichte oder könne nicht „Geschichte“ genannt werden (zuletzt Kistenfeger 2011). Und manche behaupteten scheinbar gar von früher bis heute, mit dem Umstand, dass Geschichte Erzählungen erzähle, sei verbunden, dass Geschichte Kunst sei „und weiter gar nichts“ (Mann 1979). Eine Regelmäßigkeit, vor deren Hintergrund wir auch die obige Gegenstandsfestlegung vornehmen, ist aber, dass nicht klar ist, wie diese Thesen begründet sind und ferner zu vermuten ist, dass diese Thesen in aller Regel rein begrifflichen Intuitionen entspringen, was daran deutlich wird, dass der Nachweis der Relevanz der begrifflichen Festlegung im Rahmen einer Disziplin anhand von Studien aus der Geschichtswissenschaft eben gerade nicht geführt wird. Auch hier geht es zunächst nur darum, neben der groben begrifflichen Zergliederung festzuhalten, dass mit der Bestimmung von Darstellungstypen gemeinhin etwas Generelles darüber ausgesagt werden sollte, was in der Disziplin mit dem Namen „Geschichte“ verbreitet oder typisch ist, und dass sich die Philosophie der Geschichte spätestens seit den 1970er Jahren vornehmlich (a priori) mit vermeintlich typischen Darstellungsformen befasst oder eben mit der „Narrativität“ der „Geschichte“. Mittlerweile ist es auch zunehmend völlig irrelevant, ob es Geschichtswissenschaftler oder aber irgendwelche anderen Menschen sind, die jene „Geschichten“ oder „Erzählungen“ erzählen, von denen „Narrativismus“ handelt, wobei unter jenen „Erzählungen“ jetzt nicht mehr nur Texte verstanden werden, sondern z. B. auch Filme (Munslow 2007), und Historiker dazu angehalten werden, nicht „Erzählungen“ im obigen Sinne von M. G. White oder auch D. Little zu schreiben, sondern vielleicht im Hexameter zu dichten (Plenge 2014b).13 Teilweise komplettierend sollten wir noch, den obigen Begriffen von Wissenschaft entsprechend, hinzufügen: (5) Geschichte ist (oder „Geschichte“ meint) eine (a) Disziplin (z. B. Bernheim 1908, 4, Halkin 1982, 45, Hempel 1972, 16) oder (b) eine Menge solcher Disziplinen (oder Forschungslinien14) oder (c) ein System oder „Netz“ solcher Disziplinen (Tilly 1990; siehe dazu auch 2.3). Wenn Philosophinnen wie J.R. Martin (1970) über „explanation in history“ oder Boyer (1992, 63) von der „scientificité de l’histoire“ schreiben, dann meinen sie vermutlich das soziale Gebilde Geschichtswissenschaft, von dem sie wohl glauben, dass es existiert. Sie meinen weder einen konkreten Text („Geschichte“) noch eine Darstellungsform („Erzählung“). Auch For13

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Von metatheoretischer oder philosophischer Relevanz im Rahmen der Philosophie „der Geschichte“ wird dies auch eigentlich erst dann, wenn im Rahmen des sogenannten relativistischen Narrativismus (siehe dazu z. B. Pape 2006, Kistenfeger 2011) mit diesen Darstellungsformen relativ ad hoc weitere erkenntnistheoretische Thesen verbunden werden, die gewöhnlich auch als Subtext oder offensiv die These transportieren, „Geschichte“ sei nicht Wissenschaft, sondern eine Form der Literatur, was z. B. darin ausgedrückt wird, Geschichten oder Erzählungen seien „Fiktionen“, nicht „objektiv“ oder nicht „wahrheitsfähig“ (siehe auch grob Plenge 2014b).Die Skepsis von Geschichtstheoretikern bezüglich der Geschichtsphilosophie (2.2) könnte etwas mit diesem Apriorismus zu tun haben. „State reports contain many thousands of pages of evidence with direct relevance to the history of child employment“ (Kirby 2003, 13). Die Geschichtstheoretiker Cordoso/Brignoli (1986, 43) sprachen beispielsweise beiläufig von der „Atomisierung der Geschichte“ („historia“) in autonome Disziplinen, also Geschichtswissenschaften: Wirtschaftsgeschichtswissenschaft, Demographiegeschichtswissenschaft, Sozialgeschichtswissenschaft, Politikgeschichtswissenschaft, die unter anderem der wachsenden Spezialisierung und Verfeinerung von Techniken (speziellen Methoden) geschuldet sei.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

mulierungen von Geschichtstheoretikern lassen häufig Fragen aufkommen: „Wie Ranke meinte auch Carr, daß Geschichte sich von der Chronik darin unterscheidet, daß sie den Zusammenhang der einzelnen historischen Fakten zu begreifen sucht“ (Evans 1999, 213). Je nachdem, was mit „Geschichte“ gemeint ist, hinkt der Vergleich entweder arg oder der Satz ist (in der Übersetzung) trivialerweise falsch, weil Texte überhaupt nichts zu begreifen versuchen, worauf der Vergleich eigentlich hinauslaufen sollte. Diese grobe Unterscheidung brauchen wir, da an dieser Stelle, trotz der obigen Festlegung, noch offen ist, ob es überhaupt eine einzige, homogene Disziplin mit dem Namen „Geschichte“ gibt. Der Zweck dieser Zeilen ist natürlich auch, dies später direkt zu problematisieren (2.3), damit wir uns hier nicht zu Beginn schon einen Bären aufbinden, was zwar globale und vergleichsweise eindeutige Thesen zu formulieren erlaubte („Geschichte ist Kunst!“), aber letztlich doch blind zu machen droht. Da wir nun wenigstens ein wenig Ordnung haben, wird mancher Leser nun der Verwunderung darüber anheimfallen, dass viele Autoren in der Tradition mit „Geschichte“ nicht nur etwas „da draußen“ meinen (ontologische Geschichtsbegriffe) oder eben einen Text, sondern auch etwas, das man tut oder das Historiker tun15, wie man z. B. folgendem beiläufig geäußerten, aber beispielhaften Satz entnehmen kann: „Doing history forces us to make choices about the scale of the history with which we are concerned“ (Little 2010, 15; siehe auch zu dieser Rede im Allgemeinen z. B. Le Goff/Nora 2011 1974, Hexter 1971b, Megill 2007). An solchen Stellen wird also offensichtlich ein epistemologischer oder methodologischer Begriff von Geschichte mit einem ontischen Begriff parallel verwendet. Wir wollen hier auf den oben angedeuteten Punkt hinaus, dass mit „doing history“ oder „faire l’histoire“, was manchmal wohl im Deutschen mit „Geschichte schreiben“ oder „Geschichtsschreibung“ übersetzt werden würde (oder „Geschichte betreiben“; Evans 1999, 241), in unserem Kontext häufig ein spezifischer Typ von Erkenntnistätigkeit oder auch Wissenschaft gemeint wurde. In traditioneller Philosophie ist an dieser Stelle auch von „historischer Vernunft“ oder „historischem Denken“ die Rede. Häufig ist mit derartigen Redeweisen verbunden gewesen und vielleicht auch heute noch verbunden, dieses „Doing History“ von „Doing Science“ abzugrenzen und für eine Erkenntnisform sui generis zu halten. Historiker machen demnach, so könnte man sagen, etwas anderes als Wissenschaft, und was sie machen, ist Geschichten schreiben. Im Englischen ist immer wieder von „History writing“ die Rede (z. B. Curthoys/McGrath 2009), wenn beschrieben werden soll, was Historiker machen. Vermutlich soll mit „Geschichte schreiben“ in solchen Fällen manchmal das benannt werden, was in Geschichte (Disziplin) zentral oder charakteristisch ist. Wiederum sei Christopher Lloyd als einer der besten Kenner zitiert, der die grobe Stoßrichtung solcher Ideen bündig zusammenfasst: Many historians, whether social or not, prefer to believe that their discourse is sui generis, dealing with a realm of subject matter and having methods quite distinct from any other discourse. Many philosophers of history, notably R. G. Collingwood, W. H. Walsh, W. B. Gallie, W. Dray, M. Oakeshott, Isaiah Berlin, and Michael Scriven have supported this intuition and developed defences of historical understanding (Lloyd 1986, 22, Hervorhebung dp). Diese Differenzen, die, wie hier anklingt, auch berühmt-berüchtigterweise mit dem Label „Verstehen“ als Bezeichnung für eine genuin „historische“ oder „geisteswissenschaftliche“

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Ein Geschichtstheoretiker schreibt bündig: „L’histoire, c’est que font les historiens“ (Prost 2010, 13).

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Methode oder Denkungsart versehen worden ist, werden uns später noch gelegentlich beschäftigten (Kapitel 4.2, Kapitel 5). Es ist wohl nicht nur bezogen auf dieses „Verstehen“, sondern auch bezogen auf das „Doing History“ unklar geblieben, worin nun genau diese spezifische Form von „Doing History“ oder „Historischem Denken“ besteht, die es z. B. auch strikt von anderem unterscheidet, was dort also genauer gemacht oder geschrieben wird. Festzuhalten ist wiederum bloß, dass gewöhnlich generisch behauptet worden ist, dass dieses „Doing History“ oder auch jenes „Verstehen“ typisch ist für dasjenige, was in der vermeintlich geisteswissenschaftlichen Disziplin Geschichtswissenschaft vor sich geht (vgl. z. B. die Übersicht in Lorenz 1997). Vor dem Hintergrund der Festlegung des Gegenstandes in obiger Form muss hier nur festgehalten werden, dass auch dies schon immer umstritten gewesen und unklar ist, ob die im Zitat genannten Autoren mit der Ausnahme von R. Collingwood Geschichtswissenschaft im obigen Sinn extensiv zu Gegenständen ihrer philosophischen Bemühung gemacht und ihre Thesen damit einer Begründung angenähert haben, soweit man sie überhaupt als deskriptive Thesen auffassen darf (weiter zur Kritik von Geschichtstheoretikern in 2.2). Etwas klarere Vorstellungen davon, was methodisch oder methodologisch für Geschichte wichtig ist, ist jenseits von „History Writing“ und „Verstehen“ in Theoriefamilien zu finden, die im Kontext von Geschichte auch eine Analogie zur Rede von der (einen) wissenschaftlichen Methode situieren, also eine genuine oder spezifische historische Methode zu explizieren versuchen. Hiervon gibt es nun mittlerweile mindestens zweierlei Formen. Es handelt sich um: -

die (eine) klassische Historische Methode (z. B. Bernheim 1908) oder „Kritik“ (Halkin 1982) einerseits und

-

die (eine) Methode der Historischen Wissenschaft andererseits (z. B. Tucker 2004a).

Die eine Historische Methode findet man in durchaus unterschiedlicher Form und unterschiedlicher Spezifik in klassischen und heute weitgehend vergessenen Lehrbüchern aus der Geschichtswissenschaft (z. B. Langlois/Seignobos 1900, Bernheim 1908, 1927, Feder 1924; Topolski 1976, Halkin 1982) und zunehmend in Kurzform (Howell/Prevenier 2004). Diese zählen wir zur Geschichtstheorie. Manche Geschichtstheoretiker intendieren auch, ihre Studenten in jene „Geschichtswissenschaft“ – so steht es in den Titeln – einzuführen (z. B. von Bernheim 1921 bis Borowsky et al. 1989 und darüber hinaus). Vorstellungen von einer Methode der Historischen Wissenschaften sind jüngst wieder am Rande der Literatur im Rahmen der Philosophie formuliert worden, also der Geschichtsphilosophie oder, besser, der Philosophie der Historischen Wissenschaften, zu denen dann auch Teil-Disziplinen der Biologie gehören können. Manche Autoren behaupten, dass es „die eine Methode der Historischen Wissenschaften“ in Analogie zu der einen „wissenschaftlichen Methode“ gibt, also eine Methode, die einen Typ von Wissenschaft auszeichnet bzw. auszeichnen soll und von anderen abgrenzt, was an der Wende zum 20. Jahrhundert eben die sogenannten Naturwissenschaften als Gegenpol zu Geschichte, Historischen Wissenschaften, Historischen Kulturwissenschaften und so weiter evoziert hätte. Das hieße, dieser Typ von Wissenschaft (als Abstraktum) wird durch jene (Meta-) Methode bestimmt, die ich „die Methode der Historischen Wissenschaft“ nenne, um eine Verwechslung mit der Historischen Methode zu vermeiden. Ein solcher Typ von Wissenschaft wird nun teilweise wieder „Historische Wissenschaft“ („historical science“) genannt, obwohl die Autoren auch verschiedentlich von „historiography“ („Geschichtsschreibung“) oder

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

schlicht „history“ schreiben (Tucker 2004a, 2012, 2014, Cleland 2002, 2009). Von „Historischer Kulturwissenschaft“ oder „Historischer Geisteswissenschaft“ war jedoch früher bereits in der Philosophie die Rede (siehe dazu jüngst Scholz 2013a, 2016a), obwohl auch diese Literatur größtenteils aus der Philosophie „der Geschichte“ verschwunden ist und einem völlig anderen Kontext entstammt. Es handelt sich bei all dem um mehrere Varianten, normativ zu bestimmen, was unter Geschichtswissenschaft oder Geschichte zu verstehen ist, die dann in den alten Varianten z. B. als „Kultur“- oder „Geistes“-Wissenschaft dargestellt wird. Derselbe normative Anspruch findet sich auch auf geschichtstheoretischer Seite in der früheren, wohl zum Stillstand gekommenen Bestimmung einer Historischen Methode.16 Details müssen uns hier nicht interessieren. In der neueren Variante wird „Historische Wissenschaft“ vornehmlich, wie bereits bei K. R. Popper, von „theoretischer Wissenschaft“ abzugrenzen versucht. Auch im neueren Fall der Bestimmung einer Historischen Wissenschaft und ihrer Methode ist es dann so, dass die These mitschwingt, in Historischer Wissenschaft sei die wissenschaftliche Methode irrelevant, z. B. die hypothetisch-deduktive Methode, und Historische Wissenschaft zeichne sich durch etwas anderes aus – per Definition. An dieser Stelle kommt es erneut nur auf die Trivialität an, diese Formen von normativen Auffassungen dessen, was „Geschichte“, „Historische Wissenschaft“, „Geschichteschreibung“ oder „Geschichtswissenschaft“ genannt wird oder genannt werden soll, nicht mit derjenigen Disziplin zu identifizieren und zu verwechseln, die hier „Geschichtswissenschaft“ genannt wird. Denn es ist der Fall möglich und gar nicht unwahrscheinlich, dass diese normativen Vorstellungen mit demjenigen, was in tatsächlichen Disziplinen zu finden ist, wenig, nur am Rande oder auch nichts zu tun haben. Sogar in einem Bereich, der nah an dem Normenfeld klassischer Historischer Methode und den dortigen Regeln des Forschens zu situieren wäre, ist dessen vielleicht gar breite Missachtung jüngst kritisiert worden (Megill 2007). Klassische philosophische Vorstellungen über „Geistes“- und „Kultur“-Wissenschaften waren immer umstritten und waren ferner teilweise in der Geschichtstheorie wenig relevant, was auch hier Zweifel darüber aufwerfen kann, inwiefern diese alten Traditionen wie auch die neueren mit dem hier anvisierten Gegenstand harmonieren. Mit der sozialen oder „institutionellen“ Bestimmung des Gegenstandes sollen also auch diese geschichtsphilosophischen Traditionen und ihre normativen Anteile zunächst umgangen werden, weil mit ihnen zu viele kontroverse Annahmen über Charakteristiken von Geschichte/Geschichtswissenschaft verbunden sind. Das heißt, es wird zunächst mit der Rede von „Geschichtswissenschaft“ nichts bezüglich allgemeiner Fragen um Methodenmonimus (manchmal „Naturalismus“ genannt) und die (eine) allgemeine wissenschaftliche Methode, bezüglich der Geltung oder Relevanz der (einen) Methode der Historischen Wissenschaften oder auch der (einen) Historischen Methode oder des unklaren Geschichte-Schreibens präjudiziert. Denn die Voraussetzung von Geltung und Relevanz solcher Globalhypothesen ist dann nicht zielführend, wenn Zutreffen und Relevanz aufgrund von Unklarheiten nicht von vornherein zu unterstellen sind und der Gegenstand mit einer Disziplin festgelegt wird, die es auch aus an-

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Es sei nur daran erinnert, dass in klassischen Handbüchern über die Historische Methode vor einer Übernahme der einen (natur-)wissenschaftlichen Methode gewarnt worden ist (Bernheim 1908, Langlois/Seignobos 1901), und das nicht unbedingt nur unter dem Einfluss philosophischer Fremdimporte. Dort war dann von der Autonomie der „sciences historiques“ die Rede. Beispielsweise hieß es bei Langlois/Seignobos (1900, xiii): „En outre, les procédés rationnels pour atteindre la connaissance historique diffèrent si fortement des procédés de toutes les autres sciences, qu’il est nécessaire d’en apercevoir les caractères exceptionnels pour se défendre de la tentation d’appliquer à l’histoire les méthodes des sciences déjà constituées“.

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deren Gründen erst zu untersuchen gilt (2.3), wenn auch in den engen Grenzen des Möglichen. Zu den Unklarheiten zählt ganz einfach, dass wir schlicht nicht wissen, ob die vermutlich existente Geschichtswissenschaft (Disziplin) überhaupt methodologisch in irgendeinem Sinne einheitlich ist, was auch heißt, dass wir nicht wissen, ob in ihr z. B., sozusagen weltweit, generell die Historische Methode oder die Methode der Historischen Wissenschaften angewendet wird und ob hier eine allgemeine Wissenschaftsmethode oder viele solcher allgemeiner Methoden überhaupt oder verbreitet anzutreffen sind. Das können wir hier auch aus dem einfachen Grund insofern nicht zu wissen beanspruchen, als zumindest in der Philosophie niemand zu finden ist, der dies jeweils untersucht oder gar nachgewiesen hätte, was eine extensive und intensive Erforschung der Geschichtswissenschaft im obigen, sozialsystemischen Sinn erforderte. Somit ist der Fall denkbar und gar nicht unwahrscheinlich, dass Normen über geschichtswissenschaftliches Forschen und auch bloß begriffliche Festlegungen darüber, was als „Historische Wissenschaft“ oder „Historische Kulturwissenschaft“ oder „Historische Geisteswissenschaft“ zu gelten hat, in der Disziplin Geschichtswissenschaft gar nicht oder bloß eingeschränkt relevant und daher auch diese begrifflichen Stipulationen deskriptiv inadäquat sind. Mit der „sozialen“ oder „institutionellen“ Festlegung des Gegenstandes verliert man nichts, denn man verliert weder irgendetwas auf der Basis von Vorurteilen aus dem Blick noch verhindert dies, normative Geschichtswissenschaftsbegriffe einzuführen, wenn es dafür einen einigermaßen eindeutigen Anlass gibt. Wenn man allerdings mit einem ungeprüften Vorverständnis über Geschichte oder Historische Wissenschaft philosophiert, dann verliert man etwas. Man verliert nämlich die tatsächliche Praxis aus den Augen, was Geschichtstheoretiker mit dem Vorwurf bestrafen, Philosophie der Geschichte sei in Relation zu ihrer Disziplin irrelevant (2.3), was eventuell dafür sprechen kann, dass ein solches Vorverständnis falsch ist. Halten wir aber zunächst in übersichtlicher Form fest, dass es zur Vermeidung von Konfusion und metatheoretischer Einseitigkeit zunächst nützlich zu sein scheint, (i) Geschichte als soziales Gebilde (soziales System)17, (ii) Geschichte als Tätigkeit (Prozess), (iii) Geschichte als (Meta-)Methode (Verfahrensweise) und (iv) Geschichte als kognitives Produkt zu unterscheiden (vgl. teilweise Idrissi 2005, 160). Mit etwas Mut zur Vereinheitlichung kann man auch sagen, dass sich klassische Geschichtstheorie (z. B. Langlois/Seignobos 1900, Bernheim 1908, Topolski 1976) vornehmlich, aber keineswegs ausschließlich, wie jeder Blick verrät, mit Geschichte als Methode und Tätigkeit befasste, jüngere Geschichtsphilosophie ausschließlich mit Darstellungsformen im Kontext der Rede von „Erzählungen“ und zum Beispiel in aller Regel überhaupt nicht mit Forschung (Tätigkeit) oder Methoden (Verfahrensweisen). Manche Geschichtstheorie oder auch Geschichtswissenschaftsgeschichtswissenschaft (Geschichte der Geschichtswissenschaft oder „history of history") befasst sich mit der Vielfalt der Praxis in der Disziplin oder vielleicht auch den Grundlagen von Ansätzen (5.6) oder „Paradigmen“.18 17 18

„Wissenschaft“ meint – wie „Geschichte“ – häufiger eine Menge von Disziplinen (Wissenschaften). Beispiel: „historically-oriented disciplines within science“ (Railton 1980, 17 f.). Um Missverständnisse bezogen auf den „institutionellen“ (Kapitel 7) Gegenstand zu vermeiden, sollte festgehalten werden, dass etwas, das man im Sinn von (ii), (iii) und (iv) als „geschichtswissenschaftlich“ oder „wissenschaftlich“, als „Geschichtswissenschaft“ oder „Wissenschaft“ bezeichnen könnte, auch Gegenstand dieser Abhandlung sein soll, nämlich das Handeln von Geschichtswissenschaftlern, die darin vielleicht an-

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Im Unterschied zum Ausdruck „Wissenschaft“ gibt es im Feld von „Geschichte“ noch den ontischen Begriff, auf den wir nun kommen müssen: (v) Geschichte als (quasi-)ontische Kategorie. Auch ein Exkurs zu ontischen und quasi-ontischen Geschichtsbegriffen scheint schon an dieser Stelle nicht fehl am Platz, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens wollen wir hier den Gegenstand der Untersuchung eingrenzen und dabei auch verhindern, Metaphysik zu betreiben, ohne es zu merken. Zweitens ist bekannt, dass der Ausdruck „Geschichte“ in Common Sense und in unterschiedlichen Wissenschaften eben auch in ontologisch klingenden Arten und Weisen verwendet wird, also als Bezeichnung für etwas „da draußen“. Es ist aber weniger bekannt, dass er in Philosophie der Geschichte eigentlich keinerlei Rolle spielt und entsprechend unklar ist. Drittens droht in der Philosophie die Gefahr hinter dem ersten Punkt, d. h. die Einschleusung unexpliziter Metaphysik bereits genau dann, wenn behauptet oder auch nur insinuiert wird, Historiker untersuchten oder „die Geschichte“ (Disziplin) erforsche Geschichte. Denn das ist, je nach Verständnis von „Geschichte“ im ontischen Sinn, entweder (a) eine unverstehbare, (b) eine triviale, (c) eine absurde oder (d) eine hoch kontroverse Behauptung. Klarerweise sind auch allzu häufig mit den unterschiedlichen epistemischen Verwendungsweisen von „Geschichte“ oder philosophisch aufgeladenen Begriffen von Geschichtswissenschaft ontologische Ideen verbunden, z. B. in der Bestimmung von Geschichte als Kulturwissenschaft die Idee, diese untersuche irgendetwas irgendwie Menschliches. Viertens ist bekannt, dass ontische und methodologische und im engeren Sinne sprach- oder literaturtheoretische Geschichtsbegriffe häufiger parallel verwendet werden, was zu unnötiger Unklarheit führt. Man darf eigentlich noch nicht einmal unterstellen, dass Historiker häufig den Ausdruck „Geschichte“ verwenden, wie jeder Blick in Forschungsliteratur lehrt. Aber zumindest manche Geschichtswissenschaftler verwenden ontische Geschichtsbegriffe, häufig ganz nebenbei, d. h. ohne eine Klärung dessen, was damit überhaupt gemeint ist. Ein Beispiel für eine solche Verwendung aus der geschichtstheoretischen Klassik zeigt dies ganz schön: „Wer wollte die Geschichte des augusteischen Zeitalters schreiben, ohne die ganze Geschichte Roms vor- und nachher zu kennen? Wer könnte die Handlungen eines Papstes richtig miteinander verknüpfen und im Zusammenhang verstehen, ohne die ganze Geschichte des Papsttums zu beherrschen? (Bernheim 1908, 623; Hervorhebung dp). Diese ceteris paribus zu vermeidenden begrifflichen Unklarheiten finden sich auch in der Metatheorie oder Philosophie der Geschichte an allen Ecken und Enden. Was Little oben „narrative“ nennt, nennt er zum Beispiel zuvor und später auch „history“ oder „story“ (Little 2010, 49 f.). Little (2010, 30) zufolge gibt es, das sei bloß am Rande vermerkt, auch „histories“, die keine „narratives“ sind, was für andere begrifflich auszuschließen wäre, das literaturtheoretische Begriffsfeld aber nicht klarer macht. Was er in einem ontischen Sinne teilweise „Geschichte“ nennt, nennt er dann auch wieder „story“ (z. B. Little 2010 32 f.), was dann zur Verwirrung führen kann, gerade weil Little „ontology of history“ im Unterschied zu anderen betreiben möchte (Plenge 2014c), Little aber relativ im Unklaren lässt, was genau mit „history“ jeweils gemeint ist. Die zunächst rein begriffliche Problematik im Kontext der Verwendungen von „Geschichte“ dürfte, fünftens, klar sein, wenn man sich vergegenwärtigt, wie verbreitet Kategorigewendeten „methodischen Grundsätze und Regeln“ (Bernheim 1908, 179) oder „bewährte Regeln unseres Handwerks“ (Braudel 2001 1949, 21) und schließlich die Produkte, die aus diesem Handeln resultieren. Um darüber auch nur grob etwas zu erfahren, muss man sich der Praxis innerhalb der Disziplin Geschichtswissenschaft auch deshalb zuwenden, weil der Philosophie der Geschichte hierzu nichts Eindeutiges zu entnehmen ist (2.2).

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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enfehler wie „Vergangenheit wird Geschichte“, „Geschichte ist ein Konstrukt“, „Heute wurde im Bundestag Geschichte geschrieben, gestern im Olympiastadion“ oder auch „Geschichte ist das, was die Gegenwart aus der Vergangenheit macht“ sind. 19 Die sprachliche Konfundierung von ontischen Geschichten und Texten ist so verbreitet, dass Beispiele bloß unnötig Platz kosten. In Buchtiteln eines bestimmten „historischen“ Genres der „Geschichte“ kann man z. B. nur an der Setzung eines bestimmten oder unbestimmten Artikels (z. B. McNeill 1987, Roberts/Roberts 1985) vage erkennen, in welchem begrifflichen Segment man sich befindet, ob die Autoren mit dem Ausdruck „Geschichte“ im Titel also darauf verweisen wollen, dass sie ein irgendwie spezifisches Produkt hergestellt haben, dessen Merkmale oder die Art und Weise von dessen Genese es zu einer Geschichte machen, oder aber ob Geschichte in irgendeinem Sinn von „Geschichte“ der Gegenstand ihres epistemischen Produkts ist, wie in Topolski „Die Geschichte Polens“ (1985). Geschichtsschreibung, die selbst auf den Artikel verzichtet, lässt einen schon im Titel begrifflich im Regen stehen (Nipperdey 1998, Winkler 2000, Mann 1999 1958)20. Zumindest manchmal findet sich die begriffliche Vermengung von sprach- oder literaturtheoretischen, methodologischen und (quasi-)ontischen Geschichtsbegriffen auch in der Geschichtstheorie (d. h. Metatheorie) und in historiographischen oder geschichtswissenschaftlichen Forschungstexten. Der Historiker F. Braudel (2001 1949; 1986 1979) ist ein ebenso berühmter wie eindeutiger Fall, zu dessen häufiger verwendeten Ausdrücken „Geschichte“ gehörte: „Wie wir sehen, kehren die Berge mit ihren Lasten und ihren Wohltaten der großen Geschichte den Rücken“ (Braudel 2001 1949, 54). „Die Berge sind vielfältig in ihren Reliefs, ihrer Geschichte, ihren Sitten, ja sogar in ihren Kochgewohnheiten“ (ebd. 71). „Kleinasien mit seinen wertvollen tertiären Decken (….), mit seinen Karawanen, seinen Karawansereien und seinen Etappenstädten, steht dank seiner guten Verkehrsverbindungen im Zentrum einer unvergleichlichen Geschichte“ (ebd. 71 f.). „Dennoch scheint es in der Geschichte der Malaria Perioden gegeben zu haben, in denen die Krankheit besonders heftig um sich griff, und andere, in denen sie weniger Kraft entwickelte“ (ebd. 92). „Die Ebenen erobern: dieser Traum ist so alt wie das erste Erwachen der Geschichte. (…) Weit schwieriger als der Kampf gegen den Wald und das Unterholz, ist diese Kolonisation das ursprüngliche und eigentliche Merkmal der Geschichte des ländlichen Mittelmeerraums“ (ebd. 94). Leider schreibt Braudel im Kontext nicht, was das Wort „Geschichte“, das er offenkundig in zahllosen Bedeutungen verwendet, hier oder dort genauer bezeichnet, und dessen Geschichtstheorie können wir hier nicht zurate ziehen. Schwer zu sagen, was Braudel meint (ebd. 135), wenn es heißt: „Die Geschichte liefert in der Tat die großen Erklärungen.“ 21 Ähnliche begriffliche Unklarheiten finden sich auch bei anderen Historikern immer mal wieder. Der Historiker Schulze (1998, 9) verwendet auf fünf Seiten der Einleitung den Ausdruck „Geschichte“ immerhin zwanzig Mal, mal ontisch, mal epistemisch, also als Bezeichnung einer Menge von Aussagen über etwas. Der Historiker Martschukat, der sicherlich anderen Richtung entstammt als der eher „narrativen“ und klassischen Polithistoriographie (nämlich Diskurs-Geschichte), schreibt: 19

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In einem Lehrbuch (Schorn-Schütte 2009, 12) findet sich zu demjenigen, was zuvor als „die Theoriefrage“ bezeichnet wird, wobei es um Rankes Dictum und somit eine erkenntnistheoretische Frage geht, ein schönes Beispiel: „Es gibt eine ernst zu nehmende Position, die davon ausgeht, dass Geschichte immer die Konstruktion derjenigen ist, die über sie schreiben, denn sie deuten mit den Kategorien ihre eigene Gegenwart.“ Nota bene, die hier zufällig gewählten Bespiele haben nichts damit zu tun, dass ich sie für paradigmatisch bezogen auf Kerncharakteristiken von Geschichte, Geschichtsschreibung oder Geschichtswissenschaft halte, wie später klar wird (2.3, 3.1). Viele Erklärungstheoretiker (Kapitel 5) würden im Anschluss verwundert fragen, da hier wohl ein ontischer Geschichtsbegriff verwendet wird: Wozu braucht es dann Geschichtswissenschaften?

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Die Geschichte der Todesstrafe hat in Deutschland unter Historikern und Historikerinnen bislang nur wenig Beachtung gefunden, und dies obschon die Geschichte von Kriminalität, Verbrechen und Strafen in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Konjunktur durchlaufen hat und auch die Geschichte der Gewalt neuerdings zunehmendes Interesse erfährt (Martschukat 2000, 10). Ist hier jeweils mit „Geschichte“ ein Forschungsgegenstand namens „Geschichte der Todesstrafe“ oder eine Forschungslinie namens „Geschichte von Kriminalität“ gemeint, die sich mit diesem Gegenstand oder etwas anderem beschäftigt? Oder ist beides gemeint? H. A. Winkler (1999, 2) schreibt: „Warum es zur Herrschaft Hitlers kam, ist immer noch die wichtigste Frage der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, wenn nicht der deutschen Geschichte überhaupt?“. Heißt dies, die deutsche Geschichte stellt selbst Fragen? Soll man ihm zudem glauben, es existiere oder existierte etwas, das als „deutsche Geschichte“ zu bezeichnen ist und von „Grundtatsachen“ geprägt sei, oder handelt es sich bei dieser Geschichte oder jenem Deutschland um eine „narrative Substanz“ (Ankersmit 1981), also eine Fiktion? Falls man diesem Historiker nicht glauben darf, was er wörtlich zu sagen scheint, darf man dann einem anderen glauben (Nipperdey 1998, 11, 25, 26, 31), der von einer „Geschichte der Deutschen“, „dem Fortgang der deutschen Geschichte“, „der Geschichte der nationalen Frage“ und vom Anfang der „für unsere Geschichte so entscheidenden Nationalbewegung“ schreibt? Das ist schwer zu sagen, solange nicht klar ist, was beide mit „Geschichte“ meinen. Der Historiker H. U. Wehler (1989, 47) schrieb vom 18. Jahrhundert, „in dem eine deutsche Geschichte als singulärer Prozeß noch nicht auszumachen ist“. Was heißt es z. B., an der „Einheit der Geschichte“ festzuhalten oder die „Entstehungsgeschichte unserer Gegenwart zu beleuchten“ (ebd. 29, 13)? Solange unklar ist, was mit „Geschichte“ gemeint ist, sind solche Fragen schwer zu beantworten. Klar scheinen die Antworten nicht zu sein, denn die sogenannten Postmodernen würden sicherlich jene „Einheit“ bestreiten.22 Vielleicht sind schon das Fragen, die eine philosophische Beschäftigung legitimieren könnten, weil bestimmte Verwendungen des Ausdrucks „Geschichte“ in ontischer oder quasiontischer Bedeutung implizite „philosophische Wahlen“ darstellen, die Geschichtswissenschaftler vornehmen oder gar vornehmen müssen. Wir kommen darauf zurück, wenn wir danach fragen, wer Geschichtsphilosophie benötigt (2.2). Viele weitere Beispiele aus Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft, auch aus den späteren Fallstudien (Kapitel 3) aus der Mini-„Anatomie“, ließen sich für solche Unklarheiten anfügen. Aber man könnte schon hier behaupten, dass in solchen Texten latente Ontologien transportiert werden, die Verabschiedung der Ontologie aus der Philosophie der „Geschichte“ also eventuell voreilig gewesen ist. Allerdings sollten wir zugleich Hypergeneralisierungen den Wind aus den Segeln nehmen, denn die Verwendung des in Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie weithin unbehandelten Ausdrucks „Geschichte“ ist selbstverständlich in Geschichtswissenschaft nicht so häufig oder systematisch zentral, wie diese Zeilen aus einem bestimmten Literaturspektrum vielleicht suggerieren. Anders gesagt, selbst die Relevanz des Ausdrucks „Geschichte“ und insbesondere dessen Verwendung kann vor dem Hintergrund der Festlegung des Gegenstandes nicht generell unterstellt werden, bloß weil die Prima-facie-Disziplin international zumeist „Geschichte“ genannt wird. Zunächst sollte es aber darum gehen, in solchen Äußerungen zu verstehen, was überhaupt gesagt wird, falls etwas Verstehbares gesagt wird. In manchen Fällen kann man daran zweifeln, dass Äußerungen, in denen von Geschichte die Rede ist, auch auf philosophischer Seite 22

Die Antwort, die man geschichtswissenschaftlichen Lexika zum Verständnis von „Geschichte“ entnehmen kann, findet sich in Kapitel 7.3.5.

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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verstehbar sind, obwohl sie früher mal äußerst berühmt gewesen sind: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr“ (H. G. Gadamer, zitiert in Haussmann 1991, 153). Letzteres klingt zunächst aufregend, aber wer oder was oder wie viele ist sie, diese Geschichte? Entsprechend unverständlich sind dann auch regelmäßig verwandte Redeweisen von „Historizität“ oder „historicality“ (Mahajan 2011, 43), die im deutschsprachigen Raum besonders in „philosophischer Hermeneutik“ anzutreffen gewesen sein soll. Von deren Begriff von „Geschichtlichkeit“ behauptete H. Albert (1994, 63), dessen Bedeutung sei nie geklärt worden. Die gesamte Geschichtsterminologie umweht in vielen Bereichen offensichtlich eine seltsame Mystik. Wir können hier nicht die heterogenen Äußerungen von Historikern und anderen analysieren. Es seien aber einige Geschichtsbegriffe aus dem (quasi-)ontischen Spektrum23 an dieser Stelle in Form einer kleinen Liste und zum Zweck der Orientierung auseinandergehalten. Ich liste aber hier nur jene auf, auf die man beinahe unweigerlich stoßen muss und die sich auch leicht grob auseinanderdröseln lassen. Es gibt vermutlich einige mehr.24 Wenn man sich fragen wollte, ob die Geschichte (Disziplin) Geschichte untersucht (z. B. vertreten von Rama 1974, 92), sollte man vorher klären, was mit „Geschichte“ so alles gemeint sein kann25: (i) Geschichte ist die Menge aller Ereignisse oder Vorkommnisse oder Geschehnisse, vergangen, gegenwärtig und zukünftig. Anstatt „Geschichte ist …“ kann man auch jeweils „Als eine ‚Geschichte‘ wird bezeichnet …“ schreiben, falls es einem lieber ist, eine Redeweise, die ontologisch realistisch klingt, zu vermeiden, die in vielen Fällen hier auch besser vermieden werden müsste, was allerdings an dieser Stelle kein Thema ist. (ii) Geschichte ist die Menge aller vergangenen Ereignisse oder Vorkommnisse oder Geschehnisse, also so etwas wie „gewesenes Geschehen“ (Faber 1972, 23, Tucker 2014, 362).26 (iii) Geschichte ist (a) die Menge aller zeitlich und räumlich relationierten Ereignisse oder Vorkommnisse oder Geschehnisse (vergangen, gegenwärtig, zukünftig) oder aber (b) bloß die Menge aller vergangenen, zeitlich und räumlich relationierten Ereignisse oder Vorkommnisse oder Geschehnisse.

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Unter einem ontischen Geschichtsbegriff (oder einer ontischen Kategorie) wird hier grob ein solcher verstanden, der in einem ontologischen begrifflichen System unverzichtbar ist. Nach langem Vorlauf stoßen wir auf ein solches System in Kapitel 7. Ein quasi-ontischer Geschichtsbegriff ist grob ein solcher, von dem dies nicht der Fall ist. Benedetto Croces (1921, 117) „conception of history“ identifiziert „history with the act of thought itself, which is always philosophy and history together“, was immer das heißen mag. Dies gehört in die ontische Sparte, da in Croces idealistischer Metaphysik gilt: „nothing exists outside thought“ (Croce 1921, 108; siehe dazu auch im Kontext Kapitel 7.1). Ausdrücke wie „Ereignis“, „Ding“ und „Prozess“ etc. müssen hier als Blindflüge und dennoch grob verständlich gelten, daher müssten sie eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden, damit keine Klarheit vorgegaukelt wird, die es nicht gibt. Ich verzichte teilweise auf diese Anführungszeichen, jedoch nicht immer, da sie deutlich machen, dass wir schon hier mit ontologischem Feuer hantieren (Kapitel 7). „Die Geschichte ist nicht am Ende, jeden Tag wächst sie (damit unsere ‚Arbeit‘) weiter an, wird die Vergangenheit länger, wenn auch nicht unbedingt ‚größer‘“ (Kolmer 2008, 94).

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Aufgrund dieser Relationen ist mit „Geschichte“ auch normalerweise mehr gemeint als mit „Vergangenheit“. In anderen Geschichtsbegriffen kommen weitere Relationen hinzu: (iv) Geschichte ist (a) die Menge aller zeitlich und räumlich relationierten, kausalen Abfolgen von Ereignissen, also die Gesamtmenge kausaler Ereignisfolgen oder „Prozesse“ (vergangen, gegenwärtig, zukünftig), die vielleicht von manchen Philosophen auch als „causal structure of the world“ bezeichnet wird, (b) manchmal bloß unter Ausschluss der sozusagen letzten Glieder der „Struktur“, den gegenwärtigen Ereignissen (z. B. Cohen 1947, 107). (v) Eine (konkrete) Geschichte ist eine (singuläre) kausale Abfolge von Ereignissen (oder ein kausaler „Prozess“), d. h. grob die Gesamtheit aller Ursachen und Wirkungen eines konkreten „Ereignisses“ E1 (zu t1), wobei alle mit E1 kausal verbundenen „Ereignisse“ En (vor t1) und En (nach t1) die „Glieder“ oder „Komponenten“ jener Geschichte sind. Oder anders gesagt: Diese zeitlich, räumlich und kausal geordnete Menge von Ereignissen (oder ggf. anderer Relata) gilt ontisch als Ganzes und wird „Geschichte“ genannt. Hier ist auch häufiger, zumindest im Englischen, direkt von „causal history“ die Rede (z. B. Strevens 2008, 43), manchmal ist bloß von „factual histories“ (Railton 1980, 414) die Rede, was eventuell bereits signifikante Unterschiede beinhaltet, was vom ontologischen Kontext abhängen dürfte (Kapitel 7). Um das noch etwas zur Verständlichmachung auszuschmücken, in diesem begrifflichen Segment gibt es scheinbar drei Formen einer Geschichte, erstens die Kettenform, sozusagen ein „Prozess“ (tendenziell Mill 1844), zweitens die Wurzelform oder Baumform (D. Lewis 1986a/b, Roberts 1996, Glennan 2010, 2014), sozusagen viele „Prozesse“, die aber in ein „Ereignis“ münden oder daher vielleicht auch einen baumartigen „Prozess“ darstellen, je nach Verständnis von „Prozess“. Es gibt auch die Vorstellung der „Netzform“ (Gerber 2007; Pape 2006, 137). Wollte man dies weiter klären, müsste man z. B. klären, was mit „Prozess“ oder auch Kategorien wie „Ereignis“ gemeint ist oder gemeint sein kann (Kapitel 7), da darunter zumeist jeweils etwas anderes verstanden wird. Ein davon zu unterscheidender Geschichtsbegriff ist der folgende: (vi) Die Geschichte eines konkreten Dings ist die zeitliche Abfolge aller Zustände des konkreten Dings (Bunge 1977a, 1979a, 1996, 1998). Von „the history of things“, die auch Naturwissenschaftler interessiere, schrieb neben „the history of a system“ der Wissenschaftsphilosoph P. A. Railton (1980, 421, 148) eher beiläufig. S. Glennan (2014, 274) schreibt am Schnittpunkt von Wissenschafts- und Geschichtsphilosophie „all things in this world … have their histories“. Beide explizieren aber nicht, was sie mit „history“ genauer meinen, weshalb nicht klar ist, ob sie die letzte Vorstellung (7.3.5) teilen oder nicht. Der Geschichtswissenschaftler Hainzmann (1975) schreibt im Titel von der „Geschichte der stadtrömischen Wasserleitungen“. Folgendes scheint im Unterschied zu den letzten beiden Geschichtsbegriffen eher grob in Philosophie „der Geschichte“ gemeint zu sein: (vii) Die Geschichte ist eine Untermenge der Gesamtmenge aller Ereignisse (Geschehnisse, Vorkommnisse etc.), nämlich jener Ereignisse, die mit „Kultur“ oder „Menschen“ oder „Gesellschaft“ oder „Geist“ oder „Intentionalität“ oder auch bloß

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Sprache (etc.) irgendwie zu tun haben (z. B. Droysen 1972 1858, 326, Collingwood 1970, 128, Little 2010, Gerber 2012). Es hieß mal unter der Überschrift „Was ist Geschichte?“ einschlägig: „Der Träger der Geschichte ist der Mensch. Es gibt keine Geschichte ohne Menschen. Nur wo der Geist waltet, das Kriterium des Menschentums, ist Geschichte möglich“ (Görlitz 1949, 8; vgl. z. B. Schieder 1968). „Prähistorie“ meint gelegentlich alle Ereignisse, die vor der Entwicklung von Sprache stattgefunden haben. Weitere Geschichtsbegriffe lassen sich durch die Kombination dieses kulturalistischen oder anthropozentrischen Geschichtsbegriffs mit (ii) und (iii), (iv) und (v) generieren, z. B. falls eine kausale Ordnung dieser Ereignisse im letzten Segment angenommen wird, in dem Geschichte ontologisch und begrifflich mit Kulturellem oder Mentalem verbunden wird. Ein solcher Geschichtsbegriff ist in Doris Gerbers (2012, 65; 2014) neuer Metaphysik der Geschichte und der folgenden These enthalten: „Die historische Realität ist eine soziale Realität“, denn hier wird eine „kausale“ (6.3) Strukturierung der mit „Intentionalität“ verbundenen „Ereignisse“ angenommen, und nur so etwas wird „Geschichte“ oder „historisch“ genannt. In diesem Fall der jüngeren „Metaphysik der Geschichte“ ist mit der These auch beiläufig verbunden, dass Natur keine Geschichte hat, weshalb es auch Naturgeschichte als Disziplin eigentlich nicht geben kann (vgl. z. B. früher bereits Croce 1921), oder mit „Geschichte“ ist an dieser Stelle von „Naturgeschichte“ etwas irgendwie anderes gemeint. Eine leichte Spezifikation und eventuell auch Radikalisierung des letzteren Geschichtsbegriffs ist der folgende antikausalistische Geschichtsbegriff, der in manchen „interpretativen“ oder „hermeneutischen“ Strömungen der Metasozialwissenschaft und Philosophie der Sozialwissenschaften latent zu finden ist: (viii) Geschichte ist die Gesamtheit der zeitlich und räumlich (aber nicht kausal) relationierten, also aufeinanderfolgenden Handlungen (von Menschen), wobei Handlungen keine „Ereignisse“ (etc.) sind, nichts „verursachen“ und nicht „verursacht“ werden (tendenziell Mahajan 2011). Damit kommen wir schon zu dem groben Verständnis, das in klassischer Philosophie „der Geschichte“ eventuell zentral war: (ix) Eine Geschichte oder, besser, die Geschichte ist dasjenige Ganze, woraus auch immer es bestehen mag, was immer also dessen „Teile“ oder „Komponenten“ sind, das über oder jenseits der Menschen schwebt, aber irgendwie irgendeine „Richtung“ oder „Bedeutung“ oder einen „Sinn“ oder eine „Bestimmung“, ein „Wesen“, ein „Ende“ oder auch ein „Ziel“ hat. Vermutlich ist die Rede von „Teilen“ und „Komponenten“ hier überflüssig, da der Begriff in einem starken Sinn holistisch oder dualistisch ist, d. h., die Geschichte ist unabhängig von irgendwelchen (konkreten, materiellen, singulären) „Teilen“ oder „Komponenten“. Vielleicht ist das Verhältnis unklar. Dies ist das Feld der vormals als „spekulative Geschichtsphilosophie“ bezeichneten Spielart von Philosophie der Geschichte. Zumeist scheint davon ausgegangen zu werden, dass diese ontische Ganzheit, um die es sich wohl handeln soll, einen Anfang und auch ein Ende hat, soweit sie nicht im Kreis läuft. Manchmal fallen in einem solchen Kontext oder der Kritik an solchen Vorstellungen Ausdrücke wie „the evolution of history“ (Lloyd 1993, 166, im Kontext von Poppers 1987 Kritik am „Historizismus“), was auch den Ganzheitscharakter oder Entitätencharakter von dieser Geschichte andeutet, d. h. diese Ge-

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schichte evolviert, entwickelt sich, verändert sich oder mit ihr geschieht irgendetwas ähnliches. Französische und englische Autoren aus der Geschichtstheorie zeigen ihre Ehrfurcht vor diesem „die Geschichte“ manchmal anhand eines gezielt platzierten Großbuchstabens („History“, „Histoire“), was im Deutschen leider Schwierigkeiten bereitet. Die postmoderne oder narrativistische Inversion dieser Metaphysik ist bekannt, auf die eine britische Geschichtstheoretikerin hingewiesen hat: In some respects the postmodernist emphasis on ‚ruptures‘, lack of any real connection between different elements in the past, and the intrinsic meaninglessness of human history, can be seen simply as yet another metanarrative, a set of philosophical assumptions about the ultimate meaning – or rather lack of it – of collective human existence over time (Fulbrook 2002a, 59). Was auch immer „meaning“, „collective human existence“ und „human history“ hier heißen mögen. Der Soziologe R. Boudon (2003, 168) äußerte gar als These über die postmoderne These: „pour les postmodernistes, l’histoire s’est arrêtée“, was auch immer hier zum Stillstand gekommen sein mag. Klassische Geschichtstheoretiker handeln Derartiges auf der ersten Seite ab, um sich dann davon zu verabschieden (Langlois/Seignobos 1900, V). Andere verabschieden sich davon im ersten Kapitel, und zwar mit der Betonung „filosofía de la historia“ betreibe man nicht, auch nicht „teoría o filosofía de la historia“ (Cardoso/Brignoli 1984, 35-37). Da unter „Philosophie der Geschichte“ unter Historikern zumeist noch immer diese spekulative Variante verstanden wird, hat Philosophie der Geschichte (oder Geschichtsphilosophie) hier zumeist einen schlechten Ruf. Ich verabschiede mich an dieser Stelle von dieser „die Geschichte“, da auch außerhalb der spekulativen Geschichtsphilosophie im Rahmen von ähnlichen Redeweisen nicht klar ist, was mit „der Geschichtsverlauf im ganzen“ (Haussmann 1991, 12) gemeint ist, was mit „Historical reality, which is an ontological unity“ oder „the process of history“ (Topolski 1991, 334), was mit „the whole history of mankind“ (ein Werbetext für ein Philosophiebuch), „the direction or development of human history as a whole“ (Cohen 1947, 10), „Weltgeschichte“ oder „Menschheitsgeschichte“ oder „Gang der Geschichte“ (Braudel 1986 1979, 12, 20) gemeint ist, wenn man es nicht irgendwie andernorts in der Liste verorten kann und entsprechenden Behauptungen einen erkennbaren Sinn verleiht (siehe auch Kapitel 7).27 Drei vage Verwendungsweisen, die in der Geschichtswissenschaft recht verbreitet sind, listen wir in der folgenden Fußnote28 und fahren fort mit einem im Vergleich dazu klareren Geschichtsbegriff, dann mit Common Sense, dann mit Sozialontologie: 27 28

Eine lesenswerte Verteidigung eines „Historizismus“, in der neben „Gesetzen“ auch von „Mechanismen“ der Geschichte die Rede ist, findet sich in Snooks (1998). (x-1 ) (Eine) Geschichte ist eine Gesamtheit von Veränderungen in Typen von Dingen, d. h. hier grob all das, was mit allen Instanzen („Token“) eines Typs von Ding passiert. Zum Beispiel in Ausdrücken wie „Geschichte der Wappen“, „Geschichte der Menschheit“, „Geschichte des Kaffees“ taucht eine solche Vorstellung auf. Mit diesen Ausdrücken werden teilweise die Gegenstände von Geschichtsforschung benannt. (x-2) (Eine) Geschichte ist die Menge aller Ereignisse, Vorkommnisse, Geschehnisse (etc.) oder auch Eigenschaften eines bestimmten Typs, z. B. „Geschichte des Oktoberfestes“, „Geschichte des Historikertages“, „the history of historical writing“ (Fulbrook 2002a, 32), „Geschichte der Fußballweltmeisterschaft“, „politische Geschichte“ (Braudel 1986b 1979, 508), „Wissenschaftsgeschichte“, „Carlos‘ medical history“ (Railton 1980, 249), „the history of ancient diseases“ (Cohen 1947, 191), „Geschichte des Terrorismus“ (H. Leyendecker, SZ). (x-3) Eine Geschichte ist ein Irgendwas von oder aus Irgendwassen – auch aus oder von abstrakten Gegenständen -, z. B. „Geschichte des Film Noir“, „Geschichte der Email“, „history of medieval institutions“

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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(xi) Eine Geschichte ist die zeitlich geordnete Abfolge der Werte einer Eigenschaft (siehe dazu Kapitel 7.3.2). Prima-facie-Beispiele: „Bevölkerungsgeschichte“ (Medick 1996, 302), „Klimageschichte“ (Bartelborth 2012, 81) „the history of life expectancy and mortality“ (Fulbrook 2002a, 130), „the history of rainfall“ (Cohen 1947, 153). (xii) Eine Geschichte ist oder „Geschichte“ bezeichnet die Gesamtheit aller Ereignisse, Geschehnisse, Vorkommnisse etc., die sich in einem Raum-Zeit-Gebiet abgespielt haben. Eventuell beispielhaft sind: „deutsche Geschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ (Kocka 1978, 130), „europäische Geschichte“ (Nonn 2007), „Geschichte des 9. Jahrhunderts“ (Ganshof 1961, 36) oder „Geschichte des Mittelmeeres“, „Geschichte des Mittelmeergebiets“ (Braudel 2001 1949), „l’histoire d’immenses périodes du passé“ (Langlois/Seignobos 1900, 1 f.), „Geschichte des augusteischen Zeitalters“ (Bernheim 1908, 623). (xiii) Eine Geschichte ist eine zeitlich geordnete Abfolge konkreter – Weberianisch gesprochen - sozialer Gebilde unterschiedlicher Typen, inklusive der „Transformation“, „Evolution“, oder „Entwicklung“ von dem konkreten sozialen Gebilde vom Typ X zum konkreten sozialen Gebilde vom Typ Y. Beispiele: (i) 1. Reich → 2. Reich → 3. Reich → BRD; (ii) Feudale Gesellschaft → Kapitalistische Gesellschaft → Sozialistische Gesellschaft → Kommunistische Gesellschaft; (iii): Fürstentum → Territorialstaat → (National-)Staat → Föderaler Teilstaat. Im letzten Fall (xiii) ist das Unterscheidende, dass hier etwas irgendwie Neuartiges entsteht (7.3.2) und nur etwas, in dem so etwas Neuartiges entsteht, wird hin und wieder in mancher Schule mit dem Ausdruck „Geschichte“ belegt oder eine „historische“ Entwicklung genannt, z. B. auch in früheren Marxianischen Ansätzen in den Geschichts- und (Makro)-Sozialwissenschaften, aber wohl keineswegs nur dort. In der Überlappung von dieser Redeweise mit derjenigen aus (xi), also Geschichte als Veränderung einer Eigenschaft, ist manchmal die Idee zu finden, einzig und allein im Kontext von Sozialem sei genuin von Geschichte zu reden und sonst nicht, wobei dann fraglich ist, was mit „sozial“ eigentlich gemeint ist und was eine soziale Eigenschaft ist (Kapitel 7). Die impressionistische Liste sollte nahelegen, dass es verschiedene, mal mehr und mal weniger interessante oder spektakuläre (quasi-)ontische Geschichtsbegriffe gibt, die sich bei näherem Hinsehen auch als unterschiedlich problematisch erweisen würden. Ist das interessant? Zum einen ist die Antwort „Ja!“ und zum anderen lautet sie „Nein!“. „Ja“, denn einige Geschichtswissenschaftler reden von Geschichte im Kontext ihrer Forschungsgegenstände und in aller Regel ist unklar, was damit überhaupt gemeint ist. Die Liste kann hier zur Klä(Postan 1972, 2), „the history of a particular set of beliefs“ (Mandelbaum 1977, 6), „the history of English between the Norman Conquest and the fourteenth century“ (Bloch 1970, 84), „Geschichte des praktischen Syllogismus“, „Geschichte des Papsttums“ (Bernheim 1908, 623), Geschichte der Idee mechanismusbasierter Erklärungen (Hedström/Ylikoski 2010, 50). M. Martin (2000, 15) behauptete, was auch irgendwo in diese Rubriken passt, „marijuana can be understood in terms of the history of the legal sanctions against it or the prospects for legal reform“. Ein Beispiel ist noch in „a period in the history of science or philosophy“ oder „the history of French literature“ (Mandelbaum 1977, 19 f.) zu sehen. Aus der später in Kapitel 7 eingenommen Sicht handelt es sich bei diesen Geschichtsbegriffen um Kategorienfehler (Typ versus Token), weshalb wir uns mit ihnen nicht aufhalten. Ferner handelt es sich häufiger wohl um Konfundierungen von ontischen Geschichten mit Texten über irgendwas, die „Geschichte“ genannt werden. Hier sei nur vorgreifend festgestellt, dass mit diesen Ausdrücken auch teilweise die Verstehensgegenstände benannt werden sollen (5.5), worauf ich später auch nicht eingehen werde.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

rung durch Orientierung wenigstens beitragen. „Ja“, denn aus mancher Geschichtstheorie wurde, vermutlich in Abgrenzung von Geschichtsbegriffen aus dem Bereich der spekulativen Metaphysik der Geschichte, der Ausdruck „Geschichte“ verabschiedet. Er wurde dann z. B. durch „Vergangenheit“ ersetzt (Marwick 2001, Marrou 1974 1954), wohl manchmal in antimarxistischer Haltung. Es heißt dann z. B. bis heute nicht mehr, Historiker untersuchten Geschichte, weil dies eventuell ontologisch aufgeladen klingt, sondern es heißt, Historiker untersuchten Vergangenheit, was beinahe völlig uninformativ ist (4.1). In solchen Fällen ist aber nicht klar, was damit gewonnen ist, weil „Vergangenheit“ so vage ist wie (ii) oben, und es ist auch nicht klar, was abgelehnt wird, da häufiger nicht gesagt wird, welches Verständnis von „Geschichte“ abgelehnt wird. Die Liste ermöglicht also Differenzierung in solchen Fällen.29 Wir sollten aber an dieser Stelle (noch) nicht zu viel ontologisieren, denn in einer Hinsicht lautet die Antwort „Nein“ und diese Liste ist zunächst, wenn man den Gegenstand der Untersuchung festlegt, wie wir ihn festgelegt haben, uninteressant oder mit Vorsicht zu genießen. Denn wir sollten nicht von vornherein unterstellen, dass irgendeine Geschichtsontologie oder ein ontischer „Begriff der Geschichte“ etwas mit dem zu tun hat, was in der (Primafacie-)Disziplin Geschichtswissenschaft vor sich geht. Die Liste legt nicht nur nahe, dass Vorsicht geboten ist vor der Rede von dem Begriff der Geschichte, den man durch Analyse von handverlesenen Beispielen oder philosophischen Intuitionen gewinnen könnte, sondern noch mehr vor einer Identifikation einer jeden Ontologie der Geschichte (oder einem „Begriff der Geschichte“) mit geschichtswissenschaftlicher Praxis. Doris Gerber (2012) hat recht kürzlich die gähnende Leere bezüglich der Geschichtsontologie im Rahmen der Geschichtsphilosophie in einer „Analytischen Metaphysik der Geschichte“ durchbrochen. Allerdings glaube ich nach dem Obigen nicht, dass es den einen Begriff von Geschichte gibt, zumal einen solchen, der im Rahmen der Geschichtswissenschaft (Disziplin) geteilt würde. Gerber sieht das wohl anders, d. h., sie scheint den einen Begriff zu kennen und zu wissen, dass dieser etwas mit Geschichtswissenschaft zu tun hat: Zu den grundlegenden Thesen der hier entwickelten Theorie gehört die Annahme, dass es einen systematischen, begrifflichen Zusammenhang zwischen Geschichte und Handlung gibt. Diese These ist für sich genommen sicher sehr plausibel und allgemein anerkannt, wenn auch die Konsequenzen, die daraus folgen, umstritten sind (Gerber 2012, 65).

29

Manche Geschichtswissenschaftler halten sich jedoch nicht daran und schreiben über so etwas. Die Geschichtswissenschaftlerin A. Riedle (2011, 32) schreibt von der „Geschichte des KZ Sachsenhausen“ sowie der „Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ und meint im Kontext eindeutig keine Texte. Bei M. Füssel findet man Folgendes: „Die Auseinandersetzungen um das Gestühl der Universität sollen im Folgenden exemplifizieren, wie entsprechende Konflikte sich im Kontext der Geltungsbehauptung einer spezifischen Korporation auswirkten. Die Streitigkeiten sind insbesondere abhängig von der Geschichte und der aus ihr resultierenden Funktionalität der Räume (…)“ (Füssel 2006, 313). A. Frings (2007a, 12) schreibt: „Die vorliegende Analyse soll die für den Beobachter zunächst verworrene Geschichte der sowjetischen Alphabetpolitik hinreichend erklären.“ Goubert (1956, 55) schreibt von der „past history“ der Beauvaisis, welche für die Einheit der Region verantwortlich sei. C. Burhop (2011, 46) schreibt über die vier Jahre des Ersten Weltkriegs in einer „Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs“: „Diese vier Jahre gehörten zweifelsohne zur Geschichte und auch zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs“. Bei Altrichter/Bernecker (2004, 188 f.) heißt es unter anderem, „[s]eit dem Zweiten Weltkrieg kann sich kein Staat mehr der Illusion hingeben, seine Geschichte ausschließlich selbst zu bestimmen“, und es heißt eine Seite später, „die Geschichte des Kalten Krieges gehört zur Geschichte der Sowjetunion und der westlichen Antworten auf ihre revolutionäre Herausforderung“. Die Heterogenität der Gegenstände, denen hier etwas zugeschrieben wird, das (jeweils) „Geschichte“ genannt wird, ist beinahe offensichtlich.

2.1 Was ist der in dieser Studie anvisierte Gegenstand?

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Dies scheint allein schon zweifelhaft, weil Philosophen der Biologie oder der Geologie bzw. jene Wissenschaftler, die diese Disziplinen bilden, selbst der These, Geschichte habe „begrifflich“ etwas mit Menschen oder Intentionen zu tun, kaum zustimmen werden, nicht bloß der weiteren Ausgestaltung jener These. Auch Physiker und bisher ungezählte Metaphysiker verteilen den „Titel Geschichte“ (Gerber 2012, 182) an Gegenstände, die mit Menschen und deren Intentionen oder Handeln nichts zu tun haben. So schreibt beispielsweise ein berühmter Wissenschaftsphilosoph: „A causal process is a world line of an object that transmits a nonzero amount of conserved quantity at each moment of its history (each spacetime point of its trajectory)“ (W. Salmon 1997, hier zitiert mit Modifikationen von Psillos 2002, 124). Der Wissenschaftsphilosoph S. Glennan (2014, 274) schreibt, wie bereits angemerkt: „All things in this world, from humans to other species, geological formations, continents, and galaxies, have their histories (…)“. Warum diese Autoren und andere den Begriff der Geschichte verfehlen, ist nicht recht einsichtig, zudem die klassische Begriffsgeschichte nahelegen könnte, dass zweifelhaft ist, wo nach so etwas zu suchen wäre, zumal die obige Liste nahelegt, dass unterschiedliche Autoren ganz einfach unterschiedliche Begriffe von Geschichte haben. Auf den alten (ontologischen) Unterschied zwischen Natur und Geschichte, auf den Gerber im Sinne einer „begrifflichen Dependenz von Intentionalität und Historizität“, also in leicht neuem Gewand, „beharren“ (Gerber 2012, 186 f.) möchte, verzichten andere ganz einfach. Zudem erweist er sich in der Breite handelsüblicher geschichtswissenschaftlicher Praxis als nicht durchzuhalten (Kapitel 3). Warum es sich bei der Verbindung nicht bloß um eine wenn auch legitime, aber dennoch bloß stipulative definitorische Festlegung handelt, aus der sich zunächst nichts Weiteres von Interesse ergibt, auch nicht für eine Betrachtung der Geschichte (Disziplin), ist an solchen Stellen dann zu fragen. Das gilt natürlich auch, sobald wir selbst zu ontologisieren anfangen (Kapitel 7). Das metageschichtswissenschaftliche Problem liegt aus der Perspektive der hier vorgenommenen Festlegung des Gegenstandes wie den weiteren damit verbundenen Annahmen zunächst nicht in einer möglichen begrifflichen Willkür, sondern in der Bestimmung der im Zitat angedeuteten weiteren Konsequenzen. Gerber legt definitorisch fest, dass „Geschichte“ ontisch etwas mit Intentionalität und Kausalität zu tun hat, und sie legt offenbar in diesem Kontext auch a priori fest, dass Geschichtswissenschaft Geschichte untersucht, und zwar in einem Verständnis, das eben eine Mischung aus Geschichtsvorstellungen aus den Segmenten (v) und (vi) ist, also einer kausalistischen und anthropozentrischen oder intentionalistischen Geschichtsvorstellung, wobei dabei auch auf eine im philosophischen Rahmen immer kontroverse Kausalitätsvorstellung rekurriert werden muss, von der auch nicht vorausgesetzt werden kann, dass Geschichtswissenschaftler oder irgendwelche Wissenschaftler sie teilen (Kapitel 6). Gerber legt dies a priori fest, denn sie untersucht keinerlei geschichtswissenschaftliche Praxis, also Geschichtswissenschaft im Sinne einer Disziplin. Es spricht im weiten Feld der philosophischen Ansätze zwar nichts dagegen, dies so oder so ähnlich zu machen. Aus der hier eingenommenen Perspektive, die den Gegenstand der Untersuchung in Geschichtswissenschaften als sozialen Systemen von vornherein setzt – und z. B. auch nicht mit dem Begriff der Geschichte identifiziert (oder der „Idee der Geschichte“; Dray 1964, 1993) –, ist klar, dass man a priori nicht wissen kann, welchen „Begriff der Geschichte“ Geschichtswissenschaftler verwenden, falls sie überhaupt einen verwenden. Und da hier aufgrund der Liste nicht vorausgesetzt werden kann, dass es den einen „Begriff der Geschichte“ gibt, kann auch die Legitimität der Verwendung von einem der vielen ontischen Geschichtsbegriffe allenfalls vergleichend bestimmt werden, also in einem Vergleich der Ontologien und einem Vergleich der Ontologien mit irgendeiner Praxis oder wenigstens Geschichts(meta)theorien oder Sozial(meta)theorien.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Obwohl wir später aus vielerlei kleinen Gründen auch Ontologie betreiben (Kapitel 6), wollen wir hier eine begriffliche und sachliche Vermengung von ontologischen Vorstellungen mit Vorstellungen über die Disziplin im Begriff der „Geschichte“ oder der Auffassung von „Geschichts“-Wissenschaft genauso vermeiden wie das Hineindefinieren von methodologischen Normen in die zum Ausgangspunkt genommene Vorstellung von demjenigen, was „Geschichtswissenschaft“, „Historie“ oder schlicht „Geschichte“ genannt wird. Nach dieser Klärungsskizze sind wir bei der Möglichkeit einer kleinen terminologischen Festsetzung angelangt. Um im Folgenden die Unklarheiten zu minimieren, die im Umfeld von „Geschichte“ notorisch auftreten, nenne ich soziale Systeme (oder „Gebilde“), die von Geschichtswissenschaftlern prima facie gebildet werden, „Geschichtswissenschaft(en)“ und nicht „Geschichte“, weil dies bloß terminologisch verwirrt. Die geschichtswissenschaftlichen Produkte, die von Geschichtswissenschaftlern als Komponenten von Geschichtswissenschaften hergestellt werden, nenne ich vornehmlich „geschichtswissenschaftliche Forschungsresultate“, „geschichtswissenschaftliche Forschungsberichte“ oder aber schlicht „geschichtswissenschaftliche Hypothesen“ oder „geschichtswissenschaftliche Studien“. Ich nenne sie nicht „Geschichte(n)“, weil mit dieser Terminologie weder über die Form geschichtswissenschaftlicher Abhandlungen noch über deren Inhalt irgendetwas von vornherein präjudiziert ist. In einem Spezialfall ist von „geschichtswissenschaftlichen Erklärungen“ die Rede, um Verwechslungen mit Modellen „historischer Erklärung“ zu vermeiden, von denen öfters in Abgrenzung zu z. B. wissenschaftlichen Erklärungen geredet worden ist. „Geschichtswissenschaftliche Erklärung“ meint dann schlicht eine Erklärung, die von einem Geschichtswissenschaftler in einem geschichtswissenschaftlichen Produkt untergebracht worden ist. Wenn etwas anderes gemeint ist, dann muss dies also explizit gesagt werden. (Dazu wird es aber nicht kommen, da wir so etwas nicht finden.) Spezifische Tätigkeiten innerhalb der Geschichtswissenschaften nenne ich „geschichtswissenschaftliche Forschung“. „Geschichtswissenschaftliche Methoden“ (im Plural) nenne ich die in der Forschung angewendeten Verfahrensweisen oder Techniken. In jedem einzelnen Fall verweist das Adjektiv „geschichtswissenschaftlich“ auf die hypothetische Herkunft aus oder die Verwendung in der Disziplin, und zunächst verweist sie auf nicht mehr, d. h. keinerlei weitere methodologische Einordnung. „Geschichtswissenschaftler“ ersetzt im Rahmen dieser Studie „Historiker“ und verweist ebenfalls auf Herkunft (vergangen, gegenwärtig) aus der Disziplin Geschichtswissenschaft. Allerdings halte ich es aufgrund der Buchstabenzahl hier teilweise locker. Geschichtswissenschaftler wird man in diesem Verständnis ganz einfach durch Anfertigung eines geschichtswissenschaftlichen Produkts und die rituelle Anerkennung dieser Leistung durch dazu befugte Mitglieder des sozialen Gebildes oder bloß den Abdruck in einer Zeitschrift unter der Anerkennung der Herausgeber. Ein weiterer philosophischer oder methodologischer Begriff von Geschichtswissenschaft ist dann an dieser Stelle (zunächst) schlicht nicht nötig. D. h., man wird kein Geschichtswissenschaftler dadurch, dass man außerhalb von Geschichtswissenschaften etwas macht, das irgendwelchen Kriterien eines Philosophen entspricht, zum Beispiel durch Anwendung der Methode der Historischen Wissenschaft. Von ontischen Geschichten ist erst wieder im Rahmen des Rückgriffs auf den Systemismus die Rede, d. h. erst dann, wenn wir uns von geschichtswissenschaftlicher Praxis so weit wie möglich und notwendig durch unsere philosophischen Streifzüge zunächst entfernt haben und glauben, dass etwas Ontologie weitere Klärung im metatheoretischen Rahmen wenigstens ansatzweise verspricht. In jeder Studie, ob philosophisch oder wissenschaftlich, muss am Anfang der Gegenstand bestimmt werden. Das mag jeweils eine Entscheidung umfassen und vieles offen lassen. Die

2.2 Warum könnte es sich lohnen, ins Historische Seminar zurückzukehren?

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hier getroffene Entscheidung über den Gegenstand hat Folgen, die später (2.3) weiter erläutert werden, denn so manche Gewissheit wird dadurch erschüttert. Nebenbei folgen wir hier einer metaphilosophischen These von M. Bunge (1983c, 141): „Man kann nicht eine ganze Philosophie um die Unklarheit kreisen lassen“. Deshalb mussten die Verwendungen von „Geschichte“ minimal aufgedröselt werden. Wir werden gleich sehen, warum es sich noch weiter lohnt, den Gegenstand – eigentlich trivialerweise? – derart festzulegen. Denn es ist in der Geschichtsphilosophie geradezu offensichtlich gar nicht sonderlich klar, was Geschichtswissenschaft (oder history, storia, historia) eigentlich ist oder auszeichnet. Ferner ist unklar, was die Philosophie der Geschichte zu diesem Gegenstand zu sagen hat, weshalb man einen klaren Ausgangspunkt für eine metageschichtswissenschaftliche Studie dort auch nicht findet. Man muss also wohl auch zurück ins Historische Seminar, um einen plausiblen Anfang zu finden, was aber alles nicht leichter macht. Ferner führt die unmissverständliche Festlegung dieses Gegenstandes zur Anerkennung der Schwierigkeiten oder gar der Unmöglichkeit des Unterfangens für all diejenigen, die nicht professionelle Geschichtswissenschaftler sind. Auch diese Anerkennung kann nicht schaden, da jede hochnäsige Haltung gegenüber Geschichtswissenschaftlern so vermieden wird. Wer könnte auf philosophischer Seite behaupten, die Geschichte (Geschichtswissenschaft) zu kennen?

2.2

Warum könnte es sich lohnen, ins Historische Seminar zurückzukehren? As philosophy cannot dispense with an empirical element, so history itself cannot be limited to pure empiricism (M. R. Cohen 1947, 6).

Es sind mehrere Umstände, die das scheinbar Offensichtliche nahelegen, nämlich in einer Philosophie der Geschichte sich mit Geschichtswissenschaft im festgelegten Sinn zu beschäftigen zu versuchen. Erstens sind eigentlich zunächst nur Geschichtswissenschaftler dazu prädestiniert, metatheoretische Probleme ihrer Disziplin zu behandeln, d. h., sie sind die naheliegenden Autoren für Philosophie der Geschichtswissenschaft oder Metageschichtswissenschaft, zumindest für eine solche, die irgendwie relevant zu sein verspricht. Geschichtswissenschaftler sind letztlich die einzigen, die über ihre Belange hinreichend Kenntnis haben, also die relevanten Tätigkeiten, deren Ausgangspunkt, Anforderungen, Verlauf, deren Ziele und Produkte in der Disziplin oder einer Forschungslinie. Sie sind auch die einzigen, die über die Schwierigkeiten, die bei der Navigation zu diesen Zielen auftreten und Gegenstand von metatheoretischen Debatten werden können, hinreichend informiert sind. Zweitens behaupten Geschichtswissenschaftler recht regelmäßig, dass Geschichtsphilosophen sich zu wenig oder überhaupt nicht mit Geschichtswissenschaft befassen. Falls man Geschichtswissenschaftlern in ihrer Rolle als Geschichtstheoretiker dies abnimmt und sie ferner ernst nimmt, dann sollte man wohl den beschwerlichen Weg ins Historische Seminar wagen und geschichtsphilosophische Auffassungen minimal der Kritik aussetzen, d. h., auch die Philosophie der Geschichte benötigt ein „empirisches Element“, ohne sich in Empirismus zu verlieren. Drittens stellt sich die Frage, wie eine irgendwie relevante Philosophie der Geschichtswissenschaften durch Außenstehende überhaupt möglich sein könnte. Eine Schwierigkeit in der Annäherung an den anvisierten Gegenstand liegt also ganz einfach darin, dass ich kein Geschichtswissenschaftler bin, sondern als Nicht-Geschichtswissenschaftler dazu gekommen bin, ein Buch zur „Geschichtsphilosophie“, „Philosophie der Geschichte“ oder „Philosophie der Geschichtsschreibung“ anzugehen. Ich war nie Teil der

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Geschichtswissenschaft und habe keinen Beitrag zu deren Output geleistet. Und darin liegt erstmal eine plumpe Anmaßung verborgen, wenn man die Perspektive der Geschichtswissenschaftler einnimmt. Es ist eine Anmaßung, etwas über Geschichtswissenschaft „als Ganzes“ aussagen zu wollen und womöglich damit auch noch den Anspruch zu verbinden, dass Geschichtswissenschaftler einem zumeist völlig Außenstehenden ihre Ohren leihen. Dasselbe gilt aber wenigstens auch für andere Geschichtsphilosophen (und hier sogar per Definition 1.2): Geschichtsphilosophen sind keine Geschichtswissenschaftler. Der Anspruch, etwas für Geschichtswissenschaftler Vernehmenswertes erreicht zu haben, wird von Philosophen ja zumeist dennoch erhoben. Kürzer ausgedrückt, ich glaube nicht, dass ich über die oben angedeuteten hinreichenden Kenntnisse verfüge, die signifikante Aussagen über die Geschichte gestatten, wie verschiedentlich klargestellt werden wird. Vor diesem Hintergrund droht aber eventuell dasjenige, was der Geschichtstheoretiker C. Cardoso (1982) die Mystifikation der Geschichtswissenschaft durch Geschichtsphilosophen genannt hat. Das Problem besteht ferner darin, dass es äußerst zweifelhaft ist, dass die Tradition der Geschichtsphilosophie bezogen auf die Geschichtswissenschaft ein hinreichend klares Korpus an Thesen überliefert hat, an dem wir uns im Herangehen an den anvisierten Gegenstand stark orientieren könnten, zumal sozusagen als Abkürzung, die ein Abzweigen vor der recht mühseligen Beschäftigung mit einer Praxis erlaubt.30 Auch das klingt zunächst plump und anmaßend, denn es gibt – im wahrsten Sinne des Wortes – unfassbar viel Geschichtsphilosophie, von der bloß unklar geblieben zu sein scheint, wovon sie genau handelt. Die Ergebnisse der Philosophie der Geschichte sind ebenso unklar wie deren Relevanz für und ihr Bezug zur Geschichtswissenschaft seit jeher umstritten sind (Plenge 2014b/c). Vornehmlich ist wohl – alles in allem – der Gegenstand der Philosophie der Geschichte unklar geblieben und ferner auch, wozu es sie eigentlich braucht und in welchem Verhältnis sie zur Geschichtswissenschaft steht. Es gibt offensichtlich schlicht kein weithin geteiltes Thema und daher auch mittlerweile eingestandenermaßen kaum Interaktion unter Geschichtsphilosophen. Welches Problem muss man lösen, um einen Beitrag zur Geschichtsphilosophie zu leisten? Das Zutreffen der These, dass Geschichtsphilosophie keine auch nur irgendwie einheitliche „Sache“ ist, wird bereits gerade daran deutlich, dass es auch unter Geschichtsphilosophen kaum Debatten über geteilte Probleme gibt, was sich darin äußert, dass sich die einen Autoren nicht in den Bibliographien der anderen finden, sodass man auch leicht an so etwas wie einen Forschungsstand anknüpfen könnte. „Einführungen in“ verstellen bloß die Lage und sind eher Konstruktionen einer disziplinären Einheitlichkeit als deren Spiegelung. In den später gekürzten Fassungen zweier Literaturberichte und im Kontext ihrer Entstehung (Plenge 2014b/c) habe ich extensiv versucht, den Stand der Dinge zu erheben, was letztlich auch zur offenkundigen Konstruktion eines Stands der Dinge führte. Problemlos, aber leicht verdutzt, da ich die Existenz einer Disziplin naiv unterstellt hatte, konnte ich auch im Anschluss wiederholt feststellen, dass andere Geschichtsphilosophen auch keinen einzigen der von mir diskutierten Autoren und andere bekanntere Geschichtsphilosophen konsultieren. Verschiedene Geschichtsphilosophien haben also schon kaum Schnittmengen, da kann es kaum verwundern, dass die ebenso heterogene Geschichtstheorie kaum Schnittmengen mit Geschichtsphilosophie hat. Jedes Öffnen eines geschichtsphilosophischen Werks ist der Eintritt in eine andere

30

Wie ich in recht vielen Verweisen anzudeuten versuche, glaube ich allerdings, dass sie an verschiedenen Punkten verschiedener metatheoretischer Bereiche durchaus auffindbar ist oder auffindbar sein könnte, teilweise gar nicht weit entfernt, was aber eine ziemlich ermüdende Wühlerei erfordert, zumal die meisten dieser Bereiche in keinerlei Austausch mit Geschichtsphilosophie stehen, z. B. Geschichtstheorie (Kapitel 8.2).

2.2 Warum könnte es sich lohnen, ins Historische Seminar zurückzukehren?

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Welt.31 Die teilweise unübersehbaren Unterschiede, die geschichtsphilosophische und geschichtstheoretische Schulen alleine schon in der Grundauffassung des vermeintlichen Gegenstandes trennen, können auch übersehen werden, weil es kaum Interaktion gibt. Es bleibt scheinbar nichts anderes übrig, als Brüche mit der Tradition zu verkünden und sich dadurch zu entlasten, wobei die verschiedenen Schulen dann mit verschiedenen Teilen der diffusen Tradition brechen (z. B. Jenkins 1995, Tucker 2004a, Little 2010). Jeder fängt also letztlich von vorne an. Auch die Geschichtstheorie hat – so weit man das von philosophischer Seite sehen oder erahnen kann – keinen einheitlichen Stand der Dinge ergeben (2.3; 4.1). Zum Beispiel ist auch überraschenderweise dasjenige in der „Philosophie der Geschichte“ kaum zu finden, was man a priori dort vermuten würde. Eine ontologische Beschäftigung mit etwas, das „Geschichte“ genannt wird, gibt es eigentlich nicht. Methodologie der Geschichtsforschung betreibt beinahe niemand, was auch daran liegt, dass allgemeine Methoden oder gar spezifische Techniken kein Gegenstand des Interesses sind und ferner unklar ist, was eigentlich unter Methodologie genauer zu verstehen ist (Hammersley 2011).32 Welche Relevanz die philosophische Literatur zu sogenannten „historischen Erzählungen“ oder „Narrationen“ hat, welche den Mainstream der Geschichtsphilosophie sicherlich auszeichnet, ist bis heute ebenso unklar wie die Antwort auf die Frage, was eigentlich mit „Erzählungen“ nun genau gemeint ist (Plenge 2014b), was entweder zur Irrelevanz der Vorstellung bezogen auf die Geschichtswissenschaften oder zur gänzlichen Trivialität zu führen scheint (4.2). Ferner ist innerhalb der Geschichtsphilosophie und am Schnittpunkt von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie schon länger unklar und mittlerweile sogar explizit umstritten, ob sich Geschichtsphilosophie überhaupt mit Geschichtswissenschaft beschäftigt oder beschäftigen soll. So haben Philosophen bereits in den 1960er Jahren mit Verwunderung auf Reaktionen aus der Geschichtstheorie reagiert, in denen behauptet wurde, Philosophie der Geschichte sei für Geschichtswissenschaft irrelevant (z. B. Atkinson 1978). Bis heute ist die von G. Graham (1983) einmal im Kontext der Fragen um „historische Erklärungen“ beinahe explizit gemachte Frage, was eine Philosophie zu einer Philosophie der Geschichte oder Geschichtswissenschaft macht und eben nicht z. B. der Literatur oder des Journalismus, weder sonderlich verbreitet gestellt noch beantwortet worden, womit auch unklar geblieben ist, wozu es eine spezifische Disziplin mit dem Titel „Philosophie der Geschichte“ überhaupt braucht, z. B. jenseits von allgemeiner Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie oder Wissenschaftsphilosophie. Graham stellte nach einem halben Jahrhundert der Diskussion über „historische Erklärung(en)“ die verblüffend einfache Frage, wie man dazu käme, eine Erklärung überhaupt „historisch“ zu nennen (siehe auch Kaiser/Plenge 2014). Die Antworten waren äußerst verschieden, aber mit irgendwelchen Vorgängen in der Disziplin hatten diese Antworten zumeist gar nichts zu tun (siehe auch Kapitel 6). Man kann sich also ganz einfach fragen, was eine Philosophie zu einer Philosophie der Geschichte macht und eben nicht des Journalismus, der Literatur oder des Fußballs. Ein erster Schritt ist die Klärung dessen, was mit „Geschichte“ gemeint ist. Legt man sich auf den Ge31

32

Man mache den Test und blättere einfach durch einige neuere Publikationen, z. B. Pape 2006, Tucker 2004a, Rüsen 2013, Gerber 2012, Jakob 2008, Baberowski 2005, Gorman 2007, Zwenger 2008, Megill 2007, Munslow 2007, 2010, Brzechczyn 2009b, Little 2010, Kistenfeger 2010, Schnepf 2011, Bunzl 1997. Man wird feststellen, dass auch Philosophen noch nicht einmal eine gemeinsame Terminologie teilen, was für manches Merkmal dieser Klärungsskizze auch mit verantwortlich ist. „Methodologie“ meint ja eigentlich gewöhnlich das Studium von Methoden, nicht Methoden. M. Hammersley (2011, 11) unterschied „methodology-as-philosophy“, „methodology-as-autobiography“ und „methodology-as-technique“.Geschichtstheoretische Werke sind häufig eine Mischung aus Autobiographie und Auseineinandersetzungen mit zeitgenössisch zur Debatte stehenden Fragen etwas größerer Allgemeinheit, welche „die Geschichte“ betreffen.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

genstand Geschichtswissenschaft im obigen Sinn fest, dann ist ein zweiter Schritt auf dem Weg dahin eine Beschäftigung mit Geschichtswissenschaft im obigen Sinn. Das möchte ich zumindest an dieser Stelle vermuten. Bei der Disziplin Geschichtswissenschaft anzufangen, ist wohl die unkontroverseste und einfachste Lösung dafür, einen legitimen Anfang zu finden, auch wenn sie gleich erneut begründet (2.3), dann direkt bezweifelt wird und keineswegs mit einer Art von tabula rasa-Metaphilosophie verbunden sein soll (so z. B. tendenziell Tucker 2004a und Little 2010 im Unterschied zu Day 2008). Im Rahmen dieser Studie beginnen wir aber mit einer Art von tabula-rasa-Heuristik auch insofern, als die kursorische Sichtung von Praxis alles Weitere einschränkt, was viele philosophische Annahmen über Geschichtswissenschaft als problematisch erweisen wird, woraufhin wir versuchen werden, hier und dort etwas von Philosophie durch leichte Akzentverschiebungen zu retten. Ähnliche Stimmen zum Zustand der Geschichtsphilosophie häufen sich auch derzeit gar innerhalb der Philosophie der Geschichte erneut und sind seit Dekaden zu vernehmen, die wir zur Plausibilisierung des hier gewählten Vorgehens hören müssen. Zum Beispiel antwortete D. Little auf die Frage „What is wrong with the philosophy of history we currently possess?“ kürzlich: „First, writings on this subject do not really add up to a coherent and reasonably comprehensive set of ideas. (….) Second, and more fundamentally, philosophers have usually engaged ‚history‘ at too great a distance from great historians“ (Little 2010, 4). Der Philosoph T. Haussmann (1991, 12) sah dies bereits ganz ähnlich, wenn er von der „Vielfalt und Disparatheit der Thesen“ in der Geschichtsphilosophie schrieb. Wie wir sehen werden, unterschreiben auch zahlreiche Geschichtswissenschaftler die These, dass die Distanz der Geschichtsphilosophie zur Geschichtswissenschaft beträchtlich ist. Das Beste wäre wohl angesichts der vermuteten Lage, den von J. C. B. Barrera (2004, 14) so bezeichneten „hibrido entre filósofo e historiador“ zu züchten, um die häufig beanstandete Distanz zu minimieren. In ähnlicher Richtung hat der Philosoph M. Bunge über den Philosophen der Sozialwissenschaften (inklusive der Geschichtswissenschaften) geschrieben: „Ideally, he should also try his hand (…) at social research, for no amount of reading can replace the experience of original research“, um an der entsprechenden Stelle des philosophischen Werks, das der weltberühmte Sozialwissenschaftler Robert K. Merton zum legitimen Nachfolger von E. Nagels „Structure of Science“ erklärte und das andere Sozialwissenschaftler generell zur Pflichtlektüre für Sozialwissenschaftler ernannt haben, einzufügen, er selbst habe sich auf diesen Versuch eingelassen (Bunge 1996, xii). So eingängig Barreras Bild auch ist, es wäre dann aber wohl zu klären, was Geschichtswissenschaftler genauer treiben, von denen es ja durchaus – so eine verbreitete These (2.3) und vielleicht im Kontrast zu zuvor vorgenommenen Gegenstandsbestimmung – unterschiedliche Typen geben soll, und es wäre zu klären, mit welchem Philosophentyp, von denen es auch vielerlei geben soll (vgl. z. B. Lorenz 1997), dieser zu kreuzen wäre, sodass sich der Hybrid dann irgendwie fruchtbar mit philosophischen oder metatheoretischen Aspekten der Geschichtswissenschaft(en) befasst. Der Geschichtswissenschaftler J. Topolski (1976, 1) fragte noch einigermaßen pessimistisch, nachdem er festgestellt hat, dass Geschichtswissenschaftler ihre Pforten im Angesicht der philosophischen Tumulte über die Geschichtswissenschaft regelmäßig schlicht schließen und ihrer Arbeit einfach weiter nachkommen: „Should the historian change his attitude towards this controversy about history vor allem über den oben angedeuteten Status als Wissenschaft, dp? He cannot engage in a two-front battle, ars longa, vita brevis“, um dann mit bewundernswerter Ausdauer und Kenntnis ein Leben lang genau diese beiden „Fronten“ zu beackern, also als Geschichtswissenschaftler zugleich die Metathe-

2.2 Warum könnte es sich lohnen, ins Historische Seminar zurückzukehren?

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orie des eigenen Schaffens und der Disziplin zu betreiben.33 Um ein aktuelles Beispiel anzufügen, sei noch der von der Geschichtsphilosophie und wohl auch Geschichtstheorie etwas entnervt wirkende Geschichtswissenschaftler A. Frings (2013) zitiert, der jüngst behauptete, es sei „dringend Zeit, Historiker/innen, Sozialwissenschaftler/innen und Philosoph/innen miteinander ins direkte Gespräch zu bringen“. Er scheint sich also wohl nur dann nützliche Ergebnisse zu versprechen, wenn man diesen interdisziplinären runden Tisch bildet. Die Berücksichtigung dieser Forderung brockte uns aber die auch drängende, etwas erweiterte Fragestellung ein, welcher Typ von Sozialwissenschaftler oder Sozialtheoretiker mit welchem Typ von Geschichtswissenschaftler und welchem Typ von Philosophen auf welche Art und Weise ins Gespräch kommen soll und auch überhaupt ins Gespräch kommen kann, kommen doch scheinbar schon Geschichtswissenschaftler (vgl. z. B. Lloyd 2009), Soziologen (vgl. z. B. Greshoff 2010a, Esser 1996, Boudon 2003, 2013) und (Geschichts-)Philosophen (vgl. z. B. Tucker 2010, 2004a, Plenge 2014b/c) jeweils untereinander nicht ins Gespräch und ignorieren sich viel eher, als Differenzen irgendwie auszutragen, was auch dann nicht möglich ist, wenn es gar keine Differenzen über geteilte Probleme gibt, sondern gänzlich andere Grundproblematiken. Die Lage ist aber offensichtlich in allen diesen Bereichen recht prekär, wenn es um das Verhältnis von Philosophie, Sozialtheorie, Sozialforschung und Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie und geschichtswissenschaftlicher Forschung geht, weil auch diese Bereiche selbst in sich zerklüftet zu sein scheinen, wie immer wieder festgestellt wird (z. B. Bunge 1998, 1999, Wagner 2012). Es ist auch nicht wirklich klar, worüber man sich austauschen sollte (Plenge 2014a/b/c), wenn man Frings‘ Forderung folgte und sich an einen Tisch setzte, denn der gemeinsame allgemeine Boden könnte allein schon in der Geschichtstheorie, die Frings in meiner Terminologie vertritt, recht klein sein (siehe 2.3). Glaubt man den Lageberichten einiger „Veteranen“ der „Zunft“ in der Selbstbeschreibung der Disziplin(en) in der Geschichtstheorie, ist vielleicht auch grundsätzlich innerhalb der Geschichtswissenschaft(en) weltweit nicht (mehr) ganz klar, was Geschichtswissenschaftler wie und wozu überhaupt (noch) anstreben (Paravicini 2010, Sewell 2005, Frings/Marx 2008), zum Beispiel ob Geschichtswissenschaft oder Geschichtsschreibung überall überhaupt noch den Anspruch erhebt, ein Erkenntnisprojekt zu sein, was zum Beispiel noch den obigen Fragen vorgelagert sein dürfte, ob dieses Erkenntnisprojekt als „wissenschaftlich“ oder „scientific“ in irgendeinem Sinn gelten können soll. Frings setzt dies wohl noch voraus (Frings 2007b, 2008, 2010). Forderte z. B. ein Philosoph, Methodologie zu betreiben und betriebe dies in der Form von Bestätigungs- oder Rechtfertigungstheorie (z. B. Tucker 2004a), dann träfe er unter Umständen auf Geschichtstheoretiker, die behaupten, unter ihnen betriebe niemand (mehr) Methodologie (Gunn/Faire 2012). Sollte das Vorangegangene grob zutreffen, was eigentlich in der Substanz auch lange bekannt ist (2.3), dann entbehrt es auch nicht der Grundlage, dass Geschichtswissenschaftler relativ regelmäßig und mittlerweile schon traditionell ein gespaltenes bis klar ablehnendes Verhältnis zur sogenannten „Philosophie der Geschichte“ pflegen. Das wird auch daran besonders deutlich, dass Geschichtsphilosophie in der akademischen Ausbildung von Geschichtswissenschaftlern eigentlich keine Rolle spielt. Das mag mehrere Gründe haben, über 33

Seinen Kollegen riet Topolski dann (1976, 1 f.) Folgendes: „What should be the role of the practising, professional historian in the controversy about history as a discipline? He can neither ignore it nor devote all his time to it. He can, however, define his own position in the debate and then exemplify it through his daily work. In this way he can defend his position while at the same time doing his job and building up the substantive body of knowledge on which history die Disziplin, dp depends. The time is opportune for the practicing historian to help to shape the outcome of the debate over historiography.“ Seit Marc Bloch, schrieb Topolski damals, „much has been said about the science of history without the participation of historians“.

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die es sich zu spekulieren lohnt. Nicht nur ist Geschichtsphilosophie eine seltsame Wundertüte, was auch heißt, dass nicht klar ist, wie man sie überhaupt lehren könnte, steckt doch bei jedem Öffnen der Tüte etwas anderes drin. Sie scheint für viele Geschichtswissenschaftler auch nicht prägnant oder überhaupt das abzubilden, was sie manchmal als ihr „Handwerk“ bezeichnen, also das, was sie tun und wie sie das tun und mit welchen Zielen, also obige Tätigkeiten, Methoden und Produkte im disziplinären Kontext. Und scheinbar bildet sie auch nicht irgendwelche Metafragen gut ab oder beantwortet sie, die in jenem Tun auftreten könnten, denn Geschichtswissenschaftler wenden sich in Metafragen in aller Regel an Sozial- oder Kulturtheoretiker oder andere Philosophen, aber fast nie an Geschichtsphilosophen. Das Problem ist dann dasjenige der Irrelevanz. Geschichtstheoretiker drückten dieses Problem in der Form von Rückfragen oder Vorwürfen an die Philosophie oder (Meta-)Theorie in regelmäßigen Abständen aus (von Hook 1963 über Marwick 2001 bis heute). Es könnte also so sein, dass die Geschichtsphilosophie überhaupt nicht zur Geschichtswissenschaft (Disziplin) passt und auf sie zutrifft, von ihr handelt, also eine Philosophie der Geschichtswissenschaft(en) ist. Wer also davon überzeugt ist, dass Geschichtsphilosophie überhaupt von Geschichtswissenschaft handelt, der müsste verwundert darüber sein, dass sie dort, so weit man dies sagen kann, selbst keine große Rolle spielt, obwohl die Sozialwissenschaften offenbar alle stark mit Metaproblemen oder „philosophischen“ Problemen zu kämpfen haben. Geschichtswissenschaftler haben auch immer wieder explizit kritisiert, dass es Geschichtsphilosophen am Interesse an einer Beschäftigung mit Geschichtswissenschaft mangelt, und dass geschichtsphilosophische Thesen aus ihrer Sicht zweifelhaft sind, weil Philosophen sich nicht mit der Wissenschaft befassen. So schrieb der Geschichtswissenschaftler D. H. Fischer, wohl einer der scharfzüngigsten Kommentatoren seiner eigenen „Zunft“ zur damaligen Zeit: „Analytical philosophers have failed (…) to be sufficiently empirical in their own work. They have failed to give sufficient attention to historical thought as it actually happens” (Fischer, 1970, 130). Kurz zuvor hieß es an anderer Stelle: „Es ist festzustellen, daß die neue das war damals die analytische, dp erkenntnistheoretische Schule auch in den USA relativ wenig Berührung mit der praktischen Geschichtswissenschaft hat“ (Schieder 1968, 223). Einige Jahre später wurde das Urteil wiederholt: „Analytical philosophers of history have usually devoted little attention, if any, to the progress of historical scholarship as an academic discipline sic!; as a result their perception of such scholarship barely differs from that of the layman“ (van den Braembussche 1989, 4; vgl. Topolski 1983a). Der Geschichtstheoretiker Arthur Marwick warnte zwei Dekaden später auch gleich zur Vorsicht vor der gesamten Geschichtsphilosophie, besonders allerdings wohl der sogenannten „postmodernen“: „Beware, I keep saying, books about history by those who have done little history themselves, nor, apparently, read any of the really serious stuff“ (Marwick 2001, 41). Er beklagte an Geschichtsphilosophen „their a priori attitudes, their rigid conventions, and their specialist language, as well as their lack of practical experience“, und behauptete von ihnen, sie hätten „the greatest difficulty in understanding what historians actually do“ (Marwick 2001, X). Allerdings sei hier von philosophischer Seite kurz entgegnet, dass sich Geschichtswissenschaftler wohl nicht darauf einigen könnten, was zum „really serious stuff“ gehört, wenn man sie danach fragte (2.3). Die Geschichtstheoretikerin Mary Fulbrook (2002a, 27; 200, Fußnote 37) deutete allerdings in ähnlichem Zeitraum an, Geschichtswissenschaftler würden Geschichtsphilosophie nun als „fashionable nonsense“ betrachten und daher schlicht ignorieren, zumal sich diese Philosophen oberflächlich mit Strohmännern auf der Seite der Geschichtswissenschaft befassten.34 J. C. B. Barrera (2004, 15) ging noch recht kürzlich ähnlich weit wie 34

Sie musste den Rat eines Reviewers bei Routledge abwehren: „avoid giving the fashionable nonsense more space than it merits“.

2.2 Warum könnte es sich lohnen, ins Historische Seminar zurückzukehren?

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Marwick oder van den Braembussche, indem er vielen „filósofos analítícos anglosajones“ vorwarf, ihre Vorstellungen von Geschichtswissenschaft ihrer Schulzeit zu entlehnen. Und es findet sich ja tatsächlich in einem der vormals berühmtesten Texte der „kritischen“ (Walsh 1951, Dray 1964) Geschichtsphilosophie aus der ersten Ausgabe von History and Theory der Verweis auf das Schulbuch, das der Autor (Berlin 1961) wohl vorliegen hatte, bevor er Thesen über das Verhältnis von Geschichte („history“) und Wissenschaft („science“) aufstellt. Er bietet dem Leser allerdings kein Beispiel für history an. Der Geschichtstheoretiker Ciro Cardoso schrieb in ähnlichem Ton im Zeitraum zwischen Fischer und van den Braembussche: „Es ist aber ebenfalls wahr, wenn sie von etwas reden, das sie profunde ignorieren, dann haben die Historiker das Recht, sie nicht sehr ernst zu nehmen“ (Cardoso 1982, 104). Auch Marc Bloch ließ über diejenigen, die er „Verächter der Geschichte“ nannte, bereits Folgendes verlauten: Das, was sie sagen, klingt zwar durchaus eloquent und geistvoll, in den meisten Fällen haben sie aber versäumt, sich genau über das zu informieren, wozu sie sich äußern. Das Bild, das sie sich von unserer Arbeit machen, haben sie nicht in der Werkstatt gewonnen. Es riecht eher nach Kanzelrede oder Akademie als nach einem Arbeitszimmer. Vor allem aber ist es überholt. All diese rhetorische Verve wurde letztlich nur aufgewandt, um ein Hirngespinst auszutreiben (Bloch 2002 1949, 13). Interessanterweise behaupten Ähnliches Geschichtsphilosophen von anderen Geschichtsphilosophen in jüngster Zeit beinahe wörtlich (Murphey 2009; siehe ferner Tucker 2004a und bereits Goldstein 1976). Die Frage, die sich im Anschluss daran stellt oder stellen sollte, ist wohl, ob diese Geschichtswissenschaftler mit ihrer harschen Kritik an Geschichtsphilosophie nicht eventuell doch wenigstens ein wenig Recht haben. Was dann allerdings „genug“ oder „hinreichend“ („sufficient“) im obigen Zitat von Fischer heißt, wenn man den Gegenstand wie zuvor bestimmt (2.1), ist, wie wir sehen werden und bereits am Rand problematisiert haben, eine gute, weil sehr schwer zu beantwortende Frage. Für Geschichtsphilosophie ist sie aus meiner Sicht die heikelste aller Fragen (Kapitel 3).35 Wie dem allen auch sei, es würde aber sicherlich schwerfallen, zu bestreiten, was Emile Callot in milderer Form in einem geschichtstheoretischen Werk gleich zu Beginn über die Gelegenheitshistoriker (Philosophen) und die Gelegenheitsphilosophen (Geschichtswissenschaftler) konstatierte, das immerhin Fernand Braudel mit einem Vorwort versah: Les philosophes de métier mais historien d’occasion, les historiens de profession mais philosophes par accident, qui se rencontrent en ce champ clos des idées générales sur l’histoire, ne parlent pas le même langage, et c’est là une première difficulté (Callot 1962, 10; vgl. Marwick oben, McCullagh 2008). Auch der Philosoph L. Mink (1961) wunderte sich schon in einem ähnlichen Zeitraum und in die hier verwendete Terminologie (1.1) gekleidet über die völlige wechselseitige Missachtung von Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie bei gleichzeitigem völligem Fehlen auch 35

Ich persönlich glaube, dass man eigentlich nicht anfangen muss, bevor man 100 Aufsätze und 57 Monographien aus unterschiedlichen Paradigmen, Ansätzen oder Schulen im Detail analysiert hat. Das ist bloß eine Menge Holz. Selbst ein Geschichtswissenschaftler (Hexter 1971b, 135) schrieb vor recht langer Zeit: „To undertake a general characterization of recent historiography implies on the part of him who attempts it either a breadth of reading superhuman in its comprehensiveness, or a willigness to generalize (subject always to the correction of those who know better, other, or more) on the basis of reading more or less desultary and random.“

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nur gemeinsamer Themen (vgl. Bunzl 1997). Eine Schwierigkeit (oder ein „Problem“, Kapitel 5) ist dies aber überhaupt nicht per se, sondern nur vor dem Hintergrund weiterer Annahmen und Ziele von Geschichtswissenschaftlern und Geschichtsphilosophen, über die eben auch keine Einigkeit besteht. Denn wenn keinerlei Bezug, Relevanz und Interaktion zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie und –wissenschaft überhaupt intendiert wird, dann besteht das Problem natürlich nicht, sondern es stellt sich die Frage – zumindest aus der hier eingenommenen Perspektive, die man nicht zu teilen gezwungen ist –, wozu es die Philosophie der Geschichte überhaupt braucht, die nach der Aufgabe der Spekulativen Geschichtsphilosophie allerdings den Anschein erweckte, sie habe nun Geschichtswissenschaft (2.1) zum Gegenstand. Nach mehr als vierzig Jahren Arbeit innerhalb der Geschichtsphilosophie schrieb William H. Dray: Critical philosophy of history gained an important platform with the appearance in 1960 of History and Theory, a journal devoted entirely to problems in the theory of historiography !? and philosophy of history !?, and one to which both philosophers and historians were encouraged to contribute. Fruitful interaction between the two groups has nevertheless been the exception rather than the rule (Dray 1997, 764; zum Stand nach 50 Jahren siehe Tucker 2010; anders sieht dies Kistenfeger 2011, 9). Dray scheint also zumindest den Anspruch nicht als abwegig empfunden zu haben, den z. B. Tucker (2004a) deutlich erhoben hat, Geschichtsphilosophie solle für Geschichtswissenschaft irgendwie relevant sein (vgl. McCullagh 2008). Der Altgeschichtswissenschaftler Christian Meier schrieb knapp 20 Jahre zuvor in der Rolle als Geschichtstheoretiker: Man kann nicht behaupten, die alte Kluft zwischen Praxis und Theorie historischer Arbeit sei nennenswert geringer geworden als vordem. Nach wie vor herrscht ein relativ unvermitteltes Nebeneinander zwischen ihnen. (…) Nur allzu oft gewinnt man den Eindruck, die historische Praxis wäre heute kaum anders, wenn es die Theorie, und die historische Theorie wäre kaum anders, wenn es die heutige historische Praxis nicht gäbe (Meier 1976, 36). Wir werden später ansatzweise sehen, dass noch immer viel Wahres an der These dran ist (Kapitel 4, Kapitel 6), zumindest dann, wenn man sich auf die Geschichtsphilosophie bezieht. Der Aussage von Meier kann man mindestens entnehmen, dass das beklagte Verhältnis zwischen „historischer Theorie“ und „historischer Praxis“ schon damals einige Jahre Bestand hatte. Auch Meier schätzte wohl den Ertrag der „Theorie“ als gering ein. Christopher Lloyd behauptete in der Einleitung zu seinem metatheoretischen opus magnum mit ähnlicher Stoßrichtung wie A. Frings: Unfortunately (…) the discourses of philosophy, history, and social science are still more or less self-contained academic worlds that have little intercourse with each other. Even philosophers of social science and history, who have made many attempts in recent years to break down the frontier barriers, have had little impact on the work and ideas of empirical researchers (…) (Lloyd 1986, 3). Inwiefern das stimmt, dass Philosophen generell keinerlei „Einfluss“ haben, kann hier letztlich nicht geklärt werden, weil dies, so weit wir wissen, niemand untersucht hat. Seit der Publikation dieser Zeilen sind immerhin einige Jahre vergangen. Es ist aber zumindest recht of-

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fenkundig so, dass jenseits mancher Ausnahmen Geschichtsphilosophie von Geschichtswissenschaftlern sehr selten rezipiert wird, weil sie diese in erkennbarer Regelmäßigkeit für irrelevant halten. Allerdings ist auch hier die Vielfalt der Geschichtswissenschaftlergruppen und ihres Verhältnisses zu Philosophen und Literaturtheoretikern unklar, denn in manchen dieser Schulen haben sicherlich „Narrativisten“ wie H. White (2008 1973) einen weitaus größeren Einfluss als sozialtheoretische „Realisten“ wie C. Llloyd (1986) oder praxisnahe „Realisten“ (Kapitel 7.1) wie C. B. McCullagh (1983, 1998). Auf die Problematik, die mit der zu vermutenden Heterogenität der Geschichtswissenschaften zu tun hat, kommen wir später (2.3). Da man a priori nicht zu wissen beanspruchen kann, was „die Historiker“ auf welche Weise tun und anstreben, kann man auch nicht wissen, welche Metatheorie oder Geschichtsphilosophie sozusagen einen best fit mit dieser Praxis hat.36 In die geschichtsphilosophische „Neueste Geschichte“ führt uns schließlich John Zammito: The challenge to build an effective philosophy of historiography in the service of historiographic practice – and not as the imposition of an external disciplinary regimen (literary or philosophical) – remains open. (…) It is time to get on with both historiographic practice and the philosophical project of its elucidation. We have had enough of pronouncements of their impossibility (Zammito 2009, 79). Noch jüngeren Datums ist D. Littles (2010, 4) Ablehnung eines „uselessly a priori approach to the philosophical study of history“ bei gleichzeitiger Behauptung, eine Kontaktaufnahme mit geschichtswissenschaftlichen Studien in der Philosophie der Geschichte sei „another way of bridging the divide between philosophical and substantive knowledge-building in the philosophy of history: by establishing close and mutually insightful partnerships between philosophers and historians“ (Hervorhebung dp). Littles Buch (2010) liest sich dann weitgehend ganz anders als traditionelle Philosophie der Geschichte, nämlich wie ein Beitrag zu Geschichts- bzw. Sozialwissenschaft selbst, in dem beinahe ausschließlich fachwissenschaftliche Beiträge kommentiert werden und eigentlich kein einziger Geschichtsphilosoph oder Philosoph der Sozialwissenschaften eine zentrale Rolle spielt. Little und Zammito gehen also beide davon aus, die Geschichtsphilosophie habe sich bisher nicht gelohnt. Zammito scheint gar der Auffassung zu sein, die Philosophie der Geschichtswissenschaft als wissenschaftsnahe Metageschichtswissenschaft sei in gewissem Sinne nie zustande gekommen. Ich sehe hier allerdings das Problem, dass aufgrund der Heterogenität von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie niemand so recht wissen kann, was es alles gibt. Den Anspruch, der bei diesen Autoren aus der Philosophie und wenigen anderen anklingt, hat Christopher Lloyd recht gut auf den Punkt gebracht. Er ist überaus hoch und wird hier daher auch nicht erhoben: What are the tasks of philosophical and methodological inquiries into particular branches of human thought and expression? The first task is to ascertain how those branches describe and explain what they wish to describe and explain. That is, what are the assumptions underlying descriptions and explanations and what is the structure of descriptions and explanations? This is the traditional task of analytical philosophy. 36

Aus der eher analytisch ausgerichteten Geschichtsphilosophie wurden einzig die frühen Werke von Murray Murphey (1973) von Geschichtstheoretikern rezipiert. Natürlich fanden auch Carl G. Hempels (1942, 1965) Erklärungsmodelle Rezipienten in zumindest einer geschichtstheoretischen Schule, nämlich der Historischen Sozialforschung (Ruloff 1985, Schröder 1994). Auch die Werke von C. B. McCullagh (1998) scheinen nun manchmal rezipiert zu werden.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

But it must go on to another task. The secondary task is to develop criticisms of the coherence, strength, adequacy, and plausibility of their descriptions and explanations, with a view to offering constructive assistance. Philosophy and methodology, then, are (or should be) the allies of empirical inquiry. In fact, in a different sense philosophical and methodological assumptions are both necessary to empirical inquiry and are always present in one form or another (Lloyd 1991, 186; siehe auch Lloyd 1993, 27 ff.). So weit man sehen kann, gibt es allerdings von dem erstgenannten deskriptiven Projekt wenig (z. B. Lloyd 1986, 1993; McCullagh 1984, 1998; Little 2010, Day 2009, Martin 1989) und von dem kritischen Projekt gibt es von philosophischer Seite nicht erkennbar mehr. Der Anspruch ist auch enorm und kommt Geschichtstheoretikern leichter über die Lippen als Geschichtsphilosophen, zumal Geschichtstheoretiker zumeist aus der Warte einer bestimmten Schule argumentieren, also aus geschützter Position. Lloyd selbst ist Geschichts- bzw. Sozialwissenschaftler. Um eine Beschäftigung mit dem scheinbar noch immer recht unklaren „Phänomen“Komplex Geschichtswissenschaft führt also genau dann, wenn man all diesen und anderen Autoren zunächst Glauben schenkt, kein Weg vorbei. Falls es so ist, dass die Geschichtsphilosophie ein unklarer Hypothesenhaufen ist, der kaum einer Beschäftigung mit Geschichtswissenschaft entsprungen ist und zu keiner signifikanten Interaktion mit Geschichtswissenschaftlern geführt hat, stellt sich folgende Frage: Wer braucht Geschichtsphilosophie? Brauchen Geschichtswissenschaftler Geschichtsphilosophie? Gerade vor dem Hintergrund des Vorangegangenen muss man ja deutlich Zweifel hegen, dass Geschichtswissenschaftler Geschichtsphilosophie brauchen. Eine dogmatische Antwort diesbezüglich ist wohl nicht möglich und man darf äußerst skeptisch bleiben. Die zuvor zitierten Geschichtswissenschaftler scheinen zumindest davon überzeugt zu sein, dass sie Geschichtstheorie oder -philosophie der einen oder anderen Form brauchen, zumindest hin und wieder. Der Geschichtstheoretiker L. Gottschalk schrieb mit leichtem Pathos: „It is when he der Geschichtswissenschaftler, dp is unaware that he has a philosophy, or more particularly when he thinks he has a philosophy which in fact he does not have, that he is dangerous“ (Gottschalk 1951, 9; vgl. ähnlich Fulbrook 2002a). Der Geschichtswissenschaftler Christopher Lloyd deutete oben an, dass „philosophische und methodologische Annahmen“ unverzichtbar sind in jedem Wissenschaftsprojekt, wie auch immer es aussehen mag. Der Wissenschaftsphilosoph M. Bunge behauptete verschiedentlich, jede Wissenschaft beruhe zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung auf ontologischen, epistemologischen und ethischen Annahmen, die auch gelegentlich einer Erneuerung bedürften (z. B. im Fall der Wirtschaftswissenschaften, vgl. Bunge 1985b, 114, oder der Medizin, vgl. Bunge 2012b, passim). Andere behaupten in Übereinstimmung mit Bunge (2006b), auch Pseudowissenschaft fuße auf philosophischen Annahmen. Aus einer Perspektive, die sich normativ zunächst zurückzuhalten verlangt, ist also eine erste Frage, ob es denn so ist, dass Geschichtswissenschaftler immer über Philosophien in ihrer Arbeit verfügen. Sollte es auch so sein, wie manche Philosophen behaupten, dass man (i) keine Wissenschaft betreiben und eine wissenschaftliche Disziplin bilden kann, ohne dabei auf implizite oder explizite philosophische Annahmen zu bauen (sodass Philosophie und Wissenschaft auch keine getrennten Sphären sind, z. B. in Fragen bezüglich „Realismus“/„AntiRealismus/Relativismus“, „Objektivität“), und sollte es ferner so sein, (ii) dass man auf deutlich unterscheidbare Annahmen (siehe auch Abbildung 10, 145) bauen kann (was auch zu disziplininternen Verwirrungen und fruchtlosen Endlosdebatten führen kann, zumal wenn diese unklar sind, z. B. bezüglich „Individualismus“, „Kausalität“, „Meaning“ oder auch „Geschichte“), und sollte es ferner so sein, dass (iii) die Wahl zwischen diesen Annahmen dem

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Erreichen oder bloßen Ansteuern des Zieles oder der unterschiedlichen Ziele, die Geschichtswissenschaftler vielleicht anstreben, förderlich oder hinderlich sein kann (vielleicht ganz einfach dadurch, dass diese Ziele zunächst unklar sind, wie z. B. „Sinnstiftung“, „Verstehen“, „Erklärung“, „Erzählung“, „Wahrheit“ etc.), dann kann es so sein, dass Geschichtswissenschaftler hin und wieder der Philosophie oder Metatheorie bedürfen oder diese zumindest nicht schadet, sondern etwas zu klären hilft. Es müsste nur klar sein oder werden, was „Metatheorie“ oder „Philosophie“ hier heißt und inwiefern sie für Geschichtswissenschaftler relevant sein kann, wozu eine Beziehung zwischen demjenigen, was Geschichtswissenschaftler tatsächlich tun und anstreben oder einfach auch nur glauben und demjenigen, was Philosophie oder Metatheorie, welcher Herkunft auch immer, besagt, hergestellt werden müsste. Es sieht zwar diesbezüglich nicht rosig aus, es gibt aber Grund zu sanftem Optimismus. Etwas Ähnliches wird im Rahmen dieser Klärungsskizze versucht. Das heißt, es wird eine Bottom-up-Strategie (Geschichtswissenschaftspraxis → Philosophie) mit einer Top-down-Strategie ansatzweise zu kombinieren versucht (Philosophie → Geschichtswissenschaftspraxis). Damit nähert man sich eventuell demjenigen Projekt, das bezogen auf einen breiteren Gegenstand „Finding Philosophy in Social Science“ genannt wurde (Bunge 1996). Am Ende kann man auch versuchen, die Heterogenität der Geschichtsphilosophie im Rückgriff auf Impressionen aus der Praxis zu mindern. Nur so lässt sich klären, was es heißt, dass eine Philosophie relevant ist für irgendetwas, denn eine Praxis, die sich zum Ziel setzt, durch Geschichtenschreiben Sinn- bzw. Ideologiebildung zu betreiben, inkorporiert und benötigt vielleicht eine andere Philosophie als eine Praxis, die herausfinden will, „wie es eigentlich gewesen“ (von Ranke) ist oder eine solche, die dies auch noch „erklären“ oder „verstehen“ will. Der Geschichtstheoretiker C. Lloyd (1986, 1991, 1993) hatte schon auf beindruckende und philosophisch informierte Art versucht, die Philosophie in der Hintergrundmethodologie von Ansätzen der Sozialgeschichtswissenschaft kritisch aufzuarbeiten. Auch aktuelle Soziologen behaupten, bestimmte Ideen könnten „philosophical pitfalls“ in einer Wissenschaft vermeiden helfen: „Although the idea of mechanism-based explanation helps social scientists to avoid some philosophical pitfalls, the mere adoption of mechanism talk will not suffice“ (Hedström/Ylikoski 2010, 58). Und am Ende steht auch hier eine Idee davon „what good social science is all about“ (ebd.), also eine normative These im Kontext der angedeuteten Wissenschaftlichkeitsproblematik, die auch dort, aufgrund der Vielfalt dessen, was unter „Soziologie“ oder „Soziologischer Theorie“ und „Sozialwissenschaft“ verstanden wird, hoch umstritten ist. Sollte es dann aber so sein, dass es eine Disziplin namens Geschichtswissenschaft nicht gibt, u. a. weil Geschichtswissenschaftler nach den oben angedeuteten unterschiedlichen philosophischen Wahlen („philosophical choices“) völlig unterschiedliche Gebäude bauen (Tilly 1990a, Fulbrook 2002a), dann kann Philosophie der Geschichtswissenschaft eventuell etwas nützen, indem sie die Fragen klärt und die Antworten bzw. „Wahlen“ analysiert, und zwar im Hinblick auf deren Zuträglichkeit zu den einen oder anderen Zielen. Dann könnte sich eben auch zeigen, dass unterschiedliche geschichtsphilosophische Schulen, die sich normalerweise wohl wechselseitig ignorieren, eben ganz einfach auf unterschiedliche Geschichten oder Geschichtswissenschaften passen, dass die Heterogenität der Philosophie also durchaus zur Heterogenität der Praxen passt. Wenn man dann, wie der Soziologie R. Boudon (2003, Boudon/Assogba 2004) für die Soziologie fordert, die Genres säuberlich trennt, dann wäre auch schon etwas geklärt, denn man schreibt dann nicht mehr über denselben Gegenstand aneinander vorbei, sondern einfach über unterschiedliche Gegenstände. Auch das wird hier nicht erreicht. Es wird dem Ziel aber zugearbeitet (8.2). In der Geschichtsphilosophie kann es also vorerst aus der hier eingenommenen Perspektive wohl nur darum gehen zu klären, was Geschichtswissenschaftler tun, was Metatheorie der

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Geschichtswissenschaft ist oder sein soll, und in welchem Verhältnis diese Metatheorie zu jener Geschichtswissenschaft steht oder stehen soll. Man kann auch versuchen, irgendwie die unterschiedlichen Sprachen aneinander anzunähern und auf der Metatheorieseite ggf. teilweise zu korrigieren oder zu verwerfen. Doch für all dies muss man sich zuallererst wieder dem Historischen Seminar zuwenden und unter Umständen davon ausgehen, dass die vielen verstreuten Lehren der Philosophie der Geschichte diesbezüglich nicht sattelfest sind. Hier wird normative Metatheorie (Methodologie statt Methodographie) zwar vermieden, aber letztlich dennoch als Ziel ausgegeben. Der Stand der Dinge in der Philosophie der Geschichte wie auch die erkennbaren Meinungen von Geschichtswissenschaftlern zur Geschichtsphilosophie gebietet es nur, Zurückhaltung zu üben, die ich bis zum Ende durchzuhalten versuche. Begründete Kritik an historischer oder geschichtswissenschaftlicher Praxis auf der Basis von Geschichtsphilosophie oder „Metageschichtswissenschaft“ (2.4) oder die Demaskierung von pseudo-geschichtswissenschaftlichen Praktiken und Ergebnissen, falls derartige Unterscheidungen und Unternehmen noch haltbar sind (wovon ich später ausgehen werde), liegt zunächst einmal in recht weiter Ferne, weil die Distanz zwischen Philosophie und Geschichtswissenschaftspraxis kaum zu leugnen ist, wie wir auch sogleich ansatzweise sehen werden. Auch die von D. Little und anderen formulierte Forderung, Philosophie der Geschichte sollte für Geschichtswissenschaftler irgendwie relevant sein, ist für Außenstehende äußerst schwer zu erfüllen oder dies ist gar unmöglich, zumal auch äußerst unklar ist, worin diese Relevanz genau bestehen könnte. Andernorts heißt es: To be sure, scientists für Bunge fallen darunter auch Geschichtswissenschaftler, dp do not need philosophers in order to know what they are doing. But sometimes they need to be shown that what they have done is mistaken or, worse, irrelevant, as a matter of paying insufficient attention to philosophy (Bunge 1996, 12). Der Anspruch ist natürlich sehr hoch, aber wohl letztlich unvermeidbar für eine Philosophie der Geschichtswissenschaft oder eine Metageschichtswissenschaft. In die Worte eines Meister-DJs gekleidet würde der Anspruch lauten: Ich spiele nicht die Songs, die Du willst, sondern die, die Du brauchst! Aber jeder Kritik auf der Basis irgendwelcher Normen müssten natürlich lange Jahre mit deskriptiv-rekonstruktiven Hausaufgaben vorhergehen, und so viel Zeit hat in der Geschichtsphilosophie kaum jemand, da die Geschichtsphilosophie noch einzig in ausgelaufenen Prüfungsordnungen einen Ort hat.37 Wir haben die entscheidende Frage nun schon viel zu lange aufgeschoben: Ist denn eigentlich klar, was tatsächliche Geschichtswissenschaft ist? Warum sollte man glauben, dass dies unklar ist? Lernt man das nicht im (wöchentlich vierstündigen) Proseminar, z. B. im „Theorie“-Teil? Gibt es von dieser Geschichtswissenschaft überhaupt wirklich nur eine, wie die Philosophie der Geschichte in all ihren Schulen gewöhnlich genauso unterstellt, wie auch ich es bisher in der Einkreisung des Gegenstandes unterstellt habe? Zunächst stellen wir ganz einfach eine Frage, und zwar eine andere.

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Geschichtswissenschaftler sind ja auch häufiger skeptisch bezogen auf das „Philosophieren“: „Pour L. Febvre, ‚philosopher‘ constituait ‚le crime capital‘. Les historiens, notait-il d’ailleurs dans sa leçon inaugurale au Collège de France, ‚n’ont pas de très grands besoins philosophiques‘“ (Prost 2010, 8). Ich vermute aber, dass auch Febvre – einer der berühmtesten Geschichtswissenschaftler weltweit – die spekulative Geschichtsphilosophie vor Augen hatte.

2.3 Ist klar, worum es sich bei dem Gegenstand handelt? Gibt es eine beste Praxis?

2.3

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Ist klar, worum es sich bei dem Gegenstand handelt? Gibt es eine beste Praxis? There are times when the first duty of a scholar is to admit that he does not know. The moment for such an avowal of ignorance has now arrived … (Bloch 1970, 100).

Wenn wir uns dem Gegenstand dieser Untersuchung (2.1) vor dem Hintergrund der Unklarheiten im Umfeld der überkommenen Philosophie der Geschichte und deren Einschätzung durch Geschichtswissenschaftler (2.2) wenigstens nähern wollen, dann bietet es sich an, mit einer Frage zu starten. Wenn diese Frage auch insofern klar ist, als sie ohne spektakuläre und daher unvermeidbar kontroverse philosophische Annahmen, z. B. aus dem Kontext methodologischer oder ontologischer Geschichtsbegriffe, formuliert werden kann, dann besteht zumindest die Möglichkeit einer Antwort, die weniger kontrovers ist als andere Antworten auf andere Fragen. Wenn klar ist, auf welche Art und Weise diese Frage beantwortet werden kann, dann besteht auch die Möglichkeit zu größerer Transparenz in den Grundannahmen einer möglichen Metageschichtswissenschaft. Diese Frage kann man dann als Hauptfrage an die wissenschaftliche Praxis richten. Natürlich versuchen wir wiederum diese Transparenz ganz einfach dadurch herzustellen, dass wir der seit Dekaden im Raum stehenden Forderung nachzukommen versuchen, den Ausgang der Überlegungen in Philosophie der „Geschichte“ in der Geschichtswissenschaft zu suchen. Die Kosten dieses Vorgehens werden später kurz thematisiert. Wenn man das macht, dann ergeben sich sofort auch weitere Schwierigkeiten und damit eine weitere Begründung dafür, dem eigentlich selbstverständlichen Motto „Zurück ins Historische Seminar!“ ansatzweise zu folgen. Die zu stellende Frage könnte naheliegenderweise im Anschluss an Vorangegangenes folgendermaßen lauten: Was ist Geschichtswissenschaft? Vielleicht ist dies aber nicht die beste Möglichkeit, einen einfachen Startpunkt zu finden. Denn müssten wir nicht schon wissen, was wir in einem methodologischen Sinn genau mit „Wissenschaft“ meinen (2.1), um die Frage beantworten oder auch nur stellen zu können? Und was ist mit „Geschichte“ gemeint (2.1)? Immerhin ist die Frage, ob Geschichtswissenschaft Wissenschaft ist, so alt wie Geschichtsschreibung selbst, also eigentlich älter als die Geschichtswissenschaft(en) im hier einschlägigen disziplinären Sinn selbst, die erst im 19. Jahrhundert entstanden sein soll(en). Und müssten wir zur Beantwortung dieser Fragen nicht schon eifrig in Literatur wühlen, kämen also nie zu einem Anfang? Eventuell ist folgende Formulierung unverfänglicher: Was machen Geschichtswissenschaftler? Da uns hier nicht im Geringsten interessiert, was Menschen, die man manchmal „Geschichtswissenschaftler“ nennt, so alles tun, präzisieren wir etwas: Was machen Geschichtswissenschaftler in ihrer spezifischen Rolle oder Funktion? Hierbei ist zunächst vorausgesetzt, dass es irgendetwas Spezifisches gibt, das Geschichtswissenschaftler von anderen Personen unterscheidet, und diese Voraussetzung könnte falsch sein. Dass es keine große Klarheit über die Merkmale Historischer Wissenschaft, der Geschichtswissenschaft oder auch der Historischen Kulturwissenschaft gibt, könnte ein Symptom davon sein. Warum sollte diese Frage überhaupt gestellt werden? Ist sie nicht völlig trivial und gänzlich uninteressant? Schließlich meint jeder, zumindest jeder, der sich nicht mit Geschichtsphilosophie oder Geschichtswissenschaft beschäftigt, zu wissen, was Geschichtswissenschaft ist. Es kann ja auch nicht so schwer sein, die Frage zu beantworten, schließlich passen die weltweit operierenden Geschichtswissenschaftler vermutlich alle ins Westfalenstadion. Man könnte sie also alle prinzipiell auch persönlich befragen, denn Charles Tilly (1990, 90) schätzte die Zahl professioneller Historiker in „the Western world“ auf 40000 bis 50000. Wir können die triviale Fragestellung aber vor dem Hintergrund der Traditionen der Geschichtsphilosophie ganz einfach motivieren. Vor dem Hintergrund dessen, was in Geschichtstheorie oder Geschichtsphilosophie zu finden ist, scheint die Frage keineswegs so

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

trivial zu sein. Wie bereits vermerkt worden ist (2.1), scheint es vielmehr so zu sein, dass die höchst divergierende und zumeist implizite Beantwortung dieser Frage – in der traditionellen und mehrdeutigen Formulierung „Was ist Geschichte?“ – gerade im Zentrum grundsätzlicher Probleme der Geschichtsphilosophie steht, was sich eben auch in dem Symptom äußert, dass es keine irgendwie einheitliche Disziplin Geschichtsphilosophie gibt. Die implizite Beantwortung zeigt sich schon in dem gewählten Gegenstand, nämlich zumeist Geschichten (im Sinne von Erzählungen; 6.4). Das krasseste Beispiel für die Relevanz unserer trivialen Fragestellung für eine Philosophie der Geschichtswissenschaft kann dann eben doch noch immer in der Jahrhunderte alten, bereits angedeuteten Behauptung gesehen werden, dasjenige, was international vage „Geschichte“ genannt wird, sei eigentlich eine Form von Literatur oder Kunst oder sei zumindest mit diesen näher verwandt als mit etwas, das „Wissenschaft“ genannt werden darf. Der Philosoph A. R. Louch (1969, 61) ist mit dem klassischen Satz „History, some say, is an art, not a science“ zu zitieren. G. Mann (1979) schrieb: „Geschichte ist eine Kunst, und weiter ist sie gar nichts.“ M. Scriven (1959) befand bereits in der klassischen Kontroverse mit C. G. Hempel, es gäbe eine Nähe von „history“ und „literature“, was besonders seit den späten 1960er und 70er Jahren zu einer erneut verbreiteten Ansicht geworden ist, natürlich besonders im heterogenen Feld der Narrativismen. An dieser Stelle ist eine Klärung dessen, was mit „Wissenschaft“ oder „Geschichtswissenschaft“ in einem methodologischen Sinn gemeint ist, gar nicht entscheidend, sondern einzig, dass genauso ungezählt viele Autoren selbst in dieser basalen Frage klarerweise anders votieren würden, Geschichtswissenschaft also für Wissenschaft halten. Eine legitime Frage zu diesen doch immer wieder aufflammenden kontroversen Ansichten ist aus meiner Sicht ganz einfach: Wie sind solch konträre Auffassungen möglich, wenn man zunächst davon ausgeht, dass alle denselben Gegenstand vor Augen haben? Stellt man diese Frage, ist klar, dass nicht klar ist, was Geschichtswissenschaft (oder eben Historiographie, Geschichte) ist und ob unterschiedliche Gruppen von Philosophen wirklich dasselbe vor Augen haben, was auch in den zuvor vermerkten verwunderten Äußerungen durchklingt, die im einundzwanzigsten Jahrhundert noch so klingen wie jene von Marc Bloch (2.2). Man kann diese Frage nicht nur bezogen auf diese alte Frage stellen, sondern bezüglich vieler anderer, zu denen sich in der Geschichtsphilosophie über die Dekaden dichotomische Auffassungen ergeben haben (z. B. Erklärung vs. Verstehen vs. Erzählung, Objektivität vs. Subjektivität, Kausalismus vs. Antikausalismus, Struktur vs. Ereignis usw.). Wenn man sich mit dieser Frage über die Lage innerhalb der Geschichtsphilosophie wundert, dann bleibt wohl nichts als der Weg zurück ins Historische Seminar unter der Formulierung der reichlich trivial erscheinenden Fragestellung, die wie folgt lautet: Was machen Geschichtswissenschaftler eigentlich? In den Kapiteln 2.1 und 2.2 haben wir den Überzeugungs- oder Hypothesenhintergrund skizziert, auf dessen Basis es legitim erscheint, diese triviale Fragestellung zu verfolgen. Der fiktive Weg ins Historische Seminar zwecks der Beantwortung der scheinbar trivialen Frage ist nun aber nicht ganz einfach und muss gar begründet werden, denn er wird in der Philosophie kaum beschritten. Was heißt dies nun grob, zurück ins Historische Seminar zu gehen oder die Disziplin Geschichtswissenschaft nicht nur zum Gegenstand zu erklären, sondern praktisch zum Gegenstand zu machen? Das heißt zunächst einmal ganz einfach: Wir nehmen das von Maurice Mandelbaum (1977) einst angestoßene Projekt einer „Anatomy of Historical Knowledge“ in leichter, weniger philosophisch klingender Umformulierung und anderer praktischer Umsetzung wieder auf, nämlich als Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung. Wir versuchen also uns mit Geschichtswissenschaft einigermaßen direkt zu beschäftigen, bei dieser unseren Ausgang zu nehmen, auch von dieser ausgehend vielleicht mögliche Probleme zu entdecken, und zuallererst geschichtsphilosophische Traditionen mit der Praxis oder einer jeweiligen (vermuteten) Praxis zu kontrastieren, nach ihrer Relevanz zu fragen und auf der

2.3 Ist klar, worum es sich bei dem Gegenstand handelt? Gibt es eine beste Praxis?

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Basis der Praxis nach Modifikationen zu suchen, die eine Philosophie ergeben, die möglichst viel aus dieser Praxis abbilden kann, zumindest perspektivisch. Letzteres bietet zumindest auch einen Anfang unter Anknüpfung an überkommene Traditionen, denn gänzlich von vorn anzufangen ist wenig Erfolg versprechend, ferner ist es unmöglich. Aus einem zweiten Grund ist unsere Problemstellung nicht trivial. Falls man die Einschätzung nicht teilt, dass der Gegenstand der Philosophie „der Geschichte“ unklar sein muss, weil sonst derart konträre Auffassung nicht möglich wären, kann man den zielführenden Charakter dieses Ansatzes auch auf andere Art bestreiten. Man kann bestreiten, dass man sich, wenn man sich mit Geschichtswissenschaft (philosophisch) beschäftigen möchte, mit Geschichtswissenschaft beschäftigen solle oder müsse. Ferner kann dies dadurch begründet werden, dass eben nicht klar ist, wo man jene Geschichtswissenschaft genau findet. Eine von Mandelbaums Behauptungen war, dass Geschichtswissenschaft („history“, „historical knowledge“), entgegen der in der Philosophie verbreiteten Annahme, eventuell eine sehr heterogene Angelegenheit ist. Sie wurde von H. Kincaid (2010, 300) in einer kritischen Auseinandersetzung mit Tucker (2004a) über das Verhältnis von Geschichts- und Sozialwissenschaft („history“ und „social science“) wiederholt. Die These ist auch am Rande der Geschichtsphilosophie an anderen Stellen zu finden. Die prägnanteste Formulierung hat J. R. Martin gewählt: „As everyone knows, but as those philosophers and historians who write about historical practice tend to forget, history is immensely various“ (J. R. Martin 1970, 192, Hervorhebung dp). Mandelbaum deutete beispielsweise an, dass ein Politik- oder Literaturhistoriker eventuell mit einem Wirtschaftshistoriker nicht viel gemein habe, z. B. hinsichtlich relevanter Verfahrensweisen (Methoden), hinsichtlich der (Typen von) Erklärungen, die angestrebt und geboten werden, sowie hinsichtlich der verwendeten Begrifflichkeiten von Kausalität. Wie Martin zuvor, schrieb auch Mandelbaum (1977, 136): „Historical studies are far more diverse than is usually assumed“. Wenn das damals so gewesen sein soll, dann müsste es nach allem, was man weiß, heute noch weitaus diverser zugehen, da die Turns (oder Ansätze 4.1.5, 5.6) nun im Jahres- oder Wochenrhythmus mehr zu werden scheinen. Mandelbaum warnte dann auch vor den Kosten der Unterlassung einer Anatomisierung des „historischen Wissens“: „All this is apt to be overlooked by those who fail to anatomize the tasks that different historians set themselves in conducting their investigation, or who neglect the differences among the materials with which different historians deal“ (Mandelbaum 1977, 136). Eine Schwierigkeit liegt aber darin, dass diese vermutete Heterogenität nicht nur zu einem praktischen Problem für denjenigen führt, der eine solche Anatomisierung anstrebt, denn wo sollte er z. B. anfangen, ohne das heterogene Ganze aus den Augen zu verlieren? Die Heterogenität führt auch zu der Möglichkeit, dass es ein einheitliches Phänomen Geschichtswissenschaft überhaupt nicht gibt, zu dem sowohl die Literaturgeschichte oder die Kunstgeschichte wie die Wirtschaftsgeschichte, die Sozialgeschichte, die Kulturgeschichte und die traditionelle, historistische Politikgeschichte oder Historische Sozialforschung etc. zu rechnen sind. Bei „der Geschichte“, über die Geschichtsphilosophen schreiben, könnte es sich also um ein eigentümliches „Hirngespinst“ (Bloch) handeln, auch wenn es in mehreren Hirnen gleichzeitig und über die „Geschichte“ hinweg und auf ähnliche Weise spukt. Es könnte also sein, dass es im sozialen oder „institutionellen“ Sinn mehrere Geschichtswissenschaften gibt oder auch vielleicht gar keine, nämlich sobald man irgendwelche stärkeren Wissenschaftlichkeitskriterien anlegt. Auch die zahllosen unterschiedlichen geschichtswissenschaftlichen Schulen, Ansätze und „Turns“ könnten zumindest auf den ersten Blick gegen jede Einheitlichkeitsthese sprechen. Wenn man die Frage „Was ist Geschichtswissenschaft?“ wählte, könnte es also sein, dass man sie zurückweisen müsste. Es gibt nur viele davon. Eine einfache Möglichkeit, einen Anfang zu finden, die uns auch nicht ohne Weiteres offen steht, da wir uns normativ weitgehend enthalten wollen (2.1), besteht darin, eine beste

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Praxis als Gegenstand der philosophischen Beschäftigung auszumachen und als paradigmatisch Geschichtswissenschaft zu setzen, also mit echter, eigentlicher, genuiner Geschichtswissenschaft zu identifizieren. Zuletzt wurde dies explizit von Little (2010) und Day (2009) unternommen, implizit von Tucker (2004a). Fraglich ist dabei, welche Kriterien zur Auswahl der sogenannten „besten Praxis“ herangezogen werden können, sodass die Auswahl dieser Beispiele nicht wiederum bloß stipulativen und zumeist impliziten Kriterien geschuldet ist, bloße Geschmacksurteile oder philosophische Normen verdecken. Schließlich wird mit der Auswahl der besten Praxis auch eine Grenze zu einer schlechteren oder schlechten, bloß als Pseudo-, Proto-Wissenschaft oder Nicht-Wissenschaft qualifizierten Praxis gezogen, und diese Grenze könnte vor allem auch Geschichtswissenschaftlern nicht recht schmecken, wie man deren Äußerungen zur Philosophie der Geschichte teilweise entnehmen kann. Oder sie könnte bloß die immer umstrittenen Grenzen, d. h. die obigen (2.1) metatheoretischen oder philosophischen Grundlagen von bestimmten Schulen, Ansätzen oder „Turns“ reproduzieren oder, genauer, eine der Grundansichten zur besten Praxis erklären. Nicht nur ist ein großes Problem, dass man sich vor der Protegierung einer besten Praxis zunächst mit der breiten Praxis beschäftig haben müsste. Die Auswahl der besten Praxis durch unterschiedliche Autoren kann, abgesehen davon, Erstaunliches zutage fördern, nämlich erstaunliche Differenzen über diese beste Praxis. M. Day (2009) muss nach der metaphilosophischen Debatte zur Auswahl von Praxisbeispielen letztlich auf die Berühmtheit des Geschichtswissenschaftlers als Auswahlkriterium der besten Praxis in der philosophischen Praxis zurückgreifen und gesteht dann auch offen ein, dass die Auswahl letztlich dogmatisch bleibt. Nach seiner Auswahl zählt schließlich auch Hegel (Georg Friedrich Wilhelm) zu den Beispielen für die beste Praxis zur „Geschichte“ der Französischen Revolution. Warum sollten aber die – zumeist außerhalb der Geschichtswissenschaften – berühmtesten Geschichtswissenschaftler die besten sein? Dafür spricht zunächst nichts und viele Geschichtswissenschaftler würden dies im Flurfunk der Historischen Seminare vehement bestreiten. Für M. Bunge (1988, 600) ist die Annales die Verkörperung der besten Praxis und anderes ist eher Protogeschichtswissenschaft. Doch auch hinter dieser Einschätzung stehen genauso wie hinter den anderen vielerlei metawissenschaftliche Thesen, die allesamt auch kontrovers wären, wenn sie diskutiert würden (8.2). H. White (1974), für manche der berühmteste Philosoph „der Geschichte“, legte seinerseits offensichtlich seine eigenen Geschmackskriterien an, wenn er über „die größten Historiker“ schreibt, die seiner Ansicht nach „‚traumatische‘“ Ereignisse untersuchten. Von Anhängern der Postmoderne heißt es bei Lorenz (2004b, 58) generell, sie betrachteten „romantische Historiographie als Paradigma der Geschichtsschreibung überhaupt“. Auch in dem früher berühmten Text von I. Berlin über das Verhältnis von Wissenschaft und Geschichte redete der Autor eher über sein eigenes Ideal von „historical writing“ statt über „normal historical writing“ (Berlin 1961, 11). Die Fälle ließen sich leicht vermehren. D. Little (z. B. 2010, 86) spricht wiederholt von „dem Historiker“, bei dem es sich allerdings wohl auch um einen solchen Idealtypus handelt, der genau die von ihm vorgeschlagene Ontologie und Methodologie verkörpert, wohingegen anderes stellenweise als uninteressant bzw. „pointless“ (Little 2010, 87) gilt, wohingegen bei A. Tucker alles, was nicht zum Ideal passt, als nicht der „scientific historiography“ zugehörig ausgezeichnet und bloß zur Rubrik „historiographischer Überzeugung“ gerechnet wird. Dagegen spricht natürlich für denjenigen nichts, der die zugrunde gelegten Kriterien teilt. C. Tilly (1990a) hielt aus geschichtstheoretischer Perspektive „humanistic history“ (dazu zählt für ihn z. B. Ginzburg 2002) und „social scientific history“ für zwei unterschiedliche Bereiche, wobei er nicht verheimlichen konnte, dass er „humanistische Geschichte“ zwar schätzt, aber kaum für wissenschaftlich hält, wie schon die jeweiligen Bezeichnungen andeu-

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ten. Kitcher/Immerwahr (2014) landeten bei ihrer Analyse und der Besprechung des Verhältnisses von „History and the Sciences“ in der Mikro-Geschichte und damit derjenigen Sparte, die aus Tillys Perspektive als „humanistisch“ und eher nicht-wissenschaftlich zu qualifizieren wäre, wobei sie diese nicht zur besten Praxis erklärten, aber vermutlich für irgendwie typisch oder anderweitig signifikant hielten. Auch beim Versuch der direkten Konfrontation der Ideale können Zweifel an der Strategie der Postulierung einer besten Praxis aufkommen. A. Tucker (2004a), der nah an „scientific historiography“ argumentieren möchte, teilt Littles Vorstellungen von bester Praxis vermutlich nicht, obwohl auch Little eng an der Praxis oder, besser, einer Praxis argumentieren möchte. Denn Little (2010) beschäftigt sich eben mit „social science history“, die bei Tucker (2004a) eventuell gar nicht zur Rubrik Wissenschaft („scientific historiography“), sondern zum Reich geschichtsschriftstellerischer Überzeugung zählt oder aber als Hybrid zwischen sogenannter Sozialwissenschaft („social science“) und „wissenschaftlicher Geschichtsschreibung“ ein begriffliches Ding der Unmöglichkeit ist (Tucker 2012, 2014). Im Zweifel müsste Tucker dasjenige, was Little vorschwebt, unter „social science“ rubrizieren, die für Tucker strikt von „scientific historiography“ zu trennen ist. Umgekehrt dürfte es so sein, dass Little sich für dasjenige, was Tucker für paradigmatische, post-revolutionäre Normalgeschichtswissenschaft hält, vielleicht einfach gar nicht interessiert.38 Wie das Verhältnis der Ansichten genauer ist, lässt sich allein deshalb schon nicht klären, weil in der Geschichtsphilosophie eigentlich nie ähnliche oder identische Forschungsbeispiele aus den unterschiedlichen Perspektiven diskutiert werden. Beide Autoren haben aber sicherlich wiederum keinerlei Verwendung für diejenige „beste Praxis“, die z. B. H. White (1974), K. Jenkins (1995) oder auch A. Munslow (2007, 2010) vorschwebt. Eigentlich ist dies so offensichtlich, dass seltsam ist, dass diese Unterschiede nicht explizit thematisiert werden. Wir treffen hier auf die angedeutete Problematik (2.1) um gehaltvollerer und normativer Geschichtswissenschaftlichkeitskriterien, die wir hier genauso vermeiden müssen wie Stipulationen über beste Praxis, die auf dasselbe hinauslaufen. Ein einfacher Grund liegt darin, dass man problemlos aus dem Umfeld der Geschichtswissenschaft Studien finden kann, die vor dem Hintergrund von diesen oder anderen Vorstellungen von Geschichtswissenschaftlichkeit und bester Praxis nicht zur Geschichtswissenschaft gezählt werden würden. Die mit normativen Kriterien im Kontext der Philosophie „der Geschichte“ verbundene Konsequenz ist ganz einfach sehr häufig, dass am Ende recht viel aus dem Begriffsumfang von „Geschichtswissenschaft“ oder „Geschichte“ herausfällt. Zum Beispiel führt dies zu der Konsequenz, dass das geschichtswissenschaftliche Hauptwerk des wohl produktivsten und geschichtswissenschaftsnahesten Geschichtstheoretikers wohl nicht als „geschichtswissenschaftlich“ oder der „Historischen Wissenschaft“ zugehörig eingestuft werden müsste (Topolski 1979 [1965]; siehe Kapitel 2.3), um nur ein Beispiel zu nennen. Denn Topolski wendet z. B. eine Historische Methode oder auch die Methode der Historischen Wissenschaft nicht an, da er selbst gar kein Quellenstudium betreibt. Allein aus diesem Grund und dem Umstand, dass er ein recht allgemeines Modell über dasjenige, was er „Mechanismen“ nennt, aufstellt, handelt es sich – per Definition – auch nicht um Historische Wissenschaft oder die Anwendung einer Methode der Historischen Wissenschaft.

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Schließlich scheint Little (2010, 12) teilweise unter dem Terminus „Normalwissenschaft“ (ohne Rekurs auf Thomas Kuhn) dasjenige abzulehnen, was nach Tucker „scientific historiography“ ist, nämlich irgendwelche Quellen oder Belege („evidence“) zu suchen und darauf singuläre Hypothesen über einzigartige „Ereignisse“ („events“) zu gründen. Und man darf wohl interpolieren, dass er diese Normalwissenschaftler nicht zu den besten Historikern zählt, die er philosophisch analysieren möchte. Da ist er vielleicht schon, Marc Blochs Götterwächter Terminus (siehe unten).

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

Der Soziologe und Methodologe der Soziologie Raymond Boudon (2003, 114 f., 166 f.) behauptet wiederum noch recht kürzlich im Kontext des früher stark diskutierten Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft zwar keine unüberbrückbare Kluft, aber eine nennenswerte Differenzierung zwischen dem, was er „Soziologie“ nennt und dem, was er „Geschichte“ nennt. „Die Historiker“ hätten nämlich einen „Ansatz“, der „genetisch“ sei: „un événement s’explique par un autre événement“, wohingegen von „den Soziologen“ gelte, sie versuchten „découvrir des mécanismes généraux dans les phénomènes singuliers“. Weiter deutet er einen Ansatz an, der mir grundsätzlich recht sympathisch ist, „die Geschichte“ von der „Soziologie“ dadurch zu unterscheiden, dass die Soziologie andere Fragen stelle an letztlich dieselbe „historische Materie“ (so auch z. B. Esser 1996). Wenn dem jedoch so ist, wie Boudon andeutet, womit er ein zentrales Urteil ausspricht, das aus geschichtsphilosophischen Texten bekannt ist, dann ist allerdings der produktivste Geschichtstheoretiker des 20. Jahrhunderts in seiner Tätigkeit als Geschichtswissenschaftler ein Soziologe gewesen, denn Topolski erklärt kaum ein „Ereignis“ „genetisch“ durch ein anderes „Ereignis“, sondern sucht nach demjenigen, was er häufiger „Mechanismen“ nennt, in der sogenannten „Geburt des Kapitalismus“ aufzudecken und tut es damit eventuell nicht wenigen Geschichtswissenschaftlern gleich. Das Spiel könnte man lange fortsetzen und feststellen, dass sehr viel in tatsächlicher Geschichtswissenschaftspraxis nicht in philosophische Raster passt, dass zum Beispiel kein klarer „genetischer“ Ansatz in einem nicht-trivialen Sinn auch nur annähernd universal zu finden ist, obwohl ein solcher Ansatz natürlich zu manchen ontischen Geschichtsbegriffen (2.1) passen würde (3.2). Zum Problem der womöglich arbiträren Demarkation der Disziplinen, das sich im Rahmen der Festlegung einer zu untersuchenden Praxis in Analogie ergibt, schrieb meines Erachtens ganz zutreffend S. Nowak im Fall der Soziologie: There are two possible ways out of this situation. The first would be to adopt an unambiguous, arbitrarily established definition of „sociology“. However, this must lead either to some works hitherto included in the field of sociology now being excluded, or to some works previously excluded from the field being henceforth classified as „sociological“, or again, to both of these consequences at once. Another solution to this problem would be to adopt institutional criteria, that is, to define the scope of sociology as embracing the professional activity of persons who regard themselves and are described by others as „sociologists“. This is not the worst way out, as long as we do not lose sight of the internal differentiation and the non-specificity of the scope of sociology as thus conceived (Nowak 1977, 3 f., Hervorhebung dp). Ein weiterer Fall aus dem Geschichtskontext und bezogen auf ein bis Ende der 1970er Jahre virulentes Problem der Geschichtsphilosophie kann auch noch als Illustration der Problematik einer Setzung einer besten Praxis dienen. Zum Beispiel behauptete erneut der Geschichtsphilosoph A. Tucker (2004a/b) mit erfrischender Klarheit, Covering-Law-Theoretiker der Erklärung (z. B. Hempel 1942, 1965, Haussmann 1991) im Allgemeinen und bzgl. der Geschichtswissenschaft im Besonderen seien schlicht ahnungslos im Hinblick auf tatsächliche Wissenschaftspraxis und Covering-Law-Modelle seien jenseits jeder Diskutierbarkeit im Rahmen einer Philosophie der wissenschaftlichen Historiographie. Tucker hält also die Covering-LawModelle bzw. deren Anwendung nicht für schlechte Praxis, sondern für gänzlich irrelevant bezüglich irgendeiner „historiographischen“ Praxis. Der Geschichtstheoretiker Jerzy Topolski schrieb, was vor diesem Hintergrund bemerkenswert ist, kurz nach der heißen Phase der geschichtsphilosophischen Auseinandersetzung um die Covering-Law-Modelle, obwohl auch er

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davon überzeugt war, dass sich die klassische Erklärungsdebatte durch „its very loose contact with the real problems of a practicing historian“ (Topolski 1978, 1) auszeichne: „Dray’s 1957 refutation of all nomological explanation in history contradicts the real practice of standard historians who very often formulate law-like statements and base their explanations of historical facts (processes) on them“ (Topolski 1978, 12; Hervorhebung dp). Topolski (1976) hatte nicht nur zuvor eine nach wie vor beeindruckende Methodology of History vorgelegt, sondern noch früher (mit A. Malewski) eine auch deskriptive Metastudie geschichtswissenschaftlicher Praxis unternommen, die leider nicht in Übersetzung vorliegt. Ohne größere Zweifel hatte nicht nur die beste Praxis, sondern gar eine mittelprächtige Standardpraxis für diesen Geschichtswissenschaftler etwas mit derartigen „Gesetzen“ ansatzweise zu tun.39 Die Frage ist an dieser Stelle gar nicht, wer Recht hat. In die Augen springend ist einzig erneut, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, dass unterschiedliche Geschichtsphilosophen oder Gruppen von Gleichgesinnten dieselbe Geschichtswissenschaft in den vielen zuvor explizierten Bedeutungen vor Augen haben, also ähnliche soziale Gebilde, ähnliche Tätigkeiten, spezifische Methoden, Produkte und eventuell allgemeinere Methoden, wenn sie zu so unterschiedlichen Annahmen kommen. Abgesehen davon, dass es bekanntlich in den meisten Fällen der Geschichtsphilosophie überhaupt keine Beispiele für eine Praxis gibt, ist es legitim zu vermuten, dass diejenigen ausgewählten „Beispiele“ Beispiele für „beste Praxis“ sind, welche die jeweilig aus völlig anderen Gründen favorisierte Metatheorie illustrieren. Alles andere ist dann eben ein schlechtes Beispiel, ein Beispiel für schlechte Praxis oder schlicht kein Beispiel. Dass Geschichtswissenschaftler philosophische Auffassungen über beste Praxis kritisch sehen würden, darf man angesichts der dort und in der Geschichtstheorie kursierenden divergierenden Auffassungen von Geschichtswissenschaft oder Geschichtsschreibung beinahe voraussetzen, schließlich bekämpfen sich unterschiedliche Historikerschulen gerade hinsichtlich ihres Verständnisses von bester Praxis seit Langem. Der zielführende Charakter des Ausgehens einer Geschichtsphilosophie von Geschichtswissenschaft ist explizit jüngst mit leichtem Akzent von Gorman (2007) bestritten worden, da dies eben die Gefahr berge, letztlich außerdisziplinäre, philosophische Normen an die, wie er es nennen würde, „Geschichtsschreibung“ („historiography“) heranzutragen. Um dies zu vermeiden, studiert Gorman gerade nicht die Publikationen von sozusagen „normalen“ Geschichtswissenschaftlern, sondern von Historiographen der Historiographie („historiography of historiography“), also dem „historischen“ Bereich, der sich mit Geschichtswissenschaft beschäftigt, in Analogie zur Wissenschaftsgeschichte. Abgesehen von den Ergebnissen dieses Umwegs und der legitimen Befürchtung, die dem Vorhaben zugrunde liegt, kann man sich jedoch fragen, warum diese Gruppe von Geschichtswissenschaftlern einen besseren Zugang zu den Charakteristiken der Prima-facie-Disziplin haben sollte, welche die Protagonisten der Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum, vermutlich auf der Basis von „philosophischen Wahlen“ (Tilly 1990a,) „Geschichtswissenschaft“ oder „Geschichtsforschung (Bernheim 1880, 1926), „Geschichtsschreibung“ (passim), „Historische Sozialwissenschaft“ (Wehler 1980, Kocka 1986), „Historische Sozialforschung“ (Ruloff 1985), „Historische Kul39

A. Tucker (2004a) zufolge hat die „Geschichtsschreibung“ ferner ihren definitiven Status und ihre wissenschaftliche Revolution schon mit von Ranke erreicht, nie daran gezweifelt und ihn nie verändert. J. Topolski (1983a, 849) zufolge galt noch weit später: „La rivoluzione metodologica nella scienza storica continua.“ Zumeist datieren Geschichtswissenschaftler eine Revolution auf das Jahr 1929. Als weiterer Fall und zur Andeutung des Spektrums der Divergenzen könnte zu verzeichnen sein, dass wiederum Aviezer Tucker (2004a) für den geschichtsphilosophischen Narrativismus von H. White (2008 1973) nur einen Witz in Randbemerkungen der Einleitung übrig hat, obwohl H. Whites Werk einen Mainstream der Geschichtsphilosophie der letzten fünfunddreißig Jahre geprägt hat. Tucker hält diesen Narrativismus für gänzlich obsolet, was Anhänger H. Whites sicherlich auch über Tuckers Rankeanischen Baysianismus sagen würden.

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turwissenschaft“ (Frings/Marx 2008), Neuere „Kulturgeschichte“ (Daniel 2002) oder „Historische Anthropologie“ (van Dülmen 2001) nennen. J. Topolski nannte sie, vermutlich teilweise mit Marx/Engels im Hintergrund, zumeist „Wissenschaft der Geschichte“ (Topolski 1976, 1983a, 1991). Im Kampfbereich zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft nennt man sie „social science history“ (Little 2010), „social structural history“ (Lloyd 1993) oder „Historische Soziologie“ (Abrams 1982, Bühl 2003, Schützeichel 2004), wobei die Letztere andernorts manchmal einfach „Makrosoziologie” genannt zu werden scheint (Sanderson 1995). Im Romanischen ist von „Geschichte“ (Marrou 1954, Le Goff/Nora 2011, Klinger 1997, Mustè 2005, Prost 2010), „historischen Studien” (Langlois/Seignobos 1900, Rama 1974), „Geschichtsschreibung“ (Di Nuoscio 2004), „historischer Wissenschaft“ (Rogari 2013, Cardoso/Brignoli 1986) und auch „scienza storico sociale“ (Rainone 1990) sowie „historia social“ (de Lara 1974) die Rede. Warum fragt man, wenn man so etwas wie Gormans philosophischen Ansatz wählt, dann aber nicht einfach bei Geschichtswissenschaftlern nach oder liest in Handreichungen für Geschichtswissenschaftler, nämlich Geschichtstheorie, darüber nach, was am besten unter Geschichtswissenschaft, Geschichtsschreibung oder Geschichte beziehungsweise der besten Praxis zu verstehen ist? Vermutlich macht man dies nicht nur nicht, weil Geschichtsphilosophen Geschichtstheoretiker traditionell eher nicht rezipieren, sondern auch, weil man dort, wie die obige Auflistung andeuten könnte, auch keine klaren Antworten findet, sondern wechselseitige Abgrenzungskämpfe, vornehmlich auch über beste Praxis. Auch hier ist es so, dass ein Blick in unterschiedliche metageschichtswissenschaftliche Bücher auf der Seite der Geschichtstheorie zu der Frage führt, ob dort eigentlich wirklich von ein und derselben Geschichtswissenschaft die Rede ist. Schließlich ist meist das Erste, was man in geschichtstheoretischen Debatten recht schnell findet, die Benennung des Gegners, also desjenigen, der nicht die richtige Form von Geschichtswissenschaft betreibt, und mit „Wissenschaft“ oder „Geschichtswissenschaft“ scheint häufiger Unterschiedliches bezeichnet zu werden. Auch kann man in unterschiedlichen Ländern recht schnell unterschiedliche geschichtstheoretische Traditionen ausmachen, die auch selten integriert werden und in denen auch teilweise recht unterschiedliche Literatur zentral ist. Auch in der Geschichtstheorie besteht ferner wie in jeder disziplininternen Metatheorie die Gefahr, wenn nicht sogar die Tendenz, dass in großen Teilen bloß das kommentiert wird, was andere Geschichtswissenschaftler als Geschichtstheoretiker geschrieben haben, ohne dass die Diskussion irgendwann auf konkretes Forschen und dortige Probleme oder konkretes Geschichtenschreiben oder Geschichtenerzählen und damit verbundene Probleme zu sprechen kommen müsste. Schließlich ist es auch kein Geheimnis, dass sich Wissenschaftler in der theoretischen oder philosophischen Beschreibung ihrer Praxis genauso häufig täuschen können wie Philosophen. In seinem geschichtstheoretischen Spätwerk schrieb der Geschichtstheoretiker J. Topolski (1997, 53) über die geschichtstheoretischen Auffassungen von Geschichtswissenschaftlern: „Das Gefälle zwischen ihren philosophischen Auffassungen und ihrer Praktik ist ein allgemeines Phänomen.“40 In neuester Zeit soll es gar so sein, dass in mancher Geschichtstheorie auch bloß bekanntere oder unbekanntere „Theorie-Gurus“ (Verstegen 2013) diskutiert werden, was wohl auch zum schlechten Ruf der (Meta-)Theorie in manchen Gruppen von Geschichtswissenschaftlern beiträgt. Ein Problem ist auch, dass es kaum spezifische 40

Christopher Lloyd (1993, 7) schrieb ähnlich: „The methodological self-understanding of practitioners of a discipline is not necessarily a reliable guide to their real foundations, practices, and results.“ Vgl. auch G. Noiriel (2005, 13). Wohlgemerkt, bei diesen kritischen Stimmen handelt es sich um kritische Stimmen von Geschichtstheoretikern, also Geschichtswissenschaftlern. Zwei Wissenschaftlerphilosophen nannten das Phänomen treffend die „weekend philosophy“ eines Wissenschaftlers (Bunge/Mahner 1996, 112). Siehe dazu, im Kontext von Objektivitätsproblematiken, ähnlich Haskell 1990.

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metatheoretische Analysen von bester Praxis durch Geschichtswissenschaftler gibt, sodass man sich von philosophischer Seite daran orientieren könnte. (Zur Diagnose siehe auch Rusinek et al. 1992.) Nach dem Vorangegangenen wenig überraschend, schrieb Charles Tilly, der sein Leben in der Geschichtswissenschaft oder zwischen den Geschichtswissenschaften verbracht hat, über den Disziplincharakter dessen, was er „Geschichte“ nennt: History in general, over the West as a whole, has more trouble qualifying als eine Disziplin, dp; salient questions, relevant evidence, and legitimate practices vary significantly from country to country, period to period, and subject to subject. We might best think of history in general as a federation of overlapping disciplines (Tilly 1990a, 87). Einige Dekaden vor Tilly schrieben die Geschichtswissenschaftler Henri Berr und Lucien Febvre zwar in wenig klaren, aber für unsere Zwecke hinreichenden Worten: There is no branch of knowledge which in the course of intellectual evolution has exhibited more varied modalities and answered to more contradictory conceptions than has history. There is none which has had and continues to have more difficulty in discovering its definitive status (Berr/Febvre 1932, 357). Wiederum ein halbes Jahrhundert vor dem Handbuchbeitrag von Berr und Febvre schrieb einer der besten Kenner: „Und dennoch giebt es, merkwürdig genug, kaum eine Wissenschaft, über deren eigentümliches Wesen und Wollen so verschiedene Meinungen bestehen, wie über die unsere“ (Bernheim 1880, 1). Noch jüngeren Datums ist die eindeutige Aussage der Geschichtstheoretikerin Mary Fulbrook (2002a, 12): „Historians have never agreed about the nature of their craft“. Nimmt man das ernst, und nichts spricht dagegen, dies zu tun, dann ist aber auch zweifelhaft, dass man bei Historiographen der Historiographie nachschauen sollte, um etwas Allgemeines über Geschichtswissenschaft herauszufinden, das weniger kontrovers ist als dasjenige, was man bei einer direkteren Auseinandersetzung aufschnappt.41 Dass eine Gruppe von Geschichtswissenschaftlern in der Historiographie der Historiographie etwas über eine andere Gruppe äußert, macht die Sache für die geschichtsphilosophische Seite nicht besser, sondern eventuell bloß genauso problematisch wie jeder noch so begrenzte Gang ad fontes. Vor diesem Hintergrund würde uns auch noch nicht einmal sonderlich weiterhelfen, selbst Geschichtswissenschaft zu betreiben und so den „híbrido entre filósofo e historiador“ (Barrera 2004, 15) herzustellen (2.2), was sicherlich dem ersten Anschein nach der Idealfall wäre. Denn es könnte ja so sein, dass unterschiedliche Geschichtswissenschaftler völlig Unterschiedliches tun. Hier liegt aber eine Chance für die Legitimität philosophischer und daher genereller und abstrakter Zugänge zu einem in den Details unübersichtlichen Feld, weil philosophische Generalisten dann eventuell etwas machen könnten, das wissenschaftliche Spezialisten nicht könnten, nämlich über Grenzen schreiten und eine leicht andere Perspektive einnehmen. Das ist ein zweiter Anker für die These, Metageschichtswissenschaft oder Philosophie könnte prinzipiell doch irgendwie relevant sein, neben dem ersten Grund, der darin liegen könnte, dass es ohne irgendwelche philosophischen, d. h. sehr allgemeinen und interdis41

M. Day (2008) hat den Weg beschritten, Rezensionen zu studieren, um herauszufinden, welche Kriterien Geschichtswissenschaftler in der Bewertung ihrer Produkte wechselseitig heranziehen, nachdem er sich zuvor mit Publikationen von Geschichtswissenschaftlern beschäftigt hat (Day 2009).

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ziplinär relevanten Vorstellungen am Ende auch in der Geschichtswissenschaftspraxis wohl nicht geht. Wie dem auch sei, klar ist jedoch im Voraus, dass der Weg in Historische Seminare von vielen tatsächlichen und vermeintlichen Fallstricken gesäumt ist. Besser, im Sinne von „einfacher“, ist es allemal anders, nämlich unter Verzicht auf diesen Gang. Erfordert ist aber nur, im Wissen um die Schwierigkeiten mit ihnen auf möglichst transparente Weise umzugehen, was auch heißt, die Mängel entdeckbar zu machen und eben keinem anmaßenden Allwissenheitsanspruch über „die Geschichte“ auch nur latent zu huldigen, der in jedem Fall illusorisch ist. Die Auswahl der Beispiele für geschichtswissenschaftliche Forschung mag im ungünstigsten Fall immer, aus der einen oder anderen geschichtsphilosophischen oder geschichtstheoretischen Perspektive, falsch, arbiträr oder gar absurd sein. Man weiß eigentlich schon im Voraus, dass man mit letztlich zufällig gewählten „Beispielen“ gerade immer etwas wählt, das aus der Perspektive einer jeweiligen Schule der Ausnahmefall ist, untypisch ist oder gar nicht der behandelnden Domäne als zugehörig gilt, daher wegerklärt, hinauskategorisiert oder wegnormiert werden muss. Es wird dann heißen, das sei doch nun wirklich nicht Geschichte, es sei ein alter Hut oder ein Randphänomen oder solle doch bitte nicht Geschichte sein. Die antizipierbare Kritik wird auch in vielen Fällen viel auf ihrer Seite haben, aber sie lässt sich überhaupt erst lancieren, wenn durch teilweise explizit dargestellte und darüber hinaus wenigstens gelistete Beispiele ein Mindestmaß an Transparenz gesichert ist. E. Bernheim schrieb bereits im Kontext der Problematik: „Haben die Philosophen nicht immer wieder den Kanon der ‚eigentlichen Geschichte‘ feststellen wollen?“ (Bernheim 1908, 86; siehe dazu verschiedentlich Kapitel 4). Marc Bloch schrieb ganz ähnlich: „Dieser Gegenstand“, sagt der Götterwächter Terminus, „oder diese Art, ihn zu behandeln, sind zweifellos verführerisch. Doch hüte dich, o Ephebe: Geschichtsschreibung ist das nicht“ (Bloch 2002 1949, 26). Einem anderen Geschichtswissenschaftler zufolge rufen sich Geschichtswissenschaftler häufiger wechselseitig zu: „‚C’est magnifique, mais ce n’est pas l’histoire‘“ (McDougall 1986, 26; vgl. auch z. B. Tilly 1990a). Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Geschichtstheorie scheint es fundamentale Diskrepanzen zu geben, die einen einheitlichen und globalen philosophischen Zugang zur Geschichtswissenschaft erschweren. Wenn wir uns also wenigstens ein wenig der Geschichtswissenschaft oder den Geschichtswissenschaften zuwenden, dann ist angesichts der angedeuteten Unklarheiten in Geschichtsphilosophie und auch Geschichtstheorie letztlich eine gewisse Zufälligkeit zunächst unvermeidbar. An dieser änderte sich aber auch nichts, wenn man zufällig gewählte „Beispiele“ zur besten Praxis erklärte. Ich gehe aber im Nachfolgenden, trotz der letztlich unüberwindbaren Schwierigkeiten, von dem aus, was Geschichtstheoretiker auch in Kritik an Geschichtsphilosophie schön auf den Punkt gebracht haben: „To find out what historians really do it is necessary to analyse their scholarly works, and that is difficult to do if one has not already written scholarly works oneself“ (Marwick 2001, 15). Vor dem Hintergrund der obigen Frage, wie Geschichtsphilosophen zu so unterschiedlichen grundsätzlichen Ansichten kommen können, lässt sich selbst diese Auswahl erst kritisieren, wenn wir wenigstens eine ganz grobe Vorstellung davon haben, worüber „wir“ eigentlich reden oder worüber ich in dieser Studie später grob rede, wenn die Ausdrücke „Geschichte“, „Geschichtsschreibung“ oder „Geschichtswissenschaft“ fallen. Denn meine Vermutung ist tatsächlich ganz einfach, dass „wir“, d. h. die schwammige Gruppe (7.3.1) der Geschichtsphilosophen, keine geteilten Auffassungen darüber haben, worum es sich bei diesem Gegenstand

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(2.1) handelt (siehe auch Plenge 2014a, 2014b). Und offensichtlich haben Geschichtsphilosophen und Geschichtstheoretiker auch keine geteilten Auffassungen diesbezüglich. Die Geschichtsphilosophie wäre weit transparenter, wenn die Autoren grob kenntlich machten, worüber sie genau reden, was sie vor Augen haben, wenn sie über Geschichte, Geschichtsschreibung oder Geschichtswissenschaft reden, denn dann könnte man dies nachprüfen, kritisieren und verbessern.42 Eine hypothetische Antwort auf diese Frage „Warum unterscheiden sich geschichtsphilosophische Auffassungen scheinbar so fundamental?“ ist zunächst naheliegend: Sage mir, welche Geschichte der jeweilige Geschichtsphilosoph vor Augen hat, falls er überhaupt eine vor Augen hat, und ich sage dir, welche Geschichtsphilosophie er vertritt. Bezogen auf die traditionellste aller geschichtsphilosophischen Fragen bedeutet das ganz einfach: „Is history a science or an art? Obviously the answer to this question depends on the kind of history we have in mind as well as on the way we define ‚science’” (Bunge 1988, 593). Beinahe wortwörtlich schrieb das auch der umsichtige Geschichtstheoretiker C. Cardoso (1982, 101), der wohl auch die Heterogenität für unbestreitbar hielt. Wir kommen auf die Wissenschaftlichkeitsfrage also erst zurück, wenn wir wenigstens eine minimale Vorstellung davon haben (Kapitel 3), welche Art oder welche Arten von Geschichtswissenschaft oder Geschichtsschreibung wir vor Augen haben (8.2). Dass Geschichtsphilosophen, wenn sie von der Geschichte schreiben, oft eine ganz bestimmte Art von Geschichte im Kopf hatten oder haben, hat der späte William Dray – vielleicht einer der Veteranen der neueren, britischen Geschichtsphilosophie – in einem Überblicksartikel über Geschichtsphilosophie beiläufig ausgesprochen: In that connection a final remark might be made about a feature of recent philosophical discussion of history, as illustrated by this chapter, that some may consider a weakness, namely, that it has been largely concerned with elucidating the framework of ideas within which traditional historiography has been conducted (Dray 1997, 780). Ich habe allerdings keine besonders klare Vorstellung davon, was Dray und andere unter „traditional historiography“ verstanden haben und ob es diese jemals gegeben hat. 43 Es mag sein, dass die Geschichtswissenschaftlerin Mary Fulbrook (2002a, 37) mit Kings’n’BattlesHistoriography und dem, was sie den „traditional approach to history“ nennt, das trifft, was Dray und anderen in der philosophischen Diskussion der Geschichte vorschwebte. Anderes zählte also scheinbar, wie auch Braembussche (1989) bereits vermutete, ganz einfach nicht und ist kein Beispiel. Wir haben bisher schon implizit mindestens zwei Fragen gestellt, indem wir konträre Thesen formuliert haben, die sich nur begründet beantworten oder hinterfragen lassen, wenn man das Damoklesschwert auf sich nimmt und nach Geschichtswissenschaft sucht, was dann auch zu einem differenzierteren Bild führen kann. Folgende allgemeine und grundlegende Thesen stehen in der Tradition der Geschichtsphilosophie ganz einfach im Raum:

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Eine besonders irritierende Form von Scharlatanismus in der Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts besteht zudem darin, „den Historikern“ in ihrer Metatheorie irgendwelche Denk- oder Redeweisen anzudichten (z. B. „historical understanding“), wobei man jene Historiker weder zitiert noch vermutlich liest. Auch in seinem vormals berühmten Buch von 1957 (Dray 1957) ist im Kapitel zu „The Rationale of Actions“ (122, 131, 138) wiederholt von „ordinary historical writing“ die Rede. Wie wir sehen werden, kann es aber sein, dass für geradewegs ordinäre geschichtswissenschaftliche Studien alles, was in diesem Kapitel von Dray abgehandelt wird, irrelevant ist (z. B. in Beispielen aus der Mini-„Anatomie“, Kapitel 3).

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

(Homogenitätsthese) Es existiert ein (auch weltweit) gänzlich irgendwie einheitliches Phänomen Geschichtswissenschaft (Bernheim 1908, 86 f.). Das Zutreffen dieser These wird in der Philosophie beinahe immer unhinterfragt und unbegründet vorausgesetzt, schon in Titeln wie „Philosophy of History“. Es gibt offenbar auch eine Heterogenitätsthese, wie wir sie interessanterweise gerade bei Geschichtstheoretikern gefunden haben und eigentlich seit jeher finden. (Partielle Heterogenitätsthese) Es existiert ein Phänomen Geschichtswissenschaft (oder Geschichte), das irgendwie in sich heterogen ist, wobei dies dem partiellen Einheitscharakter nicht widerspricht (z. B. Tilly 1990, mit Einschränkung Cardoso 1982, van den Braembussche 1989, Megill 2007). Sagen wir, in dieser These geht es mit dem Wort „Geschichtswissenschaft“ um eine Disziplin oder ein „Netz“ (Tilly) aus Disziplinen, dann wäre eine mögliche These, dass die Disziplin klare Grenzen hat und auch die Sub-Disziplinen immer noch ein geteiltes Fundament haben, also z. B. eine geteilte einheitliche Methode oder auch einen einheitlichen Gegenstand, vielleicht die Historische Methode. Es steht ferner die These im Raum, die wir „Absolute Heterogenitätsthese“ oder auch „Disziplinären Nominalismus“ nennen könnten: (Absolute Heterogenitätsthese) Geschichtswissenschaft (oder Geschichte) als ein irgendwie einigermaßen einheitliches Phänomen existiert überhaupt nicht, sondern es existieren nur unterschiedliche, gänzlich unverbundene Schulen, Ansätze oder Rahmen oder Paradigmen (etc.) mit vollständig unterschiedlichen Praxen und diesen zugrunde liegenden methodologischen Normen und weiteren (philosopischen) Annahmen (z. B. im Kern McDougall 1986). Den Nominalismus deutet die Geschichtswissenschaftlerin Mary Fulbrook in ihrer Historical Theory jüngst in Form einer von ihr kritisierten These an: Yet the very plurality of approaches in history suggests that there is in fact no single disciplinary approach: that ‚history‘ actually only refers to the subject matter – that which has gone, the past – and not to a distinctive set of theories and methodologies. (…) If there is no agreement on the character of the phenomena to be studied, then what has become of a ‚discipline‘ which cannot even agree on its object of inquiry, let alone any mode of interpretation or explanation (Fulbrook 2002a, 7; Hervorhebung dp; siehe zu den Sozialwissenschaften im Allgemeinen ähnlich Blaikie 2007, 2010, zur Geschichtswissenschaft auch Haskell 1990, 153). A priori lässt sich auch keine Wahl zwischen diesen oder ähnlichen Thesen vornehmen, genauso wenig, wie sich a priori z. B. sagen lässt, ob Geschichtswissenschaft Kunst oder Wissenschaft ist, ob hier „verstanden“, „erklärt“ oder „erzählt“ wird, ob sie „objektiv“ ist oder nicht und so weiter. Auch diese Präsuppositionen der Fragestellung „Was machen Geschichtswissenschaftler?“, nämlich dass die Antworten unklar oder die kursierenden Antworten vielfältig sind, können natürlich falsch sein, obwohl auch Geschichtstheoretiker ähnliche Vermutungen hegen. Vielleicht ist alles klarer, als es hier erscheint (4.1). Die Thesen oben sind natürlich äußerst vage, weil eigentlich vor der Suche nach einer Antwort geklärt werden müsste, in welchen Hinsichten Geschichtswissenschaften heterogen sein könnten, was hier hinter dem „irgendwie“ versteckt ist. Darauf kommen wir kurz zurück (8.2).

2.3 Ist klar, worum es sich bei dem Gegenstand handelt? Gibt es eine beste Praxis?

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Der potenzielle Nutzen der „Anatomie“ à la Mandelbaum scheint auch die wahrscheinlich zu begehenden Fehler und offenkundigen Mängel zunächst zu überstrahlen. Denn Annahmen über den Charakter der Geschichte, der Geschichtsschreibung oder der Geschichtswissenschaften haben Annahmen darüber, wie Historiker erklären oder erklären sollen bzw. was „historische Erklärungen“ oder „historical Verstehen (understanding)“ (4.2) auszeichnet, d. h. die Hauptkontroverse der Geschichtsphilosophie und – unter anderen Vorzeichen – die Hauptkontroverse der Geschichtstheorie, spätestens seit 1942 (Hempel 1942), eigentlich spätestens seit 1887 (Seignobos 1887), arg belastet. Um diesen Komplex wird es im Folgenden vornehmlich gehen, denn mit „Erklärung“ und „Verstehen“ sind zwei Kandidaten für Ziele benannt, um die klassisch gestritten wurde, und beides wurde als Methode bezeichnet. Hier sind also philosophische Wahlen und zuvorderst philosophische Probleme und Unklarheiten zu vermuten, die in Konfrontation mit Wissenschaftspraxis anders betrachtet werden können. Diese Problematik ist auch nicht weit entfernt von jenen angedeuteten Fragen um Wissenschaftlichkeit und Geschichtswissenschaftlichkeit, denn bekanntlich wurde in einer Variante Erklärung als notwendiger Aspekt von Wissenschaft im Allgemeinen44 und Verstehen als Methode der Historischen Wissenschaft im Besonderen aufgefasst. Bekanntermaßen kursiert schon seit Droysen (1972 1858) die Auffassung, Geschichtswissenschaftler erklärten überhaupt nichts, die sich damals wohl schon gegen den Positivisten Henry Thomas Buckle richtete. Die Beurteilung auch dieser These hängt davon ab, was man unter „Erklärung“ versteht und welche konkrete Praxis man vor Augen hat. Darum werden wir uns nach einem Blick in Beispiele auf der Basis der „Anatomie“ kümmern. Auch in dieser Erklären-Verstehen-Debatte beziehungsweise, besser, (a) der Erklären-Verstehen-Debatte der Philosophie (siehe dazu z. B. Martin 2000, Scholz 2001, Colliot-Thélène 2004, Schurz 2004), (b) der Erklären-Verstehen-Debatte der Soziologie (z. B. Greshoff et al. 2008), und (c) der Erklären-Verstehen-Erzählen-Debatte der Geschichtstheorie (z. B. Haussmann 1991, Frings 2008), gibt es wohl innerhalb der von anderen Diskursen isolierten Geschichtsphilosophie keinerlei große Fortschritte (siehe z. B. Mcdonald/Mcdonald 2009, D’oro 2009), d. h. die traditionellen Vorstellungen werden im Grunde auf unklarer Datenbasis reproduziert, obwohl schon lange keine Erklärungsmetatheorie in der Geschichtsphilosophie mehr existiert, was durchaus mit Entwicklungen in der Geschichtstheorie korrelieren könnte (Frings 2007a/b, 2008). Die Frage, ob Geschichtswissenschaftler überhaupt etwas erklären oder verstehen und ggf. wie sie was erklären oder verstehen, lässt sich auch nicht durch eine rein a priori vorgehende Analyse z. B. des Begriffes der Erklärung auf der Basis von Intuitionen und fiktiven „Beispielen“ oder der Methodologisierung irgendeiner Metaphysik (Kapitel 6) beantworten, also der Behauptung, in der Welt existierten z. B. Kausalbeziehungen, Gesetze, Teleologien oder Mechanismen mit der daran anschließende methodologischen Forderung, im Rahmen von Wissenschaften oder wissenschaftlichen Erklärungen müsste so etwas beschrieben wer44

Beispielsweise schreibt ein Soziologe: „Explanation and prediction, in the eyes of some methodologists, define science, including social science. ‚Scientific explanation‘ often passes as a synonym for ‚scientific method‘“ (Lindblom 1990, 138 f.), wobei hier bereits eine spezifische Metatheorie der Erklärung mitschwingt. Naville (1895, 96) schrieb: „Le but de la science est l’explication des faits (…).“ Barthelborth (2012, 41. f) schreibt: „Die zwei Ziele der Wissenschaft sind: 1. Gut begründete Theorien zu erhalten, die letztlich Wissen darstellen, aber auch 2. gehaltvolle (erklärungs- und vorhersagestarke) Theorien zu gewinnen. Diese Ziele stehen leider in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis.“ Wenn das so ist, dann könnte es sein, dass Geschichtswissenschaft ausscheidet, denn dass hier Theorien formuliert werden, könnte bestritten werden, und ebenso, dass diese erklärungs- und vorhersagetauglich sind. Bei den Historikern Cardoso und Brignoli (1984, 37) ist an einer Stelle von der „Transformation der Geschichte (historia) in Wissenschaft“ durch komparative Methoden die Rede, was die Auffassung des Historikers Henri Pirennes wiedergebe und in den Worten von Henri Sée die Erhebung vom Beschreiben zum Erklären meine.

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

den. Was immer dabei herauskommt und auf wenige Fälle zufällig oder gar begründbarerweise zutreffen mag, könnte in der Geschichtswissenschaft überhaupt nicht oder nicht verbreitet zu finden sein, und es könnte Geschichtswissenschaftler auch zudem überhaupt nicht sonderlich interessieren, könnte also für Geschichts-, Sozial- oder Kultur-Wissenschaft(en) untypisch sein, wie ja auch häufig behauptet worden ist, wenn z. B. in manchen Kulturgeschichtswissenschaftsansätzen davon die Rede ist, es gehe nicht um Erklärung, sondern um „Interpretation“, nicht um dasjenige, was manche „Ursachen“ nennen (Kapitel 6), sondern um „Bedeutung“ („meaning“; 4.2). In einem Song aus der Populärkultur (von Orbital) heißt es treffend: „Even a stopped clock gives the right time twice a day“. Doch von großem Nutzen ist auch eine solche Uhr selbst dann nicht, wenn ihre Angabe zweimal am Tag äußerst präzise ist, denn zu allen anderen Zeitpunkten ist ihre Angabe falsch und irrelevant. Natürlich können wir uns auch bezogen auf Ursache-Wirkung-Hypothesen und deren Relevanz in der Geschichtswissenschaft auf keinen Konsens in Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie berufen, denn die einen halten es für eine Trivialität, dass es in der Geschichte um Kausalrelationen geht, wohingegen andere es genau umgekehrt für trivial halten, dass dies nicht so ist (Kapitel 6). Jerzy Topolski problematisierte den Umgang mit (zumeist fiktiven) Beispielen in der geschichtsphilosophischen Erklärungsliteratur schon vor langer Zeit: Tatsächlich sind ihre Texte ein Sammlung von Schemata von explanatorischen Prozeduren geworden, die Historikern zugeschrieben werden, aber die Frage bleibt sehr unklar, ob sie von Rekonstruktionen jener Prozeduren handeln oder von postulierten Prozeduren. Jene Autoren, die im Allgemeinen keine hinreichende historische Ausbildung haben, haben im Allgemeinen aus den Werken der Historiker oder direkt aus der Vergangenheit „Beispiele“ gewählt, die dann in nachfolgenden Werken wiederholt werden, ohne die reale Praktik der Historiker zu erhellen (Topolski 1983a, 834). Wir können also konsequenterweise auch bezüglich früher so zentraler Kampfbegriffe wie „Erklärung“, „Erzählung“ und „Verstehen“ gar nichts voraussetzen.45 Wenn man manche Thesen aus dem Rahmen der Geschichtsphilosophie ernst nimmt, dann erfordert auch dies letztlich den Gang ins Historische Seminar. Wenn eine Philosophie der Geschichtswissenschaft eine Philosophie der tatsächlichen Geschichtswissenschaft(en) sein soll, dann muss dies alles vorher, d. h. vor der Beschäftigung mit Geschichtswissenschaft, eigentlich auch offen, d. h. jeweils eine zu begründende Hypothese bleiben. Die Gefahr besteht auch in der Geschichtsphilosophie oder -theorie, die Beispiele für Erklärungen, Verstehen, Erzählung schlicht nach den Maßgaben der favorisierten 45

Siehe auch den aus meiner Sicht weitgehend treffenden Klartext von A. van den Braembussche (1989, 3): „Most of the examples cited by Dray, Gardiner, von Wright, and others derive from everyday life, while Hempel and his supporters are usually concerned with examples drawn from the natural sciences. When an historical example is in fact given, it is usually insufficiently analyzed. The only more or less detailed example of historical explanation to which von Wright 2002 (1971) turns his attention is not even a relevant application of the teleological model das von Wright für die Sozialwissenschaften protegieren wollte, dp, although the remainder of his book is devoted almost entirely to an enthusiatic analysis of this model. In vain one consults Gardiner 1961 and White 1965 on the functioning of dispositional explanation in the actual context of historical research. I cannot think of a single illustration of the ‚molecular narrative’ that is still a central concept in Danto’s theory of history 1980 [1965]. Neither Hempel 1963, 1965 nor Stegmüller 1983 has provided a satisfactory example of what they mean by an ‚historical-genetic explanation‘.“ Diese klassische Debatte der Geschichtsphilosophie scheint nun beinahe gänzlich aus der Geschichtstheorie verschwunden zu sein. Spuren finden sich noch in Mustè 2005. Ich knüpfe dennoch an sie an, weshalb Probleme auch klar benannt werden müssen.

2.3 Ist klar, worum es sich bei dem Gegenstand handelt? Gibt es eine beste Praxis?

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Metatheorie auszuwählen und diese Metatheorie daran zu illustrieren. Davor hat A. Tucker erst kürzlich gewarnt: „Philosophers of historiography should not pick and choose their historiographic examples so they would fit their favourite thesis“ (Tucker 2001, 257). Die Diskrepanzen zwischen den unterschiedlichen geschichtsphilosophischen Schulen könnten auch in einer solchen Praxis den Ursprung haben, die als allgemein verbreitet wird gelten müssen. Wenn man folgende metaphilosophische Norm ernst nimmt, wird man bei allen Schwierigkeiten und notwendig in Kauf zu nehmenden Mängeln ähnlich vorgehen und eine relativ zufällige Auswahl von Forschungsbeispielen an den Anfang stellen müssen: Now, a philosophy of x should match x rather than be at variance with x, for only then will it be able to (a) give an adequate (true) description of x, (b) suggest fruitful avenues for the conduct of inquiry in x, and (c) participate competently and effectively in philosophical controversies in or about x. We call these the conditions of adequacy and fertility. A philosophy of x that is totally uncongenial to x or, worse, hostile to x, can be of no help in the development of x. Thus I shall propose the following general metaphilosophical norm: For all x, if x is a field of study, the philosophy of x should match x (Bunge 1996, 10).. Zumal der häufiger behauptete „remarkable pluralism in the practice of explanation“ (van den Braembussche 1989, 1, vgl. Topolski 1983a, 841) von vornherein nicht erfasst werden könnte, falls es ihn tatsächlich gibt, wenn man sich in der Metatheorie nicht an einer ähnlichen Norm zumindest orientiert. Zu dem Hintergrund an Hypothesen, auf dessen Basis die simple Frage dieses Kapitels als Ausdruck meines philosophischen Problems gestellt wird („Was machen Geschichtswissenschaftler?“), gehören also auch schon die Erklären-Verstehen-Debatten und die Debatte um „historische Erklärungen“ in Geschichtsphilosophie/Geschichtstheorie (Plenge 2014c), sozialtheoretischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen (Plenge 2014a, Plenge/Kaiser 2014), neben klassischen geschichtsphilosophischen wie geschichtstheoretischen Fragen im Begriffsfeld von „Realismus“, „Objektivität“ und „Geschichtswissenschaftlichkeit“ oder „Wissenschaft“ (Plenge 2014b). Dadurch wird sie aus philosophischer Perspektive ein wenig interessanter und legitimer. Auf der Nutzenseite der Skizze einer Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung – auch wenn sie einen noch so dürftigen Charakter hat und recht mickrig ausfällt (3.1) – gehört schließlich schlicht und ergreifend, dass man sämtliche Annahmen, die in geschichtsphilosophischer Literatur auch z. B. über Erklärungen, historische Erklärungen, historisches Verstehen, Verstehen oder Erzählung formuliert worden sind, am zugänglichen Material aus der Wissenschaftspraxis auf Plausibilität und Reichweite überprüft. In den wenigsten Fällen ist dies geschehen. Im Hintergrund dieser philosophischen Modelle stehen häufig oder gar immer ungeprüfte Annahmen über das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft(en), wobei wir hier abkürzend im Rückgriff auf Vorangegangenes (2.1) sagen können, dass hier Annahmen über die Gegenstände, Ziele, Methoden und Produkte eine Rolle spielen dürften. Norbert Elias hat zu der Problematik bereits kurz und bündig geschrieben: Wenn man unter dem Vorwand, zu sagen, was eine Wissenschaft ist, in Wirklichkeit sagt, was eine Wissenschaft – dem eigenen Ideal oder dem eigenen Wunsche entsprechend – sein oder tun soll, dann betrügt man sich selbst und andere (Elias 1986 1970, 53).

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2 Wohin mit der Philosophie der Geschichte?

J. Topolski (1997, 13 f.) hat schon bemerkt, dass deskriptive und normative Thesen in der Geschichtsphilosophie kaum getrennt sind. Wenn man mit teilweise schulbildenden Zentralthesen im Umfeld von jenen Zentralbegriffen „Erklärung“, „Erzählung“, „Verstehen“ und vielleicht „Interpretation“ gestartet ist, könnte man den gesamten expliziten oder auch latenten Hypothesenbestand der Philosophie der Geschichte an einem Beispielkorpus zur Diskussion stellen. Zu fragen ist also zunächst aus der hier eingenommenen Perspektive – wirklich ganz einfach –, was Geschichtswissenschaftler anstreben und zum Erreichen dessen, was sie anstreben, unternehmen. Es mag schwierig oder naiv sein, diese oder andere Fragen, die sich eventuell auch immer erst ergeben könnten (so auch Little 1989, 1991, 2010) und später auch ergeben, an ein notwendigerweise äußerst beschränktes und unzureichendes Material zu richten. Aber eine andere Möglichkeit, sie zu beantworten und überhaupt etwas über Geschichtswissenschaft(en) zu erfahren, gibt es nicht. Die Grundidee, die hier offenbar begründet werden muss, ist Geschichtswissenschaftlern sehr gut vertraut. Wenn man die philosophische Debatte über Geschichtswissenschaften nicht von vornherein als rein normativ betrachten will, dann behaupten Philosophen oftmals etwas darüber, was eine Menge von Menschen in der Vergangenheit oder der „Geschichte“ gemacht haben, nämlich Geschichtswissenschaftler. Und Handbücher der Geschichtswissenschaften lehren, dass man – ohne Glaskugel und sonstige mystische Umwege wie Intuitionen – darüber nur etwas vermittelt über dasjenige herausfinden kann, was Geschichtswissenschaftler in ihrer Sprache weltweit zumeist „Quellen“ und manche Soziologen „prozess-produzierte Daten“ nennen. Und das sind in unserem Fall, zumindest nach meiner noch etwas zu explizierenden und zu begründenden Auffassung, die Forschungsberichte von Geschichtswissenschaftlern. Was Geschichtswissenschaftler anstreben und vielleicht tun, ist uns hier nur über ihre Texte zugänglich – epistemologischer Realismus prinzipiell vorausgesetzt (7.1). Wir setzen hier auch bereits einen ontologischen Realismus (7.1) voraus, also die Annahme, dass diese Geschichtswissenschaftler, deren Texte – so die Hypothese – wir konsultieren, existieren oder existiert haben, zudem unabhängig von unseren Bemühungen um Erkenntnis über sie. Anders gesagt, man kann auch aus allgemeinsten philosophischen Erwägungen diesen trivialen metageschichtsphilosophischen Zugang ablehnen. So ist es halt in der Philosophie.

2.4

Zusammenfassung

Warum zurück ins Historische Seminar? Die erste, bisher nicht gegebene Antwort lautet: Weil dies alles interessanter macht. Die zweite Antwort lautet, weil wir den Gegenstand mit Geschichtswissenschaft als Disziplin festgelegt haben und wir über diese nur etwas herausfinden, wenn wir relevante Produkte von Geschichtswissenschaftlern konsultieren. Ferner scheint noch immer nicht ganz klar zu sein, was man unter „Geschichtswissenschaft“ oder „Geschichte“ verstehen soll. Das könnte auch damit verbunden sein, dass die Geschichtsphilosophie keinen sonderlich belastbaren Forschungs- oder Diskussionsstand hervorgebracht hat. Man muss auch ins Historische Seminar zurück, weil Geschichtswissenschaftler behaupten, Geschichtsphilosophen wüssten zu wenig von ihrer Disziplin und Geschichtsphilosophie daher häufiger für irrelevant halten. Auch die teilweise völlig gegensätzlichen Thesen über Geschichte oder Geschichtswissenschaft legen nahe, dass der Untersuchungsgegenstand, obwohl er scheinbar trivial benannt worden ist und eine noch trivialere Frage mit „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ gestellt worden ist, nicht so klar ist, wie man normalerweise wohl meint, voraussetzen zu dürfen. Auch diese Thesen lassen sich nur testen und Lagerbil-

2.4 Zusammenfassung

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dungen auflösen, wenn man sich im Historischen Seminar als Gasthörer immatrikuliert. Fragen zur Relevanz von Philosophie der Geschichte lassen sich prima facie dann leichter beantworten, wenn man perspektivisch danach fragte, welche „philosophisch“ zu nennenden Ideen in tatsächlicher Praxis oder auch bestimmten Schulen innerhalb der Geschichtswissenschaften eine Rolle spielen. Die Überlegungen aus diesem Kapitel kann man auch programmatisch so zusammenfassen, dass wir uns bemühen wollen, auch so etwas wie Philosophie in der Geschichtswissenschaft (vgl. Bunge 1997) zu suchen oder gar, was noch schwieriger sein dürfte, „philosophy of, in, from, with, and for“ Geschichtswissenschaft (vgl. Bunge 1959a, 5). Das dafür geprägte und hier übernommene Label, das ursprünglich im Titel das etwas kitschige und verbrauchte „philosophisch“ ersetzt hat, aber auch nicht schöner ist, ist „Metageschichtswissenschaft“.

3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung Do we always, I wonder, make adequate allowance for our profound ignorance … (Bloch 1970, 74).

Nun wagen wir ansatzweise den Weg ins Historische Seminar. Da wir wenigstens einen Teil der in der Mini-„Anatomie“ gesichteten Literatur andeutungsweise auch darstellen müssen, damit wir wenigstens eine impressionistische Basis haben und uns grob darüber verständigen, worum es hier geht, wenn von der Disziplin (2.1) oder den Disziplinen (2.3) mit dem Namen „Geschichtswissenschaft“ die Rede ist, fangen wir damit an. Das sorgt wenigstens ansatzweise auch für Transparenz. Ich glaube auch, dass diese wenigen Beispiele direkt zeigen, dass „wir“ eben doch keine geteilte Auffassung über Geschichtswissenschaft haben und es nicht schadet, auch ein profundes Ausmaß an Unwissen vor dem weiteren Philosophieren sofort einzugestehen. Eine Vorstellung der gesamten Mini-„Anatomie“ ist selbstverständlich aus unterschiedlichen Gründen gar nicht möglich, weil dies nicht zuletzt zu ausufernden Texten führt, weil der Gang ins Historische Seminar eben auch direkt lehrt, dass geschichtswissenschaftliche Studien im Rahmen weniger Zeilen häufig nicht vorgestellt werden können, zumal von jemandem, der sich dieser Literatur als Laie zuwendet.46 Die Eindrücke – und um viel mehr handelt es sich ja letztlich nicht –, die dabei gewonnen wurden, werden gleich beispielhaft dargelegt.47 Wenn wir alle diese Studien im Detail anschauen wollten, müssten wir nicht nur ein anderes Buch schreiben, wir müssten uns auch einen anderen Autor suchen, der jene Details untersuchen und verstehen könnte. So einfach ist „Geschichtsschreibung“ (2.1) dann eben wohl doch nicht oder nicht immer. Auch das sei als Einschränkung vorangestellt. Aber für die hier letztlich gestellten Fragen und die Konfrontation von Philosophie mit geschichtswissenschaftlicher Praxis reicht das Material (zunächst wohl) aus. Wie wir sehen werden, bringt allein diese kursorische Sichtung geschichtsphilosophische Traditionen ins Wanken. 46

47

Das funktioniert selbstredend, wenn die Autoren dies selbst tun. Sein Vorhaben in „The Influence of Family and Friends on German Internal Migration, 1880-1985“ fasst Allen R. Newman (1979) bündig zusammen: „Our study attempted an explanation of German internal migration in terms of the common variables of distance, income, population density, and employment, but also a new variable, the migrant stock differences among German provinces. Both migration rates and migration amounts were used as dependent variables. It was established that by far the most important of these variables was the migrant stock. Current migrants were much more likely to move to those provinces containing large numbers of former migrants from their home provinces, presumably not only because they would serve as transitional factors, but also because the other variables affect current migration directly, as well as indirectly through their influence on past migration. The results support our assertion at the beginning of this paper that migration flows intensified their patterns during this period by illustrating that there was a strong tendency for migrants to go where former migrants from home had also gone, and that this pull was so strong as to overpower the apparent pull other variables should have had on German internal migration in the 1880s. Thus, internal migration was an important aspect of German social history sic! of the time, but the phenomenon was not simply restricted primarily to movement from the east to the west. More significantly, migrants from one province almost always went to the same receiving province, drawing even more behind them“ (Newman 1979, 286). Die Beschäftigung mit dieser Mini-„Anatomie“ ist natürlich kein Hexenwerk. Ich habe nichts weiter gemacht, als das Sample vor dem Hintergrund meiner zuvor gesammelten Erfahrungen in Metadiskursen zu lesen, wobei die Lektüren ganz einfach mit Fragen geleitet worden sind, die aus meiner vorangegangenen Beschäftigung mit Metatheorie entsprungen sind (Plenge 2009, 2014a/b/c, Kaiser/Plenge 2014). Aus der Lektüre entstanden in den meisten Fällen entsprechende Exzerpte und in vielen, aber nicht in allen Fällen, kleine, sozusagen ethnographische Beschreibungen der gewonnenen Eindrücke. Hiervon schauen wir uns gleich diejenigen kurz an, die kurz genug sind, um zumutbar zu sein. Es sei auch klargestellt, dass in beinahe allen Fällen mehrfache Re-Lektüren gar nicht möglich waren, obwohl sie notwendig wären. Auch deshalb ist die Betrachtung impressionistisch (siehe auch Kapitel 9).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_3

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

Dies könnte natürlich (2.3) an der hier vorgenommenen und notwendigerweise zufälligen Auswahl liegen (8.2). Damit diese Auswahl nachvollziehbar ist, werde ich kurz die herangezogenen vagen Kriterien andeuten, die mir versprechen, tatsächlich in der Geschichtswissenschaft zu landen, und z. B. nicht in demjenigen, was im deutschen Sprachraum gewöhnlich „Geschichtskultur“ genannt wird. Die Mini-„Anatomie“ wird auf jeden Fall dazu gut sein, mit Bloch mein Unwissen direkt zu bekennen, mit dem ich vermutlich nicht alleine dastehe.

3.1

Die Auswahl der „Mini-Anatomie“ … la recherche est une activité qui ne saurait être confondue avec ses produits (Bunge 1974 443).

Bevor es mit geschichtswissenschaftlicher Forschung und deren philosophischer Einordnung losgeht, bin ich noch die Antwort auf die quälende Frage schuldig, wie hier die Beispiele für Geschichtswissenschaft (2.1), für dasjenige, was Geschichtswissenschaft ist oder, besser, was Geschichtswissenschaftler tun (2.3), ausgewählt worden sind, die wir in diesem Kapitel und im weiteren Verlauf hin und wieder heranziehen, um etwas über Geschichtswissenschaft zu lernen, damit uns dieser Gegenstand nicht aus dem Blick gerät. Da es diesbezüglich keine Methode gibt oder hier keine angewendet worden ist, können wir uns kurz fassen. Unter der Voraussetzung der vier Begriffe von Wissenschaft (2.1) und der dort vorgenommenen Grundsatzentscheidung ist trivialerweise schon beinahe glasklar, womit wir uns beschäftigen und womit nicht oder nur am Rande. Geschichtswissenschaftler werden aufgrund des umständlichen Wegs bis hierhin geschmunzelt haben. (1) Es wurden akademische Qualifikationsschriften herangezogen, da diese meines Erachtens den „harten“ und eventuell gar quantitativ größten Anteil der geschichtswissenschaftlichen Produktion ausmachen, zudem den Kern, um den regelmäßig die wissenschaftliche Diskussion kreist. Ein Indikator hierfür ist die Nennung in Fußnoten. Da über die Qualifikationsschriften und damit verbundene Interaktionen die „Zunft“ (Disziplin, Wissenschaft) den Zugang zu ihr regelt, also sozusagen die Grenzen des sozialen Systems (Kapitel 7) absteckt, ist davon auszugehen, dass ihre akademischen Normen, also dasjenige, was man wechselseitig von Mitgliedern der Disziplin erwartet und von diesen geleistet werden soll, oder auch – in Gormans (2007) Worten – ihr „Selbstverständnis“, hier recht gut deutlich werden, wenn überhaupt irgendwo. Man muss diese Ansicht klarerweise nicht teilen und Geschichtsphilosophen scheinen sie nicht zu teilen. Meines Wissens werden derartige Schriften in der Geschichtsphilosophie äußert selten genannt. Was ist eine Alternative? Man kann sich z. B. in Populärschriften, der „historischen“ Buchauslage in Büchereien oder dem Histotainment bedienen. Die Ergebnisse werden dann andere sein (Kapitel 8.2). (2) Es wurden akademische Schriften in Form von Beiträgen in geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschriften herangezogen, da hier prima facie der wissenschaftliche Diskurs der Geschichtswissenschaften stattfindet. Man muss diese Ansicht nicht teilen und die Mehrzahl der Geschichtsphilosophen teilt sie nicht, denn Fachzeitschriften und darin veröffentlichte Artikel werden selten konsultiert. (3) Es wurde zu vermeiden versucht, den Partisan für eine der zahllosen Schulen und Schülchen, Ansätze (4.1.5, 5.6) und Turns zu geben. Das heißt, es wurde versucht, möglichst aus unterschiedlichen „Richtungen“ oder „Genres“ Publikationen zu konsultieren, von der Mikro-Geschichte bis zur Historischen Soziologie, qualitativ wie quantitativ oder auch gemischt, Kulturgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Historische Sozialforschung, von der Alltagsgeschichte bis Makrogeschichte. Vollständigkeit und Repräsentativität sind un-

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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möglich und werden daher auch nicht angestrebt. Ich halte mich hier gezwungenermaßen an den Rat meines Lateinlehrers: Mut zur Lücke! Es wurden auch nicht bloß neue Studien herangezogen, weil die Moden in den Geschichtswissenschaften eventuell genauso kurzlebig sind wie in den Geschichtsphilosophien und es ferner auch in der Geschichtswissenschaft Werke gibt, die auch nach einem halben Jahrhundert noch zum Stand der Dinge gehören oder als „Standardwerke“ gelten.48 Man muss dieses Vorgehen nicht teilen, zumal dann, wenn man aus der Geschichtswissenschaft stammt und eben Geschichtstheorie betreibt, um gerade Partisan für einen Turn zu sein. Auch versuche ich, mich nicht auf die Forschung zur Moderne oder gar des 20. Jahrhunderts zu beschränken, sondern streife wenigstens ein wenig durch die Epochen, obwohl dies in Philosophie der Geschichte unüblich ist, in der, wenn überhaupt, nicht zufällig Literatur zu „historischen“ Gegenständen herangezogen wird, die geschichtskulturell noch relevant sind, also recht jüngeren Datums sind, was in mehrerlei Hinsicht das Bild von Geschichtswissenschaft verzerrt. Damit sind wir beim nächsten Punkt. (4) Es wurde zu vermeiden versucht, die Beispielauswahl von vornherein an hier oder dort geschichtskulturell relevanten „Ereignissen“ aufzuhängen, d. h. unter Umständen eben solchen, die innerhalb der Geschichtswissenschaften bzw. der geschichtswissenschaftlichen Forschung niemanden oder kaum jemanden interessieren. Das muss man nicht teilen, zumal wenn man davon überzeugt ist, es gäbe nur geschichtskulturell völlig durchtränkte Geschichtsschreibung, die „Sinnstiftung“ bzw. Ideologiebildung anstrebt, was eine auch international verbreitete Ansicht war und ist, die auch teilweise von Geschichtswissenschaftlern bestimmter Schulen geteilt zu werden scheint. (5) Es wurde zu vermeiden versucht, die Auswahl von vornherein einseitig nach geschichtstheoretischen, sozialtheoretischen oder ontologischen Zentralkategorien auszuwählen, z. B. „Struktur“, „Kausalität“, „meaning“ oder auch „Institution“ oder „kollektive Handlung“. (6) Es wurde zu vermeiden versucht, die später wieder aufgenommenen Fragen um Erklären/Erklärung und Verstehen möglicherweise schon vorzuentscheiden, indem ausschließlich Titel gewählt werden, in denen die Ausdrücke „Erklärung“ oder „Verstehen“ oder auch „Ursache“ vorkommen. Das verbietet sich alleine schon, weil der Anteil der geschichts- und/oder sozialwissenschaftlichen Publikationen mit diesen Ausdrücken im Titel im äußerst niedrigen Promillebereich der Gesamtproduktion anzusiedeln sein dürfte, was sich durch einen Tag Browsen in unterschiedlichen Zeitschriften weltweit in einem ersten Schritt bestätigen lässt. Wie es der pure Zufall will, ist kausalistisches Vokabular im Rahmen der Studien, die später grob dargestellt werden, stark überrepräsentiert. Dies muss man dort im Kopf haben, wenn man die späteren Kapitel konsultiert und sich dann eventuell wundert, dass die Einschätzungen der Gesamt-„Anatomie“ den gleich auch mehr durch Zufall dargestellten Studien nicht ganz zu entsprechen scheint. Ohnehin gilt hier: Jede impressionistische These ist überprüfungsbedürftig. Es wurde auch zu vermeiden versucht, Fragen bezüglich „Erzählung“ schon dadurch vorzuentscheiden, dass z. B. ausschließlich „historische“ Populärschriften („Erzählungen“) als Beiträge zur Geschichtskultur herangezogen werden, selbst wenn diese von Geschichtswissenschaftlern verfasst worden sind, in denen die Adressaten eben nicht Geschichtswissenschaftler sind, was manche Geschichtsphilosophen („Narrativisten“) unterschwellig für die gesamte „Geschichte“ unterstellt haben (z. B. Gallie 1965). A. Tucker (2004a) hat kritisiert, 48

Wolfgang Reinhard sagte mal über Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichtswissenschaft: „Die Vorlesung über die Kulturanthropologie hieß in den Siebzigern ‚Das Leben des gemeinen Mannes‘, in den Achtzigern ‚Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit‘ und in den Neunzigern ‚Historische Kulturanthropologie‘ – wie es gerade der Zeit gemäß angesagt war“ (Süddeutsche Zeitung, 10.04.2017).

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

Geschichtsphilosophen konsultierten nur solche „Handbücher“ oder Darstellungen, keine Forschungsliteratur. Manche der hier herangezogenen Autoren haben auch Populärschriften verfasst, die als Vergleichsfolie heranzuziehen wären, was hier allerdings nicht möglich ist (8.2). (7) Da ich Geschichtswissenschaftler, trotz der obigen Einschränkungen (2.3), für die besten Ansprechpartner halte, um herauszufinden, was Geschichtswissenschaft ist, was man als Geschichtswissenschaftler tut und als Geschichtsphilosoph machen oder auch lassen sollte, gehe ich auch davon aus, dass geschichtstheoretisierende oder -philosophierende Geschichtswissenschaftler, die hier „Geschichtstheoretiker“ genannt werden (1.2), Geschichtsphilosophen etwas zu sagen haben. Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass man aber, wenn man geschichtstheoretische Studien in Geschichtsphilosophie zur Kenntnis nimmt, sich immer bemühen sollte, die Forschung des jeweiligen Geschichtstheoretikers ebenfalls zu konsultieren und umgekehrt, weil die obigen Einschränkungen nicht von der Hand zu weisen sind, dass sich auch Geschichtstheoretiker, wie Topolski (2.3) behauptet hat, über ihre Geschichtswissenschaft täuschen und teilweise Geschichtstheorie aus anderen als forschungspraktischen Interessen betreiben, z. B. weil sie intrinsisch interessant ist oder als solches gilt. Zum Beispiel sollte man A. Marwicks (2001) Geschichtstheorie mit seinen Studien konfrontieren (z. B. Marwick 1998) und umgekehrt. Auch das ist hier leider nur begrenzt möglich. Zum Beispiel konnten Marwicks Bücher hier leider nicht mehr konsultiert werden, obwohl Marwick ja Geschichtsphilosophen vorgeworfen hat, sich nicht mit dem „really serious stuff“ (2.2) zu beschäftigen, zumal sich bereits Christopher Lloyd von Marwicks Kriterien nicht hat überzeugen lassen wollen. Dasselbe gilt auch für W. McNeill, J. Topolski, W. H. Sewell, H. Medick und A. Frings, d. h. der Vergleich von Geschichte(meta)theorie und Forschungspraxis findet hier allenfalls kursorisch statt. Das kleine und impressionistisch gesichtete Sample für die „Anatomie“ findet sich in folgender Tabelle. Tabelle 1

Das Sample für die Mini-„Anatomie“ der geschichtswissenschaftlichen Forschung W. McNeill 1949 W. Schmitthenner 1952 P. Goubert 1956 A. H. M. Jones 1960 A. Chamoux/C. Dau- M. Bloch 1970 phin 1969 H. Hitzbleck 1971 M. Hainzmann 1975 R. Rilinger 1976 A. R. Newman 1979 T. Skocpol 1979 F. Millar 1984, 1986 W. H. Sewell Jr. 1985 K.-H. Hölkeskamp J. W. Huggett 1988 1987 J. R. Shepherd 1988 P. J. Atkinson 1992 J. Topolski 1994, 1979 (Original 1965) J. C. Pressac 1994 M. Alpers 1995 P. Kirby 1995 H. Medick 1996 J. Adams 1997 M. Kintzinger 2000 D. Stone 2003 J. L. Gaddis 2005 A. S. Salle 2006 A. Frings 2007 M. Füssel 2006 T. Wozniak 2013 M. Calaresu 2013

Es geht nun, erstens, darum, zunächst relativ oberflächlich (aus der Vogelperspektive) oder impressionistisch zu betrachten, was man in Publikationen findet, die prima facie dem Output der Geschichtswissenschaft zuzurechnen sind. Es sei auch sofort klargestellt, dass hier in gewissem Sinne Wein gepredigt und Wasser getrunken wird, denn für wirklich fruchtbare Analysen der geschichtswissenschaftlichen Praxis müsste man in weitaus kleinschrittigere De-

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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tailanalysen (aus der Strauß- oder der Froschperspektive) nicht nur von einzelnen Forschungsbeiträgen, sondern auch von bestimmten Forschungstraditionen oder –linien und Ansätzen einsteigen (van den Braembussche 1989), bis hin zu fallspezifischen Überprüfungen der Art und Weise, wie Geschichtswissenschaftler oder unterschiedliche Gruppen von Geschichtswissenschaftlern in konkreten Fällen zum Beispiel mit ihren Daten („Quellen“, Kapitel 5) umgehen, wozu man jene Quellen im Zweifel gar selbst ansatzweise konsultieren und nicht nur ins Historische Seminar, sondern gar ins Archiv gehen müsste (6.2). Froschperspektiven sind aber wohl letztlich bloß Geschichtswissenschaftlern möglich. Im Kapitel 4 wird auf der Basis dieser Vogelperspektive auf diese Beispiele geschichtswissenschaftlicher Forschung die geschichtsphilosophische Debatte ebenfalls aus der Vogelperspektive betrachtet und erste globale Ergebnisse gesucht. Das ergibt sich allein schon durch die globale Fragestellung dieses Kapitels. Man könnte auch die These vertreten, dass ein solch globaler Zugang zu grob und nicht umsetzbar ist und daher von vornherein bloß singuläre Fälle untersuchen (vgl. teilweise Weber et al. 2013). Das halte ich für eine nicht unbedingt schlechte Alternative, was aber dazu zwänge, über diese Fälle hinaus, d. h. bezogen auf die Geschichtswissenschaft oder auch die Sozialwissenschaft dann keinerlei Aussagen zu treffen. Da der Anspruch der überkommenen Geschichtsphilosophie völlig global ist und immer von der Geschichte handelt, wird hier aber, trotz aller Probleme damit, ein noch immer eher globaler Zugang gewählt, der eingestandenermaßen eigentlich unmöglich zu sein scheint oder auch ist (Kapitel 8). Auch der globale Zugang ist notwendigerweise mit Mängeln und Einseitigkeiten verbunden. Es geht an dieser Stelle auch, zweitens, überhaupt nicht darum, ob dasjenige, was wir antreffen, gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen, wahr oder falsch ist und darum, was Geschichtswissenschaftler tun sollten. Zumal ich dies in den allermeisten Fällen überhaupt nicht beurteilen kann und Geschichtsphilosophen sich noch nicht einmal im Ansatz über Kriterien verständigt haben, die zu einer solchen Beurteilung herangezogen werden könnten. Kriterien wie die von Narrativisten manchmal vorgeschlagene Verplottung von möglichst vielen „Tatsachen“ (7.3.7) erweisen sich gerade bei jedem ersten Blick in die Wissenschaftspraxis als völlig absurd. Vieles von dem, was wir antreffen werden, verstehe ich jedoch gar nicht bzw. nicht genug, um mir beispielsweise eine Kritik anmaßen zu können, es sei denn, es geht um Fälle, die ganz nah mit philosophischen Fragen korrespondieren (wie im Fall von Topolski). Dass ich manches nicht verstehe, die Texte aber trotzdem nicht aus der Mini-„Anatomie“ verbanne, um dies zu verheimlichen, ist übrigens schon ein Zeichen dafür, dass die Sache (Geschichtswissenschaft) so einfach nicht sein kann, wie Geschichtsphilosophen auch regelmäßig behauptet oder insinuiert haben. Auch Geschichtstheoretiker behaupten immer mal wieder, eine „spezifische Kompetenz“ brauche es nicht, um ein „Geschichtsbuch“ („livre d’histoire“) zu durchdringen (Prost 2010, 159). Das scheint vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“ bereits eine der geschichtstheoretischen Einseitigkeiten oder Falschheiten zu sein. Ich werde auch so weit wie möglich die Autoren hier selbst zu Wort kommen lassen und die Terminologie der Autoren beibehalten, um nicht zu viel hineinzudeuteln. Allein dadurch wird man schon an manch überkommener geschichtsphilosophischer Auffassung Zweifel hegen können oder letztlich müssen (Kapitel 4), d. h. allein durch die Art und Weise, wie in diesen Texten geschrieben wird. Da Monographien fast nie kurz dargestellt werden können, selbst wenn man sie nur impressionistisch liest, finden sich in der folgenden Impressionensammlung vornehmlich Aufsätze. Vieles aus dieser Anatomie muss auch jenseits dieser Klärungsskizze erneut thematisiert werden, weil sich z. B. neue Probleme auftun (z. B. Kapitel 5; 6.2).

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

Das angesammelte und teilweise dargestellte Material wird dann herangezogen, um die zuvor formulierte Frage (2.3) annäherungsweise zu beantworten und später einige Annahmen der Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie zu überprüfen. Es wird aber auch dazu dienen, später andere Probleme aufzuwerfen und Fragen zu beantworten (Kapitel 5, Kapitel 6, Kapitel 7), weil wir dazu gezwungen sein werden, entweder sehr früh und mit Trivialthesen angesichts des Gesichteten aufzuhören (4.1) oder aber einen leicht anderen metageschichtswissenschaftlichen Ansatz zu wählen (Kapitel 4.2, Kapitel 5). Ich stelle meinen weiteren Überlegungen, die sich teilweise direkt, teilweise indirekt auf diese Mini-„Anatomie“ beziehen werden, diese impressionistische Darstellung voran, weil die Überlegungen aus Kapitel 2 dies erforderlich erscheinen lassen und dieses Vorgehen zudem die Transparenz erhöht. Ich bin auch der Meinung, dass man zumindest teilweise die Darstellung von Forschung von (einzelnen detaillierten oder globalen) Analysen und philosophischen Thesen trennen sollte, weil sonst die Übersichtlichkeit schnell verloren geht (siehe z. B. teilweise Little 2010). Teilweise schieße ich mir damit natürlich ins Bein, weil man spätere Thesen sogar auf der Basis meiner eigenen Mini-„Anatomie“ möglicherweise kritisieren kann, was nicht möglich ist, wenn man einfach Literaturangaben hinter philosophische Thesen setzt, was wir hier auch gezwungenermaßen tun müssen. Aber das ist ja der „Sinn“ der Sache, d. h. der antizipierte Nutzen. Und man sieht auf diese Weise auf einen Blick, dass einige geschichtsphilosophische Globalthesen mindestens falsch sind, was sich noch klarer ergibt, wenn man den Rest der Mini-„Anatomie“ in relativ kurzer Zeit konsultiert. In jedem Fall kostet diese Mini-„Anatomie“ Platz und Geduld, aber die sollte man genau dann aufbringen, wenn es in Philosophie der Geschichte tatsächlich um Geschichtswissenschaft(en) und vielleicht ein besseres Verstehen dieser Wissenschaften gehen soll. Wie man sehen wird, rekurriere ich jenseits der Anatomie auf jede mögliche Impression, die dem Bücherregal zu entlocken ist. Potenziell kann Geschichtsphilosophie, so bleibt trotz aller Zweifel (Kapitel 2.2) zu hoffen, in zweierlei Weisen relevant sein. Sie kann den Zielen, die Geschichtswissenschaftler vielleicht haben und teilen, zuarbeiten oder sie torpedieren: In any case the philosopher of history, whether obnoxious or useful, is not a mere onlooker: he is a participant in the task of finding out what happened and why it happened (Bunge 1988, 602). Das Ziel der Geschichtswissenschaften ist in M. Bunges Bestimmung des Verhältnisses von jenen Wissenschaften, die Gegenstand des Philosophierens werden, schon gesetzt. Jetzt kommt es darauf an, beispielsweise diese Behauptung zu testen, denn andere behaupten ja z. B., Geschichtswissenschaftler betrieben Sinnsuche und Sinnstiftung, „erzählten“ einfach drauflos und hegten gar nicht den Anspruch, herauszufinden was passierte und warum es passierte.49 Wie auch immer, zunächst werden wir obiges Motto wieder zu schätzen und zu beherzigen lernen, nämlich dass man Forschung nicht mit ihren Ergebnissen verwechseln sollte.

49

Allein die nachfolgend reproduzierten Abbildungen, welche verdichtet Daten für die philosophische Analyse historischer Texte bereitstellen, sind vor dem Hintergrund mancher Geschichtsphilosophie teilweise bereits vollständig entwaffnend, indem sie Argumente für deren Inadäquatheit bereitstellen.

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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3.1.1 William H. McNeill Der Titel des Aufsatzes von William H. McNeill (1949), „The Introduction of the Potato into Ireland“, spricht für sich. Der Autor beginnt seine Studie mit der Behauptung, die Kartoffel stamme ursprünglich aus Südamerika. Wie und wann sie nach Europa eingeführt worden ist, sei unsicher („uncertain“), man „wisse“ („know“) allerdings aus den Aufzeichnungen des Botanikers Carolus Clusius, dass die Kartoffel 1588 in Italien wuchs. Eine weitere Quelle (1597) zeige, dass ihr Autor, John Gerard, Kartoffelpflanzen in Europa gesehen habe. Die Forschungsmeinung bestehe auf der Basis dieser und anderer Quellen nun darin, dass es zwei Einführungen der Kartoffel nach Europa gegeben habe. Eine über Südeuropa („almost certainly through Spain“), eine über England. Bezogen auf Irland schreibe die Forschungsliteratur Sir Walter Raleigh die Etablierung der Kartoffel zu. Daraufhin erläutert der später auch außerhalb der Akademie vergleichsweise berühmt gewordene Autor sein Vorhaben: „This paper will attempt to show that he Sir Walter Raleigh was not responsible and that more probably it was an unknown Spanish seaman who brought the plant to Ireland“ (McNeill 1949, 218). Daraufhin behauptet der Autor weiter, es sei lange bekannt, dass der Beweis („proof“) der Standardmeinung eher unzufriedenstellend sei, „it has been rather from lack of alternative than from the evidence itself that he has for long been accorded credit for introducing it into Ireland“ (McNeill 1949, 218). McNeill zitiert Abhandlungen zu dieser Frage, die mit dem Jahr 1812 beginnen. Im Anschluss behandelt der Autor drei Quellen. Während Raleigh Ende des 16. Jahrhunderts lebte und ex hypothesi die Kartoffel einführte, stammen diese aus den Jahren 1750, 1693 sowie 1699. Der Autor argumentiert, ein gewisser Charles Smith habe 1750 einen Mythos über die Umstände in die Welt gesetzt. Allerdings habe Smith bei Houghton (1699) abgeschrieben: „From the verbal parallelism in their accounts, it seems clear that Charles Smith took his information about Raleigh and the potato from Houghton (except, of course, for the gardener story d. h. den Mythos, dp; and from Smith’s widely read pages the story passed into general circulation“ (McNeill 1949, 219). Houghton (1699) hatte behauptet, Sir Walter Raleigh habe die Kartoffel aus Virginia nach Irland gebracht. Die Überlieferungskette ist also: Houghton (1699) → Smith (1750) → weitere Autoren: „Despite the obvious gaps in this evidence, nearly all recent scholars have agreed that Raleigh was probably the man who introduced the potato into Ireland“ (McNeill 1949, 219). Was sind nun aber die Lücken in den Quellen oder Belegen? McNeill hat zuvor kurz eingestreut, dass es keine zeitgenössischen Quellen („contemporary evidence“) über Raleighs Beteiligung am Schicksal der Kartoffel gebe. Es sei ferner wahrscheinlich („probable“), dass Houghton (1699) die Informationen über Raleighs Verstrickung von Anthony Southwell habe (1693), der dritten Quelle, und dass Southwell von den Begebenheiten keine persönliche Erfahrung gehabt haben könne, aber eine Familientradition referiert, über die er ferner unsicher gewesen sei, was die Wortwahl nahelege. Warum es wahrscheinlich ist, dass Houghton die Informationen von Southwell hatte, schreibt McNeill nicht. Die Überlieferung ist dann aber wie folgt anzunehmen: Southwell (1693) → Houghton (1699) → Smith (1750). Southwell hatte bemerkt, sein Großvater habe die Kartoffel zunächst nach Irland gebracht, welcher diese eben von Sir Walter Raleigh erhalten habe. McNeill fährt fort: „More important, there is a chronological objection to Southwell’s account, since his grandfather apparently did not go to Ireland before 1603, while Raleigh never returned after 1589“ (McNeill 1949, 219). Von Walter Raleigh hieß es zuvor im Text einzig, er habe 1580-81 in Irland gekämpft und 1586 Land in County Cork zugesprochen bekommen, wo er 1586 für ein paar Monate und ferner in 1589 gelebt habe. Der chronologische Einwand scheint also naheliegenderweise

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

darin zu bestehen, dass sich der Großvater von Southwell und Raleigh nicht hätten begegnen können, die Quelleninformation also prima facie nicht verlässlich ist, d. h., soweit die chronologischen Hypothesen stimmen. McNeill führt dies allerdings nicht explizit aus. Vermutlich war es McNeill zu offensichtlich. Weiter könne es sein, dass die Familiensaga die Einführung der Kartoffel auf ihr Gut mit der Einführung der Kartoffel nach Irland verwechselte: It is thus easy to doubt the accuracy of the ascription of the introduction of potatoes into Ireland to Sir Walter Raleigh. An alternative theory, that the plant came into Ireland from Spain, can, it seems to me, find better support. Evidence for a Spanish introduction is necessarily indirect, deriving from (1) an oral tradition kept alive at least until the middle of the eighteenth century among Irish farmers – men who did not write books themselves but who have left traces of their belief in the books written by their English conquerors – and (2) a deduction from the well-attested fact that the varieties of potato commonly raised in Ireland during the seventeenth century were not identical with those known in England. Such a difference of varieties certainly suggests that the potatoes grown in Ireland had not come from England at all (McNeill 1949, 219). Es gilt also festzuhalten, dass im Urteil von McNeill durch diese Argumentation die Überlieferungskette Southwell→Hougthon→Smith als unzuverlässig und daher die Behauptungen über Sir Walter Raleigh als (vermutlich) falsch gelten. Weitere Argumentationen sollen diese These weiter stützen. Für die „mündliche Tradition“ liefert McNeill im Anschluss vier Spuren („traces“), einen Text von William Coles (1657), einen Text von Caleb Threlkeld (1727) und ein Gedicht von John O. Neachtan (ca. 1750): „On the basis of this admittedly scattered evidence, it seems safe to infer that the Irish believed the potato came to them from Spain“ (McNeill 1949, 220). Dem Leser wird Folgendes auffallen: Die These war, dass ein unbekannter Spanier die Kartoffel nach Irland gebracht habe. Die These, die nun McNeill zufolge als sicher gelten kann, besagt, dass Iren lange Zeit glaubten, die Kartoffel käme aus Spanien. McNeill glaubt jedoch wohl hier schon teilweise gezeigt zu haben, dass die Kartoffel aus Spanien kam, denn der nächste Satz, der sogleich den zweiten oben bereits genannten Trumpf einführt, lautet: „A second argument for the Spanish origin of Ireland’s potatoes can be derived from the differences which existed between English and Irish varieties of potatoes in the seventeenth century“ (McNeill 1949, 220). McNeill setzt also voraus und argumentiert nicht explizit dafür, dass diese mündliche Tradition auch akkurat ist, d. h. die sozial geteilte und tradierte Hypothese der Herkunft der Kartoffel aus Spanien wahr ist. McNeill zeigt dann an zwei Quellen (Forster 1664 und Beal 1692), dass es plausibel ist zu glauben, dass es zwei unterschiedliche Arten von Kartoffeln in England und Irland gegeben hat. Damit ist eigentlich wieder nicht gezeigt, dass die irische Kartoffel aus Spanien stammt, was aber McNeill zu glauben scheint, schließlich lautete der nächste Satz nach der Quellendiskussion: „A further consideration making it more plausible to assume that Spaniards introduced the potato to Ireland is the fact that communication between Ireland and Spain during the last years of the sixteenth century was constant“ (McNeill 1949, 221). Was gezeigt worden ist, scheint zu sein, dass die irische Kartoffel nicht aus England stammte oder eine entsprechende Hypothese ist geschwächt worden, was nicht direkt zeigt, dass sie aus Spanien stammte, sondern die Menge möglicher (und plausibler) Hypothesen wird aus der Sicht von McNeill eingeschränkt. Das heißt also, McNeill führt weitere Überlegungen, jenseits der zuvor angekündigten Argumentationen (1) und (2) dazu heran, um seine „Theorie“ zu stützen. Und hier soll nun weiter plausibilisiert werden, dass die Spanienhypothese – sagen wir mal – besser ist als z. B. eine Englandhypothese oder die Raleigh-Hypothese:

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In 1601, moreover, a Spanish expeditionary force landed at Kinsdale to assist the Irish against Elizabeth’s troops and was not dislodged until the following year. It seems quite possible that during these years some Spanish vessel using potatoes as ships‘ provision might have left a few of the tubers behind in Ireland. Such an event would provide the basis for the native Irish tradition that the potato had a Spanish origin. From this evidence it seems probable that the potato came first to Ireland from Spain and that the ascription of its introduction to Sir Walter Raleigh is entirely mythical (McNeill 1949, 221). Das ist weitgehend die Argumentation, die McNeill zugunsten seiner „theory“ aufbietet. Wir könnten uns nun überlegen, was gegen seine Theorie spräche. Da McNeill oben ein definites Datum nennt, wäre die These geschwächt, wenn Daten auftauchen würden, welche die These begründen, dass die Kartoffel in Irland vor 1601 eingeführt wurde. Das wäre aber von der vageren Theorie noch abgedeckt, schließlich schreibt McNeill auch davon, in den letzten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts sei Kommunikation zwischen Irland und Spanien „konstant“ gewesen. Würde dieses Quellen-Datum allerdings eine andere Herkunft als Spanien enthalten, wäre die Angelegenheit klarer, soweit es sich als verlässlich erweisen würde. Es wäre noch möglich, McNeills Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Quelle aus dem Umfeld der Royal Society (Quelle: Southwell 1693) zu entkräften, schließlich wäre dann McNeills gesamte Theorie unnötig. Über diese Möglichkeit der Argumentation muss man jedoch nicht spekulieren, denn McNeill nennt sie selbst zum Abschluss des Aufsatzes.50 Er schließt mit dem Satz, den man auch in ähnlichen Kontexten bei ungezählten Geschichtstheoretikern finden kann (z. B. Langlois/Seignobos 1900, Bernheim 1908, Topolski 1976): „Certainty is, of course, impossible, but the balance of probability seems definitely against Raleigh and in favor of some anonymous Spanish seaman“ (McNeill 1949, 222). Der Text dieser geschichtswissenschaftlichen Abhandlung (oder „Geschichtsschreibung“) umfasst 4 doppelspaltige Seiten.

3.1.2 Antoinette Chamoux & Cécile Dauphin In „La contraception avant la Révolution française: L’exemple de Châtillon-sur-Seine“ untersuchen Antoinette Chamoux und Cécile Dauphin (1969) die demographischen Charakteristiken des Orts beziehungsweise die Fruchtbarkeit von verheirateten Frauen im Untersuchungsgebiet und –zeitraum, der von 1772 bis 1789 reicht. Nachdem die Autoren die schwierige Quellen- oder Datenbasis angedeutet haben, knüpfen sie an die Forschung im Kontext ihres Interesses an. Es gäbe zwar einige Monographien über Dörfer, die beabsichtigte Beschränkung der Fruchtbarkeit nach der Revolution nachwiesen, aber ohne den Beweis („preuve“) zu erbringen, dass diese Praktiken schon vor 1789 existiert haben. Zum städtischen Milieu existiere nur eine Studie zu einem ganz kleinen Städtchen. 50

McNeill 1949, 221 ff.: „Sir Robert Southwell’s remark to the Royal Society in 1693 was to all appearances merely a casual one, and there is no reason to suppose that he had investigated the question himself. He knew the plant as ‚potatoes of Virginia‘; knew also that Raleigh was the colonizer of that land. He may well have assumed, on this basis alone, that it must have been from Raleigh that his grandfather got the potato. Yet so far as appears, it is from his remark that the whole Raleigh tradition is descended. The possibility remains that the fellows of the Royal Society had some sort of evidence connecting Raleigh with the potato which has since been lost; but, if so, no sign of it has been detected in the records of the society by recent scholars.“

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

Abbildung 1

„Taux de fécondité légitime suivant l’âge de la femme au mariage“ und „Taux de fécondité legitime par âge“ (aus Chamoux und Dauphin 1969, 672).

Les quelques monographies de village existantes nous ont donné la certitude d’une limitation volontaire de la fécondité à partir de la Révolution, mais sans nous apporter la preuve que ces pratiques existaient déjà avant 1789 (Chamoux/Dauphin 1969, 663). Die Autoren begründen anschließend einige Entscheidungen, die sie getroffen haben, die jedoch die Ergebnisse beeinträchtigen könnten, jedoch – wie sie wohl hoffen – nicht signifikant. Zum Beispiel hat man Informationen über Frauen, die sich jenseits des 45. Lebensjahres verheirateten, nicht in die Datenmenge aufgenommen, weil deren Fruchtbarkeit zu vernachlässigen sei („négligeable“). Um auszuschließen, dass Ausnahmeereignisse für zu beobachtende Daten verantwortlich sind, wird beispielsweise das Ende der Untersuchung auf das Jahr

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1789 verlegt (Chamoux/Dauphin 1969, 664). Die Autoren machen dann noch deutlich, was sie unter „Fruchtbarkeit“ verstehen beziehungsweise wie sie diese – für die Gesamtpopulation von Châtillon-sur-Seine – festzustellen oder zu messen gedenken. Die Fruchtbarkeit von Châtillon-sur-Seine wird schließlich in Geburten pro Tausend Ehejahre ausgedrückt oder gemessen, in Perioden von 5 Jahren, jeweils beginnend mit dem ersten Ehejahr, weshalb auch von der „fécondité légitime“ die Rede ist. Die Tabelle und das Diagramm (Abbildung 1) sollen nicht für sich stehen. Ein Muster scheint sich zu offenbaren: Ces tableux III et IV, illustrés par les graphiques n° 3 et n° 4, donnent un aperçu nouveau sur cette population urbaine antérieure à la Révolution française: la plus ou moins grande ancienneté du mariage modifie la fécondité aux différents âges des épouses. A l’exception de la première courbe, les graphiques sont bien d’aspect concave et nettement décales suivant l’âge au mariage: à âge égal, plus les femmes se sont mariées jeunes, plus leur fécondité est faible (Chamoux/Dauphin 1969, 663). Sollte ich es vor dem Hintergrund meines Laientums richtig verstehen – auf Details kommt es für unsere Zwecke glücklicherweise nicht an –, soll dies unter anderem heißen, dass Frauen, die früher geheiratet haben, in einer zu vergleichenden Altersperiode weniger Kinder bekommen haben als Frauen, die in einem späteren Alter geheiratet haben. Und dies ist sozusagen rein biologisch und ceteris paribus nicht zu erwarten. Beispielsweise bekommen Frauen aus der Stichprobe, die im Alter von 15-19 geheiratet haben, in der Altersperiode von 30-34 Jahren keine Kinder (0 pro 1000 Ehejahre), während die (statistische) Frau, die mit 30-34 geheiratet hat, in derselben Altersperiode von 30-34 551 Kinder pro Tausend Ehejahre bekommt. Warum ist das für die Autoren interessant? Weil diese Daten mit Daten, die in anderen Fällen erhoben worden sind, verglichen werden können, was scheinbar eine Hypothese nahelegt: Ces caractères existent chez les population modernes qui, dans leur ensemble, pratiquent une contraception efficace. Les observer à Châtillon, dès avant la Révolution, crée une forte présomption de pratique de la limitation des naissances dans cette ville, à cette époque. Les Ducs et Pair eine andere Studie, dp mis à part, c’est la première foi qu’une présomption aussi forte est fournie pour la France (Chamoux/Dauphin 1969, 673). Weitere Auffälligkeiten werden dann herangezogen, um die Verhütungspräsumtion weiter zu stärken, z. B. die Gesamtzahl an Kindern, die unabhängig vom Heiratsalter zwischen 4,5 und 5 liegt, was vermutlich auch nicht zu erwarten ist, denn ceteris paribus sollten jünger Verheiratete mehr Kinder haben als später Verheiratete. Auch die Beobachtung, dass das Alter der letzten Geburt einer Frau in Zusammenhang steht mit dem Heiratsalter, spricht den Autoren zufolge für die Präsumption. Frauen, die mit 20-24 geheiratet haben, bekamen ihr letztes Kind mit 34, Frauen, die mit 25-29 geheiratet haben, bekamen es mit „37,7“ Jahren. Anhand von Vergleichsfällen beziehungsweise anderen ähnlichen Studien schärfen die Autoren dem Leser noch ein, dass die Präsumption nicht auf ein einzelnes Datum gestützt werden dürfe. Damit ist an dieser Stelle auch gemeint, dass Daten, die in Chatillon so interpretiert werden, dass sie für die Präsumtion sprechen, in anderen Fällen dieselben Werte aufweisen, dort aber bekannt ist, dass es keine beabsichtigte Kontrolle der Fruchtbarkeit gegeben habe. Daher interpretieren die Autoren z. B. auch noch Daten zur vorehelichen Empfängnis.

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

Nachdem die Autoren abschließend zusammenfassend behaupten, gezeigt zu haben, dass urbane Familien effiziente Verhütung betrieben haben, schildern sie noch, dass es verfrüht wäre eine „explication causale de la contraception“ vorzuschlagen, während man nicht mehr als deren „Symptome“ kenne. Es seien noch auf medizinischer, psychologischer und soziologischer Ebene Präzisierungen vorzunehmen, um die Frage zu beantworten, die Demographen lange stellen würden, nämlich „comment et pourquoi les familles, à tel moment de l’histoire, en sont-elles arrivées à ne plus considérer la procréation comme leur fonction vitale et primordiale?“ (Chamoux/Dauphin 1969, 682).

3.1.3 Rolf Rilinger Rolf Rilinger (1976) untersucht in „Der Einfluß des Wahlleiters bei den römischen Konsulwahlen 366 bis 50 v. Chr.“ unter anderem Thesen aus der überkommenen Forschungstradition der manchmal so genannten Altertumswissenschaft (oder Alten Geschichten) über den Einfluss des Wahlleiters bei den römischen Konsulwahlen. Der erste Satz dieser als „Standardwerk“ bezeichneten Studie besteht in einer Frage: Ist es wirklich richtig, daß der vorsitzende Magistrat die Wahlen weitgehend nach seinem Willen lenken konnte und daß dies ein Beweis für seine Macht und die seines Geschlechtes sei? Dieser Satz zielt auf eine ganze Schule von Althistorikern, für die es erwiesen zu sein scheint, daß der Wahlleiter einen außerordentlich großen Einfluß auf das Wahlergebnis hatte (Rilinger 1976, 1; kursiv im Original).51 Die Hypothesen eines der Begründer dieser „Schule“ legt Rilinger gleich im Anschluss dar, und zwar die Faktionenthese und die Wahlleiterthese. F. Münzer hatte in Römische Adelsparteien und Adelsfamilien vermutet, in den Fasten (Beamtenlisten) der Römischen Republik Regelmäßigkeiten rekonstruieren zu können: In den Listen hatte er einige auffällige Beobachtungen gemacht: daß nämlich bestimmte Namen hintereinander und auch alternierend vorkamen, ebenso, daß zwei Namen, die in einem Jahr zusammenstanden, wiederkehrten oder alternierend wiederkehrten, und schließlich, daß sich einige Namen durch Kombination der angeführten Stellung in den Fasten zu einem Geschlechternest verdichteten. Diese Beobachtungen konnte er sich nur über Verbindungen bei der Wahl (Faktionsthese) und durch die Macht des Wahlleiters (Wahlleiterthese) erklären. Da er in Einzelfällen genügend Argumente für die Macht des Wahlleiters fand, so konnte das Zusammenstehen und die Folge der verschiedenen Namen in den Fasten, ihr Wechsel und ihre Wiederkehr, die Grundlage für die Rekonstruktion von „Entstehung und Umgestaltung der Parteien“ sein (Rilinger 1976, 1). Für uns Laien kann es nicht schaden – vermutlich sind wir Philosophen –, hier kurz etwas darüber begründet zu spekulieren, was das eigentlich impliziert oder wie bemerkenswert diese Forschung sich einem darstellen kann.

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Obwohl Anführungszeichen fehlen, scheint diese Kursivierung ein Zitat zu kennzeichnen, das C. Meier zuzuordnen ist.

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

83

Es scheint so zu sein – und darauf wird Fergus Millar weiter unten anspielen – dass diese factios oder „Parteien“ (Münzer) in den sogenannten „literarischen Quellen“ nicht explizit bezeugt werden. Was der Altgeschichtswissenschaftler in diesem Fall vorliegen hat – was er beobachten kann, die Empirie – sind nichts als Listen von Namen und Ämtern, wobei diese Listen natürlich den Namen (oder konkreten Personen) Ämterbezeichnungen (oder Ämter) in einem jeweiligen Jahr zuordnen. Zu den Regelmäßigkeiten könnte dann beispielsweise zählen, dass im Jahr 195 v. Chr. M. Porcius Cato und L. Valerius Flaccus Konsuln waren, und dass beide 184 v. Chr. dem Zensorenkollegium angehörten (vgl. z. B. Broughton 1951). Man stellt vielleicht auch noch fest, dass beide 195 v. Chr. unter der Wahlleitung von M. Claudius Marcellus zum Konsulat gelangten. Eventuell stellt man dann mehrere solcher Regelmäßigkeiten fest, und dass sich, wie Münzer sagt, bestimmte Namen „gleichsam anziehen und öfter zusammenfinden, andere sich abstoßen und fliehen“ (zitiert in Rilinger 1976, 2), sodass der Gentilname „Porcius“ häufiger mit „Valerius“ assoziiert ist, was Münzer und anderen Altgeschichtswissenschaftlern zufolge eventuell die Existenz einer (gentilizischen) Gruppe oder „Partei“ nahelegt.52 Die Grundidee oder forschungsleitende Hypothese dieser Forschungstradition ist also, dass sich „jenes Geflecht von Verbindungen (…), das innerhalb der römischen Nobilität bestand und vor allem bei den Wahlen der römischen Magistrate sichtbar wurde“ (Christ 1980, 69), überhaupt bei den Wahlen bzw. letztlich in den Fasten (Quellen/Daten) „sichtbar“ wird, und dass sich auf dieser Basis begründet behaupten lässt, dass dieses „Geflecht von Verbindungen“ vor mehr als 2000 Jahren überhaupt existierte (vgl. auch Hölkeskamp 2011, 55 f.). Der erste Schritt dieser Forschungstradition besteht also darin, die Vermutung anzustellen, dass diese Regelmäßigkeiten im Auftauchen der Namen nicht zufällig sind, sondern als Indikatoren für die dann hypothetisch angenommenen factios herangezogen werden können. Was man als Geschichtswissenschaftler „sieht“ und was schon eine Leistung der Zunft ist – die „data“ sind schon Hypothesen (Kapitel 5), nämlich z. B. darüber, dass den Namen Personen zugeordnet werden können, dass man sie chronologisch ordnet bzw. datiert – sind Ämterlisten und letztlich verstreute Namen in literarischen Quellen oder auf Inschriften (Broughton 1951). Die Faktionenthese scheint nun zu besagen, dass bestimmte „Parteien“ bei den Wahlen gemeinsam antraten. Die Wahlleiterthese besagt, dass der Wahlleiter großen bzw. entscheidenden oder gar alleinigen Einfluss auf die Wahl der Magistrate hatte, d. h., dass der Wahlleiter seinen Kandidaten beinahe immer („praktisch immer“, Hölkeskamp 2011, 56) durchbringen konnte. Man muss erneut dazu sagen, dass über all dies so gut wie nichts direkt bezeugt ist, sodass aus Quellen unter Voraussetzung dessen, was Geschichtswissenschaftler manchmal deren „Authentizität“ oder auch „Historizität“ nennen, abgeschrieben werden könnte.53 Unter dieser Annahme kann man aber auf die (Indikator-)Hypothese kommen, dass alleine die (vermutete) faktische Wahl einer Person, die vermittelt – so die Hypothese – über die Amts52

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Hölkeskamp 2011, 45: „Für Münzer manifestierten sich konsequenterweise diese ‚Adelsparteien‘, ihre konkrete Zusammensetzung und ihr wechselhaftes Schicksal unmittelbar in den Consularfasten, in denen sich bestimmte ‚Namen gleichsam anziehen‘ und andere ‚sich abstoßen‘, in denen konkret das gleichzeitige, wiederholte oder alternierende Vorkommen bestimmter Namen und Gentilicia in den jeweiligen Consulcollegien eines Jahres bzw. einer Reihe von (aufeinanderfolgenden) Jahren auf politische Freundschaften schließen läßt und damit die verborgenen Parteienkonstellationen verrät. Das erneute Auftauchen ähnlicher Namenskonstellationen nach Jahrzehnten in Consulaten, Censuren, Dictaturen wird zum Hauptindiz einer über Generationen zu verfolgenden Kontinuität der Parteien.“ „Es handelt sich also um ein Modell, bei dem die Volksversammlung nichts zu sagen hat, die Wahl nach den klaren Interessen weniger, innerhalb klarer Beziehungen, durch den Wahlleiter manipuliert wird“ (Rilinger 1976, 4). Auch hier ist es so, „dass in den Quellen keine allgemeinen Aussagen vorliegen, die auf eine regelmäßig entscheidende Macht des Wahlleiters schließen lassen“ (Rilinger 1976, 8).

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

bezeichnungen überliefert ist, diese mit dem Wahlleiter in eine Gruppe oder Partei sozusagen epistemisch-hypothetisch verschweißt, sodass die Wahl des Magistraten „praktisch immer“ eine „Verbindung“ mit dem Wahlleiter retrodizieren lässt. Die Indikatorhypothese lautet wohl so ähnlich wie folgt: Immer wenn jemand in der Römischen Republik gewählt wurde, dann saß er mit dem Wahlleiter in einem Boot, denn gegen diesen konnte er ja nicht zum Amt gelangen oder dieser brachte ihn aktiv ins Amt. So lautet die Wahlleiterthese (vermutlich) in einer starken Formulierung.54 Immer wenn bestimmte Regelmäßigkeiten in den Fasten beobachtet werden können, spricht dies für die Faktionentheoretiker dafür, dass die Personen oder deren gentes eine factio bildeten. Auf diese Weise werden nicht nur einzelne Personen wie Wahlleiter und gewählter Magistrat, sondern ganze Gentilicia zu Factios („Adelsparteien“, F. Münzer) hypothetisch verschmolzen. Man ist hier offenkundig erneut weit entfernt von jener „scissors-and-paste“-Methodik, gegen die Collingwood (1994 1946) bereits polemisierte, die aber vielleicht noch immer das Standardbild der Geschichtswissenschaft in der Philosophie darstellt und seltsamerweise besonders den sogenannten „Narrativismus“ durchzieht. Sie besagt: Die Fakten (7.3.7) hängen am Baum der historischen Erkenntnis (so das von Tucker 2004a kritisierte Bild) und fallen dem Geschichtswissenschaftler einfach in den Korb, wenn er eine Quelle konsultiert. Er verknuspert sie, indem er die zugefallenen Fakten in einer Erzählung arrangiert, was den Fakten dann auch leider die Unschuld nimmt, die Geschichtswissenschaftler in den Stand der Sünde versetzt, ihren Thesen die „Objektivität“ raubt und die „Erzählung“ fiktionalisiert (siehe ferner Plenge 2014b). Rilingers Ziel besteht dann vornehmlich darin, die Wahlleiterhypothese, die ja besagt, dass der Wahlleiter entscheidenden Einfluss auf die Magistratswahlen hatte, der zudem eine Schlüsselfunktion in dem Faktionenmodell als Ganzes zukommt, zu überprüfen bzw. „systematisch“ zu überprüfen, was Gegner und Befürworter der Thesen, Theorien oder Modelle ihm zufolge nicht getan hätten: „These und Antithese beruhen (…) mehr oder weniger auf vagen Annahmen und allgemeinen Argumenten. Eine Untersuchung im Zusammenhang fehlt bisher. Dabei scheint die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit einer monographischen Untersuchung des Wahlleitereinflusses auf der Hand zu liegen“ (Rilinger 1976, 5). Hölkeskamp wiederum ist zu entnehmen, dass die Thesen gar zuvor kaum im Zusammenhang formuliert waren und ihre Begründung auch daher vielleicht eher wackelig war, obwohl die Thesen recht verbreitet anerkannt gewesen sein sollen (und teilweise auch noch sind).55 Dass Rilinger die These für nicht sonderlich plausibel hält, wird schon in der Einleitung deutlich. Dennoch braucht Rilinger für die Begründung wiederum dieser These, dass die (generelle) These der Prosopographen zweifelhaft ist, 200 Seiten, wobei – das sei am Rande bemerkt – von einer „historischen Erzählung“ (etwas vorsichtig formuliert) nicht viel oder (etwas ehrlicher formuliert) rein gar nichts zu finden ist. Gleich zu Beginn stellt Rilinger einige Möglichkeiten in Aussicht, wie die Faktionenthese ihm prinzipiell überprüfbar erscheint:

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Ich schreibe „vermutlich“, da diese Hypothesen zwar in der (neueren) Auseinandersetzung dieser Traditionen so oder ähnlich vorkommen und auch recht eindeutig so vorkommen, aber meines Wissens nicht eigens und herausgehoben formuliert werden. Siehe auch die nächste Fußnote. Auch Hölkeskamp (2011, 14) schreibt über seine Sicht auf die Forschung von Münzer: „In diesem Zusammenhang ist zunächst nur die allgemeine Feststellung wichtig, daß Münzer die Voraussetzungen und Bedingungen seiner Annahmen kaum problematisierte und zum größten Teil nicht einmal explizit im Zusammenhang formulierte.“ Später heißt es: „Die Existenz solcher Faktionen, ihr gentilizischer Charakter und zugleich die Kriterien ihrer Bestimmungen werden nicht eigentlich erwiesen, sondern vorausgesetzt.“

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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(i) „Die erste Möglichkeit wäre der Versuch, die Ergebnisse, die die These eines uneingeschränkten Einflusses des Wahlleiters hervorgebracht hat, ad absurdum zu führen. Dies kann einmal relativ leicht geschehen, indem die gruppenkonstituierenden Kriterien auf eine Zeit angewendet werden, für die bessere Kenntnisse über die Beziehungen handelnder Politiker vorliegen als für die Zeit nach 366 v. Chr., in der F. Münzer zuerst die Adelsparteien entdeckt hat. (…) A. Toynbee schlägt ein anderes Experiment vor, nämlich die Übertragung der Kriterien auf den eigenen Bekanntenkreis, um die größere Bedeutung von Hintergrundinformationen gegenüber Geburt, Heirat, Tod usw. herauszustellen. ‚This exercise is a sobering one‘. Dann kann man eine Reihe von Fällen aufzählen, bei denen ein Wahlleiter nicht verhindern konnte, dass ein als sein politischer Gegner feststehender Kandidat gewählt wurde. Oder es ist zu fragen, warum die auffälligen Geschlechternester in der Regel nur für drei, höchstens jedoch für fünf Jahre Bestand haben konnten, und welche Rolle dann der Wahlleiter spielte, der jeweils den ‚Regierungswechsel‘ zu verantworten hatte.“ (ii) „Die zweite Möglichkeit die Unrichtigkeit der Wahlleiterthese zu erweisen, dp wäre, den Ausnahmecharakter der Geschlechternester in den Fasten und solcher Berichte darzulegen, die für den entscheidenden Einfluß des Wahlleiters sprechen sollen. Wenn diese Vorgehensweise durchaus zur Relativierung der Faktions- und Wahlleiterthese führen muß, so hat sie doch den Nachteil, daß argumentatorisch quasi von den Voraussetzungen der ‚Faktionsthesenanhänger‘ ausgegangen werden muß, die von vornherein m. E. schon aufgrund allgemeiner Überlegungen zu bezweifeln sind. Es liegt daher nahe, grundsätzlicher anzusetzen“ (Rilinger 1976, 8 f.). Gegenüber einer Forschungstradition, die „mit den Vorstellungen des modernen Verfassungsstaates an die Beispiele der Überlieferung für das, was ein Wahlleiter zu tun vermochte, herangeht, sie womöglich katalogartig aufzählt, um die Macht des Wahlleiters zu beweisen“, strebt Rilinger eine „Aspektumkehr“ an (Rilinger 1976, 8 f.), da er glaubt, die Prosopographen hätten „die Möglichkeiten des Wahlleiters im Sinne einer juristisch fixierten Kompetenz missverstanden“ (Rilinger 1976, 173; auch 142 f.). Die Aspektumkehr verdeutlicht er anhand von Fragen: Allgemein ist zu fragen, ob sich ein Wahlleiter auf Grund seiner technischen Möglichkeiten gegen eine Mehrheit der Aristokratie durchsetzen konnte, die ja – und da steht man auf gesichertem Boden – durch Nah- und Treuverhältnisse sowie durch die Wahlorganisation die Volksversammlung beherrschte, und das doch wohl in den Zenturiatskomitien am eindeutigsten. Kann man also annehmen, wenn man von Aristokratie spricht, daß diese Aristokraten sich unter der Leitung eines omnipotent gedachten Wahlleiters zu Zustimmungsmaschinen degradieren ließen? Was ist mit dem Senat, was mit den Volkstribunen und ihren fast unbegrenzten Obstruktionsmöglichkeiten? Wie erhält sich Solidarität, wie wird die die Homogenität des Standes voraussetzende Disziplin der Standesgenossen erreicht? Dieses sind nur einige der notwendigsten Fragen (Rilinger 1976, 10). Kurz gesagt, es geht also weder um einen konkreten Wahlleiter noch um eine konkrete Wahlleitung, sondern um etwas anderes.56 Es geht auch nicht um die chronologische Rekonstrukti56

An einer Stelle (Rilinger 1976, 60) heißt es, es gelte ein plausibles Urteil darüber möglich zu machen, „wie es erstens in der Regel um seinen Einfluß auf den Ausgang der Wahl bestellt war. Und zweitens, wie seine Stellung, ob nun letztlich schwach oder stark, in die politische Grammatik eingefügt werden kann. Allge-

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

on von Ereignisfolgen oder Boudons „genetischen Ansatz“ (2.3). Worum geht es? Wir lassen den Geschichtswissenschaftler selbst zu Wort kommen, schließlich wissen wir eigentlich, dass es Geschichtswissenschaftlern (per Definition von „Geschichtswissenschaftler“ oder „Historiker“) eigentlich um Singuläres gehen muss, wenn man der Geschichtsphilosophie folgt, und es ist gar nicht so leicht zu verstehen, worum es geht und was hier genauer angestrebt wird: Es muß also letztlich darum gehen, den Wahlleiter als ein Element innerhalb des Wahlsystems und dieses als Subsystem innerhalb der Verfassung zu verstehen. Es kommt darauf an, die spezifischen Bedingungen, unter denen ein Wahlleiter agierte, aufzuweisen: seine mannigfachen Möglichkeiten und die jeweilige Gegenmacht, die Auswirkungen von verschiedenen politischen Großwetterlagen und einmaligen Konstellationen. Die sinngemäße Deutung der allgemeinen Verfassungsstruktur ist Voraussetzung dafür, daß erstens verstanden werden kann, warum ein positiver Beweis für die Unrichtigkeit der Wahlleiterthese aus den Institutionen im einzelnen nicht geführt werden kann, und daß aber zweitens wohl die Summe der Analysen in der Lage ist, eindeutig darauf hinzuweisen, daß die Frage anders zu beantworten ist, als bisher angenommen wurde. Neben der Beschäftigung mit den Institutionen, die z. T. enge Einzelinterpretationen der Quellen nötig macht, muß immer wieder das Bezugsfeld zum allgemeinen Verfassungsleben sichtbar gemacht werden, was dauernd begleitende abstrakttheoretische Überlegungen erfordert. Diese Vorgehensweise läßt somit keine grundsätzliche Trennung zwischen Gliederungspunkten, die eng mit dem historischen Material verbunden sind, und solchen zu, die abstrakt-theoretische Analysen leisten wollen. So sind Überlegungen theoretischer Art nicht auf den letzten Abschnitt der Untersuchung beschränkt, der eine Analyse der römischen Wahlstruktur unter Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Situation (…) zum Gegenstand hat, sondern gehören auch zu den konkreten Kapiteln, die sich mit der Wahlleiterbestellung (…), der Kandidatenaufstellung (…) und dem Wahlablauf (…) bei den Konsulwahlen beschäftigen (Rilinger 1976, 10 f.). mein ausgedrückt geht es um den Versuch, die schwer verständliche Verfassungspraxis transparenter zu machen, indem eine genauere Bestimmung der Regeln auf einem Teilgebiet vorgenommen wird“. Wenn es heißt, „seine Stellung“, d. h. die des Wahlleiters, solle geklärt werden, dann geht es offenkundig nicht um einen konkreten Wahlleiter, was immer es auch heißen mag, dessen Stellung in die politische Grammatik einzufügen. Auf Seite 124 heißt es dann, die Differenziertheit im „institutionalen Bereich“ von Wahlvorbereitung und – ablauf sei zu „charakterisieren“, indem diese Differenziertheit auf wenige „Prinzipien“ reduziert werde. Der methodische Ansatz bestehe in einer „historisch-strukturellen Ableitung der Prinzipien, die wegen unzureichender Quellen für weite Zeitabschnitte nur exemplarisch und modellhaft erfolgen kann. Dabei wird die zum Modell erstarrte unscharfe historische Aussage gerechtfertigt, weil es um den Versuch geht, ein zentrales Problem der römischen ‚Verfassung‘ unter einem neuen Gesichtspunkt zur Diskussion zu stellen“. So weit ich sehe, schreibt Rilinger nicht eindeutig, was unter einem solchen „Prinzip“ zu verstehen ist (Beispiele: „Erblichkeit, Ernennung, Wahl, Losung und Anciennität“; Rilinger 1976, 172). Mir ist auch nicht klar, was eine „politische Grammatik“ ist. Diese „Prinzipien“ werden an anderer Stelle „Mechanismen“ genannt (Rilinger 1976, 83; 126 f., 142). Dort heißt es, die Wahl von Ämtern sei ein „Zuweisungsmechanismus“: „Andere Mechanismen sind: Auswahl durch Los, Kooptation, Akklamation (bzw. Einstimmigkeit), Erblichkeit (und Anciennität), Ernennung und Usurpation.“ Auch von „Mechanismen der Kandidatenaufstellung“ ist die Rede (ebd. 74, 85, 125), nämlich die „Mechanismen Nominierung durch den Wahlleiter, Selbstbewerbung und im Ausnahmefall Nominierung durch das Abstimmungsergebnis einer Zenturie“ (ebd. 114), wie auch von „Abgeltungsmechanismen“ (ebd. 111). Von „Mechanismen“ und „Regulationsmechanismen“ heißt es schließlich auch, sie seien „Objektivationen des sozialen Lebens“ (ebd. 136).

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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Ausgehend von den Funktionsforderungen an das Teilsystem Wahlen soll bei der Überprüfung der Wahlleiterthese methodisch folgendermaßen vorgegangen werden: Einmal wird das Verfahren zur Übertragung des Konsulats, die dabei angewandten Mechanismen und die spezielle Rolle des Wahlleiters beschrieben und dann philologisch-historisch geklärt werden, was der Wahlleiter je vermochte. Zum anderen wird der Versuch gemacht, diese praktischen Ergebnisse vor dem Hintergrund einer zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität systemtheoretisch zu analysieren, um sie dann in eine politische Grammatik zu integrieren (Rilinger 1976, 13). Einige Desiderata richtet Rilinger zwischenzeitlich noch an seine „Theorie“57: Die Theorie, die die innenpolitischen Verhältnisse und Prozesse der römischen Republik mittels der Parteienthese zu erklären sucht, stützt sich wesentlich auf die Annahme, daß der Wahlleiter bedeutenden Einfluß auf das Ergebnis der Wahlen hatte. Aus der Überprüfung dieser These ergibt sich das Thema dieser Arbeit, nämlich die Beantwortung der Frage, ob der Wahlleiter entscheidenden Einfluss hatte oder nicht. Mit der Beantwortung dieser Frage müssen dann gleichzeitig neue Voraussetzungen der Erklärung für solche Phänomene gegeben sein, die vorher mit Hilfe der Wahlleiter- und Parteienthese erklärt werden konnten (Rilinger 1976, 151). Ziel von Rilinger ist also auch neben der Beantwortung der Hauptfrage, eine alternative „Theorie“ aufzustellen, die Phänomene „erklären“ kann, welche die Vorgängertheorie zu „erklären“ versuchte. An dieser Stelle sei nur vermerkt, dass zumindest dem Laien nicht gänzlich klar wird, welche „Phänomene“ dies genau sind. Es scheint sich aber um dasjenige zu halten, was Soziologen manchmal „soziale Regularitäten“ nennen.58 Vielleicht ist es auch nicht ganz falsch, eine später fallende Formulierung aufzugreifen, die andeuten könnte, dass das Hauptziel oder ein Ziel darin besteht, „einen Zugang zum Verständnis der römischen Verfassung“ zu finden (Rilinger 1976, 153). Es scheint so zu sein, dass Rilinger dasjenige, was er „Verfassung“ nennt, letztlich „verstehen“ möchte. Dafür spricht auch, dass Rilinger z. B. davon schreibt, jenes, was er „Verfassung“ nennt, trage (a) bestimmte „Züge“, (b) verändere sich und passe sich „experimentierend veränderten Umständen“ an (Rilinger 1976, 39). Kurz darauf ist auch von einem „System“ die Rede, genauer von einem „Gesamtsystem der Verfassung“, in welches das „Wahlsystem als Einheit“ eingebettet sei (ebd. 40 f.). Auch Wahlergebnisse oder das Verhalten von Wahlleitern gelten als „Phänomene“, welche die „Theorie“ auch „erklären“ können soll (ebd. 165 f.). Wie auch im Rahmen der Mini-„Anatomie“ bei dem Altgeschichtswissenschaftler Alpers (1995) anzutreffen, führt eine relativ begrenzte Frage den Geschichtswissenschaftler hier auf weitreichendere, in irgendeiner Weise globalere Zugangsweise und allgemeinere Probleme, hier das „Verstehen der Verfassung“ oder desjenigen, was von Rilinger auch „politische Grammatik“ genannt wird. Die „Theorie“ oder das Modell hat einen generellen Skopus, soll 57

58

Wir notieren hier bloß, dass Rilinger unter „Theorie“ etwas anderes versteht als McNeill oben, zumal McNeills Theorie einen völlig singulären Gegenstand hat, Rilingers Theorie aber allgemeine, modellhafte Züge trägt. Was sind aber solche Phänomene? Eine Antwort kann man Rilinger eventuell entlocken, wenn er schreibt (Rilinger 1976, 39): „Wird hier ein Phänomen sichtbar, dessen Erklärung das Verständnis der römischen Verfassung bestimmt?“ Was hier kurz zuvor im Text als „Phänomen“ genannt wird, ist die Antwort auf die Frage, ob ein Wahldiktator über größeren Einfluß verfügte als ein konsularischer Wahlleiter, also eine seltsame, generelle und kontrastive Relation oder „Demi-Reg“ (Kapitel 6.1), etwa: Der Wahldiktator hatte typischerweise größeren/kleineren Einfluss als ein normaler Wahlleiter.

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prinzipiell mit singulären Fällen verknüpfbar sein (oder die dortige Hypothesenwahl anleiten), ohne allerdings ohne Weiteres auf singuläre Fälle angewendet werden zu können.59 Dass es um Allgemeines geht, deutet auch die Zusammenfassung der Hauptergebnisse an: Die von den Prosopographen aufgestellte These, dass der Wahlleiter regelmäßig entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Konsulwahlen hat, wurde als unrichtig erwiesen, und zwar durch die Untersuchung einmal zur Struktur der römischen Konsulwahlen und zum anderen zu den für die ‚politische Grammatik‘ geltenden Voraussetzungen. Für die andere These der Prosopographen, nämlich, dass dieser für den Wahlausgang entscheidende Einfluß des Wahlleiters auf politische Gruppierungen schließen läßt, die in den Fasten über Generationen zu verfolgen sind, wurde deren Beweisbedürftigkeit nachgewiesen: zuerst durch die Widerlegung der Wahlleiterthese, dann durch die Erkenntnisse über die politische Grammatik und schließlich durch die Ergebnisse der beispielhaften Untersuchung der Konsulwahlen für 206 v. Chr. (Rilinger 1976, 170). Ich will mich an dieser Stelle mal aus dem Fenster lehnen und den Kern der Faktionentheorie etwas weiter ganz grob hervorhypothetisieren: (i) Alle Magistrate der (Klassischen) Römischen Republik verdankten ihre Wahl dem Wahlleiter. (ii) Alle Magistrate der (Klassischen) Römischen Republik, die von einem Wahlleiter ernannt werden, stecken mit dem Wahlleiter unter einer Decke. (iii) Immer wenn einige Mitglieder einer Gens g mit einigen Mitgliedern einer Gens h unter einer Decke stecken, dann bilden die gesamten Gentes eine politische Gruppierung. (iv) Immer wenn zwei Gentil-Namen in direkter Reihenfolge oder alternierend aufeinanderfolgen, dann bilden die von diesen Namen bezeichneten Gentes eine Partei. Alle diese (oder ähnliche) Generalisierungen, zumeist als Indikatorgeneralisierungen oder beschreibend, aber nicht in Subsumtionserklärungen (6.1)60 verwendet, werden dann von Gegnern kritisiert bzw. als falsch aufgefasst, wobei für die Auffassung der Inadäquatheit argumentiert wird. Rilinger argumentiert also primär gegen (i) und (ii), während andere Gegner der Faktionenthese auch (iii) für falsch halten. Festzuhalten ist vielleicht hier noch, dass Rilinger die ursprünglich von P. A. Brunt vorgenommene hypothetisch-deduktive Falsifikation der Hypothese (iv), die auch oben in den zwei Möglichkeiten der Theorieüberprüfung vorgeschlagen wird, nicht ausreicht, wird diese doch einleitend am Rande vermerkt. Auch die Abschwächung der Hypothese als irgendwie statistische kommt wohl nicht infrage, denn dann 59

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„Wenn also einerseits durch die historisch-strukturelle Ableitung ein abstrakter Hintergrund als Voraussetzung für allgemeine Einschätzungen geschaffen wurde, so bedeutet dies andererseits für die nähere Bestimmung einer speziellen historischen Situation nicht mehr, als dass mit dem geschärften Problembewußtsein von den theoretischen und wahrscheinlichen Möglichkeiten die Antwort auf Grund der zu rekonstruierenden Ereignisgeschichte zu suchen sind“ (Rilinger 1976, 142 f.). Post-Hempelianer vermuten an dieser Stelle allgemeine Hypothesen und logische Schlüsse (6.1), zumal Erklärungen von singulären Fällen, die hier offenbar von dem Geschichtswissenschaftler aber nicht vorgesehen sind. Dass Geschichtswissenschaftler allgemeine Hypothesen als „Ratgeber“ („guide“) betrachten, ohne sie in (deduktiven) Schlüssen auf Einzelfälle zu verwenden, bemerkte Mink (1966, 35). Solche Hypothesen würden als „suggestively fertile rather than deductively fertile“ verwendet. Man könnte auch Ähnlichkeiten mit Webers Idealtypen vermuten, von denen Ähnliches gesagt wird oder mit denen Ähnliches gemacht wird (z. B. beim Weberianer Wehler 2009, 54 f.). Andere Indikatorhypothesen sind auch z. B. „Collegialität ist Indikator für Kollegialität“ oder, verständlicher ausgedrückt, „Collegialität in einer Römischen Magistratur spricht für politische Verbundenheit“. Vielleicht sollte man hier noch festhalten, dass das Zutreffen dieser Generalisierungen auch nicht in irgendwelchen Quellen direkt bezeugt wird, zumal dann (vermutlich) Rilingers Forschung wiederum überflüssig gewesen wäre.

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wäre Rilingers gesamte Studie überflüssig, in der er den (typischen) Wahlleiter in das „Wahlsystem“ einordnet.

3.1.4 Fergus Millar „In any attempt to understand Roman history the first half of the second century B. C. must have a special place.“ So beginnt Fergus Millar, der auch der Autor des Standardwerks „The Emperor of the Roman World” (1977) ist, in dem Text „The Political Character of the Classical Roman Republic“ (1984, 1) aus dem Journal of Roman Studies. Hierbei handelt es sich um eine Studie, die in einer Reihe mit weiteren Aufsätzen wie „Politics, Persuasion and the People before the Social War (150-90 B. C.)“ (1986) steht und nach Karl-Joachim Hölkeskamp (2011) für etwas Wirbel in der Forschungslandschaft der Altgeschichtswissenschaft gesorgt hat, ja einen „Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne“ darstelle (Hölkeskamp 2011, XI). Zu Beginn behauptet Millar weiter „to understand Roman imperialism, but not that alone, we must understand the Roman political system itself“ (1984, 1), und fügt sogleich an, seine Idee sei gar nicht neu, sondern finde sich schon im Buch VI der Historien von Polybios (ca. 200 v. Chr. – ca. 120 v. Chr.). Um also die „Roman history“ zu verstehen, um den Römischen Imperialismus zu verstehen und um noch anderes zu verstehen, müssen „wir“, also die damit befassten Althistoriker, das römische politische System verstehen. Warum sollte man sich aber als Althistoriker wieder mit einer Idee befassen, die weit mehr als 2000 Jahre auf dem Buckel hat? The main purpose of this paper is to argue that Polybius was right and his modern critics are wrong. We do have to see the power of the people as one significant element in Roman politics. Polybius, it is claimed, failed to see the social structures which ensured the domination of the nobiles; that must mean the relationships of patronage and dependence which supposedly dominated Roman political decision-making and rendered popular participation passive and nominal. But the existence of these structures is itself a modern hypothesis, which has very little support in our evidence. It is time to turn to a different hypothesis, that Polybius did not see them because they were not there (Millar 1984, 2). Obwohl Millar bestreitet, dass es „soziale Strukturen“ der Art gegeben hat, wie sie moderne Altgeschichtswissenschaftler (auch aus dem Kontext der Faktionenthese) anzunehmen scheinen, gegen deren Thesen Millar sich wendet, bestreitet er nicht, dass „vertical links of obligation can be found in Roman society“. Aber er hält es aus mehreren Gründen für unplausibel anzunehmen, dass damit verbunden sei, der populus habe sozusagen bloß eine Statistenrolle oder akklamatorische Funktionen innegehabt. Vielmehr habe Polybios diese „Strukturen“ zu Recht ignoriert. Zwei von wenigstens drei „Gründen“ („reasons“) lauten: First is the sheer size of the citizen body. Second, all our evidence shows that those who aspired to office engaged in vigorous mutual competition for popular favour. Why else should Antiochus Epiphanes have carried back with him from his years as a hostage in Rome that vivid image of Roman political behaviour which he then exhibited to the baffled inhabitants of Antioch? Dressed in the white toga of a candidate he would go around the agora grasping men by the hand and embracing some, and asking for their votes for him as tribune or aedile (Pol. XXVI, 1, 5). Electoral support had to

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be sought at the time and also prepared in advance by building up the right reputation. Scipio Aemilianus, so Polybius records (XXXI, 29, 8), was unlike the other young men of his class. He went hunting; they devoted themselves to speaking in court and greeting people, spending their time in the forum, and by these means attempted to recommend themselves to the many (Millar 1984, 2). Millars (1984) Strategie besteht darin, auch über das Zitat hinaus positive Belege für die Hypothese über die Rolle des populus im „Römischen politischen System“ beizubringen, aber auch darin, die Beweislast, eine damals unter den Experten vermutlich verbreitete Auffassung betreffend, umzukehren und teilweise zu behaupten, für die anti-Polybiussche These spreche eben nichts. Zur berühmt-berüchtigten Faktionen-These, die, wie ansatzweise gesehen, grob besagt, dass (a) stabile aristokratische Gruppen existierten und diese (b) eben römische Politik unter sich ausfochten, schreibt Millar: We cannot ignore the fact baldly and correctly stated by P. A. Brunt: ‚No such stable groups are explicitly attested at any period.‘ That being so, expressions of reservation or caution, which have often been registered, are not sufficient. On the contrary, it is for those who follow the ‚factions-hypothesis‘ to state what its logical and evidential foundations are. Until that is done, we should start from what is explicitly present in the evidence (Millar 1986, 15; Hervorhebung dp). Dasselbe gelte für die Rolle der „clientela“ oder, wie es einmal heißt, der „institution of clientela“ (1984, 17), für das Wahlverhalten in Gesetzgebung oder Ämterwahl, was wohl heißt, dass Wähler immer aufgrund vorgängiger Beziehungen zu Patronen nach deren Willen abstimmten, während sich die Aristokraten dann in factiones oder Parteien zusammenschlossen, sodass das Abstimmungsverhalten auch wieder von der Zugehörigkeit zu diesen factios abhing – so die Hypothesen der Faktionentheoretiker. Millar schreibt zu diesen Thesen unmissverständlich: Once again, as with the supposed factiones, or lateral connections, which allegedly dominated voting in the Senate, it would have to be proved that these supposed vertical relations of obligation and attachment constituted a dominant factor in the behaviour of voters throughout a by now very large citizen body. No such demonstration has ever been offered; until it is, we should attend to what our sources tell us, that some people made speeches and other people voted (Millar 1984, 17). Im Nachfolgeaufsatz nimmt Millar (1986) sein Projekt wieder auf, die „extraordinary distortions which have been imposed on our conception of Republican politics in the twentieth century“ zu beheben, indem er den Redner und die Gesetzgebung durch das Volk ins Zentrum rückt. Klar ist, dass er nicht bloß eine These neben eine andere stellen möchte, sondern dass er glaubt, seine Fachkollegen von seiner These überzeugen zu können, indem er Mängel in z. B. M. Gelzers Argumentation in dessen Erforschung der Nobilität aufzeigt (Millar 1996, 2 ff.). Er sagt an dieser Stelle auch klarer, was das Ziel ist: „to present a particular model of how Roman politics worked, and of what Roman politics before the Social war was ‚about‘“ (Millar 1986, 1). Es heißt auch, „its purpose is to present a neutral, or purely functional, model of how politics worked“ (Millar 1986, 9). Was ist also genauer das Ziel? Wir lassen Millar besser nochmals zu Wort kommen. Millar (1986, 1) schreibt weiter: „I use the word ‚particular‘ to emphasize that this article, like its

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predecessor, can be seen as one reflection of a general reconsideration of the nature of Roman politics, as a reaction to interpretations which emphasize prosopography or the influence of clientela.“ Ereignisse oder häufig in der Geschichtswissenschaft „anekdotisch“ genannte Schilderungen von Ereignissen oder Handlungen dienen hier offenbar nur dazu, dieses Modell zu plausibilisieren beziehungsweise das „Roman political system“ zu verstehen oder, wie es auch heißt, „Roman politics“. Irgendwelche Singularitäten als solche sind offenbar nicht von Interesse. Mit dem Verweis auf und der Ablehnung der „Prosopographie“ scheint auch auf andere Methoden auf der Basis anderer Quellen angespielt zu werden, nämlich nicht Daten zu Ämtern und obige Indikatorhypothesen wie im Fall der Faktionen und Wahlleiterthesen.61 Was dabei herauskommt, scheint für Millar noch aus anderem Grund signifikant zu sein, denn unterschiedliche Folgeprobleme könnten davon abhängen: „Once we allow ourselves to think of Republican Rome as a system having significant democratic features, as Polybius saw, we might then attach rather more importance to a passage in which Polybius discussed how a democracy breaks down“ (Millar 1986, 5). Wo keine Demokratie war, konnte schlicht auch keine zusammenbrechen. Hölkeskamp (2011, X) fasst den „Grundkonsens“ der „Altertumswissenschaft“, gegen den sich Millar wendet, einige Jahre später wie folgt zusammen: Die gesellschaftliche und politische Ordnung der libera res publica war ‚aristokratisch‘, ja ‚oligarchisch‘, allerdings auf eine sehr spezifische, eigene und eigentümliche Weise; alle Institutionen und Positionen der Macht wurden von einer besonderen politischen Klasse beherrscht, aus deren Reihen sich nicht nur Magistrate, Feldherren und Senatoren rekrutierten, sondern oft genug sogar die offiziellen Vertreter der breiten Schichten des Volkes, die Tribune der Plebs. Man hatte immer vorausgesetzt, daß diese politische Klasse – oft als ‚Amtsadel‘ oder ‚Senatsaristokratie‘ bezeichnet – eine innerste exklusive Elite hatte, nämlich die eigentliche ‚Nobilität‘, die aus einer Kerngruppe jener illustren Geschlechter bestand, die mindestens einmal einen Consul gestellt hatten, die nun einen besonderen, zumindest faktisch erblichen Anspruch auf die höchste Magistratur hatten und die ihren Anspruch auf Macht und Herrschaft mit dem aufwendigen Zeremoniell einer ‚replendent élite‘ regelmäßig öffentlich dokumentierten und erneuerten. Zugleich beherrschte die Nobilität den Senat, in den die (höheren) Magistrate nach ihrem Amtsjahr regelmäßig zurückkehrten – der Senat galt als das institutionelle Zentrum der Aristokratie und damit als das eigentliche Entscheidungsund ‚Regierungsorgan‘. Die Entstehung dieser sozialen und politisch-institutionellen Strukturen und vor allem ihre gewissermaßen gegenseitige Einbettung als komplexen Prozeß zu erklären und dabei die ganze Vielfalt der inneren und äußeren Bedingungen und Impulse und wiederum vor allem ihre kontingente oder strukturelle Vernetzung zu analysieren, war das erklärte Ziel des hier wieder zuerst 1987, dp vorgelegten Buches (Hölkeskamp 2011, X f.). Hölkeskamps Studie, ebenfalls ein sogenanntes „Standardwerk“, trägt den Titel „Die Entstehung der Nobilität der Römischen Republik“. Stellen wir wieder eine Laienfrage: Heißt das nicht, dass Hölkeskamp die Entstehung von etwas erklären will, das nach Millar überhaupt 61

Zur Erläuterung: Bei demjenigen, was hier „Prosopographie“ genannt wird, handelt es sich meines Wissens einerseits um einen bestimmten Typ von Daten über Personen (und ihre Ämter, Verwandtschaften usw.) und eine Art und Weise des Umgangs mit diesen (Methoden, auch die Verwendung von bestimmten Indikatorhypothesen, s. o.). Die substantielle These des „Einflusses“ oder der Relevanz von Klientelbeziehungen ist davon prinzipiell unabhängig, wird aber vermutlich häufiger von jenen Altgeschichtswissenschaftlern vertreten, die primär jene Daten und jene Methoden verwenden.

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Abbildung 2

3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

„Population of Marseille, 1660-1901“ (aus Sewell 1985, 2). Handelt es sich hier um die Repräsentation eines sozialen Prozesses (siehe 7.3.5)?

nicht existiert hat? Das Buch trägt den Titel „Die Entstehung der Nobilität der Römischen Republik“. Es scheint also alles komplizierter zu sein, als es für Laien aussieht, schließlich gilt Hölkeskamp (2011. XV) Millars „Angriff auf die ‚Orthodoxie‘“ in Teilen überhaupt nicht als Fortschritt, was sicherlich Millars Einschätzung ist, sondern „als Rückfall hinter längst erreichte Ergebnisse und Positionen“. Hölkeskamp konstatiert anschließend, Millars Sichtweise leide an „fundamentalen Defiziten“. Das scheint aber auch zu bedeuten, dass solche „Modelle“ rational evaluierbar sind. Eine nicht ganz naive Frage ist, was eigentlich der Gegenstand dieser „Modelle“ ist, handelt es sich doch mit Sicherheit nicht um singuläre Ereignisse, Handlungen oder chronologisch erzählbare – so die Metapher – Kausalketten, also dasjenige, was in Philosophie der „Geschichte“ gewöhnlich als „historisch“ gilt.

3.1.5 William H. Sewell Jr. Insgesamt hundertfünfunddreißig Diagramme und Tabellen, die für sich bereits philosophische Rätsel enthalten (Abbildung 2, Abbildung 3), listet das entsprechende Verzeichnis zu

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

Abbildung 3

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„Number of ships entering the port of Marseille, 1710-1814“ (aus Sewell 1985, 17). Die Daten fungieren als Indikatoren für den Mittelmeerhandel. Ist hier ontologisch etwas anderes repräsentiert als im Fall der Bevölkerungsentwicklung (siehe Kapitel 7)?

Beginn von William H. Sewells Studie „Structure and Mobility. The Men and Women of Marseille, 1820-1870“ (1985): The book has been deeply influenced by the methods, theories, and outlook of sociology – of American quantitative sociology, to be more precise. Many of the chapters begin with an invocation of sociological theories or findings and the analysis of quantitative data is largely structured by sociological questions and methods (Sewell 1985, xiv – xv).62 Das scheint einer der Gründe zu sein, weshalb Sewell sich direkt zu Beginn an seine Fachkollegen in „urban history“ wendet und dabei seine Studie zu rechtfertigen versucht, deren Ursprünge nach Sewell bis auf das Jahr 1967 und die Studien zu seiner Dissertation zurückreichen: For some time I conceived of my analysis of the marriage registers as a kind of descriptive statistical prologue to the history of working-class radicalization. But as time went by and the analysis progressed, the would-be prologue grew into a separate book, with a style, a problematic, a narrative rhythm, and themes of its own. Historians may find it austere – highly quantitative, occasionally technical, and lacking in personali62

Von „soziologischen Fragestellungen“ ist natürlich auch in anderen geschichtswissenschaftlichen Aufsätzen die Rede (z. B. Thome 2002), was aber nur jene schockiert, die eine Kluft zwischen Historischer Wissenschaft/Geschichte (2.1, 2.3) und etwas anderem zu kennen glauben, das sie „Sozialwissenschaft“ nennen.

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

ties and color. But the issues confronted by the book are crucial for understanding nineteenth-century cities and nineteenth-century social change. How did capitalist economic development affect the size and composition of urban occupational groups? How did massive urban population growth change the structure and character of city neighborhoods? Did economic changes transform the status hierarchy of urban society? What were the social origins of the thousands of men and women who migrated to nineteenth-century cities? Did massive rural-urban migration have deleterious effects on the immigrants and on urban society? Were the migration experiences of women significantly different from those of men? Did massive migration breed urban crime? Did changes in the economic and social structure result in rising or declining levels of social mobility? Did natives of the city monopolize the available opportunities for upward mobility, or did immigrants find their share of the more prestigious and betterpaying jobs? Did the processes and the results of women’s social mobility differ from men’s? These and related questions can be answered with considerable precision using quantitative data from the marriage registers. Supplemented, of course, by data from many other sources. By posing and answering these questions, I have tried to put together a closely argued analytic description – a kind of closeup sociological portrait – of an entire urban society during the epochal changes of the nineteenth century (Sewell 1985, xiv). Die Liste an Fragen ist lang und ließe sich verlängern.63 Aber zunächst wollen wir festhalten, dass Sewell erläutert, obwohl in seiner Studie demographische Daten, die er Heiratsregistern 63

Fragen über Fragen: Die jeweiligen Kapitel werden – das sei hier noch angefügt – auch entweder mit erkennbaren impliziten Fragestellungen eingeleitet oder aber auch mit expliziten. Kapitel 3 fragt nach den Veränderungen in der „Beschäftigungsstruktur“ („occupational structure“). Es wird also eher eine WasFrage gestellt, z. B.: Was zeichnet die Beschäftigungsstruktur aus? Kapitel 4 fragt nach dem sozialen Status von Beschäftigungskategorien („occupational categories“) und etwaigen Veränderungen („changes“). Es wird also eher eine Was-Frage gestellt. In Kapitel 5 wird gefragt: „What were the social characteristics of Marseille’s various neighborhoods, and how did they change as the city grew in the nineteenth century?“ (Sewell 1985, 109). Kapitel 6 startet gleich mit der Frage (ebd. 146): „By what processes and with what rhythm did the massive increase in Marseille’s population take place?“ Kurz darauf wird gefragt (ebd. 146): „What were the sources of this relentless growth of Marseille’s population? Did it result mainly from the internal demographic situation of the city with death rates falling while birth rates rose or remained high? Or did growth result mainly from migration?“ Zu Beginn des zweiten Teils des Buches heißt es über Kapitel 7 und 8: „Chapter 7 will attempt to describe the process of migration into Marseille: to chart the changing characteristics of the immigrants and to indicate something of their experience of migration. Chapter 9 will examine the records of criminal courts to assess the common claim that migration was a potent source of personal and social disorder in nineteenth-century cities“ (ebd. 157). In Kapitel 8 wird also gefragt, was passierte oder der Fall war, während in Kapitel 8 eine verbreitete These über die „social effects of immigration“ (ebd. 159) überprüft wird. Sie besagt, dass Immigranten ohne Abstriche „psychological cripples“ gewesen seien. Zudem soll eine These als Alternative demonstriert werden: „This chapter will demonstrate that different categories of immigrants had very different experiences – that male immigrants differed from females, long-distance immigrants from short-distance immigrants, Italian-born immigrants from both French-born and other foreign-born immigrants, immigrants early in the nineteenth century from those who migrated earlier“ (ebd. 160 f.). Zu den weiteren Kapiteln heißt es am Ende von Kapitel 7: „Chapter 8 examines the records of Marseille’s criminal courts to see if immigrants and natives had different patterns and levels of criminality. Chapters 9 and 10 examine the intergenerational social-mobility experiences of both men and women, assessing, among other things, the differential mobility patterns of natives and immigrants. Both chapters show important differences between various categories of immigrants as well. Migration, it turns out, had significant effects – but sometimes not the effects that might have been expected“ (ebd. 212). Am Beginn von Kapitel 9 wird gefragt: „Were the best jobs monopolized by native Marseillais, with immigrants relegated to the lower reaches of the occupational hierarchy? Or did the immigrants‘ ambition, restlessness, and prior educational preparation allow them to match or better their native-born competi-

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(Quellen) entnimmt, eine wichtige Rolle spielen, sei dies keine strikt demographische Studie, da er andere Fragen stelle. Daraufhin drückt er in knapperen Worten aus, was er anstrebt, und wo es weitere Probleme gibt: It is, rather, a study of urban social structures and social processes and of how these changed or, in some cases, remained stable during a period of massive demographic expansion. On these matters und im Unterschied zur Feststellung des bloßen Bevölkerungswachstums, bei dem Marseille als „reasonably representative of the wider experience of nineteenth-century urban growth“ gelten darf, dp, the whole question of representativeness becomes far more problematic. Data on nineteenth-century population growth are readily available for cities in all European nations; the data for Marseille can easily be compared with those for other cities. But on such complex questions as economic and occupational structures, neighborhood patterns, migration, and social mobility, very little of a comparative nature is known. There are studies that deal with some of these matters for nineteenth-century French cities, and others that do so for English, German, and North American cities, but none ask quite the same set of questions asked here or use the same range of data. Even after some twenty years of pathbreaking work in the so-called new urban history, much research is still at an exploratory stage. Whether Marseille’s experiences of urban social transformation are representative or not can only be answered by future research. For the present, the important thing is to identify, delineate, and analyze the various transformations that occurred and to trace the interrelations between them. Given constraints of time and money, this is only possible at the level of a local study, where detailed information allows an examination of the fine structures of urban social life (Sewell 1985, 5). Philosophen, die mit Erklärungstheorie vertraut sind, könnte hier und im Rest dieser Studie irritieren, dass Sewell an den zentralen Stellen, an denen er preisgibt, was er anzustreben gedenkt, einfach keine Warum-Frage aus der Feder fließen möchte, bis auf wenige Ausnahmen. Wir können aber festhalten, dass auch Sewell hinter dem Problem der „Repräsentativität“ die Frage stellt, mit der bei anderen Autoren (z. B. Stephenson 1988, Stone 2003) das Problem der „Signifikanz“ oder der „Bedeutung“ des hypothetisch Angenommenen ins Zentrum gerückt wird, zu dessen Lösung Geschichtswissenschaftler zum Vergleich greifen. Das Problem hinter der Frage nach Vergleichsfällen scheint ganz einfach zu sein, ob etwas im Kontrast interessant, relevant oder sonst wie bemerkenswert ist. Es hilft manchen Geschichtswissenschaftlern scheinbar wenig, bloß zu wissen zu glauben, dass das englische statistische Durchschnittsschaf (siehe unten) in der Periode von 1250 bis 1260 10 Kilo Wolle auf die Waage brachte. Interessanter scheint es für Geschichtswissenschaftler manchmal zu sein, wenn sie zusätzlich noch wissen, dass das Durchschnittsschaf zwischen 1350-1360 20 Kilo produzierte, das Durchschnittsschaf für das Jahr 1450-1460 aber bloß 5 Kilo. Marc Bloch behauptete entsprechend (2002 1949, 49), „daß es ohne Vergleichsmöglichkeit keine wirkliche Erkenntnis geben kann“. So etwas findet sich allein in der Mini-„Anatomie“ häufiger. Auch Medick (1996, z. B. 98) kontrastiert Entwicklungen von oder in unterschiedlichen Gebieten, Städten oder Dörfern, bevor er weitere Fragen stellt. tors? This chapter examines the shifting patterns of men’s social mobility in nineteenth-century Marseille. It attempts to show how the changing shape of the male occupational structure interacted with the changing recruitment of young men into the labor force – above all with rising immigration – to create particular patterns of upward and downward mobility, of opportunity and blockage, of movement across class boundaries and recruitment from within. The following chapter will take up the distinct but related question of women’s social mobility“ (ebd. 234).

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

Welche Quellen verwendet Sewell als Grundlage für seine Daten und welchen Schwierigkeiten begegnet er dabei im Rahmen seines Ansatzes? Eine metageschichtswissenschaftliche Frage ist schließlich, wie es möglich sein soll, etwas über „social structure“, die „fine structure“, und „social mobility“ in einer Stadt vor mehr als 150 Jahren herauszufinden: Like many other works in the now thriving genre of urban social history, it attempts to reconstruct the experiences of ordinary urban dwellers, rather than chronicling the affairs of the city’s most prominent citizens. The problem of documentation posed by this approach are by now quite familiar to professional historians. Prominent people – this is true by definition – left their mark in the documents traditionally utilized by historians: memoirs, government records, newspapers, and the like. But the information such documents provide about other groups or classes of the urban population is normally scattered, biased, and unsystematic, clearly insufficient for a serious history of the general citizenry. However, even the most obscure citizens – at least in the modern world – come into contact with the apparatus of the state at some points in their lives, and the state keeps records of the contacts. They are counted by the census taker; they are born, married, and buried, and these events are certified and recorded by state officials; they pay taxes, and the state assesses their property and notes the amount of the payment; occasionally they get into trouble with the law, and the state records the nature of their offense and the court’s judgment. Of course, these sources give only a very limited description of the individuals who compose the population; but what they lack in detail they more than make up in the comprehensiveness of their coverage. By subjecting these „bureaucratic“ sources to quantitative analysis, it is possible to reconstruct important life experiences of a representative cross-section of the urban population (Sewell 1985, 5 f.). Von der etwas seltsamen Verwendungsweise des Englischen „experience“ in den Sozialwissenschaften sollte man sich an dieser Stelle nicht verwirren lassen (siehe auch Tilly 1990a), denn über die Geisteszustände von Individuen sagen Sewells Quellen vermutlich wenig bis nichts aus und zudem interessieren sie Sewell auch eher nicht. Beispielsweise glaubt Sewell, aufgrund der Registrierung der Geburtsorte der Ehegatten in Heiratsregistern etwas über ihre Herkunft und darüber hinaus über demographische Muster aussagen zu können, z. B. woher die Gesamtheit der Immigranten bzw. bestimmte Gruppen (7.3.1, 8.1) anteilsmäßig stammte. Da die Berufe der Väter der Ehepartner auch vermerkt sind, glaubt er, etwas über den sozioökonomischen Hintergrund aussagen zu können und untersuchen zu können, ob die Immigranten in Marseille aus verschiedenen Regionen diesbezüglich Muster aufweisen (vgl. Sewell 1985, 9), und letztlich auch über soziale Mobilität, d. h. „movement of individuals into and within the social structure of Marseille“ (ebd. 9). Ob die Heirat aber eine Liebesheirat war, geben zumindest diese Quellen nicht her, interessiert Sewell hier jedoch auch nicht, weil dies für seine Fragen irrelevant sein dürfte. Auch mögliche Handlungsgründe für Migration interessieren Sewell eher nicht, vermutlich auch, weil die Quellen darüber keine Daten liefern. Dies sei hier angemerkt, da von Geschichtswissenschaftlern in der Philosophie häufiger behauptet wird, sie beschrieben Mentales. Dabei handelt es sich um eine recht häufig zu machende Beobachtung, auf die wir noch zurückkommen (4.2). Selbst in der Studie von Medick (1996), die als mikrohistorisches Unterfangen (Medick 1984a/b) sich vornimmt, bei kleinen Leuten bzw. im Lokalen ihren Ausgang zu nehmen, erfährt man größtenteils wenig bis nichts über das geistige Inventar der Köpfe von z. B. Johannes Schwenk (1749-1812), Peter Näher (1734-1802 t) und Barbara Stuhlinger (1736-1794), obwohl Medick z. B. begründet behaupten kann, dass Barbara

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Stuhlinger Peter Näher am 12.8.1761 geheiratet hat und die Tochter des Webers Johannes Stuhlinger (1702-1774) war, der 1743 ein liegenschaftliches Vermögen von 165 fl. und ein Gewerbevermögen von 25 fl. vorweisen konnte. Dessen zweite Frau war übrigens – für diejenigen Leser, die an der Vermehrung ihres historischen Wissens interessiert sind, sei dies vermerkt – Margareta Betz (Medick 1996, 237; vgl. auch Goubert 1956, 64 ff.). W. Schmitthenner hat treffend auf den Punkt gebracht, was in anderen Kontexten noch relevant sein wird (4.2) und von Philosophen in seiner Relevanz unterschätzt wird: „Mehr als das – aus welchen Gründen auch immer – Erhaltene steht der kritischen Auswertung doch nicht zur Verfügung“ (Schmitthenner 1952, 11). Doch zurück zu Sewells zentralem Anliegen, das er oben mit „understanding“ (Kapitel 4.2) zu beschreiben schien, obwohl es um Geist und „Sinn“ wohl kaum geht, denn Sewell lässt es sich schon in der Einleitung nicht nehmen, seinen Ansatz von einem damals wohl verbreiteten abzugrenzen: This book approaches social mobility from a very different angle. It attempts to demonstrate that, at least in Marseille, variations in social-mobility patterns overtime are largely determined by changes in the composition of, demand for, and supply of labor. In Marseille, the amount of upward mobility from peasant or working-class birth to nonmanual or bourgeois status at the time of marriage rose substantially between the early 1820s and the late 1860s. But most of this rise in upward mobility can be explained by two macrostructural changes: first, a massive increase in migration of rural and small-town men and women, which biased the occupational origins of the labor force downward, and, second, a change in the economy that increased opportunities for nonmanual jobs more rapidly than opportunities for manual jobs. The increase in upward mobility was not the result of any dramatic „opening“ or „democratization“ of the basic structure of society; it arose mainly from shifts in patterns of demand and supply in the labor market (Sewell 1986, 10). Social mobility is best understood not from the perspective of political consciousness or social justice, but from the perspective of large-scale changes in the structure of economy and society. Mobility, this book argues, depends on structure (Sewell 1986, 11). Auch diese makrogeschichtswissenschaftlich oder makrosoziologische Hypothese dürfte implizieren, dass die „experiences“ von Individuen für Sewell eher irrelevant sind, zumindest irrelevant für Sewells Modell. Heißt dann aber nun, dass Veränderungen der Mobilität von Veränderungen desjenigen, was Sewell „Struktur“ nennt, abhängen („determined by“), dass etwas Soziales (ein „Makro“) etwas Soziales (ein „Makro“) „determiniert“ oder verursacht? 64 Vermutlich haben wir es hier mit einem Beispiel dessen zu tun, was Tilly (1990a) „kollektive Biographie“ nennt und als typisch für frühere Sozialgeschichtswissenschaft ausgibt. Sewell nennt es (s. o.) ein „soziologisches Portrait“. Am Rande sei bemerkt, dass Sewell, soweit ich sehe, nicht explizit erläutert, was er mit „Struktur“ meint, was dafür sprechen könnte, dass seiner Leserschaft dies klar gewesen ist. Das könnten zwei Anlässe für philosophisches Nachdenken sein. Mancher Leser wird sich hier schon fragen, ob allein die bisher kursorisch gesichteten Geschichtswissenschaftler mit „Struktur“ eigentlich dasselbe meinen.65 Und was 64 65

Nach langem Vorlauf kommen wir auf solche Fragen in einem allgemeineren Kontext in Kapitel 7 zurück, in der Ontologie. Wir kommen auf die Problematik nach langem Vorlauf zurück (Kapitel 7.3.4, 7.3.4.1).

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

zeigen eigentlich die Abbildung 2 sowie die Abbildung 3? Außerhalb eines philosophischen Kontextes wird man diese Frage nicht unbedingt für spannend halten, aber die Antworten sind alles andere als klar. Man kann sich z. B. fragen, welche ontologischen Kategorien dort eigentlich eine Rolle spielen und ob dann eine realistische oder anti-realitische Deutung von Sewells „Geschichte“ nahe liegt. Dazu benötigt man allerdings eine Ontologie (Kapitel 7). Wie man sicherlich bemerkt hat, haben wir uns hier fast die ganze Zeit innerhalb der wenigen Seiten der Einleitung bewegt, wobei das Weitere der Studie in der Durchführung dem Programm recht gut entspricht, aber natürlich komplex ist. Sewell ist auch Autor einer jüngeren Geschichtstheorie, in der er eher kritisch auf seine „quantitative“ Phase zurücksieht und einen „interpretativen“ Ansatz favorisiert. Diese Geschichtstheorie wurde von philosophischer Seite verrissen (Tucker 2007) und wohl als irrelevant eingestuft. 3.1.6 Jerzy Topolski In verschiedenen Aufsätzen, die in dem Band „The Manorial Economy in Early-Modern EastCentral Europe: Origins, Development and Consequences“ (1994) wiederveröffentlich sind66, hat sich Jerzy Topolski mit einigen – wie er es nennt – „principal processes“ (1974, 341), „general processes“ (1981, 373), „processus“ (1988, 3), „historical processes“ (1981, 374) und, wie er es auch nennt, „mechanisms“ (1981, 373; „mécanisme de l’évolution historique“, 1975, 137) oder einem „meccanismo di cambiamenti“ (1979, xiii) beschäftigt. Er nennt dasjenige, was zu erforschen gilt, jedoch auch – etwas verwirrend – „modèle“ (1988, 3). Das verwirrt, weil man unter Modellen normalerweise eine Repräsentation von etwas versteht und nicht den Gegenstand einer Repräsentation, zumindest ontologische Realisten glauben das (7.1). Topolski schreibt auch von dem, was er „le (!) processus historique“ (1975, 137) auch in seinen metatheoretischen Schriften nennt (z. B. Topolski 1991, 333; siehe zur Problematik Kapitel 7.3.5 und 2.1). Vor dem Hintergrund der immer mal wiederkehrenden Thesen über die Irrelevanz der Metatheorie (2.2) ist an Topolskis Forschung besonders der vergleichsweise direkte Bezug seiner geschichts- oder metatheoretischen Überlegungen zu dieser Forschung bemerkenswert. Leider sind einige von Topolskis geschichtstheoretischen Büchern nach wie vor nur in polnischer Sprache verfügbar und daher hier unzugänglich. Beachtlich ist nämlich auch, dass Topolski in den 60er und 70er Jahren vor dem Hintergrund einer Marxianisch inspirierten Geschichtsontologie- oder Sozialtheorieskizze eine Frühform von Makro-Mikro-MakroOntologie und -Methodologie zu entwickeln versucht hat, die als ein früher Versuch nicht weniger beachtlich ist als spätere „Badewannen“-Ontologien und -Methodologien (Lindenberg 1977, Boudon 1980, Coleman 1994, Esser 1996, Hedström 2005). Topolski hat auch wiederholt (1978, 6) die Trennung von Ontologie und Methodologie in philosophischer und damals seiner Ansicht nach von „Positivismus“ und „Individualismus“ (Kapitel 7.1) durchzogener Erklärungsphilosophie kritisiert. Es scheint so zu sein, dass Topolski häufig „Prozess“ das ontische Explanandum seiner geschichtswissenschaftlichen Forschung nannte und – allerdings prima facie in vielerlei Bedeutungen – „Mechanismus“ dasjenige, was die Erklärung liefert. Hauptgegenstände seiner Forschung sind hier „the rise of capitalism in Western Europe“ und „the rise of a ‚new‘ serfdom and manorial-serf economy in Central and Eastern Europe“ (Topolski 1974, 341). Letzteres nennt er auch die Entstehung des „manorial systems“ (To66

Ich zitiere die Aufsätze nach den Seitenzahlen der Originalbeiträge, die in dem Sammelband beibehalten wurden. Die einzelnen Titel finden sich im Literaturverzeichnis.

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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polski 1974, 350). Topolski glaubt also, dass etwas, das er manchmal „Kapitalismus” nennt, entstanden ist und dass etwas, das er häufig „feudales System” (1981, 400) nennt, verschwunden ist. Dies ist Ausdruck seines sozialontologischen Realismus (7.1) in forschungspraktischer Umsetzung. Zu den zentralen sozialtheoretischen oder geschichtsontologischen Kategorien, die Topolski neben „Prozess” und „Mechanismus” mit tendenziell realistischer Zunge sowohl in seinen geschichtswissenschaftlichen wie in seinen geschichtstheoretischen Schriften verwendet, gehören vor allem „System” und stellenweise „Situation” (z. B. Topolski 1974, 1978). Das heißt kurz, Topolski glaubt an die Existenz dessen, was mit diesen Kategorien auch in konkreten Forschungsprojekten bezeichnet wird.67 Topolski hat auch zur Entstehung des Kapitalismus mit „La nascita del capitalismo in Europa. Crisi economica e accumulazione originarie fra XIV e XVII secolo“ (1979 1965) eine Monographie verfasst oder auch zu beiden obigen „Prozessen“. Leider ist die polnische Originalschrift nie ins Englische übersetzt worden, im Unterschied zu Topolskis geschichtstheoretischem Hauptwerk (Topolski 1976 ca. 1969). Die verstreute Textgrundlage, die auch aus verschiedenen Phasen aus Topolskis Schaffen stammt, erschwert eine genauere Analyse genauso wie die Vielfalt der Sprachen, in denen Topolski publizierte. Wir wollen aber dennoch grob herauszufinden versuchen, was Topolski vorhatte und was ihm bei der Erreichung des Ziels vorschwebte. Wie beschreibt Topolski zunächst selbst die Zwecke oder Ziele seiner makrogeschichtswissenschaftlichen Forschung? Die zentralen Ausdrücke, die fallen, wenn Topolski über seine Ziele oder die in seiner Forschungstradition stehenden Ziele schreibt, die ich, wie gesagt, nicht als selbstverständlich erachte (2.3), sind „comprendre pleinement le mécanisme de l’évolution historique“ (1975, 137), „comprendre la vie économique d’une époque donnée“ (1975, 138), „reconstruire le mécanisme de prise de décision économique par les paysans“ (1975, 145 f.), „progress in explaining“ (1974, 341) „understanding of the general processes of economic and social developement in pre-industrial Europe“ (1981, 373), „l’explication des mécanismes“ (1988, 7) oder schlicht „explication“ (1988, 14).68 Was Topolski verstehen möchte, nennt er manchmal „Prozess“, manchmal auch „Mechanismus“, und bei beidem handelt es sich um etwas, das Topolski (z. B. 1991) manchmal „objektiv“ nennt, also Soziales, und nicht Individuelles, das er manchmal „subjektiv“ nennt. Topolski wunderte sich über den Stand der Forschung zum damaligen Zeitpunkt verschiedentlich wie folgt: It seems astonishing that both these processes, which took place at the same time, are usually analyzed separately. They are indeed so different, if not completely opposite, that on the surface such separation may seem justified. But is it really? (Topolski 1974, 341; vgl. Topolski 1967.) Topolski möchte zudem zweierlei: Er möchte „fallacies of older theories“ dadurch beseitigen, dass er „Europa als Ganzes“ analysiert. Topolskis Formulierungen seien im Original zitiert: This paper will try to avoid some of the fallacies of older theories, first of all their insufficient (although in many cases apparently broad) reference to the comparative method. Europe will be analyzed as a whole in order to show general processes and 67 68

Zur Problematik im Umfeld unterschiedlicher ontologischer oder sozialontologischer Realismen, Individualismus und Holismus, siehe z. B. Kapitel 7.1. Als Topolski (1974, 343) einmal feststellt, ein „Phänomen“ bleibe dem Eindruck von Geschichtswissenschaftlern zufolge „unexplained“, schreibt er, dies veranlasse zu „new attempts of interpretation“.

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their causes, and only after this first stage of analysis will more attention be paid to regional phenomena and their explanation. This approach should show the relation of our explanation to other theories (Topolski 1974, 343 f.). Glaubt man Topolski, dann gab es vielerlei Theorien zur Lösung der Hauptprobleme, z. B. bezogen auf den Osten eine „militärische Theorie“, eine „klimatische Theorie“, eine „ethnische Theorie“ und verschiedene ökonomische Theorien (Topolski 1967). Topolski sieht also Europa in der Frühen Neuzeit als Ganzes an, in dem es zudem „generelle Prozesse und ihre Ursachen“ überall (rekonstruktiv) zu beobachten gibt. Das ist systematisch betrachtet – also unter Abstraktion von konkreten Forschungsprozessen der Genese dieser Sicht – die erste Stufe der „Analyse“. In der zweiten Stufe geht es offenbar darum, die Spezifik „regionaler Phänomene“ einzufangen. In gewissem Sinne ist schon dies bemerkenswert, denn Topolski betreibt vergleichende Makrogeschichtswissenschaft, strebt aber auf den ersten Blick betrachtet nichts anderes an als dasjenige, was der „Mikro“-Geschichtswissenschaftler und -Geschichtstheoretiker Medick (1996) 20 Jahre später formulierte, bloß in weitaus größerem Maßstab. Topolskis Fokus ist aber leicht anders, denn vor dem Hintergrund oder, vielleicht besser gesagt, aufgrund des Hintergrunds seiner (analytischen) Theorie der Geschichtswissenschaft hält Topolski sozusagen am Primat der Erklärung fest. Topolskis Annahme ist nun, dass dasjenige, was er „general processes and their causes“ nennt, gerade jene regionale Spezifik nicht erklärt, die er einer Erklärung zufügen möchte und die sich nur vor dem Hintergrund der globalen Betrachtung von ganz Europa überhaupt ergibt. Topolski zufolge gab es spätestens ab dem 16. Jahrhundert überall in Europa einen Rückgang der Einnahmen des Adels und eine Zunahme „ökonomischer Aktivität“ des Adels: „néanmoins les formes de cette activité furent différentes“ (Topolski 1967, 109, 1979 1965, 232 f.). Es kann kaum überraschen, dass Topolski über alle diese Studien verteilt irgendwelche Fragen stellt, die er mit erkennbarer Regelmäßigkeit auch explizit formuliert. Was schon eher aus der Perspektive mancher Philosophie der Geschichte überrascht, ist, dass Topolski, auch gerade in den Zeitschriftenartikeln, immer wieder Begründungsprobleme aufwirft und sich fragt, ob eine bestimmte „Theorie“ oder ein „Modell“ begründet ist bzw. ob diese Theorien oder Modelle potenziell begründbar sind, aber dazu eben nicht – wie das z. B. in manchen altgeschichtswissenschaftlichen Studien besonders der Fall ist (z. B. Alpers 1995) oder z. B. in der klassischen „Historischen Methode“ verlangt wird – einen regelrechten, eng geknüpften Fußnotenteppich aufbaut und auch nicht – in irgendeinem Sinn – direkt die vorliegenden Quellen bzw. die Evidenz „erklärt“, wie manche Geschichtsphilosophen fordern (vgl. z. B. Murphey 1973, Tucker 2004a, Kapitel 5.4). Es scheint so zu sein, dass die von Topolski zur Lösung seines Problems für nötig erachtete Anwendung der „vergleichenden Methode“, deren genaue Charakteristik er im Rahmen der herangezogenen Texte nicht expliziert, dies verbietet, denn solch ein Quellenstudium wäre ganz einfach unmöglich, allein schon aufgrund der Kürze eines Forscherlebens.69 Anders formuliert, er stützt sich explizit und teilweise implizit auf die Forschungen anderer Geschichtswissenschaftler, deren Ergebnisse er aber nicht einfach „erzählt“, schließlich hat er ja ein über diese Studien hinausweisendes kognitives Ziel, nämlich „Erklärung“, besser zu „erklären“ und/oder besser zu „verstehen“. Das Hauptproblem seiner Forschung deutet Topolski beispielweise wie folgt an:

69

Geschichtsphilosophische Literatur zu vergleichenden Ansätzen in den Geschichtswissenschaften ist mir derzeit nicht bekannt (außer Lorenz 1997).

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

101

Simplifying the problem, one can say that it der Anstieg der ökonomischen Aktivität, dp was the nobility’s answer to the growth of its need (N) and the decrease of its income (I). Together with the earlier development of the economic activity of the townspeople and the peasantry, the increase in the nobility’s participation in economic life produced as its result what we call the economic boom of the sixteenth century. Because that increase was a new factor in the economic life of sixteenth-century Europe, it may be viewed as the stimulus responsible for mobilizing those processes of primary accumulation which in turn constituted a starting point for the development of capitalism. But what was the reason for the fact that those opportunities for the development of capitalism were not exploited in the majority of the European territories? Why was it that in Central and Eastern Europe a manorial serf-economy grew while capitalism failed to materialize (Topolski 1974, 346)? With these questions we enter into the „lower“ level of our explanation (Topolski 1974, 347). Topolski behauptet, dass in ganz Europa „general phenomena caused in turn by other general phenomena (the decreasing incomes and the new standard of living)“ vorwalteten. Diese „Phänomene” sind in ganz Europa zu finden, also dem umfassendsten von Topolskis Forschungsgegenständen, was hier durch das Wort „generell” bezeichnet wird. Und das heißt für Topolski, dass der Anstieg des „Lebensstandards“ - gemeint ist wohl der Anspruch an den Lebensstandard - und der Fall der Einkommen seine hier gestellten Fragen nicht zufriedenstellend beantworten können, denn diese sind (implizit) kontrastiv.70 Die Frage ist ungefähr: Warum entstanden im Westen Europas kapitalistische Wirtschaftssysteme und nicht im Osten, obwohl dort dieselben „allgemeinen Phänomene“ gegeben waren? Eine analoge Frage bezogen auf den Osten Europas ist: Warum entstand im Osten Europas eine Gutsherrschaft auf der Basis von Sklavenarbeit („corvée“) und keine „kapitalistische“, obwohl dort dieselben „allgemeinen Phänomene“ vorlagen? Obwohl Topolski dies nicht immer direkt so ausspricht und auch diese Fragen nach meinem Eindruck nicht immer explizit so formuliert, erklärt ein Verweis auf diese „allgemeinen Phänomene“ seine Erklärungsgegenstände (Explananda) nicht, weil diese Informationen die (implizit) kontrastiv formulierten Fragen nicht zufriedenstellend beantworten: „… does not explain the differences in the forms of that activity in the various countries“ (Topolski 1981, 395). Topolski lehnt also auch ab, solche „general phenomena“ z. B. als sogenannte „notwendige Bedingungen“ für das zu Erklärende aufzufassen und damit eine Erklärung bereits als vorliegend anzusehen (ähnlich Hempel 1965), was seine Forschung unnötig machen würde. Generell ist es so, dass nach Topolski die Angabe von „notwendigen Bedingungen“ 71 zwar die Reflexion erweitern können und erhellend sein können: „Mais cette reflexion ne peut pas remplacer une explication“ (Topolski 1988, 14). Wir wollen hier etwas frei extrapolieren, dass eine Erweiterung der Reflexion darin liegen könnte, dass das obige kontrastive Problem damit möglich wird. Die von Topolski gesuchte Erklärung muss also woanders liegen. Wo?:

70 71

Siehe dazu im erklärungstheoretischen und zugleich im geschichtswissenschaftlichen Kontext z. B. Day (2009), van Bouwel/Weber (2008), ferner klassisch van Fraassen (1988). Leider wird nie gesagt, was damit ontisch im Soziohistorischen gemeint ist (siehe auch Kapitel 6 oder Plenge 2014c), denn „notwendige Bedingungen“ im logischen Sinn bedingen realiter oder ontisch rein gar nichts.

102

3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

The difference in form taken by the European nobility’s economic activity depends on different factors. Those factors may be divided into three groups: (1) land/labor ratio; (2) market for agricultural production; (3) natural conditions (Topolski 1974, 347). Wir wollen festhalten, dass Topolski hier implizit im Vergleich zu oben eine etwas andere Frage stellt, nämlich die Frage nach der Form der Aktivitäten der europäischen Nobilität. An anderer Stelle (Topolski 1981, 395) heißt es entsprechend: „Why did the English feudal lords resort to sheep breeding, the Bohemian lords to a pond economy, and the Polish lords to cereal growing on their own demesne farms?“72 Kurz gesagt, hier geht es um Typen von Handlungen/Entscheidungen. Zuvor ging es in den Fragestellungen eher um die Entstehung von Systemen. Man könnte in Topolskis Vokabular sagen, das zu lösende Problem wird mal in „objektivistischem“ Vokabular formuliert („factor“), mal in „subjektivistischem“ („need“, „new standard of living“, „decrease in income“). Vor dem Hintergrund des Marxianischen Einflusses auf Topolskis metatheoretisches Denken und Forschen ist dies nicht überraschend: Afin de comprendre la vie économique d’une époque donnée, il est … nécessaire d’analyser d’une part les effets de l’activité humaine exprimés dans les catégories comme la production globale, le revenu national, les fluctuations de prix etc., et d’analyser d’autre part la manière dont ces catégories ont résulté d’actions humaines. De cette façon, nous abordons le problème de prise de décision des individus et des groupes humains. Cependant, sans la reconstruction de ce que nous avons appelé „la structure des motivations“, il est impossible d’expliquer les différents éléments du processus historique (Topolski 1975, 137 f.). Wenn man etwas in Topolskis Forschungsfeld „verstehen“ will, dann muss man also „objektive Kategorien“ erforschen, die selbst als die „Effekte“ menschlicher „Aktivitäten“ gelten, wobei man erforschen muss, wie es zu diesen „Kategorien“ gekommen ist, was offenbar mit Entscheidungen und der sogenannten „Struktur der Motivation“ zu tun hat. Prinzipiell lässt sich auch Topolskis Verbindungsversuch der „analyse du court terme (qui concerne les décisions et les actions humaines)“ und der „analyse de la longue durée (qui peut être vue comme le résultat global des activités des individus, des groupes, des classes sociales, des institutions etc.)“73 (Topolski 1983b, 20) hier einfangen, denn jene „Kategorien“ können ihm zufolge eine lange Genese hinter sich haben und spielen – metaphorisch gesagt (7.4, 7.5) – im Kontext des (immer) kurzfristig orientierten Handelns eine Rolle. In den spätesten Formulierungen heißt es ebenso metaphorisch, „in historical narratives human actions are intertwined with ‚objective‘ factors which cannot be interpreted in terms of human actions“ (Topolski 1991, 333). Jene objektiven Faktoren nennt Topolski auch teilweise „external events“ oder „unintended consequences of human action“ (Topolski 1991, 334).74 72

73 74

Die Frage wird zuvor wie folgt angedeutet (Topolski 1981, 394): „What, then, were the causes of the refeudalization processes in Eastern Europe?“ Im Anschluss nennt er die obigen „general causes“. Hier haben wir einen der seltenen Fälle, in denen explizit in einer Frage das Wort „Ursachen“ verwendet wird. Das Wort ist zwar nicht alles, aber dennoch das beste Datum für die Zuschreibung von Kausalhypothesen. Auf ontologische Problematiken, die in solchen Äußerungen zu vermuten sind, kommen wir in Kapitel 7. In Topolski 1978, 7 heißt es: „The ‚objectivity‘ of conditions means that these conditions are independent of the kind of actions undertaken at present, although they are the results of former human actions. They are only partly intended. Men ‚produce‘ the historical process tending to realize their own aims and ends but at the same time (assuming their rationality) they must take into consideration the global effects of previous human activity.“

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

103

Bei jenen „unintendierten Handlungsfolgen“ handelt es sich Topolski zufolge um einen von zwei Typen von „historischen Tatsachen“, die in der „historischen Wissenschaft“ („scienza storica“) erklärt würden. Neben „menschlichen Handlungen (die Handlungsentscheidungen und die Handlungen selbst)“ würde auch etwas erklärt, was Topolski „Fakten, die nicht in die Kategorien des menschlichen Handelns fallen“ nennt, beispielsweise u. a. „die Geburt des Kapitalismus“ und anderes Soziales, also zumindest nichts Individuelles, worum auch immer es sich genauer handeln mag (Kapitel 7). Letzteres nennt Topolski auch den „historischen Prozess im strikten Sinn“ (Topolski 1983, 841; vgl. 2.1). Offensichtlich stecken hier eine Menge Probleme, die man „philosophisch“ nennen könnte, die nicht nur in metatheoretischen Texten eine Rolle spielen. Die Rede vom „Ineinandergreifen“ und „Verflechten“ („intertwine“) von „objektiven Faktoren“ und menschlichem Handeln umschreibt das zugleich ontologische, theoretische wie auch methodologische Problem von Makro-Mikro-Verbindungen.75 Bekanntlich ist es mittlerweile altehrwürdig, aber eventuell noch immer nicht zur Zufriedenheit aller gelöst. Worum handelt es sich Topolski zufolge bei der „Struktur der Motivation“? In Kurzform handelt es sich bei der „Struktur der Motivation“, die Topolski gegenstandsbezogen oder ontologisch auch als „Situation“ (7.1) und methodologisch als „humanistic interpretation model“ bezeichnet, um eine Menge von Elemente „Sm=“, wobei das heißen soll, dass sich die „motivationale Struktur“ SM aus „P“ für „purpose of action, K-knowledge about the conditions of actions, V-values, norms, beliefs, E-emotional element“ zusammensetze (Topolski 1978, 11 f.). Die „objektiven“ „Bedingungen“ oder „Kategorien“, die er auch „die externe Situation“ (7.2) nennt, die also außerhalb eines Akteurs anzusiedeln sind, gehören nicht zu dieser Motivationsstruktur (vgl. teilweise ähnlich, teilweise anders noch Hedström 2008). Topolskis Handlungserklärungsvorstellung ist in den vorliegenden Texten nicht immer ganz transparent und wird in der letzten Äußerung in metatheoretischen Texten (Topolski 1991) nicht thematisiert, obwohl das Forschungsbeispiel identisch bleibt. Den Kennern der handlungsphilosophischen geschichtstheoretischen Tradition (Kapitel 6.2) fällt hier auf, dass zwar gesagt wird, woraus sozusagen die „motivationale Struktur“ besteht, aber keinerlei Verbindung jener „Struktur“ mit der Ausführung einer Handlung zu finden ist. Es handelt sich bloß um eine lose Liste von „Faktoren“, die aber nicht besagt, unter welchen Ausprägungen der Faktoren eine Handlung erfolgt. Das korrespondiert mit Topolskis Auffassung, in Handlungserklärungen keine „Gesetze“ (Kapitel 6.1) zu kennen. Eine in solchen Erklärungen zu findende „rationality assumption“ (Topolski 1978, 11), die er allerdings kaum genauer formuliert, sei kein Gesetz. Auch andere Formulierungen waren damals schon erstaunlich ähnlich wie bei heutigen „Erklärenden Soziologen“ (z. B. Schmid 2006a, Schmid/Maurer 2010), die sich als „individualistisch“ verstehen, wohl im Unterschied zu Topolski, der Individualismus (Kapitel 7.1) an verschiedenen Orten ablehnte: Les gens agissaient en court terme pour satisfaire leurs exigeances de vie selon leur status social et ne se rendaient pas compte en général des résultats à long terme ‚produits‘ par eux lors de leur actions quotidiennes. Ils agissaient en tenant compte (d’une 75

Das methodologische Makro-Mikro-Problem besteht darin, wie jenes bei Topolski teilweise „externe Situation“ Genannte mit demjenigen hypothetisch verbunden werden kann, was Topolski „Struktur der Motivation“ nennt. Da die Frage sein kann, welche Theorien hier verwendet werden müssen, kann es ein theoretisches Problem sein. Die ontologische Makro-Mikro-Problematik umfasst, worum es sich eigentlich bei den „objektiv“ genannten Irgendwassen genauer handelt und wie jene „Verbindung“ („Einfluss“, „Verursachung“, „Determination“, „Bedingung“, „Folge“) von Mikro mit Makro aufzufassen ist. Wir kommen auch darauf in einem weiteren Kontext zurück, nämlich spätestens in 7.4 und 7.5.

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

manière plus au moins adéquate) des changements provoqués par eux (Topolski 1983, 20). Il faut donc admettre que la dynamique du court terme et que la dynamique de la longue durée par les interdépendences constantes présentent un processus historique unique et que chaque séparation rend difficile l’explication de ce processus (ebd., Hervorhebung dp ;siehe 2.1). Die Modellvorstellung, die Topolski nun zunächst vorschwebt und vielleicht auch einen der obiger „Mechanismen“ modellieren soll, ist in Abbildung 4 von Topolski selbst dargestellt. Über die „generellen Ursachen“ in Gesamteuropa und die spezifischen „Ursachen“ heißt es stellenweise explizit wie folgt: Our explanation developed a two-level analysis. On the first of these levels we tried to reveal the general causes of some European phenomena such as the decrease of the incomes of the nobility and the reaction of the nobility to that decrease. On the second level, we tended to show the specific causes which shaped that reaction differently in different regions and different times. With this distinction in mind it is easy to demonstrate the place of existing theories in our explanatory scheme (Topolski 1974, 351 f.). Günstige Bedingungen für den Verkauf von Agrarprodukten und bäuerliche Knechtschaft

Verringerung der Einkünfte des Adels

„Covering Law“

Bedrohung des sozialen Status der Nobilität

Reaktion des Adels: Zunahme ihrer ökonomischen Aktivität

„humanistische“, „motivationale“ oder „rationale“ Erklärung

Abbildung 4

Gründung von auf bäuerlicher Knechtschaft gründenden Agrarunternehmen

Richtung der Aufmerksamkeit auf Bedingungen des Handelns, speziell über die Verkaufsmöglichkeiten von Agrarprodukten und die Existenz bäuerlicher Knechtschaft

Die Frühform einer Boudon-Coleman-Badewanne im Anschluss an Jerzy Topolski (Topolski 1983a, 846). Topolskis Modellvorstellungen wird hier grob in die Makro-Mikro-Makro-Heuristik überführt wird.

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

105

Der letzte Satz ist eine Anspielung darauf, dass die existierenden Theorien in der geschichtswissenschaftlichen Forschung manchmal eher rein „subjektiv“ oder „rein objektiv“ waren. Topolski schwebte eine nicht immer ganz klare Verbindung oder „Integration“ dieser Theorien bzw. auch von entsprechenden methodologischen Traditionen vor. Anders gesagt: Sein metasozialwissenschaftliches Problem war die Schließung der Makro-Mikro-Lücke wie auch der Mikro-Makro-Lücke, die sich in rein subjektiven und rein objektiven Ansätzen ergibt. Subjektivistische Ansätze kennen kein Makro-Mikro-Problem und streng objektivistische Ansätze kennen zudem kein Mikro-Makro-Problem.76 Wir können das hier nicht weiter im Detail zu rekonstruieren versuchen, aber Topolski fasst diese Verbindung von „objektiven“ und „subjektiven“ „Faktoren“ als eine Verbindung von Covering-Law-Modellen („objektiv“) und demjenigen, was er ein „humanistisches“ Handlungserklärungsmodell nennt („subjektiv“). Eine Covering Law-Erklärung beschreibt dann die objektiven „Ursachen“ in unten beschriebener Art, wobei Topolski die allgemeine Prämisse für ein „Gesetz“ hielt, das „immer“ und „notwendig“ gelten oder, wie Topolski auch schreibt, eine „essential connection among facts“ beschreiben soll. Die Gesetzmäßigkeit (Kapitel 6.1) sei aber nur „temporal beschränkt“ auf die „feudale Epoche“ (Topolski 1978, 3, 5, 14). Zugleich hält er die objektiven „Kategorien“ für die notwendige und zugleich hinreichenden „Bedingungen“ der „Wirkung“ (Topolski 1991, 335, 332), weshalb er teilweise abweichende Formulierungen wählte (Topolski 1983, 1991): (1) In all territories where the coexistence of market possibilities for the sale of rural products and a serfdom of peasantry took place, the manorial-serf economy appeared and developed; (2) Poland represented in the early modern time such a case: (3) In Poland the manorial-serf economy appeared and developed in early modern time (Topolski 1978, 13). An dieser Stelle, an der Topolski auf Studien von J. Rutkowski zurückgreift, fällt auf, dass in dieser Prima-facie-Covering-Law-Erklärung (Kapitel 6) „objektive Kategorien” beschrieben werden und durch die Gesetzesaussage (logisch) mit dem Explanandum per Implikation verbunden werden. Die Erklärung ähnelt diesbezüglich den Makro-Erklärungen von sozialen Revolutionen von T. Skocpol (1979; Kapitel 6.1). Topolski scheint diese Covering Law-Erklärung zudem als kausale Erklärung aufzufassen, was trotz einer traditionellen Deutung des deduktiv-nomologischen Modells keineswegs so sein muss (Kapitel 6.1). Der Klarheit willen möchte ich unterstellen, dass dies heißt, dass diese objektiven „Kategorien” auf das objektive „Ereignis”, nämlich die Entstehung einer „manorial-serf economy”, wirken, obwohl solche Deutungen im philosophischen Rahmen immer heikel sind (Kapitel 6.1, 6.3, 7.3.8, 7.4, 7.5) und gerade unklar ist, was „wirken“ überhaupt meinen könnte. Topolski ist aber stellenweise eindeutig genug und schreibt explizit von „Ursachen” und einer „Wirkung” bezogen auf diesen Fall (Topolski 1978, 35). Diese „objektiven” Erklärungen sind – wie Topolski (1991, 334 f.) wiederholt schreibt – also kausal. Das soll also heißen, dasjenige, was Topolski mit „the coexistence of market possibilities for the sale of rural products and a serfdom of peasantry took place” beschreibt, verursacht dasjenige oder wirkt auf dasjenige, was Topolski die Entstehung der „manorial-serf economy” nennt . Das wäre offenbar ansatzweise eine Erklärung, die manche „holistisch“ nennen würden. Weil in Topolskis Geschichtsontologie aber auch gilt, „it is only human being who make history” (Topolski 1991, 334, Hervorhebung dp) und es ferner heißt, dass kein „Faktor (ob öko76

Was genau mit „Makro“ und „Mikro“ gemeint ist, ist im Allgemeinen wohl eher unklar; siehe auch 7.3.7.

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

nomisch, geographisch, religiös oder etwas anderes) von sich agiert, ohne die Teilnahme des Menschen” (Topolski 1983, 846), ist diese Erklärung Topolski zufolge nicht vollständig, sondern sie muss ergänzt werden um eine subjektive Erklärung. Topolski schreibt auch, beide müssten „integriert” werden. Man erkennt hier erneut das ontologische und methodologische Makro-Mikro-Problem, dessen ontologische Seite bezogen auf eine ontische Relation zwischen Makro- und Mikro-Relata der Philosoph D. Little „Mikrofundierung” nennt (Plenge 2014a). Paradox klingt, dass in dieser Ontologie scheinbar – ganz klar ist mir das nicht – bloß objektive Faktoren „wirken” und nicht jene Akteure, von denen es heißt, sie allein „machten Geschichte” (siehe auch 6.3, 7.3.8, 7.4, 7.5). Auch ist auf den ersten Blick nicht klar, wie es zu verstehen ist, dass in der Prima-facie-Gesetzesaussage (1) die drei Bedingungen notwendig und zugleich hinreichend sind, aber dann noch weiter auf der Mikro-Ebene „substanziiert” werden müssen, denn das kann dann kaum heißen, dass weitere „Bedingungen“ hinzukommen. Zudem kann man sich fragen, wie jene drei „Bedingungen”, die scheinbar als Möglichkeiten (oder in soziologischer Sprache „Opportunitäten”) für Handeln beschrieben werden, was in manchen Formulierungen auch darin zum Ausdruck kommt, dass von der „Existenz” dieser Bedingungen die Rede ist (Topolski 1983, 843), für sich genommen bereits wirken können sollen. Topolski schreibt von der „substantiation of causes and laws in the origin of the entire historical process, human actions and their motivation” (Topolski 1991, 336). Diese Substantiierung hat also eine ontische Seite, zumal oben ja eigentlich ausgeschlossen wurde, dass Objektives von sich aus agieren oder wirken könne. Obwohl Topolski auch von der „Einheit des historischen Prozesses” schreibt, klingt dies zumindest kausalitätsontologisch teilweise nach einer Zwei-Welten-Lehre, was davon abhängt, wie nun jene „Substantiierung“ zu verstehen ist. Topolski schreibt, soweit ich sehe, nicht, wie im Kontrast der Philosoph D. Little beispielsweise schreiben würde, jene Makro„Faktoren” wirkten auf Personen, was eine Vielzahl von philosophischen Problemen ergibt. Gerade im Rahmen solcher Ideen, die andernorts ähnlich verbreitet waren und sind, stellt sich wohl immer die Frage, auf der Basis welcher Philosophie sie plausibel erscheinen (z. B. Kapitel 6.1, 6.3). Was heißt „Substanziierung” oder „Erweiterung” aber genauer? Here we must expand the deductive-nomological model in the direction of the motivational one by posing the question of why the Polish nobility in the sixteenth century organized manors based on serf labor, thus taking advantage of the two favorable conditions (Topolski 1991, 337). Bei den Bedingungen („favorable conditions”) handelt es sich um „the coexistence of market possibilities for the sale of rural products and a serfdom of peasantry“ aus der Gesetzeshypothese, welche wohl durch die drei zuvor genannten Bedingungen spezifizierbar sind („(1) land/labor ratio; (2) market for agricultural production; (3) natural conditions”). Substantiation by reference to human actions and motives answers questions of the type: why (or how) did the general relationship or law contained in the deductivenomological model become relevant for the particular issue being explained? (Topolski 1991, 336). Topolski schreibt auch, dass man auf diese Weise sehe, wie „Möglichkeit in Realität transformiert wird“ (1993, 847), nämlich durch das menschliche Handeln. Wie das zu verstehen

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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ist, bereitet Sozial(meta)theorie bis heute Kopfzerbrechen. Wie funktioniert die Makro-MikroVerbindung grob bei Topolski? So weit ich sehe, hatte Topolski dazu keine theoretische Lösung in dem Sinn, dass er ein explizites Modell in den konkreten Fällen oder im Methodologisch-Abstrakten formuliert hätte, das andere in methodologischer Perspektive ebenfalls mit dem Ausdruck „Mikrofundierung“ belegen (Little 1998, Schmid 2006a). Daher hat man den Eindruck, dass die unterschiedlichen Erklärungsformen, die Topolski „nomologisch“ und/oder „kausal“ auf der Makro-Ebene und „humanistisch“ auf der Mikro-Ebene nennt, nebeneinander existieren und die Verbindung eben nicht hergestellt werden kann.77 In dem spätesten Text, der mir vorliegt, formuliert er folgende „Skizze“ einer Antwort auf die Frage, welche die monographische Antwort aus „La nascita del capitalismo in Europa“ (Topolski 1979 1965) auch zusammenfassen soll: The European nobility in the eighteenth century wanted to increase its incomes, which had been falling since the late Middle Ages; they could achieve this only by economic activity, because other courses of action (such as feudal robbery or confiscation of the property of the church) would not have sufficed. Taking into account the forms of economic activity made possible by natural resources, labor supply, and the market, the English nobility engaged in sheep breeding; the French, without changing the type of production, reorganized it by developing the métayage (crop-sharing) system. On the Iberian peninsula the nobility, besides sheep breeding, starting seeking income through developing production in Latin America, and the nobility of Eastern Europe engaged in various types of farming, mainly producing grain. This labor-intensive activity was made possible by the virtually cost-free labor supplied by the serfs. (In England, where the landlords had to pay for labor power, they engaged in sheep-raising, which is several times less labor-intensive.) (Topolski 1991, 337.) Hier finden wir obige allgemeine Prozesse bzw. „general causes“, die europaweit zu finden waren, im ersten Satz. Im zweiten Satz finden sich die drei obigen „objektiven“ „Kategorien“. Im Anschluss wird behauptet, das „taking into account“ jener objektiven Kategorien habe in England, Frankreich, Spanien und Osteuropa etwas mit Handlungen von Adeligen zu tun (Makro→Mikro) und wir können extrapolieren, dass hier die Erklärung für den Kontrast in den europäischen Regionen liegen soll. Über eine theoretische Verbindung von Annahmen über Objektives („Soziales“) mit Annahmen über die Genese von menschlichen Handlungen verfügte Topolski allem Anschein nach nicht. Man erkennt dies z. B. daran, dass man nichts darüber erfährt, was Akteure mit jenen „objektiven Faktoren“ oder Überzeugungen darüber sozusagen anfangen oder, genauer, welcher Zusammenhang mit Handlungen und/oder Handlungsentscheidungen eigentlich genau besteht. Ich will dies im Vorgriff (6.2) auf Späteres mal wie folgt und aus meiner Sicht formulieren: Es bleibt unklar, was genau handlungs- und/oder entscheidungstheoretische Annahme ist und wie sie im konkreten Fall verwendet wird, z. B. zur Modellierung der hypothetisch angenommenen Makro-Mikro-Verbindung. Zur Ontologie der Makro-Mikro-Verbindung heißt es recht beiläufig:

77

Das scheint Topolski bewusst gewesen zu sein: „We still do not know why these two conditions aus der Gesetzeshypothese, dp, and only these, ‚gave rise’ to the manorial serf economy. Why were these conditions not left dormant or rendered inoperative?” (Topolski 1991, 336). Eine gewisse Skepsis ist auch Frings‘ (2008) Äußerungen zu Topolskis Metatheorie zu entnehmen.

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

The conditions of actions do not influence directly the acting men. People take these conditions into consideration, i. e. the influence of the objective world on men is mediated by human consciousness which is composed of knowledge of the conditions of actions and a system of values (Topolski 1978, 7). Das ist insofern verwunderlich, als hier von „Einfluss“ die Rede ist, obwohl zuvor davon die Rede war, „kausal“ genannte Erklärungen und eventuell auch entsprechende ontische Kausalrelationen gäbe es bei Makro-Makro-Folgen oder -Verbindungen. Worin besteht aber dann der „Einfluss“ des Makro-Mikro-Links? Ich glaube, dass die Details von Topolskis Vorstellung teilweise genauer rekonstruiert werden müssten, weil sie nicht ganz leicht zu verstehen sind, was ich aber hier nicht leisten kann. Wir werden aber wiederholt sehen, dass Topolski viele metatheoretische und insbesondere ontologische Probleme benannt hat, die bis heute geblieben sind. Die jüngeren Erklärenden Soziologien und Sozialen Realismen teilen das ontologische und methodologische Problem, jene „objektiven Bedingungen“ irgendwie in ein „rationales Handlungsmodell“ – metaphorisch gesagt – zu übersetzen. Dabei teilen sie mit Topolski im Großen und Ganzen philosophische Annahmen, nämlich sozialontologischen Realismus und die Situierung des letztlich interessierenden Gegenstands auf einer sozialen Ebene („Makro“). Interessanterweise verstehen sich jene Erklärenden Soziologen als „Individualisten“ (7.1), wohingegen Topolski vor dem Hintergrund einer marxianisch geprägten Metatheorie Individualismus ablehnt.

3.1.7 M. J. Stephenson Dreieinhalb Millionen Schafe beziehungsweise deren Felle („fleeces“) spielen in „Wool Yields in the Medieval Economy“ (1988) von M. J. Stephenson die Hauptrolle. Worin besteht das Ziel der Studie? This study is an attempt to quantify the yield of wool per animal and to detect any trends. Medieval fleece weights will be compared with those of succeeding centuries and also with medieval arable yields. The possible causes of any trend that emerge will be examined and their implication for the profitability of sheep farming will be briefly discussed (Stephenson 1988, 369). Stephensons Studie hat also systematisch betrachtet vier Teile. Es werden (i) (durchschnittliche) Gewichte von Schafwolle für Gruppen von Grundherrschaften („manorials“) in SüdEngland bestimmt. Es wird (ii) nach Trends in der Entwicklung dieses Wertes gesucht, also zeitlichen und gerichteten Verläufen dieser Werte. Nach der „Signifikanz“ dieser Werte wird (iii) im Vergleich mit anderen Jahrhunderten und Sektoren gefragt. Daraus entnehmen wir auch, dass ähnliche Fragen auch andere Geschichtswissenschaftler beschäftigen. Ferner werden darüber hinaus (iv) die „possible causes“ dieser Trends diskutiert.

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

Abbildung 5

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„Index of Winchester estate fleece weights (100 = mean 1210-1454 (1.35 lbs)“ (aus Stephenson 1988, 377) Die hypothetische Repräsentation des Trends des Wollertrags ist ein zentrales Ergebnis der Forschung. Auch hier stellt sich die philosophische Frage, was eigentlich repräsentiert wird.

Von der Zusammenfassung her betrachtet (1988, 389) hat Stephenson seine Ziele erreicht. Im Vergleich zum Weizenertrag und späteren Jahrhunderten waren die Wollerträge bzw. die Schafsproduktivität im mittelalterlichen Süd-England recht hoch (iii). Trends (ii) wurden auf der Basis der erstellten Werte (i) herausgearbeitet. Grosso modo sinken die (durschnittlichen) Wollerträge von 1350 bis 1450 (vgl. Abbildung 5). Stephenson hält für bemerkenswert, dass sich verschiedene individuelle Grundherrschaften und Gruppen von Grundherrschaften ähnlich verhalten, was exogene „Ursachen“ („causes“) außerhalb der Landwirtschaft nahelege. It is remarkable that virtually all the individual manors and all the groups conformed to this general pattern, and that the short-term fluctuations, whether five-year averages or year-on-year variations, also synchronized closely (Stephenson 1988, 378). The coincident nature of these fluctuations in both the short and long term suggests causes exogenous to the agricultural economy (Stephenson 1988, 381). Die Idee ist also, dass es kein Zufall ist, dass die Gruppen von Grundherrschaften oder die in diesen Grundherrschaften beheimateten Schafpopulationen sich ähnlich verhalten, die Werte jener Eigenschaften (siehe dazu 7.3.2) sich also überall ähnlich in der Zeit verhalten. Es scheint also eine gemeinsame „Ursache“ (siehe dazu u. a. Kapitel 6) bzw. gemeinsame Ursachen (im Zeitverlauf) für die jeweils ähnlichen Trends in ähnlichen Grundherrschaften zu

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geben: „The most obvious candidates are epidemic disease and climatic change“ (Stephenson 1988, 381). Das Ergebnis der weiteren Argumentation beziehungsweise der Studie sieht wie folgt aus: „It seems safe to suggest that climatic shifts made a significant contribution to long-term changes in wool yields. Clearly too, the impact of disease (both epidemic and endemic) on fleece weights, and thereby on the national income, was considerable” (Stephen 1988, 389). Fünfundzwanzig Jahre nach Stephensons „Wool Yields in Medieval England“ (1988) kommentiert D. Stone in „The Productivity and Management of Sheep in Late Medieval England“ (2003) diese Studie kritisch und stellt der Makroerklärung auf der Basis vornehmlich rein biotischer Faktoren eine Art Mikrotheorie gegenüber, in der das Management der „manorials” auch oder hauptsächlich zur Erklärung der Trends herangezogen wird, wobei an der Existenz jener Trends nicht gezweifelt wird. Was „Trend” genauer heißt und ob von dessen Existenz gesprochen werden darf, ist schon eine (heikle) metageschichtswissenschaftliche Frage (siehe im Kontext 7.3.5)

3.1.8 Peter Kirby In der Studie „Causes of Short Stature Among Coal-Mining Children, 1823-1850“ knüpft Peter Kirby (1995) an die Anthropometrische Geschichtswissenschaft an und leistet einen Beitrag hierzu. Dabei handelt es sich, wenn man so möchte, um eine Mischung aus Biologie, Soziologie und „Geschichte“ (2.1), also vielleicht eine bio-sozio-historische Forschungslinie.78 Eine der zentralen und eher globalen Hypothesen dieser Forschungsrichtung ist (i) ein Rückgang in der durchschnittlichen Körpergröße in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und (ii) die These, „that this decline resulted largely from poor nutritional status“ (Kirby 1995, 687). Kirby sieht dann einen Mangel in dieser Forschung bzw. kritisiert eine „Unterlassung“, äußert eine Vermutung und gibt preis, was er zu tun gedenkt: Although Floud et al. have compared the stature of broad socio-economic groups, the effects of specific occupations upon historical heights have not been discussed. This omission presumably results from difficulties involved in comparing the heights of a sufficiently large sample of individual occupations drawn from the transportation or recruitment data: yet it might be thought vital to take account of occupational factors affecting historical stature if such influences can be shown to have existed. This article examines whether discrete environmental factors, or height selection by occupation, could have affected the heights of a single occupational group. It presents evidence of short stature among coal-mining children, together with cross-sectional measurements of the heights of children in different occupations who were born between 1823 and 1835. It suggests that occupational environment, and not poor nutritional intake, was the major contributory factor to the comparative short stature of coal miners in the second quarter of the nineteenth century. The major source used is the report and evidence of the Children’s Employment Commission of 1842 (Kirby 1995, 688). Es gilt also die These zu plausibilisieren, dass dieses Muster oder diese (kontrastive) Regelmäßigkeit oder „Demi-Reg“ (Lawson 1997, 6.1) identifizierbar ist. Sie lautet ungefähr: „Nineteenth-century coal-miners and their children were of shorter stature compared with 78

Es gibt auch im Journal of Biosocial Science „historische“ Studien.

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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people in other occupations“ (ebd., 689). Die Formulierung spricht prima facie auch dafür, dass sich der Geltungsanspruch der Studie nicht allein auf das gewählte Sample beschränkt, das Kirbys Quellen bietet und von ihm analysiert wird (siehe Abbildung 6). Eine weitere zu plausibilisierende These ist, dass „Faktoren“ der „Arbeitsumwelt“ die durchschnittliche Körpergröße der Gruppe der Grubenarbeiter und ihrer Kinder bestimmten („affect“). Durch Konsultation dessen, was im Englischen häufiger „circumstantial“ oder hier „anecdotal evidence“ (Kirby 1995, 690) genannt wird, und zusätzlich quantitative statistische Analysen plausibilisiert Kirby zunächst das Zutreffen des kontrastiven Musters, um daraufhin gleich der Hypothese der Standardauffassung den Wind aus den Segeln zu nehmen: „Little evidence exists, however, to suggest that colliers were grossly undernourished: on the contrary, there is much evidence to indicate that they enjoyed an above average food intake by nineteenth-century working-class standards” (Kirby 1995, 689).

Abbildung 6

„Mean age-specific heigths of male children in different occupations, 1841 (inches)” (aus Kirby 1995, 692). Kirbys Daten zu Gruppen von Grubenarbeiterkindern. Was ist aber eine Gruppe? Zum Begriff einer Gruppe siehe 7.3.1.

Zwei Hypothesen bleiben am Ende übrig, nachdem weitere diskutiert worden sind (ebd. 696)79 und auch die Qualität der Ernährung im Unterschied zu deren Menge ausgefallen ist. So heißt es zusammenfassend:

79

Diskutiert werden weiter: (i) unpassende Ernährung von Kindern; (ii) das Alter der Mütter; (iii) emotionale Deprivation von Kindern von Grubenarbeitern aufgrund der hohen Mortalität in der Gruppe ihrer Väter; (iv) der Einfluss von körperlicher Anstrengung; (v) das Eintrittsalter in den Beruf.

112

3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

In conclusion, it is suggested that the short stature of coal-mining children cannot be ascribed to conventional measures of nutrition. The relative short stature of this group coexisted with adequate, and often above average, food intake. It resulted from occupational selection in coal districts containing narrow seams and from discrete environmental factors: long periods of exclusion from ultra-violet radiation retarded the skeletal development of children working underground and caused them to be shorter than their working-class contemporaries (Kirby 1995, 698). Obwohl in dem Artikel weit mehr geboten als hier angedeutet wird, nimmt er gerade einmal 12 Seiten ein. Am Ende eröffnet Kirby dem Leser noch ein weiteres Resultat seiner Untersuchungen, nämlich ein Problem für Anthropometrische Geschichtsforschung. Ist es nämlich so, dass „occupational selection“80 für einen Teil der Größenunterschiede zwischen „occupational groups“ verantwortlich ist, dann ist deren (Durchschnitts-)Größe eben kein Indikator für deren „welfare“. Jede Forschung, die in solchen Fällen diese Annahme voraussetzt, führt tendenziell zu falschen Hypothesen. Die Grubenkinder und ihre Väter sind zwar klein, aber vergleichsweise wohlhabend, wohingegen die Anthropometrische Geschichtswissenschaft generell davon ausgeht, d. h. bezogen auf größere Samples oder Gesamtpopulationen, dass geringe Körpergröße auf geringen Wohlstand zu schließen erlaubt.

3.1.9 Melissa Calaresu In der Studie „Making and Eating Ice Cream in Naples: Rethinking Consumption and Sociability in the Eighteenth Century“ (2013) beschäftigt sich Melissa Calaresu mit der „history of ice cream“ (Calaresu 2013, 40) beziehungsweise der „history of ice-cream consumption“ (ebd. 78) oder auch dem „‚social life‘ of ice cream‘ (ebd. 40). Anders ausgedrückt beschäftigt sie sich mit der Produktion, Distribution und Konsumption von Speiseeis in Neapel im 18. Jahrhundert. Ihren Zeitschriftenbeitrag leitet sie mit der Diskussion eines Bildes aus dem Jahr 1773 ein, das den Vorgang eines Eisverkaufs darstellt, die ihr als Aufhänger für eine Kritik der Forschung dient und zugleich ihr zentrales Anliegen andeutet oder auch den initialen Beleg für ihre These darstellt. Die Grundlagen für ihr Problem formuliert sie anschließend durchaus mit einer gewissen Verve: We could leave our interpretation of the Fabris engraving there, safely within a history of the vast visual production of the Grand Tour in Italy, but the image conveys more than a tourist discourse about the exotic. In fact, the engraving illustrates the eating of a food product that was far from a luxury, and its sale to ordinary people on the streets of Naples, a point that has been completely overlooked by historians of the early modern period (Calaresu 2013, 36). Auch Calaresu diagnostiziert also einen Mangel in der Forschungslandschaft.

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„Although their physical distinctiveness was ascribed by contemporary observers to heredity, the shortness of miners probably resulted from the occupational selection of shorter workers in districts containing narrow seams“ (Kirby 1995, 693). Dies soll wohl heißen, dass Grubenbetreiber für den Abbau von niedrigen Flözschichten kleine Männer bevorzugt einsetzten beziehungsweise engagierten, was die vergleichsweise größere Körpergröße (der „Gruppe“; siehe 7.3.1) in den Daten ergibt, was Kirby hier teilweise auch mit Kausalvokabular beschreibt.

3.1 Die Auswahl der „Mini-Anatomie“

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But, despite its presence in the urban economy of southern Europe, traces of ice, one of the most essential commodities in the region, have literally melted away in historical narratives of early modern life. No early modern historian of the Mediterranean has followed Braudel’s 2001 1949 lead over half a century ago (Calaresu 2013, 42). Dass sie einen Beitrag zu einer Forschungstradition liefern will, die weder primär mit Neapel noch mit der „history of ice cream“ zu tun hat, wird daran deutlich, dass sie zusammenfassend und mit sanfter Polemik Anschlussprobleme aufwirft, die „we“ angehen sollten: This article stresses the need to look beyond traditional northern European sources, which focus on making and serving of ice cream in elite contexts, so as to extend existing paradigms of sociability. We should break the association of new kinds of sociability with the consumption of certain drinks or foodstuffs, and go beyond counting coffee-houses in order to consider alternative social space in other climate … (Calaresu 2013, 76) Es geht ihr zuvor und anders ausgedrückt auch um die Überprüfung von demjenigen, was sie „paradigms of eighteenth-century sociability in current historical writing“ nennt, die bloß auf zwei europäische Metropolen – wenn überhaupt – zutreffen, nämlich Paris und London (ebd. 40). Diese möchte sie anhand von Quellen zu einer südeuropäischen Metropole einer Überprüfung unterziehen. Vor allem soll die Forschungstradition anhand von anderen Typen von Quellen, d. h. nicht bloß „stewards‘ handbooks“ aus elitären Kontexten, sondern z. B. auch anhand von Quellen, die im Kontext des Produktionsprozesses von Speiseeis anfielen, korrigiert werden. Beispielsweise beschäftigt sie sich mit der Produktion, Verteilung und Verwertung von Schnee bzw. „snow-trade networks“ (ebd. 40), von der Produktion von Schnee in „neviere“ und dessen Ernte durch „snow-harvesters“ in der Umgebung von Neapel bis zur Verteilung durch „nevaioli“ in der Stadt Neapel. Was vermutlich wichtig ist, ist die hohe Plausibilität der Einstiegs-These, dass Eisverzehr ein Massenphänomen im Neapel des 18. Jahrhunderts und (Speise-)Eis eben kein Luxusgut war, was gerade durch die rekonstruierte typische Kette von Produktion bis Konsum plausibel wird. Ferner liegt die Betonung darauf, dass sich bestimmte Muster nicht nur in Produktion und Verteilung von „Schnee“ und (Speise-)Eis feststellen lassen, sondern auch in dessen Konsumtion (Stichwort: „sociability“). Dies alles soll zeigen, dass das besagte angedeutete „Paradigma“ zweifelhaft oder irreführend ist, das mir aufgrund mangelnder Kenntnisse über den Forschungskontext und vielleicht auch etwas unklarer Formulierungen genauer zu identifizieren bisher nicht möglich ist, weshalb wir die Geschichtswissenschaftlerin nochmals zu Wort kommen lassen. Das „Paradigma“ sollte hier etwas durchschimmern: No doubt enlightened characters read newspapers and exchanged ideas in ice-cream shops in Naples, just as they did in coffee-houses in the rest of Europe, but many more ordinary Neapolitans also ate ice cream on the streets, while discussing the price of bread or gossiping about the queen’s pregnancies. Ice cream crossed social boundaries in eighteenth-century Naples, while ideas on government reform, as the failure of the Neapolitan revolution of 1799 shows, were slower to make their way across the city; and so, the history !? of ice-cream consumption, like that of coffee drinking, must feature significantly in our understanding of the story !? of ‚living the Enlightenment‘ in Europe (Calaresu 2013, 78). Zu dem eingefügten „!?“ siehe erläuternd Kapitel 2.1.

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3.2

3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

Geschichtsphilosophie in einem ersten kurzen Test: Ist Geschichtswissenschaft heterogen? Nach Platon und Aristoteles beginnt die Philosophie mit dem Staunen, der Verwunderung. Wenn die Verwunderung nicht so stark ist, dass sie sprachlos macht, versucht sie sich typischerweise in Fragen zu artikulieren (Scholz, 2013b, 9).

Wie man schon hier sieht, ein bisschen Empirie schadet nie, selbst wenn sie, wie in unserem Fall, mehr Rätsel aufgibt und Verwunderung auslöst, als dass sie zur deren Lösung beiträgt. Zuerst kann sie aber dazu dienen, die Geltung von geschichtsphilosophischen (und ggf. geschichtstheoretischen) Thesen zu überprüfen und auch dadurch Geschichtsphilosophie mit Kritiken von Geschichtswissenschaftlern zu versöhnen, d. h. Fragen zu stellen. Allein dieses Mini-Sample lässt allzu offensichtlich Zweifel an vielen recht global formulierten geschichtsphilosophischen Thesen begründen. Beispielsweise wird immer wieder behauptet, „die Geschichte“ sei am „Konkreten“ in der Fülle der Einzelheiten interessiert. Besonders schön hat dies M. Stanford formuliert, der dazu einen Vergleich bemühte: Take a horse. To the physicist it is of a certain size and weight and can exert so much force (horse-power) in work. To the economist it represents so much capital outlay by its owner, who will perhaps use it to generate so much income. To the zoologist it is a specimen of the genus Equus. To the chemist it is an apparatus for metabolizing oats into muscular power, and so on. None of these pays much attention to the others, and all fail to recognize my friendly old Dobbin. History, however, embraces the totality of human experience, while at the same time trying to give full value to the individual. The reason for this inclusive approach is (…) that science often creates its own objects while history favours the ordinary and unspecialized (Stanford 1998, 26). Ist „die Geschichte“ idiographisch oder bloß am Singulären oder Einzigartigen interessiert? Die metageschichtswissenschaftliche Schwierigkeit ist, dass beinahe nichts in dem Sample diesen Thesen entspricht, obwohl unklar ist, was mit „totality of human experience“ oder „the individual“ gemeint ist.81 Überraschend wenige unserer Beispielgeschichtswissenschaftler interessieren sich überhaupt für konkrete Akteure (eigentlich wohl nur Kintzinger 2000 und Schmitthenner 1952), und dort, wo es um „Individuen“ im Sinn von konkreten Menschen geht, stellen unsere Geschichtswissenschaftler keinerlei Hypothesen über die „totality of human experience“ dieser Personen auf, weil ihnen zu so etwas keinerlei Quellen und daher keinerlei Daten vorliegen. Schmitthenner (1952) zum Beispiel weiß über Cäsar und Oktavian, den späteren Augustus, so gut wie nichts. Er weiß zum Beispiel so gut wie nichts von Cäsars Testament, d. h. von dessen Inhalt, weil er es aufwendig rekonstruieren muss und nur in engen Grenzen rekonstruieren kann, weil es nicht überliefert ist. Von Cäsars Inventar des Geistes bei der Abfassung weiß er ebenfalls so gut wie nichts, obwohl mit „idiographischen“ Thesen in der Tradition von Windelband (1894) öfters individuelles Mentales („experience“) als Gegenstand „der Geschichte“ behauptet wird. Auch McNeill (1949), der recht Konkretes un81

Auch in jüngeren Schulen wie Diskurs-Geschichte klingen die Darstellungs- oder Erkenntnisziele wenig idiographisch oder „historisch“. Ein Kulturhistoriker formulierte als sein Darstellungsziel beispielsweise: „Ich möchte darstellen, wie sich menschliche Existenz und Erfahrung konstituieren, wie sie auf den konkreten diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken einer Kultur gründen und mit den kulturellen Transformationen in der Geschichte fluktuieren“ (Martschukat 2000, 10 f.). Auch in der Diskurs-„Geschichte“ (2.1) dürfte eine philosophische Metageschichtswissenschaft viele interessante Puzzles finden, z. B. ontologische (7.6).

3.2 Geschichtsphilosophie in einem ersten kurzen Test: Ist Geschichtswissenschaft heterogen?

Abbildung 7

115

Die „Entwicklung der Fischpreise im niedersächischen Raum“ 1501-1650 (aus Hitzbleck 1971, 140). Einer der spezifischen Erträge von Hitzblecks Quellenarbeit, nämlich die „besondere Berücksichtigung Niedersachsens“.

tersucht, weiß über die Kartoffelpflanzen und den Kartoffelboten offensichtlich beinahe nichts und irgendwelche Details auch über den Weg der Kartoffel nach Irland wären uninteressant oder nur insofern von Interesse, als entsprechende Daten zur Stützung seiner Hypothese beitragen. Der Philosoph M. Oakeshott (1966) behauptete, „die Geschichte“ sei an lückenlosdetaillierten Beschreibungen interessiert („no lacuna is tolerated“). Manche Narrativisten vertraten ähnliche Auffassungen im Kontext von Thesen über sogenannte „historische Erklärungen“ (Lough 1969). Calaresu (2013) interessiert sich in ihrer Kulturgeschichte weder für eine konkrete Eistüte noch für einen konkreten Eiskonsumenten und auch nicht für eine konkrete Eiskonsumtion. Von besonderer idiographischer Detailliebe ist in der Mini-„Anatomie“ eigentlich nichts zu finden. Auch Kirby (1995) weiß von konkreten Grubenarbeitern und deren Kindern nicht viel mehr als Beruf und Körpergröße und sein Gegenstand ist eine Gruppe

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

(7.3.1), kein Grubenarbeiter oder ein Grubenarbeiterkind.82 Ähnliches gilt für Sewell (1985), den „Mikro“-Geschichtswissenschaftler Medick (1996) und den „Makro“-Geschichtswissenschaftler Topolski (1994). Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob Stone (2003) und Stephenson (1988) eventuell den Namen eines einzigen konkreten Schafs kennen, allerdings wäre es für ihre Texte völlig egal, weshalb sie möglicherweise bekannte Namen wohl nicht mitgeteilt haben. Medick (1996) nennt manchmal Namen von Laichingern, weiß von diesen allerdings zumeist nicht viel mehr als Familienstand oder Erbmasse. Hitzbleck (1971) erstellt auf der Basis von Archivmaterial unter anderem Preisreihen für Typen von Fisch, d. h. er erstellt chronologisch geordnete Durchschnittspreise (für bestimmte Perioden, z. B. jeweils 5 oder 10 Jahre), um nach Preistrends, Preisrelationen und deren „Veränderung“ (z. B. Hitzbleck 1971, 146) oder der „Bewegung der Preise“ (Hitzbleck 1971, 100) zu suchen (Abbildung 7). Sonderlich konkret oder idiographisch ist dies sicherlich nicht, denn diese Preisreihen sind bloß grobe Annäherungen – wenn überhaupt – an singuläre Preise von vormals vielleicht existenten Gütern.83 Füssel (2006, 36) untersucht unterschiedliche Universitäten „um zu allgemein gültigen Aussagen zu gelangen“, die allerdings kaum – soweit das hier ersichtlich ist – eigens explizit genauer formuliert werden, sodass man sie unproblematisch einfach listen könnte, z. B. in der Art von Naturgesetzen. Natürlich ist in ähnlichen Kontexten später vom „idealtypischen Ablauf“ am Beispiel von Promotionsritualen die Rede (Füssel 2006, 153) und das „allgemein“ ist (wohl zumeist) beschränkt auf die zentraleuropäische Frühe Neuzeit. 84 82

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84

Auch vermeintliche geschichtstheoretische Binsenweisheiten sind also recht offensichtlich falsch oder beruhen auf unklaren Annahmen: „Dire que l’objet de l’histoire est concret, c’est dire qu’il est situé dans l’espace et le temps“ (Prost 2010, 149). „Enfin, l’objet de l’histoire est concret: les historiens se méfient des termes abstrait, ils veulent voir, entendre, sentir“ (Prost 2010 148 f.). Vermutlich handelt es sich auch nicht um jene „historical tokens“, die Tucker (2012) als Gegenstände der Historiographie von „theoretical types“, den Gegenständen von „social sciences“, unterscheidet. Auch kleinste Rätsel lassen sich aus der Mini-„Anatomie“ in Konfrontation mit der Geschichtsphilosophie aufstellen. Die Verwendung einer bildlichen Darstellung als Quelle bei Calaresu (2003) lässt es als zweifelhaft erscheinen, dass „die wissenschaftliche Historiographie“ ausschließlich singuläre (Token)-„Events“ auf der Basis von singulären (Token-)Quellen („evidence") erschließt (Tucker 2004a). Denn das von Calaresu besproche Bild zeigt für sie keine konkre soziale Handlungsepisode, sondern einen Typ sozialer Interaktion, die Szene eines Eisverkaufs. Auf der Basis dieser Quellen und anderer erschließt sie keine Token„Events“, sondern Typen oder sie behauptet eine Art von („historischer“) Regelmäßigkeit zwischen Ereignistypen. Einige kann man aber doch direkt ins Exzerpt tippen, z. B.: „Als Hypothese ließe sich schließlich formulieren, dass mit der Graduierung eine entscheidende Individualisierung und Subjektivierung stattfand, die ihren Niederschlag auch im Konfliktverhalten finden konnte. Durch den rituellen Prozess wurden die Akteure nicht nur zu ständischen Rechtssubjekten konstituiert, die nicht mehr allein durch die lokale Gruppenzugehörigkeit und deren Ehrverständnis bestimmt waren. Sie wurden durch entsprechende Individualisierungsprozesse möglicherweise auch eher zu einem rechtlichen und damit zu einem um allgemein verbindliche Normen bemühten Modus der Konfliktführung disponiert“ (Füssel 2006, 252). „Als ein mögliches generelles Charakteristikum entsprechender Konflikte zeichnet sich also bereits der sich meist konfliktperpetuierend auswirkende Einfluss schriftlicher Verfahren ab. Gerade die stetige Diskursivierung von Geltungsansprüchen führte nicht notwendig zu einer Einhegung von Konflikten, sondern konnte im Gegenteil den Parteien neue Argumente und neuen Konfliktstoff liefern“ (Füssel 2006, 264). „In diesem Zusammenhang kann die Hypothese aufgestellt werden, dass bestimmte in diesem Fall konfessionell bedingte Ereignistypen eine höhere bzw. niedrigere Konfliktträchtigkeit produzierten. So ist es auffällig, dass es in vielen katholischen Universitätsstädten anlässlich von Fronleichnamsprozessionen zu Rangproblemen zwischen Stadt und Universität kam, da sich hier das Verhältnis in einem kollektiven, das heißt alle anwesenden potentiellen Teilnehmer einschließenden, Ereignis zu konstituieren hatte. In den protestantischen Städten scheinen sich die Verhältnisse im Sinne der relativen Präzedenz stärker gefestigt zu haben. Hier ging es eher um die Frage der entsprechenden Partizipation bzw. des Gaststatus in den feierlichen Akten des anderen, wie unter anderem das Beispiel Helmstedt zeigt“ (Füssel 2006, 322).

3.2 Geschichtsphilosophie in einem ersten kurzen Test: Ist Geschichtswissenschaft heterogen?

117

Bei der Anthropometrischen Geschichtswissenschaft, zu der Kirby (1995) einen Beitrag leistet, handelt es sich um eine für die Geisteswissenschaftsphilosophie „der Geschichte“ seltsame Mischdisziplin aus Geschichtswissenschaft, Sozialwissenschaft und Biologie. Thesen der strikten Separation zwischen Geschichte und Naturwissenschaft erweisen sich vor diesem Hintergrund als unhaltbar. Die Erforschung der Trends in der Produktion von Schafswolle (Stephenson 1988, Stone 2003) passt ebenfalls kaum in einen geistesgeschichtswissenschaftlichen philosophischen Rahmen. Ähnliche Fälle (Atkins 1992) lassen sich auch über die Mini-„Anatomie“ hinaus zusammentragen. Ein metageschichtswissenschaftliches Rätsel kann bereits der Gegenstand (oder das Explanandum) dieser Forschung aufwerfen, schließlich existieren keine Durchschnittsschafe und auch keine Trends in deren – sagen wir mal – Verlauf (siehe 7.3.5 zu Prozessen).85 Für das mentale Inventar von konkreten Personen interessiert sich in unserem Sample kaum jemand, was „phänomenologische“ Geschichtsphilosophie als typisch ausgewiesen hat. In manchen Fällen ist die Lage leicht paradox. D. Stone (2003) beispielsweise formuliert durchaus im Kontrast zu Stephenson (1988) so etwas wie ein Mikro-Modell, obwohl er weder eine singuläre Handlung noch typische Handlungen erklärt. In gewissem Sinne setzt sein Mikro-Modell bloß voraus, dass es handlungstheoretische Erklärungshypothesen gibt, die damit zu tun haben, dass typische Akteure etwas wollten. Allein dies ist vor dem Hintergrund von „Verstehen“-Metatheorie eine seltsame Feststellung (4.2).86 Nicht nur diese Beispiele, sondern auch Topolskis Erforschungen zur „Geburt des Kapitalismus“ zeigen, dass gar nicht klar ist, was mit „konkret“ oder auch „singulär“ in solchen Kontexten gemeint ist. In einer seiner Fragestellungen geht es (prima facie) um etwas Konkretes oder Singuläres (Kapitel 7), nämlich die Entstehung dessen, was er zumeist „System“ oder Wirtschafts-„System“ nennt. In einer anderen Fragestellung geht es um (abstrakte) Typen von Handlungen in Typen von soziohistorischen Umständen oder „Systemen“ von Typen von Akteuren. Die Verbindung von Hypothesen über (inexistente) Typen von Akteuren mit einer als real-existent unterstellten Entstehung von Systemen ist in einer Form von Modellbildung zu vermuten, zu der es im Rahmen der Geschichtsphilosophie kaum Literatur gibt (außer z. B. Brzechczyn 2009b). Ist die Sprache „der Geschichte“ die Alltagssprache, wie immer wieder behauptet wird? Man wird Zweifel hegen müssen, denn beispielsweise Füssels (2006) „Gelehrtenkultur als symbolische Praxis“ ist in Details wohl nur zu verstehen, wenn man einiges an Kultur- und Sozialtheorie sowie Philosophie aufgesogen hat (z. B. Luhmann, Foucault, Bourdieu, de Certeau usw., z. B. Ritualtheorie). Selbst Rilingers (1976) völlig normales Standardwerk der Alt85

86

„Historische Theorien gleichen Alltagstheorien oder den Theorien der Detektive und Richter darin, dass sie bestimmte Handlungs- und Ereigniszusammenhänge in der Vergangenheit im Hinblick auf ihre Kausalität zu rekonstruieren versuchen“ (Pape 2006, 131). Auch dies kann man an drei Punkten kritisieren, obwohl es sich aus der Perspektive der eher Analytischen Philosophie der Geschichte um eine Binsenseisheit handelt, nämlich (i) im Hinblick auf das Wort „Alltagstheorie“, (ii) im Hinblick auf den Vergleich mit Detektiven (ausschließlich singuläre Gegenstände), (iii) die (zentrale) Rolle von Kausalität. Darüber hinaus ist (iv) der Handlungsbezug genauso wenig immer gegeben wie „Ereigniszusammenhänge“ (jeweils in einem nichttrivialen Sinn). Anders gesagt, einer dieser vier Punkte oder auch alle zusammen sind in geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen oftmals nicht erfüllt, womit es sich dann zunächst nicht um „historische Theorien“ handelt. Man glaubt an die Schwierigkeiten vielleicht erst, wenn man sie sieht oder ahnt, daher siehe und vgl. Rilinger 1976, Calaresu 2013, Goubert 1956, Chamoux/Dauphin 1969, Newman 1979, Stone 2003, Stephenson 1988, Atkins 1992, Shepherd 1988, Millar 1984, 1986, Sewell 1995, Wozniak 2013; siehe 4.2 sowie Kapitel 6 und 8.1. Auch über die „Bedeutung“ von „Ereignissen“ (Pape 2006, 135 ff., Gerber 2012), womit ein weiterer Punkt (v) benannt sein könnte, findet sich in der Anatomie so gut wie nichts. Darin kann ein gewisses methodologisches oder theoretisches Paradox liegen; siehe Kapitel 8.1 zur Forschung von Salle 2006.

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3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

geschichtswissenschaft lässt Zweifel an Tuckers (2004a) These aufkommen, Geschichtswissenschaftler würden keine Soziologen, Psychologen oder andere Wissenschaftler lesen, denn ohne frühe Formen von „System“-Theorie ist wohl nicht zu verstehen, was Rilinger überhaupt mit „System“ meint und was es für ihn heißt, den Wahlleiter als Komponente des „Wahlsystems“ aufzufassen, zumal er dem Leser auch kaum sagt, was er damit genauer meint, was eventuell gar dafür spricht, dass er dies voraussetzen zu können glaubte. Wenn vom Verständnis der Verfassung die Rede ist, dann darf man sich auch fragen, was dort überhaupt verstanden werden soll. Manche These aus der Tradition der Geschichtsphilosophie erscheint vor dem Hintergrund der „Anatomie“ nicht nur falsch, sondern absurd: „Historical talk is full of dramatic notions and devices like turning points“ (Louch 1969, 58). Noch irritierender ist der zuvor eigentlich schon angesprochene Umstand, dass unsere Geschichtswissenschaftler noch nicht einmal in irgendeiner Eindeutigkeit die Frage stellen, die A. C. Danto (1954) „the Historical Question“ nannte, nämlich „What really happened at X?“, welche ja vermutlich die „idiographische“ Grundhaltung des idealtypischen Historikers ausdrücken soll. Rilinger (1976), Calaresu (2013), Kirby (1995), Alpers (1995), Newman (1979) und teilweise auch Hainzmann (1975) und andere stellen diese Frage nicht oder sie liegt nicht im Fokus ihrer Studien. Ferner ist unklar, was „really happened at x“ genauer heißen mag. Im Fall von Hainzmanns Erforschung des römischen Wasserversorgungssystems und von Alpers Erforschung des „Finanzsystems“ ist wohl nicht die Frage, „What happened at x?“, sondern „What existed at X?“ (siehe auch Scholz 2014). Bei Zweifeln ist die Frage häufiger „What happened generally/regularly …?“ und nicht „What happened at x …?“. In anderen Fällen, wie der Erforschung von „Trends“ in (Durchschnitts-)Werten von Schafsfellproduktion (Stone 2003, Stephenson 1988) oder von „Bewegungen“ von (Durchschnitts-)Preisen von Fisch pro fünf Jahresperioden (Hitzbleck 1971) kann kaum davon die Rede sein, dass in irgendeinem naheliegenden Sinn die „historische Frage“ gestellt und beantwortet wird bzw. führt dies zu ontologischen Problemen, nämlich demjenigen, was hier mit „Trend“ und „Bewegung“ der Preise gemeint ist, wovon in „preisgeschichtlichen Untersuchungen“ (Mauruschat 1975) häufig die Rede ist. Sonderlich konkret sind diese Gegenstände und ihre Beschreibungen nicht, also zumindest nicht so konkret wie das von S. Glennan (2010) als typisch „historisch“ vorgeschlagene Beispiel eines Literaturtheoretikers, der nach dem Essen mit dem Präsidenten der Republik von einem Truck überfahren wird und stirbt. Hier ist der Punkt, an dem letztlich recht willkürliche Definitionen von „Geschichtswissenschaft“ oder „Historischer Wissenschaft“ dazu führen können, dass solche Studien aus dem Begriffsumfang von „Geschichte“, „Geschichtswissenschaft“ und „Historischer Wissenschaft“ oder „Geschichtswissenschaftler“ herausfallen (2.1, 2.3). Rilinger (1976), Calaresu (2013), Kirby (1995) , Chamoux/Dauphin (1969) und zumindest in bestimmten Kapitel auch Hainzmann (1975), Füssel (2006) und Topolski (1994a, 1979 1965) und andere, auch der Mikro-Geschichtswissenschaftler H. Medick (1996), müssen sich dann wohl eine andere Profession suchen. Am Ende sind es aber wohl zu viele, von denen man dies verlangen müsste, oder alles erweist sich in der Betrachtung konkreter Forschung als weitaus komplizierter, als in (geschichts-)philosophischen Schablonen abgebildet werden kann (siehe z. B. auch 8.1). Dass in den Geschichtswissenschaften keinerlei Generalisierungen (oder, wenn man will, „Gesetze“; Kapitel 6.1) eine Rolle spielen, wie in methodendualistischen Extremen behauptet worden ist, erweist sich regelmäßig als falsch, obwohl man auch sieht, dass aus der Vogelperspektive und global betrachtet „Gesetze“ oder „explanatorische Generalisierungen“ äußerst selten sind (Kapitel 4.2, Kapitel 6.1). Die einzige gänzlich explizite „nomologische“ Erklärung, die zudem problematisch ist, bietet Topolski, der sie zudem als unvollständig oder oberflächlich erachtet. Aber selbst in der Altgeschichtswissenschaft finden sich selbstverständlich generelle Hypothesen, die allerdings kaum jemand „Gesetz“ nennen würde, deren Falschheit

3.2 Geschichtsphilosophie in einem ersten kurzen Test: Ist Geschichtswissenschaft heterogen?

119

gerade bewiesen wird und die ferner nicht zur subsumtiven Erklärung singulärer Fälle herangezogen werden (wie Hempel 1942, 1962, 1963, 1965, 1972 vermutete). Manche Gesetzmäßigkeit lässt sich gerade in den Studien erahnen, die in der Geschichtsphilosophie wohl als untypisch gelten (Kirby 1995, Stephenson 1988, Stone 2003), weil auch biotische Zusammenhänge eine Rolle spielen. Das irritiert erneut nur denjenigen, der die letztlich strikt besehen unhaltbare These einer Kluft zwischen sogenannten „Natur“- und „Geisteswissenschaften“ schon akzeptiert hat. Die allermeisten Generalisierungen werden meinem Eindruck nach nicht zur Erklärung herangezogen, sondern als Indikatorgeneralisierungen oder auch in der Zurechtstutzung der Daten verwendet, wie im Fall von Chamoux/Dauphin, die Schwangerschaften von Frauen jenseits des 45 Lebensjahres für insignifikant halten. In einem weiten Sinn ist auch dies die Annahme einer Gesetzmäßigkeit. Jeder Blick in die Studien der Mini-„Anatomie“ führt vor dem Hintergrund der Tradition der Geschichtsphilosophie zu der Frage, in welchem Sinn diese Studien „narrativ“ sein könnten, heißt es doch immer wieder, Geschichte sei Erzählung oder „history tells stories“ (2.1). Es ist beispielsweise auch einfach nur seltsam zu behaupten, Historiker würden seit Herodot ihr Wissen typischerweise in großen Wälzern („Erzählungen“) ausdrücken und ausdrücken wollen (Gorman 2007), denn manche dieser Texte sind nicht länger als ein paar Seiten, ohne dass Geschichtswissenschaftler hier erkennbar etwas vermissen würde. Vor dem Hintergrund dieser philosophischen Thesen war dies zuvor erwähnenswert. Auch fällt überall direkt auf, dass der naive Empirismus oder „Positivismus“, der Geschichtswissenschaftlern seit Jahrzehnten gerade von „narrativistischer“ Seite immer mal wieder unterstellt wird, in diesen Studien nicht zu finden ist. Man sieht beinahe überall, aber besonders deutlich bei den Altgeschichtswissenschaftlern Rilinger (1976) und Hölkeskamp (2011 1987) oder auch Schmitthenner (1952), dass man hier weit entfernt ist von jener „scissors-and-paste“-Methodik und auch damit womöglich verbundener naiv-realistischer oder empiristischer Epistemologie, die aber vielleicht noch immer das Standardbild der Geschichtswissenschaft in der Philosophie darstellt (kritisch Lorenz 1997, Tucker 2004a, Pape 2006, Murphey 2009). Diese und andere Forschung als „historical writing“ (Kapitel 2.1) zu bezeichnen, ist vielfach oder gar immer irreführend, da es sich offenkundig um teilweise recht komplexe und daher auch nicht leicht zu durchschauende Hypothesenbildungs- und Hypothesenauswahlprozesse handelt. Es käme in vielen Fällen auch niemand auf irgendeine naiv empiristische oder „positivistische“ Idee, wie z. B. im Fall von Sewell (1985), der aus Heiratsurkunden etwas über die „soziale Struktur“ und „soziale Mobilität“ in Marseille herausfinden möchte. Wir kommen verschiedentlich darauf zurück (Kapitel 5). Man ahnt also schon hier, dass manche Praxis fundamental anders aussieht, als sie in den geschichtsphilosophischen Konstruktionen häufiger erscheint. Man kann auf der Basis der Mini-„Anatomie“ bereits vermuten, dass sich die allermeisten Thesen über „die Geschichte“ oder das „typisch Historische“ an einem größeren Beispielkorpus als schlicht falsch erweisen würden.87 Ist die Geschichtswissenschaft heterogen? (2.3) An dieser Stelle können wir die Frage eigentlich nicht beantworten, da wir keinerlei Kriterien für Heterogenität oder, anders gesagt, Hinsichten der Heterogenität systematisch auseinandergehalten haben, im Hinblick auf welche klare Thesen formuliert werden könnten. Das müssen wir an dieser Stelle aber auch nicht 87

Sogar die These, „Geschichte“ sei eindeutigerweise „unpraktisch“ (Kitcher/Immerwahr 2014) erweist sich verschiedentlich als einseitig. Charles Tilly (2007) formuliert am Ende seines Buchs Prognosen über Demokratisierungsprozesse. An anderer Stelle heißt es (Tilly 1990s, 685): „History provides a key to the present and a guide to the future.“ Von einem zumindest vermittelten Beitrag zur Lösung praktischer gesellschaftlicher Probleme durch geschichtswissenschaftliche Forschung und darin erlangtes Wissen schreiben Geschichtstheoretiker durchaus auch (Evans 1999, 222), wenn es um den „Zweck von Geschichte“ geht.

120

3 Mini-Anatomie geschichtswissenschaftlicher Forschung

leisten, da wir ja eine ganz einfache Frage beantworten wollen: Was machen Geschichtswissenschaftler? Wenn man diese Frage grob, aber dennoch einheitlich beantworten könnte, dann hätte man eine Hinsicht, in der die Geschichtswissenschaft oder die Geschichtswissenschaften nicht heterogen sind. Wir werden in den Kapiteln 4 und 5 eine solche einheitliche Antwort versuchen. Etwas explizitere und dann auch kontroversere Kriterien zur Beurteilung von Heterogenitätsthesen haben wir dann beiläufig beisammen. Ohne es weiter zu thematisieren, suchen wir nach weiterem Material in den Kapiteln 5 und 6. Wir werden die Fragen dann zumindest besser formulieren können und die Frage erneut stellen können (Kapitel 8.2).

4 Was machen Geschichtswissenschaftler? Take, for instance, an archaic thing just discovered in an archaeological site: it may constitute a merchandise for the antiquarian, a stimulus of aesthetic sensations for the art connoisseur, and something to fill a box with for the collector. To the archaeologists, on the other hand, it may become the source of a circle of problems. (…) To the archaeologist (…) the object will not be a mere thing: it will pose him a set of problems, just as finding the object may have been a solution to a previous problem. The solution to any such problems may become in turn the starting point of a new research (Bunge 1967a, 166; Bunge 1959b).

Die Frage „Was ist Geschichtswissenschaft?“ habe ich anfangs schon in einem zunächst offensichtlichen Sinn beantwortet. An der vorläufigen Antwortskizze habe ich direkt leichte Zweifel geäußert, die dann thesenhaft verstärkt worden sind, unter anderem, weil Geschichtstheoretiker die erste Antwort seit einhundertfünfzig Jahren bezweifeln. Die Antwort war: Geschichtswissenschaft ist eine Disziplin wie jede andere Wissenschaft. Die verschiedenen Heterogenitätsthesen lassen erste Zweifel aufkommen, obwohl ich auch nicht genauer geklärt habe, was hier mit „Disziplin“ gemeint ist und in welchen Hinsichten jene Disziplin vielleicht heterogen ist oder auch nicht. Da die Frage „Was ist Geschichtswissenschaft?“ zu Verwirrungen und auf direktem Wege in altehrwürdige oder wenigstens althergebrachte Abgrenzungsoder Ablenkungsdebatten führen kann (Wissenschaft vs. Geschichte, Geschichte vs. Sozialwissenschaft etc.), habe ich zuvor den Fokus auf Geschichtswissenschaftler und ihre Tätigkeiten und damit verbunden die Ziele (und Produkte) gelegt, die sie mit oder in diesen Tätigkeiten anstreben: „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ ist noch immer unsere seltsam schlichte Frage. Sie setzt eigentlich bloß voraus, dass irgendwo Geschichtswissenschaftler existieren und enthält keine weiteren problematischen Annahmen (2.1). Nach dem Durchgang durch ein minimales und natürlich unzureichendes Sample aus geschichtswissenschaftlichen Studien aus dem Umfeld der Geschichtswissenschaften nach dem Motto „wenig ist mehr als nichts“ und dem Rest der Mini-„Anatomie“ im Rücken (3.1), können wir diese Frage prima facie leicht, aber dennoch hypothetisch, beantworten. Da wir bei dem angefangen haben, was diese Geschichtswissenschaftler, nachdem sie irgendwas getan haben, über dieses Tun in Forschungsberichten publizieren, sollten wir zumindest nicht völlig an der Disziplin oder den Disziplinen der Geschichtswissenschaft(en) vorbeiphilosophieren. Da weder das Tun von Geschichtswissenschaftlern noch deren Ziele sowie die vielleicht auf dem Weg angewendeten Verfahren (Methoden) oder gar Disziplinen als solche beobachtbar sind, stehen wir vor den üblichen Schwierigkeiten der Erkenntnis von derartigem. Wie können wir diese Schwierigkeiten weitestgehend umgehen? Wir fangen mit dem an, was auch in dem Sinn offensichtlich ist, dass es kaum zu bestreiten ist. Kontroverseres kann man dann später hinzufügen. Das Hauptergebnis ist in dem obigem Eingangszitat von Mario Bunge vorweggenommen. Weiterer Klärung bedarf es aber dennoch, weil aus philosophischer Perspektive alles komplizierter ist und daher in einen weiteren Kontext eingebettet werden muss, um besseres Verstehen zu erreichen (Kapitel 5). Auch Trivialerkenntnisse führen hier zu einem deutlichen: Ja, aber …! Es führt uns letztlich bis an das Ende dieses Buchs. 4.1

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Wir fangen auch bei dem vermutlich am wenigsten Kontroversen an, da die Spaltungen innerhalb der Geschichtsphilosophie und zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtstheo-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_4

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rie dies als eine brauchbare Strategie erscheinen lässt. Die Betrachtung spicken wir natürlich nun mit etwas Philosophie, d. h. wir lösen uns langsam von Deskription, streuen Erläuterungen und methodologische Thesen (und Normen) teilweise ein, die allerdings zumindest stellenweise in der geschichtstheoretischen Tradition unumstritten sind. Was machen also Geschichtswissenschaftler?

4.1.1 Trivialerkenntnis 1, aber …: Geschichtswissenschaftler stellen Fragen. Geschichtswissenschaftler stellen Fragen. Das scheint zwar wenig spannend, trifft aber den Kern der Sache (siehe auch Abbildung 8, 133, Abbildung 9, 141). Vom Verlauf der Forschung als Prozess aus betrachtet dürften die Fragen auch fortwährend revidiert oder gar gewechselt werden.88 Da diese Fragen oftmals weder die Fragen sind, die in Geschichtsphilosophie zumeist vermutet worden sind, noch Gegenstände betreffen, die man benannt hat, muss man sie auch hier wieder listen. Hainzmann (1975) fragt89 *Woraus bestand das technische Wasserversorgungssystem Roms?* oder *Wie war das technische Wasserversorgungssystem aufgebaut?* oder auch *Was war die Funktion bestimmter Komponenten des Wasserversorgungssystems Roms?*. Weiter fragt er *Wie war die Wasserversorgung Roms (sozial) organisiert?*, *Wie wurde die Bereitstellung von Wasser (sozial) organisiert?* und *Wie wurde die Verteilung des vom (sozio-technischen) Wasserversorgungssystem bereitgestellten Wassers geregelt?*. Er stellt auch andere Fragen, nämlich in anderen Kapiteln, z. B. *In welchen Schritten wurde das Wasserversorgungssystem (im technischen Sinn) erweitert?*. M. Alpers (1995) fragt sinngemäß *Was war der fiscus Caesaris?*, *Konnte der Kaiser (ein Typus, also besser: ein Kaiser) als Privatmann oder als Kaiser auf die Gelder des fiscus Caesaris zugreifen?*, *Welche Gestalt (Form etc.) hatte das Finanzsystem des gesamten Römischen Kaiserreiches und wie funktionierte es?*. H. Hitzbleck (1971) fragt *Wie hoch war der Anteil von Fisch an der Ernährung der Menschen (oder an der „Ernährungswirtschaft“) Zentraleuropas in der Vormoderne?*. Calaresu fragt ungefähr, allerdings in diesem Fall kaum explizit und neben anderem, *Lassen sich beim Eiskonsum bzw. in der „Geselligkeit“ in Neapel irgendwelche Muster feststellen?* Kirby fragt so etwas wie *Was erklärt die Unterschiede der Körpergröße von Grubenarbeiterkindern im Vergleich mit anderen sozialen Gruppen?*, *Ist sozio-ökonomische Gruppenzugehörigkeit (und nicht nur die Ernährungslage) eine Determinante der Körpergröße?* oder *Was sind die Ursachen für die Körpergröße eines statistischen Grubenarbeiterkindes im Vergleich zu anderen Berufsgruppen?*. J. Adams (1997) fragt *Was erklärt, dass es in SüdIllinois keine organisierte Arbeiterbewegung und Klassenkonflikte gegeben hat, woanders in angrenzenden Regionen jedoch schon?*. Man könnte ihre Frage auch so formulieren und dabei das (auch) von ihr verwendete, nicht sonderlich erläuterte Vokabular verwenden: *Aufgrund welcher Strukturen und Institutionen gab es in Süd-Illinois keinen Klassenkonflikt, woanders und in unmittelbarer Nähe jedoch schon?* Man kann ihre Frage auch schematisch so ausdrücken: *Aufgrund welcher Abwesenheit von x kam es in Süd-Illinois zur Abwe88

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Bernheim (1908, 629) schrieb: „Jeder Historiker muß aus der Praxis wissen, wie selbst bei einfachen Untersuchungen die vorläufige Fragestellung oft durch die sich ergebenden Daten völlig verschoben wird, wie oft er sich durch neue Fragepunkte, die angesichts einzelner Daten auftauchen, zu erneuter Durchsicht des ganzen Materials, ja zu Heranziehung bisher unbeachteter Materialien veranlaßt findet.“ Eine nicht wörtliche, aber sinngemäße Rekonstruktion einer Frage wird hier mit *…* symbolisiert. Dieses Vorgehen kupfere ich bei Di Nuoscio (2004) ab.

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senheit von y?*, was heißt, dass eine Absenz, also ein Nichts, eine Absenz erklären soll, also ein Nichts, wenn man dem Titel der Abhandlung glaubt. John R. Shepherd (1988, 403) fragt von einem substanziellen Standpunkt betrachtet *Which processes generated high rates of tenancy and concentration of ownership of land?*, im Rahmen der Forschungslinie stellt er das sogenanngte „debt-sale paradim“ zur Debatte. Der allgemeineren Frage stellt er gleich – auf einer Menge von Hypothesen und vergleichender Betrachtung fußend – folgende (kontrastive) Frage zur Seite (Shepherd 1988, 404): „Why should tenancy be higher in the prosperous South of China than in the poor and disaster-prone North? How can this spatial contrast be explained?“ F. Millar (1984, 1986) fragt ungefähr *Was war das System („political system“), das Altgeschichtswissenschaftler „Römische Republik“ nennen?*. Damit verbunden fragt er: *Welche Rolle (Funktion etc.) oder welchen Einfluss hatte der populus Romanus in diesem System und auf welche Art und Weise?*. A. Chamoux und C. Dauphin (1969) fragen in der altehrwürdigen Zeitschrift Annales etwa: *Wurde vor 1789 in Chatillon-sur-Seine Verhütung betrieben?*. Stephenson (1988) fragt *Wie entwickelte sich die durchschnittliche Produktion von Wolle pro Schaf zwischen 1450 und 1550 in Südengland?*, *Was sind Ursachen des tendenziellen Falls der Wollproduktionsrate pro Schaf zwischen 1450 und 1550?* und *Sind die Veränderungen in Relation zu einem Vergleichsgegenstand signifikant?*. Stones (2003) allgemeine Frage lässt sich vielleicht am kürzesten mit *Was erklärt das Sinken der Wollproduktion im Spätmittelalter?* fassen, d. h. auch, das U-Wort ist phänomenal betrachtet eher nicht zentral („Ursache“). W. Schmitthenner (1952) fragt in der Erstauflage zu dem Werk, das unter Altertumswissenschaftlern als Standardwerk gilt, *War der spätere Aufstieg Oktavians nach Caesars Tod von dessen Testament (a) völlig abhängig oder (b) gänzlich unabhängig?*. Die Frage beantwortet er mit *weder (a) noch (b)*, indem er eine Vielzahl anderer Fragen stellt und zu beantworten versucht, z. B. *Ist es richtig, dass Oktavian von Cäsar adoptiert worden ist?*, *Was stand überhaupt auf den Tafeln des (nicht überlieferten) Testaments oder zumindest auf der berühmten letzten Tafel?*, *Was verfügte Cäsar in dem Testament?*. A. H. M. Jones (1960) fragt recht implizit und global *Wie war (nicht: wie wurde) die Kleidungsindustrie im Römischen Kaiserreich organisiert?*, womit er eigentlich mehrere Fragen auf unterschiedlichen Ebenen zusammenfasst, z. B. *Wie war die Gesamtindustrie organisiert?*, *Wie war die Produktion in den einzelnen Produktionsstätten organisiert?*. Diese Unterscheidung in den Fragestellungen macht er jedoch nicht explizit, sondern sie ergibt sich aus dem Titel der Abhandlungen und der Abhandlung selbst, was eine sicherlich ebenso wie bei Calaresu (2013) vermeidbare Unklarheit ausmacht. Huggett (1988) fragt *Welche Prozesse (auch „Mechanismen“ genannt) erklären die Verteilung bestimmter Artefakte in Südengland des Frühmittelalters?*. Rilinger (1976) fragt ungefähr, *Ist es plausibel anzunehmen, dass ein Wahlleiter bei Wahlen in der Römischen Republik – im „System“ oder innerhalb der „Wahlstruktur“ – generell großen oder entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis der Wahl hatte?*, und er formuliert, um dies genauer auszudrücken, eine ganze Vielzahl von Fragen. Rilinger schreibt zudem, „das Thema dieser Arbeit“ sei „die Beantwortung der Frage, ob der Wahlleiter entscheidenden Einfluss hatte oder nicht“ (Rilinger 1976, 151), wobei der Wahlleiter ein Typus ist, keine konkrete Person. Goubert (1956, 65 f.) schreibt an einer Stelle seiner „sozialen Analyse” der Beauvaisie und nach der Beschreibung von „social types”: „A precise answer must now be attempted to the question – how many of all these peasants were able to enjoy economic independence – to feed their families from that portion of the harvest left at their disposal?“ Nachdem die Frage beantwortet worden ist, fragt er (ebd. 68): „Were they, then, condemned to suffer hunger, or even starve to death?” Eine weitere Frage wird angedeutet (ebd. 70): „It would require a whole

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volume on its own to study the question of peasant indeptedness in any detail – an important question, though little explored.” W. H. Sewell (1985) tritt man wohl kaum zu nahe, wenn man ihm *Wodurch zeichnete sich die Sozialstruktur („social structure“) Marseilles aus?* und *Wie veränderte sich die Sozialstruktur von Marseille im Untersuchungszeitraum?* in den Mund legt. Wie wir ansatzweise gesehen haben, stellt er eine Unzahl weiterer Fragen. Auch fragt er nach bestimmten (sozialen) Regelmäßigkeiten, z. B. *Sind (soziale) Muster in irgendwelchen sozialen Gruppen im Hinblick auf soziale Mobilität und sozialen Status festzustellen?*. Auch fragt er beispielsweise *Was erklärt die Zunahme von Aufwärtsmobilität im Untersuchungszeitraum?*. Frings (2007) formuliert explizit als Leitfragen seiner Forschung: „Wieso wechselten fast alle turksprachigen (und nach ihnen auch andere) Völker in der Sowjetunion nach 1917 von einer bereits etablierten Schrift zu einem lateinischen Alphabet? Und wieso wechselten alle Völker, die nach 1917 ein lateinisches Alphabet angenommen hatten, bis 1941 zur Kirillica?“ (Frings 2007, 53). Hölkeskamp (2011 1987) fragt: *Wie entstand die Nobilität?* oder *In welchem komplexen Prozess entstand die Nobilität?*, *Welche Ereignisse trugen zur Entstehung der Nobilität bei?*; *Welche Strukturen (oder „Verhältnisse“) existierten um 300 v. Chr.?*. J. Topolski fragt genauso explizit wie Frings *Welche Mechanismen führten zur Entstehung von Gutsherrschaften auf der Basis von Fronarbeit in Osteuropa?* oder „Why was it that in Central and Eastern Europe a manorial serf-economy grew while capitalism failed to materialize?“ (Topolski 1974, 346). Newman (1979) fragt so etwas wie *Welche Variablen erklären (statistisch) Migrationszahlen und Migrationsraten in Deutschland im Untersuchungszeitraum?*. Wozniaks (2013) Fragestellungen sind dem sozialtopographischen Ansatz verpflichtet, werden vielleicht auch deshalb nicht sonderlich explizit genannt, bis auf globale einleitende Anmerkungen. Aber er fragt u.a. so etwas wie *Wie entwickelte sich die Population von Quedlinburg im Untersuchungszeitraum?*, *Wie veränderte sich die Komposition der Bürgerschaft im Untersuchungszeitraum?*, *Was war die Sozial- und Vermögensstruktur Quedlinburgs, wie veränderte sie sich?*. Genauer gesagt fragt er dies jeweils bezogen auf die beiden Städte (Alt- und Neustadt), die Wozniak (2013, 188) zufolge für Abschnitte des Untersuchungszeitraums keine „Gesamtstadt“ bildeten, also einen irgendwie zusammenhängenden Gegenstand. Eine andere Frage ist: *Wie verhält sich die Sozialstruktur der Bürgerschaft Quedlinburgs zur topographischen Struktur der Stadt Quedlinburg?*, *Wie verhält sich der Reichtum der Neustadt zu derjenigen der Altstadt im Untersuchungszeitraum (ebd. 191 f.)?*, *Was war die Struktur des Rats der Stadt Quedlinburg vor 1343?*. Medick (1996) listet in Kapitel 4 seines in der deutschen Geschichtswissenschaft weithin bekannten Werks nach kurzem Vorspiel Folgendes: Wie entwickelte sich, so ist in unserer kritischen Überprüfung deshalb zu fragen, Heiratsverhalten und Heiratsalter sowohl im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wie in der longue durée der Laichinger Geschichte? In welcher Weise und inwiefern war das von Pfarrer Sigel als charakteristisch hervorgehobene restriktive Heiratsverhalten Begleiterscheinung oder vielleicht sogar Ursache der Bevölkerungsstagnation des Ortes in der Hochphase seiner proto-industriellen Entwicklung? Inwiefern war es, so ist darüber hinaus zu fragen, mit der proto-industriellen Expansion vereinbar, vielleicht sogar mit ihr verknüpft? Im Licht des ursprünglichen demo-ökonomischen Modells der Proto-Industrialisierung muß vor allem die Frage von Interesse sein, inwiefern und ob an diesem Ort eine durch Heirat konstituierte „eiserne Kette zwischen Reproduktion und Erbschaft“ Charles und Richard Tilly, dp für die zahlreichen Weberehen außer Kraft gesetzt war oder nicht. Bedeutete für die Weber des Ortes die Möglichkeit eines von

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der örtlichen Nachfrage nach ihren Produkten unabhängigen gewerblichen Verdiensts, der freilich in der engen Verbindung von hausindustrieller Produktion und Landwirtschaft realisiert werden mußte, auch eine größere Freiheit der Eheschließung durch stärkere Unabhängigkeit von elterlichem Heiratsgut und Erbe? Oder blieben, worauf die Äußerungen des Pfarrers hinzuweisen scheint, die Zwänge und Inelastizitäten eines primär durch Erbschaft geregelten Stellenmechanismus maßgebend? (Medick 1996, 315 f.) Am wenigsten explizit sind die Fragen, zumindest impressionistisch betrachtet, bei Calaresu (2013), Schubert (1995) und Füssel (2006, 3 f., 19 ff, 23 f., 25-32), wobei Letzterer die Fragen nicht explizit formuliert und manchmal von der einen verfolgten Fragestellung schreibt, wobei vermutlich der allgemeine Gegenstand oder gesamte Ansatz gemeint ist. Die Fragen scheinen am Rande der Explikation der für den Ansatz zentralen Begriffe bloß durch. Sonderlich singulär oder „historisch“ ist der Gegenstand zudem nicht, denn es heißt zum Beispiel: „Die vorliegende Studie versteht sich insofern sowohl als Baustein zur Kulturgeschichte der frühmodernen Universität als auch als ein exemplarischer Beitrag zur Frage nach der symbolischen Konstitution von Stand und Rang in der frühen Neuzeit“ (Füssel 2006, 3 f.). Die Allgemeinheit oder Nicht-Singularität der Fragestellungen darf vermutlich als durchaus typisch für (Neuere) Kulturgeschichte gelten oder, vorsichtiger, manche ihrer Spielarten. In solchen und ähnlichen Fällen muss ein Leser sich die explizite Frage oder die Vielzahl von Fragen erst aus dem Kontext erschließen. E. Schubert (1995) steigt sozusagen direkt ins Thema ein, was zumindest dem Neueinsteiger den Zugang zum „Fahrenden Volk“ nicht gerade erleichtert, wobei es sich hier sicherlich um eine nicht untypische Alltagsgeschichte bezogen auf eine soziale Gruppe (7.3.1), nämlich die sogenannten „Fahrenden“, handelt, in der mit völlig heterogenem Quellenmaterial und ebenso heterogenem Sekundärmaterial gearbeitet werden muss. Die globale Fragestellung dürfte in etwa lauten: *War die Rolle des Fahrenden Volks im Mittelalter wirklich so, wie christliche Quellenautoren es erscheinen lassen?* Dies hier sind nur annäherungsweise das, was man „Hauptfragen“, „forschungsleitende Fragen“ oder „Grundfragen“ (Kocka) der jeweiligen Untersuchung nennen könnte, die häufig natürlich zu Beginn gestellt werden. Im Verlauf der Studien (Forschungsberichte) werden dann weitere, manchmal kaum zu zählende Fragen gestellt, die vermutlich (oder selbstverständlich?) irgendwie mit den Hauptfragen zu tun haben sollen, d. h. dass die Antworten auf diese Fragen den Forscher der Beantwortung der Hauptfrage wenigstens ein Stückchen näher bringen. Zumindest will ich dies hier – mit methodologischem Wohlwollen sozusagen und als leitende Hypothese (8.1) – stipulieren, ist es doch in Monographien keineswegs unbedingt so oder direkt erkennbar, d. h., häufiger wird keine zentrale „Grundfrage“ gestellt, sondern eine Vielzahl von Fragen in unterschiedlichen Kapiteln, die dann voneinander unabhängig beantwortet werden. Das dürfte auch dafür mitverantwortlich sein, dass man, besonders auch als Laie, bei manchen geschichtswissenschaftlichen Monographien auf der letzten Seite unsicher darüber ist, worum es zuvor genau ging, und man die Ergebnisse nicht in einem Absatz schildern kann, was sicherlich einen Unterschied zu anderen (Natur-)Wissenschaften ausmacht, in denen vor dem Hintergrund eines theoretischen Hintergrundwissens über die Gegenstandstypen und die Verfügung über klare Modelle klarere oder exaktere Fragestellungen verfolgt werden können. (Das muss nicht heißen, dass das eine oder das andere irgendwie besser ist.) Das Stellen von Fragen stellt denn auch in der Planung und Durchführung der Studie (Forschung) ein erstes oder stetiges zu überwindendes Hindernis dar. Wissenschaftler wissen, dass man sie erst finden muss, da sie nicht vom Himmel fallen, und dass eine Kunst von Wissenschaftlern diese Suche ist (siehe auch Wolpert 1992). Davon berichten Wissenschaftler immer wieder: „In fact, formulating a good research question can be surprisingly difficult“

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(Schutt 2004, 28). „The first and sometimes most difficult problem is to distinguish what the problems are; no analytic or experimental artillery can be effective if the enemy is not accurately located“ (Bunge 1959a, 41). Dies alles mag trivial sein, spielt jedoch überraschenderweise in der Metatheorie der „Geschichte“ eigentlich überhaupt keine Rolle90, wie noch Walther gleich zu Beginn nach folgender Feststellung in gänzlich anderem Kontext (Erotetik oder Logik der Fragen) monierte: Die Behauptung, daß Fragen und Frage-Antwort-Verläufen im Prozeß der Erkenntnisgewinnung eine bedeutende, wenn nicht entscheidende Rolle zukommt, bedarf wohl keiner näheren Begründung. Wann immer man Erkenntnisse zu gewinnen sucht, geht man von Fragen oder Problemen aus, sei es nun, daß man neue Probleme aufwirft und zu lösen versucht, sei es, daß man gegebene Sätze oder Behauptungen in Frage stellt. Und in vielen Fällen ist es gar so, daß der Fortschritt, welcher durch eine wissenschaftliche Theorie erreicht worden ist, vor allem darin besteht, daß man neue Fragestellungen gefunden hat oder die Probleme in einem neuen Licht sieht (Walther 1985, 1). In unserem Kontext ist mit diesem Standpunkt allerdings schon die These verbunden, dass Geschichtswissenschaft ein Erkenntnisunternehmen ist und kein rein ästhetisches, „politisches“ oder sonstiges. Und das kann man schon bestreiten und wurde ja lang und breit bestritten. Allerdings ist die „Anatomie“ diesbezüglich eindeutig. Unterschiedliche ästhetizistische Thesen entbehren – vor dem Hintergrund dieses (8.2) Samples – beinahe jeder Grundlage.

4.1.2 Trivialerkenntnis 2, aber …: Geschichtswissenschaftler suchen Antworten auf die gestellten Fragen Geschichtswissenschaftler suchen Antworten auf die gestellten Fragen und schlagen dann auch Antworten vor. Da zumindest unsere Geschichtswissenschaftler hier zum Großteil Fragen stellen, scheint es nicht falsch zu sein, ihnen zu unterstellen, dass sie diese auch beantworten wollen oder beantworten. Ein zwar scheinbar triviales, aber wenigstens nicht absurdes Modell von Geschichtswissenschaft bzw. geschichtswissenschaftlicher Forschung könnte so aussehen: Frage(n) → Antwort(en).91 90

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Ich kann hier nicht weiter ausführen, dass vielerlei Probleme der erkenntnistheoretischen Geschichtsphilosophie sich auflösen oder anders – weniger relativistisch – darstellen, wenn man diese Trivialität mehr beachtet. Dies wird einzig in einigen Randbemerkungen angedeutet. Sogenannte „Auswahlprobleme“ fallen z. B. fast gänzlich weg; siehe ähnlich bereits Passmore 1958 und besonders Pape 2006, 142 ff. Dray hielt geschichtswissenschaftliche Fragen im Kontext von Objektivitätsproblematiken für wenig relevant und glaubte offenbar, das dasjenige, was er „inquiry“ nennt, erst anfängt, nachdem eine Frage gestellt worden ist (Dray 1993, 40). N. Elias (1986 1970, 63) schrieb in seiner Wissenschaftslehre: „Aber es ist oft der Fall, daß das, was nach den philosophischen Spielregeln als unwesentlich erscheint, für eine sachgerechtere Theorie der Wissenschaften in höchstem Maße relevant ist.“ Von Fragen und ihrer Beantwortung ist ansonsten in der Philosophie der Geschichte eher wenig die Rede. „Forschung ist der methodisch geregelte und daher intersubjektiv überprüfbare Schritt von möglichen zu wirklichen Antworten“ (Rüsen 1986, 90) auf Fragen. Topolski (1976, 361) hielt den „Prozess des Fragenstellens“ für die „essentielle Handlung in der Forschung“, um dann zu schreiben: „Scientific research might be reconstructed as the process of posing questions and seeking answers to them.“ „In most general terms, the historian’s research procedure consists in the formulation of questions in a given field and in seeking appropriate answers to them“ (Topolski 1976, 383). M. Bunge (2013a 1959, 66) identifizierte „die Kunst, Fragen zu stellen“ einmal mit „der wissenschaftlichen Methode“. Bernheim (1908, 253 f.) schrieb an recht zentraler Stelle bereits: „Was im einzelnen Falle als

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Ein solches Modell würde im Metadiskurs wohl belächelt werden. Die Missachtung dieses trivialen Merkmals geschichtswissenschaftlicher Praxis führt aber gewöhnlich sofort zum Zünden von geschichtstheoretischen Nebelkerzen („Erzählung“) oder zum Aufsteigen von geschichtsphilosophischem Weihrauch („Sinnstiftung“, „Orientierung“, „Emanzipation“). Kürzer: Bevor Geschichtswissenschaftler irgendetwas „darstellen“ oder „erzählen“ oder dann auch zu außerepistemischen (praktischen) Zwecken publizieren mögen, forschen sie, und dabei stellen sie Fragen und schlagen Antworten vor. Es ist nun in der Geschichtsphilosophie verbreitet bekannt (Plenge 2014b), dass im Zwei-Ebenen-Modell historischer Erkenntnis, das vermutlich eine Art Standardmodell der Geschichtsphilosophie geworden ist, Forschung zwar manchmal als existent, aber als insignifikant angenommen wird (vgl. kritisch Pape 2006, Kistenfeger 2010, Murphey 2009; am deutlichsten Ankersmit 1981). Nebenbei bemerkt ist auch die These, Geschichtswissenschaftler würden die Fragen, die sie stellen, auch beantworten (wollen), vielleicht gar nicht so trivial. Zum Beispiel schreibt Kocka (1978, 108) gar nicht untypisch für geschichtstheoretische Ansichten (vgl. Daniel 2002) von einer Frage, welche „die Überlegungen leitet“ und „kurz diskutiert werden (soll)“. Doch gehe ich hier und bei ähnlichen Formulierungen davon aus, dass, wer Fragen stellt, Antworten sucht, und zwar Antworten auf die gestellten Fragen, zumindest außerhalb des Postmodernismus. Im philosophischen Kontext kann diese Trivialerkenntnis zu Kontaktaufnahme mit anderen Disziplinen führen, wie z. B. der Logik der Fragen. Natürlich findet sich am Ende immer ein Geschichtstheoretiker, der auch dies auf den unscheinbaren Punkt gebracht hat. Johan Huizinga schrieb gar, zumindest in der Übersetzung, mit ein wenig Poesie: „Dort, wo die Frage vage ist, auch die Antwort vage bleibt“ (zitiert in Lorenz 1997, 93). Vielleicht handelt es sich in manchen Fällen auch gar nicht um eine genuine Antwort auf die gestellte Frage, womit das Ziel dann verfehlt wäre. Der Fall droht offenbar, wenn die Frage gar nicht formuliert wird.

4.1.3 Trivialerkenntnis 3, aber …: Geschichtswissenschaftler knüpfen an Forschungstraditionen an Geschichtswissenschaftler knüpfen an spezifische Forschungstraditionen an, die sie zu Beginn des Forschungsprozesses und fortwährend evaluieren. Unsere Geschichtswissenschaftler stellen nicht nur Fragen und erst recht nicht bloß irgendwelche Fragen. Es wäre auch tatsächlich recht trivial, bloß zusätzlich festzustellen, Geschichtswissenschaftler stellten Fragen bzgl. der Vergangenheit, was für manche scheinbar begrifflich in einem (Alltags-)Verständnis von Quelle anzusehen ist, hängt von dem jeweiligen Forschungsobjekt, also von der Thema- oder Fragestellung ab. Die fundamentale Bedeutung der Fragestellung kann kaum genug betont werden; denn die Frage, was man wissen will, bedingt Richtung, Umfang und Resultat der Forschung von vornherein.“ Auch Droysen (1972, Grundriss §20) schrieb stellenweise klar: „Der Ausgangspunkt des Forschens ist die historische Frage.“ Marc Bloch (2002 1949, 74) schrieb: „Einem Anfänger kann man keinen schlechteren Rat geben, als geduldig und bescheiden vom Dokument eine Inspiration zu erwarten. Aus diesem Grund war schon so manche mit besten Absichten unternommene Forschungsarbeit von vornherein zum Scheitern oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.“ Es findet sich auch der Passus: „Hundertmal empfehlenswerter ist eine klar formulierte und durchdachte Auswahl von Fragen.“ Wir können hier nur einige Titel aus Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie ohne große Kommentare nennen. Aber auch in Handbüchern für Nachwuchsgeschichtswissenschaftler oder „Historischer Theorie“ (z. B. Fulbrook 2002a) kommt dieser zentrale Punkt teilweise kaum oder nicht vor. Für mehr zur Problematik siehe z. B. Nowak (1977), Gottschalk (1951, 62 ff., 196 f.), Di Nuoscio 2004, Antiseri 2005, Pape 2006, Haussmann 1991, Cardoso 1982, Cardoso/Brignoli 1984, Idrissi 2005.

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„Geschichte“ enthalten ist (z. B. Tucker 2014; Kapitel 2.1). Der Umstand, dass Geschichtswissenschaftler „Vergangenheit“ untersuchen, soll sogar manchmal Geschichtswissenschaften bereits von anderen Wissenschaften abgrenzen. Abgesehen davon, dass dies eine beinahe leere Behauptung ist, solange unklar bleibt, was eigentlich mit „Vergangenheit“ gemeint ist (2.1), stellt jeder Mensch irgendwann Fragen zu irgendetwas Vergangenem, was immer es sein möge, ohne damit einen geschichtswissenschaftlichen Beitrag zu liefern. Die Inspektoren Clouseau und Columbo sind nicht nur inexistent, sondern auch keine Geschichtswissenschaftler, und das ganz einfach aus der hier eingenommenen Perspektive, weil sie an keine geschichtswissenschaftlichen Forschungstraditionen oder –linien anknüpfen und zu diesen weder einen Beitrag leisten noch einen leisten wollen. Zumindest verstehe ich hier schon seit Kapitel 2.1 unter „Geschichtswissenschaftlern“ etwas anderes, obwohl die dortige Gegenstandsfestlegung trivial erscheinen mag. Anders gesagt: Clouseau und Columbo sind keine Komponenten der Disziplin Geschichtswissenschaft und waren nie welche. Dasselbe gilt z. B. von den tatsächlich existierenden Autoren L. Garnier (2013) und dessen „Geschichte der elektronischen Tanzmusik“ und Westbams (2015) „Die Macht der Nacht“, die selbst dann keine Geschichtswissenschaftler wären oder genannt zu werden verdienten, wenn sie die Historische Methode oder die Methode der Historischen Wissenschaften angewendet hätten (2.1). Sie schreiben zwar nach meinem Geschmack Interessantes über dasjenige, was Garnier „Geschichte der elektronischen Musik“ nennt und vornehmlich schreiben sie über ihre eigene Geschichte (7.3.5), sie leisten aber keinen Beitrag zum Output der Disziplin Geschichtswissenschaft. Auch Journalisten und Geheimagenten sind in unserem Sinn keine Geschichtswissenschaftler, obwohl Philosophen der Historischen Wissenschaften sie teilweise als solche klassifizieren oder sagen müssten, sie betrieben Historische Wissenschaft (z. B. Tucker 2004a, Cleland 2008). Das kann man machen und letztlich handelt es sich wohl um letztlich irrelevante terminologische Unterschiede, die jedoch in der Fülle im Rahmen der Geschichtsphilosophie zu Konfusion führen. Es sollte aber klar sein, dass dort genauso wie in anderen Schulen mit „Wissenschaft“, „Historische Wissenschaft“ und auch „Geschichte“ oder „Historiker“ ganz einfach etwas ganz anderes gemeint ist (2.1). Anders gesagt, aus meiner Sicht ist das vielleicht einzig spezifisch Geschichtswissenschaftliche an der Tätigkeit von Geschichtswissenschaftlern, dass sie zu existenten disziplinären Forschungstraditionen einen Beitrag leisten oder leisten wollen (2.3). Geschichtswissenschaftler halten zudem die häufig geäußerte Vorstellung, sie untersuchten Vergangenheit, für falsch oder naiv: „Manchmal heißt es: ‚Die Geschichte ist die Wissenschaft von der Vergangenheit. Das ist meiner Meinung nach eine unglückliche Formulierung. Denn zunächst ist schon der Gedanke, die Vergangenheit als solche könne Gegenstand einer Wissenschaft sein, absurd“ (Bloch 2002 1949, 155). Die These sei hier nur kurz abgehandelt, weil sie, obwohl ontologisch (Kapitel 7) und methodologisch naiv, so häufig als selbstverständlich angenommen wird. „Vergangenheit“ bezeichnet keinen Gegenstand, den man auch nur potenziell untersuchen könnte, genauso wenig wie „Natur“ im Fall von Naturwissenschaften. Auf den vermuteten Mangel einer Problematisierung der Gegenstände von Geschichtswissenschaften in der Geschichtsphilosophie kommen wir wiederholt zurück. Ausdrücke wie „Vergangenheit“ und auch „Geschichte“ nebeln diese Lücke gewöhnlich bloß ein. In der Klassik der Geschichtsphilosophie heißt es (Langlois/Seignobos 1900, 1f. ) auf der ersten Seite aus methodologischer Perspektive zu dieser These: „pas de documents, pas d’histoire“.92 Ohne dasjenige, was Geschichtswissenschaftler generisch „Quellen“ nennen, 92

Bei Idrissi (2005, 85) heißt es ergänzend: „Pas d’histoire sans documents, certes, mais pas d’histoire sans question non plus“. Reine Sekundäranalysen, d. h. geschichtswissenschaftliche Forschungsprojekte, die ohne Quellenstudium auskommen, schaffen weitere Probleme.

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gibt es auch keinen epistemischen Zugang zu irgendetwas Konkreterem als Vergangenheit, wie sie im Proseminar lehren. Auch aus diesem Grund kann kein Geschichtswissenschaftler Vergangenheit untersuchen und dies versucht letztlich auch niemand. Wie auch die Mini-„Anatomie“ klar macht, fangen sie aber auch nicht mit „Quellen“ an, wie ebenso in der Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts häufig und bis heute insinuiert worden ist. Sie rennen nicht direkt in irgendein beliebiges Archiv oder wühlen wie wild irgendwo anders auf der Pirsch nach „Quellen“, die ihnen dann z. B. ein vollständiges („objektives“) Abbild der „Vergangenheit“ ermöglichen sollen, wie Narrativisten häufiger unterstellen (siehe dazu Pape 2006, Kistenfeger 2011, Murphey 2009, Plenge 2014b) und sogar bei einem Geschichtstheoretiker (Gottschalk 1951, 42) als Ziel und zugleich unerreichbar ausgegeben wurde. Regelmäßig knüpfen sie an die Ergebnisse anderer Forschung an und generieren ihre Fragen in Auseinandersetzung mit diesem Forschungsstand. Es gilt, aber Ausnahmen wie überraschende „Quellen“-Funde (z. B. Wozniak 2013) damit nicht ausschließend: „Where does the historian start? Certainly not by digging in sites or archives, as the positivist myth has it. Like any other scientist, a historian starts where others left off“ (Bunge 1985, 203). Jüngere Geschichtstheoretiker notieren dies manchmal mit gewisser Verwunderung gegenüber der Geschichtsphilosophie, der sie offenbar andere Thesen entnehmen (Fulbrook 2002a, 69, Marwick 2001, 40, 163 ff.), wohingegen die geschichtstheoretische Klassik aus reinen Gründen der Darstellung die Quellenkunde am Anfang abhandelte, aber in der Systematik keinen naiven „Positivismus“ oder „Empirismus“ vertrat (v. a. Bernheim, vgl. z. B. 1908, 566). Zu dem latenten Positivismus der postmodernen Geschichtsphilosophie gehört auch, dass der naiv-empiristische Ausgangspunkt „der Geschichte“ häufiger unterstellt und dann ad absurdum geführt wird, mit der Konsequenz eines radikalen RelativismusAntirealismus (vgl. die Literatur in Plenge 2014b). Diesen naiven Empirismus hat aber in der Geschichtstheorie fast niemand vertreten und in der Forschungspraxis ist er ohnehin irrelevant. Wenn dem so ist, dass Geschichtswissenschaftler nicht gänzlich bei null anfangen, dann ist zu erwarten, dass die Forschungsbeiträge von Geschichtswissenschaftlern teilweise äußerst ähnliche erste Absätze aufweisen. Das ist auch regelmäßig der Fall. Teilweise klingen gar die ersten Sätze verdächtig ähnlich, wie wir auch außerhalb der „Anatomie“ beobachten können, indem wir zu dem greifen, was gerade auf dem Tisch liegt: Over the last 20 years or so nutrition has played an important if controversial part in the history of medicine (Atkins 1992, 207). In country after country, human life expectancy has doubled in the twentieth century. Although an enormous amount of information has accumulated about the decline of mortality, controversy continues about how to interpret the data (Johansson 2000). The study of maritime mortality has been of interest to a variety of social, political, and medical historians (Haines/Shlomowitz 2003). The prison and its origins have aroused a good deal of historical interest in recent years (Spierenburg 1987). Der zweite Satz beginnt dann idealtypisch mit einem „Ja, aber …“, was eine „Lücke“ andeutet. So heißt es z. B. im Rahmen der Mini-„Anatomie“ an einer Stelle: „Rangkonflikte auf Ebenen unterhalb der höfischen Gesellschaft bzw. des Reiches wurden allerdings bisher kaum thematisiert“ (Füssel 2006, 15). Kurzum, die legitimen Fragen sind jene, welche die Disziplin

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irgendwie „voranbringen“ (Prost 2010, 85). Das Ansinnen, einen Beitrag zu einer Forschungslinie zu leisten, ist manchmal gar so zentral, dass die Kritik einer überkommenen Forschungstradition beinahe als wichtiger oder zumindest gleich wichtig erscheint wie die Beantwortung einer substanziellen Frage. So ist z. B. Shepherds (1988) Angriffspunkt das sogenannte „dept-sale paradigm“ und Atkins (1992) geht es zentral um die Kritik der sogenannten „McKeown-Beaver-hypothesis“. Klarerweise ist in der Philosophie die These sicherlich verbreitet, dass es zu wenig ist, einen Beitrag zum Forschungsstand einer Disziplin zu leisten und nichts anderes leisten zu wollen.93 Geschichtswissenschaftler müssen oftmals – wie andere Wissenschaftler (Wolpert 1992) – Jahre investieren, um überhaupt wissenschaftlich brauchbare, signifikante, originelle, interessante, weiterführende94 und wissenschaftlich erforschbare (umsetzbare) Fragen zu finden (vgl. z. B. auch Gottschalk 1951, 277 ff.), ganz zu schweigen von einer Hypothese oder einer Vielzahl von Hypothesen als Antwort auf diese Frage. Auf den Umstand, dass das Wort „Hypothese“ in Geschichtsphilosophie und Teilen der Geschichtstheorie kaum vorzukommen scheint, kommen wir später zu sprechen (Kapitel 5.1). Dass unsere Geschichtswissenschaftler sich mit einem Forschungsstand auseinandersetzen, wird auch zunächst schlicht daran deutlich, dass sie sagen, es gelte bestimmte Hypothesen, die diesem Stand entnommen sind, („systematisch“) zu überprüfen, um sie ggf. zu verwerfen oder aber in bestimmter Hinsicht zu korrigieren, also zu verbessern (z. B, allerdings cum grano salis, Rilinger (1976), Schmitthenner (1952), Alpers (1995), Hitzbleck (1971), 93

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„But this self-understanding [über die methodische Rationalität der empirischen Forschung, dp] of historians as scholars lacks insight into the fundamental practical function of historical narration. [T]his is the function of formulating human identity by mobilizing the forces of historical memory; or, to say it briefly, orienting human life in the course of time. If professional historians recognized this function as a function of their own work, maybe their work would give a little bit more reasoning and arguing to practical life” (Rüsen 1987, 96). „Historische Erzählung” ist hier ein Kunstwort, das offenbar die Frage zu formulieren gestattet, ob historische Erzählungen (Texte von Geschichtswissenschaftlern) historische Erzählungen sind oder deren „Funktion“ erfüllen. Die Antwort war offenbar, dass es in der philosophischen Theorie so sein muss, in der Praxis das Bewusstsein aber noch nicht so weit ist. Aus meiner Sicht ist es auch in diesem Fall nicht einfach, die von Rüsen vorgeschlagenen vier Typen der historischen Erzählung („traditional narrative“, „exemplary narrative“, „critical narrative“, „genetical narrative“) verbreitet in der „Anatomie“ zu finden. Zum Beispiel zählt Rüsen zu den drei „qualities“, welche die „peculiarity of historical narration“ ausmachen, folgendes: „An historical narrative serves to establish the identity of its authors and listeners.“ J. Kistenfeger (2011, 53) schreibt, von „historischen Darstellungen wird gemeinhin erwartet, dass sie darstellen, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat. Sie sollen uns darüber aufklären, wo unsere soziokulturellen Wurzeln liegen, welche Kontinuitäten uns mit unserer Vergangenheit verbinden oder wo die Verbindung abgerissen ist, wo wir uns für deren Schandtaten schämen müssen; Geschichtsschreibung liegt, zusammen mit anderen identitätsstiftenden Genres wie dem Mythos, der Legende, der Hagiographie o. ä. gar erst fest, wer zu den gegenwärtigen und den vergangenen Gemeinschaften zugehört, denen wir angehören und was dies für Gemeinschaften sind, deren Mitglieder wir sind.“ Man wird auch hier auf große Schwierigkeiten treffen, diese Charakterisierung von „historischen Darstellungen“ und „Geschichtsschreibung“ mit den Beiträgen der Mini-Anatomie in Einklang zu bringen. Solche Sichtweisen zeigen deutlich, dass „wir“ kein geteiltes Bild von Geschichtswissenschaft/Geschichtsschreibung/Geschichte haben, wie auch immer es in der Breite aussehen mag. Geschichtswissenschaftler sind aber auch manchmal unsicher über ihre Rolle und ihre Leserschaft; siehe z. B. Stone 1979, 15. „Eine Forschungslinie ist genau dann originell, wenn sie darin besteht (a) alte Probleme auf neue Weisen (…) oder (b) neue Probleme mit alten oder neuen Mitteln oder (c) kritisch die Ergebnisse von früheren Forschungen zu untersuchen, oder wenn sie darin besteht, (d) neue Forschungslinien zu entwickeln, die genauso originell wie vermutlich durchführbar sind“ (Bunge 2013b 1985, 32). Cardoso (1982, 164 ff.) nennt als Kriterien der Signifikanz von Problemen (i) soziale Relevanz, (ii) wissenschaftliche Relevanz, (iii) Durchführbarkeit, (iv) Originalität, (v) persönliches Interesse. Zu (iv) heißt es, Originalität bestehe darin, eine Lücke der Erkenntnis zu finden oder eine „Inkohärenz im Körper des Wissens“ aufzuspüren (5.1).

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Frings (2007), Millar (1984, 1986), Stone (2003), Kirby (1995), Topolski (1994), Medick (1996), Hölkeskamp (2011 1987) in der Anatomie; siehe auch Kapitel 3). Das ist aber bekanntermaßen nicht immer so, denn die Existenz von Konkurrenzprodukten zu ähnlichen oder identischen Problemen und dezidierte, exakte und konkurrierende Gegenhypothesen darf in der Breite auch bestritten werden (anders Pape 2006). Auch in den Geschichts- und Sozialwissenschaften ist es wohl häufiger so wie in der Geschichtsphilosophie: Man fängt öfters beinahe von vorne an.95 Komplizierter macht offensichtlich auch, dass sich konkurrierende Hypothesen z. B. nicht auf singuläre „Ereignisse“ oder Handlungen beziehen, sondern beispielsweise in der Alten Geschichte auf die Römische Republik (Kapitel 3). Hier konkurrieren auch oftmals auch nicht völlig singuläre Hypothesen, sondern Hypothesenmengen. Dennoch gibt es scheinbar auch in Geschichtswissenschaften Forschungs-„Dynamiken“, die allerdings meines Wissens noch kein Geschichtsphilosoph untersucht hat, obwohl z. B. ein analoges Zentralthema allgemeiner Wissenschaftstheorie Theoriedynamik ist, also die Abfolge oder Weiterentwicklung von Theorien.96 Da Hypothesen erst formuliert werden, nachdem etwas nicht ohne Weiteres lösbar erscheint (Kapitel 5), weshalb irgendetwas gesucht werden muss, ist dieses Vorgehen, bei existenten Hypothesen oder Hypothesenhaufen zu beginnen, auch plausibel und trivialerweise nicht anders als in anderen Wissenschaften: At times a problem is determined by the „blank spaces“ in certain regions of the sociographic map of social facts – an awareness of the existence of extensive realms of social reality of which we have a very poor knowledge vgl. z. B. Chamoux und Dauphine (1969), Jones (1960), Wozniak (2013). At other times, it is shaped by the realization that two contradictory hypotheses or competing theories exist in the science, and these call for research in order to resolve this situation vgl. z. B. Schmitthenner 1952, Stephenson 1988, Stone 2003, Topolski 1994a, Frings 2007a. At times, some „methodological discovery“, the discovery of a new method of investigating social phenomena, reveals such far reaching applications that it becomes a point of departure for approaching important scientific problems vgl. z. B., aber cum grano salis, Medick 1996, Sewell 1985, Topolski 1994a, 1979 1965, Füssel 2006, Frings 2007a (Nowak 1977, 10). Laien können – wie in den Naturwissenschaften – zu den meisten Bereichen der Geschichtswissenschaft schon deshalb keinen Beitrag leisten, weil sie auf die entsprechenden Fragen nicht kommen können, deren Beantwortung im disziplinären Kontext als interessant gelten 95

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Der hier zu vermutende Widerspruch, dass Geschichtswissenschaftler zugleich nicht von vorne anfangen und doch von vorne anfangen, kommt darin scheinbar zustande, dass der Hypothesengrund, vor dem sie anfangen, nicht exakt diejenigen Gegenstände betrifft, die man sich vornimmt. Beispielsweise ist der Hintergrund von Sewell die „urban history“, die aber keine (oder kaum) Studien zu Marseille umfasste. Calaresus Hintergrund sind Forschungslinien zur Geselligkeit in Europa, sie untersucht aber Neapel (usw.). Im Fall von Topolski umfasst der Hypothesenhintergrund der Forschungslinie offenbar Konkurrenztheorien oder Modelle zur Entstehung der entsprechenden Systeme, soweit wir Topolskis Darstellung hier glauben (3.1.5). Diese Trivialerkenntnisse sind nur insofern eine Bemerkung wert, als sie in der Geschichtsphilosophie keine Rolle spielen, weil Geschichtswissenschaft im Sinne von geschichtswissenschaftlicher Forschung (2.1) gar keine Rolle (mehr) spielt (vgl. im Kontext des Narrativismus Lorenz 2004b). Man weiß daher auch beinahe nichts über Entwicklung von Hypothesenbeständen in geschichtswissenschaftlichen Forschungslinien und beispielsweise, ob es irgendwo Fortschritte in irgendeinem Sinn gibt oder ob es so ist, wie es immer vage heißt: „Jede Generation schreibt ihre eigene Geschichte“. Ganz so einfach ist es offensichtlich (Kapitel 3) in vielen Fällen nicht.

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kann, weil ihnen die Hintergrundüberzeugungen dazu fehlen. Dass auch dies alles in den Geschichtswissenschaften heterogener ist, als hier suggeriert wird, ist klar oder darf vermutet werden. Wir müssen uns hier daran erinnern, dass Geschichtsphilosophie in den Augen mancher Geschichtstheoretiker (z. B. Marwick 2001) suggeriert, Geschichtswissenschaftler setzten sich auf einen Stuhl und erzählten einfach drauflos ihre „Geschichten“. Ganz so simpel ist es wohl wieder nicht und in manchen Fällen ist es weitaus komplizierter. Unsere Geschichtswissenschaftler streben also nicht die Beantwortung beliebiger Fragen an, sondern die Beantwortung solcher Fragen, die einen signifikanten oder gar originellen Beitrag zur Forschungstradition oder Forschungslinie oder einem „Forschungsfeld“ (Medick et al. 1992, 70) darstellen. Das heißt auch, sie situieren ihre Fragen nicht bloß irgendwie in der – manchmal natürlich völlig diffusen – Forschungslandschaft, sondern sie spüren Mängel in dieser Forschung auf und haben den Anspruch, sie irgendwie zu beheben. Sie evaluieren den Stand der Forschung. Beispielsweise knüpfen explizit Alpers (1995), Millar (1984, 1986), Schmitthenner (1952), Hölkeskamp (2011 1987) und Rilinger (1976) (siehe Kapitel 3.1) an relativ verbreitete „Theorien“ – so die Bezeichnung mancher Geschichtswissenschaftler – aus der Alten Geschichte an. Stone (2003) und Frings (2007) wie auch Topolski (1994) wurden dadurch zu ihren Forschungsanstrengungen herausgefordert, dass sie – wie auch immer sie dazu gekommen sein mögen – die „Erklärungen“ (Kapitel 5.4) in ihrem Forschungsbereich für mangelhaft gehalten haben, was sie auch nachzuweisen versuchen, um ihr Projekt zu rechtfertigen, was eben heißt, ihre „(geschichts)wissenschaftliche“ Signifikanz nachzuweisen, um die es eben auch in geschichtswissenschaftlicher Forschung geht. Es geht beinahe offensichtlich nicht um „Erzählung“, zumindest nicht im Sinn der Neuverplottung des Bekannten (z. B. Munslow 2007, 2010). Anders und einfacher gesagt: Beinahe alle hier herangezogenen Autoren behaupten, in der einen oder anderen Hinsicht etwas Neuartiges zu leisten, was nichts anderes ist als der Anspruch jeder „wissenschaftlich“ zu nennenden Forschung. Die Behauptung eines Geschichtstheoretikers, „der Historiker interessiert sich für Ereignisse allein aus dem Grund, dass sie stattgefunden haben“ (Veyne 1996 1975, 125) ist auch eine recht unterkomplexe („positivistische“) Selbstbeschreibung der „Zunft“, genauso wie die immer wieder zu vernehmende These, die Forschung von Geschichtswissenschaftlern hänge vornehmlich von irgendwelchen „kulturellen“ oder „gesellschaftlichen“ Einflüssen in ihrer jeweiligen Gegenwart irgendwie ab, wobei es nach wie vor schwer zu sein scheint, dem „irgendwelchen“ und „irgendwie“ Substanz zu verleihen. Außerhalb all dieser Traditionen, d. h. außerhalb des Kontextes geschichtswissenschaftlicher Forschung, sind die gestellten Fragen und die vorgeschlagenen Antworten zumeist irrelevant. Eine Ausnahme diesbezüglich ist Pressac (1993, 1 ff.), der auch als NichtGeschichtswissenschaftlicher im akademischen Sinn97 die Öffnung von Archiven im ehemaligen Ostblock Anfang der 1990er Jahre dafür nutzte, um „ohne mündliche und schriftliche Augenzeugenberichte“ herauszufinden, wie es eigentlich gewesen ist im Fall der „Vernichtungsmaschinerie im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“, dessen „genaue Geschichte“ er „zusammentragen“ wollte, um „gegen diejenigen anzutreten, die die Möglichkeit zur technischen Durchführung der Massenvernichtung bestritten“. Auch im Fall von Frings (2007, 21) und Wozniak (2013) spielen Möglichkeiten zur neuen Datenerhebung eine Rolle in der Entstehung der Forschungsprojekte.98 97 98

Dessen Forschungen wurden aber scheinbar von der „Zunft“ anerkannt; siehe Bauer et al. 1998. Es ist daher bezogen auf alle hier gesichteten Studien bis auf eine Ausnahme merkwürdig, dass Geschichtsphilosophen manchmal behaupten, das Ziel von „Geschichte“ sei Sinnstiftung oder „Orientierung“ (z. B. auch Kistenfeger 2011) und historische Abhandlungen bewährten sich letztlich außerhalb der vier Wände

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Abbildung 8

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Topolskis Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung, Teil I (aus Topolski 1976, 587; im Original unbeschriftet).

Man könnte, um diese relevanten Fragen von anderen begrifflich abzugrenzen, schlicht und ergreifend von Forschungsfragen sprechen, zum Beispiel im Unterschied zu diagnostischen Fragen (Topolski 1976, 360). Manchmal werden Geschichtswissenschaftler schlicht dadurch berühmt, dass sie einen, zunächst vielleicht vagen, dafür aber originellen Fragenkatalog aufstellen und damit ganze Forschungstraditionen lancieren, ohne zu deren Beantwortung sonderlich beizutragen, z. B. G. Oestreichs Fragestellungen zur „Sozialdisziplinierung“ in der Frühen Neuzeit, die Hunderte von Forschungsbeiträgen mit motiviert hat, aber in der Generalität der Ursprungsproblematik vermutlich unbeantwortet geblieben ist. Diese Forschungsfragen scheint auch eventuell im Idealfall auszuzeichnen – wie eben angedeutet worden ist – dass sie, wie Mario Bunge sagen würde, in „Konstellationen“, „Gruppen“ oder in irgendwie geordneten ,zusammenhängenden, strukturierten, relationierten Bündeln vorkommen. Er schreibt auch von der „Systematizität wissenschaftlicher Probleme“ (Bunge 1967a, 193 ff., Bunge 1959b). S. Nowak (1977, 24) schrieb davon, sie stellten ein „system of questions“ dar, wobei die Systematizität wohl zuerst von einer forschungslogischen Präzedenz der Fragen herrührt: „Answers to more detailed questions then become a condition of answers to the more general questions“ (Nowak 1977, 24 f.). Wie wir ansatzweise gesehen haben, könnte es so sein, dass es im Fall von Topolskis Forschung sich umgekehrt verhielt (Kapitel 3.1.5), und dass in den Geschichtswissenschaften alles unübersichtlich ist. Ohne irgendeine Ordnung der Fragestellungen ist methodisches Forschen jedoch eigentlich unmöglich. In einem Forschungsplan oder –„Design“ würden diese Fragen grob und revisionsoffen zu explizieren sein (Blaikie 2007, 2010). Obwohl hier fast alles offen gelassen werden muss, kann man zumindest festhalten, dass die auch in Geschichtswissenschaften als Disziplin erkennbare Dynamik des Fragenstellens und Beantwortens auch hier damit verbunden ist, dass geschichtswissenschaftliche Ergebnisse nur selten oder nie auf einen Schlag erzielt, sondern graduell erlangt werden, bekanntermaßen regelmäßig mit Rückschritten. Nur der Scharlatan weiß auf Anhieb alles und versteht alles ohne Anstrengung, zumindest glaubt er das vielleicht. Mehr weiß man aber hier erst, wenn man ganze Forschungslinien und nicht isolierte Studien untersucht. Halten wir die Moral von der „Geschichte“ (2.1) kurz fest: „We can’t fully understand a single study’s results apart from the larger body of knowledge to which it is related (…)“ (Schutt 2004, 74). Natürlich ist auch Nicht-Wissen und Nicht-Verstehen relevant, um zu verstehen, warum Geschichtswissenschaftler zu ihren Ergebnissen kommen (5.1). Denn man der Akademie. „Die Historiker“ oder „historians generally“ wenden sich nicht – wie z. B. auch Mink (1966, 44) behauptete – an ein breites Publikum, zumindest nicht in ihren wissenschaftlichen Schriften (8.2).

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kann schon nicht verstehen, warum die Forscher die Fragen stellen, die sie stellen, ohne auf diese weiteren Überzeugungen („knowledge“) und deren „Lücken“ zu verweisen.99 Da der Kontext der Geschichtsphilosophie teilweise so seltsam ist (Kapitel 2), müssen wir hier eine Frage stellen: Warum muss das Offenkundige so breit erzählt werden? Weil „historical works“ oder „historical accounts“ oder „historical narratives“ oder „Geschichten“ (2.1) eben beinahe nie so aussehen, wie Geschichtsphilosophen stipulieren, zumindest wenn man dieses oder ein ähnliches Sample zugrunde legt. Die Texte von Geschichtswissenschaftlern („Geschichten“) beginnen weder mit einem Ereignis, dessen Ursachen sie dann „rückwärts“ nachverfolgen, noch notwendigerweise mit irgendetwas, das sie dann vorwärts chronologisch nachverfolgen, und genauso wenig springen sie in der Chronologie der „Ereignisse“ signifikant mit „narrativen Sätzen“ (A. C. Danto 1980 1965) vor und zurück. Es handelt sich auch allzu regelmäßig nicht um dasjenige, was Mandelbaum „explanatory account“ nannte, obwohl das im Kontext der Rede von „der Geschichte“ (Disziplin) eine intuitiv plausible Idee zu sein scheint (vgl. Gerber 2012), weil eine bestimmte und vielleicht auch triviale Ontologie dabei unterstellt wird, vielleicht eine Ontologie „der Geschichte“ (Kapitel 2.1): Speaking generally, inquiry starts from a given outcome and proceeds in a direction that is the reverse of the direction in which the events responsible for that outcome actually occurred; in other words, an explanatory account involves a tracing back of events from the present toward the past (Mandelbaum 1977, 26). Das scheitert alleine schon in dieser Trivialform an dafür nicht zur Verfügung stehenden Quellen und daran, dass Geschichtswissenschaftler recht offensichtlich nicht immer solche Fragen stellen. Mandelbaum scheint in seiner „Anatomie“ Forschung, Darstellung und die von ihm vorausgesetzte Ontologie und mithin eine philosophische Vorstellung mit konkreter Praxis zu konfundieren. Was alle Geschichtswissenschaftler der Mini-Anatomie machen, ist bestimmte Fragen vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen und dem disziplinären Kontext zu stellen und diese zu beantworten, und vielleicht nur äußerst selten wird man etwas wie Mandelbaums „explanatory accounts“ ansatzweise finden, obwohl es auch so etwas in Sozialwissenschaften im Allgemeinen gibt, z. B. wenn ein Telefonat zwischen zwei Personen aufgezeichnet ist, dessen Verlauf am Ende dazu beiträgt, dass die Ambulanz zu spät kommt (Whalen et al. 1988), was dann im Kontext der Disziplin, die „Social Problems“ heißt, manche Forscher interessiert. Etwas komplexer, aber immer noch wenig kontrovers, sieht das Modell der geschichtswissenschaftlichen Forschung als Antwort auf die zentrale Frage (2.3) dann wohl so aus: For99

Beispielsweise schrieb Orth (1999, 17), diesen trivialen Punkt illustrierend, im Rückblick auf ihre Forschungsaktivitäten zunächst: „Bis heute ist das System der Konzentrationslager, das als besonders monströse Ausformung des Verfolgungsapparates und zugleich genuines Element des Nationalsozialismus gelten kann, nur höchst unzureichend erforscht.“ Das galt also auch noch nach ihren Forschungsbemühungen und noch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Zu ihrer eigenen Forschung schreibt sie (1999, 16 f.): „Auf zahlreiche Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Untersuchung der Lager-SS stellten und die Ausprägung und Veränderungen des Lagersystems insgesamt betrafen, gab die vorliegende Forschungsliteratur keine Antwort. Die Beschäftigung mit den zentralen Tätergruppen innerhalb der Konzentrationslager führte mich allmählich und immer stärker zu einer Forschungsperspektive, die nach den Strukturen und Entwicklungen des KZ-Systems insgesamt fragt. Welche Lager oder Lagertypen lassen sich, so der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, überhaupt unter den Begriff „Konzentrationslager“ fassen – und bildeten diese ein System? (….) Aus diesem Befund ergaben sich die weiteren Leitfragestellungen: Wie veränderte sich das KZ-System im Laufe der NS-Herrschaft und welche Funktionen erfüllte es in den unterschiedlichen Phasen? Welche Konzeptionen oder Intentionen lagen dem Funktionswandel zugrunde? Und schließlich: Welche Auswirkungen hatte der Funktionswandel auf die in die KZ gesperrten Menschen?“

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schungsstand → Fragen → Antworten, wobei die Pfeile irgendeine Art von Bedingung oder forschungslogischer Abhängigkeit andeuten.

4.1.4 Trivialerkenntnis 4, aber …: Geschichtswissenschaftler suchen begründete Antworten auf geschichtswissenschaftlich signifikante Fragen Geschichtswissenschaftler suchen begründete Antworten auf geschichtswissenschaftlich signifikante Fragen (siehe auch Abbildung 9, 141). Irgendwelche Fragen sind offenkundig auch in den Geschichtswissenschaften genauso billig wie uninteressant, irgendwelche Antworten auch. Aus diesem Grund offenbaren unsere Geschichtswissenschaftler häufiger gleich zu Beginn der Berichte über ihre Forschung recht schnell die Datenlage oder „Quellenlage“, also was potenziell oder tatsächlich beobachtbar ist, und sie verweisen manchmal – falls vorhanden und bekannt – auf die zur Beantwortung der Frage herangezogenen Methoden. An das obige Zitat von Hans Medick, in dem er seine Fragen listet, folgt z. B. direkt ein Paragraph mit Verweisen auf die Quellen, die Daten zu ihrer Beantwortung bereitstellen sollen (Medick 1996, 316). Sie verwenden bekanntlich teilweise bereits bekannte Quellen, die, falls es Texte sind, auch im Druck und Editionen vorliegen mögen, und suchen gemäß ihrer Fragestellungen neue. In dem etwas kurios klingenden Titel von Hitzbleck (1971) „Die Bedeutung des Fisches für die Ernährungswirtschaft Mitteleuropas in vorindustrieller Zeit unter besonderer Berücksichtigung Niedersachsens“ deutet die „besondere Berücksichtigung Niedersachsens“ auf eigene Quellenstudien hin.100 Auch all dies spielt in der textualistischen und forschungsfremden Geschichtsphilosophie fast keinerlei Rolle (mehr). Dass Geschichtswissenschaftler in unterschiedlichen Bereichen auf unterschiedliche Weise lang und breit und verwickelt (informell) argumentieren und eben nicht „erzählen“, nachdem sie einleitend bloß angedeutet haben, dass sich ihre Fragen auf der Basis von etwas Überliefertem überhaupt prinzipiell beantworten lassen, kann nicht verwundern, sagen doch die Daten („Quellen“) bekannterweise für sich überhaupt nichts, begründen keine Hypothesen und beantworten keine Fragen. Sie stellen nämlich keine Fragen, stellen keine Hypothesen auf und begründen auch trivialerweise keine solchen Hypothesen, wie es auch im berühmten Dictum vom „Vetorecht der Quellen“ (R. Kosselleck) anklingt. Dies gilt noch immer als eine Erwähnung wert (Antiseri 2005, Di Nuoscio 2004, Bunge 1996, 88 ff., Kistenfeger 2011, 222 ff.). Geschichtswissenschaftler, zumindest die meisten der hier betrachteten, versuchen nicht nur in den Fußnoten, sondern auch im Fließtext, in dem nach Maßgabe der Geschichtsphilosophie eigentlich „erzählt“ werden müsste, begründete Antworten auf signifikante Fragen zu liefern, und dazu versuchen sie (i) – mal mehr, mal weniger – explizite Beziehungen argumentativer Art zwischen den herangezogenen Daten und den zu begründenden (oder zu schwächenden) Hypothesen als Antworten auf die Fragen herzustellen, oder sie setzen ebenso häufig (ii) diese (Rechtfertigungs-)Beziehungen schlicht voraus, ohne sie explizit zu machen, indem sie schlicht mithilfe einer Fußnote auf „Quellen“ verweisen, d. h. z. B. auf eine Ar-

100

Bei dieser Schrift handelt es sich wohl nicht um eine Kuriosität, deren Berücksichtigung das Bild der „genuinen“ oder „echten“ „Geschichte“ verwässert, wie man auf der Basis des Titels vielleicht zu vermuten geneigt ist. Es handelt sich um eine Dissertation bei dem immerhin international bekannten Wirtschaftsgeschichtswissenschaftler W. Abel, der diese als geschichtswissenschaftlich anerkannte. Es gibt auch ähnliche Fälle aus demselben universitären Entstehungskontext (Huntemann 1970 und Mauruschat 1975) neben wohl unzähligen mehr aus dem weiteren Kontext von Wirtschaftsgeschichtswissenschaft.

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chivsignatur, mit deren Hilfe man irgendein Ding irgendwo finden kann. So viel kann man leicht feststellen. Eine Rechtfertigungs-, Bestätigungs- oder „Test“-Theorie und zumal eine solche, die mit konkreter und vielleicht heterogener Forschungspraxis in Kontakt steht, ist allerdings noch immer eines der größten Desiderata einer an Geschichtswissenschaft, Wissenschaftlichkeitskriterien oder Methodologie orientierten Geschichtstheorie und -philosophie, denn zu diesem Problemkontext gibt es bemerkenswerterweise beinahe überhaupt keine Literatur im Rahmen von Geschichtsphilosophie und -theorie.101 Unsere Geschichtswissenschaftler sagen explizit, es gelte, (Hypo-)Thesen zu bestätigen und andere zu schwächen. Das machen sie auch, um ihre Leser zu überzeugen (Topolski 1997, 15). Sie machen dies aber wohl auch (vgl. McCullagh 1998, 2004), um Gründe dafür zu liefern, an die Wahrheit der Hypothesen glauben zu dürfen, obwohl von Wissen und Wahrheit in der „Zunft“ teilweise wohl nicht mehr gesprochen werden darf (Paravicini 2010). Geschichtswissenschaftler versuchen offenbar, Glaubensgründe („reasons for believing“) für ihre Hypothesen zu finden und manchmal transparent, d. h. argumentativ und dadurch nachvollziehbar, darzulegen. Die meisten der Geschichtswissenschaftler in diesem Sample sind Realisten im Sinne dessen, das ich „Policy-Realismus“ oder, schöner, „methodologischen Realismus“ nenne (Kapitel 7.1), d. h. sie streben die Wahrheit ihrer Hypothesen an und Glauben prima facie an die Möglichkeit wahrer Hypothesen (epistemologischer Realismus, 7.1). Schwächer formuliert, was sie schreiben, spricht eher dafür, dass sie einen solchen methodologischen Realismus voraussetzen. Auch das ist eine basale philosophische Wahl (2.3), von der viel abhängen kann, zum Beispiel in welchem Ausmaß ein Forscher sich um die Rechtfertigung seiner Antworten bemüht oder eben auch nicht. (Von Historikern, die vom sog. „Postmodernismus“ inspiriert sind, gilt eventuell, dass sie hinsichtlich Wahrheit und Rechtfertigung in Theorie und Praxis andere Wahlen treffen; siehe z. B. Evans 1999, 234 ff.) Eine andere Frage ist selbstverständlich und zunächst auf rein philosophischer Seite, ob man über den methodologischen Realismus hinaus auch einen geschichtswissenschaftlichen Realismus (7.1) vertreten möchte, in dem behauptet wird, geschichtswissenschaftlichen Hypothesen, zumindest einige, seien wahr, was die Beantwortung vieler weiterer Fragen voraussetzt. Manche Philosophen halten die Frage und ihre Antwort für unbeantwortbar, irrelevant, unnötig oder zu komplex (z. B. Goldstein 1976, Bunzl 1997, Tucker 2004a, Pape 2006; mein Agnostizismus findet sich in Kapitel 7.1). Anders und etwas provokant gesagt, unsere Sample-Geschichtswissenschaftler sind eigentlich Neo-Rankeaner, wenn man andere (philosophische) Probleme zunächst ausklammert 101

Die Ausnahmen sind Murphey 1973, 1994, 2009, McCullagh 1984, Milligan 1979, Tucker 2004a, Day/Radick 2009. Für Praktiker dürfte auch Toulmins (Toulmin et al. 1984) Argumentationstheorie nützlich sein, die von sozialwissenschaftlichen Autoren der Methodologieliteratur häufiger verwendet wird. Früher wurde neben statistischen Verfahren hier die hypothetisch-deduktive Methode (manchmal auch als die wissenschaftliche Methode firmierend; 2.1) vorgeschlagen. In der Philosophie werden diesbezüglich nun regelmäßiger Schlüsse auf die beste Erklärung kontrovers diskutiert (Lipton 1991, skeptisch Klärner 2003, optimistischer Bartelborth 2012; siehe auch Scholz 2015b und bereits McCullagh 1984, 2004). Dass von Rechtfertigung in der Geschichtsphilosophie fast keine Rede ist, verwundert nicht, wenn man feststellt, dass von Hypothesen (Kapitel 5.1) auch keine Rede ist, genauso wenig wie von Forschung (sondern von „Geschichte schreiben“; 2.1). Goldstein (1976, 213 f.) bemerkte bereits, soweit ich seine Terminologie richtig verstehe, dass z. B. der Schritt von einer Quelle zur Tatsachenhypothese (oder die Relation der Rechtfertigung einer Hypothese aufgrund von Daten) auch in geschichtstheoretischen Handbüchern kaum vorkommt. McCullagh (2008, 275) notierte ein mögliches epistemisches Problem für Philosophen: „Historians normally do not present the reasoning that lies behind their descriptions of the past“. Ihm zufolge geschieht das erst dann, wenn Kritik geäußert und eine Verteidigung notwendig wird. Andernorts heißt es, die „standards of justification“, die Historiker verwendeten, seien „for the most part […] intuitive“ (McCullagh 2004, 18 f.).

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und komplexe Fragen um Realismus oder, besser, unterschiedliche Realismen (ontisch, epistemisch, methodologisch, semantisch, historisch, geschichtswissenschaftlich etc.) nicht direkt in einen Topf wirft (vgl. auch teilweise Haskell 1990): Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen (von Ranke 1874, 7). Zu den hier auszuklammernden Problemen gehört, dass einige der Gegenstände auch der Geschichtswissenschaftler der Mini-„Anatomie“ prima facie (Kapitel 7) nicht existieren oder „gewesen sind“, z. B. Gruppen von Grubenarbeiterkindern, „Veränderungen“ von Durchschnittspreisen oder Trends in Produktivität von Schafen (Kapitel 3). Abgesehen von solchen Komplikationen wollen unsere Geschichtswissenschaftler doch oftmals gerechtfertigte Hypothesen darüber aufstellen, „wie es eigentlich gewesen“, weil sie wahre Hypothesen anstreben, was mit der Metapher „zeigen“ bloß unklar und nun altbacken umschrieben ist.102 Der Geschichtsphilosoph W. Wächter (1986, 42) schrieb noch, „Rankes Dictum enthält ein invariantes Element der disziplinären Matrix der Geschichtswissenschaft“, und das bei allen sonstigen paradigmatischen Unterschieden. Dass (zumindest manche) Geschichtswissenschaftler wohl doch Wahrheit oder Wahrheitsnähe anstreben, hat wieder nichts damit zu tun, dass sie behaupten würden, ihre Behauptungen seien tatsächlich wahr (Kapitel 7.1). Dies wird von Geschichtswissenschaftlern selten, wenn nicht gar beinahe nie behauptet (siehe Kapitel 3 sowie die weitere Literatur der „Anatomie“).103 102

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Mir ist natürlich bekannt, dass man in (bundesrepublikanischen) Historischen Seminaren nicht mehr so reden darf. Es weiß nur keiner, warum genau (7.1). Von Ranke galt früher noch als „Genie“ unter führenden Geschichtswissenschaftlern (z. B. Bernheim 1908, 237), darf heute aber wohl nicht mehr zitiert werden, im Unterschied zu z. B. Marc Bloch, der genau dasselbe schrieb. Die Geschichtstheoretiker Marwick (2001) und Paravicini (2010) scheinen das noch immer ähnlich zu sehen, auch wenn Philosophen vom Rankeanischen Mythos schreiben (Plenge 2014b). Bloch (2002 1949, 157) schrieb: „Wenn das Urteil damit meint er das moralisierende Urteil, dp wenigstens auf die Erklärung folgte, stünde es dem Leser frei, einfach weiterzublättern. Wer aber ständig urteilt, der verlernt mit der Zeit das Erklären.“ Beinahe völlig Rankeanisch heißt es ferner (ebd. 210): „‚Wer ist schuld?‘ bzw. ‚Wem gebührt das Verdienst?‘, fragt der Richter. Der Wissenschaftler begnügt sich dagegen mit der Frage ‚warum?‘ und nimmt in Kauf, daß die Antwort nicht einfach ist.“ Braudel (2001 1949, 134) schrieb unscheinbar zwischen den Zeilen seines berühmtesten Werkes: „Die Vergangenheit läßt sich durch eine Reihe von Fragmenten rekonstituieren.“ Der Historische Anthropologe Richard van Dülmen (1999a, 31) schien an die „tatsächlichen Verhältnisse“ heran zu wollen bzw. favorisierte an dieser zitierten Stelle Berechnungen, die an die „Wirklichkeit“ möglichst nah heranreichen. Zu Problemen um Ausdrücke wie „Tatsache“ siehe 7.3.7, zu Fragen, die sich im Kontext der Rede von „Objektivität“ stellen, siehe Plenge (2018). In der Lektüre des Dictums muss man mindestens viererlei trennen, was oftmals nicht getrennt zu werden scheint: (i) Wahrheitsnähe als Ziel der Forschung; (ii) die Beschränkung der Aufgabe der Geschichtswissenschaften auf die Lösung kognitiver Probleme (5.1), manchmal als „Positivismus“ verschrien; (iii) die vermeintliche Einschränkung der Erkenntnisziele auf Beschreibung des „wie es gewesen“ unter Verzicht auf Erklärungs- und/oder Verstehensbemühungen; (iv) der Verzicht auf Werturteile, auch manchmal als „Positivismus“ bezeichnet. Natürlich behauptet auch keiner der Geschichtswissenschaftler, seine Geschichte sei wahr, zunächst weil wohl niemand glaubt, eine Geschichte zu schreiben, was immer genauer mit „Geschichte“ hier oder dort gemeint sein mag (2.1), was der Klärung der Frage noch vorgelagert wäre, was es denn heißen könnte, dass eine Geschichte überhaupt wahr ist, wenn diese Frage von Interesse wäre. Ich muss gestehen, dass ich derzeit diesbezüglich keinerlei Vorstellung habe. Lorenz (2004b, 58) schreibt: „Historiker geben sich nicht mit bloßen Geschichten zufrieden, sie beanspruchen, wahre Geschichten vorzulegen, und dieser Wahrheitsanspruch zeichnet sie aus.“

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Kürzer formuliert und Kontroverses um Realismus, rechtfertigungstheoretische Probleme und Wahrheit ausgeklammert, die nachfolgende Wissenschaftsnorm ist zumindest unseren Geschichtswissenschaftlern nur allzu geläufig und teilweise wird ihre Einhaltung auch gefordert, wobei sich auch diesbezüglich unterschiedliche Schulen unterscheiden könnten: Darin liegt der spezifische Charakter der Wissenschaft, daß sie ihre Behauptungen nicht einfach hinstellt, sondern Rechenschaft für sie gibt (Kraft 1971, 27). Dies ist ohnehin einer der möglichen Indikatoren dafür, ob es sich bei einer Abhandlung überhaupt um ein geschichtswissenschaftliches Produkt handelt (Cardoso 1982, 189), im Unterschied z. B. zum Vorliegen irgendwelcher Erzählformen und ähnlichem (H. White 2008 1973, vgl. Frings 2008). Wir haben also nun etwas, das modellartig so ähnlich aussieht wie: Forschungsstand → Fragen → „Quellen“ → Daten plus ggf. explizite (informelle) Argumente plus Methoden → begründete Antworten. Natürlich gilt auch hier Folgendes: Dieses (Trivial-)Ergebnis ist das Resultat der Festlegung des Forschungsgegenstandes (2.1) und des Materials für Fallstudien (3.1). Bei anderer Festlegung des Materials (Kapitel 8.2), zum Beispiel unter der Berücksichtigung dessen, was ich im Unterschied zur „Geschichtswissenschaft“ mal (unvorsichtig) „Geschichtsschreibung“ genannt habe (Plenge 2014b), findet man all dies nicht, sondern „Erzählungen“ (was immer mit „Erzählung“ gemeint sein mag; 2.1, 4.2, 6.4).

4.1.5 Trivialerkenntnis 5, aber …: Geschichtswissenschaftler motivieren ihre Forschung durch die Anknüpfung an unterschiedliche Ansätze Geschichtswissenschaftler motivieren ihre Forschung über den Forschungsstand hinaus (manchmal explizit) durch die Anknüpfung an bestimmte Ansätze. Dass sogenannte „Ansätze“ oder „Schulen“ (Lloyd 2009) in Geschichtswissenschaft und auch anderen Sozialwissenschaften irgendwie relevant sind, lässt sich in jeder neueren Geschichts(meta)theorie nachlesen. Warum aber genau, ist seltener zu erfahren. Im Rahmen der Anatomie bleibt in beinahe allen hier betrachteten Fällen, in denen dies geschieht und die im Sample auch nicht sonderlich häufig sind, recht unklar, was diese Ansätze („approaches“, „perspectives“, „paradigms“), die häufiger in der Geschichtswissenschaft auch „Theorie“ genannt werden, eigentlich sind oder umfassen, welche (generellen) Annahmen dort zentral sind. Einzig in Frings‘ (2007) Andockung an die Essersche (Esser 1996) „Erklärende Soziologie“ sind die Annahmen weitgehend explizit, d. h. so weitgehend wie in der Quelle (7.6). Eine philosophische und systematische Diskussion dieser Ansätze ist mir aus der Geschichtsphilosophie bisher nicht bekannt. Ferner ist nicht immer zu erkennen, welche Methoden oder Techniken genau welche Rollen genau einnehmen und den Ansatz sozusagen integrieren, falls überhaupt irgendwelche. Häufiger scheint man eher über eine recht lose Sammlung theoretischer Begriffe zu verfügen. „Theoretische Begriffe“ meint an dieser Stelle schlicht alles, was nicht direkt als Common Sense identifizierbar ist. Die Geschichtstheoretikerin M. Fulbrook schreibt über „Pidgin paradigms and magpie theories“: In many areas of western academia at least, it is fashionable to be ‚theoretical‘, and particularly to offer a ‚new approach‘. (…) Often concepts are borrowed, like glitter-

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ing titbits, from one theoretician or another, and transposed to new contexts in what can be a highly eclectic fashion. Hence the term ‚magpie theory‘, or, to point out just how much the concepts may change as they are transposed to construct a new and hybrid tongue, ‚pidgin paradigm‘ (Fulbrook 2002a, 47). Fulbrook nennt Bourdieus „Habitus“ und Foucaults „Macht“ und Webers „charismatische Herrschaft“ als derartige Begriffe. Fulbrook (2002a, 42) spricht in Kontext dessen, was hier „Ansatz“ genannt wird und was sie „paradigms proper“ nennt, u. a. auch von „a whole set of explicit theoretical propositions and concepts, and related applications and investigations“, die solch ein „Paradigma“ umfassen könne. Allerdings nennt sie, wie auch andere Geschichtstheoretiker, diese theoretischen Propositionen nicht, d. h., sie nennt keine Beispiele für „theoretische Propositionen“ aus verschiedenen Ansätzen oder zeigt auf, wie jene „Begriffe“ in „Forschung“ genauer „angewendet“ werden und welchen Gewinn jene Anwendung verspricht, z. B. im Fall von „Habitus“, „Macht“ und „charismatische Herrschaft“. Da es nicht um Singuläres gehen kann, ist eine kritische und durchaus an C. G. Hempel (1942) anknüpfende Frage eventuell (Kapitel 6.1): Wie lautet die theoretische allgemeine Hypothese hinter den „theoretical concepts“, falls es eine gibt (oder, besser, in denen diese Begriffe Verwendung finden)? Im Sample dürften sich bloß M. Füssel (2006, „Kulturgeschichte“, „symbolische Kommunikation“, „Institutionalismus“), W. H. Sewell (1985, Quantitative Sozialforschung), A. Frings (2007, „Erklärende Soziologie“) und J. Topolski (1994, Komparative Makrogeschichtsforschung und Marxianische Ontologie) explizit zu etwas bekennen, was man „Ansatz“ nennen könnte. In anderen Fällen findet man Spuren von Ansätzen und „Theorie“ in der Form von (meta-)theoretischem Vokabular wie „Struktur“, „Institution“, „System“ und weiterem (z. B. Rilinger 1976, Hölkeskamp 2011 1987, Adams 1997, Kintzinger 2000), wobei beinahe nie explizit gesagt wird, was diese Ausdrücke genau bezeichnen, was entweder Klarheit im Kreis typischer Rezipienten voraussetzt oder aber zu bleibender disziplinärer Unklarheit beiträgt (Kapitel 7). Im Fall von Wozniak (2013) stiften die Verbindung zu einer Forschungslinie die globalen Fragestellungen der Historischen Sozialtopographie und dort geteilte Methoden. Wenn man sich darüber zu spekulieren erlaubt, was diese „Theorien“ oder „Ansätze“ umfassen, dann lässt sich wohl sagen, dass sie minimal bestimmte (vage) Forschungsgegenstände und (globale) Fragestellungen umfassen, wie es z. B. in Signalterminologie wie „MakroMikro“, „Struktur“ vs. „Handlung“ oder „Ereignis“, „Soziales“ versus „Kultur“ oder „Ursachen“ versus „Bedeutung“ nahelegen. In kulturgeschichtswissenschaftlicher Metatheorie heißt es regelmäßig, es handelte sich bei Kulturgeschichte oder Historischer Anthropologie einzig um eine bestimmte Art, Fragen zu stellen (van Dülmen 2001, Daniel 2002), egal an welchen Gegenstand (im neutralen Sinn des Wortes) und wie die genauere Frage lauten mag. Eher sehr selten ist auch die Art und Weise, wie man zu einer Antwort auf die (globalen) Fragen gelangt, also Methoden oder jene „theoretischen Propositionen“, explizit mit diesen Ansätzen verbunden („quantitativ“ vs. „qualitativ“, „Narration“ oder „Analyse“ etc.). In erster Linie umfassen solche Ansätze wohl völlig allgemeine Grundüberzeugungen über die zu untersuchenden Gegenstandstypen, denen alles andere nachgeordnet ist. Die Karikatur des Sozialgeschichtswissenschaftlers glaubt ja an die Existenz von „Strukturen“ und „Prozessen“ und deren Zentralität oder „Geschichtsmächtigkeit“, also MakroMikro-Determinismus oder Makro-Makro-Determinismus, was sich in „Analyse“ statt „Erzählung“ und „Erklärung“ statt „Verstehen“ (3.2) niederschlägt. So ist es jedenfalls in der Metatheorie häufig zu lesen gewesen. Die Karikatur des Kulturgeschichtswissenschaftlers glaubt entweder an die „Konstruktion“ des „Kulturellen“ und das freie Spiel der „Performanz“, da „Soziales“ als nicht existent angenommen, flüchtig oder als irrelevant eingestuft

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wird, womit sich diese Karikatur vom „Prozess“-Determinismus der Sozialgeschichtswissenschaftler emanzipiert und beispielsweise in der Historischen Anthropologie die Handlungsspielräume der kleinen Leute in den Blick genommen werden sollen, wenn nicht doch – im idealtypischen kulturidealistischen Holismus – an den kulturellen Makro-Mikro-Determinismus oder Makro-Makro-Autotransformation der „Kultur“ durch z. B. autogenerative „Diskurse“ oder ähnliches geglaubt wird (siehe dazu kritisch Frings/Marx 2006 und im ontologischen Kontext Kapitel 7). Der Inhalt oder grundlegende Hypothesenbestand eines Ansatzes kann sich offenbar in bestimmten „Orientierungshypothesen“ (G. C. Homans) erschöpfen, in denen vielleicht auch für den Ansatz zentrales Vokabular vorkommt. Diese leiten dann eventuell die globale Thematik und Fragerichtung an, die einen Ansatz oder ein „Paradigma“ grob vereinheitlichen.104 Teilweise werden besondere Erkenntnisziele mit diesen Ansätzen und ihren Gegenständen verbunden, z. B. Erklärung und Verstehen (4.2). Das ist keineswegs kritisch gemeint, deutete es doch auf implizite Philosophie in der „Theorie“ der Geschichtswissenschaft dezent hin, die metatheoretische Problematiken andeutet (2.2). Medick (1996) glaubt z. B. an den iterierten Einfluss von Strukturen auf Individuen und Individuen auf Strukturen, von Mikro auf Makro und Makro auf Mikro, obwohl wie bei Topolski nicht ganz klar wird, wie dieses Verhältnis zwischen Strukturen und Akteuren zu verstehen ist. Dieselben groben Grundideen bzw. das Grundvokabular findet sich auch andernorts häufiger, sogar im Rahmen der eher zufälligen Auswahl der Mini-„Anatomie“ (z. B. Hölkeskamp 2011 1987, Rilinger 1976, Sewell 1985, Kintzinger 2000). Topolski (Kapitel 3.1.5) formulierte wiederholt und in etwas anderer Sprache, der „objektive“ „historische Prozess“ müsse mit dem „subjektiven“, den Überzeugungen und Werten handelnder Individuen („Struktur der Motivation“) sozusagen verknüpft werden, was eine Metaannahme ist, die in Frings’ (2007a) „Situationslogik“ (nach Esser 1996) ebenso vorhanden ist wie in Rilingers (1976) Modell des römischen politischen „Systems“, von dessen „Grammatik“ und „Mechanismen“ er schreibt. Es dürfte auffallen, dass diese Geschichtswissenschaftler vermutlich durchaus unterschiedlichen Traditionen oder „Ansätzen“ zuzurechnen sind, sich aber bezüglich dieser Metaannahmen durchaus ähneln. Die Geschichtswissenschaftlerin M. Fulbrook behauptete ganz ähnlich, „theoretische Ansätze“, „theoretische Perspektive“ oder „Paradigmen“, was alles dasselbe bezeichnen soll, bestünden aus einer Menge von Annahmen darüber, „wie die Welt funktioniert“. Das klingt zumindest, soweit es im Hyperallgemeinen verbleibt, nach Philosophie und der Möglichkeit zu philosophischen Wahlen: These include: the ‚naming of the parts‘, the vocabulary of concepts through which to capture reality; assumptions about the relationships among these constituent parts; and assumptions about priority, causality, relative importance, weighing, and so on (Fulbrook 2002a, 34). Die auf der Basis von Ansätzen formulierten groben Fragestellungen scheinen dann teilweise vor dem Hintergrund jener Annahmen über „Priorität, Kausalität, relative Wichtigkeit, Abwiegen und so weiter“ beantwortet zu werden. Genauer umfasse dieser „Rahmen“ der Geschichtswissenschaftlerin zufolge: (i) einen Rahmen von Fragen und Puzzles, (ii) Präsupposi104

Beispiele für Orientierungshypothsen sind „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ oder umgekehrt, „Menschen sind rational“, „Kultur ist konstruiert“, „Gender ist wichtig“, „Strukturen strukturieren“, „Das Soziale/Historische ist immer im Fluss“, „Der Mensch ist homo ludens“, „Institutionen prägen“, „Entscheidend is‘ auf’m Platz“ oder „Gewalt ist nichts Außeralltägliches, sondern immer eine Option“.

4.1 Proseminar Geschichtswissenschaft

Abbildung 9

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Topolskis Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung, Teil II (aus Topolski 1976, 418; im Original unbeschriftet).

tionen darüber, was anzuschauen ist („what to look at“): „the constitution of the ‚subject‘ of inquiry“; (iii) Präsuppositionen darüber, wonach zu suchen ist („what to look for“): „Quellen“ sowie „an associated set of methodological tools and concepts through which to capture and analyse the ‚evidence‘“; (iv) eine Vorstellung davon, was als Antwort dienen kann; (v) eine Vorstellung von den prinzipiellen Zielen („purpose“) von „historischen Rekonstruktionen“ und angemessenen „Formen der Repräsentation“ für verschiedene Typen von Publikum (Fulbrook 2002a, 34). Fulbrook (2002a, 36) schreibt ferner, ohne klare Beispiele zu nennen und leider ohne zu erläutern, was ein „Typ von Erklärung“ (Kapitel 5.4) ist: „The general background paradigm, or framework of inquiry, will determine which set of historical actors (individuals, classes, groups) are those set to play upon the stage; and what kind of explanation will satisfy a particular sort of curiosity.“ Philosophen fällt auf (Kapitel 6), dass sie, soweit ich sehe, nicht erläutert, was sie unter „Kausalität“ versteht oder was verschiedene Schulen jeweils unter „Kausalität“ verstehen. Ferner könnten dies und mehr Hinsichten sein, in denen Geschichtswissenschaften heterogen sind (8.2). Damit ist dann, betrachtet man diese Liste kurz, eigentlich auch nebenbei gesagt, dass „Theorien“ im Sinne von Theorien über irgendwelche Gegenstände dieser Ansätze bzw. der Geschichts- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen, also „Gegenstandstheorien“ oder, wie es in der Metatheorie der Soziologie häufiger heißt, „substantial theories“, zu diesen Ansätzen gerade nicht gehören oder nicht unbedingt, obwohl das obige Zitat das vermuten ließ. Damit verlassen wir dann auch offenkundig schon den Bereich des Unumstrittenen. Man erahnt hier zumindest erneut, warum Geschichtstheoretiker von „der Geschichte“, ihrer Einheit und ihrer einheitlichen Philosophie in aller Regel nichts wissen und von einer (recht unbestimmten) Heterogenität ausgehen (2.3). Auch aus der hier gesichteten Literatur ist nicht gut ersichtlich, wie das Verhältnis dessen, was Geschichtswissenschaftler häufiger „Theorie“ nennen und konkreter Forschung genau ist, worüber es in der deutschen Disziplin früher mal eine recht kleine „Theoriebedarfsdebatte“ gegeben hat. Dass nicht klar ist, welche Funktion jene „Theorie“ hat, liegt wohl auch daran, dass hier gerade nicht vorgesehen ist, was Naturwissenschaftler und Allgemeine Wissenschaftstheoretiker mit „Theorien“ und ihrer „Verwendung“ assoziieren, nämlich irgendeine Form von (theoretischer) Erklärung eines möglichst klar beschriebenen Explanandums auf der Basis möglichst klarer (allgemeiner) Hypothesen. I. Verstehen (2013) bemerkte mal, dass Theorie und Empirie häufiger im Verhältnis einer friedlichen Koexistenz in Einleitungskapiteln und späteren Kapitel, also unabhängig voneinander, existieren können. Es sei aber festgehalten, dass Geschichtswissenschaftler dies keineswegs

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zu stören scheint, vermutlich, weil diese „Theorien“ den ihnen zugedachten Zweck erfüllen, nämlich bloß bestimmte Fragestellungen vorzugeben bzw. den groben Rahmen für akzeptable Antworten. Zumeist meint „Theorie“ hier also besser Meta-Theorie oder eben Ansatz. Auffallend ist ferner, dass in der von Geschichtswissenschaftlern betriebenen Geschichtstheorie von Theorie fast nie die Rede ist, wenn es darum geht, was man selbst in konkreter Forschung produziert oder zu produzieren anstrebt und etwaige metatheoretische Probleme mit diesen Theorien. In der „Anatomie“ schreiben die Forscher teilweise in einem ganz anderen Sinn von Theorie, nämlich wenn sie das meinen, was sie selbst produzieren, und das auch gerade dort, wo von jener „Theorie“ im Sinne der Metatheorie gar keine Rede ist, z. B. gar bei W. McNeill (1949) ebenso wie bei Rilinger (1976), Millar (1984, 1996), Topolski (1994a) und anderen (Kapitel 3). Hier ist also alles in allem viel unklar. Klar ist einzig, dass in Teilen der Geschichtstheorie viel Rummel um diese „Ansätze“ gemacht wird, die heute teilweise seltsame Namen tragen, wobei das Feld dieser Ansätze und „Turns“ wohl zunehmend zerfleddert ist oder sich „ausdifferenziert“ hat.105 Der Soziologe H. Esser (2000d, 300) frötzelte in leicht anderem Kontext offenherzig, jede „handgestrickte Nische“ werde im Behauptungskampf innerhalb der Sozialwissenschaften „selbstverständlich mit viel philosophischem Tiefsinn garniert“. Wenn wir kurz ausblenden, dass derartige Ansätze noch mehr umfassen (5.6), könnten wir auch einfach sagen, es handele sich hierbei um Ontologien, was in Fulbrooks Rede von „parts“, „relations“ und „causality“ auch recht deutlich wird (vgl. Loyd 1991, 188). Und auch aus der Sozial(meta)theorie kann man erahnen, dass es von diesen Ontologien eine Vielzahl gibt, was beides einen ersten Anlass dafür bieten kann, Ontologie zu betreiben.

4.1.6 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich die Frage „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ zunächst ohne viele kontroverse Details recht einfach beantworten: Geschichtswissenschaftler betreiben Forschung, die sie im Kontext ihrer (Sub-)Disziplin als relevant oder signifikant, manchmal als originell betrachten. Das alles heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass sie signifikante Fragen stellen, die Behauptung ihrer Signifikanz auf der Basis einer Evaluation des Stands der Forschung begründen und die Fragen zu beantworten suchen. Im Idealfall ist das 105

Teilweise sind diese Bezeichnungen auch seltsam. Elizabeth A. Danto (2008) listet beispielsweise: (i) „empirical history“, (ii) „social history“, (iii) „cultural history“, (iv) „feminist, gender-based, and queer historiography“, (v) „postmodern historiography, public history, and postcolonialism“, (vi) „marxist historiography“, (vii) „quantitative historiography“. Fulbrook (2002a, 40) spaltet „feminist history“ noch mindestens in „Marxist feminists, psychoanalytic feminists working in a post-structuralist, Lacanian tradition, liberal feminists, and so on“. Als „paradigms proper“ listet sie Marxismus, Psychoanalytische Ansätze (oder Psychohistorie) und Strukturalismus. Marwick listete unter anderem Namen noch die Annales, die „Frankfurter Schule und Strukturalismus“, Mikrogeschichte und New Economic History. Bunt ist auch das SAGE Handbook of Historical Theory (Partner/Foot 2013). Der „Grundkurs” (Goertz 2007) listet unter dem Stichwort „Konzeptionen” so etwas wie „Politische Geschichte”, „Ideen-, Geistes-, Kulturgeschichte”, „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Gesellschaftsgeschichte”, „Globalgeschichte”, „Landes- und Regionalgeschichte”, „Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie” und „Frauen- und Geschlechtergeschichte”. Unter dem Stichwort „Historische Spezialdisziplinen“ werden „Ur- und Frühgeschichte“, „Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte“, „Wirtschaftsgeschichte“, „Technik- und Umweltgeschichte“, „Historische Geographie“, „Kirchengeschichte“, „Literaturgeschichte“, „Kunstgeschichte“ und „Volkskunde / Europäische Ethnologie“ gelistet. Unter dem Stichwort „Methoden geschichtswissenschaftlicher Analyse und Interpretation“ findet man noch „linguistic turn“ und „Diskursanalyse“. Für mehr siehe auch die Themenaufstellung in Le Goff/Nora 2011 [1974].

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Ziel– mit Kockas (1978, 3) darüber hinausgehender Norm gesprochen – die „Entwicklung klarer Fragestellungen und Thesen“, wobei sich aus dieser normativeren Formulierung sicherlich hier und dort Defizite diagnostizieren ließen. Die Signifikanz der Fragen bemisst sich wie wohl in allen Wissenschaften – daran, ob ihre Beantwortung neue oder alte Probleme löst, relativ zu einer Forschungsrichtung und deren Forschungsstand, also ihren zur Zeit anerkannten Ergebnissen. Dass die Antworten akzeptabel sein sollen, heißt nicht mehr, als dass sie ihre hypothetischen Antworten mit den in ihrem Kontext (Disziplin, Tradition, Ansatz etc.) akzeptierten und teilweise vermutlich gar bewährten Mitteln zu rechtfertigen versuchen oder nach derartigen Mitteln suchen. Über alles Weitere können wir hier wenig sagen, weil die Gegenstände, (allgemeine) Methoden und (spezifische) Techniken ebenso von Studie zu Studie oder Ansatz zu Ansatz variieren wie z. B. auch der Stil der Exposition der Resultate. Ferner werden natürlich viele Techniken vorausgesetzt und werden daher nicht dargelegt. Zumindest in der gesichteten Literatur kann man unterstellen, dass die formulierten Antworten auch genuine Antworten auf die Fragen sein sollen und nicht bloß „Wortwind der Geisteswissenschaften“ (Süddeutsche Zeitung). Irgendwann schreiben sie einen (Forschungs-)Bericht oder schlicht irgendeine Sorte von Text, der grob die obigen fünf Punkte umfasst, also die Darlegung eines Forschungsstands und eines „Ansatzes“, Fragen und Antworten sowie deren Begründung anhand von Daten und Argumenten. Hier betreten wir nun das Spielfeld einer Hauptrichtung der Philosophie „der Geschichte“ des 20. Jahrhunderts, obwohl sie jene Texte in diesen Hinsichten wohl eher nicht untersucht hat, sondern zumeist einfach unterstellt, es handele sich um „Erzählungen“ (was immer damit dann gemeint ist, Kapitel 4.2, Kapitel 6.4) oder „Geschichten“ (was immer damit gemeint ist). Gemeingut ist, zumindest weitgehend und wieder in ein Bonmot von Kocka (1978, 3) gekleidet, „die Strukturierung des Dargebotenen nicht dem Hörer oder Leser selbst“ zu überlassen und der „zentralen Forderung jeder Wissenschaft nach maximaler Klarheit, Selbstaufklärung und Transparenz“ (Kocka 1978, 234) zu genügen, wenigstens in Ansätzen bzw. gemäß den in der jeweiligen Disziplin vorherrschenden und wiederum mehr oder weniger expliziten oder impliziten Standards. Um eine „narrative“ „Verplottung“ von irgendetwas oder auch die narrative Verklickerung „der Geschichte“ für irgendein Publikum (z. B. Gallie 1965, H. White 2008 197?, Ankermit 1981, Munslow 2007) geht es – im Rahmen unseres Samples zumindest – nicht einmal ansatzweise, worauf wir am Rande noch verschiedentlich zurückkommen werden. Dass die Umsetzung dieser Normen durchaus von Studie zu Studie und „Paradigma“ zu „Paradigma“ stark voneinander abweichen können, ist klar. McNeill (1949) steht vor anderen (Quellen-)Schwierigkeiten als die quantitative Sozialforschung von z. B. Sewell (1985) oder die Komparatistik von Topolski (1994a), die wiederum vor anderen Problemen steht als Kintzingers (2000) Erforschung der „Westbindungen“ im spätmittelalterlichen Reich. Am Ende werfen unsere Geschichtswissenschaftler regelmäßig neue Probleme für die weitere Forschung auf: „Unsere Kenntnis zu vermehren heißt zwangsläufig, die alten Probleme zu verschieben, zu zerbrechen, neuen zu begegnen, auf schwierige und ungewisse Lösungen zu treffen“ (Braudel 2001 [1949], 25). Norbert Elias (1986 1970, 54) hat den in der Geschichtsphilosophie aus meiner Sicht bemerkenswert vernachlässigten Punkt bereits mit leichter Überpointierung ausgesprochen, dass Wissenschaftler in aller erster Linie schlicht und ergreifend einen Beitrag zur Forschung in ihrer (Teil-)Disziplin leisten wollen, und sonst erstmal vielleicht gar nichts, was eben auch heißt, dass sie an die existierenden Traditionen anknüpfen. Sie stellen eben nicht ad hoc irgendwelche Fragen über „die Vergangenheit“ oder an „die Geschichte“. A. R. Stinchcombe (1978) hat mit ähnlicher epistemologischer Überpointierung bereits behauptet, dass vor metageschichtswissenschaftlichen Fragen nach Wahrheit und Rechtfertigung von Sätzen Fragen nach dem Interesse oder der Signifikanz von Sät-

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zen stehen (siehe auch Daniel 2001).106 Die Anknüpfung an diese Traditionen und deren Entwicklung dürfte auch damit zu tun haben, dass geschichtswissenschaftliche Gegenstände und Probleme nicht unbedingt so aussehen, wie in der Philosophie häufiger unterstellt. Zum Beispiel geht es nicht um die Erklärung von singulären Handlungen oder von „Ereignissen“ (5.6). Dies alles dürfte eher unkontrovers sein bzw. als nicht der langen Rede wert, also völlig trivial gelten. Roehner/Symes (2002, 10) Polemik lässt allerdings vermuten, dass auch diese Trivialitäten am Ende kontroverser sind. Denn sie behaupteten in einer anekdotischen neuen Auflage von Debatten um Wissenschaftlichkeit auf einer geschichtswissenschaftlichen Konferenz das Personal in zweierlei Gruppen teilen zu können, nämlich jene, die Fragen stellen und diese zu beantworten suchen auf der einen Seite („Analytical History“), und jene, die Beschreibungen („descriptions of a single episode of social or economic history“) auf der anderen Seite liefern. Letztere bildeten die „überwältigende Mehrheit“. Der Philosoph J. Passmore (1958, 104) bemerkte mal, dass ihm vorschwebenden Historikern oftmals nicht klar ist, dass sie „Probleme“ auswählen und beantworten wollen, weshalb sie sich gezwungen fühlen, eigentlich unnötiges Material zu einer „Geschichte“ zu verbauen. Zudem sind auch jene, noch vollständig vagen Kriterien für dasjenige, was Geschichtswissenschaftler machen oder Geschichtswissenschaft ist, in vielen Werken, die als „historisch“ oder „geschichtswissenschaftlich“ gelten, vollständig oder teilweise nicht erfüllt (z. B. in „Erzählungen“). Und das stört vielleicht jene Historiker nicht, für die „Doing History“ doch etwas anderes meint, wie man auch einer aktuellen Impression aus dem Feuilleton im Kontext einer Rezension des Buchs „The Ideas Industry“ des Soziologen Daniel Drezner entnehmen kann, in der es über einen berühmten Geschichtsschreiber heißt: Und der vor allem als Lobhudler des britischen Empire bekannt gewordene HarvardHistoriker Niall Ferguson dient Drezner als Exempel für einen Wissenschaftler, für den das Urteil anderer Forscher inzwischen völlig irrelevant erscheint. Es geht nur noch um die rasche Produktion von „Geschichte“, wo die leicht nachvollziehbaren „Lektionen für die Gegenwart“ immer gleich mitgeliefert werden – und das alles für ein bestimmtes wohlhabendes Publikum. Um dem zu sagen, was es hören will, können schon mal horrende Fehler unterlaufen, wie es bei einem von Fergusons Artikeln gegen Obama in Newsweek der Fall war. Drezner hat einige der von ihm beschriebenen Figuren auch interviewt; Ferguson teilte ihm mit bewundernswerter Offenheit mit: „Ich habe das alles für das Geld getan.“ Außerdem scheute er sich bei anderer Gelegenheit nicht zuzugeben, dass viele seiner Bücher bestenfalls „edutainment“ seien, eine Mischung aus Unterhaltung und Bildung (Jan-Werner Müller, Die Ideenindustrie, Süddeutsche Zeitung, 30.08.2017).

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„The problem of eliminating false sentences by research, the traditional problem of epistemology, is not as problematic as the problem of having sentences interesting enough to be worth accepting or rejecting“ (Stinchcome 1978, 115). Es ist auch allzu offensichtlich so, dass wahre Sätze oder wahre „Darstellungen“ für sich genommen im Rahmen von Geschichtswissenschaft vollständig nutzlos sind, selbst wenn man von deren Wahrheit etwas zu wissen beanspruchen könnte (anders wohl Kistenfeger 2011, 35; siehe auch illustrierend Kapitel 5.2).

4.2 Erklärung-Verstehen-Erzählen-Kontroversen und die Mini-Anatomie

Abbildung 10

4.2

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„Vergleich von 8 geschichtstheortischen Ansätzen (aus Ruloff 1985, 69). Wir werden Ruhloffs Aufstellung zumindest in der zweiten Spalte und mit einer Einschränkung in Kapitel 8 radikal vereinfachen. Die fünfte Spalte wird in den Kapitel 6 und 7 thematisiert.

In welchem Verhältnis stehen die Erklärung-Verstehen-Erzählen-Kontroversen zur geschichtswissenschaftlichen Praxis der Mini-„Anatomie“?

Nach dieser also prima facie eher unkontroversen Bestandsaufnahme und der Anhäufung vager „Trivial“-Erkenntnisse soll es aber nun noch etwas kontroverser und „philosophischer“ werden. Das machen wir, indem wir die gesichtete Mini-„Anatomie“ mit philosophischen und teilweise geschichtstheoretischen Zentralbegrifflichkeiten konfrontieren. Da wir hier eine Art Panorama oder eben eine Anatomie der Geschichtswissenschaft(en) weder im Groben noch im Detail liefern können, kann man versuchen, zumindest größere Missverständnisse und Unklarheiten aufzulösen. Das haben wir hier versucht und versuchen es auch noch im Rest von Kapitel 5, bevor wir das Feld der Geschichtswissenschaften zunächst räumen und uns mit dem nächsten unübersichtlichen Feld grob befassen, dem der Geschichtsphilosophie (Kapitel 6). Wenn es so ist, dass (unsere) Geschichtswissenschaftler primär Forschung betreiben und nicht Sinnstiftung oder so etwas Ähnliches, dann verfolgen sie in diesem teilweise äußerst langwierigen Unterfangen vermutlich mindestens ein epistemisches Ziel und sie fangen irgendwo an. Das klingt weder spannend noch ist es das. Aber als Apologie und Kontextualisierung mit der Debatte sei darauf hingewiesen, dass die Geschichtstheoretikerin M. Fulbrook im Jahr zweitausendundzwei für etwas grob Ähnliches argumentieren wollte und scheinbar auch musste (Fulbrook 2002a, 53): „This chapter will seek to establish the nature of history as a primarily puzzle-solving rather than fictional endeavour“. Alle Trivialerkenntnisse, die wir im vorherigen Kapitel gesammelt haben, sind also offenbar am Schnittpunkt von Geschichtstheorie, Geschichtsphilosophie und geschichtswissenschaftlichen Praxen selbst in dieser Vagheit nicht unumstritten.

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Dass solche Forschungsprojekte teilweise recht aufwendig sind, ist bekannt. Pressac (1994) und Medick (1996) ist zu entnehmen, dass die Studien bis zur Publikation mehr als eine Dekade eingenommen haben. Dass die Schwierigkeit darin lag, irgendwelche „Fakten“ in eine „Narration“ zu kleiden, wie Ankersmit (1981) für die gesamte Geschichte behauptete, ist nicht direkt ersichtlich. Topolski (1994a) hat scheinbar sein Problem ein Leben lang nicht losgelassen und er hat wohl kaum geglaubt, es sei auch nur irgendwie abschließend gelöst. Eine Ahnung von diesem Ziel oder diesen Zielen haben wir soeben erworben, wollen aber etwas darüber hinaus gehen, denn die These, (unsere) Geschichtswissenschaftler strebten Antworten auf Fragen als Beitrag zur Gesamtmenge der Forschungsresultate an, ist noch nicht sexy genug; sie ist einfach zu wenig kontrovers. Eine der sich nun stellenden Fragen ist also: Worin besteht das Ziel von (geschichtswissenschaftlicher) Forschung sonst noch, jenseits der Beantwortung von Fragen als Beitrag zu einem fiktiven Forschungsstand in einer SubDisziplin? Man könnte die Frage auch so formulieren: Warum stellen Geschichtswissenschaftler Fragen? Man nähert sich der Frage offenbar, indem man eine andere stellt: Was steht am Anfang geschichtswissenschaftlicher Forschung? Die Antwort „Die Quellen!“ auf die letzte Frage haben wir ja schon zu den Akten gelegt. In einer Handreichung für Forschende hieß es mal: „Science begins with the observation of selected parts of nature“ (Wilson 1952, 21), was der Wissenschafts- und der Geschichtsphilosoph M. R. Cohen (1947, 77) in ähnlichem Zeitraum „Bakonismus“ nannte und als irrig zurückwies. Häufig heißt es in der Metatheorie der (Sozial-)Wissenschaften, Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Forschung beginne mit Hypothesen. Diese Ansicht findet sich auch teilweise am Rande in mancher Geschichtstheorie mit sozialforscherischem Touch (z. B. Cardoso/Brignoli 1986, Ruloff 1985, Schröder 1994), wird aber im Feld sozial- und geschichtswissenschaftlicher Metatheorie an genauso vielen Orten abgelehnt, an denen nicht geglaubt wird, Sozialwissenschaft bestehe im Test von „Hypothesen“ (dazu 5.1).107 Unsere SampleGeschichtswissenschaftler bestätigen die These eines Beginns bei Hypothesen teilweise, mit Sicherheit aber nicht in der Mehrzahl und im Fall der Beobachtung überhaupt nicht, es sei denn in völlig trivialer Form. Der Geschichtstheoretiker A. Frings schreibt im Unterschied zur These, Forschung beginne mit Quellen oder Hypothesen: „Am Anfang einer historischen Untersuchung steht ein erzählens- oder erklärungswürdiges Phänomen“ (Frings 2007, 14). Das Ziel würde in der Geschichtswissenschaft demnach darin bestehen, das „Phänomen“ zu „erzählen“ und/oder zu „erklären“. Die Erzählung oder Erklärung stünde am Ende. Nach dem Vorangegangenen wissen wir schon, dass die These, der gemäß am Anfang einer „historischen Untersuchung“ solch ein Phänomen steht, das sozusagen rückwärts erforscht wird, mindestens zweifelhaft ist, denn dort steht in unserem Sinn die Evaluation eines Forschungsstands und/oder das Finden und Formulieren einer Fragestellung. Zunächst wäre aber an solch einer Stelle wohl zu klären, ob hier „historische Untersuchung“ im Sinne von „Forschungsprozess“ oder im Sinne von „Forschungsresultat/Forschungsbericht“ gemeint ist. Je nachdem, was man darunter versteht, ist die These plausibler, d. h., am Anfang eines geschichtswissenschaftlichen Textes kann tatsächlich ein „Phänomen“ genannt bzw. beschrieben werden, das zu „erzählen“ oder zu „erklären“ ist, weil beinahe alle davon ausgehen, dass man von dem, was man erklären will, zunächst etwas behaupten (oder gar wissen), es also beschreiben muss (Hempel 1942, 1965). Zweitens wäre eben – wie in Kapitel 2.3 bereits behauptet – zu überprüfen, ob Geschichtswissenschaftler überhaupt etwas „erklären“ oder „erzählen“ wollen, schließlich geben 107

Bei Schutt (2004, 346) ist beispielsweise zu lesen: „Causal reasoning in quantitative historical and comparative research is nomothetic and the approach is usually deductive, testing explicit hypotheses about relations among these variables.“

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genauso viele unserer Sample-Geschichtswissenschaftler nicht vor, überhaupt etwas „erklären“ oder „erzählen“ zu wollen, und dies weitgehend unabhängig von Metatheorie. Darüber herrscht bekanntermaßen in den Geschichts- und Sozial(meta)theorien keinerlei Einigkeit, weder über die generischen Ziele Erklärung und Erzählung noch darüber, was mit „Erklärung“ oder „Erzählung“ oder auch „Verstehen“ überhaupt gemeint sein könnte (Kapitel 5, Kapitel 6; vgl. nun auch Frings 2016). Man kann den Problemkomplex schön in Form von Fragen formulieren: (Q1a) Wollen Geschichtswissenschaftler erklären? (Q1b) Erklären Geschichtswissenschaftler? (Q1c) Erklären Geschichtswissenschaftler, ohne etwas davon zu ahnen? (Q2a) Wollen Geschichtswissenschaftler verstehen? (Q2b) Verstehen Geschichtswissenschaftler? (Q2c) Verstehen Geschichtswissenschaftler, ohne etwas davon zu ahnen? (Q3a) Wollen Geschichtswissenschaftler erzählen? (Q3b) Erzählen Geschichtswissenschaftler? (Q3c) Erzählen Geschichtswissenschaftler, ohne etwas davon zu ahnen? Dass man diese Fragen legitimerweise und vor allem vor dem Hintergrund der überkommenen Geschichtsphilosophie und auch Geschichtstheorie stellen kann, scheint klar. Schließlich behauptete beispielsweise der Sozialgeschichtswissenschaftler C. Tilly (1990a), „Erzählen“ sei bloß das Ziel von „humanistischer Geschichtsschreibung“ („humanistic history“). „Erklären“ sei das Ziel von „sozial-wissenschaftlicher Geschichtswissenschaft“ („social scientific history“). Der Historische Soziologe W. L. Bühl (2003, 28 f.) schreibt ähnlich von „wissenschaftlicher Geschichtsschreibung“ im Kontext der Untersuchung von „Strukturen und Prozessen“. Dem stellt er die „narrative Geschichtsschreibung“ gegenüber, die sich mit „Handlungen und Ereignissen“ beschäftige, womit er unter Umständen etwas vor Augen hat, was auch der Geschichtsphilosoph W. Dray mit dem Ausdruck „traditionelle Geschichte“ belegte (2.3). In beiden Fällen scheint es auch davon abhängig zu sein, welchen Gegenstand („Phänomen“) der Geschichtswissenschaftler oder eine Schule mit einem Ansatz wählt, ob er nun „erzählt“ („agency“, „Ereignisse“) oder „erklärt“ („Struktur“). Zu den oben von Fulbrook angedeuteten Zielen als begriffliche Komponenten dessen, was mit „Ansatz“ oder „Paradigma“ gemeint ist, könnte man also auch Erzählung oder Erklärung zählen. Von derartigen Wahlen hängt auch schon ab, ob die Autoren aus dem einen geschichtstheoretischen Lager hier von „Wissenschaft“ oder „Geschichtswissenschaft“ im anderen Lager sprechen (siehe Kapitel 2.1). Die „Erzähler“ betreiben im Auge der einen keine „Wissenschaft“ oder „Geschichtswissenschaft“, was umgekehrt natürlich genauso gesehen werden dürfte: C’est magnifique, mais … (Kapitel 2.3). Der Philosoph D. Little (2010, 29) behauptete ebenfalls, Erzählungen würden auf der einen Seite mit „hermeneutischem Verstehen“ verbunden sein, was damit zu tun habe, die Frage zu beantworten, warum sich Akteure so verhalten haben, wie sie es taten, als sie das Ergebnis („outcome“) hervorbrachten, also, cum grano salis (Kapitel 7), Frings „Phänomen“. Auf der anderen Seite würde mit einer solchen Erzählung aber auch „causal explanation“ angestrebt, und das habe etwas damit zu tun, die Frage zu beantworten, „welche sozialen und natürlichen Prozesse hinter dem Rücken der Akteure agierten“ („were acting“), als sie das Ergebnis hervorbrachten. Hier wird also scheinbar eine andere Menge von ontologischen Annahmen mit epistemischen oder methodologischem Vokabular in Verbindung gebracht, wobei

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gerade dasjenige mit „Erzählung“ auch verbunden wird, was für die Autoren zuvor damit (per Definition) gerade nicht verbunden werden darf, nämlich Beschreibungen von „Makro“„Prozessen“ und deren „Wirkung“ (siehe zur Problematik auch die Einschätzung von Frings 2008). Das ist doch alles relativ merkwürdig, denn die Frage ist eigentlich, wie man zu einer solchen begrifflichen oder auch inhaltlichen Zuordnung kommt, die völlig willkürlich zu sein scheint, allerdings mit alten Kontroversen verbunden ist. Eine ähnliche begriffliche Assoziierung findet sich auch bei dem Geschichtswissenschaftler J. Kocka und anderen Autoren. Eine Erzählung sei „eine Form der Darstellung, für die das zeitliche Nacheinander von beschreibbaren Ereignissen und verstehbaren Handlungen zentral ist, nicht aber die Analyse von Strukturen und Prozessen, obwohl durchaus beabsichtigt sein kann, durch Erzählung von Begebenheiten und Handlungen Licht auf Strukturen und Prozesse zu werfen“ (Kocka 1984, 397).108 Auch hier ist die Gegenüberstellung von „Ereignis“ und „Prozess“, die Parallelisierung von „Verstehen“ und „Handlung“ wie auch die Parallelisierung von „Struktur“, „Prozess“ und „Analyse“, womit letztlich auch „Erklärung“ verbunden ist, auffällig. Denn es wurde von Geschichtstheoretikern behauptet: „‚Erklären‘ war das Zauberwort der ‚Historischen Sozialwissenschaft‘, die Prozesse und Strukturen analytisch rekonstruieren wollte (…)“ (Mergel/Welskop 1997, 17). Andere erklären also vermutlich aus der Sicht dieser Sparte der Geschichtstheorie eher nicht. Mit solchen Sichtweisen ist aber auch verbunden, dass sich die ontologischen Kategorien genauso wechselseitig ausschließen wie die damit verbundenen epistemischen Begriffe. Wer „erklärt“, der „versteht“ nichts, und wer „Ereignisse“ untersucht, untersucht keine „Strukturen“ oder „Prozesse“. Auf den Umstand, dass am Schnittpunkt von Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie und Sozial(meta)theorie kaum als geklärt gelten kann, was überhaupt mit ontischen Kategorien wie „Ereignis“, „Prozess“ und „Struktur“ hier und dort gemeint ist, kommen wir wiederholt zu sprechen, genauso wie auf den Umstand, dass sie zumeist in der Geschichtsphilosophie keine Rolle spielen. Andere Geschichtstheoretiker würden wiederum gegenüber den Äußerungen von C. Tilly sicherlich sofort strenger insistieren, „Verstehen“ oder „empathisches Verstehen“ (nicht „Erzählen“) sei das Ziel von „humanistischer Geschichtsschreibung“ oder „traditioneller Geschichte“, worauf Tilly (1990a) allerdings auch selbst hindeutet. Neue kulturhistorische Geschichtswissenschaftler würden sicherlich behaupten, es gelte in ihrer Schule, „Sinn“ oder „sozialen Sinn“ – im Englischen „meaning“ – zu „verstehen“, aber nicht darum, etwas zu „erklären“. Mit Erzählung will man dort unter Umständen genauso wenig zu tun haben wie in mancher Sozialgeschichte, weil jene „historischen Ereignisse“, die z. B. Geschichtsphilosophen häufiger als Gegenstände der Geschichtswissenschaft und ihrer Erzählungen ausmachen (gemeint sind z. B. Kriege, Schlachten, Revolutionen), dort auch niemanden interessieren, zumindest nicht in Form des zu erzählenden Nacheinanders von „Ereignissen“ in einem „genetischen“ Ansatz. Wie auch immer es darum genauer stehen mag, der tabellarischen Aufstel108

Streng besehen schreibt Kocka vom „Erzählen“ und vom „historischen Erzählen“. Auf derselben Seite ist jedoch auch von „Erzählung“ die Rede. (Erzählung kann wohl auch (i) eine Tätigkeit meinen, (ii) eine Menge von Sätzen, (iii) etwas, das in einer Menge von Sätzen ausgedrückt wird oder vielleicht (iv) ein „mode of historical writing“, ein Darstellungstyp, ein Typ von Erzählung oder ein Typ von Geschichte oder einer „story“. Sie soll bei Kocka „primär als Darstellungsprinzip“ (2.1) verstanden werden.) Ähnlich hieß es bei L. Stone (1979, 3 f.): „Narrative is taken to mean the organization of material in a chronologically sequential order and the focusing of the content into a single coherent story, albeit with sub-plots“. „Narrative Geschichte“ unterscheide sich von „struktureller Geschichte“ wie folgt: „its arrangement is descriptive rather than analytical and […] its central focus is on man not circumstances. It therefore deals with the particular and specific rather than the collective and statistical. Narrative is a mode of historical writing, but it is a mode which also affects and is affected by the content and the method”.

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lung, die wir Ruloff (1985) verdanken (Abbildung 10, S. 145), können wir noch neben Erklären, Verstehen und Erzählen „Theorieprüfung“ als Ziel der Historischen Sozialforschung entnehmen (vgl. Schröder 1994), wohingegen andere historico-philosophische Schulen „Identitätspräsentation“ (also „Sinn“- oder Ideologiebildung) anstrebten, andere „Emanzipation“. Es könnte demnach so sein, dass die oben angedeutete „Heterogenitätsthese“ (2.3) auch in der Hinsicht zutrifft, dass sich verschiedene geschichtswissenschaftliche Schulen schlicht in den angestrebten Zielen unterscheiden, neben Gegenständen, Fragestellungen und Methoden und vielleicht der Art der „Repräsentation“ des Erforschten. Die einen streben Erzählungen an, die anderen Verstehen, die anderen Erklärungen, vielleicht wieder andere Interpretation oder Deutung. Diese betreiben Ideologiebildung durch Sinnstiftung, jene reißen diese Sinne wieder ein. Kürzer auf den Punkt gebracht: „Erzählen“, „Erzählung“, „Erklärung“, „Erklären“ und „Verstehen“ sind bekanntlich schon lange eigentlich dunkle Leuchttürme im Kampf zwischen historischen und/oder sozialwissenschaftlichen Schulen um die Krone der Wissenschaftlichkeit oder der „Historizität“. Sie sind dies schon lange eigentlich nicht mehr im Kampf um die Autonomie der „Geistes-“ oder Humanwissenschaften von den sog. „Naturwissenschaften“, von wo sie ursprünglich einmal herkamen, nämlich zumeist von außerhalb, aus der Philosophie (Dilthey, Windelband, Rickert, Collingwood, Dray und andere). Wir könnten jetzt also diesem ersten Anschein einfach Folge leisten und uns damit eine Menge kontroverser Thesen ersparen. Wir nehmen solche, in Massen bekannten metatheoretischen Äußerungen für bare Münze und lösen alle weiteren Probleme, indem wir einfach mindestens drei unterschiedliche Wissenschaften postulieren. Das ersparte uns auch das Problem, eine Philosophie der (einen) Geschichtswissenschaft zu suchen, denn zu jeder dieser Wissenschaften gäbe es dann eine eigene (Meta-)Theorie oder Philosophie. Der Verstehenden Geschichtswissenschaft stünde genauso eine eigene Metatheorie zu wie der Erklärenden Geschichtswissenschaft und der Erzählenden Geschichtswissenschaft oder der Interpretierenden Geschichtswissenschaft. Da hier unter „Wissenschaft“ eine strukturierte Menge interagierender Personen verstanden wird (Kapitel 2.1, ein System gemäß Kapitel 7, 8.2), ist dies auch leicht vorstellbar und keine so schlechte Option. Man müsste nur eine empirische Studie lancieren, die zeigte oder plausibilisierte, dass die Praktizierenden diese Metatheorien oder Philosophien in der Praxis sozusagen zur Anwendung bringen und ihre Disziplinen dadurch auch von anderen klar abgrenzen. Der Augenschein spricht wohl zunächst eher dafür. Kulturgeschichtswissenschaftler haben scheinbar ihre eigenen (Metatheorie-)Handbücher bzw. Philosophien und ihren eigenen Diskurs und Duktus, genauso wie die selbst sich teilweise so bezeichnenden „traditionellen Historiker“ oder die „historischen Soziologen“ und die „Historischen Sozialforscher“ oder die „Historischen Sozialwissenschaftler“, weshalb man als Geschichtsphilosophierender auch kaum einen Überblick darüber erlangen kann, es sei denn, man hat ein photographisches Gedächtnis oder ist „idealer Chronist“ (A. C. Danto 1980 1965). Es scheint nach allem, was man erahnen kann, so zu sein, dass eine wirklich und nicht bloß vordergründig rein beschreibende Philosophie der Geschichtswissenschaften im Speziellen oder der Sozialwissenschaften im Allgemeinen diese Lage akzeptieren müsste, soweit sie sich bestätigen lässt. Das wäre natürlich auch die Konsequenz aus der Perspektive des hier gewählten Zugangs, die nicht zu beklagen wäre (2.1, 2.3). Damit würde diese Philosophie sich in gewissen Grenzen aber auch selbst aufgeben und überflüssig machen. Denn es ist schlicht witzlos, durch quasi reine Deskription womöglich die philosophischen Annahmen aus einer Praxis oder gar aus vornehmlich normativen Lehrbüchern abzuschreiben, die vorher in aller Regel durch „Philosophie“ und teilweise vermittelt über Philosophen hineingelegt worden sind, zum Teil in einer grauen Vorzeit oder „Vorgeschichte“, die bloß in der Regel

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nur noch dunkel erahnbar ist. Bei den metatheoretischen Integrations- und auch Kritikversuchen von Universalgelehrten ist diese philosophische Imprägnation von sozialwissenschaftlichen Schulen teilweise deutlich erahnbar, wenn auch wohl kaum systematisch untersucht.109 Was lässt sich unserer Mini-„Anatomie“ zur geschichtsphilosophisch-geschichts-theoretischen Kontroverse im Umfeld von Erklärung-Verstehen-Erzählen entnehmen? Formulieren wir auch hier einfach eine Frage: In welcher Relation stehen die Erklären-Verstehen-Erzählen-Kontroversen oder die Erklärung-Verstehen-Erzählung-Kontroversen zur geschichtswissenschaftlichen Praxis der Mini-„Anatomie“? „Nichts Ergreifendes!“ ist die Antwort auf die erste Frage. Das Nicht-Ergreifende ist allerdings angesichts der meta-theoretischen Vielfalt und der noch in einem späteren Kapitel genauer anzudeutenden Debatte um diese Zentralbegriffe etwas recht Entspannendes. Chamoux und Dauphin (1969), Kirby (1995), Alpers (1995), Jones (1960), Medick (1996), Schmitthenner (1952) und Hölkeskamp (2011 1987) geben beispielsweise weder Erzählungen noch Erklärungen oder Verstehen als prominente Ziele selbst an. Schon das könnte Grund genug sein, mit Misstrauen auf die altehrwürdige und auch von Geschichtstheoretikern immer mal wieder aufgewärmte (a) philosophischen Erklären-Verstehen-Kontroverse, die (b) sozial(meta)theoretischen Verstehen-Erklären-Kontroverse bzw. (c) die hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, geschichtsphilosophische Erklären-Verstehen-Erzählen-Kontroverse zuzugehen, die in der Geschichtstheorie vielleicht einige ferne Ausläufer hat. Außer Frings (2007) und äußerst beiläufig Calaresu (3.1.9) und Topolski (3.1.5) erwähnt, so weit ich sehe, niemand unter unseren Historikern auch nur den Ausdruck „Erzählung“, schon gar nicht in einem signifikanten Kontext von Erzählungen als Erklärungsmethode oder genuin „historischem“ Erklärungstyp. Huggett (1988), Newman (1979), Topolski (1994a, 1979 1965) und Millar (1984, 1986) sprechen von „Modellen“ als angestrebtem kognitiven Produkt, nicht von Erzählungen, obwohl diese Geschichtswissenschaftler beinahe völlig unterschiedlichen Bereichen entstammen und somit offensichtlich auch völlig andere Vorstellungen davon haben, was ein solches Modell auszeichnet. Newman (1979) und Huggett (1988) schreiben wiederum eher von Erklärung, Topolski schreibt, wie wir gesehen haben (Kapitel 3.1.5) gleichermaßen von Erklärung und Verstehen und Millar schreibt an den Stellen, in dem sein Hauptziel durchscheint, von Verstehen. Halten wir sicherheitshalber als weitere Trivialerkenntnis fest: Geschichtswissenschaftler unseres Samples geben, erstens, Erzählungen oder Erzählen nicht als ihr Ziel aus und wissen von so etwas scheinbar auch gar nichts. Von „Sinn“ oder „Sinnverstehen“ redet fast niemand in unserem Sample, mit der Ausnahme von M. Füssel (2006, „sozialer Sinn“, „Sinnproduktion“), Rilinger (1976, „sinngemäße Deutung der Verfassung“) und z. B. Alpers (1995). Bei Alpers geht es aber schlicht um sprachlichen Sinn oder Bedeutung, also z. B. bezüglich der Frage, was „fiscus“ in antiken Quellentexten an unterschiedlichen Stellen jeweils bedeutet, ob damit z. B. der Römische fiscus Caesaris oder ein Provinzialfiscus gemeint ist, was verschiedentlich nicht klar sein kann. Das muss er klären, um herausfinden zu können, was der fiscus Caesaris war. Es geht nicht um die recht mysteriösen „Sinne“, von denen in der „Theorie“ häufiger die Rede ist (s.u.). Bei H. Hitzbleck (1971) geht es um „Bedeutung“ im Sinn relativer Anteile von Fisch – vor allem Hering – an einer Gesamtmenge, nämlich der Gesamtproduktion der sogenannten „Naturalwirtschaft“. Dass von Sinn keine Rede ist, verwundert überhaupt nur und ist auch nur erwähnenswert, weil es in regalmeterweise vorliegender 109

Siehe Bunge 1996, 1998, 1999, Esser 1996 (und dessen „Soziologie“ im Literaturverzeichnis), Benton 1977. Benton redet von „drei Soziologien“, Positivismus, Neo-Kantianismus und Marxismus, wohingegen V. Vanberg (1975) mal zwei zu kennen glaubte, „Individualismus und Kollektivismus“.

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Literatur der Philosophie oder Metatheorie heißt, in Geistes- oder Kultur- und Sozialwissenschaften gehe es um Sinn und Bedeutung (meaning), zumal um das Verstehen von so etwas. Auch gibt keiner unserer Geschichtswissenschaftler vor, Identitätsstiftung, Sinnstiftung, Identitätspräsentation oder Orientierung durch Erzählung zu betreiben oder tut dies wider besseres Wissen. Eine Ausnahme ist J. L. Gaddis (2005), der das nicht von sich behauptet, aber eventuell doch betreibt. Verwirren muss, zweitens, dass niemand aus unserer Menge von Geschichtswissenschaftlern – so weit man dies unseren Texten über Forschung entnehmen kann – irgendetwas über eine Erklären-Verstehen-Erzählung-Kontroverse und deren Wichtigkeit auch nur vermuten würde, von der die Geschichtsphilosophie wie auch die Philosophie der Sozialwissenschaften im Allgemeinen seit 150 Jahren in wiederkehrenden Wellen recht zentral handeln. Die meisten Geschichtswissenschaftler kennen sie auch vermutlich gar nicht, obwohl sich Spuren davon in mancher Geschichtstheorie finden, obwohl selbst dort selten eine Verbindung mit echter Forschung hergestellt wird, indem z. B. gesagt wird, was „verstehen“ genauer meint und was man tun muss, um es zu erreichen.110 Kein einziger unserer Geschichtswissenschaftler verwendet „Erklären“ oder „Erklärung“ in irgendeinem Gegensatz zu „Verstehen“. Kein einziger unserer Geschichtswissenschaftler behauptet, Verstehen sei auf einen bestimmten Gegenstand beschränkt, wie wir das zuvor in Zitaten aus der Geschichtstheorie zur Kenntnis genommen haben. Niemand behauptet, er würde die Methode des Verstehens als spezifisch historische und hermeneutische Methode kennen oder gar anwenden (siehe dazu Kapitel 5). Sewell (1985), der damals noch an quantitativer Sozialforschung orientiert war, redet von Erklärung und Verstehen genauso gleichermaßen und problemlos wie Rilinger (1976), Adams (1997), Huggett (1988), Topolski (1994a) oder Hölkeskamp (2011 1987), der im Allgemeinen weder Erklärungen noch Verstehen irgendwie metatheoretisch aufs Podest hebt, aber in speziellen Kontexten gleichermaßen und ganz selbstverständlich beiläufig davon redet, etwas erkläre etwas nicht oder eine Hypothese oder eine Hypothesenmenge lasse etwas nicht verstehen und sei daher zu korrigieren. Millar (1984, 1986) gibt als Ziel eher Verstehen aus, ohne dabei jedoch den Ausdruck, wie mittlerweile im Englischen teilweise üblich, im Deutschen zu belassen („Verstehen (understanding)“), um damit dem verzweifelten Leser zu signalisieren, damit sei irgendetwas besonders faul, besonders vielversprechend oder besonders mystisch, warum auch immer. Was daran besonders faul oder vielversprechend ist, wird bedauerlicherweise nie klar gesagt. Auch redet Millar, der sicherlich eher zu den „traditionellen“ Geschichtswissenschaftlern gezählt würde – woran auch nicht erkennbar irgendetwas schlecht ist – von Verstehen nicht im Kontext von irgendwas dezidiert Geistigem, z. B. beim Verstehen von Personen, geht es ihm doch um das „Roman political system“, das kein Nervensystem besitzt und daher auch über keine mentalen Funktionen verfügt. So will ich hier zumindest der Kürze halber annehmen. Von irgendeinem Gegensatz von Erklären/Erklärung (5.4) und Verstehen ist hier also nichts erkennbar. Diese Geschichtswissenschaftler denken jenseits der Metatheorie in gewisser Hinsicht ähnlich wie schon die klassischen und vergessenen Philosophen Ernest Nagel 110

Bei Kirn/Leuscher (1968, 70 f.) findet man etwa: „Wahrheiten werden begriffen, z. B. der Pythagoreische Lehrsatz. Wirklichkeiten ? werden erklärt, z. B. Blitz und Donner. Dichtungen wie der Faust, Persönlichkeiten (historische wie Cäsar und Napoleon, dichterische wie Medea oder Tasso), Taten wie Luthers Verbrennung der Bannbulle oder Yorcks Kapitulation von Tauroggen, geistige Kräfte ? wie der Geist der deutschen Reformation oder der Geist der Scharen Cromwells – alle diese müssen verstanden werden. In diese Persönlichkeiten und Kräfte ? kann man sich hineindenken ?, während sich niemand in die Gedanken– ? und Gefühlswelt ? eines Hypotenusenquadrats ! oder einer mit positiver Elektrizität geladenen Wolke hineindenken ? kann. Der Historiker ? muß gewiß allerlei begreifen und erklären. Aber das dringlichste Anliegen für seine Wissenschaft ist das Verstehen ?.“ Siehe auch Prost (2010), Goertz (1995).

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und Morris Cohen, die auch kein substanzielles Problem mit Erklären und Verstehen gehabt zu haben scheinen, wenn sie nicht an einer Stelle auch die Topflappen-Anführungszeichen setzen würden, die hier vermutlich den Geruch heißer Metaphysik und Verbrennungsgefahr daran andeuten sollen: Systematic theories in terms of which the past is ‚explained,’ or made intelligible, are essential in der „Geschichte“, dp. Moreover, the reader is laboring under a very false impression indeed, if he thinks that ability of extraordinary nature is not required in the historian’s attempt to make the past understandable (Cohen/Nagel 1934, 341; Hervorhebung dp). Lambert und Brittan (1991, 83) schrieben noch ein halbes Jahrhundert später ebenfalls im Kontext der Allgemeinen Wissenschaftstheorie, die sich ja nicht vornehmlich mit Geisteswissenschaften beschäftigt, der Begriff des wissenschaftlichen Verstehens sei öfters Gegenstand „(mitunter leidenschaftlichen) Schlagwortprägens“, was zumindest nahe legt, dass dort länger über Verstehen nachgedacht worden ist, also auch dort, wo es um überhaupt nichts auch nur im Entferntesten „Sinnhaftes“ oder „Kulturelles“ geht.111 In dem Buch mit dem Titel „An Introduction to Explanation in the Physical and Human Sciences“ mit dem Haupttitel „Inquiry and Understanding“ schreibt die Erkenntnistheoretikerin Jennifer Trusted gleich zu Beginn: Empirical explanations are sought, primarily, because we want to understand the world around us. (…) The search for explanation is a search for knowledge and understanding. Explanations are held to be satisfactory if they help us to answer the questions prompted by natural curiosity and there is a logical connection between the concepts of knowledge and discovery and the concept of explanation. Likewise there is a logical connection between the concept of understanding and the concept of explanation for if an explanation is satisfactory it must make the world to some extent more understandable (Trusted 1989, 2). Mit einem gewissen Maß an Fassungslosigkeit müssten Philosophen des geisteswissenschaftlichen Verstehens Peter T. Manicas‘ (2006) in einer „realistischen“ Metatheorie der Sozialwissenschaften geäußerte Auffassung aufnehmen, entgegen der Auffassung der „Positivisten“ würde man in den Naturwissenschaften auf der Basis dessen, was er „Mechanismen“ nennt, viel eher verstehen (wollen) als erklären (wollen), was er dann auch Sozialwissenschaftlern anrät, die das offenkundig aus seiner Sicht eher versäumen. Und um uns dann auch einmal zwischendrin einen Witz zu gönnen: Die Verwandtschaft von „Erklärung“ und „Verstehen“ scheint für manche so eng zu sein, dass Mario Bunge, von Haus aus Physiker und ein Vertreter eines Programms exakter Philosophie, sein eigenes Buch „Understanding the World“ an einer Stelle versehentlich in „Explaining the World“ umtaufte (Bunge 2013b 1985, 304, 308). Eventuell ist es also bloße Zeitverschwendung, sich weiter um die Unterscheidung oder gar den Gegensatz von Erklären und Verstehen zu kümmern, und es mutet zunächst vor dem Hintergrund der Ernüchterung im Rahmen der Mini-„Anatomie“ und der Lage in anderen Bereichen von Philosophie und sozialwissenschaftsinterner Metatheorie mittlerweile noch seltsamer an als früher schon, dass zum Beispiel Hübner (1975, 101) vor einiger Zeit von 111

Bei dem Wissenschaftsphilosophen G. Schurz hieß es bereits (1988a, 12; siehe ferner Schurz 2004, 2006, 2008): „Verstehen ist nicht länger ‚Outsider‘ der Wissenschaftstheorie“, „Verstehen und Erklären, die beiden Konzepte sind ‚intim‘ verbunden“.

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„Philosophen des Verstehens“ und „Philosophen des Erklärens“ schrieb, die auf verschiedenen „Seiten“ stünden. Denn es ist wohl keineswegs als Scherz oder bloß netter Reim aufzufassen, wenn einige Wissenschaftler das „Gehen verstehen“ wollen (Götz-Neumann 2006). Allerdings wollte der Geschichtsphilosoph Thomas Haussmann (1991, 148) keineswegs seinen Humor kundtun, wenn er schrieb: „‚Verstehen‘ ist im deutschsprachigen Kulturraum ein geistesgeschichtliches Schlüsselwort, für das es in anderssprachigen Kulturkreisen keine wirkliche Entsprechung gibt.“ Und dieses „Schlüsselwort“ ist wohl auf das Gehen und den Großteil der Welt nicht anwendbar und eben auch nicht übersetzbar, vielleicht ist es auch gar nicht verstehbar. Bereits G. Patzig (1973) nannte die „Verstehen“-Tradition in kritischer Absicht ein „Bildungsgut“. Die Philosophin J. R. Martin konfrontierte Vertreter des „historischen Verstehens“ mit einer für diese ebenso befremdlichen These: „We can understand birds in all sorts of ways“ (Martin 1970, 177). Bei einem der Begründer der Erklärung-Verstehen-Kontroverse hieß es ja: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“ (Dilthey). Der Hermeneutiker Scholz (2016b, 21) setzt auf Martins Äußerung wohl noch eins drauf, indem er die scala naturae noch weiter hinabsteigt und dafür argumentiert, man könne auch einen Stein verstehen. Die Aufstellung könnte man nun fortsetzen. Offensichtlich brauchte niemand unter diesen Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen und jenen Philosophen unterschiedlichster Herkunft das „geistesgeschichtliche Schlüsselwort“. Doch zurück zu unserem primären Gegenstand, schließlich führt der traditionelle Erklärung-Verstehen-Dualismus hier offenkundig nicht recht voran und man fragt sich im Nachhinein, wenn man also ein paar Forschungspraxen betrachtet und in unterschiedlichen Metatheorietraditionen etwas gewildert und allein die darin jeweils verwendeten Begrifflichkeiten zur Kenntnis genommen hat, wie es zu dieser scheinbar reichlich künstlichen philosophischen Debatte überhaupt hat kommen können.112 Es scheint viel an begrifflichen Unklarheiten und der Entfremdung der Metatheorie(n) von tatsächlichen Wissenschaftskontexten zu liegen. Eventuell kann man auf sie und auf die darin zur Debatte stehenden Begrifflichkeiten komplett, aber verlustfrei, verzichten, wie wir das in Kapitel 4.1 auch gehalten haben. Schon dort haben wir irgendwelche „Schlüsselwörter“ eigentlich gar nicht benötigt. Die Antwort auf die Frage dieses Kapitels lautet also recht eindeutig: In der Relation der Irrelevanz. (Siehe weiter Kapitel 5, Kapitel 6.) Halten wir erneut fest, (unsere) Geschichtswissenschaftler haben in der Praxis offensichtlich keinerlei Problem mit den Begriffen „erklären“ und „verstehen“ und wissen nichts von „Erzählungen“ und deren genuin „historischen“ explanatorischen Potenzialen, die Geschichtsphilosophen des 20. Jahrhundert regelmäßig behauptet haben. Das ist auch insofern seltsam, als (theoretische) Soziologen seit Langem mit Erklärung und Verstehen ein Problem zu haben scheinen (Greshoff et al. 2007) und man auch dort nicht recht weiter zu kommen scheint. Wir sind hier nun an der Stelle angekommen, an der wir die Suppe, die wir uns mit dem Start bei Publikationen geschichtswissenschaftlicher Forschungsresultate eingebrockt haben, irgendwie auslöffeln müssen, zumal wir uns zuvor bereits darauf verständigt haben (Kapitel 2.3), die eher klassischen Fragestellungen bezüglich Erklärung und Verstehen nicht einfach zu beerdigen, zumal auch in der Geschichtswissenschaft irgendwelche Ziele benannt werden müssen. Weniger metaphorisch ausgedrückt heißt dies, dass uns die nun erworbenen und nach wie vor falliblen Hintergrundüberzeugungen über das Tun einer winzigen Auswahl von Geschichtswissenschaftlern, die wir anhand von prima facie geschichtswissenschaftlichen Tex112

Auch Schurz (2004, 169) hält die „Lageraufteilung“ für „eigenartig“ und versteht nicht recht, wie es dazu kommen konnte.

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ten erworben haben, vor dem Hintergrund weiterer Überzeugungen über die geschichtsphilosophische und geschichtstheoretische Debatte, auf die wir später wieder treffen werden (Kapitel 5, Kapitel 6), vor neue Probleme stellt. Ein plausibles Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung lässt sich auf der Basis der Geschichtsphilosophie und den hier herangezogenen unfreiwilligen Berichten über die Forschungspraxis nicht ohne Weiteres gewinnen, d. h. ein Modell, in dem Erklären und/oder Verstehen und/oder Erzählen vorkommt, in dem also die Fundamentalbegriffe oder Feigenblätter der Meta-Debatten und die Fundamente verschiedener geschichtstheoretischer oder geschichtsphilosophischer Schulen vorkommen, die mit diesen Ausdrücken auch bestimmte Forschungsgegenstände zu vermählen scheinen. Zumindest ist die Lage im geschichtswissenschaftlichen Lager unübersichtlich, wie ja auch im philosophischen. Auch eher weiche Pluralismen (z. B. Martin 2000, Day 2008), wie sie oben in dem Gedankenspielchen angedeutet worden sind, scheinen auf dieser Basis nicht sonderlich reizend, weil sie eventuell bloß vor dem Hintergrund begrifflicher Unklarheiten überhaupt ansatzweise plausibel sind. Selbst wenn man den Grad der Abstraktion steigert, indem man ein wenig expliziter die entsprechenden metatheoretischen Traditionen aus der (Geschichts-)Philosophie hinzunimmt, wird es nicht leichter, Positionen zu Erklärung/Erklären, Erzählung/Erzählen und Verstehen mit der Mini-„Anatomie“ in Einklang zu bringen. Abstrakt und idealtypisch, also aus der Vogelperspektive gesehen, lief die geschichtsphilosophische Debatte seit ungefähr 1930, allerdings grob auch schon seit ca. 1850, wie folgt. Die geschichtstheoretische Debatte im engen Sinn im Umfeld der Literatur zur Abgrenzung und Etablierung von Ansätzen ist ein anderer Stiefel, wenn auch vielleicht manchmal der linke zu dem rechten: MODELL (1): Ziel der Wissenschaften sind Erklärungen. (Wissenschaftliche) Erklärungen sind Antworten auf Warum-Fragen. In diesen Erklärungen kommen Gesetzesaussagen (deskriptive Behauptung) vor oder müssen minimal Gesetzesaussagen vorkommen (normative Behauptung), ansonsten handelt es sich (per Definition) nicht um (wissenschaftliche) Erklärungen. Geschichtswissenschaft („history“) fällt unter Wissenschaft („science“) oder kann zumindest prinzipiell unter Wissenschaften fallen, zumal, wenn dort derartige Erklärungen angestrebt und formuliert werden. Das Hauptproblem, das in der Geschichtsphilosophie diesbezüglich aufgeworfen worden wurde, ist, dass Geschichtswissenschaftler, wie z. B. von Danto (1956) über Donagan (1957, 1965) bis Tucker (2004a) behauptet wurde, über keine „Gesetze“ (Kapitel 6) verfügen und diese auch nicht – wie behauptet (Hempel 1942) und wogegen von Danto (1956) bis Esser (1996) argumentiert wurde – aus anderen (Sozial-)Wissenschaften importieren können, die eben auch über keine verfügen – so lautete die These (Kapitel 6.1) – und zum Großteil auch gar keine haben wollen. Diese Erklärungsvorstellung wurde vormals „the received view“ genannt (Salmon 2006 1989), was vormaligen Konsens andeutet, den noch H. Albert (1994, 92, 149) darin zum Ausdruck brachte, dass er hier von „Erklärung im üblichen Sinne“ sprechen konnte. Der Soziologe Hartmut Esser (2001, 204) spricht noch im letzten Band seiner Mammutsoziologie von „kunstgerechten Erklärungen“ und denkt dabei an Subsumtionserklärungen. Bekanntlich wurde eines dieser Modelle von William H. Dray „Covering-LawModell“ getauft, während Carl G. Hempel (1942, 1965, 1977) hiervon mindestens zwei Modelle kannte. Obwohl wir uns auch hier wie in allen diesen Fällen von metatheoretischen Modellen um Differenzierung bemühen wollen (3.2, Kapitel 6), ist klar, dass Covering-Law-Erklärungen oder Subsumtionserklärungen in einem Blick auf den Literaturhaufen der Mini-„Anatomie“ aus der Vogelperspektive nicht als irgendwie zentral gelten können, obwohl wir schon zur

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Feststellung gezwungen worden sind, dass zumindest falsch ist, dass in tatsächlicher Geschichtswissenschaftspraxis gar keine Generalisierungen vorkommen, ob diese nun „Gesetze“ zu nennen sind oder nicht. Vielleicht müsste man strikt besehen gar sagen, dass bis auf die Ausnahme von Topolski (3.1.5) vielleicht keine Covering-Law-Erklärung in annähernder Treue des Buchstabens zu finden ist. Für Covering-Law-Modelle muss man also vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“ auf die Praxis normativ und ontologisch, z. B. im Rekurs auf Regularitätsmetaphysik der Kausalität, argumentieren oder die Fälle herauspicken, die völlig verstreut zu finden sind. Darauf kommen wir jeweils kurz zurück (Kapitel 6).113 Als Antwort auf MODELL (1) wurden bekanntlich andere Modelle angedeutet. Die Debatte verlief so, dass MODELL (1) als Modell „wissenschaftlicher Erklärung“ lange akzeptiert wurde, wobei in der Geschichtsphilosophie dies häufig bloß der Abgrenzungspunkt und der Anlass zur Formulierung von alternativen, zumeist auch als genuin „geisteswissenschaftlich“ oder „historisch“ aufgefassten Vorstellungen über die Ziele „der Geschichte“ gewesen ist (siehe im Kontext 2.1). Dies ging schon los, bevor diese Modelle überhaupt explizit formuliert waren, z. B. von Droysen über Dilthey und Collingwood bis dann zu Dray (1957) und anderen (vgl. z. B. Haussmann 1991, Schurz 2004): MODELL (2): Ziel der Geschichts- oder Geistes-, Kultur- oder Human- oder SozialWissenschaften ist das Verstehen. Eigentlich handelt es sich natürlich um eine heterogene Gruppe von Modellen. Viel mehr kann man eventuell gar nicht erläuternd hierzu sagen, so weit ich sehe. Häufiger wird dem idealtypisch beiläufig beigefügt, es gehe um „Verstehen“ von „Sinn“ bzw. „Bedeutung“. Der Slogan lautet wohl: Meaning muss verstanden werden. Unter jenes „Verstehen“ fällt grob so etwas wie individuelles Handlungs-„Verstehen“, was manchmal auch als Verstehen von „subjektivem“ „Sinn“ bezeichnet wird, z. B. bei M. Weber (1980) und dessen neo-weberianischen Anhängern. Es ist aber genauso öfters die Rede davon, Verstehen richte sich auf „sozialen Sinn“, „kulturellen Sinn“ oder „historischen Sinn“, was auch als „objektiver“ „Sinn“ manchmal bezeichnet zu werden scheint. Vom „Sinn“ von Handlungen verschieden scheinen noch andere „subjektive“ „Sinne“ „verstanden“ werden zu können, z. B. Gefühle, Überzeugungen oder dasjenige, was manchmal intentionale Zustände oder propositionale Einstellungen genannt wird. Handlungsverstehen und das Verstehen des „Subjektiven“ beruht ex hypothesi auf empathischer Einfühlung oder einer anderen Methode, vielleicht ist dieses Verstehen auch die Einfühlung selbst. Worin auch immer die Methode genauer bestehen mag oder die Verstehensmethoden in der Vielzahl bestehen mögen, Verstehen funktioniert in diesen groben Fällen zumindest anders als „wissenschaftliche Erklärung“ in Form von Covering-LawErklärungen. Klassisch hatte im Rahmen der Geschichtsphilosophie W. Dray (1957, 1963) bezogen auf das Verstehen von Handlungen eine solche These in Abgrenzung zu Hempel (1962, 1963, 1965) skizziert. Regelmäßig ist in diesen Kontexten auch von „Interpretation“ in unterschiedlichen Bedeutungen die Rede.114 Entsprechend ist regelmäßig die Rede von „interpretativem Verstehen“ (z. B. Collin 1985). Ungezählte Varianten zur Bezeichnung dessen, worum es hier geht, wurden in den Ring geworfen, wobei auch deutlich wird, dass zumindest terminologisch die Grenzen zwischen „Erklärung“ und „Verstehen“ nie klar waren: „Einfühlendes Verstehen“, 113 114

Das müssen wir aber hier bis auf Weiteres offen lassen. Wenn in diesen Kontexten von „Interpretation“ die Rede ist, wird selten oder gar nie gesagt, was darunter zu verstehen ist; vgl. Kincaid 1996, Jakob 2008; siehe in der nun klassischen Geschichtsphilosophie auch Murphey 1973.

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„rationales Erklären“ oder „historical understanding“ (Dray 1957), „hermeneutisches Verstehen“ oder „hermeneutische Interpretation“ (siehe etwa Lorenz 1997, Mahajan 2011) sind gleichermaßen zu finden. Es ist sogar im Englischen auch von „Verstehen explanation“ die Rede (Martin 2000, 119) und von „verstehendem Erklären“ im Deutschen (W. Stegmüller, zitiert in Haussmann 1991, 202).115 Der Gegner ist im Verstehenlager unter Umständen seit jeher auch klarer als der Ansatz oder die epistemologische oder methodologische These hinter der Rede von „Verstehen“. Denn die Gegner sind primär Covering-Law- oder Subsumtionserklärungen (MODELL 1), sekundär Kausalerklärungen (MODELL 4). Die Stichworte lauten in der philosophischen oder handlungsphilosophischen Debatte Gründe vs. Ursachen (Kapitel 6). Man weiß also genauer, was Verstehen nicht ist oder „Verstehen“ nicht meint, als dass man sagen könnte, worin Verstehen besteht.116 Geschichtswissenschaft fällt diesen Vorstellungen zufolge unzweifelhaft unter Geistesoder Human-Wissenschaft, denn Geschichte gilt ja in aller Regel als geisteswissenschaftliche Paradedisziplin (vgl. diesbezüglich Kapitel 3). Was nicht Handlungen, Geistiges oder „Sinne“ verstehen will, ist per Definition keine Geschichts-, Geistes- oder Kultur-Wissenschaft. Wo dies nicht Gegenstand ist, da wird dann auch nichts „verstanden“. Obwohl hier von „Interpretation“ und „Sinn“ oder „Bedeutung“ immer wieder die Rede ist, um Texte und das Verstehen von Texten oder sprachlichen Äußerungen geht es gerade nicht, was sich auch daran ablesen lässt, dass es offenbar auch keinerlei Methodologie des Textverstehens oder QuellenVerstehens in eigentlich „hermeneutischen“ Geschichtsphilosophie bisher gibt. Das ist im Kontext der Rede von „Hermeneutik“ insofern verwunderlich, als das Textverstehen eines der (Haupt-)Anliegen der nicht-philosophischen, vielleicht „klassisch“ zu nennenden Hermeneutik war (Scholz 2001, 2015a) und in diesen philosophico-wissenschaftlichen Schulen im Kontext der „Verstehen“-Literatur allgegenwärtig von Hermeneutik die Rede ist. Was die heterogenen Ansätze im „Verstehen“-Lager, zu denen mir derzeit auch keine systematisch vergleichende Rekonstruktion bekannt ist, in der interdisziplinären Metatheorie der Sozialwissenschaften zusammenzuhalten scheint, ist die Rede von „Sinn“ und „Bedeutung“, im sozial(meta)theoretischen Bereich vor allem von Handlungen. Auch die „Sinn“-„Träger“ können scheinbar sehr unterschiedlich sein, obwohl auch sie meines Wissens in der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften bisher nicht übersichtlich auseinanderdividiert worden sind.117 Zum Beispiel unterschied Christopher Lloyd (1986, 153 f.) zwischen zwei Formen von „Interpretativismus“, nämlich einem „mentalen“ und einem „sozialen“. Beide werden dadurch als Interpretativismen zusammengehalten, dass es jeweils um „Bedeutungen“ oder „Sinne“ („meanings“) geht. So ist zum Beispiel andernorts auch zu lesen, die „Bedeutung“ („la signification“) von etwas, das „historisches Ereignis“ genannt wird, müsse „verstanden“ werden (Makreel 2006, 435, in Anlehnung an W. Dilthey). Auch in Raymond Boudons Darstellung der Schule des „Verstehen“ oder, wie er es auch nennt, des „AntiPositivismus“, ist davon die Rede, der „Sinn“ von „einer Institution, einem Leben, von einem Ereignis etc.“ (Boudon 2014 1998) müsse wiedergegeben werden. Auch die „empathische Einfühlung“, früher auch als „Methode des Verstehens“ bekannt, z. B. auch in der früher berühmten Kritik von Hempel (1942), scheint nicht auf konkrete Personen und deren Geist beschränkt, wie ich selbst einmal naiv unterstellt habe: 115

116 117

Auch der Soziologe H. Esser (1996, 51) schreibt im Rahmen seiner Methodologie der Erklärenden Soziologie über „erklärendes Verstehen“ (oder vom „erklärenden Verständnis“, Esser 2000a, 185,) und im Rahmen der Problematik der „Doppelten Hermeneutik“ (Giddens 1997 1984) davon, Handlungen könnten oder müssten „verstehend erklärt“ (Esser 2000d, 69) werden. Wir kommen darauf kurz in Kapitel 5. Darauf kommen wir wieder in Kapitel 5. Das dürfte auch mit dem noch hypothetisch zu diagnostizierenden Ontologiedefizit zu tun haben; Kapitel 6.

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Those in the holistic-hermeneutical tradition of thought, including Berlin and TrevorRoper, claim that the task of historians is to interpretively understand the meanings of actions, events, processes, and social wholes. For them society is a whole which can only be comprehended through empathetic understanding. To attempt to analytically deconstruct a social whole is to destroy its essential character. Although social wholes have components they cannot be reduced to those components (Lloyd 1986, 21). Bei B. Croce fand sich bereits der ähnlich klingende methodologische Hinweis, wenn man „die Geschichte eines Grashalms" verstehen wolle, solle man sich dort hineinfühlen (Croce 1921, 134 f.). Thesen wie „Social worlds are inherently meaningful“ finden sich auch bei sich selbst so bezeichnenden „Realisten“ in der Metatheorie (Danermark et al 2002, 36), nicht nur bei Hermeneutikern oder fremd bezeichneten „Idealisten“: The world that the social scientist is describing, communicating and seeking consensus about is itself a meaningful world, a world having meaning for the members of the society under study (Manicas 2010, 63). Der erste Teil des Satzes ist dabei sehr metaphorisch oder unverstehbar, solange „world“ nicht erläutert wird. Der zweite Teil grenzt an Trivialität, soweit nicht erläutert wird, was genauer Aufregendes mit „having meaning for“ gemeint ist. Denn ob solche Aussagen über die alltagstheoretische Trivialität hinaus verstehbar sind, dass Menschen irgendwelche Überzeugungen über irgendetwas, Erwartungen an irgendjemanden oder bezüglich irgendwas, dass sie Wünsche bezogen auf irgendetwas haben oder Bewertungen von etwas vornehmen, und dass manchmal mehrere Menschen bzw. Gruppen (7.3.1) von Menschen ähnliche („geteilte“, „soziale“, „verbreitete“) Erwartungen, Überzeugungen und Wünsche und so weiter haben, und dass diese dann auch nicht vom Himmel fallen, sondern von den Akteuren irgendwie „historisch“ gebildet oder erworben werden („sozialer Konstruktivismus“, „Historismus“, „Historizität“), was auch häufig als die „Interpretation“ ihrer „Welt“ oder „Lebenswelt“ durch diese Akteure bezeichnet oder auf diese Weise auch philosophisch garniert wird (Phänomenologische Soziologie und Geschichtstheorie), sei hier dahingestellt, scheint aber letztlich nicht so zu sein.118 Es ist zwar kaum zu erfahren, was mit „Sinn“ oder „meaning“ überhaupt gemeint ist, aber alles nur Denkbare kann wohl in diesen Denkschulen, denen man deshalb vermutlich allen auch eine Metaphysik zuschreiben sollte, „Sinn“ oder „meaning“ haben, z. B. Wörter, Sätze, Erzählungen, Handlungen, „historische“ Ereignisse oder „soziale“ Prozesse, „kulturelle“ Praktiken, „social experience“, Normen, Regeln, Institutionen, Strukturen, Rituale, Kindergärten, Gebrauchsgegenstände (wie der Talar; Füssel 2006, 21), Sportvereine, Gesellschaft oder Gesellschaften und das Universum, was auch nur möglich ist, da zumeist offen gelassen wird, was für eine genauere Bedeutung eigentlich „Bedeutung“ oder welchen Sinn die Rede von „Sinn“ hat. Der Philosoph der Sozialwissenschaften D. Thomas (1979, 74) behauptete Ende der 70er Jahre bereits: „There is no more confused area in the philosophy of social science than that of the problem of meaning“. Wenn das so ist, dann ist aber wohl unklar, worin das Problem überhaupt besteht. An dem von Thomas bemängelten Umstand hat sich wohl nichts geändert, soweit man der Linie der Kritiker Glauben schenkt. Der Wissenschaftsphilosoph M. Bunge schrieb noch in den 90er Jahren: „The word meaning is one of the most abused in both ordinary language 118

Überblicke über die völlig heterogene und größtenteils desintegrierte Literatur bieten z. B. Scholz (2001), Martin (2000), Outhwaite (1986), Greshoff et al. (2008). Siehe auch Kapitel 5.

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and social science“ (Bunge 1996, 55).119 Dass dies nicht Einzelmeinungen von Philosophen sind, wird daran deutlich, dass einer der nun bekanntesten deutschsprachigen Soziologen, der durchaus eine Verwendung für das Wort „Sinn“ im Kontext der soziologischen Theorie hat, schreiben musste: „Eine Explikation der Bedeutung des Wortes ‚Sinn‘ ist schon deshalb nicht einfach, weil der Begriff eines der mystischsten der mystischen Konzepte ist, die die Soziologie zu bieten hat“ (Esser 1996, 486). Worum es hier genau geht, werden wir in unserem Rahmen nicht weiter klären können, weshalb es um jene „Sinne“ hier auch nicht weiter gehen kann.120 Wir müssen Genaueres an dieser Stelle aber auch nicht erfahren, weil wir ganz schnell feststellen können, dass im Rahmen der Mini-„Anatomie“ z. B. McNeill (1949) die einschlägigen Kartoffelpflanzen im unklaren Sinne der „Verstehen“-Lehren nicht verstehen will. Stone (2003) und Stephenson (1988) wollen Trends im Wachstum von spätmittelalterlichen Durchschnittsschafen, Kirby (1995) Gruppen von Grubenarbeitern und deren Kindern und Atkins (1992) die Verbreitung von Krankheiten durch „White Poison“ (Milch) nicht in diesem oder verwandten Bedeutungen von „Verstehen“ verstehen, genauso wie Hainzmann (1975) das römische Wasserversorgungssystem in diesem Sinn nicht verstehen will und Alpers (1995) nicht den fiscus Caesaris oder das „nachrepublikanische Finanzsystem“. Obwohl wir uns auch hier wie in allen diesen Fällen von metatheoretischen Modellen um Differenzierung bemühen wollen, ist klar, dass „Verstehen“ in diesem vagen Sinn in einem Blick auf den Literaturhaufen der „Anatomie“ aus der Vogelperspektive nicht als besonders zentral gelten kann, selbst wenn klar wäre, was genau damit in der überkommenen Tradition der Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie hier und dort gemeint ist. Auch hier ist es so, dass eine Verteidigung von „Verstehen (understanding)“ explizit normativ und explizit ontologisch sein müsste, worauf auch Lloyds Rede von der „holistic-hermeneutical tradition“ hindeutet. Man kann sich in diesem Fall auch keine seltenen Fälle aus der Mini-„Anatomie“ herauspicken, weil es keine gibt, obwohl man auch nicht recht weiß, wonach man suchen müsste, es sei denn, es geht um verbreitete, sozial geteilte Überzeugungen und Ähnliches. Als Reaktion auf (1) und (2) wurden bekanntlich in der Geschichtsphilosophie, in aller Regel ohne Beiträge von praktizierenden Geschichtswissenschaftlern, weitere Modelle skizziert, die teilweise als genuin „historisch“ eingeführt wurden. Man findet sie unter dem Label „Erzählung“ („Narration“): MODELL (3): Ziel der Geschichte ist das Erzählen oder die Erzählung (oder das Erzählen von Geschichten oder das „Geschichte Schreiben“). Und dieses historische Erzählen oder Geschichtenerzählen ist eine genuine Form von Erklärung oder auch Verstehen, zumal eine genuin „historische“ Form. 119

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Vgl. ebenso kritisch zu „Bedeutung“ und „Interpretation“ zuletzt Kincaid (1996), Jakob (2008), Kaidesoja (2013). Bunge (1998a, 11) kommentierte Clifford Geertz‘ Behauptung, die Kulturanalyse sei eine interpretative Wissenschaft, die nicht nach Gesetzen, sondern nach Bedeutung suche, mit dem Satz: „But he does not tell us what ‚meaning‘ means.“ In der Metatheorie der Historischen Anthropologie heißt es: „Die Historische Anthropologie kennt keinen speziell von ihr erarbeiteten bzw. favorisierten Themenkanon, sie definiert sich vielmehr vorrangig durch ein methodisches Konzept, durch Fragestellungen nach dem Bedeutungsinhalt bestimmter Phänomene, Ereignisse, Strukturen und Prozesse“ (van Dülmen2000, 60). In einer Erzählung (oder Darstellung) heißt es: „In neueren Studien – etwa in der von John Keegan – wird der Erste Weltkrieg als tragischer Konflikt ohne historischen Sinn gedeutet“ (Altrichter/Bernecker 2004, 42). Zum Sinn von „Sinn“ siehe auch Rüsen 2013, 34 f. Auch wenn andernorts vom „Bedeutungsverlust des alten Kontinents“ nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen wird (Recker 1990, 48), weiß man eigentlich nicht, was das heißt. Wir kommen einzig auf das Verstehen von Handlungen und eine Rede von „Sinn“ durch „Verweisung“ auf „Historisches“ oder „Soziales“ in einem „Kontext“ später zurück (Kapitel 6.2, 6.4).

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Mit „Geschichte“ ist Geschichtswissenschaft oder Geschichtsschreibung im Allgemeinen gemeint, d. h. ohne Einschränkung des Geltungsanspruchs. Eine Vielzahl von Vorstellungen diesbezüglich ist entwickelt worden. Entweder heißt dies minimal (Plenge 2014c), (a) irgendeine Ereignisfolge wird möglichst detailliert bzw. „idiographisch“ nacherzählt. Oder aber die Erzählung – in einer gänzlich anderen Bedeutung von „Erzählung“ – schafft (b) Verstehen, Bedeutung oder Sinn durch literarische Formen, Ver-Plottung („emplotment“), Tropen als kulturelle Quasi-Verstandeskategorien (H. White 2008 1973), Erzählmodi (Munslow 2007) oder etwas Anderes (Ankersmit 1981, G. Roberts 2001, Frings 2008). Oder aber die „Erzählung“ schafft (c) irgendetwas Anderes durch irgendetwas Anderes, z. B. eine genuine Art des „Verstehens“ oder der „Interpretation“ durch Kolligation, „historische“ Kontextualisierung, das Wirken einer „Erzählung“ genannten Verstandeskategorie (Frings 2008, 132) oder Anderes. Es gibt wohl mittlerweile kaum etwas, das nicht mit („historischen“) Erzählungen assoziiert worden ist (Plenge 2014c; Lorenz 1997). Was mit „Erzählung“ hier und dort genauer gemeint ist, lässt sich wohl nur im jeweiligen Einzelfall klären. Auch hierauf kommen wir zumindest kurz später zurück (Kapitel 6.4). Eines der Hauptprobleme war wohl, dass nicht wirklich verständlich gemacht werden konnte, warum Erzählungen oder auch das Erzählen genau und inwiefern etwas erklären oder „historisch erklären“, wobei der Nachweis geführt werden müsste, dass es im Fall von geschichtswissenschaftlichen Forschungsbeiträgen wirklich die Erzählung oder ihre „Form“ ist, welche den Erklärungscharakter verbürgt, der zudem im vollständig textualistischen Narrativismus mit jeder denkbaren Erzählung apriori verbunden sein soll (vgl. kritisch auch Lorenz 2004b). Ferner durfte bei diesem Nachweis nicht ein pragmatischer Erklärungsbegriff mit einem objektiven oder methodologischen konfundiert werden, wenn davon die Rede ist, das Erzählen, also vielleicht das Äußern oder Kommunizieren einer Erzählung (ein Text oder dessen Gehalt) sei entscheidend, weil dann mit diesem pragmatischen Sinn von Erzählung ebenso wenig Spannendes gemeint ist wie mit einem rein pragmatischen Erklärungsverständnis (5.4). In einem Spezialfall hätte plausibilisiert werden müssen, dass in Erzählungen etwas spezifisch Historisches zu finden ist, was dies ist und was mit „historisch“ gemeint ist, ob damit z. B. auf irgendeinen methodologischen Begriff von „Geschichte“ (2.1) angespielt wird oder bloß etwas Typisches in der Disziplin, die manchmal „Geschichte“ genannt wird. Teilweise scheint jeder beliebige Text eine „Erzählung“ oder auch „Geschichte“ genannt werden zu können (2.1), wodurch aber weder irgendein spezifisches „historisches“ Ziel im Allgemeinen noch ein besonderes Erklärungs- oder Verstehensziel charakterisiert werden kann. Der relativ jüngste Vorschlag auch im Rahmen von Wissenschaftstheorie und Erklärungsphilosophie, der in der Geschichtsphilosophie zwar zu allen Zeiten in wenigen verstreuten Texten angedeutet wurde, aber in diesem Kontext am allerwenigsten zentral gewesen ist und bis heute eigentlich keinerlei metatheoretische Rolle spielt, war der folgende: MODELL (4): (Wissenschaftliche) Erklärungen sind kausale Erklärungen. (Wissenschaftliche) Erklärungen sind Antworten auf Warum-Fragen und (wissenschaftliche) Antworten auf Warum-Fragen sind Hypothesen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Eine Behauptung als Antwort auf eine Warum-Frage, die keine Ursachen angibt, ist per Definition keine (wissenschaftliche) Erklärung. Ferner kann dem teilweise hinzugefügt werden (Naiver Kausalismus): Jede Beschreibung von Ursache-WirkungsRelationen ist eine (wissenschaftliche) Erklärung. Dies trifft dann auch auf Geschichtswissenschaftler zu, die demzufolge genau dann (geschichts-)wissenschaftlich erklären, wenn sie Ursachen für Wirkungen beschreiben. Bloß

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würde dies im Geschichtskontext im Unterschied zu anderen („theoretischen“) Wissenschaften mit dem Zusatz versehen werden, dass in dieser Wissenschaft ausschließlich singuläre Kausalerklärungen zumeist in Form von „Ketten“ oder „Bäumen“ (Kapitel 2.1) interessieren sollen, wohingegen in anderen Wissenschaften Regularitäten („Gesetze“) oder regelmäßige Kausalbeziehungen Gegenstand des Interesses sein sollen. Wer nach Regelmäßigkeiten, regelmäßigen Kausalbeziehungen oder Ähnlichem sucht, was z. B. Little (2010) auch von Geschichtswissenschaftlern zu kennen glaubt, wer also nicht Dantos „historische Frage“ (3.2) beantwortet, ist per Definition kein Geschichtswissenschaftler oder neuerdings „Historischer Wissenschaftler“ (z. B. Mandelbaum 1977, Tucker 2004a/b). Im Rahmen der Mini-Anatomie führt dies bereits zu dem Problem, dass z. B. Kirby (1995), Stone (2003) und Stephenson (1988) von Kausalität schreiben, aber prima facie nicht über singuläre Grubenarbeiterkinder oder Schafe oder irgendetwas anderes Singuläres. Auch Salle (2006), die von „Einfluss“ der Familienpolitik auf DDR-Bürger bzw. Familien schreibt, bezieht sich auf keinen einzigen konkreten „Einfluss“ auf singuläre Bürger oder Familien und deren Handlungsentscheidungen, die sie in einer Blackbox (7.3.6) belässt. Über die Antwort auf die Frage, ob Kausalität in „der Wissenschaft“ oder wissenschaftlicher Erklärung eine Rolle spielt, scheint neuerdings eventuell so etwas wie Einigkeit in der Philosophie bzw. der Allgemeinen Wissenschaftstheorie zu bestehen. Das war bis in das vierte Viertel des 20. Jahrhunderts in der Philosophie im Allgemeinen, d. h. bezogen auf alle Wissenschaften, keinesfalls selbstverständlich, schließlich mussten z. B. Mario Bunge (2009b 1959) und dann erneut Peter A. Railton (1980) und W. Salmon (1984) für eine Rolle von Kausalität in der Wissenschaft oder den Wissenschaften argumentieren (siehe auch Wallace 1974, Athearne 1994, Hüttemann 2013). Natürlich gibt es mehr Modelle und natürlich gibt es auch unzählige Mischformen, z. B. kann man das Covering-Law-Modell als Modell kausaler Erklärung ansehen oder auch nicht, was u. a. von Annahmen über den Charakter der dort für notwendig erachteten „Gesetze“ oder der „kausalen Regularitäten“ (z. B. Haussmann 1991) abhängt (Kapitel 6.1).121 Wenn man Covering Law-Erklärungen nicht für Kausalerklärungen hält, dann hat es in der Geschichtsphilosophie beinahe kein kausales Erklärungsmodell gegeben (außer Mandelbaum 1977). Auf die Problematik kommen wir kurz zurück (Kapitel 6.3.).122 Man könnte sagen, dass die Geschichtstheorie sogar im Weltmaßstab alles in allem keinerlei Kausalitätsproblematik kennt (siehe die Geschichtstheorie im Literaturverzeichnis). Auf all dies kommen wir später kurz zurück, denn im Rahmen von Kausalität und Kausalerklärung im Soziohistorischen kommt man nicht einmal minimal weiter, wenn man die Kausalitätsproblematik nicht selbst problematisiert und in ihre Bestandteile zerlegt (Kapitel 6.3). Auch danach erweist sich vieles als offen und es ergeben sich Anschlussprobleme, die notwendigerweise in die Untiefen der Ontologie führen (Kapitel 7). Bis dahin haben wir aber noch einen Weg vor uns und wir wollen noch kurz bei der Mini-„Anatomie“ verweilen. Wo ist bezüglich Erzählung das Problem vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“ zu verorten? Mit den Ausnahmen von vielleicht Gaddis (2005) und mit Abstrichen und gänzlich 121

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In der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften wurde interessanterweise das Covering-LawModell in der deduktiv-nomologischen Variante als einziges Modell der Kausalerklärung aufgefasst, obwohl viele Wissenschaftsphilosophen es nicht als Kausalerklärungsmodell einstufen (Weber et al 2013, 12), weil von Kausalität in den sogenannten „Adäquatheitsbedingungen“ für Erklärungen in dem Modell gar nicht die Rede war, obwohl von „Kausalität“ und „Determination“ in geschichtswissenschaftsphilosophischem Kontext allgegenwärtig die Rede war (z. B. Hempel 1942, 1972; siehe weiter in Kapitel 6.1). Eine eindeutige Lage scheint sich im Allgemeinen bezüglich Erklärung oder „historischer“ Erklärung kaum ergeben zu haben, auch keine geteilte Problematik (siehe z. B. Dray 1970, McCullagh 2001, D’oro 2009, Mcconald/Mcdonald 2009, Plenge 2014c).

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anders Kintzinger (2000) und Frings (2007a) „erzählt“ kaum jemand signifikant gemäß irgendeiner narrativen Modellvorstellung (Modell 3), obwohl es natürlich immer mal hier oder dort (insignifikante) Passagen gibt, die in der einen oder anderen Hinsicht vielleicht als „narrativ“ bezeichnet werden könnten. Falls Geschichtswissenschaftler überhaupt gemäß MODELL (1) auf der Basis von Covering Laws erklären, gibt unser Sample prima facie keinen Grund zu der Annahme, dass derartige Erklärungen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung besonders verbreitet oder besonders signifikant sind. Auch wenn man sich nicht auf die These einlassen wollte, dass nur Covering-Law-Erklärungen genuine Erklärungen sind, wie es eine klassische Sicht annimmt, die nun aus der Mode gekommen ist, und statt dessen zu der Annahme überginge, Erklärungen seien in irgendeinem Sinn „kausal“ und nicht Covering-LawErklärungen, dann gibt unser Sample prima facie keinen Grund zu der Annahme, dass derartige „kausale Erklärungen“ (MODELL 4) in der geschichtswissenschaftlichen Forschung besonders verbreitet sind und herausgehoben angestrebt werden, es sei denn, man löst das Problem durch ein möglichst vages Verständnis dessen, was „kausal“ bedeutet (Ontologie) und/oder dessen, was in einer Kausalerklärung (Methodologie) verlangt wird (Kapitel 6.3). Ferner scheint es kein Kausalerklärungsmodell zu geben, das auf irgendeine signifikante Anzahl an echten Beispielen auf Forschungspraxis passte und nicht für sich genommen problematisch ist (Kapitel 6.3). Die Mini-„Anatomie“ gibt auch hier wohl mehr Rätsel auf, als dass sie philosophische Auffassungen einfach spiegelt. Wenn man strikt wäre und die Vorstellungen bezüglich Kausalität (Ontologie: Relata plus Relation) und Kausalerklärung (Methodologie) aus der geschichtsphilosophischen Tradition mit der Mini-„Anatomie“ kontrastierte, was auch mit strikten Singularismus oder Idiographismus verbunden ist und ggf. mit einer Vorstellung über die zu erklärenden Wirkungen (z. B. sogenannte „Großereignisse“), dann fände sich, dass in beinahe keiner oder tatsächlich keiner der Studien Kausalerklärung gemäß diesen Vorstellungen vorkommt oder signifikant vorkommt, das heißt diese Studien hauptsächlich auszeichnet. Man kann davon abgesehen die Mini-Anatomie danach durchforsten und andere Studien heranziehen, wo explizit der Anspruch erhoben wird, über Kausalität zu handeln oder wo implizit und zentral Kausalität irgendwie vorkommt und zugleich etwas erklärt werden soll. Die Ausbeute wird teilweise ernüchtern, obwohl in den dargestellten Studien (3.1) – teilweise im deutlichen Unterschied zu den nicht dargestellten – teilweise Wörter wie „Ursache“ fallen, was aber keineswegs als in irgendeinem Sinn repräsentativ gelten kann. Explizit von Kausalität und im Kontext von Kausalerklärung ist eigentlich bloß in den Studien die Rede, die vor dem Hintergrund der tradierten Vorstellungen von Geschichtswissenschaft als besonders untypisch gelten würden (Kirby 1995, Stone 2003, Atkins 1992) oder die bekannt, aber gerade hinsichtlich Kausalität aufgrund der Hintergrundkausalitäts- und Sozialmetaphysik hochgradig umstritten sind (Skocpol 1979, Kapitel 6.1). In allen anderen Fällen ist explizit nicht signifikant von Kausalität die Rede oder es funktioniert ganz einfach nicht, wie in geschichtsphilosophischen Vorstellungen angedeutet worden ist (z. B. in den Fällen von Topolski 1994a, 1979 1965, Frings 2007, Salle 2006). Wir müssen unter diesen Voraussetzungen also vorerst auch bzgl. MODELL (4) und dem universalen philosophischen Problemlöser „Kausalität“ Enthaltsamkeit üben, solange wir nicht eine Metaphysik methodologisieren wollen, die ferner im Bereich des Soziohistorischen noch immer unklar und in jedem einzelnen Fall völlig umstritten ist (Kapitel 6, Kapitel 7). Auch im Fall von Kausalerklärung ist es so, dass für diese Vorstellungen explizit normativ oder ontologisch argumentiert werden müsste, zumal bisher geschichtswissenschaftliche Kausalerklärungspraxis und deren Einheitlichkeit oder Heterogenität nicht untersucht worden ist. Für die Sozialwissenschaften dürfte im Allgemeinen auf philosophischer Seite dasselbe gelten (Kapitel 6.3, 7.4).

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Wir müssen auch hier zunächst vermeiden, philosophische Annahmen unumwunden global einer Praxis unterzuschieben, die dies zumindest nicht auf den ersten Blick hergibt und schon gar nicht bezogen auf „die Geschichte“ bzw. dasjenige, was ich „Geschichtswissenschaft“ genannt habe. Der Philosoph Thomas Haussmann hatte beispielsweise seine Vorstellung über dasjenige, was Geschichtswissenschaftler nur tun könnten, wie folgt ausgedrückt: Der Historiker hat zum einen die Möglichkeit, die historischen Ereignisse lediglich beschreibend aneinanderzureihen, etwa in Form einer Chronik; zum zweiten kann er aber auch versuchen, diese Ereignisse miteinander in Zusammenhang zu bringen, wobei dieser Zusammenhang dann die Form einer Erklärung annimmt, in der gezeigt wird, welche kausalen Verknüpfungen zwischen den Ereignissen bestehen (Haussmann 1991, 116; vgl. Pape 2006, 135 f.). Haussmann hatte sich als einer der wenigen Autoren aus der Philosophie der Geschichte Studien zugewandt (Wehler 1994 [1973], Mann 1999 1958). Diese Vorstellung entstammt aber dennoch nicht einer möglichst breiten Analyse von Wissenschaftspraxis, sondern ist Ausdruck einer Ontologie, die Haussmann, wie alle Geschichts- und Sozialphilosophen in der Tradition des Logischen Empirismus (6.1), nicht expliziert und in irgendeiner Form an der Praxis illustriert oder auch an Sozial(meta)theorie konkretisiert hat, sondern schlicht voraussetzt. In Anknüpfung an das Zitat von Haussmann könnte man allerdings im Anschluss an die Mini-„Anatomie“ behaupten, dass Geschichtswissenschaftler nicht nur nicht unbedingt kausal erklären, sondern auch nicht notwendigerweise Ereignisbeschreibungen in Form von Chroniken, Erzählungen oder „Geschichten“ (2.1) aneinanderreihen. Diese Behauptung klingt vielleicht seltsam, ist es aus der Perspektive der Praxis aber nicht. Zum Beispiel kommt dies in der Altgeschichtswissenschaft wohl fast nie vor, wie auch nicht oder sicherlich nicht verbreitet in geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschriften im Allgemeinen, in Sozial- oder Kulturgeschichtswissenschaft. Dasselbe Problem haben wir oben bereits am Beispiel von Mandelbaums Vorstellung über „explanatory accounts“ diagnostiziert. Entweder sind solche Thesen im Rahmen der Metaphysik und außerhalb wissenschaftspraktischer Kontexte mehr oder weniger trivial, was die Frage offen lässt, was sie mit welcher Praxis inwiefern zu tun haben. Viel hängt auch von der zumeist unexplizierten Rede von „Ereignissen“ ab. Oder Thesen im Kontext von Kausalität sind so kontrovers, dass sich diese Fragen nach der Relevanz für eine Praxis erst recht stellen, zumal Kausalitätsphilosophie keinen engen oder gar keinen Kontakt mit Geschichts- und Sozialwissenschaften und deren Metatheorien hat, sodass man sagen könnte, es sei trivial, dass Geschichts- und Sozialwissenschaftler kausale Relationen untersuchen und beschreiben und durch diese Beschreibungen eine Wirkung erklären (Kapitel 6, Kapitel 7). Alpers (1995), Jones (1960), Salle (2006), Hitzbleck (1975), Füssel (2006), Hainzmann (1971), Calaresu (2013), Wozniak (2013), Medick (1996) und vermutlich beliebig aufzählbare Geschichtswissenschaftler aus unterschiedlichen Schulen reihen nicht Chroniken aneinander oder verbinden dasjenige, was sie schon nicht in Chroniken aneinanderreihen, dann noch „kausal“, zumal mit dem Ziel der Erklärung oder der Beantwortung einer Warum-Frage. Selbst bei denjenigen, die Kausalvokabular verwenden, sieht es gänzlich anders aus (z. B. auch Topolski 1994a). Auch vor diesem Hintergrund ist es angebracht, zuerst zu vermerken, dass Geschichtswissenschaftler offenbar unterschiedliche Fragen an teilweise unterschiedliche Gegenstände richten, bevor man der Geschichtswissenschaft irgendeine Metaphysik explizit oder implizit überstülpt. Erklärungen oder „Interpretationen“ gemäß irgendeinem der „narrativen“ MODELLE (3) findet man meines Erachtens fast überhaupt nicht in der Mini-„Anatomie“. Man wird ge-

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schichtswissenschaftliche Forschung und einiges an populärer Geschichtsschreibung finden können, das mit irgendeinem der Modelle vom Typ (3) teilweise übereinstimmt. Im Bereich dessen, was „Kolligation“ genannt wurde, kann man vielleicht vage Beispiele auch in der Mini-„Anatomie“ finden (Kapitel 6.4). Es kann aber keine Rede davon sein, solche „Erzählungen“ oder „narrative Erklärungen“ oder „Interpretationen“ seien irgendwie besonders verbreitet in geschichtswissenschaftlicher Forschung, wie sie beispielhaft im Rahmen der Mini„Anatomie“ zu finden ist. Auch im Vergleich zu Erklärungen nach MODELL (1) oder (4) schneiden Erzählungen keineswegs besser ab, zumal man im Unterschied zu Covering-LawModellen und im Einklang mit den „Verstehen“-Lehren eigentlich nicht genau weiß, wonach man suchen muss. Ideen von kolligatorischen Erzählungen, also das Zusammenfassen von etwas zu einem „Ganzen“, die Einordnung eines „Teils“ in ein „Ganzes“ oder die Bezeichnung von etwas Ganzem durch einen kolligatorischen Ausdruck, scheinen zu vage, als dass man sie nutzen könnte, um klare Identifikationen solcher Erzählungen oder Erklärungen in der Mini-„Anatomie“ vorzunehmen (Kapitel 6.4). Man müsste also für Erzählungsmodelle der Geschichtswissenschaft(en) explizit normativ oder ontologisch argumentieren, kann sich also auch hier nicht in ein Boot klar etablierter „historischer“ oder gar „genuin historischer“ Praxis setzen, zumal vielleicht einer „besten“ (2.3). Das gilt natürlich letztlich für alles auf dem Markt. „Erzählungen“ in irgendeinem interessanteren Sinn sind offensichtlich aber nicht irgendwie „typisch“ für geschichtswissenschaftliche Texte, es sei denn, man trivialisiert die Frage, indem man „Erzählung“ per Definition so festlegt, dass man nichts schreiben oder beschreiben kann, ohne gleichzeitig zu erzählen. Dann bleibt aber offen, was Erzählungen inwiefern mit Erklärungen zu tun haben oder zum Verstehen von etwas beitragen. Ferner bleibt offen, was zumeist mit der methodologischen Diskussion von Erzählungen verbunden war, nämlich dass hier etwas „genuin Historisches“ zu finden ist.123 123

Nach meinem Eindruck sind die Entwicklungen im Umfeld von Narrativismen äußert vielfältig und gerade seit den 1980er Jahren wild gewuchert. Ein neuerer Lexikonartikel im schmalen „Lexikon Geschichtswissenschaft“, der ja das Wesentliche am „Grundbegriff“ bündelnd zusammenfassen sollte, enthält folgende Bestimmung dessen, was eine Erzählung ist, den wir hier abkürzend heranziehen wollen, bevor wir uns später nur kursorisch und vor dem Hintergrund weiterer Ideen die Ontologie hinter randständigen Erzählungsauffassungen grob ansehen: „Erzählungen bilden eine universale Darstellungs-, wenn nicht eine Wahrnehmungs- oder Denkform. Je nachdem, wie man sie auffasst, erhält das Erzählen eine spezielle oder grundsätzliche Bedeutung für die Geschichtstheorie“ (Süßmann 2002, 84). Wir fügen hinzu, dass dem noch eine Auffassung von Geschichtswissenschaft beigefügt werden muss, ansonsten ist zwar vielleicht eine „Bedeutung“ für Geschichtstheorie nachgewiesen, aber nicht für Geschichtswissenschaft. Was ist an „Erzählungen“ oder dem „Erzählen“ aber genauer die universale Darstellungsform (2.1), die auch noch spezifisch „historisch“ sein müsste? Die offensichtliche Obskurität wollen wir hier auf sich beruhen lassen, unter „Erzählung“ eine „Wahrnehmungs- oder Denkform“ zu verstehen (wie neo-neo-neo-kantianische Narrativisten behauptet haben; siehe Frings 2008). Über die universale Darstellungsform heißt es: „Die Erzählung ist eine mündliche oder schriftliche Darstellung von Geschehnissen (…), die sich durch Indirektheit, Nachzeitigkeit und Sukzessivität auszeichnet. Indirekt ist die Erzählrede, weil vor den Geschehnissen eine Erzählinstanz steht; nachzeitig, weil die Erzählinstanz zum Zeitpunkt des Erzählens (der Erzählzeit) nicht an den erzählten Geschehnissen (der erzählten Zeit) beteiligt ist; sukzessiv, weil die Darstellung im Nacheinander eines Diskurses entfaltet wird“ (Süßmann 2002, 85). Von jedem Erkenntnisakt oder zumindest einem solchen einer Person a, die einer Person b das Ergebnis der Erkenntnisbemühung offenbart, der also anschließend irgendwie kommuniziert wird, kann gesagt werden, dass eine Person „vor den Geschehnissen“ steht. Das gilt für die Tagesschausprecherin genauso wie für den ERASMUS-Studenten, der eine Mail an seine Freundin daheim schreibt (oder umgekehrt). Die Nachzeitigkeit ist ebenso trivial eigentlich beinahe immer gegeben. Wahrnehmung benötigt Zeit, das Wahrgenommene ist dann bereits vergangen, bevor es erzählt wird. Eventuell ist Nachzeitigkeit nicht notwendig, um etwas eine „Erzählung“ zu nennen, nämlich wenn man nicht derart streng ist. Denn ein Liveberichterstatter „erzählt“ eventuell doch auch und in mancher Redeweise des Common Sense erzählt er Gegenwärtiges. Jede

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„Erklärungen“ à la 3 (b), also im Sinne des ästhetizistischen oder linguistischen und relativistischen Narrativismus, sind im hiesigen Sample, mit der Ausnahme vielleicht von Gaddis (2005), nicht zu finden. Teilweise muss man sich vor dem Hintergrund solcher Narrativismus bei der Lektüre von geschichtswissenschaftlicher Forschung im falschen Film wähnen. Nichts ähnelt hier irgendeiner Art von „Erzählstruktur“ wie Komödie, Satire, Romanze oder einer Tragödie, auch unabhängig davon, was darunter jeweils genauer verstanden werden mag. Auch von sonderlich offenkundigen „ideologischen Implikationen“ (H. White 2008 1973) oder politischen Standpunknahmen sind eigentlich so gut wie alle weit entfernt und klare Auswüchse von „metaphorischer“ Sprache sind selten zu beobachten. Der Geschichtstheoretiker A. Marwick (2001, 207) schreibt in dem von ihm gewohnten und erfrischenden Klartext diesbezüglich von „the nonsense about the need for ‚emplotment‘ or ‚narrative‘ (in the imagined sense of the postmodernists)“. Niemand kleidet sein „Wissen“ oder das Bekannte in eine „Erzählform“, malt einen Graphic Novel oder zeigt sein dichterisches Talent durch die Verwendung narrativer Modi (Munslow 2007). Nicht viel besser als um „Narrationen“ oder „narrative Erklärungen“ steht es – eigentlich überraschenderweise, wenn man wie ich selbst die Frage mal a priori anders beantwortet hat (Plenge 2009) – um das Handlungsverstehen, also „hermeneutisches Verstehen“, „interpretatives Verstehen“, „intentionale Erklärungen“ oder auch „rationale Erklärungen“ von HandDarstellung, die aus mehr als einem Laut, mehr als zwei zusammenhängenden oder aufeinander folgenden Zeichen oder Symbolen, mehr als zwei Sätzen oder Aussagen, vielleicht in Versform oder sonst wie, besteht, zeichnet sich wohl dadurch aus, im obigen Sinn „sukzessiv“ zu sein, wird also „im Nacheinander eines Diskurses entfaltet“. Darin kann die Signifikanz des Erzählungsbegriffs für Geschichtswissenschaften also kaum liegen. Die „grundsätzliche Bedeutung für Geschichtstheorie“ und Geschichtswissenschaft muss woanders liegen und diese „grundsätzliche Bedeutung“ müsste nun expliziert werden. Es ist in diesem Erzählbegriff noch nicht einmal (direkt) von dem die Rede, was Veyne (1971) für genuin „historisch“ hielt an „historischen Erzählungen“. Diese Erzählungen sollten – dem Anspruch nach und im Unterschied zu fiktionalen Erzählungen wie den sogenannten Historischen Romanen – auf Wahrheit zielen und „ausreichend dokumentiert“, also gerechtfertigt sein. Darin könnte man ja etwas genuin Geschichtswissenschaftliches entdecken, es hat aber mit Erzählung eigentlich nichts zu tun. Süßmann (2002, 86) moniert genau die Aufgabe der Unterscheidung zwischen „fiktionalen“ und nonfiktionalen Erzählungen oder, wie er es nennt, „Geschichtsschreibung als referentielle Erzählung“ (ebd. 87) anschließend am „Narrativismus“ von H. White. Es heißt ferner, die „literaturwissenschaftliche Erzähltheorie“ habe gezeigt, „dass dem Denken der Historiker nur die Logik der Chronik (engl. story) zugrunde liegt; der Logik der Fabel (engl. plot) hingegen folgen weder der Forschungsaufsatz noch das Handbuch noch der geschichtsphilosophische Traktat“ (ebd. 87). Was auch immer mit der Terminologie hier genauer gemeint ist, spielt hier keine Rolle, schließlich sind Texte, in denen Wolf und Lamm vorkommen, wohl nicht gemeint. Bloß heißt dies im Klartext, dass dem Autor zufolge alles das, was im „linguistischen Idealismus“ oder „Narrativismus“ von „Erzählungen“ verlangt wird und was irgendwie spannend mit „der Geschichte“ verbunden sein soll, im hier zur Debatte stehenden Gegenstand irrelevant ist, also in Geschichtswissenschaft bzw. geschichtswissenschaftlicher Forschung: „Daraus resultiert, dass das Erzählen nicht ausreicht, um darauf Theorien der Geschichtswissenschaft (…) zu gründen“ (Ebd., 87. Vgl. Frings 2007a/b, 2008, 2010; Lorenz 2004b). Das wussten aber eigentlich schon alle außerhalb der Geschichtsphilosophie schon immer (z. B. Bernheim 1908, Topolski 1976, Rüsen 1986) und man könnte sich vielleicht fragen, ob das Erzählen nicht nur nicht hinreichend ist, sondern auch gar nicht notwendig. Topolski (1976) schlug bereits vor, unter „Erzählungen“ Forschungsberichte zu verstehen, die es auch in der Physik bzw. in allen Wissenschaften gebe. Dem könnte man nun obige Bestimmungen von schriftlichen und mündlichen Erzählungen zufügen (Indirektheit, Nachzeitigkeit und Sukzessivität), aber das scheint nicht nur uninteressant zu sein, sondern es ist eigentlich jenseits allen nur denkbaren Interesses. Pandel (2010, 75 ff.) nennt als ebenso vage wie letztlich kaum spezifische Merkmale des historischen Erzählens „Retrospektivität“, „Temporalität“, „Selektivität“, „Konstruktivität“ und „Partialität“. Für einen weiteren Überblick siehe das Dictionary of Concepts in History (Ritter 1986) und einige Gedanken in 6.4. Vor dem Hintergrund unserer später geborgten Allgemeinen Hermeneutik kann man versuchen, einen Rest von Narrativismen zu retten, der jedoch insofern insignifikant ist, als das Ergebnis mit einer Erzählung oder historischen Erzählung mit irgendwelchen „genuinen“ Charakteristiken („Narrativität“) nichts zu tun hat.

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lungen, die ja manchmal mit „historischen Erklärungen“ oder „historischem Verstehen“ per Definition identifiziert worden sind (z. B. Dray 1957, R. Martin 1977, Gerber 2012, 6.2): Ein großer Teil historischer Erklärungen zeichnet sich dadurch aus, daß darin nicht bestimmte Ereignisse durch andere Ereignisse und Zustände erklärt werden, sondern daß die Handlungen historischer Akteure mit Bezug auf deren Wünsche, Überzeugungen und Ziele erklärt werden (Haussmann 1991, 65 f.). Das Problem auch mit solchen Thesen ist nicht, dass sie nicht a priori plausibel scheinen oder vielleicht gar als normativ gewendete Thesen fruchtbar sein können (Kapitel 7), weil es die Geschichtswissenschaften ja (auch?) mit Menschen zu tun haben. Das Problem ist an dieser Stelle, dass nicht der geringste Nachweis diesbezüglich geführt worden ist und unzählige Geschichtswissenschaftler auch dies bestritten haben. Allerdings überrascht diese Beobachtung aufgrund der Apriori-Plausibilität und der teilweise recht geballten (früheren) geschichtsphilosophischen Tradition erst recht. Seit geraumer Zeit gibt es auch kaum Handlungsphilosophie oder –theorie in der Geschichtsphilosophie mehr. Geschichtswissenschaftler erklären oder verstehen jedoch nicht unbedingt seltener das Wollwachstum von Schafen oder die Krankheiten von Fischen oder die Entstehung und das Verhalten von Kolibakterien in Kuhmilch als das Handeln von individuellen Menschen, in die sie sich „einfühlen“, es „reenacten“, „simulieren“ oder zu dem sie sonst wie durch Anteilnahme am Menschsein einen privilegierten Zugang haben. Sie rekonstruieren auch deren Entscheidungsprozesse oder „Kalkulationen“ (Dray 1957, Hempel 1961/62, Frings 2007b, 2008) nicht gerade häufig im Sinne von Modellen „rationaler Erklärung“ und einer zugleich non-intuitionistischen Methodologie. Hier ist einer der Punkte, an denen es am wichtigsten ist, philosophische Normen und geschichtswissenschaftliche Realität nicht unumwunden kurzzuschließen. Ein bisschen Empirie schadet auch in solchen Fällen nie. Die allzu bekannte philosophische Behauptung, Geschichtswissenschaftler seien „typischerweise“ an (individuellen) Handlungen oder Mentalem interessiert oder dies gelte für „Geschichte“, ist also ganz einfach irreführend, wenn man dem Eindruck der Mini„Anatomie“ etwas Glauben schenkt. An dieser Stelle ist auch noch irrelevant, welche These bezogen auf das „Verstehen“ von Handlungen oder deren Erklärung man im Rahmen von Philosophie oder wissenschaftlicher Handlungstheorie hat, ob man Handlungserklärungen in der Philosophie für sui generis, als kausal, nomologisch oder beides zugleich oder nichts dergleichen erachtet, wobei zur Beantwortung dieser Fragen zuvor als geklärt gelten muss, wie die in (theoretischen) Handlungserklärungen herangezogene Handlungstheorie lautet (6.2). Auch hier ist es in gewissem Sinne so, dass die These entweder trivial ist, nämlich wenn bloß irgendein völlig vager Bezug auf Handlungen oder Interaktionen gemeint ist, der beinahe unvermeidbar ist. Das war aber gewöhnlich nicht gemeint, wenn von der Erklärung oder dem Verstehen von Handlungen die Rede gewesen ist. Die These ist völlig falsch, wenn gemeint ist, dass Geschichtswissenschaftler datierbare singuläre Handlungen durch irgendetwas der „Emission einer Handlung“ (Schmid 1979, 85) vorhergehendes Mentales erklären. Sie ist auch falsch, wenn die singularistische Grundannahme aufgegeben wird und die These auf die Erklärung von Typen von Handlungen unter der Verwendung von expliziten (generellen) handlungstheoretischen Annahmen ausgeweitet würde. So etwas finden wir hier einzig bei Topolski (1994a) und A. Frings (2007a).124 124

Die Diagnose scheint im Großen und Ganzen für alle Sozialwissenschaften zu gelten; siehe z. B. Schmid (Literaturverzeichnis) und Esser (Literaturverzeichnis) sowie Greshoff (Literaturverzeichnis) und Boudon (Literaturverzeichnis). Schließlich müssen „individualistische“ (7.1) Soziologen nach wie vor um die Erfül-

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Praktizierende Geschichtswissenschaftler vermuten vermutlich sofort, warum diese philosophischen Auffassungen zumindest irreführend sind. Manche Geschichtstheoretiker reagieren sogar ungehalten auf Thesen wie „All history ? is the history ? of thought“ (Collingwood 1994 1946, 215, 2.1). Der Geschichtstheoretiker A. Marwick (2001, 44), dessen Nature of History in der Erstauflage 1970 erschien, kommentierte: „With regard to the history that is actually produced by working historians, the truth is pretty well the exact opposite of this rubbish“. Marwick war gar der Überzeugung, dass Geschichtswissenschaftler nie wissen könnten, was jemand denke, im Unterschied zu dem, was sie z. B. äußern, obwohl er dennoch zu wissen beanspruchte, was sich irrende andere Geschichtstheoretiker denken. Obwohl ich auch hier differenzieren würde (Kapitel 6.2), scheint etwas dran zu sein an diesem Klartext eines Geschichtswissenschaftlers, der allerdings im fundamentalen und (äußerst) bemerkenswerten Gegensatz steht zu philosophischen Thesen über „humanistic historical interpretation“ (z. B. Martin 1997) und dem ebenfalls klar formulierten geschichtstheoretischen Selbstverständnis anderer Historiker: „For many Historians, that establishment of sympathetic understanding is the hallmark of well-crafted history. For some, indeed, it constitutes the only valid ground of historical knowledge“ (Tilly 1990a, 691). Nur eine detaillierte, epochenübergreifende Studie könnte hier genauer Aufschluss geben. Althistoriker, Mediävisten und sogar Neuzeithistoriker haben – neben allen anderen – sehr wahrscheinlich seltener, als wohl oftmals gedacht, Daten, die in irgendeiner Weise einen quasi-direkten („empathischen“ oder sonstigen) oder auch einen hypothetisch-argumentativen Zugang zum Geist von Akteuren ermöglichten, zumal zu einem konkreten Zeitpunkt vor z. B. einer singulären Handlung (im Unterschied zu einzelne Akte überschreitende „Strategien“ oder „Politiken“ oder „Mentalitäten“ usw.). Ihr methodologisches und methodisches Problem, wenn es sich ihnen überhaupt aufdrängt, ist dann auch nicht ausschließlich das sogenannte „direkte Problem“, von einem bekannten, wie auch immer zu bezeichnenden Geistes„Zustand“ (Kapitel 7.3.5) zu einer Körperbewegung oder Handlung zu gelangen, was primär der Gegenstand von Handlungstheorien ist. Sondern das praktisch vordringliche Problem ist besonders in den singulären Fällen, die im Unterschied zu z. B. Topolskis Modellkonstruktion ja als typisch „historisch“ gelten, ein „inverses Problem“ (Bunge 2006a, 2012a), nämlich von einer Quelle zu Verhalten und dann eventuell zu einem mentalen Zustand zu gelangen (Quelle → Verhalten → mentaler Zustand), bevor es überhaupt möglich wird, eine Handlung auf dieser Basis zu erklären (z. B. mentaler Zustand → Entscheidung → Handlungsausführung), indem eventuell eine explizite Handlungstheorie angewendet wird, über die Geschichtswissenschaftler vermutlich jedoch im Allgemeinen nicht verfügen (Kapitel 6.2). Das allgemeine Problem scheint zwar nicht prinzipiell unlösbar, wie z. B. Marwick (2001) wohl annimmt, hat aber eine Unmenge potenzieller Lösungen, kann also ohne entsprechende Quellen und explizite Hypothesenbildung und -wahl nicht auf geschichtswissenschaftliche Art und Weise gelöst werden, d. h. ohne die blanke Spekulation hinter der Rede von „Empathie“ oder auf der Basis des „Verstehen“-Mythos. Und es kann wohl in vielen Fällen überhaupt nicht gelöst werden, weil es in vielen Fällen keinerlei signifikante Daten für eine kontrollierte Hypothesenbildung gibt.125 Interessanterweise gibt es in der Geschichtsphilosophie im engen Sinn eigentlich kei-

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lung der Norm kämpfen, handlungstheoretisch „mikrofundierte“ Beschreibungen und Erklärungen von Sozialem anzustreben. „Verhalten“ umfasst hier z. B. auch den Fall, in dem irgendjemand beispielsweise einem Kloster im 10. Jahrhundert Besitz in irgendeiner Rechtsform überschreibt. Wenn in der dies bezeugenden Urkunde nichts über „Gründe“, „Motive“ oder „Intentionen“ überliefert ist, ist darüber zumeist nichts herauszufinden, falls dies überhaupt von Interesse ist; für Impressionen bezüglich der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in diesem Kontext siehe Linck 1979. In einem gängigen Lehrbuch heißt es in ähnlichem Kontext: „Die unterschiedlichen Gründe, die zur Übergabe von Besitz an die Kirche führten, sind aus den meist formelhaften

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ne methodologischen und theoretischen Überlegungen zur Überwindung dieser Schwierigkeit oder, anders formuliert, zur Lösung von Indikatorproblemen (Beobachtbares→Unbeobachtbares) im Falle von Handlungserklärungen. Das Problem wird offenbar gewöhnlich durch den Verstehen-Mythos eher verstellt, wobei auch nicht ins Gewicht fällt, ob man an der Stelle „Empathie“, „Verstehen“ oder neuerdings „Simulation“ schreibt. Wie auch immer es um die epistemischen Hürden stehen mag, Handlungen und auch ihre Erklärungen interessieren viele Geschichtswissenschaftler überhaupt nicht oder nur am Rande. Wozniak (2013) interessiert sich für Quedlinburg und dessen Sozialtopographie. Dessen Problem besteht darin, z. B. aus Steuerlisten, die keinerlei Adressen enthalten, sondern nur Listen von Namen, herauszufinden, wer wo genau gewohnt hat, Bevölkerungsmerkmale wie die Gesamtbevölkerung oder die Verteilungen von Gruppen in der Topographie grob zu schätzen und ähnliches (8.1). Kirby (1995) und anthropometrische Geschichtswissenschaftler generell interessieren sich für körperliches Wachstum, Stephenson (1988) und Stone (2003) für das Wachstum von Schafsfellen unter der Voraussetzung von Hypothesen über Veränderungen des Klimas in England. Jones (1960) interessiert sich für die „Organization of the Cloth Industry“, Hainzmann (1975) für das technische und soziale „Wasserversorgungssystem“ Roms. Hier und andernorts spielen weder Beschreibungen noch Erklärungen von (singulären oder typischen) Handlungen eine zentrale Rolle, teilweise auch nicht in Alpers (1995) Thesen über den fiscus Caesaris. Selbst dort, wo man sagen könnte, dass ein Handlungserklärungsaspekt eine randständige oder gar zentrale Rolle spielt, werden keine (singulären) „intentionalen“, „teleologischen“ oder „rationalen“ Erklärungen formuliert (Stone 2003). Manchmal geht es eher um Typen von Handlungen und abstrakte Modellbildung (Topolski 1994a, Frings 2007), was eine deutlich andere Problematik darstellen kann. Und sogar selbst dort, wo man a priori aus handlungsphilosophischer und/oder einer sozial(meta)theoretischen Sicht zwingend erwarten würde, dass handlungstheoretisch und modellhaft argumentiert wird, findet dies nicht statt (z. B. Salle 2006, teilweise Newman 1979), weil auf der Datenbasis die Hypothese als Antwort auf die gestellte Frage einzig gestützt wird, dass es irgendeinen „Einfluss“ der „Familienpolitik“ der DDR auf ungezählte Entscheidungen von alleinerziehenden Frauen und Ehepaaren gegeben haben muss, was sich aufgrund von quantitativen Daten begründet annehmen lässt. Es wird aber nicht erklärt, warum es zu jenen Entscheidungen aus einer akteurtheoretischen Perspektive gekommen ist. Das heißt in gewissem Sinne ist das Modell sozial-behavioristisch: Input („Familienpolitik“) → Black Box/Akteur → Output (individuelles Verhalten bzw. Verhaltensmuster in Gruppen). Wir kommen auf diesen etwas paradoxen Fall in 8.1 kurz zurück. Hier könnte man genauso wie im Fall von Kausalmodellen und auch Covering-LawModellen den auf der Basis der Mini-„Anatomie“ gewonnenen Eindruck strenger ausdrücken. Wenn man die These ernst nimmt, dass das historische Erklären und/oder Verstehen eines singulärer datierbarer Handlungen von Menschen ist, dann findet dieses historische Erklären und/oder Verstehen im Rahmen der Mini-„Anatomie“ eher nie statt als allzu häufig. Halten wir zusammenfassend fest, es ist einigermaßen offenkundig, dass real-existierende Geschichtswissenschaftler nicht mit signifikanter Regelmäßigkeit singuläre Sätze aus Gesetzesaussagen mit dem Ziel einer Erklärung ableiten, dass sie nicht mit signifikanter Regelmäßigkeit „Verstehen (understanding)“ praktizieren und auch selten „historisch erzählen“. Genauso wenig wissen sie universal oder typisch etwas über (sonderlich engmaschige) EreignisWendungen der Urkundensprache oft nicht klar zu erkennen“ (Schulze 1990, 112). Zur Problematik in einem Kontext, in dem überhaupt keine schriftlichen Quellen existieren, schreibt Evans (1999, 94): „In die Gedanken von jemandem einzudringen, der im 4. Jahrhundert einem Grab einen Schatz beigab, oder von jemandem, der im 20. Jahrhundert eine Wochenschau zusammenstellte, ist alles andere als einfach“.

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folgen und vermutlich können sie auch allzu häufig davon nichts wissen (z. B. Alpers 1995, Huggett 1988, Jones 1960, Millar 1984, 1986, Sewell 1985, Salle 2006). Entsprechend können sie diese auch nicht chronologisch nachvollziehend und engmaschig „erzählen“ oder zwischen diesen chronologisch angeordneten Gegenständen zusätzlich noch Kausalrelationen situieren. Häufiger liegen die Erkenntnisinteressen wohl auch in anderen Gegenständen und in der Beantwortung von anderen an diese gerichteten Fragestellungen. Alles Weitere ist dann aus meiner Sicht eine Frage von diffiziler und uneindeutiger Differenzierung bei gleichzeitigem Versuch philosophischer Klärung von metatheoretischen Problemen (z. B. Kapitel 6, 8.1). Zumal ist es eine Frage der Beispielauswahl beim gleichzeitigen Problem der unübersehbaren Vielfalt der Praxis. Ferner sind monographische Einzelstudien manchmal unübersichtlich, sodass gerade bei impressionistischer Sichtung viel durch die Lappen gehen kann. Das ist auch in mehrerer Hinsicht aus philosophischer Sicht verblüffend, könnte es doch z. B. dafür sprechen, dass Geschichtswissenschaftler die Metaphysiken von Kausalisten, wie sie z. B. oben bei Haussmann und in der geschichtsphilosophischen Erklärungsliteratur manchmal durchscheint, ganz einfach nicht teilen und in ihre Praxis nicht danach ausrichten, sei es explizit, sei es implizit. Vorgreifend will ich aber festhalten, dass diese, vermutlich nun irgendwie negativ klingende Bestandsaufnahme überhaupt nichts mit alten philosophischen Grabenkämpfen und dichotomischen Positonierungen zu tun hat. Das macht es ja erst ein wenig interessant oder spannend. Diese Ausbeute hat rein gar nichts mit Nomologizismus vs. „Antinomieanismus“ (so Bunges Bezeichnung; Bunge 1998), Kausalismus vs. Antikausalismus, Gründe vs. Ursachen, Ereignis vs. Struktur oder „subjective meaning“ vs. „objective structure“ zu tun, weil unsere Referenzautoren in der Mini-„Anatomie“ die meisten philosophischen Diskurse überhaupt nicht kennen. Wir kommen darauf zurück, wenn wir ganz grob die Straußperspektive einnehmen (Kapitel 6). Bevor wir gleich mit philosophischen Ideen weiterarbeiten, muss man schon zugeben, dass man den Eindruck haben kann, dass es vielleicht unmöglich ist, über das Obige (4.1) hinaus sonderlich viel global über „die Geschichte“ zu sagen (2.3, 2.1). Besonders verwirrend ist auch, dass unsere Geschichtswissenschaftler teilweise und von der philosophischen Perspektive auf Erklärungsmetatheorie aus formuliert sozusagen etwas „faul“ sind, was die Formulierung von Warum-Fragen anbetrifft. Sie stellen teilweise nicht explizit Warum-Fragen und diese lassen sich ihnen auch nicht immer einfach unterstellen. Das ist wiederum nicht leicht einzuordnen, wenn man mit einem Minimum an ErklärungsVerstehen-Philosophie vertraut ist, denn deren Paradigma „wissenschaftlicher“ Erklärung ist so etwas wie „Warum aß Adam den Apfel?“ (van Fraassen 1988). Wenn man mit der Debatte um Erklärungen oder wissenschaftliche Erklärungen auch nur etwas vertraut ist, dann sucht man unweigerlich nach diesen Fragen und ist dann verwundert, wenn sie selten zu finden sind oder zumindest weitaus seltener zu finden sind, als man auf der Basis philosophischer Schulung erwarten würde. Wo keine Warum-Frage gestellt wird, kann man eventuell nicht plausiblerweise nachträglich behaupten, die Antwort auf eine solche, ja nicht gestellte, Frage, die man dem Wissenschaftler aber ja prinzipiell als Außenstehender unterschieben kann, sei besonders zentral gewesen. Plausibler ist dann die unscheinbare Hypothese, dass den Geschichtswissenschaftler ein Warum überhaupt nicht interessiert hat, warum auch immer. Wenn Erklärungen explizite Antworten auf explizite Warum-Fragen sind, dann erklären diese Geschichtswissenschaftler nicht oder nicht signifikant, was auch immer sie machen und anstreben und wie spannend und wichtig dies aus der einen oder anderen Perspektive sein mag. Einen expliziten, herausgehobenen Erklärungsanspruch im Sinn von Warum-Erklärung erheben im Sample besonders A. Frings (2007a) und J. Topolski (1994a), was insofern nicht verwundert, als sich diese lange Jahre mit Metatheorie der Erklärung gedopt haben.

4.2 Erklärung-Verstehen-Erzählen-Kontroversen und die Mini-Anatomie

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Manchmal kann man natürlich Warum-Fragen leicht unterschieben, auch wenn diese nicht gestellt werden. Zum Beispiel kann man McNeills (1949) Problem, das am ehrlichsten durch die Frage „Welche Person x war es, die Kartoffelpflanzen zum ersten Mal nach Irland gebracht hat?“ durch „Warum sind namentlich unbekannte Kartoffelpflanzen nach Irland gelangt?“ ausdrücken. Die Formulierung auf der Basis eines „Warum“ hat an dieser Stelle aber einzig den Vorteil, die aus der Sicht der Mini-„Anatomie“ teilweise seltsam aufgeladene Literatur zu Erklärung, Verstehen und Erzählen zu erden. Denn niemand käme auf die Forderung, von McNeill zwingend zu verlangen, er solle und müsse „Gesetze“ verwenden (Hempel 1942, 1965), Handlungen „verstehen“ (Dray 1957, 1963, von Wright 2008 1971, Gerber 2012) oder irgendetwas „erzählen“ (z. B. Gallie 1965, M. G. White 1965, H. White 2008 1973), auch weil er (implizit) doch eine Warum-Frage gestellt habe, ansonsten sei seine Forschung defizitär und ggf. keine (Geschichts-)Wissenschaft. Dass die Veränderung der Lage der Kartoffelpflanze verursacht worden ist, dürfe McNeill vermutlich vorausgesetzt haben, ist aber für seine Forschung nicht sonderlich signifikant, weder ontologisch noch in irgendeiner Hinsicht methodologisch (vgl. diesbezüglich teilweise Tucker 2004a/b und im Kontext 6.3). Beispielsweise fragt auch Sewell (1985), dem man mit Blick auf metageschichts- und metasozialtheoretische Labels sicherlich a priori gerne eine Affinität zur Erklärung unterstellen würde, da er damals an einer quantitativen oder „wissenschaftlichen“ Soziologie ausgerichtet war, der man dies teilweise unterstellt, beinahe nie warum (3.1.5). Die altgeschichtswissenschaftlichen Studien von Alpers (1995), Hainzmann (1975), Rilinger (1976) oder auch Millar (1984, 1986) und Calaresu (2013) enthalten vielleicht kein zentrales Warum im hier einschlägigen, wenn auch unklaren Sinn, der traditionell (per Definition) mit „Erklärung“ assoziiert wird, neuerdings mit „kausal" genannten Erklärungen.126 Manchmal findet man WarumProbleme in bestimmten Kapiteln, nicht aber in anderen. Der Kulturgeschichtswissenschaftler Füssel (2006) hält sich sicherlich nicht lange mit der Beantwortung der Frage auf, warum ein spezifisches Depositions- oder Promotionsritual an einer Universität stattgefunden hat. Beiläufige Warum-Fragen und Sätze, die mit einem „Weil“ anfangen, gibt es freilich selbst dort, wo Warum-Erklärung nicht als zentral gelten kann. Dass nicht zentral nach einem Warum gefragt wird, stört im Rahmen dieser Forschung und vielerorts außerhalb, die wir dennoch als geschichtswissenschaftlich prima facie akzeptieren, offenbar niemanden. Auch das bereitet aber gewisse Probleme bei der Erstellung eines groben metatheoretischen Modells zu dieser Forschung, das versucht, möglichst vielem irgendwie ansatzweise gerecht zu werden. Wir wollen hier ja ausnahmsweise nicht von vornherein mit Privatnormen hantieren und diese eventuell in handverlesenen „Beispielen“ verstecken, um sie dann wie den Hasen aus dem Hut zu zaubern. Philosophen, die über Kausalität nachdenken, unterstellen beispielsweise zumeist von vornherein, dass Wissenschaftler Warum-Fragen stellen und diese Antworten Ursachen für Wirkungen benennen, was dann an handverlesenen oder gar keinen Beispielen illustriert wird (vgl. auch Tucker 2009b). All diese Probleme im Umfeld von Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur könnten uns aber zur Akzeptanz einer Variante einer altbekannten, äußerst globalen metatheoretischen

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An dieser Stelle sollte man nach wie vor zwischen Seinsgründen (z. B. Ursachen oder anderen Determinanten; Kapitel 7) und Glaubensgründen unterscheiden. Nach beidem kann mit einer Warum-Frage gefragt werden. Frage nach Glaubensgründen fragen nach der Rechtfertigung von Hypothesen, also in der Form von „Warum darf ich glauben, dass x der Fall war?“. Fragen nach Seinsgründen sind jene Fragen, die Hempel mal Erklärung-verlangende Warum-Fragen nannte, die ungefähr die Form „Warum war x der Fall?“ haben oder auch „Wie kam es zu x?“, „Wie funktionierte x?“ und Ähnliches. Siehe und vergleiche Hempel 1965, Esser et al. 1977, Stegmüller 1983, Schurz 2006, 2008. Etwas wieder anderes sind Handlungsgründe (6.2).

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4 Was machen Geschichtswissenschaftler?

Hypothese führen, die wir hier einfach etwas steigern, also bis ins Extrem zuspitzen, um dann einen anderen Weg einzuschlagen: (Metahypothese I) Geschichtswissenschaftler erklären und verstehen überhaupt nichts. Hier setzen wir als Explikation von „erklären“ großzügigerweise alle Subsumtionsmodelle, Erzählungs- und Kausalerklärungsmodelle ein und für „verstehen“ die Modelle im Umfeld der obigen MODELLE (2), inklusive Handlungsverstehen, das wir ggf. auch unter den Erklärungstheorien einordnen könnten, was an dieser Stelle keinen Unterschied macht. Nehmen wir auch noch die Einsicht hinzu, dass Geschichtswissenschaftler nichts erzählen (Modelle à la 3), bleibt von der metatheoretischen Tradition eigentlich nicht mehr viel übrig, wenn man versucht, sie mit der Praxis zu konfrontieren und diese nicht von vornherein durch die Brille der Metadiskurse liest. Wenn man die philosophische Tradition genauer beim Buchstaben nimmt, also auch berücksichtigt, dass z. B. Kausalitätsmodelle kaum auf tatsächliche Kausalerklärungen passen, weil z. B. dort nicht Singuläres erklärt wird oder Makro-Explananda vorgesehen sind, die nicht thematisiert worden sind, dann nähert man sich noch mehr der folgenden These: (Metahypothese II) Geschichtswissenschaftler erklären, verstehen und erzählen überhaupt nichts. Die oben bereits angedeutete Behauptung, Geschichtswissenschaftler erzählten, erklärten und verstünden nichts, liegt also eigentlich nach dem bisherigen Verlauf der Betrachtung recht nahe, zumindest wenn man etwas einigermaßen Generelles aussagen möchte und hier die begrifflichen Traditionen aus dem Metadiskurs idealtypisch und durchaus grob, was eher zu deren Gunsten sein dürfte, zugrunde legt. Die Akzeptanz dieser Metahypothese brockte uns auch, wie angedeutet, gar keine großen metatheoretischen Schwierigkeiten ein, denn mit dem obigen trivial erscheinenden Modell, das besagte, Geschichtswissenschaftler suchten begründete Antworten auf signifikante Forschungsfragen, könnten Geschichtswissenschaftler aller Schulen oder Ansätze bereits sehr gut leben und wir hätten bereits ein legitimes metageschichtswissenschaftliches Forschungsprogramm, wenn wir die relevanten Punkte anhand der (vermutlich heterogenen) Praxis weiter untersuchen und philosophisch erörtern wollten, z. B. bezogen auf fragelogische und rechtfertigungstheoretische Aspekte. Einzig die Forderung nach Begründung von möglichst verstehbaren Hypothesen könnte hier oder dort angezweifelt werden, z. B. in postmodernistisch-narrativistischer Historiographie und Geschichtstheorie, die entsprechende „philosophische Wahlen“ getroffen haben dürfte (2.2). Wenn man also die zentralen Ausdrücke der meta-theoretischen Debatte um die Geschichtswissenschaft heranzieht („Erklären“, „Erzählen“, „Verstehen“), dann haben forschende Geschichtswissenschaftler scheinbar die dort behandelten und teilweise gar weltanschaulich aufgeladenen Probleme zum einen überhaupt nicht. Der springende Punkt ist aber natürlich, dass geschichtswissenschaftlich Forschende zum anderen und beinahe durchgehend – etwas „interpoliert“ ausgedrückt – dennoch davon ausgehen, dass sie (a) Erklärungen anstreben, (b) Verstehen anstreben, oder (c) sowohl Erklärungen als auch Verstehen anstreben. Häufiger reden sie im Kontext von Erklären auch von Verstehen und umgekehrt, was sich sogar in den grob dargestellten Studien (3.1) teilweise recht deutlich zeigt. Das passt nicht zu den eben auf der Basis der Geschichtsphilosophie geäußerten globalen Metahypothesen und

4.2 Erklärung-Verstehen-Erzählen-Kontroversen und die Mini-Anatomie

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der größtenteils dichotomischen Terminologie in traditionellen Debatten, die gewöhnlich völlig ohne Input aus Geschichtswissenschaften verlaufen sind. Es passt aber schon eher zu den Auffassungen der zuvor zitierten Philosophen über Erklären und Verstehen im Allgemeinen, die nicht gerade dem Mainstream der Geschichtsphilosophie zuzuordnen sind. Und auch aus diesem ersten Grund, also der Feststellung, dass Geschichtswissenschaftler scheinbar in ihrem Selbstverständnis erklären und verstehen bzw. Erklärungen und Verstehen anstreben, ist es legitim, die Studie hier nicht zu beenden, soweit man ganz einfach ernst nimmt, dass sie die Ausdrücke „Erklärung“ und „Verstehen“ verwenden, wenn auch eventuell in anderer Art und Weise als in den geschichtsphilosophischen Idealtypen. Natürlich nutze ich an dieser Stelle auch die weithin unbekannte philosophische Gruppe von Autoren, die über Verstehen und Erklären so handeln, wie oben am Beispiel von Trusted, Nagel/Cohen, Schurz, Bunge, Lambert/Brittan, J. R. Martin und Scholz illustriert, als Anhaltspunkt für die Legitimität und potenzielle Fruchtbarkeit eines anderen Blicks auf diese Problematiken. Allein aus der kursorischen Sicht auf diese Texte der Mini-„Anatomie“ ergibt sich das Bild nicht, sondern es muss konstruiert werden. Natürlich ist der Sprung von der (recht heterogenen) Literatursichtung aus der Mini„Anatomie“ an dieser Stelle recht groß. Um ihn zu plausibilisieren, können uns aber immerhin einige Geschichtstheoretiker zur Hilfe eilen, die über die Ziele von geschichtswissenschaftlich Forschenden wie folgt schreiben: Geschichtsschreibung ist aber weder Uhrmacherei noch Tischlerei. Sie bemüht sich um besseres Verstehen und befindet sich daher in ständiger Bewegung (Bloch 2002 1949, 14). Soit un document écrit. Comment l’utiliser, si l’on ne sait pas le lire ? (…) Soit un document déchiffré. Comment s’en servir, si l’on ne le comprend pas? (Langlois/Seignobos 1900, 30-32). Its [der Geschichtswissenschaft, dp] primary aim (…) is understanding (Zagorin 1999, 21 f.). Der Forscher will die Realität mithilfe von theoretischem Wissen erklären (Slicher van Bath 1978, 116). Der Historiker muss die eigenen Feststellungen in einen Text (Erzählung) übersetzen, die nicht die Quelle beschreibt. Wenn er einen antiken Pflug beobachtet, dessen sich die Bauern bedient haben, muss er das Objekt, das er beobachtet, verstehen (wenn auch nur mental), ihn in die Zeit und einen geographischen oder kulturellen Raum etc. einordnen („collocare“) (Topolski 1997, 56). [D]em Synthetiker (gebührt) die Krone, weil er versteht und erklärt (Paravicini 2010, 48). Die geschichtsphilosophischen Auffassungen bilden also scheinbar nicht sonderlich gut oder zu partiell ab, was Geschichtswissenschaftler tun oder anstreben, wenn sie keine Erklärung haben bzw. nicht verstehen, und was sie erreicht haben, wenn sie glauben, etwas erklärt beziehungsweise verstanden zu haben, wenn wir voraussetzen, dass sie dies zumindest manchmal auch erreichen. Davon gehen wir aus, nicht weil wir glauben, eine beste Praxis zu kennen

172

4 Was machen Geschichtswissenschaftler?

(2.3), sondern weil wir die gesichtete Praxis zunächst als sakrosankt erachten (2.3, 3.1). Hier haben wir den zweiten Grund, das Kapitel nicht zu beenden. Eine Frage ist dann nämlich, ob dieses Auseinanderfallen (i) gegen die Geschichtswissenschaftler und ihre Praxis oder (ii) gegen die (geschichts-)philosophischen Modelle spricht. Was tun wir hier nun? Ich gehe zunächst davon aus, dass mit der Wissenschaftspraxis alles seine Ordnung hat und eher die (Geschichts-)Philosophie als die Wissenschaft modifziert werden sollte. Wir suchen uns also zunächst Material, das die Praxis vielleicht etwas besser philosophisch zu vereinheitlichen verspricht und sehen, wie weit wir kommen. Wenn wir das gemacht haben, können wir gar vielleicht die metatheoretische Tradition etwas mehr integrieren, was dann zu weiteren Problemen und einer etwas differenzierteren Sicht auf die philosophische Tradition führt. Die Frage (iii) ist dann also, ob man geschichts- und sozialphilosophische Traditionen einander annähern kann. Eine weitere Prozedur, um die philosophischen Modelle letztlich a priori mit der Praxis zu harmonisieren, stünde uns noch zur Verfügung. Meines Erachtens ist sie aber gescheitert und insofern schon erprobt. Sie wurde in den obigen drei mal drei Fragen schon angedeutet: Man unterstellt den Geschichtswissenschaftlern, die man allerdings nicht beim Namen nennt, sodass diese Thesen überprüfbar wären, dass sie implizit doch das machen, was die jeweilige Erklärungs-, Verstehens- oder Erzählungsphilosophie und entsprechende Hintergrundontologien von ihnen behauptet oder, besser, verlangt. Das heißt, hinter jedem „weil“, „daher“ oder „deshalb“ bzw. jeder Erklärung oder Bemühung um Verstehen stehe, selbst wenn das nicht offensichtlich ist, (a) ein Gesetz. Diese These ist bekannt unter den Titeln „Hidden-StructureTheory“ (Dray 1957) und „Existential Regularism“ (White 1965, Davidson 1990; Hempel 1965). Oder dahinter steht (b) eine oder stehen viele „Intentionen“ (zuletzt Gerber 2012) oder „Gründe“ („Individualismus“) oder etwas „Sinnhaftes“ („Hermeneutik“). Oder in Texten von Geschichtsschreibern finden sich (c) notwendigerweise Erzählungen beziehungsweise damit Assoziiertes (z. B. H. Whites Erzählformen als diejenigen Faktoren, welche Verstehen durch Familiarisierung ermöglichen). Oder dort findet sich jeweils (d) eine oder mehrere oder unendlich viele Ursachen („Kausalismus“). Der versteckte Kausalismus wurde zuletzt von Pape (2006) und Murphy (2009) und zuvor von Haussmann (1991) vertreten, auch in Form der These, alle „historischen Theorien“ oder „historischen Erklärungen“ seien kausal, was auch immer sonst noch von ihnen zu sagen sein könnte (6.3). Es liegt natürlich nahe anzunehmen, solche und ähnliche Implizitismen dienten der Vermeidung des Vorwurfs des Normativismus bei gleichzeitiger Beibehaltung des methodologischen Apriorismus in der Philosophie. Man muss dann nicht mehr sagen, „Ihr sollt!“, sondern man sagt, „Ihr macht implizit, was ihr sollt!“, was mindestens so lange nicht überzeugt, als die Implizitismusthesen nicht an signifikanten Forschungsbeispielen nachgewiesen werden, was aber nicht geschehen ist. Am Beispiel der „Hidden-Structure-Theory“ oder dem „Existential Regularism“ ist behauptet worden, er habe einzig der Immunisierung einer (Regularitäts)Metaphysik der Kausalität gedient, aber keiner Rekonstruktion wissenschaftlicher Erklärungspraxis im Allgemeinen und Kausalerklärungspraxis im Besonderen (Rainone 1990). Halten wir also kurz zusammenfassend die Antworten auf die obigen Fragen nach der Maßgabe der Modelle (1) bis (4) und nach der Betrachtung der Mini-„Anatomie“ aus der Vogelperspektive tabellarisch fest, denn sie geben uns die Problematik für den nächsten Abschnitt vor, denn wir wollen in der Tabelle möglichst mehr „Jas!“ unterbringen. Die Möglichkeit besteht noch immer, dass eine haarkleine Analyse aus der Strauß- oder gar Froschperspektive bei gewissen Modifikationen eine bessere Passung von traditioneller Philosophie und Wissenschaftspraxis ergibt. Aber eine positivere Evaluation wäre falscher als diese etwas pessimistischere, zumal sie weitere philosophische Probleme zuschütten würde, auf die wir durch

4.2 Erklärung-Verstehen-Erzählen-Kontroversen und die Mini-Anatomie

173

die pessimistische Lesart erst stoßen, nämlich die Kapitel 6 und 7. Die Fragen waren folgende: (Q1a) Wollen Geschichtswissenschaftler erklären? (Q1b) Erklären Geschichtswissenschaftler? (Q1c) Erklären Geschichtswissenschaftler, ohne etwas davon zu ahnen? (Q2a) Wollen Geschichtswissenschaftler verstehen? (Q2b) Verstehen Geschichtswissenschaftler? (Q2c) Verstehen Geschichtswissenschaftler, ohne etwas davon zu ahnen? (Q3a) Wollen Geschichtswissenschaftler erzählen? (Q3b) Erzählen Geschichtswissenschaftler? (Q3c) Erzählen Geschichtswissenschaftler, ohne etwas davon zu ahnen? Die nun plausiblen Antworten finden sich in der folgenden Aufstellung: Tabelle 2 Geschichtswissenschaftler und Erklären, Verstehen und Erzählen Erklären? Verstehen? Erzählen? A-Q1a: Ja! A-Q2a: Ja! A-Q3a: Nein! A-Q1b: Nein! A-Q2b: Nein! A-Q3b: Nein! A-Q1c: Nein! A-Q2c: Nein! A-Q3c: Nein! Nachdem die Lage nun aus der eingenommen Perspektive etwas entdogmatisiert ist, können wir im nächsten Kapitel weiter befreit fortschreiten. Kurz gesagt: Die Passung der Tradition zur Praxis ist gering und auch über ein geteiltes metatheoretisches Vokabular, also Einigkeit über die Bedeutungen von „Erzählung“, „Verstehen“ und „Erklärung“, verfügen Historiker nicht.127

127

Für die These, dass Geschichtswissenschaftler über keinen geteilten Begriff von Erklärung verfügen, spricht auch, dass es eigentlich kaum erklärungsmetatheoretische Literatur aus der Feder von Geschichtswissenschaftlern gibt, sodass auch unwahrscheinlich ist, dass dieses Verständnis in der Lehre vermittelt wird und auch dadurch in der Gruppe der Geschichtswissenschaftler, der Disziplin oder den Disziplinen, geteilt wird. Geschichtswissenschaftler schreiben meines Wissens auch selten explizit von „Erzählungen“ oder metatheoretisieren über Erzählungen. Schulze (1998, 10) spricht in seinem Werk einleitend von einer „Erzählung“. Winkler (1999, 3) schreibt ebenso einleitend: „Ich sehe in der Erzählung keinen Gegensatz zur Erklärung, sondern deren angemessene Form.“ Ähnlich bekanntlich Mann (1979, siehe dazu Haussmann 1991). Dabei sollte ein Blick in diese Werke genügen, um Unterschiede zu anderem festzustellen und festzuhalten, dass offenbar teilweise nur eine bestimmte Gruppe von Geschichtswissenschaftlern von „Erzählungen“ schreibt. Frings (2008) stipuliert, dass man auf die Beschreibung von Handlungskontexten das Wort „Erzählung“ anwenden darf oder soll, auf anderes aber nicht. Er weiß aber, dass die Festlegung völlig arbiträr ist. Andere verzichten ganz einfach darauf. Zum Beispiel ist auch in der Philosophie der Biologie manchmal von Erzählungen die Rede (Kaiser/Plenge 2014). Auch Tilly (1990a, 690) schreibt (mit Kategorienfehler) von „narratives – coherent sequences of motivated action“. Alles in allem scheint es überhaupt kein Kerncharakteristikum von Erzählungen oder Historischen Erzählungen zu geben (6.4).

174

4.3

4 Was machen Geschichtswissenschaftler?

Zusammenfassung: Neue Probleme und die Beantwortung einiger Fragen

In Kapitel 4.1 haben wir einige unspektakuläre Punkte als Antwort auf die Frage zusammengetragen, was Geschichtswissenschaftler tun. Um „Trivialitäten“ handelt es sich insofern, als diese in jeder dritten Sitzung eines Proseminars abgehandelt werden sollten. Nicht trivial sind sie insofern, als sie zum einen den Kern der Sache ausmachen. Vielleicht werden auch diese trivialen Punkte in manchem, das andere als der Geschichtswissenschaft oder der Geschichte (2.1) zugehörig erachten, nicht erfüllt. Wenn man will, dann ist Kapitel 4.1 bereits ein Kapitel in Methodologie (normative Erkenntnistheorie), denn dahinter steht die Annahme, dass geschichtswissenschaftliche Forschung, hier in einem normativen Sinn (im Unterschied zu 2.1), minimal diese Punkte abdeckt, obwohl sie natürlich noch äußerst vage sind. In Kapitel 4.2 haben wir uns auf die Suche nach spannenderen Ansichten gemacht, indem wir die Frage gestellt haben, warum Geschichtswissenschaftler vielleicht sonst noch so vorgehen, wie wir das von ihnen glauben. Dabei stellten wir die Frage „In welchen Verhältnis stehen die Erklären-Verstehen-Erzählen-Kontroversen zur Praxis der Anatomie?“. Die Antwort war, dass sie in der Relation der Irrelevanz stehen. Dabei haben wir einige Traditionen aus der Geschichtstheorie gestreift, die „Erklären“, „Verstehen“ und „Erzählen“ locker an bestimmte geschichtswissenschaftliche Ansätze (3.1) koppeln. Das scheint seltsam ad hoc, wie wir in Kapitel 5 erneut vermuten werden. Auch die Gegenüberstellung von Erklärung und Verstehen erscheint vor dem Hintergrund von Vorstellungen über Erklärung/Erklären und Verstehen, die wir aus anderen, unterschiedlichen Randbereichen der Philosophie importiert haben, nach wie vor seltsam. Ferner kennen unsere Sample-Geschichtswissenschaftler keinerlei Erklären-Verstehen-Erzählen-Kontroversen und verwenden Ausdrücke wie „Erklärung“, „erklären“ und „verstehen“ recht unschuldig, unaufgeladen und nicht in Form philosophischer „Schlüsselwörter“. Die explizite Erklären-Verstehen-Erzählen-Tradition aus der Geschichtsphilosophie haben wir dann mit der Anatomie aus der Vogelperspektive heraus konfrontiert und mussten feststellen, dass mit ihr kein einheitlicher geschichtsphilosophischer Staat aufzubauen ist. Denn selbst diejenigen Annahmen, die Geschichtsphilosophen öfters für unverrückbar halten (weil sie letztlich auf impliziten Definitionen oder auch ontologischen Implizitthesen beruhen), erweisen sich vor dem Hintergrund der Praxis global betrachtet als strikt falsch, im Einzelnen zu partikulär oder zumindest irreführend, z. B. die Thesen „Geschichte erzählt Geschichte“, „Geschichte erklärt kausal“, „Geschichte erklärt/versteht Handlungen“ oder „Historische Erklärungen sind nomologische Erklärungen“. Vor dem Hintergrund dieser Traditionen und der Mini-„Anatomie“ müsste man eigentlich konsequent die globale Metahypothese aufstellen, die besagt, dass Geschichtswissenschaftler im Großen und Ganzen nichts erklären, nichts verstehen und auch nichts erzählen. Das widerspricht aber der festgestellten unschuldigen und unaufgeladenen Verwendung der Wörter „Erklärung“ und „Verstehen“ zur Benennung epistemischer Ziele in einigen Studien der Anatomie, wie man sogar in Kapitel 3 schnell sieht. Wir entnehmen unserem Sample also ganz einfach, dass recht viele unserer geschichtswissenschaftlich Aktiven von Erklärung und Verstehen im Zusammenhang, nicht im Gegensatz reden, und diese Rede ferner auch nicht, wie in der Geschichtstheorie teilweise üblich, an bestimmte Forschungsgegenstände (im neutralen Sinn) binden. Das kann ein Desiderat ergeben, nämlich eine Philosophie, die dieser Praxis ein bisschen besser gerecht wird und zudem vielleicht ein metageschichtswissenschaftliches Forschungsprogramm zu lancieren erlaubt, das sich der vermuteten Heterogenität der Praxis stellen kann. Es scheint also so zu sein, dass das am Anfang dieses Kapitels 4.2 vermutete kognitive Ziel, das jenseits der Beantwortung

4.3 Zusammenfassung: Neue Probleme und die Beantwortung einiger Fragen

175

von Fragen und der Einspeisung dieser Fragen in einen disziplinären Forschungsstand vermutet wurde, eventuell mit „Erklärung“ oder „Verstehen“ doch bezeichnet werden muss. Um Plausibilität einer solchen These zu prüfen, müssen wir erneut zu klären versuchen, was mit „Erklärung“ und „Verstehen“ hier gemeint sein kann. Wir votieren dann für „Verstehen“ als weiteres Ziel eines idealtypischen Geschichtswissenschaftlers im Rahmen eines idealtypischen Minimalmodells geschichtswissenschaftlicher Forschung. Dann müssen wir eine leicht andere Antwort auf die oben gestellte, aber letztlich noch nicht beantwortete Frage geben, worin der Anfang geschichtswissenschaftlicher Forschung besteht. Wir votieren hier für (kognitive) Probleme und entnehmen diese These mitunter auch verstreuten geschichtstheoretischen Äußerungen, was auch dafür spricht, dass dies zumindest nicht völlig an einigermaßen verbreiteten Vorstellungen vorbei führt. Am Beginn der idealtypischen geschichtswissenschaftlichen Forschung steht also weder eine Quelle noch ein Phänomen, sondern ein Problem, das Forschung verlangt, weil der jeweilige Forscher es lösen möchte und dazu etwas tun muss, nämlich forschen.

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode? Il faut en saisir la problématique avant d’en acquérir la technique (Halkin 1982, 9).

Die Eckpfeiler des obigen Minimodells (4.1) waren: Frage(n) → Antwort(en). Sie werden jetzt zunächst auf hoffentlich recht natürliche Weise ersetzt oder weiter eingefasst: Problem(e) → Verstehen. Wir wollen uns nun zunächst um Probleme kümmern, dann anschließend um den vermuteten Nexus mit dem in der sozio-historischen Philosophie und Metatheorie so mystischen Verstehen in demjenigen, was wir hier seit geraumer Zeit „Forschung“ nennen. Wir können damit die Frage dieses Kapitels, „Gibt es eine geschichtswissenschaftliche MetaMethode?“, aufgreifen und nebenbei eine Antwort skizzieren, die vertraut ist. Es geht darum, die allgemeine Problematik der allgemeinen Methodik besser zu begreifen. Die spezifischeren Techniken oder spezifischen Methoden müssten außerhalb dieser Klärungskizze behandelt werden, und sie werden in Methodenkursen in den Wissenschaften behandelt, die manchmal mit „Methodologie“ überschrieben werden.

5.1

Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

In der forschungsorientierten Metatheorie und insbesondere „Forschungsdesign“-Literatur der Soziologie oder der Sozialwissenschaften im weiten Sinn ist ganz selbstverständlich von Problemen die Rede128, nur eigentlich nicht in Geschichtsphilosophie und auch nicht zentral in neuerer Geschichtstheorie. Das ist etwas verwunderlich, denn man könnte selbst in der Geschichtstheorie diagnostizieren, dass wenigstens in vielen Schulen darüber Einigkeit herrscht, dass das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaften darin besteht, Probleme zu lösen oder deren Lösung anzustreben: C’est que, poser un problème, c’est précisément le commencement et la fin de toute histoire. Pas de problème, pas d’histoire. Des narrations, des compilations (Febvre 2009 1943, 25). Scissors-and-paste historians study periods; they collect all the extant testimony about a certain limited group of events, and hope in vain that something will come out. Scientific historians study problems; they ask questions, and if they are good historians they ask questions which they see their way to answering (Collingwood, 1994 1946, 281). Vor dem Hintergrund dieses historischen Materials stellt der Historiker Fragen, löst Probleme … (Vilar 1982, 43).

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Die Literatur ist allerdings auch hier recht heterogen; siehe aus der jüngeren Literatur z. B. Denscombe 2002; Booth et al. 2003; Blaikie 2007, 2010; P. White 2008; Andrews 2003; Alvessen/Sandberg 2013. Eine Einheitlichkeit besteht darin, dass Probleme und Fragen zentral sind und teilweise bemängelt wird, die Forschungsfrage werde in der Methodologie der Sozialforschung zu wenig thematisiert.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_5

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

History is about finding things out, and solving problems, rather than about spinning narratives or telling stories (Marwick 1995, 12, 2001, 28). Rather, historians work within given frameworks of questions and puzzles, seeking to find answers to such communally defined problems using sets of concepts and methodological tools which are more or less open to amendment and development. In the process of seeking answers to questions, they may develop new approaches, insights or theories (Fulbrook 2002a, 10). Die serielle Geschichte, und dasselbe können wir über die anderen Strömungen sagen, die unter Historikern Geltung erlangt haben, ist eine Problemgeschichte („historiaproblema”), keine Erzählgeschichte („historia-narración”) (Cardoso/Brignoli 1986, 34; vgl. Schröder 1994). Was sich am meisten verändert, das ist die Problemstellung unseres Handwerks? Ich sehe die Gesellschaft, den Staat oder die Wirtschaft nicht mehr genauso wie gestern (Braudel 2001 1949, 27; Vorwort von 1976). Auch in geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen ist regelmäßig von Problemen oder Problematiken die Rede, zumeist natürlich vornehmlich ganz am Anfang. Falls es irgendetwas Einheitliches in den unterschiedlichen Schulen und Ansätzen gibt, dann wohl die Rede von Problemen.129 Wissenschaftler lösen Probleme, so heißt es immer wieder (z. B. Booth et al. 2003). Wissenschaftliche Forschung hat das vordringliche Ziel, Probleme zu lösen. Und sie beginnt mit der Suche nach Problemen oder, metaphorisch ausgedrückt, deren „Konstruktion“.130 Dieser Diagnose entsprechend schrieb C. Wild (1973) in einem Lexikonartikel: Das Wort „Problem“ gehört zu dem festen Bestand einer allgemeinen wissenschaftlichen Terminologie. In allen Wissenschaften wird davon gesprochen, daß Probleme gestellt und Lösungen gesucht werden. Trotz dieser Tatsache, daß das Wort „Problem“ Allgemeingut aller sich sonst auch terminologisch auseinanderentwickelnden Wissenschaften darstellt, ist der Begriff Problem nur selten selbst zum Problem gemacht worden (Wild 1973, 1139). Es verwundert dann kaum, dass ein wissenschaftsorientierter Philosoph mehrfach schrieb: „Problems are the root and fruit of original research, be it in science, technology, or the humanities“ (Bunge 1983a, 280; vgl. Bunge 1959a, 1959b 1967a/b, 166). Auch von Methoden heißt es einschlägigerweise, sie seien „regular procedures for handling problems of restricted kinds“ (Bunge 1983a, 250).131 Es wäre wohl sogar nützlich, Methoden in den Geschichtswis129

130

131

Beispiele erübrigen sich eigentlich, denn geschichtswissenschaftliche Studien beginnen häufig mit expliziten Kapitelüberschriften wie „Das Problem“. Als Anhaltspunkt kann aber besser und abkürzend die Enzyklopädie Deutscher Geschichte (Oldenbourg Verlag) dienen. „Problems do not ‚arise‘, they are not impersonally ‚given‘ to the investigator: it is the individual scientist, with his fund of knowledge, his curiosity, his outlook, bent and biases, who notices the problem or even searches for it“ (Bunge 1967a, 187). „A method is a procedure for handling a set of problems“ (Bunge, 1967a, 8). „Jede Methode [kann] als Handlungsvorschrift gedeutet werden, die besagt, wie prinzipiell zu verfahren ist, um das erstrebte Ziel zu erreichen“ (Rapp 1973, 925). „Im allgemeinsten Sinne ist eine Methode ein mehr oder weniger genau beschreibbarer Weg (d. h. eine endliche Folge von mehr oder weniger konkreten Handlungsanweisungen oder

5.1 Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

179

senschaften in der Hinsicht zu klassifizieren, welches Problem sie lösen sollen, um auch hier mehr Übersicht und Ordnung zu gewinnen. Soziologen, die ein explizites Forschungsprogramm vertreten, schreiben von „soziologischen Problemen“ (Esser 2000b, 59) und haben als metatheoretische Grundlage hinter dieser Rede eine Vorstellung davon, was legitime Probleme sind und wie sie legitimerweise, d. h. methodologisch zulässig, einer Lösung näher gebracht werden sollen. Dasselbe darf eventuell von geschichtswissenschaftlichen Ansätzen gelten, wäre aber eigens, wie bereits angedeutet worden ist, zu untersuchen. In der obigen Liste von Zitaten deutet Fulbrook an, dass verschiedene „historische“ Ansätze unterschiedliche allgemeine Probleme zu lösen gedenken. Dass die Wörter „Problem“ und „Frage“ irgendwie recht nah beieinander liegen, wird jedem Leser bereits oben immer wieder genauso wie in so gut wie allen anderen Kontexten aufgefallen sein, in denen diese Wörter Verwendung finden: „Daß die Fragen mit den Problemen eng zusammenhängen, ist klar“ (Materna 1980, 513). Wenn sie zusammenhängen, sollten sie nicht identisch sein. Der Methodologe der Sozialwissenschaften S. Nowak schreibt allerdings: „A research problem is no more and no less than a certain question or set of questions to which the research is to provide an answer“ (Nowak 1977, 6). Wenn dem so wäre, bräuchte es den Ausdruck „Problem“ nicht, denn er wäre redundant. Das wäre aber eventuell voreilig: It scientific research, dp does not begin from scratch because investigation deals with problems and no question can be asked, let alone answered, outside some body of knowledge: only those who see can see that something is missing (Bunge 1967a, 3). „Problem“ und „Frage“ scheinen also doch nicht immer dasselbe zu bezeichnen, schließlich sieht die systematische Kette hier aus wie schon nach dem Obigen beinahe vertraut: Wissen (oder begründete Überzeugungen) → Problem → Frage. Oben hieß es einmal: Forschungsstand/Ansatz → Frage → Antwort. Suchen wir in der minimalen Literatur zum Problem „Was ist ein (wissenschaftliches) Problem?“ aber noch weiter nach Klärung. Interessanterweise hat die Frage „Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?“ kaum jemand gestellt: The term ‚problem‘ designates a difficulty that cannot be solved automatically but requires a search whether conceptual or empirical. A problem, then, is the first link of a chain: Problem → Search → Solution. (…) Whatever the nature of a human problem the following aspects of it may be distinguished: (i) the problem itself regarded as a conceptual object different from a statement but epistemologically on a par with it; (ii) the act of questioning (psychological aspect) and (iii) the expression of the problem by a set of interrogative or imperative sentences in some language (linguistic aspect). The study of questioning is taken up by psychology (including the psychology of science) whereas the study of questions regarded as linguistic objects (namely sentences ending with a question mark) belongs to linguistics. We are here interested in problems as a sadly neglected (by far the most neglected) kind of ideas analyzable with the strategischen Maximen) zur Realisierung eines bestimmten Zieles bzw. zur Lösung einer bestimmten Aufgabe“ (Kamitz 1980, 429). „Die ! Methode ist die Art und Weise, in irgendeinem Gebiet vorzugehen, d. h. unsere Tätigkeit zu ordnen, und zwar einem Ziel zuzuordnen“ (Bochenski 1971, 16 f.).

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

help of other ideas. (Bunge 1967a, 170 f.; der Satz des Textes wurde zwecks Hervorhebung geändert.) Ein Problem ist also in dieser Vorstellung grob ein „begriffliches Objekt“, das auf der Basis von bestimmten antezedenten Überzeugungen („knowledge“) überhaupt bemerkbar ist oder aufgrund einer Suche oder Forschung be- oder entsteht, in einer Frage ausgedrückt wird, was einen Mangel andeutet, dessen Behebung wiederum eine Schwierigkeit für eine konkrete Person darstellt, was auch damit verbunden ist, dass dieser Person etwas an der Lösung liegt, also ein Bedarf oder Wunsch besteht und sie den kognitiven Zustand des Ein-Problem-Habens als überwindenswert erachtet, daher eine Lösung anstrebt, was aber nicht ohne Weiteres, nämlich eine „Suche“ oder Forschung möglich ist. Dasjenige, was hier „Problem“ genannt wird, von dem angenommen wird, dass es in einer Frage ausgedrückt wird, wird manchmal offenbar selbst „Frage“ genannt, die durch etwas ausgedrückt wird, was „Fragesatz“ genannt wird (van Fraassen 1988, 40). Ich würde nun, von obigen Buchstaben etwas abweichend, ein Problem, in einem metaphysisch nicht wohlformulierten, hier aber nicht ins Gewicht fallenden Ausdruck (Kapitel 7.3.5), als einen kognitiven Zustand auffassen, der letztlich ein „System“ oder, neutraler formuliert, ein Zusammenhang von Überzeugungen oder bloß ein Haufen ist oder darin gründet. Wir wollen annehmen, dass sich diese Haufen von Zusammenhängen oder „Systemen“ durch den Besitz einer Struktur unterscheiden (Kapitel 7). Als kognitive Irgendwasse aufgefasst sind dies keine „begrifflichen Objekte“, sondern mentale Eigenschaften. Um ein Problem zu sein, muss das Überzeugungssystem oder der -haufen einen Mangel aufweisen. Genuine oder wissenschaftliche Probleme beziehungsweise Mängel werden linguistisch durch eine Frage ausgedrückt. Rhetorische Fragen zählen als Indikatoren für oder Ausdrücke von genuinen Problemen nicht. Der Erotetiker Walther (1985, 32) spricht davon, dass derartige Probleme mit einem „Informationswunsch“ verbunden sind. Und welcher Informationen es bedarf, hängt davon ab, wie das Problem beschaffen ist. Die Informationsbeschaffung liefert dem Problemhabenden und Problemformulierer die Lösung des Problems (siehe auch Abbildung 11).132 Schön wäre es vor diesem Hintergrund, über irgendeine Typologie von geschichtswissenschaftlichen Problemen zu verfügen, denn dann wüsste man Interessanteres darüber, was Geschichtswissenschaftler vermutlich gewöhnlich anstreben, wenn es ihnen an bestimmten Typen von Informationen mangelt, deren Erlangung in Forschung ihre Probleme löst. Obige Metaphorik von „Haufen“ und „Systemen“, die wir unserer später diskutierten Ontologie (Kapitel 7) hier schlicht metaphorisch entnehmen, wäre natürlich weniger metaphorisch zu explizieren, indem an dieser Stelle weitere Disziplinen zur Klärung herangezogen werden.133

132

133

„Probleme sind ‚konstruiert‘, sie werden ‚gestellt‘ in dem Sinne, daß sie in einem Kontext unproblematischer Vorstellungen situiert sind, in dem sie überhaupt erst formulierbar und schließlich auch lösbar werden. Fragen können ‚ins Blaue hinein‘ gestellt werden, Probleme sind Produkte einer geistigen Konstruktion; sie resultieren aus einem erstellten Zusammenhang, der als zumindest vorläufig unproblematisch den Rahmen möglicher Lösungen absteckt“ (Wild 1973, 1141, Hervorhebung dp). Von einem „Überzeugungssystem“ spricht auch Kistenfeger (2011, 216 ff.) in seiner Bestimmung desjenigen, das er die „Perspektive“ eines Historikers nennt, von der häufiger behauptet worden sein soll, sie stünde demjenigen im Weg, das „Objektivität“ genannt wird. Ähnliche Metaphoriken finden sich jedoch durchaus auch, was meine Metaphorik entschuldigen könnte, in psychologischen und damit verbundenen technologischen oder didaktischen Kontexten, z. B. heißt es öfters, „Umstrukturierung von Wissenselementen“ und Ähnliches sei dasjenige, was bei jedem Problemlösen oder wahlweise Lernen der Fall sei.

5.1 Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

Abbildung 11

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„Understanding as systmatization. (a) Before understanding item symbolized by black dot. (b) Item is understood by fitting into pre-existing epistemic network. (c) Item is understood by transforming epistemic network (aus Bunge 1983b, 6). Wir wollen hier davon ausgehen, dass (a) auch das Problem darstellt. (b) und (c) sind Problemlösungen „Needless to say, this is a metaphorical explanation of the phenomenon of understanding“ (Bunge 1983b, 5) und des Problems, das diesem vorhergeht.

In anderen Worten drückte M. Bunge dies wie folgt aus: Wenn ein Problem existiert, dann gibt es einen Fundus an Überzeugungen (allgemeiner Hintergrund), einen „Generator“ des Problems in Form eines Ausdrucks mit unbekannten Variablen (eine Lücke oder einen Mangel anzeigend), den Ausdruck des Problems in einer Frage (einem Satz mit einem „?“), die Präsuppositionen der Frage (z. B. die Annahme der Existenz einer Lösung und der spezifische Hintergrund an Hypothesen, welche die Vermutung der Lösbarkeit stützen) und eine Unbekannte, nämlich die Lösung in Form irgendeiner Behauptung, in welcher der „Aussagenfunktion“ („propositional function“), wie Bunge dies nennt, Variablen einen Wert zuweist, wobei die Behauptung letztlich optimalerweise wahr sein sollte, weil ansonsten bloß eine Scheinlösung vorliegt. Ein (Trivial-)Beispiel mag uns hier helfen, um diese Terminologie besser einordnen zu können: In every problem ideas of three kinds are involved: the background and the generator of the problem, and the solution to it in case it exists. Consider the problem „Who is the culprit?“. It presupposes the existence of a culprit; it is generated by the propositional function „x is the culprit“, where x is the unknown to be uncovered; and it induces a solution of the form „c is the culprit“, where ‚c‘ names a definite individual. In other words, our problem is „Which is the x such that x is the culprit?“, or „(?x) C(x)“ for short. The generator of this question is C(x) and the presupposition (x C(x), whereas the solution is C(c). Logically then, we have the following sequence: (1) Generator: C(x); (2) Presupposition: (x) C(x); (3) Problem: (?x) C(x); (4) Solution: C(c)“ (Bunge 1967, 171; vgl. Bunge 1983a). Auf die genauere Terminologie kommt es hier wie zuvor nicht an. Ein solches, recht simples Problem, das allerdings nur schwer lösbar ist, hat sich McNeill (1949) in der „Anatomie“ gestellt, der ja wissen wollte, wer die Kartoffel bzw. die erste konkrete Kartoffelpflanze nach Irland gebracht hat (3.1.1). Das Problem konnte er bloß insoweit lösen, als die abstrakte Menge potenzieller Personen, unter denen sich die Lösung sozusagen befindet, auf die Menge aller Spanier eingrenzte, die im in Frage stehenden Zeitraum nach Irland reisten, von denen ein Unbekannter als Kartoffelträger angenommen wird. Eine definitive Lösung, das heißt eine Antwort auf die Frage „Welche Person x hat die Kartoffel nach Irland eingeschleust?“, gibt

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

es wohl bis heute nicht, außer die von McNeill zurückgewiesene und als falsch geltende Antwort (Sir Walter Raleigh), die das Problem daher nicht löst. Über dieses geschichtswissenschaftliche Problem mag man zwar schmunzeln, weil z. B. McNeill auch nicht lang und breit begründet, warum eine Lösung interessant ist. Das Problem hat aber auch im Vergleich zu vielem in der Anatomie einen methodologischen Vorteil: Es ist klar und damit auch klar, wonach gesucht wird. Wir erinnern uns an das Bonmot eines berühmten Geschichtswissenschaftlers: „Dort, wo die Frage vage ist, auch die Antwort vage bleibt“ (J. Huizinga zitiert in Lorenz 1997, 93). Manche Geschichtsforschung aus der Anatomie lässt sich hier z. B. nicht fix darstellen, weil das Problem unklar bleibt oder eine Vielzahl von Problemen in unklarer Ordnung vorliegt, deren unklarer Zusammenhang mit einem möglichen Hauptproblem den Nachvollzug des Forschungsberichts zumindest dem Laien erschwert oder schwer ersichtlich ist, worin das Problem überhaupt genauer besteht. Manchmal ist es auch so, dass zwischen Problemformulierung und Antwort einige hundert Seiten liegen, aber nicht unbedingt klar ist, ob dazwischen wirklich alle Informationen („Erzählung“) notwendig waren, um das Problem (oder die Problematik) zu lösen. Wie es öfter heißt, das Finden eines exakt formulierten Problems ist schon die halbe Lösung. Unter einer „Problematik“ verstehe ich hier eine irgendwie zusammenhängende Menge von Problemen, die durch eine irgendwie geordnete Menge von Fragen ausgedrückt werden kann. Auch darauf sind wir schon in Kapitel 4 gestoßen.134 Diese Rede von Problemen, die ich „kognitiv“ oder „epistemisch“ nenne, ist nicht zu verwechseln mit einer faktiven (7.3.7) Redeweise, zum Beispiel in der Aussage „Das Problem ist, dass nur noch eine Flasche Bier im Kühlschrank ist“. Bei vorwiegend epistemischen Problemen handelt es sich um Mängel in Überzeugungssystemen mitsamt dem Wunsch nach deren Behebung, nicht um als mangelhaft eingeschätzte reale Zustände (7.3.5) „da draußen“ und deren Veränderung. Diese faktive Redeweise ist entsprechend zu unterscheiden von primär praktischen Problemen, bei denen es um die Herbeiführung von gewünschten und antizipierten Veränderungen (7.3.5) von als irgendwie mangelhaft evaluierten Zuständen in realen Dingen (7.3.1) geht, zum Beispiel um das Problem, den Kühlschrank um Mitternacht mit Bier zu füllen, wenn leider kein Kiosk mehr offen hat. In der faktiven Redeweise ist auch keine Frage der Ausdruck des Problems, sondern eine Tatsachenaussage (7.3.7) oder die Behauptung des NichtBestehens von Tatsachen (Absenz). Praktische Probleme werden durch die Frage „Wie erreiche ich den gewünschten, aber nicht existenten Zustand z von Ding x?“ ausgedrückt. Kognitive Probleme dürften in Fragen ausgedrückt werden, die nach (i) Wissen, (ii) Verstehen oder 134

Das ließe sich auch an einer Kasuistik aus geschichtswissenschaftlicher Literatur und ihrer Evaluation über das Sample der Mini-„Anatomie“ hinaus und durchaus im Sinn einer basalen und auch normativen Geschichtsmethodologie weiter ausbuchstabieren. In den treffsicheren Worten von M. R. Cohen (1947, 132): „Wisdom here as elsewhere consists in analyzing our questions before we attempt to answer them.“ Peter Kirby (2003) analysiert in seinem Handbuch ein „major problem“ in vier „major questions“, was auf der Leserseite dazu führt, dass klarer wird, worum es geht. Im Unterschied dazu heißt es in einem Band von Braudels Sozialgeschichte (1986b, 1979, 89) am Ende des ersten Kapitels, nach beinahe 100 Seiten, das Kapitel habe eine „Problemstellung umreißen sollen“, wobei dem Leser das Problem womöglich noch immer nicht klar ist, weil keine expliziten Fragen formuliert worden sind. Ein Leser mit einem Hintergrund in anderen Wissenschaften wird sich hier vermutlich wundern. Daher müssen wir hier festhalten, dass es im Unterschied zu anderen Wissenschaften (vgl. Brun/Hirsch Hadorn 2014) in den Geschichtswissenschaften in aller Regel keine klaren oder gar strikte Konventionen für das Erstellen von Forschungstexten gibt, schon gar nicht in der Breite der Ansätze, was in anderen Wissenschaften dem Leser ermöglichen soll, bloß das Fazit zur Kenntnis zu nehmen, weil er unterstellen kann, dass auch der Rest (Forschungsstand, Problemformulierung, Datenaufbereitung, Datenauswertung) einer stark standardisierten Form entspricht.

5.1 Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

183

(iii) Methoden der Erlangung von Wissen und Verstehen, also Methoden der Problemlösung fragen. Was ich hier „kognitive Probleme“ nenne, nennen Forscher naheliegenderweise einfach „Forschungsprobleme“: „A research problem is motivated not by palpable unhappiness, but by incomplete knowledge or flawed understanding. You solve it not by changing the world but by understanding it better“ (Booth et al. 2003, 59; Hervorhebung dp). Dass die Lösung praktischer Probleme mit der Lösung von kognitiven Problemen in einer solchen Sicht zu tun hat, dürfte klar sein, denn um praktische Probleme auch effizient lösen zu können, z. B. auch manchmal sogenannte „soziale Probleme“ (in einer zumeist faktiven Verwendung von „Problem“), bedarf es für den Fall effizienter oder Erfolg versprechender Lösungsversuche Wissen (Bunge 1973b) und – so glaubten zumindest früher einige – vielleicht gar Sozialwissenschaften (Linblom 1990, Bunge 1998). Dass Probleme, etwas zu verstehen, noch etwas anderes sein könnten als bloße Wissensprobleme, könnte im Rahmen der Mini-„Anatomie“ dadurch nahegelegt werden, dass die „Faktographie“ (Topolski 1976) bezogen auf Topolskis Forschungsproblem zur Entstehung von Wirtschaftssystemen wohl so weitgehend bis auf Weiteres als geklärt galt, dass er der Auffassung sein konnte, das Verstehen oder die Erklärung von „Prozessen“ und „Mechanismen“ oder durch „Mechanismen“ (siehe Kapitel 3.1.5) sei von der Faktogaphie losgelöst und theoretisch anzugehen, also nicht durch Quellen- oder „Fakten“-Sammeln und weiteres Datenhubern zu erreichen (Abbildung 12). Entgegen der faktiven Redeweise, in der Probleme außerhalb von Menschen situiert werden, ist hier von wissenschaftlichen Problemen als kognitiven Gegenständen die Rede, die in den Gehirnen beziehungsweise in der Psyche von Forschern zu finden sind. Auch praktische Probleme finden sich in den Köpfen von Akteuren, die primär praktische Probleme lösen wollen, weil sie glauben, dass etwas nicht der Fall ist, aber der Fall sein soll. Forscher wollen aber primär ihre Überzeugungssysteme und nicht die Zustände von irgendetwas „da draußen“ verändern.135

135

Sowohl praktische Probleme als auch kognitive Probleme haben nur konkrete Personen (Akteure). Insbesondere hat „die mittelalterliche Ökonomie“ keine „generellen Probleme“ (Postan 1973a; siehe auch 3.1.3) und die Geschichtswissenschaft als soziales Gebilde oder „System“ (2.1) hat auch keine Probleme, auch wenn man dies im disziplinären Kontext fingiert. Auch folgende Behauptung eines berühmten Mediävisten ist terminologisch ambig, daher schwer verständlich und daher eher zu vermeiden: „The problem of prices is, in Italy at least, closely involved with that of monetary circulation“ (Postan 1973b, 136). Verstehbarer ist folgender erster Satz einer geschichtswissenschaftlichen Abhandlung, zumal eine Frage durchscheint: „The extent to which medieval trade was based on credit does not figure among the favourite problems of economic history“ (Postan 1973b, 1). Was man in Ermangelung besserer Terminologie eine „Reifizierung“ oder „Objektivierung“ von Problemen nennen könnte, findet sich recht häufig in Texten der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung: „Es gibt in der Geschichte immer wieder Wochen, Monate, Jahre, in denen sich die Entwicklung ungemein zu beschleunigen, Probleme wie in einem Brennglas zu bündeln, nach einer Lösung zu drängen scheinen; in denen bisherige Leitvorstellungen und Machstrukturen obsolet werden, andere an ihre Stelle treten“ (Altrichter/Bernecker 2004, 322). Siehe z. B. auch stellenweise Wehler 1994 [1973], passim, z. B. S. 57: „Auswirkungen der Probleme“. Bei Wolfrum/Arendes (2007, 27) heißt es: „Viele Fragen hat das 20. Jahrhundert nicht gelöst: […].“

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Wissensprobleme

Kognitive Probleme Verstehensprobleme

Probleme

MethodenProbleme

Praktische Probleme

Abbildung 12

Allgemeine Problemtypen, nicht ganz treffend dargestellt.

Dass geschichtswissenschaftliche Probleme hier als kognitive Probleme aufgefasst werden, ist trivialerweise auch damit verbunden, Sinnstiftung, Ideologiebildung oder andere Beiträge zur sogenannten „Geschichtskultur“ nicht mit geschichtswissenschaftlicher Praxis zu verwechseln, denn hier ist das Ziel die Veränderung der Zustände von Personen, z. B. der Feuilletonleser. Auch Populärschriften, Handbücher, Darstellungen und historiographische Erzählungen sind vor diesem Hintergrund letztlich keine geschichtswissenschaftlichen Beiträge, wenn dort keine geschichtswissenschaftlichen Probleme gelöst werden.136 Dass epistemische Probleme, zumal solche, die man vielleicht zusätzlich „wissenschaftlich“ oder „geschichtswissenschaftlich“ nennen darf, auf der Basis von Überzeugungen oder Wissen entstehen oder, besser, aktiv gesucht werden, plausibilisiert, dass Geschichtswissenschaftler in der Regel einen Forschungsstand erheben und evaluieren (4.1). Sie fragen nicht einfach ins Blaue hinein irgendetwas, z. B. „Was war wohl in meiner Heimat – sagen wir: Pluggendorf – vor 300 Jahren, high noon, los?“, sondern sie streben zumeist Beiträge zu einer Forschungslinie an, die sie zumeist nicht einfach völlig neu beginnen. Sie tun dies offensichtlich, weil dies auch viel eher erwarten lässt, dass das Problem überhaupt lösbar ist. Kurzum, das Problem ist ungeschichtswissenschaftlich, weil es (a) viel zu vage ist, auch weil es (b) keinem geschichtswissenschaftlichen Überzeugungs- oder Hypothesenhintergrund entstammt, (c) somit nicht zu erwarten ist, dass es lösbar ist, weil beinahe sicher ist, dass es (d) keinerlei Quellen zur Erhebung von Daten gibt, die eine geschichtswissenschaftliche Behand136

Eventuell sehen manche Historiker oder Gruppen von Historikern dies also bereits anders. Megill (2007, 108) behauptet von Foucaults „historical or quasi-historical studies“: „they were primarily aimed at a radical transformation of attitudes and institutional practices in the present”.

5.1 Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

185

lung erlaubten (siehe z. B. Prost 2010, 78 ff.). Ferner ist die Frage (e) genauso uninteressant wie jede denkbare Antwort: Pas de problème, pas d‘histoire. Die Güte oder Geschichtswissenschaftlichkeit eines Problems hat also nicht nur mit dessen Wohlformuliertheit zu tun, sondern auch mit der Wohlkontextualisiertheit im „System" von Hintergrundüberzeugungen und vermittelt in einem (fiktiven) Forschungsstand.137 Dass mit wissenschaftlichen Problemen eben Schwierigkeiten oder Hindernisse verbunden sind, die es zu überwinden gilt, plausibilisiert, dass Geschichtswissenschaftler nur zu gut wissen, dass sie hypothetisch vorgehen, was sie nur in Geschichtstheorie und aufgrund von gewissen Belastungen durch wissenschaftsphilosophische Traditionen zumeist anders nennen. In der Wissenschaftstheorie werden zumeist nur allgemeine Thesen bzw. gar strikte Gesetzeshypothesen „Hypothesen“ genannt oder wenigstens allgemeine Thesen (z. B. Salmon 1983; Bunge 1959a, 65). Vielleicht liegt es daran, dass in der Geschichtstheorie von der Klassik bis heute wenig von Hypothesen die Rede ist, mit der Ausnahme der quantitativen Historischen Sozialforschung und ihren angelsächsischen Entsprechungen (Ruloff 1985, Schröder 1994). Formulierungen wie zum Beispiel in Postans (1972, 13) Handbüchlein zu finden sind, „it is possible to argue (though of course impossible to prove)“, finden sich bei Geschichtswissenschaftlern durchaus regelmäßig in der Mini-„Anatomie“ (und darüber hinaus). Obwohl die postmoderne Geschichtsphilosophie dies häufiger behauptet, verstecken sich (unsere) Geschichtswissenschaftler nicht hinter einem sich als allwissend aufspielenden „Erzähler“. Einen intuitiven Zugang zu den Lösungen geschichtswissenschaftlicher Probleme gibt es selbstverständlich nicht, wie „Verstehens“-Lehren allerdings manchmal suggeriert haben.138 Offensichtlich scheint kaum eine oder – klarer gesagt – keine Lösung eines geschichtswissenschaftlichen Problems zu sein. Denn wie die klassischen (Langlois/Seignobos 1900; Bernheim 1908), aber auch neuere (z. B. Mustè 2005) Handbücher ja nicht müde wurden zu betonen und einige Geschichtsphilosophen sozusagen wiederentdeckt und problematisiert haben, sind alle ihre Forschungsgegenstände, worum auch immer es sich dabei handeln mag, trivialerweise nicht in irgendeinem alltäglichen Sinn („direkt“) beobachtbar, was die klassischen und neueren Autoren jedoch nicht, zumindest nicht immer, dazu verleitet, die Flinte der Erkenntnis sogleich ins Korn zu werfen, sondern sich zu überlegen, womit sie geladen werden muss, wie diese Schwierigkeiten bzgl. welcher Probleme überwunden werden können und in welchen Grenzen (siehe Murphey 1973, Goldstein 1976, Tucker 2004a, Kosso 2001, Turner 2007, Murphey 2009; siehe aber auch schon z. B. Nagel und Cohen 1934, Cohen 1947). Einige dieser Punkte hat der Physiker Mario Bunge neben anderen Wissenschaftsphilosophen klargestellt (Kosso 2001). Er hat darauf verwiesen, dass es Geschichtswissenschaftlern diesbezüglich nicht grundlegend anders geht als allen anderen Wissenschaftlern, obwohl Langlois/Seignobos (1900) beispielsweise einmal interessanterweise glaubten, die Naturwissenschaften (sic!) seien „direkte“ Wissenschaften, die theoriefreie Beschreibungen kennen, wohingegen die Geschichte eine „indirekte“ Wissenschaft sei, in der man das Unbeobachtbare erschließen müsse: Basically record recoding does not differ from the problem the physicist or the biologist attack when confronted with a set of data: these scientists too have got to „inter137

138

Die in der Geschichtsphilosophie wiederholt geäußerte These, Geschichtswissenschaftler würden „Panoramen der Vergangenheit“ (kritisch dazu Pape 2006) anstreben, um diese These und die davon vermeintlich getroffene Geschichtswissenschaftspraxis dann ad absurdum zu führen, ist aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, auch vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“, gerade absurd. Das empathische „Verstehen“ als „Intuition“ des Genies verifiziert sich selbst und zwar instantan. Dies ist nun ungezählte Mal kritisiert worden; siehe dazu beispielsweise die Zusammenschau in Bartelborth 2007 oder Hempel 1972.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

pret“ the data, i. e. to build or use hypotheses or theories accounting for them. (E.g., this trace was produced by a negatively charged particle because the magnetic field bent it towards the left; or this molar must have belonged to a herbivore because it has a flat crown suitable for chewing herbs.) In sum, the decoding of the historical record involves building hypotheses relating the item of the record to what may have happened. … The working historian reasons back and forth from data to hypotheses. He looks for data guided by hypotheses, „interprets“ the data with the help of further hypotheses, and uses such „processed“ data as evidence for or against still other hypotheses (Bunge 1985, 206; Hervorhebung dp; vgl. Kapitel 3; vgl. Murphey 2010, 1994, 1973; Bernheim 1908, 1921). Dass in Forschung Schwierigkeiten überwunden werden müssen, erinnert nochmals daran, dass Forschen eine Form von Handeln ist, denn Schwierigkeiten sind, genauso wie die in der Sozialtheorie (z. B. Esser 2000c) berühmt-berüchtigten „Opportunitäten“ (Möglichkeiten) und „Restriktionen“ (Einschränkungen), nur solche für eine konkrete Person, die irgendein Ziel anstrebt (z. B. Archer 2000b). Jede Rede von „Problemen“ setzt einen solchen Handlungskontext letztlich voraus. Das ist einer der Funken Wahrheit der Handlungsgeschichtsphilosophie, der auch in anderen sozial(meta)theoretischen Kontexten relevant bleibt (Kapitel 7). Dass Geschichtswissenschaftler Probleme suchen und anschließend zu lösen trachten, zeugt dementsprechend zunächst mindestens von zweierlei. Erstens der Neugierde der Forscher und zweitens dem geteilten Ethos bzw. den Grundsätzen geschichtswissenschaftlicher Praxis, einen signifikanten Beitrag zu einer Forschungsrichtung zu leisten, indem idealiter als signifikant erachtete Fragen beantwortet werden (3.1).139 Das heißt, die individuellen Forscher wollen diese Probleme finden und lösen und zum geteilten Wissenschaftsethos gehört, dies zu wollen bzw. zu sollen.140 Geschichtswissenschaftler müssen also auch trivialerweise schon Überzeugungen haben, bevor sie loslegen können, weil sie sonst keine Probleme entdecken oder haben könnten, und die Forschung löst sich nicht in interesseloses Wohlgefallen auf, sondern dient auch der Verwirklichung der epistemischen Werte der Zunft oder einer Schule mit einem Ansatz, nämlich der Lösung ggf. gar intersubjektiv („sozial“) geteilter Probleme oder Problematiken. Was sind aber Hypothesen? Unter Hypothesen verstehe ich hier Behauptungen, die über das direkt Beobachtbare hinausgehen und tentativ sind, d. h. einer wie auch immer gearteten Bestätigung, Schwächung, „Verifizierung“ (Alpers 1995) oder eines „Tests“ bedürfen, um ihren (Wahrheits-)Wert genauer einzugrenzen. Hypothesen in diesem Sinn bleiben letztlich fallibel, weil ihr Wahrheitswert nicht ein für alle Mal geklärt werden kann, sondern über diese Wahrheitswerte wiederum bloß begründete oder begründbare Überzeugungen möglich sind. Dass Hypothesen über etwas nicht direkt Beobachtbares etwas behaupten, ist dafür verantwortlich, dass Letzteres auf sie zutrifft bzw. im (geschichts-)wissenschaftlichen Kontext unverzichtbar ist. 139

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Was „Signifikanz“ hier genauer heißt, würde dadurch erläutert werden, dass man genauere Kriterien dafür angibt, wann ein Problem in einem geschichtswissenschaftlichen Kontext als „geschichtswissenschaftlich“ gelten kann, wozu man mehr über den Hypothesenhintergrund typischer Forschungslinien und auch dortige Ansätze erfahren müsste (4.1.5). Siehe jedoch auch Fußnote 94, S. 130. Diese Thesen, die wiederum recht offensichtlich auch keinerlei „philosophische“ Aufregung im Vergleich zu anderen Thesen wert sind (Appleby et. al. 1995, Evans 1999, Windschuttle 1997), ließen sich bei Zweifeln auch insofern testen, als man Geschichtswissenschaftler fragen könnte, ob sie so etwas wie dies anstreben oder aber „Geschichten schreiben“ oder „Geschichten“ verfilmen wollen und sollen (Munslow 2007). Promotionsordnungen und Habilitationsordnungen und die „Policies“ von Zeitschriften oder Kritiken in Rezensionen könnten eine kürzere Antwort liefern (siehe zu dieser Strategie Day 2008).

5.1 Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

187

Meine Verwendung des Ausdrucks „Hypothese“ weicht wohl von der vermuteten Standardverwendungen in mancher Wissenschaftsphilosophie insofern ab, als in meiner Verwendung auch singuläre Behauptungen als Hypothesen gelten, nicht bloß generelle Aussagen. Diese Behauptungen, die „Hypothesen“ genannt zu werden verdienen, müssen aber auch ferner explizit sein, denn ansonsten handelt es sich nicht um Hypothesen, sondern Voraussetzungen oder Präsuppositionen, eventuell von anderen Hypothesen (vgl. Wan 2011, 157). Bemerkenswerterweise findet sich der Ausdruck „Hypothese“ von Bernheim bis heute – soweit das hier ersichtlich ist - selten in der Geschichtstheorie und auch Geschichtsphilosophie, schon gar nicht an zentraler Stelle (außer z. B. bei Tucker 2004a). Beispiele helfen auch hier vielleicht weiter: „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ ist in meinem hier zugrunde gelegten Verständnis keine Hypothese. „Das Pferd auf dem Flur denkt ‚Da steht Daniel Plenge in meinem Flur‘“ ist eine Hypothese wie auch „Alle Pferde sind Langschläfer“, „70 % aller Pferde sind Langschläfer“ oder „Die Mehrheit aller frühneuzeitlichen Pferde sind Langschläfer“. Dasselbe gilt für die Behauptung „Die Schülerin weint, weil sie eine schlechte Note bekommen hat“ (Kausalhypothese oder Seinsgrund) und „Dass die Schülerin traurig ist, wird daran deutlich, dass ihr Tränen die Wangen hinunterlaufen, sie schluchzt und schnieft“ (Indikatorhypothese: Beobachtbares → Unbeobachtbares, oder Glaubensgrund). Andere Indikatorhypothesen, die in mancher geschichtswissenschaftlicher Forschung verwendet werden, haben wir bereits zur Kenntnis genommen (3.1.3). Jede Zuschreibung einer psychischen Eigenschaft wie z. B. Handlungsgründe, Wünsche, Intentionen, Überzeugungen oder Gefühle, oder was auch immer, ist eine Hypothese in meinem Sinn. Es ist auch eine Hypothese, allerdings eine, die viele Altgeschichtswissenschaftler für bestätigt und darüber hinaus sicherlich für wahr halten, dass ein Mensch namens Cicero existiert hat und bestimmte Briefe geschrieben hat, auf die sich manche unter ihnen stützen, um andere Hypothesen zu begründen. Andere Altertumswissenschaftler halten die Hypothese, dass der antike fiscus in Rom existierte und die kaiserlichen Privatgelder verwaltete, für bestätigt und eventuell gar für wahr. Alpers (1995) fragt auch eigentlich selbstredend nicht *Existierte der fiscus Caesaris?*, weil dies als Behauptung (Hypothese) zu den Präsuppositionen seiner Fragestellung gehört, sondern er fragt ungefähr *Welche Eigenschaft hatte der fiscus Caesaris?*, *Welche Funktion hatte der fiscus Caesaris im nachrepublikanischen Finanzsystem?* oder *Ist es der Fall (ja oder nein), dass der fiscus Caesaris seit dem Prinzipat des Augustus die Privatgelder der Römischen Kaiser verwaltet hat?*. Was man hier genau schreibt, kann schon ein ontologisches Problem darstellen (Kapitel 7), denn in einer individualistischen Ontologie, die keine sozialen Gegenstände zulässt, kann man konsistenterweise solche Fragen nicht stellen. Die meisten Gegenstände von Historikern wären auch für die Zeitgenossen unbeobachtbar gewesen.141 141

In der „Anatomie“ sind für unsere Geschichtswissenschaftler wie auch bereits die Zeitgenossen kapitalistische Wirtschaften oder auch Gutsherrschaften (Topolski 1994a), die Nobilität (Hölkeskamp 2011), Universitäten der Frühen Neuzeit (Füssel 2006), Trends in Schafsproduktivität oder der Produktion von Gütern (Stone 2003, Stephenson 1988), das „nachrepublikanische Finanzsystem“ (Alpers 1995) oder auch der Einfluss von Milch (bzw. den darin enthaltenen Dingen) auf das Sterben von Kindern (Atkins 1992) unbeobachtbar. So muss z. B. Sewell (1995), um eine Art Trivialfall zu nennen, die Anzahl der Schiffe, die in den Hafen von Marseille eingelaufen sind (3.1.5; Abbildung 3, S. 93), unter Zuhilfenahme von Generalisierungen, z. B. über die Kapazitäten von Schiffstypen, die manche Philosophen gar „Gesetze“ oder „QuasiGesetze“ genannt haben (siehe Rescher/Helmer 1970, Rescher/Joynt 1970) dazu nutzen, um das Ausmaß des Transmittelmeerhandels begründet zu erraten oder zu erschließen. Wie andere Sozialwissenschaftler auch, stehen Geschichtswissenschaftler also vor Indikator- bzw. „Operationalisierungs“-Problemen (siehe etwa Bunge 1967a/b, Esser et al. 1977, Schurz 2006, 2008). Auch hier fallen „Einfühlung“ und „Simulation“ von Handlungen oder ihren Gründen als genuin „historische“ oder „geisteswissenschaftliche“ Methoden ganz einfach vollständig aus.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Geschichtswissenschaftliche Hypothesen, d. h. an dieser Stelle Hypothesen, die in den Geschichtswissenschaften (Disziplinen) aufgestellt werden, bleiben immer, also sozusagen für den Rest der „Geschichte“ (2.1, 7.3.5), prinzipiell fallibel, weil prinzipiell nicht auszuschließen ist, dass Daten und Argumente auftauchen können, die jene Hypothesen schwächen, was wieder nicht heißt, dass diese Hypothesen stärkende Daten und Argumente nicht auftauchen können (so auch Slicher van Bath 1978, 56).142 In den Worten von Wissenschaftstheoretikerinnen der Soziologie heißt dies, „dass es keine wahrheitsverbürgenden Verfahren“ gibt (Schmid/Maurer 2010, 26). Daher ist es auch nicht so, dass eines der „wesentlichsten Merkmale aller Wissenschaft“ ist, „dass sie gesichertes Wissen übermittele“, wie es in klassischer Geschichtstheorie hieß (Bernheim 1908, 189143; vgl. Feder 1924, 31). Die Auffassung gilt in der Wissenschaftsphilosophie schon lange als antiquiert, wenn auch wohl nicht in postmoderner Geschichtsphilosophie. Im Gegenteil ist es viel eher so, dass Disziplinen, in denen sich die Auffassungen über ihre Gegenstände nicht ändern, also Gewissheit vorgegaukelt wird, gerade Pseudowissenschaften oder Glaubensgemeinschaften sind oder als solche aufgefasst werden können (Kapitel 8.2).144 In den Geschichtswissenschaften und außerhalb von Geschichtstheorie und -philosophie sind allerdings schon seit Dekaden Formen von Fallibilismus derartig stark etabliert, dass dies keine Diskussion mehr wert gewesen war, bis man methodo142

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Der Gegenpol zum wissenschaftlichen Fallibilismus ist der wissenschaftliche Meliorismus, d. h. wissenschaftliche Ergebnisse oder Erkenntnisse sind prinzipiell verbesserbar (vgl. Bunge 1983b, 65; siehe ferner im geschichtsphilosophischen Kontext Hempel 1972, 18, und beiläufig im Kontext von Objektivitätsproblematiken den Geschichtstheoretiker Haskell 1990, 136). Morris R. Cohen (1947, 22) formulierte das Prinzip des Meliorismus bereits am Rande dessen, was man heute „Fallibilität“ nennen würde: „We must conclude that while an element of uncertainty will always attach to our histories, as indeed to all accounts of human events, it is not practically possible to deny that we have some knowledge of the past and that we can improve it by critical or scientific investigations.“ Den meisten Geschichtswissenschaftlern ist beides natürlich bekannt (Trigger 1986, 4): „Prehistorians tend to regard any interpretation as an approximation of reality that is subject to revision or even complete reinterpretation at any time. It is no more possible to write a final account of Predynastic Egypt than it is to write a final history of the reign of Elizabeth I.“ Siehe ferner hierzu auch 7.1. Bernheim (1908, 619) schrieb zum Thema Hypothese: „Wenn eine Kombination der Natur der Daten nach nur wahrscheinlich oder möglich ist, nicht einleuchtende Sicherheit oder einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erreicht, nennt man sie eine Hypothese.“ Bernheim scheint also durchaus geglaubt zu haben, die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei es, derart verstandene Hypothesen durch Gewissheiten zu ersetzen, die andere Autoren (vielleicht auch Bernheim) dann manchmal „Tatsachen“ nennen (z. B. Goubert 1956, 56). Das dürfte in der Geschichtstheorie und der Geschichtsphilosophie dann zur teilweise vorzufindenden Aufgabe des Begriffs einer Tatsache geführt haben. Wir kommen darauf in 7.3.7 zurück. Manche Philsophen nennen offenbar dasjenige „Fakt“, was ich „Hypothese“ nenne: „[H]istorical ‚facts‘ are themselves constructs to account for present data“ (Murphey 2009, 6; vgl. ebd. 88). Übrigens sah auch Bernheim (1908, 185) wie Langlois/Seignobos, in der Beobachtbarkeit des Gegenstandes ein signifikantes Unterscheidungsmerkmal, d. h die Klassik glaubte, dass Naturwissenschaften ihre Gegenstände direkt beobachten können, die Geschichtswissenschaften aber nicht: „Der Stoff der Geschichte ist ein eigentümlicher. Er ist größtenteils nicht unmittelbar unserer sinnlichen Wahrnehmung gegeben, wie der Stoff der Naturwissenschaften.“ Ironischerweise war man also bezogen auf Erkenntnisse der Naturwissenschaften „Positivist“, nicht aber bezogen auf die eigene Wissenschaft. Postmoderne Philosophen werfen Geschichtswissenschaftler meines Wissens seit Jahrzehnten immer mal wieder Positivismus oder naiven Realismus vor (siehe hierzu auch Evans 1999, 105). Auch in Texten zu Objektivitätsproblematiken wird immer mal vergessen, dass die „perceptions“ von Historikern Wahrnehmung von Quellen sind (z. B. Bevir 1994). Das hat Bunge (1967a, 29) bereits auf den Punkt gebracht: „Science does not claim to be true, hence final, incorrigible, and certain as mythology does. What science claims is (i) to be truer than any nonscientific model of the world, (ii) to be able to test such a truth claim, (iii) to be able to discover its own shortcomings, and (iv) to be able to correct its own shortcomings, i. e. to build more and more adequate partial mappings of the patterns of the world. No extrascientific speculation is as modest and yields as much.“ Ich nenne eine ähnliche These später – mit positiver Zunge – methodologischen Szientismus.

5.1 Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

189

logischen Fallibilismus durch epistemologischen Relativismus in einigen Schulen und besonders im Metadiskurs ersetzt hat (siehe dazu kritisch Paravicini 2010). Auch die Daten, ob „weich“ oder „hart“, sind selbst Hypothesen und nicht im Wortsinn „gegeben“. Was einzig im trivialen Sinn gegeben ist, soweit man metaphysischer Realist ist (7.1), sind die Quellen, d. h. irgendwelche Dinge: „Data are products of inquiry“ (Bunge 1996, 71). Quellen und Daten sind daher auch nicht zu verwechseln, denn Erstere ermöglichen Letztere. Letztere können wahr oder falsch sein, Erstere nicht, schließlich liegen sie nur irgendwo herum. Für Bernheim (1908) wurde in sozusagen klassischer Verwendung, die auch in Proseminaren nach meiner Erfahrung tradiert wird, ein Ding begrifflich zu einer Quelle, wenn auf dessen Basis eine Frage beantwortet werden kann, was aber in leicht anderer Terminologie heißt, dass der Quelle (Ding) eine Information oder eben ein Datum entnommen worden, also im geschichtswissenschaftlichen Fall zumeist eine Hypothese im obigen Sinn aufgestellt worden ist. 145 Die etwas aufgeladen klingende (Standard-)These der Wissenschaftsphilosophie von der „Theoriebeladenheit“ der Beobachtung läuft im Kern auf nichts anderes hinaus und letztlich auf die Einsicht, dass es kein Fundament auch wissenschaftlicher Erkenntnis (in überzeugungs- oder theorieneutraler) Beobachtung gibt, wobei dieses „Fundament“ auch Wahrheit („Gewissheit“) nicht verbürgen kann, wenn es nicht existiert. Geschichtstheoretiker wussten das eigentlich schon immer (mit gewissen Einschränkungen), auch vor jedem „linguistic turn“ (z. B. Langlois/Seignobos 1900, Bernheim 1908 und insbesondere Topolski 1976; siehe auch Plenge 2014b zur Literaturlage in der Geschichtsphilosophie). Auch hier müssen sich Geschichtswissenschaftler eigentlich nicht von Philosophen belehren lassen (2.2), denn sie wissen das alles schon, zumal in der Praxis. Der Geschichtswissenschaftler Jerzy Topolski schrieb aus der hier eingenommen Perspektive wünschenswert klar, wobei er dasjenige, was ich „Fallibilität“ nenne, „Hypothetizität“ nennt: When used in historical research, hypotheses may most generally be termed tentative answers to research questions. Such tentative answers end by being either accepted in science or eliminated from it (Topolski 1976, 366). It is worth-while to make a distinction between heuristic hypotheses (hypotheses before verification) and more or less substantiated hypotheses. Of course, substantiated hypotheses may under certain conditions (e.g., after the discovery of new sources) be 145

Vgl. hierzu Mario Bunge, dessen Terminologie ich mich hier weitgehend anschließe: „This suggests that, rather than being given, as the etymology of the word indicates, data are products of inquiry – and inquiring, like any other human activity, is fallible“ (Bunge 1996, 71). „A datum, or given, is a particlar (as opposed to general) item of knowledge … Moreover, in ordinary language, ‚datum‘ and ‚fact‘ are often used interchangeably. This usage is incorrect, for data are propositions, not facts. Hence data can be more or less true and, if less than true, are corrigible, whereas facts can be real or imaginary, pleasant or painful, and so on, but neither true nor false“ (Bunge 1996, 85). Z letzteren Fakten siehe Kapitel 7.3.7. Eine weitere Konvention kann nicht schaden. Eine Quelle ist also ein Ding und ein Datum ist eine singuläre Hypothese. Als „Evidenz“ (oder „evidence“ im Englischen) wird ein Datum bezeichnet, das eine andere Hypothese stützt oder schwächt. „Evidenz“ ist also ein relationaler Ausdruck und die Bestätigungsrelation würde von einer entsprechenden (Meta-)Theorie erläutert, deren Fehlen ich im Bereich der Geschichtstheorie bereits bedauert haben. (Ein Verweis auf „die Quellen“ oder auch „die Fußnoten“ reicht als Rechtfertigungstheorie nicht, da z. B. auch „Revisionisten“ (Holocaustleugner) über Zeitschriften und dortige Publikationen verfügen, die Fußnotenteppiche enthalten; vgl. hierzu Evans 1999, 229.) Manchmal kann in diesem Kontext verwirren, dass von Fakten die Rede ist: „A fact is a piece of evidence which nearly everyone in a given community would accept as true” (Bevir 1994, 333). „Fakt“ klingt bei manchem Geschichtsphilosophen nicht nur wie „Hypothese“, sondern auch wie „Datum“.

190

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

taken as the starting point for a further verification procedure and may thus play the role of heuristic hypotheses. Substantiated hypotheses usually do not bear the label of hypotheticity, as they are statements about facts which are accepted as true, with the proviso that, in accordance with the principle that our knowledge of the world is acquired gradually, all statements about facts always retain a degree of hypotheticity (Topolski 1976, 367 f.). Dabei kann es sich prinzipiell um singuläre oder generelle Hypothesen, um Hypothesen über Tatsachen (Sachverhalte, Fakten, 7.3.7), Ereignisse, Prozesse und Mechanismen, Situationen, Eigenschaften, kausale Relationen, Dinge, Systeme (7.3.1), Gesetzmäßigkeiten (Kapitel 6), und was auch immer die begründete oder begründbare Ontologie der (Geschichts-)Wissenschaft in der (Geschichts-)Wissenschaft gerade zulässt, gehen, natürlich auch „Bedeutung“ und „Sinn“ („meaning“), Institutionen oder Diskurse (etc.), soweit klar ist, was damit gemeint ist (7.6). Kürzer und in den selbsterklärenden Worten eines Geschichtstheoretikers geschrieben und damit zusammengefasst: „Existen diversos tipos de hipótesis“ (Cardoso 1982, 55; siehe auch Topolski 1976, 366 ff.), wobei aus Cardosos damaliger Sicht die Herausforderung für Geschichtswissenschaftler war, begründete generelle Hypothesen mit einer „Wenn … dann“-Struktur aufzustellen. Wir können hier vermuten, dass es letztlich genauso viele Typen von geschichtswissenschaftlichen Problemen gibt wie Typen von geschichtswissenschaftlichen Hypothesen. Man sollte auch das Vokabular der z. B. sozial-philosophischen oder sozialtheoretischen Debatte, das im letzten Absatz eingeschleust worden ist, nicht überstrapazieren und daher offenkundige Gegenstände der Hypothesenbildung unterschlagen oder als irgendwie „trivial“ oder „traditionell“ abqualifizieren. Die Schwierigkeit, die zu überwinden ist, kann, wie im obigen Zitat Langlois/Seignobos aussprechen, darin liegen, einen („Quellen“-)Text nicht zu verstehen, zu deren Überwindung dann Forschung (geschichts-)wissenschaftlicher Provenienz (ex hypothesi) notwendig ist (Scholz 2015b). Aufgrund der antinaturalistischen oder methodendualistischen Tendenzen mancher Hermeneutik nennt man dies nur international oft nicht Wissenschaft oder wissenschaftliche Forschung und würde derartige Probleme und entsprechende Hypothesenbildung nicht unbedingt „historisch“, sondern „philologisch“ nennen. Zum Beispiel nennen manche dies offenbar nicht „Hypothesenbildung“, sondern „Interpretation“, obwohl mit „Interpretation“ zumeist einzig und allein ein Hypothesenbildungsprozess gemeint ist, über den dann erst noch Interessantes zu sagen wäre. Topolski redet in diesem Sinn von „Interpretation“ (3.1.6, Fußnote 68). Oder mit „Interpretation“ ist ein auch im geschichtsphilosophischen und geschichtstheoretischen Kontext zumeist nicht weiter bestimmtes Ergebnis eines Hypothesenbildungsprozesses gemeint, also letztlich auch nur eine Hypothese oder ein Zusammenhang oder Haufen von Hypothesen (z. B. eine „Erzählung“ oder „Synthese“).

5.1 Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?

Stand der Forschung

Abbildung 13

Problem(e)

191

Frage(n)

Hypothesen = Antworten

Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 1

Probleme, Fragen und Hypothesen begegnen dem Geschichtswissenschaftler während seiner gesamten Tätigkeit, was in erfrischender Klarheit wiederum der Geschichtstheoretiker Jerzy Topolski klargestellt hat: In historical research we formulate hypotheses not only when seeking answers to explanatory questions (‚why‘ questions), but also when answering factographic questions (‚what was‘ questions), the latter procedure covering also the reading of source information and the examination of the authenticity and reliability of sources was manchmal, verkürzend, mit der „Historischen Methode“ identifiziert wird, dp. It may be said that in historical research any statement about the past is a hypothesis if it has not yet been subjected to a verification procedure, and also after it has been subjected to it, if no sufficient degree of substantiation has been obtained. For instance, we formulate a hypothesis about the place of origin of the author of Gallus‘ Chronicle (the earliest Polish chronicle, written in Latin by an unknown author and covering events up to A.D. 1118 – Translator) or about the meaning of the word Shingeshe in Dagome Iudex (a document dating from the late 10th century and concerned with Poland’s early political history - Translator), and however we try to substantiate it, it nevertheless remains a hypothesis, because in both cases the degree of verification can hardly be accepted as sufficient (Topolski 1976, 367). The posing and the substantiation of hypotheses is a procedure which accompanies the historian throughout all his work, because it is the very essence of the search for answers to questions posed by him to the past (Topolski 1976, 366). Es sei also festgehalten, dass die Probleme, die Geschichtswissenschaftler auch bewältigen müssen, sich in den klassischen Fragen der (Quellen-)Kritik ausdrücken lassen: Wann ist das Ding (Quelle) oder dessen Eigenschaft entstanden? Wo ist dieses Ding (Quelle) oder dessen Eigenschaft entstanden? Wer oder was hat das Ding (Quelle) oder dessen Eigenschaften hervorgebracht (verursacht)? Hängen die vorliegenden Textquellen voneinander ab? Wenn ja, welche ist von welcher abhängig und warum darf man das glauben? (vgl. z. B. Cardoso 1982, 143; Bernheim 1908, 391, Feder 1924, Halkin 1982, Tucker 2004a; zur hier vorausgesetzten Ontologie siehe Kapitel 7). Der Geschichtstheoretiker Gottschalk (1951) sprach dann auch in den entsprechenden Kapiteln vom „Problem of Authenticity“ und „Problem of Credibility“, d. h. auch hier stellt sich vor einem lückenhaften oder mit Mängeln behafteten System oder Haufen von Hintergrundüberzeugungen eine Frage, deren hypothetische Beantwortung das Problem lösen soll:

192

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Gaps in the extant knowledge is precisely what problems are. Which is a reminder that problems do not come out of the blue but from examining what is known. In other words, every problem presupposes some body of knowledge, however poor. This is why the more we know, the more new problems we can pose (Bunge 1999, 3). 146 Daher können Laien (oftmals) keine geschichtswissenschaftlichen Probleme haben und auch nicht formulieren (4.1), weil sie über den nötigen Hintergrund nicht verfügen. Das minimale Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung sieht also nun ungefähr so aus (Abbildung 13). Ob mit jeder „geschichtswissenschaftlich“ zu nennenden Problematik oder deren Lösung allerdings das Einatmen des Staubes der Archive verbunden sein muss, ist wiederum eine andere Frage und aus der hier eingenommenen Perspektive auch nicht a priori entscheidbar, wie es aber z. B. Tucker (2004a) möglich ist. Schließlich benutzen offenkundig viele Geschichtswissenschaftler oder (Historische) Soziologen die Hypothesen anderer Geschichtswissenschaftler als Daten für ihre eigene Hypothesenbildung, formulieren Probleme und finden Antworten auf dieser Basis, weshalb ich nicht a priori behaupten und rein begrifflich ausschließen möchte, dies sei keine Wissenschaft, keine „wissenschaftliche Historiographie“. Das führte eben dazu, dass z. B. Topolskis „La nascita“ (1979) und andere seiner Beiträge (Topolski 1994a) wie alle ähnlichen (z. B. Skocpol 1979) von vornherein als unwissenschaftlich bzw. ungeschichtswissenschaftlich gelten müssten, weil er in diesen Fällen kein eigenes Quellenstudium bezogen auf alle Aspekte seines auf ganz Europa bezogenen Problems gemacht hat, was auch von vornherein unmöglich gewesen wäre. Hier ist es wie in anderen Wissenschaften: Es gibt Geschichtswissenschaftler, die eher theoretisch arbeiten und solche, die eher empirisch arbeiten, und der Link zwischen beiden mag prekär sein, wie an den Soziologien bzw. dem Verhältnis von „Soziologischer Theorie“ und „Empirischer Sozialforschung“ ablesbar ist. Ohne eine solche Arbeitsteilung ist wohl nur das möglich, was manchmal „Quellenfetischismus“ genannt wurde oder es sind nur Mini-Probleme legitim („Warum überschritt Cäsar den Rubikon?“), nicht solche, die Topolski (1979) und andere Sozialgeschichtswissenschaftler zu lösen trachten. Geschichtstheoretiker sehen dies offenbar regelmäßig ähnlich (z. B. Prost 2010, 85 f.), regelmäßig auch durchaus anders und kritisch (z. B. teilweise Medick 1996). Des idealtypischen Geschichtswissenschaftlers Forschung fängt also wohl nicht mit „Phänomenen“ an (4.2), sondern mit Problemen. Ein Problem ist also die Ahnung oder das Wissen, dass das Überzeugungssystem einen Mangel oder eine Lücke aufweist, ein beinahe sokratisches Phänomen: Man weiß, was man nicht weiß und formuliert eine Frage. Dass das 146

Was Bunge zum Ausgangspunkt seiner Methodologie macht (Probleme), war natürlich Klassikern der Geschichtstheorie auch klar. Es kann aber nicht schaden, es zu wiederholen: „Ohne daß sich der Forscher dessen bewußt wäre, werden ihm seine Fragen von den Gewißheiten und Zweifeln diktiert, die sich infolge seiner bisherigen Erfahrung in seinem Gehirn festgesetzt haben, von der Tradition und dem gesunden Menschenverstand, d. h. allzu oft von allgemein verbreiteten Vorurteilen“ (Bloch 2002 1949, 74; vgl. im Hinblick auf „die Art und Weise, wie wir eine Quelle lesen“ ähnlich Evans 1999, 87 sowie ebd., 218). Auch das ist aber mittlerweile eine antiquierte Darstellung, denn es ist eben nicht so, dass Geschichtswissenschaftler diesen Hintergrund ihrer Alltagserfahrung entnehmen, sondern eben einem zumindest häufiger vorzufindenden, manchmal durchaus kontra-intuitiven Stand der Dinge (Kapitel 3.1) in einer Forschungslinie und wiederum manchmal der Vielfalt der vermutlich auch philosophisch durchtränkten Ansätze (4.1). Dass diffuse „kulturelle“ oder „soziale“ Gegenwartseinflüsse auch eine Rolle spielen (können), soll hier nicht bestritten werden (siehe z. B. Topolski 1976, 326 ff., Tilly 1990a, 688), z. B. auch vermittelt über irgendwelche „Wertüberzeugungen“ (Kistenfeger 2011, 256), die in eine Problematik hineinspielen. Eine weitere Frage ist dann, was daran spannend ist. Eine Behauptung war, dies verhindere dasjenige, was „Objektivität“ genannt wird.

5.2 Vom Problem zum Verstehen (über Erklärungen)?

193

Problem epistemisch ist, heißt auch, dass es sich um psychische Eigenschaften handelt. Daher ist es auch nicht damit getan, Probleme mit Fragen (Sätze mit einem Fragezeichen auf einem Papier) zu identifizieren. Auch drückt nicht jede Frage ein (wissenschaftliches) Problem aus, z. B. wenn die Antwort schon bekannt ist. Damit können wir uns jetzt der Frage nähern, ob nicht die angemessenste Zielformulierung für idealtypische geschichtswissenschaftliche Forschung das Wort „Verstehen“ doch beinhaltet. Wir sollten, um den unscheinbaren metageschichtswissenschaftlichen oder philosophischen Pfiff nicht zu verpassen, noch explizit festhalten, dass aus dieser Perspektive jede geschichtswissenschaftliche Forschung problemorientiert ist und nicht bloß beispielsweise eine „problemorientierte[] historische[] Strukturanalyse“ (Wehler 1994 1973) im Unterschied zu einer „Ereigniserzählung“. Einzige Voraussetzung ist, dass überhaupt (in einem disziplinären Kontext) geforscht, nicht bloß „erzählt“ oder „Geschichte geschrieben“ wird. Auch das ist natürlich keineswegs neu (Cipolla 1991, 14).147 Unterschiedliche Gruppen von Geschichtswissenschaftlern haben offenbar schlicht unterschiedliche Typen von Problemen. Das legen auch die zu vermutenden Unterschiede in den Ansätzen (4.1.5) nahe.

5.2

Vom Problem zum Verstehen (über Erklärungen)? Kurz gesagt, der Leitstern unserer Forschung ist ein einziges Wort: ‚verstehen‘. Wir wollen nicht behaupten, ein guter Historiker müsse frei von Leidenschaften sein; er hat zumindest diese eine. Ein Wort, das zweifellos voller Schwierigkeiten, aber auch voller Hoffnungen ist (Bloch 2002 1949, 160).

Ich habe oben bereits angedeutet, dass in der Debatte über Erklärungen im 20. Jahrhundert eine Annahme häufiger nicht bestritten worden ist, nämlich dass Erklärungen auf Antworten auf Warum-Fragen zu beschränken sind oder, anders gesagt, das Wort „Erklärung“ nur hier im Kontext der Rede von „wissenschaftlicher Erklärung“ verwendet werden darf. Vormals berühmte Texte legen davon noch immer Zeugnis ab: To explain the phenomena in the world of our experience, to answer the question „why?“ rather than only the question „what?“, is one of the foremost objectives of all rational inquiry; and especially, scientific research in its various branches strives to go beyond a mere description of its subject matter by providing an explanation of the phenomena it investigates (Hempel/Oppenheim 1948, 135). Abgesehen davon, dass im Zitat in der Bestimmung des Explanandums positivistische Metaphysik oder zumindest Methodologie eingeschleust zu werden scheint („phenomena in the world of our experience“), gehen verschiedene Autoren davon aus, dass ganz unterschiedliche Fragen gleichermaßen mit Erklärung und Verstehen zu tun haben oder zu tun haben können, wobei auch Verstehen nicht auf bestimmte Erkenntnisgegenstände beschränkt ist, wie in mancher geschichtstheoretischen Tradition implizit behauptet wird (4.2). Selbstverständlich ist das nicht, denn das weitverbreitete Sesamstraßenmodell der Wissenschaft („Wieso, weshalb, warum, wer nicht fragt, bleibt dumm!“) hat eben intuitiv sehr viel auf seiner Seite zu verbuchen. Es ist geradezu selbstverständlich (vgl. z. B. Huhn 1994). An der Stelle, an der wir nun 147

Die Einführung einer problemorientierten Geschichtsforschung („histoire-problème“) wird gewöhnlich der Annales zugeschrieben; vgl. z. B. Noiriel 2005, 107.

194

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

angekommen sind, könnte die alternative These lauten: Da Probleme in Form von Fragen ausgedrückt werden, könnte es so sein, dass verschiedene Problemtypen bezogen auf unterschiedliche Gegenstände in verschiedenen Typen von Fragen ausgedrückt werden und darüber hinaus irgendetwas mit Erklärung oder Verstehen oder beidem zu tun haben, vor allem natürlich in den Geschichtswissenschaften. Ich will auch keinen Hehl daraus machen (8.1), dass es vielleicht besser, zumal weitaus einfacher ist, die überkommene Tradition in der Beschränkung des Ausdrucks „Erklärung“ auf Warum-Fragen zu folgen und diese Warum-Fragen unter der Hand mit einer Gesetzes-, Kausalitäts- oder Mechanismusmetaphysik zu unterlegen (Kapitel 4.2, 6). Aber das führt, erstens, nur zu vielen weiteren Problemen (Kapitel 7) und, zweitens, kaum zu einem adäquateren Bild geschichtswissenschaftlicher Praxis. Aber hieß es nicht auch schon in der Sesamstraße „Wer, wie, was“? Die Texter fügten dem noch „… manchmal muss man fragen, um sie zu verstehen“ an, nämlich „tausend tolle Sachen“. Und vielleicht ist manchmal Unterschiedliches erfordert, um diese „tausend tollen Sachen“ zu verstehen oder etwas besser zu verstehen, zumal in tatsächlicher Forschungspraxis nicht immer möglich ist, was in Metatheorien gefordert wird. Wie zuvor gesehen, stipulieren wir an dieser Stelle in unserem minimalen Modell, dass der geschichtswissenschaftliche Weg vom Problem zum Verstehen führt. Mit Bloch gesprochen: Verstehen wählen wir als unseren Leitstern. Wir haben oben ja auch schon ansatzweise gesehen, dass unsere Geschichtswissenschaftler (Kapitel 3, 4.1) offenbar ganz unterschiedliche Probleme haben und Fragen stellen, und wir haben soeben bei Topolski gelernt, dass Geschichtswissenschaftler ganz unterschiedliche Hypothesen als Antworten auf Fragen aufstellen und irgendwie prüfen (bestätigen, rechtfertigen) müssen, zumal ihre Fachkollegen das von ihnen offenkundig oder zumindest zumeist erwarten. Es ist auch offensichtlich, dass sie diese Fragen zu einer heterogenen Menge von Gegenständen (im neutralen Sinn) stellen und z. B. nicht nur singuläre Handlungen oder „Ereignisse“ („Großereignisse“) verstehen wollen. Unsere Geschichtswissenschaftler drängen uns diese Strategie geradezu auf, von der Warum-Tradition etwas abzuweichen. Denn öfters sind Warum-Fragen in der Mini-„Anatomie“ nicht so zentral wie gedacht. Wir ahnen zudem, dass sich dies über die Grenzen des Samples hinaus nicht gänzlich anders verhält. Selbst dort, wo „Kausalität“ irgendeine erahnbare, wenn auch nicht explizite Rolle spielt, sind die Probleme zu groß, als dass drauf aufgebaut werden könnte (Kapitel 6). Die Mini-„Anatomie“ lässt auch an Haussmanns begrifflicher Festlegung und ihrer Relevanz für Geschichtswissenschaften in der Breite zweifeln, die in der Metaphysik leicht von den Vorbildern Hempel/Oppenheim abweicht: „Für meinen Teil lege ich mich darauf fest, das Wort ‚Erklärung‘ für die kausale Erklärung von Tatsachen (im weiteren Sinne) zu reservieren“ (Haussmann 1991, 24). Ich möchte dies für meinen Teil so lange wie möglich vermeiden (8.1), letztlich bis zum Ende der Studie. Die sich im Anschluss an Kapitel 4.1 unter Hinzuziehung des Vorangegangenen aufdrängende Hypothese über Forschung ist folgende: (Forschung und Verstehen) (Wissenschaftliche) Forschung ist ein Prozess des Suchens und Lösens von kognitiven (wissenschaftlichen) Problemen. Probleme haben nur individuelle Forscher (Personen). Was Wissenschaftler mit der Überwindung dieser Schwierigkeiten idealtypisch anstreben, ist Verstehen (und vermittelt die Erweiterung der Fiktion eines disziplinären Forschungsstands).

5.2 Vom Problem zum Verstehen (über Erklärungen)?

195

Kürzer: Verstehen ist das übergreifende Ziel. Zumindest bezeichnen unsere Geschichtswissenschaftler dies selbst in erstaunlicher Regelmäßigkeit so in der Metatheorie und der Praxis (siehe Kapitel 4.2 und Kapitel 3), und das eigentlich recht unabhängig davon, zu welcher Schule sie sich als zugehörig erachten, was wenigstens einen ersten, wenn auch nicht hinreichenden Anhaltspunkt dafür liefert, dass wir dies einigermaßen ernst nehmen können in einer Metageschichtswissenschaft. Sie wollen auch dann etwas verstehen, wenn es nicht darum geht, z. B. die Ursachen eines singulären „(Groß-)Ereignisses“ aufzuspüren oder irgendetwas Mentales „einfühlend“ oder „sozialen Sinn“ auf diese oder eine andere Art zu „verstehen“ (4.2). „Humanistische“ Mikro-Geschichtswissenschaftler (so Tillys Bezeichnung; Tilly 1990a) reden genauso davon, etwas verstehen zu wollen wie „social science historians“ (z. B. Johansson 2000) oder Sozialforscher aller Lager (z. B. Schutt 2004), die sich nach eigener Auskunft für „Makros“ (Kapitel 7.3.7) oder „ssystem to system level relations“ (Nash 1999, 452) interessieren, also zumindest nicht (nur) für Individuen. Wir wissen es schon, obwohl es auch hier keine einheitliche Konvention gibt. In der Breite der Lager gilt: In der Metatheorie darf man so eigentlich nicht reden, d. h. Soziales, was immer das sein mag („Makros“, „Strukturen“, „Prozesse“; 4.2), kann nicht verstanden werden. Aber so redet beinahe auch niemand in den Sozialwissenschaften, wenn er sich nicht dazu zwingt.148 Der Sozialgeschichtswissenschaftler oder Historische Sozialforscher P. Kirby (2003, 18 f.) schreibt beiläufig von „a quantitative understanding of the child labour force“. Der Wirtschaftsgeschichtswissenschaftler C. Burhop (2011, 58, 36) schreibt vom „Verständnis der Produktivitätsunterschiede“ zwischen Deutschland und Großbritannien und dessen Vertiefung sowie vom „Verständnis der deutschen Industrialisierung“. Auch ein Geschichtswissenschaftler der longue durée, der „Weltwirtschaft“ oder der „Strukturen“ schreibt z. B. vom „ersten Schritt zum Verständnis einer Weltwirtschaft“ und Ähnlichem (Braudel 1986b 1979, 22). In seinem in der „Zunft“ weitgehend als Pionierwerk angesehenen „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II." schreibt Fernand Braudel im berühmten ersten Kapitel gewohnt blumig, das Ziel sei „dessen buntes Schicksal überschaubarer zu machen und besser zu verstehen“ (Braudel 2001 1949, 32). Auch ein Historischer Anthropologe, der sich – so könnte man vermuten – damit vornehmlich für „Mikros“ (Kapitel 7.3.7) interessiert, behauptet zu Beginn seiner Handbuchdarstellung von „Kultur und Alltag“, diese sei der „Versuch“ „zu verstehen und zu erklären“ (van Dülmen 1999a, 9). Entweder verschämt oder mit polemischem Touch formulierte der Historische Sozialwissenschaftler H. U. Wehler (1989, 30) in seinem Handbuch zur „Gesellschaftsgeschichte“ mit den einrahmenden Topflappen, die zur Vorsicht mahnen, „strukturelle Rahmenbedingungen und prozessuale Entwicklungen“ müssten „‚verstanden‘“ werden. Normalerweise formulieren philosophisch informierte Sozialgeschichtswissenschaftler ja so etwas wie Folgendes: „Verstehen as a method is of little use to the explanation of macro social structural patterns and causes“ (Lloyd 1986, 119). 148

Die Erklärende Soziologie gibt als Ziel aus, „zu einem besseren Verständnis der sozialen Welt beizutragen“ (Schmid/Maurer 2010, 84), ist aber auch auf das Schlüsselwort aus der Geisteswissenschaftsphilosophie nicht angewiesen. In Hartmut Essers Version einer Erklärenden Soziologie gilt demgegenüber als ausgeschlossen, dass Soziales verstanden werden kann (unter Einfluss von M. Weber und A. Schütz). Die Analytische Soziologie glaubt, auf die „Anwendung formaler analytischer Werkzeuge“ angewiesen zu sein, weil sie das folgende Problem lösen will: „Um die komplexen Beziehungen zu verstehen, die zwischen Handlung, Interaktion und sozialer Emergenz bestehen, muss die abstrakte Logik des Prozesses in einem angemessenen Formalismus ausgedrückt werden“ (Hedström 2008, 111 f.). Es heißt auch, die „unmittelbaren Ursachen von Handlungen zu verstehen, ist nur ein Teil im größeren soziologischen Puzzle, das versucht, Veränderungen (…) auf der gesellschaftlichen Ebene zu verstehen“ (Hedström 2008, 200; Hervorhebung dp). Das Schlüsselwort (4.2) hat in dieser „Analytischen Soziologie“ entweder gar keine Funktion oder eine nach wie vor unklare.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Die erste Frage ist aber an solchen Stellen, ob „Verstehen“ eine Methode bezeichnet. Soweit das beantwortet worden ist, lohnt sich eigentlich die Frage, was an solchen und anderen Stellen mit „Verstehen“ gemeint ist. Darauf kommen wir gleich. Die nächste Frage wäre, was mit „macro social structural patterns and causes“ gemeint sein mag (7.4) und was ferner Gegenstände des Verstehens sein können. Die Verwendung von „Verstehen“ könnte bei H. U. Wehler noch der Polemik geschuldet sein, sodass man vielleicht daran festhalten wollen möchte, „Strukturelles“ oder „Prozesse“ könnten doch nicht verstanden werden. Um den Punkt noch zu untermauern, dass dies seltsam wäre, wenn man bloß oberflächlich schaut, was existierende Geschichts- und Sozialforscher schreiben, sei mit Shepherd (1988, 403, Hervorhebung dp) behaupetet: „The debt-sale paradigm has impeded our ability to comprehend how varying economic conditions operate through more than one process to create regional and temporal variations in tenancy rates and ownership concentration.“ Das heißt kurz gesagt, von etwas „Sozialem“ („economic conditions“), d. h. an dieser Stelle zunächst schlicht von etwas Nicht-Individuellem, führen unterschiedliche „Prozesse“ zu etwas anderem „Sozialen“ („tenancy rates“, „ownership concentration“), und diese „Prozesse“ bzw. auch das, was am Ende dabei herauskommt, können verstanden („comprehend“) werden, was so lange nicht kontraintuitiv ist, als man das unverstehbare Schlüsselwort (4.2) „Verstehen (understanding)“ an dieser Stelle nicht direkt einsetzt.149 Tilly (1990a, 685) läßt Wehlers Anführungszeichen auch schlicht weg, wenn er behauptet, Historiker wollten „social structures and processes“ verstehen („understand“). Entsprechend ist nicht überraschend, dass sich in der wissenschaftsphilosophischen Literatur und auch außerhalb dieser unzählige Verlautbarungen finden lassen, die der nun folgenden ähneln und auch jenen ähneln, die im vorherigen Kapitel genannt wurden (4.2). Ruth Berger beginnt einen Aufsatz wie folgt: Why do science? One answer to this question is that science helps us to predict and control our environment. While this answer is partially correct, most philosophers of science agree that it is not the whole story. A second answer to the question ‚Why do science?’ is that, in some way, science produces explanations which help us understand the world. Philosophical discussions of scientific explanation ask what scientific understanding consists of, and how the structures and methods of science make this type of understanding possible (Berger 1998, 306; Hervorhebung dp). Der letzte Absatz liefert uns natürlich im Kontext des Vorhergegangenen das zumindest nicht gänzlich uninteressante Forschungsproblem einer Metageschichtswissenschaft, das man folgendermaßen ausdrücken könnte: Worin besteht geschichtswissenschaftliches Verstehen (vielleicht durchaus in unterschiedlichen Schulen)? Was ist geschichtswissenschaftliche Erklärung (in unterschiedlichen Ansätzen)? Worin besteht der Zusammenhang zwischen geschichtswissenschaftlicher Forschung, geschichtswissenschaftlicher Erklärung und geschichtswissenschaftlichem Verstehen (in unterschiedlichen Forschungslinien), falls ein solcher existiert? Auch diese Fragen werden hier bloß gestreift, genauso wie die Antworten (Kapitel 7, 8.1), da es hierzu letztlich keinerlei Einigkeit gibt. Eine Antwort wäre so etwas wie eine Spezifikation der Antwort auf die Frage des vorigen Kapitels, bloß aus einer anderen Perspektive, nämlich vom Ende her betrachtet: Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem oder was sind geschichtswissenschaftliche Probleme? Wenn, wie bis hierher und gerade stipuliert, Verstehen das Ziel einer jeden (geschichts-) wissenschaftlichen Forschung letztlich ist, dann muss es, erstens, mehr Bereiche oder Objekte 149

Zu einer Ontologie von Prozessen siehe 7.3.5.

5.2 Vom Problem zum Verstehen (über Erklärungen)?

197

des Verstehens geben, als dasjenige, was z. B. auch Verstehensphilosophen im Bereich der Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften als Gegenstände des Verstehens ausgemacht haben. Und wenn es, zweitens, so sein sollte, dass Erklärung und Verstehen eng miteinander zu tun haben, dann muss es auch mehr „Erklärung erheischende“ Fragen (Hempel 1977) als Warum-Fragen geben, deren Beantwortung bzw. die Lösung des entsprechenden Problems Verstehen hervorbringt, vielleicht auf durchaus unterschiedliche Weise. Das sollte so sein, wenn es so ist, dass auch mit anderen Fragen bereits ein „Informationswunsch“ (Walther) verbunden ist, dessen Erfüllung etwas hervorbringt, das man legitimerweise „Verstehen“ nennen darf. Wenn es unterschiedliche Typen von „Erklärung erheischenden“ Fragen gibt und Erklärungen Antworten auf diese Fragen sind, dann sollte es ggf. auch unterschiedliche Typen von Erklärungen geben, die genau dann immer mit Verstehen verbunden sind, soweit der Zusammenhang zwischen Erklärung und Verstehen tatsächlich strikt ist. Ex negativo war dies mit der Forderung verbunden (Kapitel 2.3), nicht vor der Beschäftigung mit Forschung festzulegen, dass Geschichtswissenschaftler überhaupt erklären oder verstehen, weil damit immer schon eine bestimmte Sicht auf legitime Gegenstände und Fragen in Wissenschaft oder Geschichtswissenschaft implizit verbunden ist. Erklärungsmetatheorie ist scheinbar in gewissem Sinn immer schon Ontologie, obwohl dies selten gesagt wird. Das werden wir später ansatzweise sehen (Kapitel 6), bevor wir selbst einen Sprung in die Geschichts- und/oder Sozialontologie wagen (Kapitel 7). Dies war auch in der Behauptung (Kapitel 2.1, 2.3) gemeint, es sei nicht klar, was Geschichtswissenschaft ist, weil mit der zumeist kaum begründeten Bevorzugung bestimmter Gegenstände, Fragen und Ziele ein bestimmtes Bild von Geschichtswissenschaften als „Humanwissenschaften“, „Sozialwissenschaften“, „Geisteswissenschaften“ oder „Kulturwissenschaft“ verbunden ist und transportiert wird, das, wie wir nach der Mini-„Anatomie“ nun begründet erahnen können, keinen festen Boden unter den Füßen hat. Wenn es nun so scheint, dass die These, Geschichtswissenschaftler wollten Probleme lösen um am Ende etwas zu verstehen, so simpel ist, dass sie ebenso wenig hingeschrieben werden muss wie die These, Geschichtswissenschaftler stellten Fragen unter Rekurs auf einen Forschungsstand, dann könnte das dafür sprechen, dass sie auch plausibel ist: „Warum sucht der Wissenschaftler nach Erklärungen? Um zu verstehen. Diese Antwort klingt so selbstverständlich, daß sie scheinbar nicht einmal der Erwähnung bedarf“ (Lambert 1988, 299). Falls die These nicht so simpel ist, weil auch auf der Seite der Probleme Unklarheiten bestehen, ist sie dennoch eine Wette wert, denn wenn von Verstehen („Erfolgswort“) die Rede ist, ist zumindest mit erahnbarer signifikanter Häufigkeit ganz natürlicherweise auch von Problemen („Schwierigkeitswort“) die Rede. Zum Beispiel schreibt ein Philosoph am äußersten Rande der ungezählten Verstehen-Diskurse ganz beiläufig, der Gegenstand des Verstehens könne oder müsse als „Problem“ formuliert werden: „The intelligendum’s dasjenige, was verstanden werden soll oder der Verstehensgegenstand, in Analogie zu „Explanandum“, dp immediate background, which is the standpoint from which it can be formulated as a problem, is the analyzer’s relevant scientific knowledge“ (Franklin 1995, 15). Die These ist ferner gar nicht so trivial, weil nach meinem Eindruck der Eindruck, den Franklin (1995) aussprach, zutrifft, nämlich dass selbst in philosophischen Büchern mit „Verstehen“ im Titel regelmäßig nicht gesagt wird, was das heißt, was Verstehen von etwas auszeichnet bzw. was Verstehen ist und von anderem unterscheidet (z. B. von Wissen). Für die Literatur im Umfeld der Geschichts- und Sozialwissenschaften gilt, so weit ich sehen kann, beinahe mit Gewissheit, dass kaum jemand oder niemand sagt, was mit „Verstehen“ nun grob gemeint ist. Ferner gilt mit Blick auf die geschichtstheoretische Seite, dass eine solche Benennung des Ziels wohl gar nicht so trivial ist (vgl. auch 3.2), weil gar nicht wenige Geschichtswissenschaftler das anders sehen würden und andere Ziele ausgeben, z. B. Ge-

198

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

schichtswissenschaftler produzierten „historische Tatsachen“ und hätten „für die Deutung, für den ‚Sinn‘ dieser Tatsachen zu sorgen“ (Oexle 2003, 1). Hier wäre klärungsbedürftig, was mit „Deutung“ und dem „Sinn“ von „Tatsachen“ gemeint ist. Wie auch immer man hier votiert, es handelt sich wohl um innerhalb von Forschung und auch darauf bezogener Geschichtstheorie verborgene Philosophie oder „philosophische Wahlen“ bezogen auf die Ziele (2.2), falls am Ende mit der Herstellung von „Sinn“ durch „Deutung“ nicht doch bloß etwas wie Hypothesenbildung und Ermöglichung von Verstehen gemeint ist. Wo liegt der Pfiff? Wir haben primär nicht die Frage „Was ist Geschichtswissenschaft?“ gestellt, sondern „Was machen Geschichtswissenschaftler?“. Fängt man bei den Dokumentationen von Forschungsprozessen an, nämlich Forschungsberichten, schränkt die Gültigkeit der Besetzung des Ausdrucks „Verstehen“ in traditionellen geschichtsphilosophischen und geschichtstheoretischen Schriften ein, indem man diese Besetzung mit der Praxis konfrontiert, dann landet man ohne schwerfällige Konstruktionsleistungen beim Verstehen als Ziel jener Forschung, zumal Geschichtstheoretiker nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis dies genau so formulieren. Unser Modellchen sieht dann aus wie in Abbildung 14. Auf die oben im Kontext der Feststellung, dass in der Debatte um Erklärungen weitgehend Warum-Fragen einzig und allein im Zentrum stehen, geäußerte weitere Feststellung, dass andere Philosophen dies anders sehen, können wir nun zunächst in einer zentralen Hinsicht rekurrieren. Denn einige Philosophen sprechen an einer ähnlichen Stelle einschlägigerweise von der Korrelativität von Erklären und Verstehen bzw. der Korrelativität der Begriffe „Erklären“ und „Verstehen“ bezogen auf alle möglichen Anwendungsbereiche, d. h. alle möglichen Bereiche der Wissenschaften und alle möglichen Erklärungs- und Verstehensbemühungen auch außerhalb von Wissenschaften: (…) Verstehen und Erklären (bilden) keinen Gegensatz. Schon der sprachliche Befund, aber auch sachliche Erwägungen legen vielmehr die folgende These nahe: (…) Erklären und Verstehen sind Korrelativbegriffe; jeder Form des Erklärens entspricht eine Form des Verstehens und umgekehrt (Scholz 2011, 8 f.; Hervorhebung dp, vgl. Scholz 1999, 2008a, 76; 2000, 2008b, 2011). Auch G. Schurz (2004, 168) spricht davon, dass „Erklären und Verstehen durchgängig korrelierte Begriffspaare sind, sodass jeder Erklärungsart eine Verstehensart entspricht“. Kurz und knackig ist zu lesen: „Etwas verstehen = es erklären können“ (Schurz 2004, 169). Die These oder eine ähnlich klingende These taucht auch an anderen Stellen immer mal auf. So schrieb der Philosoph P. A. Railton (1980, 408) in einem Buch mit dem Untertitel „A Realist Account of Scientific Explanation and Understanding“ stellenweise von „various concepts of explanation, and their associated conceptions of understanding“. Der Wissenschaftsphilosoph Mario Bunge (1997a, 456) formuliert folgendes Kriterium für das Vorliegen von Verstehen: „I understand fact f if and only if I know a satisfactory explanation e of f.“ Eigentlich werden ähnliche Thesen auch jenseits dieser Autoren häufiger zwischen den Zeilen angedeutet als genauer explizit formuliert. Unser (impressionistischer) sprachlicher Befund entspricht aber, wie angedeutet (4.2), viel eher diesen Thesen als allen anderen, also denjenigen, die im Rahmen von Erklärung-Verstehen-Dualismen angedeutet worden sind (von Droysen 1972 1858 über Dilthey aufwärts), was ein Indiz dafür ist, dass es sich lohnen könnte, diese Thesen zu verfolgen. Bevor wir die Klärungsskizze fortführen, will ich auf einen Punkt hinweisen, der in unserem Kontext der Sozial- und/oder Geschichtswissenschaft(en) wichtig ist und wiederholt unser Problem darstellt. Mit der These, dass Formen des Erklärens (oder der Erklärung, 5.4) Formen des Verstehens, Erklärungsarten Verstehensarten oder Verstehenstypen Erklärungs-

5.2 Vom Problem zum Verstehen (über Erklärungen)?

199

typen entsprechen oder korrelieren, ist noch überhaupt nichts darüber gesagt, welche Verstehenstypen und Erklärungstypen es in welchen Wissenschaften, die es mit welchen Typen von Gegenständen auch immer zu tun haben mögen, gibt. Was diese Typen dann jeweils genauer auszeichnet, ist damit auch noch prinzipiell offen. Das ist erst dann nicht mehr offen, wenn allgemeine Thesen zu Problemen wie Naturalismus/Anti-Naturalismus und/oder Methodenmonismus/Methodendualismus direkt hinzugezogen werden. Welche Typen es gibt, das können, aus der hier eingenommen Perspektive ohnehin (Kapitel 2), nur dezidierte und breit angelegte Fallstudien zu Wissenschaften bzw. wissenschaftlicher Forschung zeigen, die es im Bereich der Geschichtswissenschaft(en) und/oder Sozialwissenschaft(en) bisher eben in der Philosophie nicht gibt, soweit ich weiß, und die auch hier natürlich nicht geboten werden. Auch die Analyse von geschichtstheoretischen Abhandlungen im Kontext der Bestimmung von Ansätzen kann hier aufschlussreich sein. Wie wir sehen werden, ist auch die Abkürzung durch die Methodologisierung von Metaphysiken als implizite Strategie (Kapitel 6) zweifelhaft und auch als explizite Strategie (Kapitel 7) äußerst heikel und führt zu keinen eindeutigen Ergebnissen. Wenn man Kandidaten hätte, könnte man auch nach Dissensen darüber Ausschau halten, ob ein Kandidat denn wirklich etwas mit Erklärung und/oder Verstehen zu tun hat oder, z. B., nicht doch bloßer Beschreibung und Wissen. Aber das Programm, das sich hinter der These verbirgt, ist hinreichend klar und nach dem ersten Blick auf die Geschichtswissenschaftspraxis tendenziell plausibel und daher potenziell fruchtbar. D. h. auch ganz einfach, man kann im Hinblick auf die häufiger vermutete Vielfalt der Erklärungs- und Verstehenspraxis (van der Braembussche 1989, Topolski 1983a) etwas damit anfangen und muss sich zumindest nicht von vornherein auf eine der umstrittenen Positionen zu Erklärung und/oder Verstehen festlegen.150 Um das Programm zu verfolgen, muss man sich nicht nur irgendeiner Praxis, sondern der Breite widmen wollen, d. h., das Forschungsprogramm bietet sich besonders an, wenn man sich eben auch nicht von vornherein in einer geschichtstheoretischen, sozialtheoretischen oder auch geschichtsphilosophischen Schule oder einem Ansatz immatrikulieren möchte (3.1) und von einer möglichen Heterogenität der Praxis als Möglichkeit ausgeht (2.3). Der Vorteil ist dann, dass das Forschungsprogramm offen ist, was zugleich dessen Nachteil ist, weil es keine im doppelten Sinn fixen Lösungen gibt, also vergleichsweise kurze und vergleichsweise eindeutige. Zumindest bediene ich mich im Sinne eines offenen Forschungsprogramms an dieser These, aufgrund der in 4.2 geschilderten Lage (und jener aus 2.2 und 2.3). Aus der hier eingenommen Perspektive auf die Mini-„Anatomie“ zwingt sich diese Strategie beinahe von selbst auf.

Stand der Forschung

Abbildung 14

150

Problem(e)

Frage(n)

Hypothesen = Antworten

Verstehen

Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 2

Von einer ähnlichen These zu Erklärung und Verstehen ist sogar in gänzlich anderem Rahmen etwas zu erahnen (H. White 2008 1973). Der Kontext der Annahmen ist dann natürlich ein anderer.

200

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Bevor wir weiter machen und uns einer Hypothesenmenge auf der Seite des Verstehens widmen wollen, halten wir den Stand der Dinge kurz fest. Unser hypothetisches Modell der geschichtswissenschaftlichen Forschung sieht nach diesem Kapitel grob so aus wie in Abbildung 14. Der weitere Verlauf liegt auf der Hand (Abbildung 15). Nachdem wir nun einen Nexus zwischen Problemen und Verstehen im Kontext von Forschung skizziert haben, widmen wir uns nun dem Verstehen und anschließend der Erklärung und dem Erklären und der Vielfalt entsprechender grundsätzlicher Begrifflichkeiten, um uns dann wieder dem Verstehen zuzuwenden und daran anschließend einen neuen Blick auf das Problem „Was ist eine geschichtswissenschaftliche Erklärung?“ vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“ und der Vermutung eines Ontologiedefizits zu werfen, wie es in einer neuen Sicht auf die Tradition der Debatte erscheint, die man unter diesen Voraussetzungen dann gegebenenfalls ansatzweise neu integrieren kann (Kapitel 6).

5.3

Eine Präzisierung: Verstehen. Was bleibt, was nicht? Es bueno recordar que ninguna pregunta es la última y ninguna respuesta es difinitiva en ciencia (Cardoso 1982, 58).

Damit dies nicht zu vage bleibt, muss man nun auf den Seiten des Begriffs der Erklärung wie des Begriffs des Verstehens zunächst verschiedene Differenzierungen vornehmen, um zumindest unnötige Konfusion zu vermeiden, von der in derartigen Kontexten schon genug übrig bleibt: „The radical ambiguities of ‚explanation‘ and ‚understanding‘ create almost endless opportunities for obfuscation and confusion“ (Salmon 1998, 9). Zu den Kennzeichen von Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie gehört generell, dass nicht gesagt wird, was z. B. mit „Erklärung“ oder auch „Verstehen“ oder auch „Erzählung“ auch nur grob gemeint ist, sodass entsprechende Thesen über Zusammenhänge kaum beurteilt werden können, z. B. die manchmal beiläufig geäußerten Thesen über Zusammenhänge von „Erklärung“ und „Erzählung“.151 Oliver R. Scholz hat verschiedentlich Ordnung in das Gewusel der aus der hier eingenommenen Perspektive auch fragmentierten Literatur zum Verstehen gebracht. Ganz allgemein ist ihm zufolge „Verstehen“ ein Wort, das auf eine ganze Familie kognitiver Fähigkeiten und Errungenschaften angewendet wird. Er unterscheidet dabei sachlich (i) Verstehen als Fähigkeit (Disposition) und

Stand der Forschung (als „Wissen“)

Abbildung 15

151

Problem(e)

Frage(n)

Erklärung(en)

Verstehen

Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 3

Zu den vielfältigen Bedeutungen von „Erklärung“, die hier nicht alle relevant sind, siehe Esser et al. 1977, Stegmüller 1983 oder Hempel 1965.

5.3 Eine Präzisierung: Verstehen. Was bleibt, was nicht?

201

(ii) Verstehen als Episode (Ereignis) und die entsprechenden Verwendungsweisen des Ausdrucks „Verstehen“ (Scholz 1999, 2008a, 2010). Die Unterscheidung ist einfach, aber plausibel. Im ersten, dispositionalen Fall geht es darum, dass eine Person etwas verstanden hat oder dauerhaft versteht, weil sie zuvor (wiederholt) irgendetwas gemacht hat und dann und dadurch Verstehen erreicht hat, was sich darin ausdrückt, dass sie etwas kann, also eine Fähigkeit (Disposition) besitzt, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten auf verschiedenen Wegen „äußern“ oder manifestieren kann. Im zweiten episodischen Fall geht es darum, dass eine Person Verstehen zu einem Zeitpunkt oder in einem Zeitraum erreicht („jetzt“), indem sie zuvor irgendwas gemacht hat, d. h. um das Verstehen von etwas bemüht hat, und nun etwas besser versteht. Öfters geht es auch ohne Bemühen sozusagen von alleine. Ein eingängiges Beispiel für Verstehen als Disposition ist die Fähigkeit, eine Sprache verstehen zu können. Ein eingängiges Beispiel für episodisches Verstehen liegt dann vor, wenn jemand sein Überzeugungssystem zu einem Zeitpunkt beispielsweise durch geschichtswissenschaftliche Forschung so verändert, dass er eine singuläre Handlung oder auch „die Geburt des Kapitalismus“ (Topolski 1979 1965) nun versteht. Episodisches Verstehen ist auch das Verstehen einer sprachlichen Äußerung zu einem Zeitpunkt. Auch das dauerhafte Verstehen der Geburt des Kapitalismus ist dann ex hypothesi ein Fall von dispositionalem Verstehen, nicht bloß ein Fall wie das diesbezüglich intuitiv einleuchtendere Beispiel des Verstehens einer Sprache, das sich darin äußert, dass der Forscher etwas kann. Wenn von Forschung als Prozess die Rede ist, wie in den Mini-Modellen dieses Kapitels, dann ist von Verstehen primär im episodischen Sinn die Rede, zumal das Modell neben einer forschungssystematischen Ordnung auch eine quasi-zeitliche Ordnung hat, obwohl realiter natürlich alles komplizierter ist und unterschiedlichste Fähigkeiten, darunter sicherlich auch Verstehensdispositionen, sozusagen „sekundär“ auch eine Rolle spielen. Hier geht es zunächst nur um eine grobe begriffliche Klärung. Die Wörter „primär“ und „sekundär“ beziehen sich also hier bloß auf das Klärungsinteresse an dieser Stelle. Hier ist Forschung im Fokus bzw. die „Suche nach Verstehen“ oder die Neuerwerbung von Verständnis (Episode). Der Epistemologe R. L. Franklin schrieb ähnlich: Usually a claim to understand refers, not to some mental activity, but to a state that continues even while we are thinking of something else; if I understand mathematical calculus, I still do so while I am busily mowing my lawn. But my analysis focuses on the search for understanding, and that is an activity we undertake (Franklin 1995, 3). Was Franklin hier „Zustand“ nennt, entspricht grob (Kapitel 7.3.5) „Disposition“ zuvor. Verstehen ist aber an dieser Stelle zunächst das Ziel dieser „Suche“ oder dieses Bemühens, das man im Innerwissenschaftskontext eben einfach „Forschung“ nennt. Dass der Zustand von Geschichtswissenschaftlern unterschiedliche Dispositionen umfasst, sei damit nicht bestritten, auch nicht, dass z. B. das episodische Verstehen der „Geburt des Kapitalismus“ durch Topolski kaum als Punktereignis („Aha!“) vorzustellen ist. Wir können uns nun auch schon der gesamten Last der philosophischen Probleme um den sogenannten Methodendualismus von Erklärung/Erklären und Verstehen entledigen. Die erste Seltsamkeit mit dem Dualismus ist, dass „Verstehen“ keine Methode bezeichnet, sondern eben kognitive Errungenschaften und Fähigkeiten, worauf O. R. Scholz seit langer Zeit insistiert. Das stellt man fest, wenn man sich z. B. fragt, welches Ziel mit der Methode namens „Verstehen“ angestrebt wird, denn Methoden sind ja Verfahrensweisen zum Erreichen bestimmter Ziele oder, wenn man will, zum Lösen bestimmter Typen von Problemen. Die Ant-

202

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

wort fällt leicht: „Gar keines“, denn Verstehen ist ja plausiblerweise selbst das Ziel (Scholz 1999, 2001, 2002, 2008a/b, 2010). Manche Kritische Rationalisten – also die frühere Popper-H. Albert-Schule – sprechen bei Versuchen, etwas über den Geist von Personen herauszufinden, also Tatsachenwissen (Kapitel 7.3.7) zu generieren, manchmal bereits von „verstehen“, teilweise im Anschluss an M. Weber oder auch A. Schütz. Ein sozusagen traditionelles Verständnis von „Verstehen“ findet sich dann eben auch noch beim Kritischen Rationalisten H. Esser und dessen Versuch, „verstehende“ (Esser 1991, 1996) und „erklärende“ (Esser et al. 1977, Esser 1996) Ansätze in den Soziologien zu integrieren: „‚Verstehen‘ heißt ja, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen, die Situation aus dessen Sicht zu betrachten und seine guten Gründe für das beobachtete Tun herauszufinden“ (Esser 1999, 263). Bei einem solchen Versuch handelt es sich aber wohl ebenso wenig um eine Methode, sondern um eine Tätigkeit, die man zunächst generisch als „Hypothesenbildung“ bezeichnen würde und die sich auf einen Gegenstand richtet, der manche Soziologen, Psychologen oder Geschichtswissenschaftler reizt und manchmal „Geist“, „Psyche“ oder „spezifische Funktion des menschlichen Gehirns“ genannt wird. Auch die sog. Einfühlung bzw. das „einfühlende Verstehen“ ist keine Methode, so lange man erwartet, dass bei Methoden expliziert werden kann, was man (grob oder genau) in einer konkreten Anwendung der unterstellten Methode machen muss. Methoden sind ja letztlich Anweisungen, etwas in einer bestimmten Reihenfolge und in einer bestimmten Art zu tun, wie in Kochrezepten. Im Fall des dualistisch verstandenen und als Methode missverstandenen „Verstehen (understanding)“ ist meines Wissens nichts dergleichen aufgeschrieben worden. Im Fall der „Einfühlung“ als genauere, vermutlich einzige Spezifikation der „operation called Verstehen“ (Abels 1946) ist eine solche Anweisung aber wohl bisher auch nicht formuliert worden. Somit handelt es sich im besten Fall um eine Methode auf dem Niveau des Glaskugelschauens oder Kaffeesatzlesens, also eine bescheidene: Wenn du etwas von einer Person wissen oder sie verstehen willst, dann praktiziere Einfühlung („Verstehen“). Was ist Einfühlung („Verstehen“)? Das Nachleben von etwas. Was von dieser „Methode“ dann am Ende immer nur übrig bleibt, ist das Ziel bzw. das Problem, nämlich etwas über die mentale Untermenge des Zustandes (7.3.5) von Personen herausfinden zu wollen. Aber Methoden sollen Probleme lösbar machen und Ziele erreichen helfen und nicht nur unklar, aber vermeintlich aufregend, beschreiben oder, was eher zutrifft, verstellen. 152 152

Manchmal scheint es in der Erklärenden Soziologie dann so gedacht zu werden, dass man zuerst einen Akteur „verstehen“ muss, bevor man eine Handlung einer (nomologischen) Erklärung (6.1, 6.2) zuführen kann. „Verstehen“ heißt dann offenbar, wie gerade vermutet, an solchen Stellen nur, Tatsachenhypothesen über Mentales aufzustellen, wobei die durch „Verstehen“ gefundenen Hypothesen (z. B. über Überzeugungen) dann in die Variablen einer Handlungsgesetzeshypothese eingesetzt werden. Soziales, das eigentlich Gegenstand der Erklärenden Soziologie sein soll, kann dann in dieser Redensart natürlich nicht verstanden werden, weil das Verstehen ja ein Sich-in-die-Lage-einer-Person-Versetzen ist. Aus meiner Sicht würde man hier, wie gesagt, in vielen dieser Fälle normalerweise ganz einfach von „eine Hypothese über etwas bilden“, also Hypothesenbildung, sprechen, nicht von „Verstehen“ als irgendeine Tätigkeit oder Methode oder von „verstehenden Verfahrensweisen“ und „verstehenden Methoden“ (H. Albert 1994, 110). Diese und ähnliche Redeweisen von Verstehen in der Metatheorie kann man also vermutlich verlustfrei eliminieren. Sie haben heute nur noch die Funktion, „individualistische“ oder „mikrofundierende“ Erklärungsprogramme in soziologischen Traditionen zu plausibilisieren. Aber dazu braucht es eigentlich diese künstliche und recht dunkle Rede von „Verstehen“ und „verstehender Soziologie“ nicht, die seit mehr als einem Jahrhundert Generationen von Studenten bloß verwirrt. Bei H. Esser (2001, 164) ist zu A. Schütz „phänomenologischer Soziologie“, die auch zu den „verstehenden Soziologien“ gezählt wird, zu lesen: „Alfred Schütz nennt diese Leistung der Einnahme des subjektiven Standpunktes des anderen also Verstehen.“ Hier ist also ein Ziel oder Erfolg auch von Alltagsmenschen (in der „Lebenswelt“) mit „Verstehen“ benannt, aber wieder keinerlei Methode. Unter das so beschriebene „Verstehen“ als „Einnahme des subjektiven Standpunktes“ fällt dann vermutlich auch bereits die These,

5.3 Eine Präzisierung: Verstehen. Was bleibt, was nicht?

203

Es mag zwar unvorsichtig sein, weil die Gefahr droht, eines Besseren belehrt zu werden: Aber ich kenne niemanden, der die Methode namens „Verstehen“ auch nur beschrieben geschweige denn verteidigt hätte, zumal im Hinblick auf konkrete geschichtswissenschaftliche Forschung, was für mich alles in allem Grund genug ist, nicht an ihre Existenz zu glauben. 153 Man kann sich also fragen, welches (a) Tun oder Verfahren (ein Prozess) oder welche (b) Verfahrensweisen (Abstrakta), die man in diesem Tun anwendet, als „Verstehen“ bezeichnet bzw., besser, hier oder dort als „Verstehen“ bezeichnet werden. Das Ergebnis dürfte eindeutig ausfallen: So etwas gibt es nicht und niemand außerhalb eines kleinen teutonischen Dualis-

153

dass eine Person x an den Weihnachtsmann glaubt, was wiederum mit „Erklärung“ oder „wissenschaftlichem Verstehen“ noch nicht viel zu tun hat, sondern mit Tatsachenwissen. Interessant wäre, wie man ein solches Tatsachenwissen auch in Rational-Choice-Soziologie erlangen möchte, welche Methoden dazu zur Verfügung stehen (4.2, 6.2, 7.6). Wenn mit „Einahme des subjektiven Standpunkts“ bereits die Erklärung einer Handlung gemeint ist, dann ergeben sich die traditionellen Probleme der Erklärung von Handlungen (6.2). Ähnliches findet man immer wieder. Der Erkenntnistheoretikerin Trusted (1987, 130) zufolge gilt, „the operation of Verstehen is involved in explanations of social customs and ceremonies, that is that it is necessary to know the significance of social behaviour to the participants and the explanations (if any) that they offer“. Von einer „Operation“ oder Tätigkeit ist aber auch hier nicht die Rede und auch von keiner, die „Verstehen“ genannt wird, sondern von einem bestimmten Erkenntnisgegenstand, der auch eigentlich sehr ordinär ist, nämlich in so etwas wie Überzeugungen („significance to …“) von Personen besteht, die dann in der Beschreibung oder Erklärung von anderem („customs and ceremonies“) relevant sein sollen. Mit „Signifikanz für“ (oder „meaning“, Mahajan 2011, 29) sind jene Überzeugungen von Personen bloß unklarer, als vielleicht nötig wäre, benannt. Wie dem auch sei, Mink (1966, 38) behauptete, mit „the ‚method of understanding‘“ sei ein „act of judgement“ gemeint gewesen, was Fragen nach einer Methode ebenfalls offen läßt, was Mink allerdings direkt klarstellt (ebd.): „[I]t is important to recognize that it is not in any proper sense a ‚method‘; it is neither a technique of proof nor an organon of discovery but a type of reflective judgement“. Was ist aber mit einem „reflektierten Urteil“ gemeint? Vermutlich eine begründete Hypothese oder eine Menge begründeter Hypothesen bzw. das Aufstellen von Hypothesen oder ihre Auswahl, was die Frage nach einer Rechtfertigungsoder Bestätigungstheorie aufwirft. In M. Martins (2000, 4) kürzester Charakterisierung von „Understanding (Verstehen)“ ist von einer Methode bzw. Verfahrensweise ebenfalls keine Spur zu finden: „Verstehen can be defined as taking the subjective standpoint of the social actors“. Das ist aber entweder ein (unklares) Ziel oder eine (unbestimmte) Tätigkeit. Kurz danach ist im Kontext von Diltheys Methode des Verstehens Folgendes zu lesen: „According to H. P. Rickman, a Dilthey scholar writing in the 1960s, Verstehen is ‚the comprehension of some mental content – an idea, an intention, or feeling – manifested in empirically given expressions such as words or gestures.’ The use of this method, Dilthey argued, enables social scientists and historians to arrive at more reliable results and more intelligible findings than the natural sciences (…)“ (Martin 2000, 10). Auch hier ist unklar, wo die Rede von Methoden herkommt. Es ist von keiner erkennbar die Rede, sondern Verstehen als Erfolg, Ergebnis oder Resultat von Tätigkeiten, in denen potenziell Methoden (Verfahrensweisen) angewendet werden könnten. Weiter geht es aber wie folgt: „But what this comprehension of mental content includes is not completely clear. The most common and widely accepted interpretation is that empathy is the reliving of the mental content of the social actors“ (ebd.). Solange man nicht erfährt, was man dazu anstellen muss, um beispielsweise als Geschichtswissenschaftler jenen mentalen Gehalt empathisch nachzuleben (oder mit Collingwood und Dray zu „re-enacten“), bleibt jene Methode blass, zumal das Nachleben auch wieder bloß ein Prozess in einem Forscher ist. Man wüsste aber gerne, wie man das macht. Und wie man sich im Rahmen des hermeneutischen Holismus in soziale Ganzheiten (4.2) einfühlt, ist dann auch noch nicht geklärt, was zunächst die Frage aufwirft, worum es sich bei solchen Ganzheiten handelt (Kapitel 7). Bei Huhn (1994, 44) heißt es: „Das Erklären zielt auf die Lebensbedingungen, das Verstehen auf das Erleben der Menschen.“ Eine Methode wird nicht benannt und die Frage, mit der ein Defizit an Verstehen ausgedrückt wird, ist Huhn (1994, 94) zufolge: „Was können wir über das Erleben der Menschen aussagen?“ Eine ausführliche „Geschichte“ der unterschiedlichen Verstehenslehren in Geschichtstheorie und Sozial(meta)theorie am Schnittpunkt mit Philosophie ist mir nicht bekannt; siehe jedoch Lorenz 1997, Martin 2000, Scholz 2001, 2015a, Greshoff et al. 2008, Bühler 2008, Mantzavinos 2005, Outhwaite 1986, H. Albert 1994.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

musdorfes redet so, d. h., niemand bezeichnet eine Tätigkeit als „Verstehen“ und niemand bezeichnet eine Verfahrensweise (Methode) als „Verstehen“. Verstehen ist also weder eine Methode noch eine Anwendung einer Methode und „Verstehen“ bezeichnet so etwas auch gewöhnlich nicht. Der Soziologe Lundberg (1939, 51) hatte das Thema eigentlich schon in bewundernswerter Kürze erledigt: „The error lies in overlooking that insight and understanding are the ends at which all methods aim, rather than methods in themselves“ (Lundberg 1939, 51, Scholz 2015a). Wenn wir uns einmal erlauben wollen, die Zügel schießen zu lassen, obwohl ich nicht behaupten kann und will, einen – unmöglichen – enzyklopädischen Überblick über Verstehensund Erklärungsdiskurse zu haben, muss man eher lange suchen, um überhaupt in den unterschiedlichen und selten integrierten Debatten außerhalb des kleinen philosophischen Dualismusdorfes jemanden zu finden, der einen Dualismus zwischen Erklären/Erklärung (5.4) und Verstehen und keinen, wie auch immer gearteten, Zusammenhang behauptet. Wir sind darauf schon in 4.2 eingegangen, wollen aber weitere Daten heranziehen, damit das Forschungsprogramm weiteren Boden unter den Füßen erhält: „The question about explanation can then be put this way: What has to be added to knowledge to yield understanding?“ (Lipton 1991, 21). Dies ist offensichtlich keine Einzelmeinung eines Epistemologen, sie findet sich z. B. auch im Kern und ganz beiläufig bei dem Geschichtstheoretiker Pierre Vilar in selbsterklärenden Worten: „‚Comprender‘ es imposible sin ‚conocer‘“ (Vilar 1982, 12). Verstehen ist aber, was vorausgesetzt sein dürfte, nicht nur unmöglich ohne Wissen, sondern auch ein wenig mehr. Die Beispiele lassen sich erweitern, z. B. ist Folgendes zu lesen: „Explanations are things used to produce, convey, or indicate understanding“ , schreibt Peter A. Railton. Er schreibt gar, die Verbindung von Erklärung und Verstehen „should be at the very heart of a defence of a particular approach to the analysis of explanation“ (Railton 1980, 6; 92, 116). Ein Beispiel jüngeren Datums: „First, explanation provides understanding“ (Faye 1999, 63). Eine Antwort auf die Frage, warum man nach „Ursachen“ sucht, ist laut A. Hüttemann (2013, 5): „Wir wollen Prozesse oder Abläufe verstehen. Wir suchen nach Erklärungen.“ Der Geschichtsphilosoph C. B. McCullagh (1984, 211) behauptete: „An adequate explanation of an event is one which produces adequate understanding of it (…).“ Zumindest über dasjenige, was „ädaquat“ in den Sozialwissenschaften heißt, gibt es einen ernsthaften (ontomethodologischen) Disput, aber eher nicht über einen Erklären-Verstehen-Dualismus. Der Physiker und Wissenschaftsphilosoph M. Bunge fügte einigen Prima-facie-Beispielen für Erklärungen die Bemerkung an: „All this is true, but it does not elicit understanding and consequently does not qualify as explanation proper“ (Bunge 2004a, 202; vgl. Bunge 1967a/b). Die Soziologen Hedström/Ylikoski (2010, 54) behaupten, das primäre epistemische Ziel aller Wissenschaften sei „understanding“ und drücken das mit Tendenz zum Kategorienfehler wie folgt aus: „and this is precisely what mechanisms provide“. Wir werden uns gleich eine vorläufige Antwort auf die Frage des Erkenntnistheoretikers Lipton in der Allgemeinen Hermeneutik borgen (5.5), was uns eine ganze Ecke weiter bringen wird, auch im Hinblick auf eine Annäherung an die Praxis der Mini-„Anatomie“ (8.1). Viel besser als die zweifelhafte und eigentlich nutzlose Rede von der Methode des Verstehens154 passt in den Rahmen unserer Überlegungen, dass im Kontext von Verstehensproblemen, Bemühungen um Verstehen und Verstehen regelmäßig sinnvollerweise von Fragen gesprochen werden kann, wie es das Sesamstraßenmodell bereits besagte (5.2). Ein Forscher fragt sich irgendwann und muss sich irgendwann fragen – wenn er denn sicher darüber sein 154

Es wird Methoden geben, die dazu dienen, etwas zu verstehen bzw. das Ziel Verstehen zu erreichen. Manchmal werden diese gar unvorsichtigerweise „Verstehensmethoden“ genannt. Aber diese Methoden sind nicht Verstehen.

5.3 Eine Präzisierung: Verstehen. Was bleibt, was nicht?

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will, was er tut oder tun will – was er weiß (oder zu wissen glaubt) und verstanden hat, und was er nicht weiß und nicht verstanden hat, damit er weiß, wonach er suchen muss, was dann in einer Frage ausgedrückt wird. Um nichts anderes geht es letztlich im Kern bei der Beantwortung der Frage: Was ist das Problem? Wenn der Forscher dann erfolgreich war, sollte er seine Fragen beantworten können. Scholz schreibt zum Verstehen in einem ähnlichen Kontext, also vom Ergebnis her betrachtet: Verstehen von x geht typischerweise mit der Fähigkeit einher, Fragen zu x beantworten zu können. Verstehen von x geht typischerweise mit der Fähigkeit einher, neue Fragen zu x stellen zu können (Scholz 2011, 8). Man kann unser bisheriges Mini-Modell also teilweise auch nach „rechts“ iterieren: Verstehen = erweitertes und neu-strukturiertes Hintergrundwissen = neue Antworten → Neue Probleme → Neue Fragen → Neue Forschung → erweitertes Verstehen. Anders gesagt, wir können uns hier mit dem Historiker Ciro Cardoso daran erinnern, dass es auch in den Geschichtswissenschaften keine letzten Fragen und keine letzten Antworten gibt. Diese beiden Fähigkeiten sind in diesem philosophischen Kontext zwei Weisen, in denen sich das Verstehen von etwas als Disposition äußert bzw. äußern kann, also die Fähigkeit, nun alte Fragen beantworten und neue Fragen stellen zu können. Sollte es so sein, dass die Erfolge, die Geschichtswissenschaftler wie auch alle anderen Gruppen von Wissenschaftlern anstreben, mit „Verstehen“ gut bezeichnet sind, und dass sie um dieses Erfolges willen Forschung betreiben, dann ist auch das in diesem Kontext recht plausibel, wenn folgender Hinweis in die richtige Richtung führt: Dem Verb „verstehen“ kann sinnvoll das Hilfsverb „versuchen zu“ beigesellt werden. Das deutet darauf hin, dass das Verstehen zumindest partiell und indirekt willentlicher Kontrolle unterliegt. Man kann versuchen, etwas zu verstehen, sich bemühen und anstrengen, es zu verstehen. Vielleicht scheitert man bei dem Versuch; vielleicht ist der Versuch von Erfolg gekrönt. Der Grad des Erfolges wird in vielen Fällen eine Funktion der Anstrengung sein. (Scholz 2002, 5, 2008a, 72). Dass mit den Bemühungen um Verstehen verbunden ist, Fragen zu stellen, und mit dem Erreichen des Verstehens einhergeht, Fragen beantworten zu können, ermöglicht eine erneute Annäherung an die hypothetische Korrelativität von Erklärung und Verstehen an. Denn wenn die Korrelativitätsthese zutreffen sollte, dann müssten wir auch schreiben dürfen: (1) Wer Verstehen eines bestimmten Typs erreicht hat, kann Erklärungen eines bestimmten Typs geben. (2) Wer Verstehen eines bestimmten Typs erreicht hat, kann bestimmte Fragen (eines bestimmten Typs) beantworten. (3) Wer Erklärungen eines bestimmten Typs erreicht hat, kann bestimmte Typen von Fragen beantworten und hat damit Verstehen eines bestimmten Typs erreicht. Eine These lautet in diesem Kontext: Etwas verstehen = es erklären können (Schurz 2004). Ferner sollen, sozusagen umgekehrt (5.4), Erklärungen ex hypothesi zu Verstehen „führen“, es „hervorbringen“, „generieren“, „verursachen“ (oder ähnlich). Darauf kommen wir zurück, denn hier könnte eine Crux verborgen liegen. Nun wird es Zeit, Basales über „Erklärung“ zu erfahren, um einige Fallstricke auch hier zu vermeiden, d. h. etwas zu klären.

206

5.4

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

In „Etwas verstehen = es erklären können“ (Schurz 2004) im letzten Abschnitt ist Erklärung prima facie ein kriterieller Begriff. Dasselbe hatten wir auch bei M. Bunge (1997a, 456) gefunden: „I understand fact f if and only if I know a satisfactory explanation e of f.“ Das heißt offenbar zunächst, ein Kriterium (oder ein Indikator) dafür, ob eine Person etwas verstanden hat, ist, ob sie über eine Erklärung verfügt bzw. es erklären kann, was damit verbunden ist, eine Frage beantworten zu können oder, besser gesagt und damit etwas leicht anderes gesagt, faktisch zu beantworten. Als kriterieller Begriff bzw. eine Indikatorrelation gelesen, ist natürlich nur die faktische Erklärung (Ereignis) ein Indikator für das Verstehen, nicht das Verfügen über eine Erklärung. Schon an dieser Stelle drohen die Tücken des Ausdrucks „Erklärung“ für Unklarheit zu sorgen, die man auch in der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften umgehen oder zumindest etwas klären sollte. Wie wir gesehen haben, schrieb Peter A. Railton bereits: „Explanations are things used to produce, convey, or indicate understanding“ (Railton 1980, 6; 92, 116). Das Problem an dieser Behauptung ist im Kontext der Erklärungsproblematik, dass mit „Erklärung“ hier jeweils etwas leicht anderes gemeint ist oder gemeint sein kann, je nachdem, ob gesagt werden soll, Erklärungen produzierten Verstehen oder Erklärungen indizierten Verstehen oder Erklärungen übermittelten (oder kommunizierten) Verstehen. Letztere Erklärung ist zum Beispiel eine Tätigkeit („Erklären“), im ersten und zweiten Fall ist dies nicht so oder es drohen Ambiguitäten. Diese Ambiguitäten können mit dem Problem verbunden sein, ob an Gleichungen wie „Verstehen = es erklären können“ etwas Spannendes zu finden ist, z. B. im Wissenschaftskontext. Auch das hängt davon ab, was genau hier unter „Verstehen“ und „Erklärung“ verstanden wird. Wenn es zuvor hieß, mit Verstehen sei die Fähigkeit verbunden, alte Fragen beantworten und neue stellen zu können, dann wird in der Verbindung dieser Thesen zum Verstehen mit der These der Korrelativität von Erklärungstypen und Verstehenstypen die These, dass jene Antworten auf Fragen, die Verstehen indizieren, als Erklärungen aufzufassen sind. Aber aus einer methodologischen Sicht ist der Zusammenhang fraglich, da nicht jede Antwort auf eine Frage („Erklären“) eine Erklärung im hier vielleicht einschlägigen Sinn ist. Diese Schwierigkeit wie auch die Ambiguität des Ausdrucks „Erklärung“ sieht man daran, dass wir hier auch so etwas schreiben könnten wie Haben einer Erklärung = erklären können, denn man könnte sagen, ein Kriterium (oder Indikator) dafür, ob jemand über eine Erklärung verfügt oder etwas erklären kann, ist, dass er zu einem Zeitpunkt tatsächlich eine Erklärung gibt. Man kann daher z. B. herausfinden, ob jemand über eine Erklärung verfügt, etwas erklären kann oder etwas verstanden hat, indem man ihm Fragen stellt, die Topolski (1976) „diagnostische Fragen“ nennt. Das Problem dürfte an dieser Stelle sein, dass die Identitätsbehauptung in „Etwas Verstehen = es erklären können“ an dieser Stelle noch uninformativ ist, weil bloß gesagt wird, eine Disposition, die „Verstehen“ genannt wird, sei eine Disposition, eine Erklärung formulieren zu können, d. h. über eine Erklärung zu verfügen (= Verstehen). Das hilft uns wenig, zum Beispiel erläutert es nicht die These, Erklärungen seien Mittel des Verstehens oder Erklärungen führten zum Verstehen. Es heißt im Kontext der Korrelativitätsthese ja auch wie folgt: „Erklärungen sind Mittel des Verstehens“ (Schurz 2004, 169). Die These drückt nicht dasselbe aus wie die These „Etwas verstehen = es erklären können“. Zuvor wird eine Art ZweckMittel-Relation zwischen Verstehen und Erklärung angenommen, wohingegen im letzten Fall entweder eine Indikatorbeziehung zwischen dem Eine-Erklärung-Geben und Verstehen oder eine Art Identitätsbehauptung zu finden war, also so etwas wie Verstehen ist eine Erklärung haben oder besteht im Verfügen über eine Erklärung.

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

207

Das offensichtlichste Problem ist zunächst an dieser Stelle aber, dass uns dies nicht erläutert, was Verstehen ist und was eine „Erklärung“ genauer ist. Ferner sagt uns das noch nichts darüber, worin der Zusammenhang genauer besteht. Irgendeinen Zusammenhang brauchen wir aber, wenn sich die Hypothese plausibilisieren lassen soll, dass der Weg von Forschung zum Verstehen führt und eine Zwischenstation irgendetwas wie Erklärung gegebenenfalls ist. Dies müssen wir nun ein wenig aufklären. Zwei der simplen, aber offensichtlich sehr schwer zu beantwortenden Fragen sind: Was meint „Erklärung“ oder was ist eine Erklärung? Was meint „Verstehen“ oder was ist das Verstehen? Eine Strategie zur Auflösung der Schwierigkeit könnte folgende sein: Wir müssen die Korrelativitätsthese in einem Forschungskontext zu situieren versuchen und verschiedene Erklärungsverständnisse auseinanderhalten, die bis hierhin nicht getrennt worden sind. Dabei wird als Nebeneffekt auch klar, warum so viele Geschichtswissenschaftler seit 1942 und bereits zuvor nicht verstehen konnten, warum Philosophen so ein Getöse um Erklärungen machen. Das liegt daran, dass sie zum einen die in philosophischen Erklärungsvorstellungen verborgenen Metaphysiken (teilweise) nicht nachvollziehen können (Kapitel 6, 4.2) und ferner häufig ein anderes Grundverständnis von „Erklärung“ zugrunde legten, über das sich Philosophen in der heißen Phase der Erklärungskontroversen auch schon nicht recht einigen konnten (z. B. Hempel 1963, 1965; Scriven 1959, 1962) und bis heute nicht einigen können (z. B. Tucker 2004a/b). Man redete also teilweise wohl einfach aneinander vorbei, wohl auch dann, wenn Geschichtswissenschaftler in ihrer Rolle als Geschichtstheoretiker die These kursorisch in den Raum stellen, Erzählung sei Erklärung. Die Verwirrungen rühren hier zunächst daher, dass grundsätzlich verschiedene allgemeine Erklärungsverständnisse zu differenzieren sind. Die Philosophin der Geschichtsdidaktik Jane R. Martin hat bereits auf diesen Unterschied hinweisend vermerkt: An explanation is not a doing at all. To be sure, one can do things with explanations and to explanations. One can give or present an explanation; arrive at, come up with, find, or discover an explanation; listen to, appreciate, ignore, or dismiss an explanation; and so on. But although the things one does with or to explanations may themselves be doings, the explanations one does things with or to are not doings. Explanations, then, are not something one does but are sentences or statements of some sort or other (J. R. Martin 1970, 13 f.). So klar ist das aber wohl nicht, denn unterschiedliche Autoren verwenden einfach den Ausdruck „Erklärung“ unterschiedlich, nämlich im Sinne von „Erklären“, wie oben teilweise im Rahmen der kriteriellen Verwendung. Ich nenne dasjenige, was J. R. Martin hier vorschwebt, ein „methodologisches“ Erklärungsverständnis. Manche nennen Spielarten davon auch „logische“ Erklärungsverständnisse, wenn unter Erklärungen Argumente verstanden werden, andere nennen ein solches Erklärungsverständnis „objektiv“. Hier werden unter Erklärungen Sätze oder Satzgefüge unter der Hinzuziehung weiterer epistemischer (Rechtfertigung, Wahrheit) und ontologischer Kriterien (Kausalität, Mechanismen, Gesetze, Dispositionen, Strukturen, zeitliche Relationen, was auch immer) und unter Absehung von sämtlichen pragmatischen Kontexten verstanden, wohingegen in einem pragmatischen Erklärungsverständnis unter Erklärungen Handlungen verstanden werden, das Äußern von etwas, vielleicht von einer „Erklärung“ im methodologischen oder objektiven Sinn. Wenn es heißt, „Verstehen = erklären können“, könnte der hier verwendete Begriff von „Erklärung“ zunächst rein pragmatisch sein und mit einem methodologischen oder „objektiven“ Erklärungsbegriff oder, wie es bezogen auf eine spezifische Idee auch mal hieß, „theore-

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

tischer Erklärung“ (Esser et al. 1977), rein gar nichts zu tun haben. Was „pragmatisch“ genauer heißen kann, wollen wir gleich grob klären. Klar dürfe sein, dass Thesen über Verstehen als Ziel von Forschung und über den Zusammenhang von Erklärung/Erklären und Verstehen genau dann uninteressant zu werden drohen, wenn mehr oder weniger alles unterschiedslos eine Erklärung oder ein Erklären in einem sehr pragmatischen Sinn ist und damit bereits Verstehen verbunden sein soll. Da „Verstehen“ regelmäßig in der geschichts- und sozialphilosophischen und theoretischen Literatur mit heilloser Subjektivität verbunden ist, weil Verstehen als Ziel regelmäßiger mit intuitionistischer Methodologie identifiziert worden ist, sei ein Problem nur benannt, das Peter T. Manicas in seiner „Realist Philosophy of Social Science“ folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: „We need, of course, to be wary of an account of understanding which is subjective in the sense of it being entirely arbitrary what will count as generating understanding“ (Manicas 2010, 13). Dasselbe gilt auch im kriteriellen Kontext oder Indikatorkontext, wenn völlig pragmatisches Erklären mit dem Vorliegen von Verstehen verbunden werden würde, und nicht nur für dasjenige, was hier mit „generating“ angedeutet wird und zuvor mit „Mittel“ angedeutet worden ist. Im Kontext der obigen Indikatorrelation zwischen Verstehen und Erklärung oder dem Erklärenkönnen muss man einen methodologischen oder „objektiven“ Erklärungsbegriff voraussetzen, der letztlich mehr Substanz hat. Die mögliche Subjektivität und deren Vermeidung hat aber – wir wissen es nun – nichts mit einer Methode des Verstehens zu tun, die es ja nicht gibt, sondern zunächst mit der möglichst exakten Festlegung des Gegenstandes, der diesen Gegenstand betreffenden Hypothesen wie auch der Bedingungen der Rechtfertigung dieser Hypothesen und einer Klärung dessen, was in einem solchen Kontext „Erklärung“ genannt zu werden verdient. Kurz gesagt, um heikle methodologische, epistemologische und ontologische Annahmen ist letztlich kein Herumkommen, wenn der Zusammenhang zwischen einem (objektiven) Verstehen und (objektiver) Erklärung hergestellt werden soll. Anders gesagt, im Antirealismus-Relativismus sind alle Katzen genauso grau wie in einem plumpen Pragmatismus. Ausgehend von den zwei groben „subjektiven“ oder „pragmatischen“ und der „objektiven“ oder „methodologischen“ Erklärungsauffassungen und der kriteriellen Verwendung, kann man nun weitere Differenzierungen vornehmen, um im weiteren Verlauf unnötige Unklarheit zu vermeiden, wodurch auch der von mir betonte Forschungskontext wieder in den Fokus gerückt wird, also eigentlich etwas, das in gewissem Sinn durchaus im Höchstmaß „pragmatisch“ ist. Am Ende haben wir wieder eine Liste zusammen. Es wird hier die folgende sein: (i) Kriterieller oder diagnostischer (Cum-grano-salis-)Erklärungsbegriff155 (ii) Methodologischer oder „objektiver“ Erklärungsbegriff (iii) Dynamischer (oder episodischer) Erklärungsbegriff (iv) Statischer Erklärungsbegriff (v) Episodischer Erklärungsbegriff (vi) Pragmatischer Erklärungsbegriff (vii) Erotetischer Erklärungsbegriff (viii) Erklärungsbegriff im Rechtfertigungskontext (ix) Reifizierender (oder „metaphysischer“) Erklärungsbegriff

155

Eigentlich handelt es sich um eine Mischform aus rein pragmatischem Erklärungsbegriff und einem erotetischen Erklärungsbegriff, soweit keine weiteren Annahmen hinzutreten.

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

209

In der kriteriellen Verwendung von „Erklärung“ im Kontext der Korrelativitätsthese ist eine Erklärung eine Tätigkeit, nämlich das Erklären. In einem anderen Kontext kann mit „Erklärung“ auch gemeint sein, dass jemand etwas findet, sozusagen im Verlauf der Forschung, oder es kann gemeint sein, dass jemand über eine Erklärung verfügt (z. B. nach einer Forschungsperiode). Hier geht es um Erklärungen in einem methodologischen oder „objektiven“ Sinn. Wenn es darum geht, dass eine Person oder ein Forscher etwas noch nicht hinreichend verstanden hat, aber dennoch Verstehen anstrebt, dann würde man trivialerweise oftmals sagen, sie sucht eine Erklärung. „Erklärung“ hat hier eine methodische und im disziplinären Kontext teilweise eine methodologische Konnotation. Es geht darum, etwas zu suchen und zu finden oder herzustellen. Metaphorisch gesprochen, soll eine Lücke geschlossen oder ein Mangel behoben werden (Abbildung 11, S. 181). Das globale Ziel ist Verstehen, soweit die These des Zusammenhangs von Erklärung und Verstehen stimmt. In diesem Kontext kann man eventuell, wie bereits zitiert, sagen: „Erklärungen sind Mittel des Verstehens“ (Schurz 2004, 169), denn mit dem Finden der Erklärung erreicht man Verstehen. T. Haussmann (1991) sprach in ähnlicher, dennoch anderer Richtung im Kontext der Geschichtsphilosophie von Erklärung als „Verfahren“. Hempel schrieb in ähnlichem Kontext (1962, 19) von „explanatory procedures“, obwohl beide Redeweisen genau dann verwirrend sind, wenn unter Erklärungen Sätze oder Satzgebilde verstanden werden (also abstrake Dinge oder Systeme; Kapitel 7).156 In dieser Stoßrichtung unterschied G. Schurz einen etwas gewöhnungsbedürftigen „statischen Erklärungsbegriff“ von einem „dynamischen Erklärungsbegriff“, welcher der Sache nach trifft, was hier gemeint ist. Die Redensart ist wie die in den vorherigen Absätzen gewöhnungsbedürftig, weil Erklärungen dabei in dem Kontext von Forschungsprozessen situiert werden, was zumeist unterlassen wird: Eine weitere Unterscheidung, die in korrelierter Weise für Verstehen und Erklären gemacht werden kann, ist die zwischen dem statischen Erklärungsbegriff, der über einen stationären epistemischen Zustand eines Subjekts aussagt, dass in ihm etwas verstanden wird bzw. erklärt werden kann, und dem dynamischen Erklärungsbegriff, der eine epistemische Zustandsveränderung eines Subjekts beschreibt, worin eine neue Erklärung gefunden wird und damit etwas Neues verstanden wird. Die Vernachlässigung dieser Unterscheidung führt ebenfalls leicht zu begrifflichen Konfusionen: Es muss klar sein, ob mit Erklären das Haben einer Erklärung (im Sinne eines Argumentes) oder das Finden einer Erklärung im Sinne eines hypothesengenerierenden, sogenannten abduktiven Prozesses gemeint ist (Schurz 2004, 169).157 Wenn man hier Schwierigkeiten mit dem Verstehen dieser Passagen hat, kann dies daran liegen, dass „Erklärung“ eben auch schlicht und ergreifend weder das Haben einer Erklärung noch das Finden einer Erklärung meinen kann (vor allem im Wissenschaftskontext), sondern den von J. R. Martin oben vorgesehenen Zusammenhang von Sätzen, bei dem von Personen völlig abstrahiert wird. Unter „Erklärungen“ werden in manchen philosophischen Kontexten ganz einfach solch abstrakte Objekte, Abfolgen, Zusammenhänge oder Systeme von Sätzen, z. 156

157

Aus dieser Sicht war der manchmal sogenannte „Methodendualismus“ zwischen Erklärung und Verstehen doppelt schräg, denn Verstehen ist keine Methode und Erklärungen als abstrakte Systeme aus Sätzen sind es auch nicht. Kurz festhalten will ich noch, dass die mit Scholz oben getroffene Unterscheidung zwischen dem episodischen Sinn von „Verstehen“ und dem dispositionalen von „Verstehen“ mit der Unterscheidung von Schurz zwischen einem dynamischen Begriff von „Erklärung“ und einem statischen Begriff von „Erklärung“ weitgehend zusammenfällt bzw. „korreliert“, wenn ich recht sehe.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

B. ein deduktiv-nomologisches Argument, ein Modell, eine Theorie, eine Erzählung verstanden, deren logische Struktur, d. h. die Gesamtheit der Relationen zwischen Prämissen und Konklusionen, die man früher in philosophischen Erklärungsdebatten in der analytischen Philosophie (auch der „Geschichte“, z. B. M. G. White 1965) aufzuklären suchte. Diese Problematik wird dann generisch in folgender Frage ausgedrückt: Was ist eine Erklärung (als Abstraktum)? Die Antwort lautet: Ein Modell, das diese Form und/oder jenen Inhalt hat. Hempel (1963, 147) schrieb in diesem Kontext auch von Erklärung als „nonpragmatischer, metatheoretischer“ Begriff, wobei „non-pragmatisch“ in diesen Kontexten heißen kann, dass (a) von Interaktionen zwischen Personen und ferner auch (b) von Wissenden, Erklärenden und Verstehenden, einem Wissenschaftler und damit auch von dessen Überzeugungen zu verschiedenen Zeitpunkten in einem Forschungsprozess abstrahiert wird, was auch heißt, dass „Erklärung“ hier in gewissem Sinn ein non-kognitiver Begriff ist, da nur konkrete Individuen (Personen etc.) etwas wissen können und wollen und manchmal nach Erklärungen verlangen, um – so die Hypothese – etwas zu verstehen. Zusammenhänge von Sätzen, also Erklärungen in diesem Sinne, wissen und verstehen überhaupt nichts. Im Logischen Empirismus galt solche Pragmatik teilweise als (zu vermeidende) Psychologie, obwohl – worauf wir noch kurz kommen werden – auch beispielsweise Hempel behauptete, das Ziel der Erklärung sei Verstehen (z. B. Hempel 1972), woraus in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie eine (damals) neue Verstehensphilosophie entstanden ist (vgl. Schurz 1988). Der Unterschied zu einem Hempel-Popperschen Erklärungsverständnis liegt darin, dass – so weit ich sehe – Schurz (vgl. Schurz 1983) im Rahmen der Unterscheidung von dynamischen und statischen Erklärungsbegriffen eben die Loslösung dieses Erklärungsbegriffs von konkreten Personen und ihren „epistemischen Zuständen“ aufgibt. Im Popper-Hempelschen rein logischen Sinn von „Erklärung“ als Zusammenhang von Sätzen (Explanans plus impliziertem Explanandum, Kapitel 6.1, Fußnote 180) hat Erklärung natürlich auch nichts mit einem Finden, Haben oder Äußern zu tun, sondern ein Zusammenhang von Sätzen ist ganz einfach als abstrakter Gegenstand eine Erklärung oder ist es nicht, wenn die damals so genannten empirischen und logischen „Adäquatheitsbedingungen“ erfüllt sind (Hempel 1942, 1965, 1977; vgl. noch Schmid 2006a/b, Schmid/Maurer 2010). M. Scriven hatte schon eine solch „dynamische“ Auffassung bezüglich Erklärung vor Augen, wenn auch er im Kontext der Hempel-Kritik schrieb und hier nicht einen rein pragmatischen Begriff (s. u.) vor Augen hatte: „Whatever an explanation does, in order to be called an explanation at all it must be capable of making clear something not previously clear, i. e., of increasing or producing understanding of something“ (Scriven 1962, 175). Dass man im Forschungskontext von einem methodischen Begriff sprechen könnte, soll an dieser Stelle bloß den praktischen Zusammenhang andeuten, der ja darin besteht, vom Zustand des Nicht-Verstanden-Habens (dem Problem) bzw. dessen Feststellung zum Verstehen über den Weg der Erklärung oder das Finden einer Erklärung im Prozess der Forschung zu gelangen. Das ist der vermutete Link zwischen Forschung, Erklärung als Mittel und Verstehen als Ziel. Dass man hier von einem methodologischen Begriff von Erklärung sprechen könnte, soll andeuten, dass es in diesem Kontext von Wissenschaften auch darum gehen kann, zu klären, welche abstrakten Eigenschaften dasjenige haben soll, das man gerne eine „Erklärung“ nennt, damit das Ziel, nämlich das Verstehen, im jeweiligen Kontext überhaupt oder möglichst umfassend erreicht und vielleicht möglichst effektiv, vielleicht auch intersubjektiv überprüfbar und nach weiteren disziplinären oder philosophischen Normen, erreicht wird. Man kann diese non-pragmatischen, objektiven oder methodologischen Erklärungsvorstellungen dann wie früher regelmäßiger im geschichtsphilosophischen Kontext und heute erneut bei A. Tucker (2004a/b) kritisieren, sollte aber in Rechnung stellen, was der Anspruch

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

211

in solchen Fällen ist, denn es geht hier eben um letztlich normative Erkenntnistheorie (i. e, Methodologie), nicht um die bloße Beschreibung einer (als gut vorausgesetzten) Praxis oder „pragmatische“ Erklärungsvorstellungen, wie wir sie gleich zur Kenntnis nehmen werden. Im Hintergrund stehen dann in aller Regel auch im Höchstmaß kontroverse ontologische Thesen, worauf wir noch kommen werden (Kapitel 6). Das Dilemma für non-pragmatische, objektive oder methodologische Erklärungsvorstellungen ist, dass es kein klares und unumstrittenes methodologisches Erklärungsverständnis in den Sozialwissenschaften (inklusive Geschichtswissenschaften) gibt, das zugleich als plausible Norm gelten kann, weil es auch eine signifikante Praxisrelevanz hat, d. h. zunächst eine signifikante Realität in der Praxis. Das ist keineswegs, trotz der hier eingenommenen pragmatischen und in normativen Angelegenheiten zurückhaltenden Haltung (Kapitel 2), von vornherein illegitim. Geschichtswissenschaftler unterschiedlicher Schulen vertreten auch, nämlich in ihren Rollen als Geschichtstheoretiker, methodologische oder „objektive“ Erklärungs- oder Verstehensbegriffe auch jenseits der Übernahme von Annahmen aus den Erklärung-Verstehen-Erzählen-Diskursen, d. h., sie denken oder schreiben gar manchmal so etwas wie: Wenn du Gegenstand soundso einer geschichtswissenschaftlichen Erklärung/geschichtswissenschaftlichem Verstehen/geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis näherbringen möchtest, dann gehe, unter der Voraussetzung folgender Annahmen ... nach dem Muster ... vor. Es handelt sich hier vermutlich bloß um andere Annahmen als in der philosophischen Tradition und auch teilweise implizite Annahmen. Ein nützliches Projekt, das hier nicht realisiert werden kann, wäre natürlich, die unterschiedlichen Ansätze (4.1.5) in den Geschichtswissenschaften einmal im Detail in dieser Hinsicht (vergleichend) zu untersuchen, um nicht nur zu klären, welche sachlichen Annahmen dort überhaupt eine Rolle spielen, sondern auch um zu klären, welche methodologischen Annahmen eine Rolle oder aber auch keine Rolle spielen. Sogar innerhalb der Anatomie betreiben Topolski (1994a, 1979 1965), Medick (1996) und Frings (2007) explizit Metatheorie und teilweise Methodologie von Erklärung und Verstehen. Auch hier wird ganz einfach auf geschichts- und teilweise sozial(meta)theoretischer Seite eine andere Sprache gesprochen.158 Der Unterschied zwischen einer dynamischen und einer statischen Betrachtung der Erklärungsproblematik („Begriff“) ist aber sehr wichtig, gerade in dem Kontext, in dem wir uns seit der Formulierung der Frage „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ befinden. Ich habe oben angenommen, Forschung sei der Weg von einem kognitiven Zustand (Eigenschaften) zu einem anderen Zustand (bzw. anderen Eigenschaften; 7.3.5). In Schurz Terminologie übersetzt, die – so weit ich sehe – weitgehend dasselbe meint, heißt dies, dass in der Forschung von einem „Wissenssystem“ oder – aufgrund des im Wissenschaftskontext allseits anerkannten Fallibilismus etwas abgeschwächt – „Hintergrundsystem“ W zu einem anderen Überzeugungssystem W* übergegangen wird, wobei im Erfolgsfall gelten soll, dass die Person, deren Eigenschaft W* ist, eine Frage beantwortet hat und dann beantworten kann, die sie zuvor, als sie die Eigenschaft W hatte, nicht beantwortet hatte oder beantworten konnte. Das kann dann dazu führen, dass eine diagnostische Frage, von wem auch immer gestellt, anschließend tatsächlich beantwortet wird, was – so die Hypothese - ein Indikator für Verstehen ist. Bei dem Übergang von W zu W*, also beim „dynamischen Erklärungsbegriff“, geht es um „wissensdynamische Relationen“, um „Erklärung“ im dynamischen Sinn, um das Finden einer, ja, einer Erklärung.

158

Häufiger dürfen sich solche Annahmen auch hinter der Rezeption von soziologischer oder sozialwissenschaftlicher (Meta-)Theorie verbergen (z. B. Berger/Luckmann, Giddens, Luhmann, Bourdieu oder auch Foucault).

212

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Nicht viel anderes soll hier mit dem intendierten Fokus auf Forschung mit in den Blick genommen werden, die sofort vergessen zu werden droht, wenn die „Wissensdynamik“ aus dem Blick gerät und, z. B., unter „Wissenschaft“ (2.1) bloß Abfolgen oder Zusammenhänge von Sätzen verstanden werden, z. B. auch in „Geschichte ist Erzählung“. Gerade dieser Betrachtung von Forschungsdynamiken macht die Sache aber teilweise schwieriger und kontraintuitiver, gerade auch im Kontext der Mini-„Anatomie“. Im Fall des Verstehens bedeutet die Einnahme der „dynamischen Betrachtungsweise“: Sagt man, daß eine Erklärung von E Verstehen von E bewirkt, so sind darin offenbar ebenfalls zwei Wissenssysteme involviert: eines, in dem E noch nicht verstanden wurde (= W), und eines, in dem E verstanden wurde (= W*) (Schurz 1988b, 236). Dass E hier in W noch nicht verstanden wurde, äußert sich im Fall des Forschers zu Beginn eines Forschungsvorhabens in einer Frage F, die er sich stellt, und die Antwort A bzw. die Erklärung E liefert ex hypothesi das im „System“ W für Verstehen von E Fehlende, was in der Gesamtheit W* ausmacht.159 Doch auch hier ist prima facie seltsam, wie Verstehen, das die Fähigkeit (Disposition) eine Erklärung äußern zu können sein soll, „bewirkt“ wird durch eine Erklärung. Hier ist erstens eventuell schnell wieder zweierlei mit „Erklärung“ gemeint und, zweitens, ist hier zu fragen, wer die Erklärung findet oder gibt (äußert), die das Verstehen – so die Hypothese – „bewirkt“, denn ansonsten landet man bei demjenigen, was ich ein „pragmatisches“ Erklärungsverständnis nenne. Was hier im Zweifelsfall Verstehensschwierigkeiten macht, ist, dass das „Bewirken“ des Verstehens durch die Erklärung (methodologischer Sinn) oder das Finden der Erklärung („Dynamischer Erklärungsbegriff“) bzw. das „Erklären“ von etwas im Fall der Forschung in Einsamkeit und Freiheit ganz einfach im Finden einer Erklärung selbst besteht und daher auch die Formulierung, die auf Kausalität zurückgreift, schnell seltsam ist, weil nicht klar ist, was dort überhaupt worauf in welchen Sinn „wirken“ könnte.160 Der Gedanke drängt sich dann auf, dass dieses Finden das Analogon zum Verstehen als Episode bzw. Ereignis ist. Dann erhalten wir in der asozialen oder apragmatischen Variante (im unten folgenden Sinn), dass das „Finden einer Erklärung“ das Finden jener (strukturierten) Informationsmenge ist, welche im Überzeugungssystem W*, aber nicht in W eines und desselben Forschers enthalten ist (ceteris paribus). Würde man, metaphorisch gesprochen, W von W* sozusagen subtrahieren, dann hätte man die Erklärung bzw. die explanatorischen Informationen gefunden. Diese Information ist in gewissem Sinn dasjenige, was erklärt und Verstehen hervorbringt und insofern kann man durchaus sagen, Erklärungen im Sinne des Findens von Informationen oder strukturierten Informationen seien ein Mittel des Verstehen. Die Frage ist dann, um was für Informationen über was handelt es sich? Darauf kommen wir zurück, wenn wir eine Klärung der Frage übernehmen, was Verstehen ist. Hier stellen sich natürlich auch Fragen nach methodologischen (und weiteren logischen) Kriterien, ob z. B. die gefundene Informationsmenge in Kombination mit demjenigen, was vielleicht schon zuvor bekannt war, ein Argument ergeben muss (und eine Covering-Law-Erklärung). Klassisch betrachtet ist eine durchaus bleibende Frage, ob diese Information, die Erklärung und Verstehen erlaubt, in singulären oder generellen Sätzen ausgedrückt werden muss.

159

160

Eine „Erklärungsepisode“ nennt Schurz (1988, 239) ein Vier-Tupel x = , „F“ steht für Frage, „A“ für Antwort und „W“ und „W*“ für die entsprechenden Wissenssysteme bzw. Hintergrundsysteme bzw. Überzeugungssysteme. Was wir „Problem“ genannt haben, ist also der Mangel in „W“. Ich würde – allein aus Sicherheitsgründen – das kausale Vokabular nicht verwenden.

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

213

Ob das Haben einer Erklärung im Haben eines bzw. Verfügen über ein Argument besteht, wie im vorletzten langen Zitat vorausgesetzt wird, lasse ich auch vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“ (4.2) natürlich offen, zumal dies seit Dekaden gerade im geschichtsphilosophischen Kontext notorisch umstritten ist und auch nicht klar ist, woher Geschichts- und Sozialwissenschaftler die generellen Prämissen in jedem Einzelfall nehmen sollen, welche generellen Sätze als explanatorisch gelten sollen und die geschichts- und sozialwissenschaftliche Praxis von Erklärungsargumenten nicht gerade überschäumt, obwohl wir am Ende mehr finden werden, als Geschichtsphilosophen gewöhnlich geglaubt zu haben scheinen, was aber auch keine klare Lage am Schnittpunkt von Philosophie, Sozial(meta)theorie und geschichtswissenschaftlicher Praxis ergibt (Kapitel 6). Eine andere Sicht wäre in der an J. R. Martin angelehnten (metaphorischen) These zu sehen, dass das Finden einer Erklärung das Schließen einer kognitiven „Lücke“ ist. „It is assumed that for explaining to take place there is some gap and that explaining involves filling that gap“ (J. R. Martin 1970, 59). Es dürfte auffallen, dass bei J. R. Martin hier der „dynamische Erklärungsbegriff“ gemeint ist und dass hier nicht der noch unten zu thematisierende pragmatische Erklärungsbegriff gemeint ist, dessen Anwendung zwei Personen erfordert. Wir können also die Frage, ob und inwiefern Erklärungen, die Verstehen hervorbringen (oder indizieren), Argumentform haben müssen oder nicht, einfach umgehen, zumal die Stimmen, die das nicht für erforderlich halten (z. B. schon Railton 1980; vgl. Forland 2004), zahlreich sind und wir eine Positionierung anstreben, die möglichst Heterogenes ohne Vulgärpluralismusund -pragmatismus wenigstens grob integrieren kann. Die gesuchte Information könnte also auch bloß mit singulären Sätzen beschrieben werden. Am Rande der Geschichtsphilosophie wurden diesbezüglich mal ganz kurz singuläre Kausalaussagen („Erklärungen“) wie „Das Tintenfass liegt auf dem Boden, weil Michael Scriven dagegen gestoßen hat“ (Scriven 1959) diskutiert. Die möglichen Zusammenhänge sind nun leicht zu sehen: Denn Probleme haben wir zuvor ganz grob als Lücken und Strukturmängel in Überzeugungssystemen bestimmt, wobei diese Probleme mitsamt jenen Lücken oder Mängeln in Fragen ausgedrückt werden. Walther (1985, 4.1) sprach davon, mit Problemen und den Fragen, in denen sie ausgedrückt werden, sei ein „Informationswunsch“ verbunden. In J. R. Martins Erklärungs- und Verstehenslehre ist also bloße Informationsfindung das Desiderat bzw. das Finden oder Erhalten relevanter, singulärer Information. Auch in P. A. Railtons (1980, 425, passim) Modell ist Erklärung die Bereitstellung von einer bestimmten Art von Informationen, die in seiner Metaphysik genauer spezifiziert werden, und in Argumentform erhoben oder verbreitet werden können oder eben auch nicht. Wenn der Zugewinn anerkannter und als explanatorisch eingeschätzter genereller Sätze (oder gar „Gesetze“) die Struktur von Überzegungssystemen verändern und dadurch Verstehensprobleme gelöst werden, dann führen auch diese Informationen zu verstehen. Die entsprechenden Erklärungen, verstanden als Systeme von Sätzen, nehmen dann (ggf. explizit) die Argumentform an (6.1.). Wie in allen Fällen gilt: Man braucht für alles bloß Beispiele. Im Fall von P. Kirby (1995, 3.1.8) ist es offenbar durchaus so, dass allgemeine Hypothesen über den hypothetischen Zusammenhang von „sunlight deprivation“ und körperlichem Wachstum einen Schlüssel zum besseren Verständnis bereitgestellt haben (6.1). Was wir bei Schurz finden, ist in etwas anderer Terminologie nichts Anderes als dasjenige, was wir zuvor mit der Lösung eines Problems und der Behebung eines kognitiven Mangels durch die Erfüllung eines Informationswunsches umschrieben haben (W → W*). Wenn das so ist, dann nähert man sich zumindest der folgenden forschungsmethodologischen Abhängigkeitskette: Problem → Erklärung (dynamisch) → Verstehen (episodisch) → neues Problem.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Wir können auch noch einen (v) episodischen oder ereignishaften Erklärungsbegriff unterscheiden, indem „Erklärung“ wieder etwas leicht Anderes heißt, nämlich die Anwendung einer Erklärung im methodologischen oder „objektiven“ Sinn eines weiter spezifizierten Zusammenhangs von Sätzen, z. B. die Anwendung einer Theorie oder eines Modells oder eines Popper-Hempel-Oppenheimschen Explanans auf einen Fall oder dass „Einpassen“ eines Falles in eine Theorie.161 Etwas erklären bzw. eine Erklärung von x ist in dieser episodischen oder ereignisartigen Spielart aber eben auch ein Tun, nicht nur das Einer-Person-etwasErklären (anders tendenziell, s. o., J. R. Martin 1970). Da wir dies hier erwähnen, sei hinzugefügt, dass nicht klar ist, ob Geschichtswissenschaftler und Sozialwissenschaftler in der Breite über irgendetwas verfügen, das irgendworauf schlicht „angewendet“ werden kann. Es heißt ja regelmäßig auf Seiten von Sozialwissenschaftlern, in den Sozialwissenschaften würde jeder Forscher immer insofern neu anfangen, als er die Erklärung („Theorie“, „Modell“, „Argument“, „Erzählung“ etc.) bzgl. jedes Forschungsgegenstandes immer wieder erst völlig neu erfinden muss, und dass dasjenige, was da gefunden wird, auch nur auf diesen einen Fall und auf keinen anderen passt, was von der Geschichtswissenschaft ja in besonderem Ausmaß gelten soll. Das Stichwort lautet hier ontischer und/oder methodologischer„Idiographismus“, manchmal auch „Historismus“ genannt (siehe Topolski 1976). Das heißt, der Transfer von einmal erfundenen Theorien oder Erklärungen auf andere Explananda gilt als mehr oder weniger inexistent, was sich auch anhand des Fehlens von „Gesetzen“ in Sozialwissenschaften illustrieren ließe (Kapitel 6.1). Eine bekanntere Ausnahme sind eventuell einzig deduktiv-nomolologische Erklärungen als Anwendungen jener oft auch „Theorie“ genannten Gesetzeshypothesen, die (Kandidaten für) Handlungsgesetzeshypothesen sind (Kapitel 6.2). Zumindest ist eine solche „episodische“ Anwendung einer Theorie, allerdings z. B. im Rahmen komplexerer sogenannter „mehrstufiger Erklärungsargumente“ (Schmid 2005a/b, 2006a/b), das (normative) Postulat von methodologischen Individualisten oder Strukturindividualisten (7.2): Unabhängig vom Erfolgsschicksal eines Handelns aber gilt, dass eine individuelle Handlung zu erklären zu zeigen heißt, wie sich der sie beschreibende Satz aus den handlungstheoretischen Annahmen und den (kontingenten) Thesen über das Vorliegen spezifischer Struktur- oder Situationsbedingungen logisch ableiten lässt (Schmid 2006a, 21). Eine klassische Idee aus der Covering-Law-Literatur im Kontext der Geschichtswissenschaften war, dass Geschichte als eine am Singulären interessierte Disziplin ein Anwendungsbetrieb von (sozial-)wissenschaftlichen allgemeinen Theorien oder „Gesetzen“ sei. Mit gewisser Tendenz in diese Richtung nannte Cohen (1947, 38) Geschichtswissenschaft („history“) eine „applied science“. Hier würde also sozusagen ein Hempel-Poppersches Explanans, dessen allgemeine Prämissen aus „der Wissenschaft“ (2.1) stammen, durch einen Historiker, der singuläre Prämissen beisteuert, auf ein Explanandum in einem Schluss angewendet und man hätte eine Instanz dieses episodischen Erklärungsverständnisses und zugleich eine CoveringLaw-Erklärung nach allen Regeln der Kunst. Die Auffassung ist weitestgehend völlig verschwunden, zumindest als generelle Auffassung von Geschichtswissenschaft als Wissenschaft.162 161

162

Wenn ich recht sehe, finden sich derartige Vorstellungen bei Lambert (1988, Lambert/Brittan 1991) und teilweise in van Fraasens (1988, 53) Behauptung, „wissenschaftliche Erklärungen“ machten „von der Wissenschaft Gebrauch“. Auch hier ist ein Problem das überbordende Abgrenzungsbestreben innerhalb von Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie (zu finden auch in Tucker 2004a/b), denn völlig falsch sind die Vorstellungen auch

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

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Von all dem zuvor Genannten sind wiederum (vi) Erklärungen in einem pragmatischen Sinn strikt zu unterscheiden, was z. B. Dray (1957), Gallie (1965), teilweise Scriven (1959, 1962) und zahllose Geschichtsphilosophen in der klassischen Kontroverse stellenweise versäumt haben. Das führte dann zumindest teilweise zu dem von Hempel (1965) bemerkten Aneinandervorbeireden, das sich zwischen Philosophen und Geschichtswissenschaftlern häufiger wiederholt hat. Dies ist eine Art dessen, was manchmal „subjektive“ Erklärung genannt wird. In diesem Kontext heißt es schlicht, (i) eine Person p erklärt einer Person q ein x, oder es heißt (ii) eine Person p legt Person q eine Erklärung E von x dar, oder es heißt, mit Hempel (2001 1963, 82) gesprochen, (iii) Person p erklärt Gegenstand x Person q im Rückgriff auf y. Für y kann man im letzten Fall dann gegebenenfalls eben auch „eine Erklärung“ im methodologischen, logischen oder objektiven Sinn einsetzen. Anders gesagt, die Frage „Was ist eine Erklärung?“ wird hier nicht mit „Ein logischer Zusammenhang von (wahren oder bestätigten) Sätzen!“ beantwortet, sondern z. B. mit „Eine Interaktion zwischen mindestens zwei Personen, in der Person x Person y irgendetwas mitteilt und so ‚erklärt‘“. Das heißt auch: In diesem begrifflichen Segment gibt es keine „Selbsterklärungen“ (z. B. Gold 2015, 69), d. h. Erklärungen bzw. Selbsterklärungsprozesse in der Form eines internen mentalen Dialogs eines Forschers (oder auch eines Lernenden) mit sich selbst. Dieser Unterschied ist auch an der obigen Stelle relevant, an der davon die Rede ist, Erklärungen seien ein Mittel des Verstehens oder, wie oben dargelegt, Erklärungen seien ein Kriterium für Verstehen, denn hier könnte ein solcher pragmatischer Begriff Verwendung finden, womit dann aber der Pfiff wohl verloren geht, zumal dann, wenn mit pragmatischem Erklären keinerlei Annahmen verbunden sind, die aus einem methodologischen, epistemologischen oder auch logischen Kontext stammen. In pragmatistischen Kontexten der Erklärungsliteratur ist dann auch öfters etwas Ähnliches wie das Folgende zu vernehmen: Wissenschaftliche Erklärungen können aus der Perspektive des Fragens und Antwortens betrachtet werden. So können sie als soziale Handlungen mit einem Fragenden (Explanand) und einem Antwortenden (Explanator) als Handlungsträger angesehen werden (Tuomela 1988, 126). Eine Frage ist, ob dies, wenngleich möglich, auch fruchtbar ist, in welchem Kontext dies fruchtbar ist und ob es gerade auch in Wissenschaftskontexten den Kern der Sache trifft. Der Geschichtsphilosoph William H. Dray ließ legendärerweise einen Radiomoderator bei einem Baseballspiel und Radiohörer, einen KFZ-Mechaniker und William H. Dray (1954, 1957) als Explanatoren und Explananden die geschichtsphilosophische Bühne besteigen, ohne die Frage zu stellen, was dies mit „history“ oder auch Wissenschaft zu tun hat. Andere Geschichtsphilosophen bemühen einen (allwissenden) Geschichtsschreiber als Erklärer und sich selbst als Fragende (z. B. H. White 1974). Die Frage ist nur auch hier, was so etwas mit Geschichtswissenschaft zu tun hat, denn in geschichtswissenschaftlichen Texten werden z. B. Geschichtsphilosophen gar nicht adressiert. Auch werden in Forschungstexten von Wissenschaftlern im Allgemeinen und Geschichtswissenschaftlern im Speziellen beinahe nie andere Wissenschaftler in der Art und Weise adressiert, dass der Autor dem Fachkollegen etwas im pragmatischen Sinne „erklärt“ bzw., was den Unterschied klarer macht, verklickert. Obwohl der narrativistisch angehauchten Geschichtsphilosophie, die in verschiedenen Spielarten davon ausgeht, Historiographen erzählten irgendeinem großen Publikum „Geschichten“ (Kapitel 2.1) und erklärten in diesem Sinn, dieses pragmatische oder interaktive nicht, obwohl Probleme angesichts der Beispielarmut und der Lage der Sozial(meta)theorie auf der Hand liegen (Kapitel 6.1).

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Erklärungsverständnis entgegen kommt, sollte uns nun nicht verborgen geblieben sein, dass es mit Geschichtswissenschaft bzw. (geschichts-)wissenschaftlicher Forschung (Kapitel 3.2) auch recht wenig, d. h. primär eigentlich nichts zu tun hat. Niemandem in der Mini„Anatomie“ kann man ein solches Erklärungsverständnis unterstellen, wohl noch nicht einmal Gaddis (2005), obwohl dessen Geschichtsschreibung wohl auch dazu gedient hat, Studenten den Kalten Krieg zu „erklären“. Zumindest hat dieses Erklärungsverständnis nichts jenseits der Prima-facie-Trivialität mit Forschung zu tun, dass in wissenschaftlichen Disziplinen erwartet wird, dass Forschungsresultate publiziert werden, sowie jenseits der Prima-facieTrivialität, dass Forscher sich selbst etwas fragen. „Explainer“ und „explainee“ (J. R. Martin 1970, 9) oder „Explanand“ und „Explanator“ sind hier, in aller Regel und besonders in Geschichtswissenschaften, ein und dieselbe Person, falls man, was man ja durchaus bestreiten kann (Kapitel 4.2), hier verbreitet überhaupt von Erklärung sprechen möchte, wenn z. B. Warum-Fragen gar nicht überall zentral sind. Da es sich hier um ein und dieselbe Person handelt, handelt es sich schlicht und ergreifend nicht um sogenannte „soziale Handlungen“, solange man nicht die Bedeutung mancher Soziologen voraussetzt, die so etwas auch kennen, wenn eine Person einsam und verlassen und der letzte Mensch auf Erden ist. Selbst wenn der Wissenschaftler Stone (2003) den fiktiven Dialog mit dem Wissenschaftler Stephenson (1988) über die Problematik der spätmittelalterlichen Schafswollproduktion führt, wäre es seltsam zu behaupten, Stone erkläre Stephenson den Trend des Sinkens der durchschnittlichen Schafsproduktivität, zumal es so sein könnte, dass der Adressat dieser „sozialen Handlung“ zum jeweiligen Zeitpunkt gar nicht mehr lebt. Stone kritisiert vielmehr – so scheint es – Stephensons Erklärung oder, wie Geschichtswissenschaftler wohl schreiben würden, seinen Erklärungs-Ansatz als zu einseitig (Makro statt Mikro), in irgendeinem durchaus objektiven Sinn. Die Menge an Hypothesen bzw. ihr Zusammenhang wird kritisiert, wobei dies in geschichtswissenschaftlichen Kontexten manchmal auch deshalb nicht klar gesagt werden kann, weil die Hypothesenmengen oder ihre Zusammenhänge eben nicht so klar sind wie in manchen philosophischen Modellen (etwa im DN-Erklärungsmodell, Kapitel 6.1), was aber auch kein uneingeschränkt positives Qualitätsmerkmal sein muss. Mit J. R. Martin kann man hier sagen, Erklärung in der (Geschichts-)Wissenschaft ist eben überhaupt keine Handlung, sondern ein Erfolg („achievement“), eigentlich wie Verstehen, worüber uns zuvor O. R. Scholz (1999) informiert (5.5). In unserem idealtypischen Bild von Forschung sucht ein Forscher eine Erklärung für etwas oder sucht etwas (besser) zu verstehen. Geforscht wird, weil es den Didaktiker (oder Experten), der es schon verstanden hat und nur noch zu verklickern („erklären“, „erzählen“) braucht, eben nicht gibt. Es geht auch in geschichtswissenschaftlicher Forschung minimal um die Veränderung des Überzeugungssystems des Forschers und die Fiktion der Einspeisung dieser Überzeugungen in einen Forschungsstand.163 Wenn es oben hieß: „Sagt man, daß eine Erklärung E Verstehen von E bewirkt, so sind darin offenbar ebenfalls zwei Wissenssysteme involviert …“ (Schurz 1988b, 235), sollte man daher nicht zwei unterschiedliche Personen unterstellen. Hier „wirkt“ auch nicht eine Person auf eine andere oder ein Überzeugungssystem auf ein anderes, sondern eine Person forscht, manchmal, aber im Rahmen der Geschichtswissenschaften selten, in einer Gruppe. Wenn es in der Geschichtstheorie heißt, Erzählungen seien Erklärungen, dann ist nicht selten an ein solches pragmatisches Erklärungsverständnis zu denken.164 163

164

Ich vermute, dass man pragmatische Erklärungen im Sinne von „sozialem Handeln“ nur dann für plausibel, signifikant und fruchtbar hält, wenn man Forschung außer Acht lässt, nämlich den hier vermuteten Weg vom Problem zum Verstehen. Martin schreibt (1970, 15) von „forschungsbezogenen Erklären“ und vom „pädagogikbezogenen Erklären“ und stellt fest, sie seien „very different“.

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

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In einem rein pragmatischen Sinn von „Erklärung“ ist aber auch möglich, dass auch die Rechtfertigung oder Wahrheitsnähe der Hypothesen, die in Erklärungsepisoden zwischen zwei Personen ausgetauscht werden, irrelevant sind und dennoch davon gesprochen werden kann, dass Person x Person y etwas im rein pragmatischen Sinn erklärt hat. Das könnte aber immer noch damit verbunden sein, dass Person y noch immer keinen blassen Dunst davon hat, worüber Person x redet und beide vom Gegenstand des Austauschs keinerlei Ahnung haben. Michael Schmids Bemerkung aus der Endphase der heißen Phase der Erklärungsdebatte, kurz bevor diese im Geschichtskontext weitgehend implodierte, lohnt in diesem Kontext noch immer der Wiederholung: Wenn unter ‚Erklärung‘ in einem sehr pragmatischen Sinne verstanden wird, daß ein erklärungsbedürftiges Ereignis – in unserem Falle ein Handlungsereignis – in einer spezifischen Argumentationssituation im Lichte bestimmter Erwägungen plausibel oder einsichtig gemacht werden soll (und zwar einer Person, der das betreffende Handlungsereignis unklar, unverständlich, wenig plausibel etc. ist), dann wird jede philosophische Analyse sich um die epistemische Klärung jener Erwägungen zu kümmern haben, die eine Erklärung als gelungen gelten läßt. Wenn nun, wie allgemein unterstellt wird, allgemeine Gesetze nicht zur Verfügung stehen, die diesen Dienst übernehmen können, dann muß wenigstens ein Ersatz (für viele natürlich mehr als nur ein Ersatz) gefunden werden, der in der Lage ist, Erklärungen von ihrem elliptischen Charakter zu befreien (Schmid 1979, 12). Als „Ersatz“ wurde vielerlei vorgeschlagen (Kapitel 3.2, Kapitel 6). Man sollte hier nur ergänzen, dass gemeint ist, was eine Erklärung als „objektiv“ gelungen gelten lässt, eben nicht bloß als „subjektiv“ gelungen oder „plausibel“ (vgl. schon Hempel 1942). Wenn damit nicht verbunden ist, dass die Erklärungen in dem Sinn „theoretisch“ sein müssen, dass sie allgemeine Modelle sind oder „Gesetze“ beinhalten, dann ist wohl minimal die Rechtfertigung der (singulären) Hypothesen oder die Wahrheit der Hypothesen („Informationen“) verlangt und eine grobe Vorstellung davon, welche Art von Hypothesen bezogen auf welche Gegenstandstypen als relevant erachtet werden können. Leider gibt es auch diesbezüglich wohl keinerlei Klarheit. Nach all dem kann man auch noch eine erotetische oder fragelogische Tradition ausmachen. Der Unterschied zu den anderen Erklärungsauffassungen lässt sich leicht benennen. Für manche Philosophen und Wissenschaftler sind Erklärungen Argumente (Hempel 1942, Bunge 1967a/b, Esser 1996), für andere singuläre Aussagen (Scriven 1959, Gerber 2012), für wieder andere handelt es sich, wie zuvor gesehen, um Handlungen oder Interaktionen. In diesem erotetischen Kontext heißt es etwas anders: „Eine Erklärung zu sein ist etwas essentiell Relatives, denn eine Erklärung ist eine Antwort“ (van Fraassen 1988, 86), natürlich eine Antwort auf eine Frage (und insofern relativ).165 Obwohl diese letzte Tradition mit der Korrelativitätsthese von Erklärung/Erklären und Verstehen nichts zu tun hat, kann in einem solchen philosophischen Kontext schließlich ebenfalls die These vertreten werden, dass eine Erklärung eine Antwort auf irgendeinen Typ von Frage ist, also nicht bloß eine Antwort auf eine WarumFrage, sondern alle denkbaren Fragen (vgl. Kitcher/Immerwahr 2014, McCullagh 1998, Tucker 2004b). Ich würde die These wagen, dass Geschichtswissenschaftler in der Breite ein solches Grundverständnis von „Erklärung“ im weitesten Sinn voraussetzen, d. h. bezogen auf alle möglichen Fragen. 165

Gemeint ist nicht eine epistemische Relativität, z. B. bezüglich Rechtfertigung oder Wahrheit.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Klar dürfte an dieser Stelle sein, dass es nicht damit getan sein kann, zu sagen, eine Erklärung sei eine Antwort auf eine Frage und nichts weiter, weil man voraussetzen darf, dass dies auch im Geschichtswissenschaftskontext zu kurz greift (3.1).166 Beispiel: (Frage) Warum ist die Geschichtsphilosophie für Geschichtswissenschaftler so nervtötend? (Antwort) Weil es in Münster ständig regnet und H. White ein guter „drinking companion“ war!167 In einem rein pragmatischen Sinne einer Interaktion mag dies eine Antwort auf die Frage sein genauso wie die Antwort „Weiß der Teufel!“. Die Antwort ist aber natürlich in einem nicht-pragmatischen Sinn irrelevant für die Frage. In diesem Fall stellen sich also Fragen nach Kriterien für relevante Antworten. Diese Kriterien könnte teilweise die Logik der Fragen bereitstellen (Walther 1985) und diese Kriterien können unabhängig davon sein, ob eine Frage-Antwort-Interaktion zwischen zwei Personen vorliegt, also grob eine soziale Handlung. Daher wird dieses philosophische Feld ja auch „Logik“ der Fragen genannt. Da ich schon angekündigt habe, dass ich dieses Feld nicht betreten werde, werde ich das nun auch nicht tun. Zwei Fälle lassen sich unterscheiden: (a) Etwas gilt überhaupt als eine Antwort auf die Frage. (b) Etwas gilt als gute Antwort auf die Frage. Im Wissenschaftskontext liefert die Kriterien für eine gute Antwort letztlich eine wissenschaftsinterne Methodologie oder die verwendeten und geteilten Theorien und Modelle legen mehr oder weniger von alleine fest, was als gute Antwort auf eine Frage zur Lösung signifikanter Probleme gilt. Besonders im Geschichtswissenschaftskontext gibt es dies alles nicht. Man wird dennoch auch hier mittelfristig nicht um weitere Annahmen herumkommen oder alles weitere der Rubrik Kontext und Pragmatik zuweisen können (so Tucker 2004b), denn das klärt auch dasjenige nicht, was schon im Kontext der Geschichtstheorie wohl eher als ungeklärt gelten muss, zum Beispiel die Gegenstände, etwaige Relationen zwischen den Gegenständen, die Kausalitätsproblematik oder auch die in Metatheorien allgegenwärtigen Agency-versus-Structure-Probleme (3.1, Kapitel 7; siehe zu Problemen mit einem objektiven Erklärungsverständnis in diesem Kontext z. B. Boudon 2003, 2010, 2013, Boudon/Assogba 2004, Schmid/Maurer 2010, Schimank/ Greshoff 2005b, Esser 1996, Bunge 1996, 1998, wobei sich diese Autoren von anderen gerade im Festhalten am objektiven Erklärungs- und Verstehensziel von anderen unterscheiden). Prima facie davon strikt zu trennen ist auch eine weitere kontextuelle Verwendungsweise des Ausdrucks „Erklärung“, weil es dabei erstens um ein anderes Problem geht (Rechtfertigung von Hypothesen) und zweitens nicht klar ist, in welchem Sinn hier von „Erklärung“ die Rede ist. In diesem Feld sind mithin die größten Desiderata einer Metageschichtswissenschaft zu sehen. Wir nennen ihn den Erklärungsbegriff im Rechtfertigungskontext: Eine Hypothese h gilt als gerechtfertigt oder gar wahr genau dann, wenn sie (a) eine Erklärung von Quellen oder Daten oder (b) gar im Vergleich mit Konkurrenzhypothesen die beste Erklärung von Quellen oder Daten liefert. (Im letzteren Fall gilt sie auch als wahr.) Eine klassische Formulierung der Grundidee im Geschichtswissenschaftskontext bietet Murray G. Murphey, wobei er eine Norm formulierte, die in klassischen Handbüchern vermutlich zumeist auf andere Weise beschrieben wurde, d. h. ohne Verwendung des Ausdrucks „Erklärung“ (z. B. Langlois/Seignobos 1900, Bernheim 1908): In fact, all historical inquiry arises from the attempt to provide explanations of some present phenomena … (Murphey 1973, 14, Hervorhebung dp).

166 167

In kulturgeschichtswissenschaftlicher Metatheorie scheint teilweise der Primat der Frage oder einer Art des Fragens ausgerufen zu werden (Daniel 2002). So behauptet sein Kritiker A. Marwick (2001).

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

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[T]he whole of our historical knowledge is a theoretical construction created for the purpose of explaining observational evidence (Murphey 1973, 16, Hervorhebung dp; vgl. H. Albert 1994, 119, Salvemini (1969 1939), 55, M. R. Cohen 1947, 21, Wächter 1986, 2, Tucker 2004a, Day/Radick 2009). Bei diesen „Erklärungen“ geht es letztlich um die Beantwortung der Meta-Frage „Warum bin ich darin gerechtfertigt, zu glauben, dass die Hypothese h bezogen auf Gegenstand g wahr ist?“. Damit geht es z. B. nicht um die Frage, „Was muss ich tun, um einen Gegenstand g besser zu verstehen?“.168 Diese erste Frage, in der mit dem Warum nach einem Glaubensgrund („reason for believing“) gefragt wird, soll dann dadurch beantwortet werden, dass eine andere Warum-Frage gestellt und beantwortet wird, in der mit dem Warum eventuell169 – was eben nicht ganz klar zu sein scheint – ein Seinsgrund („reason for being“) für ein Ding (Quelle) oder aber ein Datum erfragt wird, wobei nach meinem Eindruck im geschichtsphilosophischen Kontext unklar bleibt, was genau und in welchen Sinn erklärt wird. Anders gesagt: Eigentlich ist auch hier unklar, in welchem Sinne von „Erklärung“ von Quellen (Dingen) oder Daten (Hypothesen, „Evidenz“) die Rede ist. Man sieht im Zitat leicht, dass hier in der Formulierung „explaining observational evidence“ und der Rede von „Phänomenen“ zweierlei nicht auseinander gehalten wird, nämlich dasjenige, was Geschichtswissenschaftler in der Tradition der deutschen klassischen Geschichtstheorie „Quellen“ nennen und dasjenige, was Methodologen „Daten“ nennen. Ich fürchte, auch das würde zu Komplikationen führen, denn Daten, also Hypothesen, würden in solchen Fällen wohl kaum kausal erklärt. Ich kann mich hier damit nicht weiter befassen, muss aber zur Vervollständigung der Übersicht darauf verweisen, zumal in der Mini-„Anatomie“ (Kapitel 3) einige Geschichtswissenschaftler im Rechtfertigungskontext ihrer Theorien oder Hypothesen von Erklärungen durchaus ansatzweise sprechen, worauf ich bereits kurz hingewiesen habe (Fußnote 101, S. 136). Wie das dort genau funktioniert oder auch nicht funktioniert, ist aber noch offen, sodass dies bei anderer Gelegenheit vielleicht thematisiert werden muss. Ein Blick auf die Mini-„Anatomie“ könnte schon zum Problem führen, das genaue Explanandum, d. h. die „Phänomene“, Daten oder Quellen handlich zu benennen. Zum Beispiel ist nicht intuitiv einzusehen, dass und wie Kirby (1995) oder Chamoux/Dauphin (1969) ihr jeweiliges Quellen- oder Datenkorpus „erklären“ (3.1.8, 3.1.1). Damit sind wir noch immer nicht am Ende der Klärungsskizze dieses Unterkapitels angelangt. Das stellen wir fest, wenn wir J. Fayes Kritik an A. Bird zur Kenntnis nehmen: In my opinion explanation should be understood in the general context of interpersonal communication. Thus I disagree with those who, like Alexander Bird, believe that facts explain facts. Literally speaking, such a view entails the claim that the world explains itself. It is, however, people who craft the explanation, facts do not explain anything themselves. Explanation is not an ontic category but an epistemic one (Faye 1999, 61). Es ist zwar besonders im geschichtsphilosophischen und sozial(meta)theoretischen Kontext unklar, was mit „Fakten“ oder „Tatsachen“ oder „Sachverhalten“ gemeint ist (7.3.7), und die von Faye kritisierte Auffassung, die Erklärungen in der Welt situiert, ist alles in allem eher selten. Es ist aber einfach so, dass viele unter „Fakten“ wahre Sätze bzw. vorläufig als wahr 168 169

Ich bin mir nicht sicher, ob immer klar ist, dass dies unterschiedliche Probleme sind; siehe etwa Tucker 2004b. Siehe auch die Bemerkung zum Schluss auf die Beste Erklärung, Kapitel 4.1.4, S. 136, Fußnote 101. Das ist wohl schon umstritten, z. B. zwischen Explanatisten und Baysianern; siehe Day 2008.

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

angesehene Hypothesen verstehen, und dann besagt die These, Tatsachen erklärten andere Tatsachen, nicht, dass die Welt sich selbst erklärt (vgl. z. B. Jakob 2008). Da ich hier von Forschung in vermuteter Praxis den Ausgang der Überlegungen nehme (Kapitel 2), ist aus meiner Perspektive schon ohnehin selbstverständlich, dass Erklärung etwas Epistemisches ist, denn Forschung wird von Forschern betrieben und diese verlangen nach Erklärung und nicht dasjenige, was sie erforschen. Es gibt allerdings tatsächlich die Auffassung, dass Erklärungen nicht etwas Methodologisches, Epistemisches oder Geistiges sind, das eine konkrete Person anstrebt, sucht, tut oder erreicht, sondern dass die Erklärung, nach der ein Forscher sucht, etwas Ontisches ist, also ungefähr genauso oder ähnlich existiert wie ein da draußen verloren gegangener Schlüssel. Es heißt in diesem Kontext also ungefähr „Entität x ist die Erklärung für Entität y“ oder „Gegenstand x erklärt Gegenstand y“. Die Erklärungsrelation ist also in einem solchen Rahmen wohl durchaus analog zu einer realen Determinationsrelation (z. B. Kausalität) zu verstehen. Da unter „ontischen“ Erklärungsmodellen normalerweise etwas Anderes verstanden wird, nämlich Erklärungen, deren Anspruch ganz einfach darin besteht, Dinge oder Prozesse (oder was auch immer) möglichst so zu beschreiben, wie sie wirklich sind, was normalerweise mit weiteren ontologischen Thesen flankiert wird (Kapitel 6, Kapitel 7), müssen wir ihn unschön anders nennen, nämlich den reifizierenden (oder metaphysischen) Erklärungsbegriff: Eine wahre Behauptung „a weil b“ beschreibt eine ontische Erklärungsbeziehung a weil b, die draußen in der Welt existiert. Das klingt durchaus seltsam, wird aber auch im Kontext der Geschichtsphilosophie manchmal so ähnlich behauptet: „Da die Aufgabe einer Erklärung ganz allgemein immer das Auffinden von Informationen zur kausalen Geschichte eines Ereignisses ist, hat eine Erklärung auch immer einen Anfang, und das ist die Ursache, die das zu erklärende Ereignis unmittelbar bewirkt hat“ (Gerber 2012, 286). Das Ende der Erklärung ist dann – je nach Kausalitätsvorstellung – eventuell der Urknall oder es geht ad infinitum weiter. Der letztlich zumeist nicht weiter relevante lapsus linguae findet sich auch beim Soziologen H. Esser (1996, 103) in seiner Adaption des Modells der Hempelschen „genetischen Erklärung“ (Hempel 1962, 1965, Stegmüller 1983) für die Sozialwissenschaften oder, besser, ihre Metatheorie: „Man könnte alle Erklärungen auch nach hinten verlängern und – bis ins Aschgraue – deren historische Genese untersuchen.“ Aus meiner Sicht ist das, wie auch aus Fayes Sicht, eine Art von Kategorienfehler, d. h. die Verwechslung von Epistemischem und Ontischem. Die Ontologisierung von Erklärungen ist so ähnlich wie die Verwechslung von (ontischen) Geschichten mit (sprachlich verfassten) Geschichten (Kapitel 2.1). Der Geschichtsphilosoph Christian Jakob (2008, 302) hat diese Art von Kategorienfehler in unserem Kontext einmal wie folgt formuliert: „Die Erklärung der Tatsache, warum Pflanzen wachsen, wächst selbst nicht.“ Natürlich steht die soziologische Erklärung, an die Esser denkt, genauso auf einem Blatt Papier wie die „historische“ Erklärung, an die Gerber denkt, oder sie befinden sich in Gehirnen von Soziologen oder Geschichtswissenschaftlern als mentale Eigenschaften. Die Prozesse der Genese einer Struktur oder die „kausale Geschichte eines Ereignisses“ befinden sich dort aber nicht, falls so etwas existiert (Kapitel 6, Kapitel 7).170 Wir können auf die reifizierenden Erklärungsvorstellungen hier einfach verzichten, weil sie nutzlos und bloß irreführend sind. Man muss den in gewissem Sinne ontologischen Aspekt, an dem viele festhalten, dass Erklärungen dasjenige, was in ihnen beschrieben wird, 170

Auch die „plot reifier“ (Pape 2006) unter den Narrativisten verlegen Erzählungen in die Welt, obwohl man vor-narrativistisch davon ausgehen könnte (2.1), es handele sich bei einer Erzählung um einen Text und nicht um etwas da draußen oder „eine Wahrnehmungs- oder Denkform“ (Süßmann 2002, 84).

5.4 Eine weitere Präzisierung: Worum geht es in Metatheorien der Erklärung?

221

möglichst beschreiben sollen, wie es ist, nicht in die These transformieren, Erklärungen seien etwas Ontisches. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, andere Hypothesen, bloß weil sie im Idealfall wahr sein sollen, in die Welt zu verlegen, z. B. die Hypothese „Das Pferd auf dem Flur denkt ‚Da steht Daniel Plenge in meinem Flur‘“. Die gelisteten Aspekte von „Erklärung“ oder unterschiedliche Erklärungsvorstellungen, auf die z. B., neben anderen, M. Bunge (1967b, 6 f., 1983b) bereits hingewiesen hat, sollten zumindest nicht unnötig miteinander konfundiert werden, obwohl sie alle in gewissen Grenzen etwas treffen im Rahmen der komplexen Erklärungs- und Verstehensproblematik. Erklärungen sind eine epistemische Leistung, die in Wissenschaften manchmal mit weiteren methodologischen Kriterien bestimmt werden (müssen), sie haben mit Fragen und Antworten, Informationssuche und Informationsgewinnung vor dem Hintergrund eines Problems zu tun, und – so war die These – vornehmlich sollen sie dazu beitragen, dass ein Forscher seinen Gegenstand oder seine Gegenstände, von denen bisher noch gar nicht die Rede gewesen ist, besser versteht, was darauf hinausläuft, dass die Hypothesen jene Gegenstände im Ideal wahrheitsgemäß beschreiben sollen. Der Forschungskontext unterscheidet sich von anderen primär dadurch, dass die Hypothesen Antworten auf solche wissenschaftliche Fragen sein sollen, die der Ausdruck von wissenschaftlichen Problemen sind, was die ganze Suche motiviert. Auf den Umstand, dass gerade letztere Thesen bezüglich Wahrheit und Rechtfertigung in der neueren Geschichtstheorie vielleicht nicht mehr geteilt werden, kommen wir später am Rande kurz (Kapitel 7.1). Wo stehen wir aber nun? Wir haben grob einige Fallstricke in der Verwendung von unterschiedlichen Erklärungsverständnissen dadurch aus dem Weg geräumt, dass wir sie im Rahmen der Philosophie der Geschichte wenigstens zu unterscheiden versucht haben (siehe auch J. R. Martin 1970, Jakob 2008). Wir wissen aber immer noch nicht recht, was wir nun unter einer „Erklärung“ verstehen sollen oder wollen, bloß weil wir nun grob unterschiedliche Verwendungsweisen von „Erklärung“ in der Philosophie oder unterschiedliche Aspekte eines komplexen Erklärungsverständnisse kurz gelistet haben. Wir wissen also noch immer nicht genau, was nun eine Erklärung ist, was eine Erklärung im Rahmen der Geschichtswissenschaften sein soll oder was in unserem Kontext ein zumindest fruchtbareres Erklärungsverständnis sein könnte. Das wird ohnehin aufgrund der Vielfalt in den Geschichtswissenschaften schwer zu finden sein. Wir werden es auch letztlich nicht finden (8.1). Wir wissen aber nun, dass man Erklärungen durchaus zwischen Problemen und dem Verstehen situieren kann, wenn diese Erklärungen relevante Informationen bereitstellen. Probleme haben wir aber auch festgestellt, die zum Beispiel im Rahmen der Korrelativitätsthesen aus der Diskrepanz zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ (oder pragmatischen) Erklärungsvorstellungen und statischen und dynamischen Erklärungsvorstellungen entstehen oder entstehen können. Pragmatische oder interaktive Erklärungen sind für den Zusammenhang von Erklärung und Verstehen in den Wissenschaften unspannend. Wir werden diese und andere Schwierigkeiten hier nur noch einmal kurz aufgreifen können (Kapitel 8.1). Die Anschlussfragen sind: Was macht eine Information relevant? Was ist eine relevante Information? Eine Aufgabe philosophischer Erklärungsauffassungen wurde früher darin gesehen, zu klären, worin diese Relevanz besteht bzw. die „Relevanzrelation“ von irgendetwas für etwas anderes festzulegen. Wir haben nun nebenbei aufgeschnappt, dass hier mehrere Aspekte zu unterscheiden sind. „Relevanz“ kann sich dann auf mindestens viererlei Ebenen beziehen, nämlich (a) die gesuchte Information aus der Perspektive des Überzeugungssystems einer Person, (b) die Ontologie der Information oder ontische Relationen, (c) die logische Relevanz von Explanansinformationen für Explananda oder eben Prämissen für Konklusionen (6.1), (d) die Relevanz einer Antwort relativ zu einer Frage. Ein Grund für die anhaltende Unübersichtlich-

222

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

keit zumindest im Rahmen der Geschichtsphilosophie ist die Komplexität der Problematik. Wir kommen verschiedentlich (beiläufig) darauf zurück. Wir wollen nun aber etwas über Verstehen lernen, damit wir zum einen die Antworten auf die Frage nach den Kriterien für relevante Informationen weiter eingrenzen und uns den Geschichtswissenschaften dann wieder nähern können. Denn dazu finden wir dann eine ganz allgemeine Antwort, die zunächst weniger kontrovers ist als das Bekannte und die zugleich auch in der Geschichtstheorie zu finden ist. Wir wissen auch noch nicht, was Geschichtswissenschaftler auch nur ganz grob überhaupt verstehen wollen und das Problem ist, dass ihnen und den Sozialwissenschaften im Allgemeinen dazu wohl nichts wirklich vollständig Klares zu entlocken ist. Auch deshalb werden wir zu Erklärung und Verstehen kein klares Ergebnis erwarten können.

5.5

Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen Une multitude de faits isolés encombrerait l’intelligence et chargerait la pensée sans l’enrichir (Naville 1895, 111 f.).

Wir wollen nun das schon länger schwelende Problem „Was untersuchen Geschichtswissenschaftler?“ insofern aufnehmen, als wir uns die These borgen, ein Typ von Verstehen könnte in der Verbindung von Gegenständen, Fragen und Relationen bestehen. Das ist nichts anderes als die grobe Inversion der Frage „Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?“ in Form der Fragen „Was ist geschichtswissenschaftliches Verstehen?“ oder „Was wollen Geschichtswissenschaftler inwiefern verstehen?“. Wie häufiger angedeutet, leiden philosophische Erklärung-Verstehen-Kontroversen in unserem Gegenstandsfeld daran, dass entweder (i) mehr oder weniger objektfrei diskutiert, also kaum gesagt wird, was eigentlich überhaupt erklärt und/oder verstanden werden soll (Kapitel 6), oder die (ii) Objekte der Erklärung und des Verstehens recht grundlos eingeschränkt werden, oder ferner (iii) die Gegenstände zumindest unklar bleiben (4.2), ferner, wie nun bekannt, (iv) Forschungspraxis selten irgendeine Rolle spielt. Viele Endlosschleifen auch in der Soziologischen Theorie könnte man dadurch abkürzen, dass man häufiger fragt, was man denn nun eigentlich in welcher Hinsicht in Sozialwissenschaften genau verstehen oder erklären will, also welche Fragen man an welchen Gegenstand richtet und inwiefern beantwortet oder beantwortet wissen will, indem man z. B. auch Signalvokabular („Struktur“, „Institution“, „System“ etc.) klärt und ggf. in konkreter Forschung situiert bzw. an dieser konkretisiert (Kapitel 7, 8.1). Man kann jedoch selbstverständlich nur etwas verstehen oder etwas erklären. Kurz, aber schmerzlos: „One understands something (= x), or one fails to understand it“ (Scholz 2015a, 779). Über Verstehen sprechen zu wollen, ohne über den Verstehens- oder Erklärungsgegenstand sprechen zu wollen, ist misslich, verschießt man doch unnötig sein Pulver. Das ist so, als wollte man ohne Tor und Ball ein Tor erzielen. Das ist insofern doppelt bedauerlich, als „verstehen“ eigentlich ein Erfolgsverb ist wie eben „ein Tor erzielen“. Entweder man hat es erreicht oder eben nicht. Ohne Zusatz heißt „Verstehen“ also immer „Richtigverstehen“ (Scholz 2008a, 72, 2002). Es ist also besonders schade, wenn man sich das Tor gleich dadurch verbaut, dass man gar keines aufstellt, also dem Verstehen und auch Erklären den Gegenstand verweigert.

5.5 Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

223

Wie wir wieder O. R. Scholz entnehmen, sind sinnvollerweise drei Verwendungsweisen von „verstehen“/“Verstehen“ in Form von drei Satzschemata zu unterscheiden, die uns vielleicht helfen können, unseren Gegenstand (Geschichtswissenschaften), besser in den Griff zu kriegen oder gar zu verstehen: (V-S-1) Ein Subjekt S versteht + direktes Objekt (V-S-2) Ein Subjekt S versteht + indirekter Fragesatz (V-S-3) Ein Subjekt S versteht, dass p (z. B. Scholz 2015, 150; 2008a, 72; 2002). Auch im Geschichtswissenschaftskontext und der Geschichtstheorie hilft diese Strategie, die Benennung des Gegenstandes einzufordern, unnötige Konfusion, unnötigen Dissens und Pseudodebatten zu vermeiden. So schreibt die Geschichtswissenschaftlerin und Geschichtstheoretikerin Mary Fulbrook beispielsweise im Kontext der „Agency-Structure“-Problematiken: „The focus on individual agency appears in some ways to be the easiest or most accessible way to understand“ (Fulbrook 2002a, 126). Aber was denn? Was soll denn verstanden werden? Der Satz endet vor dem Hintergrund dieses Kapitels seltsam unvermittelt. Wenn man den Satz am Ende mit „… to understand individual agency“ vervollständigt, wird es trivial, weil bloß der Gegenstand des Interesses wiederholt wird. Zudem geht es an den Verstehensproblemen mancher Geschichts- und Sozialwissenschaftler einfach vorbei, denn z. B. Topolski (1994a), Frings (2007a), Millar (1984, 1986), Stephenson (1988) und viele andere wollen nicht, nicht zentral oder nicht ausschließlich „agency“ verstehen, zumindest scheint es auf den ersten Blick so zu sein. Auch wenn das nun vielleicht ein wenig überzeichnet, könnte man genauso gut schreiben, der einfachste Weg, etwas zu verstehen, sei für Geschichtswissenschaftler, ein Werk der theoretischen Physik gründlich zu studieren. Auch verbieten sich von vornherein eigentlich Thesen wie „Verstehen is necessary for social scientific understanding“, so die Rekonstruktion einer Verstehen-These durch M. Martin (2000, 4), wenn nicht nur offen gelassen wird, worin grob das „Verstehen“ oder das „understanding“ besteht, sondern auch die Gegenstände der Verstehensbemühungen offen gelassen werden. Denn auch hier gilt, dass dies entweder trivial oder einfach falsch ist, was davon abhängt, was überhaupt verstanden werden soll und was genauer mit jenem englischen Wort „Verstehen“ gemeint ist. Aus den genannten Gründen wollen wir unser kleines Modell etwas korrigieren (Abbildung 16). Man sieht jetzt auch gleich, warum in diesem wie auch in jedem anderen Forschungsmodell, das minimal wissenschaftsnah ist, Annahmen direkt oder indirekt, explizit oder implizit hineinspielen, die der Ontologie angehören, worauf ich immer mal wieder hypothetisch hingewiesen habe. Denn wie man erklärt und ob man vielleicht überhaupt erklärt oder erklären möchte, hängt auch davon ab, was man meint, in seinem Forschungsbereich erkunden zu können, was auch heißt, dass von den Vorstellungen über den Gegenstandsbereich abhängt

Stand der Forschung bzgl. Gegenstand x1, x2, x3, etc.

Abbildung 16

Problem(e) bzgl. Gegenstand x1, x2, x3 etc.

Frage(n) bzgl. Gegenstand x1, x2, x3 etc.

Erklärung(en) von Gegenstand x1, x2, x3 etc.

Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 4

Verstehen von Gegenstand x1, x2, x3

224

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

oder abhängen kann, wie man glaubt, ihn verstehen zu müssen (Kapitel 6). Geschichts- und Sozial(meta)theoretiker sprechen dies aus, wenn sie über ihre Ansätze verhandeln (4.1.5). Auch hier sind viele philosophische Wahlen (2.2) zu vermuten. Kürzer und beispielhaft veranschaulicht: Ontologische Individualisten der Heldentheorie der „Geschichte“ wären, wenn es sie geben würde, methodologische Individualisten, weil sie nur an die Existenz von isolierten Individuen glauben und daher allenfalls deren private Handlungen wie das In-der-Nase-Bohren verstehen können wollen (siehe zu Individualismus und Holismus auch 7.2). Hier ist trotz aller Unklarheiten klar, dass „Verstehen (understanding)“ notwendig ist für „sozial“-wissenschaftliches Verstehen, das von „individual“wissenschaftlichem Verstehen dann auch nicht zu unterscheiden ist. Strikte Positivisten mit phänomenalistischer Ontologie können nur Regularitäten in Wahrnehmungsentitäten notieren und in Subsumtionserklärungen organisieren. Et voilà, das ist eigentlich das Covering-LawModell des wissenschaftlichen Verstehens in der phänomenalistischen Ursprungsversion und in der Version, in der es auch zumeist in der sozial(meta)theoretischen Debatte gelesen worden ist, obwohl dies in seiner Logik nicht steckt, die ontologisch neutral ist.171 Im Rückblick ist auch recht klar, dass unterschiedliche Vorstellungen von wissenschaftlichem Verstehen im Umfeld der Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur mit unterschiedlichen Ontologien verbunden gewesen sind, was man daran sieht, dass die „Positivisten“ Gesetzmäßigkeiten (Regelmäßigkeiten) als Erklärungsmacher favorisierten, die (wenigen) „Kausalisten“ Ursachen und die „Realisten“ im Rahmen der Makro-Mikro-Makro-Sozialmetaphysik sogenannte „Mechanismen“, manchmal solche, die zwischen „structure“ und „agency“ sozusagen vermitteln oder wirken (Kapitel 6.3). Dass die Gegenstände der Geschichts- und Sozialwissenschaften in der disziplinären Praxis, ihrer disziplininternen Metatheorie wie auch ihren disziplinexternen Philosophien unklar sind, macht die Angelegenheiten um Erklärung und Verstehen natürlich nicht gerade weniger kompliziert, genauso wenig, wie der Umstand, dass Philosophien der Erklärung und des Verstehens im Bereich der Sozialwissenschaften mit Ontolgie durchtränkt sind (Kapitel 6), die jeweils hoch umstritten und skizzenhaft sind. Im Vergleich von Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie führt dies allein schon zu den von E. Callot (2.2) bedauerten terminologischen oder gar ontologischen Verständigungsproblemen. Zum Beispiel reden Geschichtsphilosophen der eher analytischen und eher kleinen Schule gerne davon, Geschichtstheoretiker würden oder sollten „Ereignisse“ erklären, wohingegen viele Geschichtstheoretiker, teilweise abhängig von ihrer Schulzugehörigkeit, alleine schon das Wort „Ereignis“ überhaupt nicht kennen und dessen Verwendung in eigenen Debatten, z. B. im Kontext von Braudels „Strukturalismus“ bzw. der Metatheorie der Annales, schon lange aus der Geschichtswissenschaftssprache entfernt haben und als Gegenstand weitgehend ausgeschlossen haben oder hatten („histoire événementielle“). Zum Beispiel hat der Geschichtstheoretiker Carlos Rama (1974, 93) den Ausdruck „Ereignis“ ausdrücklich absichtlich nicht verwendet, weil dieser einen polemischen Unterton habe, was die Verwendung in mancher Geschichtstheorie andeutet.172 Vielerorts ist zu lesen, Strukturen seien die Gegenstände der Geschichtswissenschaft (z. B. de Lara 1974, 39). Der Sozialgeschichtstheoretiker Christopher Lloyd (1991, 183) schrieb, „strukturelle Geschichte“ sei anstelle von „Ereignissen, Handlung, Verhalten oder Individuen als solchen“ der raison d’être der Sozialgeschichts171

172

Hempel/Oppenheim 1948, 164: „Scientific laws and theories have the function of establishing systematic connections among the data of our experience, so as to make possible the derivation of some of those data from others.“ Cardoso (1982, 110) kritisierte die resultierende (nicht gänzlich klare; 6.1) Sichtweise auf Erklärung als „idealistische“ und „logische“ Auffassung von Kausalität und Gesetzen. Ein Ereignis ist für den idealtypischen Geschichtswissenschaftler dasjenige, was für einen Fußballfan die Fußballweltmeisterschaft und für den Sauerländer das Schützenfest ist, also ein Event.

5.5 Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

225

wissenschaft („social history“). Ferner parallelisiert er ontische „strukturelle Geschichte“ mit dem Ausdruck „Prozess“, was erneut ergibt, dass „Prozess“ eine Art Gegenkategorie zu „Ereignis“ ist (vgl. Kapitel 4.2) und von den einen eben gerade nicht untersucht wird oder zumindest nicht untersucht werden soll. Dass auch hier (alte) terminologische und ontologische Probleme lauern, die eher weiter reproduziert als geklärt werden, dürfte daran deutlich werden, dass auch Lloyd eine Seite weiter anfügt: „This is not to argue that structures, events, and actions are somehow radically separate things“ (Lloyd 1991, 184). Bekanntermaßen ist „Struktur“ einer der mystischsten aller mystischen Begriffe von Geschichts- und Sozialtheorie (7.3.4) und landet in der Tabelle der Mystizismen kurz hinter „Sinn“ (4.2), „Institution“ (7.6) und „Geschichte“ (2.1) auf Platz fünf, kurz hinter „Kausalität“ (6.3, 7.3.8, 7.4) und vor „Situation“ (6.2, 7.2). Klargestellt hat die ontologische Seite der Medaille seit Jahrzehnten Mario Bunge, der folgendes metatheoretisches Triumvirat aufbietet und dabei seine ontologische Präferenz im Kontext von Erklärung und Verstehen deutlich macht: „Mechanism (ontological) → Explanation (methodological) → understanding (psychological)“ (Bunge 1999, 65). Der Philosoph R. Bhaskar muss es wohl gewesen sein, der bereits in den 1970er Jahren geschrieben hat, eine Theorie des Wissens sei immer auch eine Theorie des Objekts des Wissens.173 Der Geschichtstheoretiker J. Topolski scheint nicht sonderlich falsch gelegen zu haben, wenn er behauptete, die Erklärungsmodelle, die Geschichtswissenschaftler wählten, hingen mit ihren Ontologien zusammen (Topolski 1991, 325) oder wenn Gottschalk (1951) behauptete, über Kausalerklärungen gäbe es endlose Streitereien, weil diese jeweils von einer „philosophy of history“ abhingen, von denen es aber unendlich viele gäbe. Da eine Erklärung ein Explanandum-X auf der Basis von einem Explanans-Y erklärt oder, besser, der hypothetischen Beschreibung oder Modellierung von X und Y, wird man auch nicht um ontologische Annahmen bezüglich Y und der Relation zwischen X und Y herumkommen, wobei der Rückblick auf die Erklärung-Verstehen-Erzählen-Kontroversen zeigt, dass dem natürlich auch so ist oder schon immer war, obwohl diese Annahmen eher selten genauer expliziert worden sind (Kapitel 6). Sozialwissenschaftler sprechen die Problematik um die Gegenstände der Forschung auch regelmäßiger klar an, die selbstredend nach mehr als einhundert Jahren sozialwissenschaftlicher Forschung durchaus seltsam anmuten kann. Der Methodologe der Soziologie U. Kelle (2007, 9) schrieb bezüglich der „wissenschaftstheoretischen Kontroversen zwischen Vertretern qualitativer und quantitativer Methoden“ davon, dass in diesen „oft nicht einmal Konsens darüber erzielt werden konnte, welche Phänomene eigentlich Gegenstand von Sozialforschung sein können“. Den Querelen innerhalb der Geschichtswissenschaften um BindestrichGeschichten, „Turns“ und „Ansätze“ wird man problemlos ähnliche Auffassungen entnehmen können. Der Soziologe Gerhard Wagner begann seine jüngeren Ausführungen zur Wissenschaftstheorie der Soziologie mit den memorablen Worten: Nun gibt es in der Soziologie zwar eine Fülle an wissenschaftstheoretischer Literatur, aber keine aktuellen Publikationen, die den diesbezüglichen Stand der Forschung dokumentieren. Das ist kein Zufall, denn im Unterschied zu anderen Einzelwissenschaften findet man in diesem Fach noch nicht einmal annähernd eine facheinheitliche Konzeption von Gegenstand und Methode, die man referierend vorstellen könnte. Was man findet, sind viele widersprüchliche Positionen, die überblicksartig vorzustellen müßig wäre (Wagner, 2012, 1; Hervorhebung dp).

173

So im Kontext der Geschichtswissenschaften und bezogen auf Erklärung auch Gerber (2008, 581).

226

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Ob das stimmt oder nicht, kann ich natürlich letztlich nicht beurteilen. Der Soziologe Hartmut Esser (1991) sah noch 1991 Potenzial für eine allgemeine „Gesellschaftswissenschaft“ wider den damals vermuteten „multiparadigmatischen“ Charakter der Sozialwissenschaften, wobei auch dieser Soziologe keine strikte methodologische Trennung von Sozialwissenschaft und „Geschichte“ zu kennen glaubt (Esser 1996). Der Soziologe Raymond Boudon (2013, XXIV, 20) sah einen verwandten Ansatz noch im Jahr 2013 am Horizont erscheinen, diagnostizierte jedoch, die aktuellen Sozialwissenschaften seien „identitätslos“: „Das Inhaltsverzeichnis einer heutigen Soziologiezeitschrift erinnert an ein surrealistisches Sammelsurium à la Prévert.“ Das Browsing in geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften unterschiedlicher Ansatzzugehörigkeit kann einen ähnlichen Eindruck einer recht diffusen, weil auch systematisch ungeklärten Heterogenität liefern, von der Geschichtstheoretiker ohnehin zumeist überzeugt sind (Kapitel 2.3). Wir haben bereits die Thesen der Geschichtstheoretikerin Fulbrook zur Kenntnis genommen (2.3), die für die Geschichtswissenschaften eine beinahe identische These vertritt wie G. Wagner für die Soziologie(n).174 Der Soziologe R. Greshoff (2008c, 489) monierte leicht resignativ, „wie wenig gemeinsamen konzeptuellen Boden wir in Grundlagenfragen unter den Füßen haben“, was absehbar macht, wie groß die Differenzen über die „Grundlagen“ sein müssen. Auch hier darf man von philosophischer Seite implizite philosophische Annahmen vermuten (2.2). Zu diesen Annahmen gehört offenkundig auch, ob Erklärung in irgendeinem Sinn überhaupt zu den Zielen von Sozialwissenschaften gehört oder ob das Ziel gar irgendwo erreicht worden ist (Schmid 2005b, Greshoff/Schimank 2005a/b, Manicas 2006). Der Geschichtstheoretiker Christopher Lloyd (1993, 1) schrieb bereits: „The social sciences are today in a state of methodological and theoretical confusion masquerading as pluralism“. Über Sozialgeschichtswissenschaftler, Wirtschaftsgeschichtswissenschaftler und Historische Soziologen schrieb er (Lloyd 1993, 191): „They often claim to be studying the social totality, but in what form it exists, how it could have a history sic!, and how it should be explained, are not agreed.“ Stellen wir also einfach eine Frage, dann laufen wir nicht Gefahr, unter der Hand alte Ansichten zu reproduzieren: Was wollen Geschichtswissenschaftler zum Gegenstand ihrer Forschung und der Erklärung wie auch des Verstehens machen, falls überhaupt etwas? Da wir nun wenigstens die Mini-„Anatomie“ grob vor Augen haben, müssen wir zunächst gar nicht auf kontroverse geschichts-ontologische Kategorien wie „Ereignis“, „Struktur“, „Geschichte“ oder auch „Handlung“ oder „kollektive Handlung“ (Gerber 2012) zurückgreifen, sondern nutzen einfach die Impressionen aus dieser Mini-„Anatomie“. Das macht es zwar zunächst auch nicht viel klarer. Das Vorgehen ist aber unter Voraussetzung des gespannten Verhältnisses zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft unkontroverser (Kapitel 2.2). Der Ontologisiererei widmen wir uns später noch lang genug. Das Verstehensobjekt von Alpers (1995) ist, so steht es z. B. im Titel, das nachrepublikanische „Finanzsystem“. Hainzmanns (1975) Gegenstand ist das „Wasserversorgungssystem“ der antiken Stadt Rom. Hitzblecks (1971) Gegenstand ist die „Ernährungswirtschaft Mitteleuropas“. Kirby (1995) beschäftigt sich mit „occupational groups“ und deren Durchschnittskörpergröße. Da sich Adams (1997) mit einer Absenz – einem Nichts – beschäftigt, ist nicht klar, womit sie sich beschäftigt. Eine naheliegende Antwort ist aber, dass ihr Gegenstand vielleicht mit „Southern Illinois“ im Allgemeinen bezeichnet oder mit der Abwesenheit von Klassenspannungen zwischen bestimmten Gruppen darin im Speziellen identifiziert werden kann. Das von ihr verwendete Signalvokabular, das sie nicht sonderlich erläutert, das aber ihre Ge174

Fulbrook zufolge hängen auch die Antworten und mithin die Auswahl der Antworten, die als Puzzlelöser gelten, von den Ansätzen ab: „What counts as an ‚answer‘ to a particular puzzle, or fills the gaps in relation to a feeling of ignorance, varies dramatically across different paradigms“ (Fulbrook 2002a, 134).

5.5 Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

227

genstände anzudeuten scheint, besteht vornehmlich aus „Institution“ und „Struktur“. Aber man könnte zunächst vermuten, dass sie Farmen und typische Akteure in jenen Farmen untersucht, z. B. Wanderarbeiter. Millars (1984, 1986) Gegenstand ist die Römische Republik oder, wie er schreibt, das „Roman political system“. Der Gegenstand von Chamoux und Dauphin (1969) ist wohl (8.1) die Bevölkerung von Châtillon-sur-Seine. Eigentlich ist bloß die Gruppe (7.3.1) der Verheirateten und vornehmlich die Gruppe der Ehefrauen ihr Gegenstand. Was ist der Gegenstand von Stephenson (1988)? Unterschiedliches ließe sich hier vermuten: (i) die Umwelt beziehungsweise, anders ausgedrückt, das Ökosystem von Südengland, (ii) Gruppen von Schafen, (iii) die Mittelalterliche Ökonomie (so der Titel), (iv) Trends in der Entwicklung der Schafswollproduktivität. Stones (2003) Ansatz legt dem von Stephenson gegenüber recht eindeutig nahe, dass es um Grundherrschaften („manors“) geht und deren Management (durch Akteure). Schmitthenners (1952) Gegenstand oder seine Gegenstände sind auch nicht unbedingt gänzlich leicht zu benennen: (i) das Testament Cäsars; (ii) der „Aufstieg“ Oktavians als Resultat des weitgehend unzugänglichen (iii) Handelns von Oktavian in einem spezifischen Umfeld („Kontext“) unter Voraussetzung des Vorhandenseins des Testamentes Cäsars und der Nutzung der testamentarisch ermöglichten Namensübernahme („Institution“). Newmans (1979) Gegenstand ist die Bevölkerung verschiedener Regionen Deutschlands bzw. ein Sample eines Teils der Bevölkerung, der innerhalb Deutschlands emigrierte. Jones (1960) Gegenstand ist die antike Stoff- bzw. Kleidungsindustrie. Bei Huggett (1988) und Rilinger (1976) ist der Gegenstand nicht unbedingt leicht zu benennen. Im Fall von Huggett müsste man auf der Basis der Oberflächenlektüre teilweise behaupten, der primäre Gegenstand seien Artefakte und deren Verteilung auf Friedhöfen usw., die hypothetisch erklärt werden soll durch etwas, das er „Mechanismus“ nennt. Rilinger (1976, 10 f.) spricht davon, es müsse darum gehen, „den Wahlleiter als ein Element innerhalb des Wahlsystems und dieses als Subsystem innerhalb der Verfassung zu verstehen“, weshalb ich als Gegenstände von Rilingers Forschung (i) das Wahlsystem bzw. (ii) die „Verfassung“ Roms und (iii) den Wahlleiter als Typus innerhalb dieses „Wahlsystems“ an dieser Stelle vorschlagen würde. In anderen Fällen (iv) geht es um beispielhafte konkrete Wahlen. Frings (2007a) Gegenstand ist demgegenüber wieder nicht leicht zu benennen, obwohl dessen Geschichtstheorie besagt, es gehe in der Geschichtswissenschaft typischerweise um ein „Subjekt“ und dessen „Veränderung“, nicht bloß um „Ereignisse“ (Kapitel 6.4). Doch „Schrift“ oder „Sprache“ möchte ich lieber nicht als „Subjekt“ der „Veränderung“ und Gegenstand seiner Forschung zur „Schriftpolitik“ schreiben, denn mir ist unklar, ob sich so etwas überhaupt verändern kann und ob so etwas überhaupt existiert. Vielleicht ist der Gegenstand oder das „Subjekt“ mit den jeweiligen Staaten am besten zu benennen, in denen sich die untersuchten „Schriftwechsel“ vollzogen. Es sollte wohl nicht falsch sein, Hölkeskamps (2011 1987) primären Gegenstand mit „die Nobilität“ zu bezeichnen, wobei andere sekundäre Gegenstände von ihm „Strukturen der res publica“ genannt werden. Die „Entstehung der Nobilität“ ist genauer der Gegenstand des Hauptinteresses und das im Kontext der „Strukturen“ oder „Verhältnisse“ dessen, was er „Römische Republik“ nennt. Doch was ist die Nobilität? Kann man so etwas verstehen oder aber die Entstehung von so etwas verstehen? Topolski (1994a, 1979 1965) beschäftigt sich mit der „Gutswirtschaft ost-zentral Europas der Früh-Moderne“ bzw. deren Entstehung und der Entstehung kapitalistischer Wirtschaften im Westen und typischem Handeln von typischen Akteuren in typischen soziohistorischen Kontexten („Kategorien“, „Tatsachen“, „Situationen“; siehe 3.1.5). Vielleicht beschäftigt er sich gar mit Zentraleuropa als – sozusagen – „Ganzes“, da die Regionen, so Topolskis These, voneinander irgendwie abhängen bzw. miteinander irgendwie verbunden

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

sind. Medick (1996) beschäftigt sich (i) entweder mit dem Flecken Laichingen oder mit (ii) den Webern Laichingens, letztlich wohl auch mit Gruppen und (iii) in diesen Gruppe verbreiteten Praktiken und Interaktionsformen, neben noch vielem anderen. Wozniak (2013) geht es schlicht, aber ergreifend, zunächst um Quedlinburg, was wiederum dem Titel zu entnehmen ist. Darin geht es dann um Unterschiedliches, zum Beispiel um die Bevölkerungsentwicklung und Reichtumsunterschiede bestimmter Stadtteile. Und so weiter und so fort. Wir können uns jetzt von Scholz das naheliegende Satzschema auswählen und wir könnten dann die spezifischen Gegenstände dieser Studien dort eintragen. Falls es sich jeweils um ganz viele verschiedene handelt, könnte man die eigens in der „Froschperspektive“ zusammensuchen. Das könnten wir endlos treiben, auch über die Mini-„Anatomie“ hinaus und bis ins Detail dieser Studien, im Extrem bezogen auf jede einzelne Hypothese. Falls die Geschichtswissenschaften absolut heterogen wären, fände man keinerlei Gemeinsamkeiten in derartigen Listen. Falls die Geschichtswissenschaften nicht absolut heterogen sind, dann sollten sich irgendwann Ähnlichkeiten herausschälen. Falls es klar integrierte oder konturierte Ansätze in den Geschichtswissenschaften (und nicht bloß den Metadiskursen) tatsächlich gibt, dann müssten sich diese ganz natürlich aus Überarbeitungen solcher Listen ergeben. Auch die Ontologie in der Geschichtswissenschaft oder in den Geschichtswissenschaften ergibt sich in philosophischer Stilisierung oder kategorialer Ausarbeitung dann fast von selbst. Hier nur einige impressionistische Vorschläge zur Anatomie, die keineswegs verbindlich diese Studien oberflächlich charakterisieren: (1) Der Geschichtswissenschaftler Alpers versteht das nachrepublikanische Finanzsystem. (2) Der Geschichtswissenschaftler Kirby versteht die Gruppe der Grubenarbeiterkinder. (3) Der Geschichtswissenschaftler Millar versteht das Römische politische System. (4) Der Geschichtswissenschaftler Hölkeskamp versteht die Nobilität der Römischen Republik. (5) Der Geschichtswissenschaftler Frings versteht Schriftwechsel in den Turkstaaten x, y, z. (6) Der Geschichtswissenschaftler Topolski versteht die osteuropäische Gutswirtschaft. (7) Der Geschichtswissenschaftler Schmitthenner versteht den Aufstieg Oktavians und die conditio nominis ferendi. (8) Der Geschichtswissenschaftler Gaddis versteht den Kalten Krieg. (9) Der Geschichtswissenschaftler Füssel versteht die Gelehrtenkultur der vormodernen Universitäten. (10) Die Geschichtswissenschaftler Stone und Stephenson verstehen spätmittelalterliche Trends in der Schafwollproduktion. (11) Der Geschichtswissenschaftler Hainzmann versteht das Wasserversorgungssystem des antiken Roms. Usw.

5.5 Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

Stand der Forschung bzgl. Gegenstand x1, x2, x3, etc. in der Hinsicht Q, Was? Wie? Wo? Wohin? Woher? Wozu? Wer? Warum? Woraus? Wann? Etc.

Abbildung 17

Problem(e) bzgl. Gegenstand x1, x2, x3 etc. in der Hinsicht Q, Was? Wie? Wo? Wohin? Woher? Wozu? Wer? Warum? Woraus? Wann? Etc.

Frage(n) bzgl. Gegenstand x1, x2, x3 etc. in der Hinsicht Q, Was? Wie? Wo? Wohin? Woher? Wozu? Wer? Warum? Woraus? Wann? Etc.

Erklärung(en) von Gegenstand x1, x2, x3 etc. in der Hinsicht Q, Was? Wie? Wo? Wohin? Woher? Wozu? Wer? Warum? Woraus? Wann? Etc.

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Verstehen von Gegenstand x1, x2, x3 etcin der Hinsicht Q, Was? Wie? Wo? Wohin? Woher? Wozu? Wer? Warum? Woraus? Wann? Etc.

Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung 5 und einige der „W’s“ der Wissenschaften (Bunge 1984b, 29).

Man sieht gleich, irgendwie wird alles etwas unübersichtlich, weil hier z. B. diese Forschungsprojekte ebenso kaum einfach in, zum Beispiel, das kausalistische Schema „Das Abfeuern des Schusses verursachte den Tod“ zwängen kann wie in ein intentionalistisches oder hermeneutisches Schema (siehe im Überblick Lorenz 1997). Auch Covering Laws wird man teilweise ebenso wenig direkt vermuten wie „Erzählungen“. So kommt man also nicht sonderlich weit, wenn man die Praxis der Geschichtswissenschaften zum Ausgangspunkt nimmt, weil natürlich die Verstehensgegenstände so noch äußerst skizzenhaft beschrieben sind. Wir haben ja schon darauf insistiert, dass am Anfang einer Studie nicht ein „Phänomen“ steht, sondern ein Problem. Kocka (1978, 148, Fußnote 11) schrieb: „Es ist unbestreitbar, daß das Material selbst, der zu erforschende Gegenstand, den Forschungsvorgang nie hinreichend strukturiert.“ Das ist klarerweise so, schließlich kann man bezogen auf diesen „Gegenstand“ unterschiedliche Fragen formulieren, weshalb auch in anderen Kontexten (Objektivitätsproblematik) nicht irrelevant ist, ob man sagt, Geschichtswissenschaftler untersuchen z. B. Gegenstände („subjects“), Themen oder Fragen (vgl. ambig diesbezüglich Dray 1993, Kapitel 3). Kocka meinte freilich, wohl repräsentativ für „Historische Sozialwissenschaft“, mit einem „expliziten theoretisch-begrifflichen Instrumentarium“ könne oder müsse diese Strukturierung des Gegenstandes in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte geschehen, in diesem Fall durch ein „klassengesellschaftliches Modell als Ausgangspunkt“ (Kocka 1978, 3). Dabei handelt es sich dann um eine weitere Spezifikation des geschichtswissenschaftlichen Problems vor dem Hintergrund weiterer Überzeugungen im jeweiligen Ansatz. Wir sind hier mit weniger zufrieden, nämlich mit einer konkreteren Frage bezogen auf die jeweiligen Gegenstände (Abbildung 17). Stellen wir also eine weitere Frage: In welchen Hinsichten wollen Geschichtswissenschaftler ihre (unterschiedlichen) Gegenstände untersuchen, d. h. welche Fragen stellen sie an welche Gegenstände? Das ist nichts anderes als das von Scholz vorgeschlagene zweite Satzschema als Frage formuliert, das wir vor dem Hintergrund der Kapitel 3 und 4 hier ganz ungezwungen verwenden können: „(V-S-2) Ein Subjekt S versteht + indirekter Fragesatz“. Wenn man nun erneut die Mini-„Anatomie“ konsultiert, dann sieht man gleich, dass einige Gegenstände auf diese Weise exakter eingekreist werden können. Da wir hier zunächst

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

voraussetzen, dass unsere Sample-Geschichtswissenschaftler erfolgreich waren, können wir ihnen auch Verstehen unterstellen. Ferner gehen wir von der Gradualität von Erklärung und Verstehen aus, die erstens realistischer, d. h. forschungsnaher ist als Ganz-oder-gar-nichtThesen, zweitens darf sie als communis opinio gelten.175 Vor dem Hintergrund des Vorangegangenen stellt sich die Frage, ob man Verstehenstypen und korrelierende Erklärungstypen womöglich findet, indem man auf Typen von Fragen zurückgreift. Oliver R. Scholz (z. B. 2008b, 119) ist allerdings der Auffassung, dass eine Typologie von Fragen auch nicht ausreicht, um Verstehenstypen klar zu identifizieren. Denn viele Fragen lassen sich in andere prima facie übersetzen. Bekanntermaßen glauben zumindest manche, eine Warum-Frage ließe sich immer mit „Was waren die Ursachen?“ übersetzen, was z. B. Hempel (1965) bereits anders sah (Kapitel 6.1), neben vielen anderen. Wir sehen auch in der obigen impressionistischen Liste, dass es öfters Variationsmöglichkeiten gibt. Scholz hat entsprechend – richtigerweise, wie ich vermute – darauf hingewiesen, dass es vielleicht zu einfach oder irreführend wäre, auf der Basis einer Typologie von Fragen sogleich Typen des Verstehens zu postulieren, also z. B. Was-Verstehen, Wie-Verstehen, Warum-Verstehen, Welche-Verstehen, Wo-Verstehen, Wieviele-Verstehen usw. Das scheint plausibel zu sein, denn „Was war das Römische politische System?“ ist eine andere Frage als „Was waren die Ursachen dafür, dass Schaf Lieselotte im Spätmittelalter so schönes Haar hatte?“ oder auch „Was ist der Wert jener Eigenschaften des Ökosystems Zentraleuropas im Mittelalter im Zeitverlauf, die in ihrer Gesamtheit als ‚Klima‘ bezeichnet werden?“ Wir könnten jetzt mit Scholz vermuten, dass wir einer Identifikation eines Verstehenstyps dann näherkommen können, wenn wir Typen von (Forschungs-)Gegenständen – im noch immer ontologisch neutralen Sinn des Ausdrucks – mit Typen von Fragen kombinieren. Dass wir damit irgendetwas Feinkörniges bereits erhalten, ist zwar nicht zu erwarten, weitere Klärung aber schon. In Kombination mit indirekten Fragewörtern kommt man eventuell schon ein wenig weiter, denn die geschichtsphilosophischen oder geschichtsontologischen Fragen werden zumindest sofort etwas klarer, denn dort, wo die Gegenstände als ontische klar sind,

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Wendet man sich dem Erklären und Verstehen in tatsächlicher Forschung zu, dann wird man auch die Hypochondrie des Total-Verstehens vermeiden wollen, die immer mit der des Total-Versagens direkt gekoppelt zu sein scheint. Wie wiederum unterschiedliche Philosophen unterschiedlicher Herkunft betonen, ist Verstehen von irgendetwas keine absolute Angelegenheit. In Scholz‘ Allgemeiner Hermeneutik heißt es: „Verstehen ist keine Entweder-Oder-Angelegenheit, sondern eine Sache des Mehr oder Minder. (…) Allerdings heben wir unter den Graden des Verstehens gerne zwei besondere Werte heraus: (i) das ideale oder vollkommene Verstehen (ein Grenzwert, der in manchen Fällen nicht erreicht werden kann) und (ii) das im jeweiligen Kontext zureichende Verstehen (ein Schwellenwert, der kontextuell festgelegt ist)“ (Scholz 2011, 5). In Bunges Allgemeiner Wissenschaftstheorie heißt es: „Understanding is not an all-or-none operation: it comes in several kinds and degrees. Even after studying a subject for decades we may feel that we can still make progress at understanding it: we learn to see it in different ways, to relate it to different themes, or to use it in different ways. Until a time may come when, having understood the subject fairly well, we realize that it is error ridden or has become obsolete“ (Bunge 1983b, 3). Bei der Philosophin der Geschichtsdidaktik J. R. Martin heißt es: „Understanding is at issue, and there are degrees and levels of understanding as well as all sorts of ways to understand a given thing“ (Martin 1970, 54). Die Gradualität von Verstehen und Erklären passt auch wieder ganz zur Frage nach der Systematizität geschichtswissenschaftlicher Problematiken: „Posing any problem presupposes knowing the solution to logically previous problems. In turn, the solution to any interesting problem raises further problems. In short, problems come in packages or systems. The same holds for issues, or practical problems (Bunge 2003a, 91 f.; vgl. Scholz 2002, 222). Bedauerlich ist, dass wir in unserem Gegenstandsbereich nicht nur die Gegenstände nicht klar kennen, sondern auch keine Schwellenwerte oder Grenzwerte und klare Ordnungen oder „Stufen“ (Scholz) des Verstehens; siehe dazu kurz 8.1. Ferner haben sicherlich geschichtswissenschaftliche Studien manchmal gar keinen klaren, einzigen, Gegenstand, sondern nehmen sich Haufen von teilweise Heterogenem vor.

5.5 Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

231

werden sie auch als epistemische Gegenstände dann klarer, wenn man die Frage oder die Fragen hinzufügt. Als Rekonstruktion dessen, was Topolski vorschwebte, ist „Der Geschichtswissenschaftler Topolski versteht die osteuropäische Gutswirtschaft“ unexakt, denn mindestens muss man schreiben: Der Geschichtswissenschaftler Topolski versteht, warum im Osten Europas eine Gutswirtschaft („System“) entstanden ist. Vielleicht noch exakter wird sein Problem und, vom Ende aufgezäumt, sein Verstehen beschrieben, wenn man schreibt: Topolski versteht, warum im Osten (und nicht im Westen) eine Gutswirtschaft entstanden ist. Das stimmt aber nur, wenn man die Strategie der „Spezifikation“ der deduktiv-nomologischen Erklärung berücksichtigt. Denn ohne diese Spezifikation versteht Topolski einfach, warum es im Osten zur Entstehung eines solchen Systems gekommen ist. Hier ist also im Zweifel die exakte Formulierung der Frage relevant. Auch Shepherd (1988, 406) schreibt bezogen auf die von ihm kritisierte Hypothesenmenge von „the usual explanation of the North-South contrast in tenancy rates“. Man wird also unterstellen dürfen, dass sein Intelligendum auch kontrastiv ist: Shepherd versteht besser, warum im Norden Chinas dies der Fall war, im Süden jedoch jenes (was zudem eventuell noch, zumindest falls die von Shepherd 1988, 426, geforderte Forschung stattgefunden hat, also in anderen Fällen derselben Forschungslinie, jeweils regional spezifiziert werden könnte). In eine ähnliche Richtung hatte in der Geschichtsphilosophie einzig J. R. Martin gedacht, die sich vornehmlich aus didaktischer Perspektive der Erklärung-Verstehen-Problematik widmete: „Recognizing that the verb ‚to understand‘ takes a variety of indirect questions is perhaps the first step toward wisdom“ (J. R. Martin 1970, 150). Eigentlich ist es der zweite Schritt. Der erste ist wohl die Erkenntnis, dass diese Fragen an unterschiedliche Gegenstände gerichtet werden können und die Menge dieser Forschungsgegenstände recht heterogen ist. Zuallererst müssen auch Geschichtswissenschaftler den Gegenstand grob festlegen. Unser Forschungsprogramm entlehnen wir dann gleichsam Scholz und Martin wie all jenen, die keinen unüberbrückbaren Hiatus zwischen Erklärung/Erklären und Verstehen ausmachen: „We see then that different sorts of understanding can be had of one and the same thing or class of things“ (J. R. Martin 1970, 150 f.; siehe auch Railton 1980), nämlich, ex hypothesi, wenn man unterschiedliche Fragen an sie richtet, deren wahrheitsnahe Beantwortung diese Gegenstände auch erlauben. Wenn man die kontroverse (Kapitel 7) These akzeptierte, dass so etwas wie Republiken existieren, dann könnte es z. B. so sein, dass Rilinger (1976), Millar (1984, 1986) und Hölkeskamp (2011 1986) bereits teilweise ähnliche, teilweise komplementäre, aber eine Vielzahl von Fragen an denselben Gegenstand richten, nämlich die „Römische Republik“ (in speziellen Zeiträumen). Auch im Fall von Hainzmann war obige Rekonstruktion unexakt. Dort hieß es: Hainzmann versteht das Wasserversorgungssystem Roms. Hainzmann versteht nämlich durchaus mehreres, z. B. woraus das (technische) Wasserversorgungssystem zusammengesetzt war (8.1), wie und wann es erweitert worden ist und manchmal auch in den Altgeschichtswissenschaftlern bekannten Grenzen des Möglichen, warum es erweitert worden ist, nämlich weil irgendein Kaiser die Erweiterung in Auftrag gegeben hat, was man z. B. durch Hinweise auf Stiftungen in Form von Inschriften begründet behaupten kann. Er versteht auch das Wasserversorgungssystem Roms in sozialer Hinsicht besser als vor der Studie, z. B. im Hinblick auf die personale Zusammensetzung der Verwaltung („Prosopographie“). Man kann also jetzt versuchen, damit etwas weiter zu kommen. Wenn z. B. klar wäre, welche Fragen Geschichtswissenschaftler im Allgemeinen stellen, könnte man diese Fragetypen bestimmten Typen von Gegenständen zuordnen und damit geschichtsmetatheoretische Ansätze oder auch konkrete Forschungslinien rekonstruieren. Vielleicht ergäbe sich gar eine gewisse „Systematik“ oder „Ordnung“ in diesen Fragestellungen, also eine Art abstraktes

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Programm zum Erforschen und Verstehen solcher Gegenstände. Im Rahmen der Anatomie ergibt sich z. B. teilweise so etwas Ähnliches wie folgt: (1) Der Geschichtswissenschaftler Alpers versteht, was das nachrepublikanische Finanzsystem war. (2) Der Geschichtswissenschaftler Alpers versteht, welche Funktion der fiscus Caesaris im nachrepublikanischen Finanzsystem erfüllte. (3) Der Geschichtswissenschaftler Alpers versteht, wie das nachrepublikanische Finanzsystem funktionierte. (4) Der Geschichtswissenschaftler Kirby versteht, warum Elemente der Gruppe der Grubenarbeiterkinder im Durchschnitt kleiner waren als Mitglieder in Vergleichsgruppen. (5) Der Geschichtswissenschaftler Millar versteht, was das Römische politische System war. (6) Der Geschichtswissenschaftler Hölkeskamp versteht, wie es im „Rahmen“ der „Verhältnisse“ oder „Strukturen“ zur Entstehung der Nobilität der Römischen Republik gekommen ist. (7) Der Geschichtswissenschaftler Frings versteht, warum unterschiedliche Turkstaaten zur Kyrillica wechselten. (Oder anders: Der Geschichtswissenschaftler Frings versteht, wie und warum es in unterschiedlichen Turkstaaten zu einem Schriftwechsel kam.) (8) Der Geschichtswissenschaftler Topolski versteht, warum in Osteuropa die Gutswirtschaft auf der Basis von Sklaverei und im Westen eine kapitalistische Wirtschaft („system“) entstanden ist. (9) Der Geschichtswissenschaftler Schmitthenner versteht besser als seine Vorgänger in seiner Forschungstradition, wie es zu dem sagenumwobenen Aufstieg Oktavians kommen konnte („how-possible explanation“; Dray 1957). (10) Der Geschichtswissenschaftler Gaddis versteht, indirekter Fragesatz bezogen auf den "Kalten Krieg". (11) Der Geschichtswissenschaftler Füssel versteht, indirekter Fragesatz bezogen auf die Gelehrtenkultur, die vormoderne Universität oder bestimmte Typen von Ritualen. (12) Der Geschichtswissenschaftler Füssel versteht, wie typischerweise ein Promotionsritus ablief. (13) Der Geschichtswissenschaftler Füssel versteht, welche Funktion der Rektor einer vormodernen Universität erfüllte. (14) Der Geschichtswissenschaftler Füssel versteht, warum es in protestantischen Universitäten häufiger zu diesen oder jenen Konflikten kam als in katholischen Universitäten. (15) Die Geschichtswissenschaftler Stone und Stephenson verstehen, wie Trends in der Produktion von Schafswolle verlaufen sind. (16) Die Geschichtswissenschaftler Stone und Stephenson verstehen, warum es zu den erschließbaren Trends in spätmittelalterlicher Schafwollproduktion gekommen ist. (17) Der Geschichtswissenschaftler Hainzmann versteht, woraus das Wasserversorgungssystem Roms genauer bestand. (18) Der Geschichtswissenschaftler Jones versteht, wie die Kleidungsindustrie des Römischen Kaiserreichs organisiert war. Die Liste könnte man fortsetzen. Wie wir nun sehen werden, ist dies immer noch nicht genug der Differenzierung. Unsere Geschichtswissenschaftler und Geschichtstheoretiker haben uns

5.5 Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

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neben dem Allgemeinen Hermeneutiker Scholz (2015a/b, 2016b) und dem Physikerphilosophen M. Bunge (1959a/b, 2013a 1959, Kapitel 7.1) auch schon den Weg gewiesen, wonach wir bei der Suche nach Erklärungs- und Verstehenstypen oder zumindest einer Annäherung an die Forschungspraxis noch suchen können, neben (i) Typen von Gegenständen und (ii) Typen von Fragen. Geschichtswissenschaftler und Geschichtstheoretiker schreiben manchmal, es käme in geschichtswissenschaftlicher Forschung darauf an, (iii) Relationen, Zusammenhänge, Beziehungen, Verbindungen, Verknüpfungen oder „Abhängigkeitsverhältnisse“ („rapporti di dipendenza“; Topolski 1979 1965, 156, Cardoso/Brignoli 1984; „Einflußbeziehungen“; Kriedte 1991, 46, 48 f.; „Strukturmuster und Verbindungen historischer Fakten“, „kausaler wie anderer Art“; Evans 1999, 242) zu untersuchen beziehungsweise aufzuzeigen. Wir wissen natürlich a priori, dass all dies jeweils eine (implizite) Auffassung darüber voraussetzt, zwischen welchen (Typen von) Gegenständen diese (Typen von) Relationen bestehen, wobei wir hier „Relation“ als ontologische Oberkategorie setzen wollen. Das wissen wir, weil Relationen per Definition von „Relation“ zwischen mindestens zwei Relata bestehen und dies ja auch ontologisch nahe liegt. Das Aufzeigen von Relationen ist wohl auch ein minimales Ziel, das sich in mancher Sparte der Geschichtstheorie von Bernheim bis heute nachweisen ließe.176 Das ist zwar nicht verwunderlich, weil man die Oberfrage aller Philosophie und eventuell allen Denkens mit „Was sind die Gegenstände und was sind die Relationen zwischen ihnen?“ zusammenfassen könnte. Wie dem auch sei, der Geschichtstheoretiker und früher in der Wirtschaftsgeschichtswissenschaft nicht unbekannte Niederländer B. Slicher van Bath schreibt zum Kontext der letzten Absätze klar und deutlich, was er von wissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Forschung erwartet. Wir verdanken der Mini-„Anatomie“ in Gestalt von H. Hitzbleck (1971) diesen Hinweis, der diese Sicht zitierte und damit wohl adaptierte: „Met het geisoleerde feit, dat niet met andere in verband staat, kann de onderzoeker weinig aanvangen; voor het historische onderzoek blijven dergelijke feiten onbruikbaar, tot het moment, da zij met andere in verband gebracht kunnen werden” (Slicher van Bath 1978, 117; vgl. Cipolla 1991, 55). Das heißt, mit isolierten Tatsachen kann geschichtswissenschaftliche Forschung wenig anfangen, bis zu dem Moment, in dem sie mit anderen Tatsachen (hypothetisch) in Zusammenhang gebracht werden können. E. Naville oben hatte dies bereits 1895 metaphorisch auf den Punkt gebracht. Haufen zusammenhangloser „Daten“ oder „Fakten“ beschweren allenfalls den Geist, ohne ihn zu bereichern.

176

Verwundern kann nach diesen Äußerungen kaum noch, dass Bernheim (1908, 622 f.) bereits fortwährend von „Verbindungen der Tatsachen“ und „Beziehungen und Verknüpfung der Tatsachen“ schrieb, zumal er „Entwicklung“ und „genetische Betrachtung“ für oder in der „Kombination“ für essentiell hielt. Es heißt gar, die „Ereignisse“ würden „in ihren Beziehungen zueinander durch das Vorher und Nachher bedingt und verstanden“. Weit früher in demselben Werk will Bernheim wohl sagen, dass isolierte „Facta“ den Geschichtswissenschaftler nicht interessieren. Er fügt dort an, den Historiker interessiere das „Typische“ (Bernheim 1908, 7 f.): „Das Einzelne, Besondere selbst ist unser wissenschaftliches Objekt, nur nicht in zusammenhangloser Isoliertheit, sondern im Zusammenhange der Entwicklung, innerhalb derern es steht und soweit es für diese in Betracht kommt“ (Bernheim 1908, 10). Dahinter standen aber vielleicht teilweise recht obskure, vielleicht „idealistisch“ (Kapitel 6.4) zu nennende ontologische Ideen. Auch Bloch schreibt: „Wie hätte man sich anhand des ersten Eindrucks, der sich ja mehr der Betrachtung als der Beobachtung verdankt, ein Bild von den Zusammenhängen machen können, wo sich doch nichts deutlich unterscheiden ließ?“ (Bloch 2002 1949, 172). Siehe auch Cardoso 1982, 170; Vilar 1982, 12, Salvemini 1969 [1939].

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Abbildung 18

„(a) Analysis through reduction. (b) Analysis through integration“ (aus Bunge 1983b, 42). Im Kontext unserer Argumentation können wir „Analyse“ durch „Verstehen“ ersetzen.

Wenn wir nun die berühmt-berüchtigten Ansätze untersuchen wollten, dann könnten wir im Rahmen der Analyse von deren Ontologie und Methodologie (kurz: Ontomethodologie) fragen, nach welchen Relationen dort gefragt wird, denn zum Beispiel für punktförmige Tatsachen (7.3.7), die völlig unkontextualisiert sind, interessiert sich gewöhnlich um ihrer selbst willen niemand (vgl. auch Evans 1999, 79). Bekanntermaßen heißt es in der Geschichtstheorie auch regelmäßiger, man strebe „Analyse“ (3.2) an, zum Beispiel statt Erzählung. Was meint „Analyse“ zumeist? Vermutlich meint dies die Zergliederung eines unterstellten „Ganzen“ in seine Teile (Gegenstände) und deren Relationen. „Synthese“ bezeichnet zumeist den umgekehrten Weg, das heißt durch das Hypothetisieren von Relationen zwischen Teilen ein Ganzes gedanklich zu rekonstruieren (Abbildung 18). Wir nähern uns also langsam ontologischen Problemen.177 Slicher van Bath geht entsprechend davon aus, dass der Geschichtsforscher kein Faktensammler („feitenverzamelaar“) sei. Das Ziel des Forschers sei das Erklären („verklaren“) der Realität (Slicher van Bath 1978, 116). Oliver R. Scholz schreibt aus hermeneutischer und erkenntnistheoretischer Sicht: Wissen kann man auch einzelne isolierte Wahrheiten; kennen kann man auch einzelne Orte, Zeitpunkte, Ereignisse oder Gegenstände; Verstehen geht dagegen stets auf Strukturen und Zusammenhänge. Mit anderen Worten: Verstehen ist eine holistischere Leistung als Wissen und Kennen (Scholz 2016b, 5 22). Der Physiker M. Bunge behauptete, im Unterschied zu manchen Auffassungen ignoriere die (Natur-)Wissenschaft nicht „individuelle Sachen oder einzigartige Tatsachen“, sondern was sie ignoriere, sei eine „isolierte Tatsache“ (Bunge 2013a 1959, 34). M. R. Cohen schrieb ähnlich: „We cannot understand or explain any phenomenon unless we relate it to other phenomena in a determinate relation“ (Cohen 1947, 100). Trivialerweise kann von Erklärungen (und „Interpretation“; Cohen 1947, 29) oder von einem erklärenden Modell minimal verlangt werden, dass sie oder es eine Relation aufzeigt (vgl. auch Wächter 1996, 7), da ja ein x ein y erklären soll oder, was ja nicht dasselbe heißen muss, ein Modell Relationen zwischen einem x und einem y aufzeigen soll, um irgendetwas besser zu verstehen, nämlich entweder eines der Relata x und y oder einen Gegenstand z, der aus x und y in ihren Relationen gebildet wird. 177

Auf das Problem, dass wir nicht so recht wissen, was das Ganze in den Geschichtswissenschaften ist, und ob es überhaupt eines gibt, kommen wir noch wiederholt. Zum Beispiel war im Rahmen von „kolligatorischen Erzählungen“, „Interpretationen“ oder „kolligatorischen Erklärungen“ (Plenge 2014c) immer mal von „Ganzheiten“ („wholes“) und dem „Einfügen“ von etwas in eine „Ganzheit“ oder dem „Zusammenfassen“ von etwas zu einer „Ganzheit“ die Rede (Kapitel 6.4).

5.5 Eine dritte Präzisierung durch ein Forschungsprogramm: Gegenstände und Relationen

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Im letzten Fall wird man teilweise nicht sagen wollen, eines der Relata erkläre das andere (8.1). Fassen wir das alles grob zusammen, dann können wir uns den Antworten auf Fragen „Was ist ein Typ von Verstehen?“ und „Was ist ein Typ von Erklärung?“ also recht einfach nähern, indem wir (i) Gegenstände mit (ii) Typen von Fragen kombinieren und dabei unterstellen, dass in einer solchen Kombination womöglich nach einem (iii) spezifischen Typ von Relation gefragt wird. Wenn man so möchte, lassen sich basale Verstehensprobleme durch die Fragen wie „In welcher Relation r steht x mit y?“, „In welchen Zusammenhang r passt x mit welchem y?“ oder so etwas wie „Wir kennen x und y und vermuten, es gibt eine Beziehung: Aber welche?“ und „Finde die Zusammenhänge!“ ausdrücken. Damit ist noch offen, um welche Relationen es sich genau handelt und auch die bisher gemiedenen oder problematisierten bekannten Kandidaten könnten wieder eine Rolle spielen, z. B. kausale Relationen, Gesetzmäßigkeiten oder (andere) „Abhängigkeitsrelationen“ (Topolski). Ontologische Unschuld gibt es auch hier nicht, wenn man die Tür einmal geöffnet hat (J. R. Martin 1970. 153): „…. understanding seems to involve seeing connections whatever the indirect questions may be.“ In metaphysischer Hinsicht kann „connection“ weitaus stärker sein als „relation“ (7.3.3), wovon Martin auch spricht (z. B. ebd. 156): „The connection or relationship must be there to be seen if there is to be understanding.“ Damit steht natürlich die Frage im Raum: Welche Relationen oder Typen von Relationen gibt es? Welche sind besonders erklärungsaffin und Verstehen ermöglichend, falls sich im Spektrum der Relationen diesbezüglich Unterschiede zeigen? Ob diese Relationen nun kausale Relationen sind – was immer das ist; 6.3 –, steht dann noch immer auf einem anderen Blatt. Antikausalisten glauben ja nicht an deren Existenz oder an deren Relevanz im soziohistorischen Erklärungskontext. Auch der Philosoph P. A. Railton (1980) sprach von „due to relations“, die nicht kausal, aber dennoch als erklärend oder Verstehen hervorbringend angesehen werden. Unter der Voraussetzung, dass Verstehen etwas mit Erklärung zu tun hat, hätte Erklärung auf der grundlegendsten Ebene etwas mit diesem Finden (dynamisch), Kennen (statisch) oder Aufzeigen (pragmatisch) von Relationen zu tun, wenn es ferner so ist, dass Verstehen etwas mit diesen Relationen zu tun hat. Statisch betrachtet (5.4) wäre die Erklärung schlicht und ergreifend die Kenntnis dieser Relation zwischen den Gegenständen, dynamisch betrachtet (5.4) wäre es das (hypothetische) Auffinden dieser Relationen in einem Forschungsprozess. Dynamisch betrachtet hätte Erklärung etwas mit der Entdeckung der Relata und damit der Relation zwischen den Relata zu tun, wobei die Entdeckung sozusagen zum Verstehen führt (Mittel) oder das Verstehen ganz einfach ist. Und pragmatisch (5.4) betrachtet wäre eine Erklärung das Äußern einer Beschreibung dieser Relation zwischen diesen Gegenständen. Erotetisch wäre alles eine Erklärung, was eine Antwort auf eine Frage nach Relationen liefert oder nach solchen Relationen, die man als Verstehen ermöglichend betrachten möchte (5.5). Welche Relationen das jeweils sind, sollte zum einen davon abhängen, welche Relationen existieren und ferner davon, welche Relationen in welchen Disziplinen als in welchen Grenzen relevant oder wichtig gelten und ferner als explanatorisch oder Verstehen erweiternd. Auf Probleme, die in der Korrelativitätsthese von Erklärung und Verstehen auch aufgrund der Vielfalt der zuvor auseinandergehaltenen Erklärungsvorstellungen und aufgrund der möglichen Vielfalt von relevanten Relationen stecken, kommen wir später noch kurz, denn je nach Auffassung der Relation und dem herangezogenen Erklärungsverständnis könnte die These sich als plausibler oder unplausibler erweisen, dass Verstehen immer etwas mit Erklärung zu tun hat. Daher wurde oben den Thesen über die Vermittlung des Wegs vom Problem zum Verstehen durch Forschung bezogen auf Erklärung noch ein Zweifel angefügt. Das ergibt nun ein schön einfaches Forschungsprogramm, mit dem man sich prinzipiell jedem geschichtswissenschaftlichen Text nähern kann. Und dieses Programm führt zu einfa-

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chen Fragen einer geschichtswissenschaftsnahen Ontologie und einer Neu-Lektüre der Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur, denn diese könnte zu diesen Fragen durchaus Erhellendes zu bieten haben, wenn man die apriorischen Tendenzen in dieser Literatur zunächst aus dem Weg geräumt hat (4.2) und ferner die Problemlagen bezogen auf dieses Forschungsprogramm erneut in den Blick nimmt. Die mögliche Pluralisierung der als relevant erachteten Relationen könnte dann eventuell zur weiteren Integration der Mini-„Anatomie“ beitragen (8.1). Auch andere in der Tradition kaum gestellte Fragen und ihre Klärung oder Beantwortung könnten hierzu beitragen, zum Beispiel die Frage, zwischen welchen Relata überhaupt Kausalrelationen im Soziohistorischen bestehen (Kapitel 7). Es ist ja letztlich ganz einfach: Ohne eine (genauere) Idee von den Gegenständen hat man auch keine (genauere) Idee über die Relationen zwischen ihnen. Je unklarer ist, worum es geht, je unklarer müssen Debatten über Erklärung und Verstehen natürlich sein.

5.6

Zwischenfazit: Neuer Überzeugungshintergrund, neue Probleme, alte Fragen Wenn für einen banalen Zweck ein übermäßiger Aufwand getrieben wird oder aber wenn man trotz eines wichtigen Zwecks mit Methoden aus vergangenen Jahrhunderten oder Jahrtausenden arbeitet, dann hat man das Urteil über die eigene Arbeit bereits gesprochen, und die Geschichte wird über sie hinweggehen (Essler 1970, 60). Generally speaking, explanation in history is a highly complex procedure (Topolski 1978, 35).

In Kapitel 3 haben wir skizzenhaft Ausschnitte aus der Mini-„Anatomie“ zur Kenntnis genommen, nachdem wir in Kapitel 2.3 die einfache Frage „Was machen Geschichtswissenschaftler?“ gestellt haben. Die Frage haben wir gestellt, weil Geschichtsphilosophen – so lautet die Hypothese – keinerlei gemeinsame Auffassungen über dasjenige haben (2.2), was sie „Geschichte“ oder „Geschichtsschreibung“ nennen und was von uns „Geschichtswissenschaft“ genannt worden ist (2.1). Die Frage haben wir auch gestellt, weil unter anderem Äußerungen von Geschichtstheoretikern die Hypothese nahe legen, dass es innerhalb der Geschichtswissenschaft wenig Gemeinsamkeiten gibt (2.3), was dafür sprechen könnte, dass es Geschichtswissenschaft nur im Plural gibt. In Kapitel 4 haben wir recht simple aber zentrale Charakteristiken aus der Mini„Anatomie“ zusammengetragen, die auch im Großen und Ganzen und im Groben in allen vorliegenden Studien berücksichtigt werden. Dabei haben wir schlicht und ergreifend darauf insistiert, dass Geschichtswissenschaftler Forschung betreiben. Basal ist das nichts Anderes als das Stellen von Fragen und das Formulieren von begründeten Hypothesen als Antworten auf die Fragen, wobei sich die Signifikanz oder Geschichtswissenschaftlichkeit wie überall aus dem disziplinären Kontext ergibt. In diesem Kapitel 4, das sicherlich vor dem Hintergrund mancher recht pompöser Geschichtstheorie und –philosophie auch recht schlicht daherkommt, ist eigentlich auch schon beinahe alles enthalten, was in einer Metageschichtswissenschaft (2.4) oder Philosophie der Geschichtswissenschaft zu behandeln wäre, bloß expliziter, genauer und dennoch im Kontakt mit einer Praxis. Wenn es in Geschichtsphilosophie, wie hier unterstellt wurde, auch darum geht zu klären, worum es gehen sollte, dann findet man hier bereits (m)eine Antwort. Eines der größten Desiderate ist eine methodologische und forschungsadäquate Reflexion der Rechtfertigungspraxis der durchaus unterschiedlich erscheinenden (Kapitel 3) geschichtswissenschaftlichen Studien, also die Rechtfertigung unterschiedlicher Typen von Hypothesen (5.1). Die im Untertitel der Geschichtstheorie von D. H. Fischer (1970) angekündigte „Logic of Historical Thought“ steht noch immer weitenteils aus.

5.6 Zwischenfazit: Neuer Überzeugungshintergrund, neue Probleme, alte Fragen

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Bevor die Technik zu verhandeln ist, muss aber die Grundproblematik (wieder) auf dem Tisch liegen, und selbst die scheint unklarer, als man eventuell anzunehmen geneigt ist, schließlich geht es um nicht weniger als den Anfang, den Weg und das Ende von Forschung (2.2, 2.1). By the way, es wird ausnahmsweise erlaubt sein, festzustellen, dass die Lehrbuchdichte hierzu in den Geschichtswissenschaften mit der Nähe zur Gegenwart tendenziell immer dünner wird. In Kapitel 5 haben wir das Mini-Modell philosophisch weiter angereichert, indem wir die Erklärung/Erklären-Verstehen-Problematik nicht verabschiedet, sondern etwas anders ausgerichtet haben. Vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“ erweisen sich überkommene Erklärung-Verstehen-Erzählung-Dichotomien schlicht als obsolet (4.2). Unsere Sample-Geschichtswissenschaftler reden aber zu häufig von Erklärung und von Verstehen, als dass dies in einer Metageschichtswissenschaft einfach ignoriert werden könnte (4.2), obwohl dies metatheoretische Probleme erübrigen würde, auf die wir in diesem Kapitel gestoßen sind. Den Ausgang haben wir von der Praxis der Mini-„Anatomie“, verstreuten Äußerungen der Geschichtstheorie und dem weiteren Kontext geschichtswissenschaftlicher Publikationen genommen, in denen immer wieder von „Problemen“ die Rede ist. Wir stipulieren, dass (geschichts-)wissenschaftliche Fragen vor dem Hintergrund von mit Mängeln behafteten Überzeugungssystemen gestellt werden, wobei die Fragen jene Probleme ausdrücken. Will man mehr erfahren zu der Frage „Was ist ein geschichtswissenschaftliches Problem?“, müsste man mehr über Überzeugungssysteme im Allgemeinen und im geschichtswissenschaftlichen Kontext im Speziellen erfahren, denn jene Überzeugungssysteme entstehen „historisch“ im Rahmen von disziplinärer Interaktion und der Auseinandersetzung mit dem sozial geteilten (oder als sozial geteilt unterstellten) Stand der Forschung in Forschungslinien und –ansätzen (4.1). Vor diesem Hintergrund könnte man nun auch ganz einfach jene teilweise recht ominösen geschichtswissenschaftlichen bzw. geschichtstheoretischen Ansätze unter die Lupe nehmen. Ansätze lassen sich M. Bunge zufolge (1983a, 258) begrifflich in vier Komponenten analysieren, nämlich (i) das Hintergrundwissen (bzw. Hintergrundüberzeugungen), (ii) die Problematik (Menge von typischen Problemen, womöglich zusammenhängender Probleme), (iii) die Menge von Zielen und (iv) die Menge der (allgemeinen und spezifischen) Methoden. Das ist im Kern dasselbe, was die Geschichtstheoretikerin Fulbrook vor Augen hat (4.1.5). Man kann diese Ansätze also ganz einfach in diesen Hinsichten untersuchen, was eine Analyse der Hintergrundontologien als Teil des Hintergrundwissens im Allgemeinen genauso umfasst (vgl. Topolskis 1976: „non source-based knowledge“) wie im Speziellen die Gegenstände dieser Ansätze oder konkreter Forschung im Rahmen dieser Ansätze. Damit sind wir ganz natürlich bei unserem Forschungsprogramm zum Verstehen und zum Zusammenhang von Erklärung und Verstehen gelangt, wenn man, wie wir das getan haben, unterstellt, dass in der Beschreibung der Ziele am Ende das Wort „Verstehen“ auftauchen wird, das in der MiniAnatomie und auch darüber hinaus bezogen zunächst auf heterogen erscheinende Gegenstände immer wieder auftaucht. Dann haben wir den Ausdruck „Hypothese“ wieder in den Fokus der Metageschichtswissenschaft gestellt. Das ergibt sich ganz einfach genau dann, wenn das Ziel von Geschichtswissenschaftlern zunächst nicht in „Erzählung“ oder „Sinnstiftung“ besteht, sondern im Lösen von geschichtswissenschaftlichen Problemen auf der Basis kontrollierter und begründeter Behauptungen. Das obskure Wort „Verstehen“ haben wir zunächst mit Material aus der Allgemeinen Hermeneutik (Scholz siehe Literaturverzeichnis) entmystifiziert und aus meiner Sicht recht nutzlose traditionelle und bloß Verwirrung stiftende Verwendungen kritisch in das rechte Licht gerückt. Danach haben wir die gröbsten Fallstricke im Kontext der Rede von Erklärung zu vermeiden versucht, indem wir einige Erklärungsbegriffe gelistet und kontextualisiert haben, wobei wir vornehmlich auf die wissenschaftstheoretische Tradition zurückgegriffen haben. Den Hauptkontext liefert die These, dass Erklärungen in erster Linie die

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5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Funktion haben, Verstehen „zu ermöglichen“, „hervorzubringen“ zu „produzieren“ oder, wie es auch heißt, zu „verursachen“. Das führt vor dem Hintergrund der Fokussierung auf Forschungsprozesse (3.1, 5.1) zu gewissen Problemen, die am Schnittpunkt von episodischen und dynamischen Erklärungsund Verstehensbegriffen liegen. Die im Forschungskontext interessierenden Typen von Erklärungen sind nicht pragmatisch oder rein erotetisch, sondern „objektiv“ oder „methodologisch“ (und im Fall „theoretischer Erklärungen“ womöglich durchaus auch logisch; Esser et al. 1977, Schmid im Literaturverzeichnis; Kapitel 6 und 7). „Dynamisch“ betrachtet geht es im Forschungskontext um das Finden von erklärungs- oder eben verstehenszuträglicher Information. Die Frage ist dann aber primär, welche Informationen erklärungsrelevant oder verstehenszuträglich sind. Das führt auch am Ende zu der Frage, welche Beschreibung von welcher Relation letztendlich in einem methodologischen oder objektiven Sinn als „Erklärung“ bezeichnet werden darf. Wenn Korrelativitätsthesen strikt gelten, dann muss man wohl sagen, dass dies für alle Beschreibungen verstehensrelevanter Relata und Relationen gilt. Wir kommen später kurz darauf zurück, denn teilweise führt dies zu zunächst kontraintuitiven Konsequenzen und womöglich zu der Konsequenz, dass kein strikter Zusammenhang von Erklärung und Verstehen besteht, wobei dies im Rahmen dieser Studie offen bleiben wird. Wiederum aus der Geschichtstheorie, der Allgemeinen Hermeneutik und der Allgemeinen Wissenschaftstheorie haben wir die sehr allgemeine These zur Kenntnis genommen, dass jedes Verstehen im Erkennen (episodisch) oder in der Kenntnis (dispositional) von Relationen besteht. Das ergibt aus unserer Sicht in der Gesamtheit ein letztlich sehr einfaches, aber sehr fruchtbar zu sein versprechendes und vielmehr sehr wissenschaftsnahes und metageschichtswissenschaftliches (2.4) Forschungsprogramm. Das Programm ist aus trivialen Gründen wissenschaftsnah: „In psychology, as in every other field, one should begin by identifying the object(s) of study or referents” (Bunge 2003a, 49). Schwierigkeiten bereitet, dass die Gegenstände der Geschichts- und Sozialwissenschaften auf den ersten Blick heterogener zu sein scheinen als Geschichtsphilosophie suggeriert und in Geschichtstheorie und Sozialtheorie keinerlei Einigkeit darüber erkennbar ist, was diese Gegenstände sind (siehe auch Kapitel 7). Man kann also nicht nur an jene Ansätze ganz einfach folgende Fragen richten und sie damit im Zweifel überhaupt erst genauer identifizieren können: (Q1) Welche Gegenstände erforschen Geschichtswissenschaftler? (Q2) Welche Fragen stellen Geschichtswissenschaftler an welche Gegenstände (vor dem Hintergrund eines wie beschaffenen und inwieweit geteilten Forschungsstands)? (Q3) Welche Relationen spielen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung eine Rolle (und zwischen welchen Relata bestehen sie)? (Q4) Welche Relationen und ihre Beschreibungen sind in welchem Ausmaß und in welchen Grenzen erklärungsrelevant oder verstehenszuträglich? (Q5) Lässt sich irgendeine forschungslogische oder methodologische „Ordnung“, ein „Nexus“ (Nowak) „Systematik“ (Bunge) oder eine „Stufenfolge“ (Scholz) im Vorgehen erkennen, was ein methodisches Vorgehen eigentlich kennzeichnen sollte? Die Fragen kann man auch außerhalb eines weiteren philosophischen Rahmens stellen. Sie lassen sich aber auch in einem philosophischen Forschungskontext situieren, der auf die These zurückgreift, dass Formen von Erklärungen mit Formen von Verstehen korrelieren oder in Zusammenhang stehen. Solche Typen könnte man in den Geschichts- und Sozialwissenschaften eventuell finden, wenn man (i) klare Typen von Gegenständen mit (ii) klaren Typen von Fragen und damit erfragten „Hinsichten“ oder „Aspekten“ dieser Gegenstände kombiniert,

5.6 Zwischenfazit: Neuer Überzeugungshintergrund, neue Probleme, alte Fragen

239

wozu (iii) die Relationen dieser Gegenstände mit typengleichen oder typenungleichen (z. B. Makro-Mikro, Mikro-Makro) Gegenständen hinzukommen. Vorstellungen über diese Gegenstände und jene Relationen sind im obigen Bungeschen Modell eines Ansatzes im Hintergrundwissen enthalten. Solche Gegenstände haben wir bis hierhin nicht. Das alles erfordert natürlich ontologische Überlegungen, die aber genau jene Überlegungen zu sein scheinen, die (Geschichts-)Wissenschaftler ohnehin anstellen müssen. Das heißt, hier betreibt man wissenschaftsnahe Ontologie, wenn man nach Relata und Relationen im Kontext von Forschung, Erklärung und Verstehen fragt. Auffällig ist, dass für die einen Erklärung und/oder Verstehen etwas gänzlich Einfaches (z. B. Tucker 2004a/b, dem Pragmatisten in dieser Hinsicht) oder Banales ist, wie wir eingangs mit Essler angedeutet haben, was man daher nicht mit allzu großem Aufwand angehen sollte, für andere etwas fundamtental Schwieriges (z. B. Topolski 1978, den Objektivisten oder „Realisten“ in dieser Hinsicht), das größere Anstrengungen notwendig macht. Das liegt nicht nur an der Vermengung von verschiedenen Erklärungsbegriffen (methodologisch/logisch oder onto-methodologisch, pragmatisch, erotetisch), sondern auch daran, dass einerseits mal Ideale von Erklärung und Verstehen formuliert werden, manchmal aber auf die kontextuelle Prekarität von wissenschaftlicher Forschung verwiesen werden muss, in der Ideale „pragmatisch“ gehandhabt werden, gehandhabt werden müssen oder einfach keine Rolle spielen. Die Hauptproblematik für eine Metageschichtswissenschaft besteht nach dem Blick in die Mini-„Anatomie“ auch darin, dass sich alle denkbaren Ideale in Konfrontation mit konkreten Forschungsbeispielen, die man weder völlig ignorieren noch in dunklen Fußnotenbergen verbuddeln kann, als teilweise unerreichbar oder gar absurd erweisen können, soweit sich die Trivialität der Ideale wider den Schein nicht doch erweisen lässt, was eine reibungslose philosophische oder metatheoretische Integration der heterogenen Praxis und der verfeindeten Schulen ergeben würde. Ohne irgendwelche allgemeineren Annahmen gibt es aber von „philosophischer“ Seite nichts zu sagen, zumal nichts Interessantes. Und diese Annahmen sind am Ende des Tages (Kapitel 6, Kapitel 7, Kapitel 8) besonders kontrovers. Der Geschichtstheoretiker Topolski schrieb in ähnlicher Richtung in ein und demselben Text: „Generally speaking, explanation in history is a highly complex procedure“ (Topolski 1978, 35). Das liegt nicht nur an den Tücken der empirisch-theoretischen Forschung, sondern auch an Topolskis Unterstellung eines methodologischen oder „objektiven“ Erklärungsbegriffes, der auch eine Ontologie impliziert (Topolski 1976) und ferner eine Theorieorientierung im Rahmen seiner Komparativen Makrogeschichtswissenschaft umfasst. Topolskis Metaprogramm ist aber von anderen geschichtswissenschaftlichen Forschungen recht offenkundig weit entfernt, in denen entsprechende Ideale, selbst wenn sie geteilt würden, der Pragmatik oder einfach gänzlich anderen Problematiken zum Opfer fallen würden. Oft sind sie ganz einfach jenseits jeder Relevanz. Klarerweise benötigt McNeill (Kapitel 3.1.1) im Rahmen seiner Forschung weder eine Makro-Mikro-Makro-Metaphysik noch ontologische oder handlungstheoretische „Mikrofundierung“, eine Theorie kausaler Erklärung oder Naturgesetze. Wie wir auch schon ansatzweise gesehen haben, ist eine Diskrepanz von (Meta-)Theorie und Praxis von Seiten unterschiedlicher Geschichtswissenschaftler immer wieder behauptet worden. Bei Topolski findet sich entsprechend auch Folgendes in demselben Text: The historian’s problem is to be sure that in a given state of investigation his explanation is satisfactory enough to submit it to critical debate. It is not necessary or even possible to apply to all explanations the same complex procedure. The steps we make depend on the needs of our research and on questions we are posing (Topolski 1978, 10).

240

5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

Angesichts der Diskrepanz von Idealen und Forschungspragmatik sowie dem Problem, dass alles, was jetzt noch kommt und fast nur kommen kann, besonders umstritten sein muss, weil es auch um Ontologie geht, könnte man der Idee verfallen, es sei an dieser Stelle besser, aufzuhören. Wir machen aber weiter, weil wir genug Probleme oder Problematiken beisammen haben, die wir nicht einfach bloß der Philosophie entnehmen müssen, sondern mit Anknüpfungspunkten und Unklarheiten in Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie mindestens ins Gespräch bringen können. Auch das verspricht perspektivisch, etwas zu klären, z. B. „philosophische Wahlen“ (2.2), oder wenigstens unterschiedliche Sprachen von Geschichtstheoretikern und Philosophen aneinander anzunähern. Nicht nur finden wir Probleme der ErklärungVerstehen-Erzählung-Debatte durchaus teilweise in der „Straußperspektive“ (im Unterschied zur „Vogelperspektive“) in der Mini-„Anatomie“. Die hier eingenommene Perspektive, die sich in den vorherigen fünf Fragen (Q1 bis Q5) ausdrücken lässt, findet sich auf ganz natürliche Weise in dem Vokabular wieder, das Geschichtswissenschaftler verwenden, wenn sie ihre Gegenstände benennen. Wir haben das teilweise schon zuvor gesehen (Kapitel 3, 4.1, 4.2). Dass Geschichtswissenschaftler regelmäßig – in völlig loser Aufzählung – über (a) „Verhältnisse“ (Hölkeskamp 2011 1986) und Beziehungen, „Lehensbindungen“ oder „Vasallenbindungen“ (Ganshof 1961), „Herrschaftsverhältnisse“, „Klientelbindungen“ (Hölkeskamp 2011 1986, Millar 1984, 1986), „Feudalbeziehungen“ (Mandrou 1998), „Produktionsverhältnisse“ (Kriedte 1991), „Abhängigkeitsverhältnisse“ (passim) oder (b) Strukturen, z. B. „sozialökonomische Strukturen“ (Kocka 1978), die „hierarchische Struktur der Dorfbevölkerung“ (Mandrou 1998, 85), „Strukturen der Verfassung“ (z. B. Schulze 1990); „Sozialstrukturen“ (Wozniak 2013), „soziale Strukturen“ (Sewell 1985), „strukturale Zusammenhänge“, „Familienstrukturen“, „Haushaltsstrukturen“ (van Dülmen 1999a), „economic structures“ (Cipolla 1991, 15), die „Verfassungsstruktur“ und „Wahlstruktur“ Roms (Rilinger 1976), „zünftische Strukturen“, „klassengesellschaftliche Strukturen“, „Unternehmensstrukturen“, „die Struktur der Seidenarbeiterschaft“, „Haushaltsstrukturen“, „Mobilitätsstruktur“ usw. (Kriedte 1991), die „Struktur der familia“ (Linck 1979, 57), oder auch (c) Systeme, z. B. das „System der Konzentrationslager“ (Orth 1999), das „Roman interstate system“ (Eckstein 2006), das „internationale System“ (allgegenwärtig, z. B. Recker 1990, Hildebrand 2003) das „Nachrepublikanische Finanzsystem“ (Alpers 1995), „Nachbarschaftssysteme“ (van Dülmen 1999a), das „Villikationssystem“ (Linck 1979), „kapitalistische Systeme“, das „politisch System des Kaiserreichs“, „Bildungssysteme“, „Herrschaftssysteme“, „Systeme der Kriegswirtschaft“, „Fabriksysteme“, „Regierungssysteme“ (Kocka 1978), „Wasserversorgungssysteme“ (Hitzbleck 1975), „London’s milk trade“ als etwas, das sich von einem „localized system to one with nationwide connections“ transformierte (Atkins 1992, 208), das „Reichssystem“ (Gotthard 2006), ein „Weltwirtschaftssystem“ (Braudel 1986b 1979), das „Weltsystem“ (Wallerstein 1986), das „karolingische Lehnswesen“ als „System von Institutionen“ (Ganshof 1961), das „system of Roman estates“ (Postan 1972) und eine mittelalterliche Gesellschaft mit einem „agricultural system“ (Postan 1973a, 203), dem „grundherrschaftlichen System“ (Mandrou 1998, 198), und gelegentlich in Metatheorie und Praxis auch über

5.6 Zwischenfazit: Neuer Überzeugungshintergrund, neue Probleme, alte Fragen

241

(d) Mechanismen (Huggett 1988, Rilinger 1976 (3.1.3), Topolski 1976 (3.1.6), Vilar 1980, Cardoso 1982178, Füssel 2006, 46, 177, 189, 387, 401, 422, 428, 430) schreiben, ist vor dem Hintergrund dieser skizzierten Verstehenslehre also nicht überraschend, handelt es sich klarerweise um relationale Begrifflichkeiten, die allerdings allesamt zumeist unklar und hochproblematisch sind (Kapitel 7). Letztlich spielt auch dies in der Geschichtsphilosophie fast keine Rolle, zumal keine ansatzweise systematische (Kapitel 6). Wir kommen darauf zurück, nachdem wir dies festgestellt und erneut gesehen haben, dass die Klassischen Erklärung-Verstehen-Erzählung-Thesengebäude auch deshalb einseitig sind, weil sie partielle, letztlich implizit bleibende und skizzenhafte Ontologien beinhalten. Vor dem Hintergrund dieses Kapitels kann man dann ansatzweise etwas Integrationsarbeit leisten, indem man ein Ontologiedefizit diagnostiziert (Kapitel 6) und eine Ontologie explizit macht (Kapitel 7), die auch jene Begrifflichkeiten enthält, die Geschichts- und Sozialwissenschaftler verwenden. Doch dann ist man endgültig bei kontroversen Thesen angelangt, nämlich bei Ontologie und Sozial(meta)theorie, und das führt erneut zurück in Historische Seminare und Sozialwissenschaftliche Seminare, denn jenseits der Sozialwissenschaften – das wird hier vorausgesetzt – können Philosophen nicht wissen, was „das Soziale“ oder „die Geschichte“ oder „die Kultur“ ausmacht oder im Innersten zusammenhält. Sie können vielleicht auch nicht wissen, dass es überhaupt keine Zusammenhänge gibt, was ja scheinbar manche der Postmodernen zu glauben scheinen (2.1). Eine ähnliche These ist auch früher schon mit der These verbunden worden, dass jede Behauptung von Relationen eine „Konstruktion“ sei, weshalb solche Hypothesen oder Hypothesengebilde nicht „objektiv“ seien (Passmore 1958). Eine solche Welt wäre dann tatsächlich, folgt man obigen Thesen, unverstehbar. Chris Lorenz (1997, 180) hat in dieser Stoßrichtung behauptet, Historiker setzten voraus, „daß die Vergangenheit bestimmte Strukturen aufweist“. Wir hatten dieses Kapitel mit einer Frage überschrieben, die wir beantworten sollten: Gibt es eine allgemeine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode? Na klar (Abbildung 19)! Es ist der Weg von der Evaluation eines Forschungsstands über die Konstruktion eines Problems, die Formulierung von Fragen, der Suche nach Daten und Methoden, von der Formulierung und Evaluation (Rechtfertigung) von Hypothesen als Antworten auf die Fragen oder den Bau von „Modellen“ oder „Theorien“ – zwei im Kontext ungeklärten Begrifflichkeiten – zum komparativen und falliblen, aber auch verbesserbaren, Verstehen, wobei man – je nach Anspruch an das Erklärungsverständnis (8.1) – jene Hypothesen oder Hypothesengebilde als Erklärungen auffassen kann. Zumindest teilweise, ohne die Belastungen durch Begrifflichkeiten wie „Erklärung“ und „Verstehen“, ist dies natürlich verbreitet zu finden und insofern eine Trivialität (Schröder 1994, 15; Idrissi 2004, 161; Rüsen 2013, 189 f.; siehe auch Abbildung 8, S. 133, Abbildung 9, S. 141). Substanzielleres als in Abbildung 19 müsste man andernorts suchen oder jenseits einer Klärungsskizze auffüllen (wie in Plenge 2018 mit etwas Konkretion wiederholt wird).

178

„Aspriamos a comprender los mecanismos que explican las concordancias y discordancias existentes entre los distintos niveles de una sociedad dada, queremos tener de ésta una imagen tan integrada y global como sea posible“ (Cordoso/Brignoli 1986, 25). „La investigación histórica es el estudio de los mecanismos que vinculan la dinamica de las estructuras (…)“ (Vilar 1982, 51). Von dem „precise mechanism of diseases such as scarlet fever“, der bis in die 1930er Jahre nicht „verstanden“ wurde („understood“), schreibt Atkins (1992, 217). Auch in Darstellungen ist manchmal (mehr oder weniger beiläufig) von Mechanismen die Rede; siehe z. B. Steiner 2007, Schanetzky 2015.

Wissenschaftsgrundsätze (Ethos)

Forschungsstand

Geschichtswissenschaftlicher Ansatz

PROBLEM(E) Frage(n)

Abbildung 19 Die Geschichtswissenschaftliche Meta-Methode.

Ggf. allgemeine Hypothesen, Modelle, Theorien aus anderen Wissenschaften

Allgemeine Methoden und spezifische Techniken

Datenerhebung („Quellen“)

Antwort(en)

Hypothesen-, Modell-, Theorienbildung (ggf. Erklärung, 8.1)

VERSTEHEN (komparativ)

242 5 Vom Problem zum Verstehen: Gibt es eine geschichtswissenschaftliche Meta-Methode?

6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen? To someone who is not a philosopher or historian of explanation it may seem rather strange that there is a large and rapidly growing debate among philosophers about the nature of scientific explanation and what it should be (Lloyd 1986, 25).

Gibt es Ontologiedefizite im Rahmen der Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur? Ich glaube, dass dem so ist. Wie wir ansatzweise gesehen haben, lassen sich ontologische Fragen kaum vermeiden und innerhalb von Geschichtstheorie und Sozialtheorie sind sie ohnehin allgegenwärtig. Ich vermute auch, dass in der Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur in Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie und Sozial(meta)theorie viele Missverständnisse und letztlich zweifelhafte Polarisierungen vorherrschen, weil ontologische Fragen nicht explizit gestellt und ansatzweise beantwortet werden, neben den zumeist ungeklärten Grundlagen im Umfeld von Erklärungs- und Verstehensvorstellungen (Kapitel 5). Wenn man mit M. Bunge (1983a) Ansätze in das Hintergrundwissen, eine Problematik, Ziele und allgemeine oder spezifische Methoden analysiert, dann lässt sich stark vermuten, dass nicht nur in den Wissenschaften und ihren Ansätzen entsprechende Annahmen zu finden sind, sondern natürlich auch in entsprechenden philosophischen oder metatheoretischen Diskursen. Ontologische Fragen sind wohl auch nicht zu vermeiden, obwohl gerade hier am Ende alles kontrovers ist (Kapitel 7), weil es in den Geschichts- und Sozialwissenschaften scheinbar zu wenig geteilten Boden gibt. Beispielsweise muss in politikwissenschaftlichen Metadiskursen (Kurki 2008) noch genauso für irgendeine Relevanz von demjenigen, was manche „Kausalität“ nennen, argumentiert werden, obwohl in manchen philosophischen Schulen es als selbstverständlich gilt, dass Sozialwissenschaftler im Speziellen und Wissenschaftler im Allgemeinen (4.2) kausal erklären oder wenigstens erklären sollen. Sozialwissenschaftler (inklusive Kulturwissenschaftler, Geschichtswissenschaftler, Politikwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler etc.) können sich letztlich nicht darüber einigen, ob es einen Gegenstand der Sozialwissenschaften überhaupt gibt, ob alles ein „Konstrukt“ ist oder was genauer mit „soziales Phänomen“ oder ähnlichem am Ende gemeint ist (Kapitel 7), obwohl soziale Phänomene der Gegenstand sein sollen. Geschichtswissenschaftler könnten sich nicht darüber verständigen, was sie mit „Geschichte“ überhaupt meinen (2.1), falls sie diesen Ausdruck verwenden, und ob so etwa existiert in irgendeinem Sinn oder dessen Existenz gar für diese Disziplin relevant ist. Bezogen auf die Erklärung-Verstehen-Kontroversen ergibt die Vogelperspektive auf die Micky-Maus-„Anatomie“, dass keine der traditionellen Positionen einen globalen Anspruch erheben kann, „die Geschichte“ metatheoretisch zu beschreiben oder auch globale metatheoretische Normen zur Reglementierung von jener „die Geschichte“ zu liefern, zum Beispiel durch eine Analyse dessen, was eine „historische“ Erklärung genannt zu werden verdient. Das würde sich nach allem, was wir wissen und ahnen, auch selbst dann bestätigen, wenn man ein vollständiges und exaktes Menü aller Modelle vorliegen hätte, über das wir nicht verfügen, und ferner die Mini-„Anatomie“ ausweitete auf die unterschiedlichsten Ansätze, die in der Geschichtsphilosophie letztlich keine Rolle spielen, z. B. von Diskurs-„Geschichte“ über Emotionen-„Geschichte“ und Umwelt-„Geschichte“ bis zur Gender-„Geschichte“, Visual „History“ und was auch sonst noch. Eines der Grundmerkmale dieser philosophischen Literatur scheint aber gerade der größtmögliche globale Anspruch zu sein. So heißt es traditionell doch immer recht eindeutig und manchmal durch die Blume, „Historische Erklärungen sind Covering-Law-Erklärungen“, „Historische Erklärungen sind Handlungserklärungen“, „Histo-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_6

244

6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

rische Erklärungen sind narrative Erklärungen/Erzählungen“, „Historische Erklärungen sind kausale Erklärungen“ und „Historische Erklärungen lösen Agency-Structure-Probleme“. Neuerdings würde es dann heißen müssen, „Historische Erklärungen beschreiben Mechanismen“. Auch aufgrund dieser Polarisierung habe ich aus der Vogelperspektive (4.2) die ehrlichere und damit nicht beschönigende Lesart gewählt, die besagt, dass die Lesart mit dem „best fit“ – zwar nicht dem „best fit“ zur „besten“ (2.3), aber doch immerhin zu irgendeiner Praxis – sein könnte, dass Geschichtswissenschaftler in der Praxis bei Voraussetzung der überkommenen Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur überhaupt nichts erklären, verstehen oder erzählen, denn all das, was man aus der Perspektive auf die philosophischen Lager geradezu trivialerweise in der Praxis finden sollte, findet man allzu häufig eben nicht oder man müsste extreme Stilisierungen der Praxis in Kauf nehmen. Das könnte ganz einfach heißen, dass Geschichtswissenschaftler allzu häufig jene Probleme nicht haben, die sie philosophischen Auffassungen zufolge „typischerweise“ lösen oder einfach lösen sollen, was auch damit zu tun haben könnte, dass sie andere ontologische Ideen im Hintergrundwissen ihrer Ansätze haben. Man könnte zunächst sagen, dies ist ein Problem für die philosophische Seite (3.2). Man könnte aber auch vermuten (2.2), dass auch innerhalb der Geschichtswissenschaft(en) die Ziele nicht so klar sind, wie man meinen könnte, weil nicht nur die Gegenstände im Allgemeinen metatheoretisch vielfältig sind, sondern auch die epistemischen Ziele, die zumeist mit Wörtern wie „Verstehen“, „Interpretation“, „Erklärung“, „Deutung“, „Erzählung“ oder „Sinnsuche“ umschrieben werden. Auch aus ontologischen Gründen ist dasjenige, was man aus philosophischer Sicht in den Geschichtswissenschaften finden soll, nicht trivial, z. B. bezogen auf Fragen nach „Gesetzen“, Verstehen von objektivem oder subjektivem „Geist“ („Meaning“), nach „Kausalität“ und auch „sozialen Strukturen“, „Mechanismen“ oder Makro-Mikro-„Verbindungen“. Wenn man von vornherein eine metatheoretische und letztlich auch ontologische Sicht der Dinge favorisiert, dann pickt man natürlich dasjenige aus der scheinbar wirklich recht heterogenen Praxis (2.3) heraus, was die eigenen Vorstellungen bestätigt179, oder man immunisiert die eigene Position durch Implizitismus. Wenn man zum Beispiel Kausalitätsphilosoph ist und der metaphysischen These anhängt, dass Kausalität der Zement „der Geschichte“ ist, pickt man sich Studien, in denen „Kausalität“ im Titel steht oder man pickt am besten gar keine, weil man dort ohnehin nur das finden zu können glaubt, was man voraussetzt und alles andere vor dem Hintergrund dieser Annahmen ohnehin schlechte Praxis ist (vgl. Tucker 2009b, 2.3). Auch das wollten wir hier vermeiden (3.1). Wenn man keinen globalen Blick auf ganze Studien zu werfen versucht, was die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel und ein letztlich offenes Forschungsprogramm ergibt, dann kann man sich auch einzelne Sätze oder Abschnitte heraussuchen, in denen man dann z. B. „Gesetze“, „Sinn“, „Erzählung“, „Kausalität“ oder „Kausalerklärung“ oder auch „Mechanismen“ (Plenge 2014a) findet. Dann findet man etwas mehr beim Versuch der Abklärung der Passung von philosophischen Vorstellungen und Wissenschaftspraxis. Der hier gewonnene Eindruck verbietet dies mitsamt den impliziten oder expliziten methodologischen und ontologischen Annahmen allein schon, weil man pro zweitausend Lektüreseiten allenfalls eine halbe These findet, die annäherungsweise einem „Gesetz“ ähnelt, pro dreitausend weiterer Seiten findet man eine explizite Handlungserklärungshypothese, vielleicht auch mit expliziter und nachprüfbarer Rechtfertigung auf der Basis von Quellen, Daten und Argumenten. Nach einem weiteren Regalmeter findet man eventuell ansatzweise eine Verwendung von Wörtern wie „Wirkung“ oder „Ursache“, und je nach Vorstellung von „Er179

Siehe ansatzweise „vorbildlich“ diesbezüglich Plenge 2009, Haussmann 1991 und bereits R. Martin 1989 oder auch Klinger 1997.

5.6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

245

zählung“ findet man (Plenge 2014b) auf fünftausend Seiten überhaupt nichts oder aber auf jeder Seite (4.2). Ich fürchte, dies pointiert die Lage vielleicht ein wenig. Ich fürchte aber auch, dass sie grob stimmt und eher stimmt als die obigen Globalthesen. Wenn man diese Strategien nicht von vornherein wählt, die eigene Vorstellung an handverlesenen Einzelfällen zu illustrieren und damit als „bestätigt“ anzusehen, dann brockt man sich zwar eine recht schöne metatheoretische Suppe ein, weil es keine klaren Frontstellungen mehr gibt und auch keine fixen und praxisadäquaten Lösungen. Aber man kann versuchen, diese Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur legitimerweise vor dem Hintergrund des Forschungsprogramms (5.6) ansatzweise neu zu lesen und ist in der Auseinandersetzung mit Praxis letztlich zu differenzierteren Sichtweisen geradezu gezwungen. Die Positionierung zu Problemen→Erklärung→Verstehen ist ein erstes Ergebnis davon, die Zurückweisung jener Globalthesen das zweite. Die Aufnahme ontologischer Fragen ist ein drittes Ergebnis. Denn es lässt sich dann ansatzwiese zeigen, dass alle diese Positionen aus der Tradition, obwohl sie sozusagen bezogen auf die Praxis aus der Vogelperspektive fundamental falsch sind, partiell etwas treffen. Dann stellt sich die Frage, warum sie globale Lösungen nicht bereitstellen. Dann erweist sich dreierlei, was man auch in weitaus genaueren Re-Lektüren weiter zeigen könnte. (i) In den Traditionen herrschen auch aufgrund von unterschiedlichen Implizit-Ontologien andere Verstehensideale vor, z. B. „positivistische“ („Phänomene“ plus „Regularitäten“), realistische oder „mechanistische“ („Mechanismen“ und „Makro-Mikro“), „historistische“ (engmaschige Abfolgen von Irgendwassen und „Kontextualisierung“ innerhalb von Irgendwassen) und „idealistische“ („Meaning“ und „Historizität“). Fasst man auch diese Philosophien als Vorschläge für die Gestaltung wissenschaftlicher Ansätze auf, dann handelt es sich hier gleichzeitig um Aspekte der ontologischen Hintergrundüberzeugungen, der Ziele und auch latent der Methoden. (ii) Die Gegenstände von Erklärung und Verstehen bleiben (meta-)theoretisch recht oder völlig unklar und werden tendenziell einfach unterschiedlich aufgefasst (Ereignisse, Sinn, Strukturen, singuläre Handlungen etc.). (iii) Die Relationen zwischen den Gegenständen von Erklärung und Verstehen bleiben hier und dort eher unklar, allein schon aus dem Grund, dass die Gegenstände unklar bleiben („Gesetzmäßigkeiten“, „Kausalität“, „Teil-Ganzes“-Relationen, zeitliche Abfolgen, Extern-Intern-Relationen, „Sinn“-„Konstitution“ usw.). (iv) Welche Fragen Geschichtswissenschaftler in welchen geschichtswissenschaftlichen Ansätzen oder Traditionen an welche Gegenstände stellen, wurde im Speziellen nicht gefragt. Anders gesagt und das Problem zusammengefasst: Die einfachen Fragen, was überhaupt erklärt und verstanden werden soll (Gegenstand im neutralen Sinn) und in welcher Hinsicht (Relation und Frage), wurden überraschenderweise kaum explizit gestellt. Wir kommen am Ende zu der schon vorweggenommenen Diagnose, dass es sich lohnen könnte, Implizitmetaphysik durch Explizitmetaphysik zu ersetzen, was uns an den Schnittpunkt von Philosophie, Sozial(meta)theorie und Geschichtstheorie zu bringen verspricht. Im Anschluss an das Vorangegangene können wir nun die Debatte grob an unseren simplen Fragen ausrichten, mit denen Unklarheiten in Philosophie, Geschichtstheorie und Sozialtheorie gleichermaßen angegangen werden können und zur Klärung vielleicht angegangen werden sollten (Plenge 2014a): Was soll eigentlich erklärt und verstanden werden? Inwiefern soll es erklärt und verstanden werden? Welche Relation ist zentral, falls überhaupt eine? Was ist problematisch an der philosophischen Position oder dem metatheoretischen Ansatz? Inwiefern ist die Metatheorie fruchtbar im Hinblick auf die „Anatomie“, darüber hinaus und bezogen auf das simple Forschungsprogramm bezüglich Erklärung und Verstehen. Diese einfachen Fragen, die hier nur skizzenhaft beantwortet werden, können an dieser Stelle auch als eine Art Abkürzung angesichts der Fülle an Literatur dienen. Wenn man mit diesen Fragen eine etwas andere Perspektive zunächst einnimmt, dann kann man im Anschluss versuchen, eine integrierende Position zu formulieren, wenn man

246

6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

über eine systematischere Ontologie oder gar zusätzlich deren Einbettung in Sozialtheorie verfügt (Kapitel 7, 8.1). Für viele ist es sicherlich seltsam, wie Lloyd oben bemerkte, dass Erklärung (und Verstehen) eine letztlich von niemandem mehr übersehbare Fülle von Literatur hervorgebracht haben. Vielleicht liegt es an der Komplexität und Vielschichtigkeit der Sache und den Tücken der Sozialwissenschaften und ihrer „Geschichte“.

6.1

Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

Starten wir mit den berühmt-berüchtigten Covering-Law-Modellen.180 Bezogen auf die Covering-Law-Modelle wurden verschiedene Fragen kaum gestellt. Stellt man die Frage me180

Berühmt waren früher zwei Erklärungsschemata (DN-1 und DN-3), die das erläutern (A = Antezedenz, G = Gesetz, E = Explanandum): (DN-1)

(A) (G) (E)

Ein Ereignis der Art U hatte stattgefunden. Wann immer U, dann W. Deshalb fand das gegebene W-Ereignis statt. (Hempel 1972, 7)

Im Sinne des Hempelschen Buchstabens werden wir auch wie folgt umformulieren dürfen (was zu ontologischen Unklarheiten führen kann, Kapitel 7): (DN-2)

(A) (G) (E)

Ein Sachverhalt S1 tritt auf. Wann immer S1, dann S2. Deshalb trat S2 auf.

Die berühmteste Standardschematisierung war bekanntlich: (DN-3)

(Antezendens-Bedingung) (allgemeine Gesetze) (Beschreibung des zu erklärenden Phänomens) (Hempel/Oppenheim 1948)

C1, C2, …, Ck. (L1, L2, …., Lr) E

Die Standardformulierung aus der Debatte über Gesetze und um Beispiele wie „Alle Metalle leiten Strom“, „Alle Kindergeburtstage sind laut“ oder „Alle Hasen haben eine Nase“ lautet wie folgt: (DN-4)

(G) Alle x, die F sind, sind auch G. (A) Fa (E) Ga

Das induktiv-statistische Modell sah bekanntermaßen wie folgt aus, wurde in den Sozialwissenschaften jedoch kaum rezipiert: (G) p(G,F) = r (A) Fi (E) Gi

r

Manchmal findet sich auch folgendes Schema (Schmid/Maurer 2010, 36), in dem die Menge der zuvor als „Antezdensbedingungen“ bezeichneten Gegenstände oder Sätze nochmals geteilt wird, was zu Verwirrung führen kann: (DN-5)

Allgemeine Gesetze Sätze über Anwendungsbedingungen

L1, L2, … Lr C1, C2, … Ck

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

247

thodologisch, dann lautet eine Frage: Was soll überhaupt erklärt werden? Da Hempel (1972) zufolge mit Erklärungen in seinem logischen, methodologischen oder „objektiven“ Sinn das Ziel des Verstehens verfolgt wird, ist dies dieselbe Frage wie die folgende: Was soll überhaupt verstanden werden? Wenn man Hempels Texte diesbezüglich einer Relektüre unterzieht, weil man z. B. einfach wissen möchte, was genau in Relationen, die „Gesetzmäßigkeiten“ (Vordermeyer 1986) genannt werden könnten, steht (z. B. Sachverhalte, Ereignisse, Eigenschaften usw.) oder sich durch Gesetzmäßigkeiten auszeichnet (z. B. Dinge, Systeme, Strukturen, Mechanismen, Aggregate, Abstrakta etc.), oder wenn man wissen möchte, was (c) in gesetzmäßigen Kausalrelationen steht, dann findet man darauf bei Hempel und auch den Nachfolgern in Philosophie der Geschichte und Metatheorie der Sozialwissenschaften keine klare Antwort, gerade auch bezogen auf die Gegenstände dieser Wissenschaften. Es ist gerade im soziohistorischen Kontext unklar, was ontologisch erklärt und verstanden werden soll, wenn von „nomologischen“ oder „wissenschaftlichen“ Erklärungen die Rede ist. Das ontische oder quasi-ontische Vokabular, das zur Bezeichnung des zu Erklärenden (Explanandum) und Erklärendem bzw. der Erklärungsrelation (Explanans) herangezogen wird, ist verstreut, breit und wechselnd. Häufiger ist von „Phänomenen“, „Ereignissen“, „Vorkommnissen“, „Bedingungen“, „Umständen“ und „Antecedentia“ die Rede. In jedem dieser und anderer Fälle181 hat Hempel nicht gesagt, was er mit diesen Ausdrücken meint, und mir ist eigentlich niemand aus dieser Tradition in der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften bekannt oder in Erinnerung, der darüber hinausgegangen wäre. 182 Beispiele aus den hier relevanten Wissenschaften gibt es nach mehr als 70 Jahren fast keine, sodass man die Ontologie eventuell aus diesen Beispielen erschließen und damit dann auch das Erbe einer wissenschaftsinternen Ontologie antreten könnte, was der Optimalfall in Ontologie wäre, die sich als wissenschaftsorientiert versteht, weil unklar ist, wie Philosophen anders als über ErSätze über Randbedingungen Beschreibung des zu erklärenden empirischen Phänomens

181

182

R1, R2, … Rn E

Die Literatur zu den Covering-Law-Modellen ist bekanntlich sogar im Rahmen der Geschichtsphilosophie recht groß, wenn auch nun eigentlich lange ausgestorben. Monographische Beiträge, in denen auch die weitere Literatur zu finden ist, sind: Gardiner 1961 1952, Dray 1957, Stover 1967, Newman 1968, Acham 1974, Schmid/Giesen 1976, Martin 1977, A. C. Danto 1980 1965, Simili 1981, Wächter 1986, Vordermeyer 1986, Heil 1988, Martin 1989, Rainone 1990, Haussmann 1991, Roberts 1996, Lorenz 1997, Jakob 2008, Schnepf 2011. Ein kleine Liste des ontologischen oder quasi-ontologischen Vokabulars kann nicht schaden, da ja immer wieder behauptet wird, der Positivismus habe die Metaphysik abgeschafft: „phenomenon“, „empirical phenomenon“, „condition“, „antecedent condition“, „fact“, „general law“, „causal law“, „statistical law“, „general regularity“, „event“, „change“, „connection“, „factor“, „institution“, „characteristic“, „object“, „history“, „system“, „determination“, „cause“ (Hempel/Oppenheim 1948); „initial and boundary conditions“, „kinds or properties of events“, „empirical objects“, „individual object“, „factual connections“, „‚causes‘ or ‚determining‘ factors“, „determining conditions“, „historical event“, „environmental condition“, „process“, „development“ (Hempel 1942); „empirical circumstances“ (Hempel 2001 1963); „situation“, „general properties“; „regular connections between various constituents of some social structure or process“, „empirical world“ (Hempel 1969); „phenomenon (or event, etc.)“, „system“, „state“, „antecedent state“ (Hempel 1962b); „to produce“, d. h. Produktion, „historical phenomenon“, „situation“, „historical processes“ (Hempel 1962); „dispositionelle Eigenschaft“ (Hempel 1972), „Stadium”, „Zustand”, „gesetzmäßige Verbindungen zwischen (…) Stadien”, „Tatsachen” (Hempel 1977, 173). Von einer „implizite[n] Ontologie“ des Wiener Kreises und dessen weiterem Umfeld spricht daher wohl treffend G. Albert (2007, 346, Fußnote 14). Wohlgemerkt, die herausfordernde Formulierung soll (hier oder auch an anderer Stelle) natürlich dazu einladen, widerlegt zu werden, sodass der später anvisierte Ontologievergleich im Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften realisierbar wird; siehe Kapitel 6.3 sowie Kapitel 7.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

gebnisse von Wissenschaften zu einigermaßen verlässlichen Thesen über die „Struktur“ der Welt, des Sozialen oder der Geschichte kommen könnten (7.6). Hempel hat keine explizite Ontologie bzw. Ontologie der Erklärung und auch der Gesetzmäßigkeiten angeboten, weder im Allgemeinen noch für Geschichts- bzw. Sozialwissenschaften im Besonderen. Diese Feststellung hat auch mit dem üblichen und absurden HempelBashing oder „Positivisten“-Bashing (Plenge 2014c) nichts zu tun, zumal diese Leerstelle die Basher genauso betrifft. Die Metaphysik versteckt sich bei Hempel wie bei anderen analytischen Philosophen hinter der Wahrheitsforderung an singuläre und generelle Sätze und die impliziten Ideen dazu, was diese genauer beschreiben, gerade im Bereich des Soziohistorischen. Das ist besonders dann relevant, wenn von Kausalerklärung im soziohistorischen Kontext die Rede ist, aber auch dann, wenn irgendwelche anderen ontischen Gesetzmäßigkeiten zwischen irgendwelchen Relata angenommen werden, seien dies sogenannte „Ereignisse“, „Sachverhalte“ oder vielleicht „Eigenschaften“.183 Eine mögliche und legitime Frage ist dann ganz einfach: Welche (Typen von) Eigenschaften wovon eigentlich? Wenn dasjenige, was gesetzmäßig verbunden ist, „soziale Sachverhalte“ oder „historische Sachverhalte“ genannt werden könnte, worum handelt es sich dabei? Hempel und Hempelianer haben solche Fragen im Rahmen der Geschichtsphilosophie und der Philosophie der Sozialwissenschaften nicht gestellt. Sie laufen aber ganz einfach auf die Frage hinaus, worauf in den früher allgegenwärtigen schematischen Gesetzesaussagen wie „Für alle x gilt, wenn x ein F ist, dann ist x ein G“ oder „Alle x, die F sind, sind auch G“ jeweils „x“ und „F“ und „G“ im Zusammenhang referieren oder was damit jeweils ontologisch gemeint ist. In Trivialfällen wie „Alle Hasen haben eine Nase“ hat man auch als naturwissenschaftlich ungebildeter Geistes- oder Sozialwissenschaftler noch ebenso eine intuitive Vorstellung wie im schwächeren Fall von „Vögel können normalerweise fliegen“. Bezogen auf das Soziohistorische stellt sich aber die Frage, ob solche „x“ und solche „F“ überhaupt existieren und ferner in irgendeinem Sinn in „nomologischen“ beziehungsweise „gesetzmäßigen“ Zusammenhängen stehen. Zunächst einmal müssten sie eventuell kategorial benannt werden. Die Frage stellt sich insbesondere, weil viele Geschichts- und Sozialwissenschaftler dies seit jeher einfach bestreiten. Beispiele aus geschichts- und sozialwissenschaftlicher Forschung, deren Güte zudem unterstellt werden und deren Beispielhaftigkeit als gesichert gelten müsste, könnten für beides einen Anhaltspunkt liefern. Aber diese Beispiele haben Hempelianer bis heute nicht präsentiert und diejenigen, die man finden kann, sind mehr oder weniger völlig singulär, nicht beispielhaft, und im geschichtsphilosophischen Kontext teilweise seltsam. Meistens wurden die Beispiele selbst erfunden, also gar keiner Praxis, die sie eigentlich illustrieren sollen, entnommen.184 183 184

Zu Tatsachen oder Sachverhalten siehe erneut 7.3.7. Welche „Beispiele“ – die keinen geschichtswissenschaftlichen Studien entstammen - hatte die Geschichtsphilosophie zu bieten?: „Let us assume that the statement, ‚Whenever Chinese eat, they eat with chopsticks‘ is true” (M. White 1959, 360). Hempel (1942) nannte „People who have jobs don’t like to loose them“. A. C. Danto (1980 1965, 353 f.) formulierte: „Wann immer eine Nation einen Fürsten von anderer nationaler Abkunft hat als derjenigen seiner eigenen Bürger, dann werden diese Bürger bei gegebenen Anlässen jenen Fürsten in einer angemessenen Art und weise ehren.“ Der Hempelkritiker Jakob formulierte das MikroMakro-„Gesetz“, das manche Soziologen wohl eine „Aggregationshypothese“ nennen (Esser 1996): „Wenn Immigranten aus einem bestimmten Land immer wieder ihre Verwandten und Bekannten nachziehen, dann nimmt die Anzahl an Immigranten aus diesem Land stark zu“ (Jakob 2008, 57). G. Patzig (1977, 399) behauptete, der Historiker, „der die Gegnerschaft des Adels gegen einen mittelalterlichen Herrscher dadurch erklärt, dass dieser in die gewohnten Privilegien des Adels eingriff“, verwende stillschweigend das „allgemeine Gesetz“, „dass die Inhaber von Vorrechten die Aufhebung dieser Rechte als eine Verschlechterung ihrer Lage ansehen, und das weitere Gesetz, dass Menschen im allgemeinen zu einem aggressiven Verhalten demjenigen gegenüber neigen, den sie für eine Verschlechterung ihrer Lage verantwortlich machen“.

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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Wenn man für jene Individuen „x“ hier mit Geschichts- und Sozialtheoretikern „Struktur“, „Situation“, „soziales System“ oder „soziales Phänomen“ oder auch so etwas wie „Diskurs“ einsetzt, dann ist sofort klar (Plenge 2014a), dass nicht viel klar ist, denn man kann sich in aller Regel nicht sicher sein, was damit gemeint ist, und viele Sozialwissenschaftler glauben wieder nicht an die Existenz von so etwas, also von solchen x, denen irgendeine Art von F zugeschrieben werden kann, die zudem noch gesetzmäßig mit Gs von demselben x gesetzmäßig verknüpft sein sollen – wenn man den standardmäßig verwendeten Satzschemata vertraut – oder auch in „kausal“ genannten gesetzmäßigen Relationen stehen können. Dass Hempel zur Sozial- oder Geschichtsontologie jener „Gesetze“ letztlich nichts gesagt hat, fällt im Kontext von Erklärung und Verstehen zum anderen dann auf, wenn mit Hempels Rede von „Gesetzen“ möglich ist, dass es nomologische Erklärungen oder „Subsumtionserklärungen“ (Bunge 2009b 1959, 1967a/b, 1983b) geben kann, die keine Kausalerklärungen sind, was ferner dann nicht uninteressant ist, wenn man vermuten muss, dass im Feld von Kausalität in den Geschichts- und Sozialwissenschaften alles umstritten ist und von den wenigen Beispielen für Gesetze aus dem soziohistorischen Kontext die meisten prima facie mit etwas, das „Kausalität“ genannt wird, nichts direkt zu tun haben (wie bereits Bunge 2009b 1959 vermutete), sondern „Sachverhalte“ (Hempel) oder „Eigenschaften“ von irgendetwas relationiert zu sein scheinen. Wenn man insofern erklärungs- und verstehenstheoretischer Pluralist ist, als man nicht glaubt, dass es die eine und einzige Erklärungsrelation und Verstehen ermöglichende Relation in einer Gegenstandsdomäne wie den Geschichts- und Sozialwissenschaften gibt oder diese noch nicht gefunden worden ist, dann ermöglicht dies zumindest prinzipiell bereits eine erste Differenzierung im Feld von Erklärung und Verstehen, die Covering-Law-Theorien also entgegen kommt und ihnen Positives abgewinnt. Denn dann kann es „nomologische“ Erklärungen oder Subsumtionserklärungen geben, die keine Kausalerklärungen sind. Obwohl Covering-Law-Modelle in der Metatheorie der Geschichts- und Sozialwissenschaften beinahe immer mit Kausalerklärungen identifiziert worden sind, ist Hempels Verhältnis zum Wort „Kausalität“ oder einer prima facie ontischen Kausalrelation auch unter Experten noch ungeklärt.185 Doch was „gesetzmäßig“ zu nennende Relationen

185

Der Geschichtsphilosoph E. Di Nuoscio, der wohl einzige Geschichtsphilosoph und Hempel-PopperAnhänger, der nach Beispielen sucht, vornehmlich in Texten, die aus Zeiten vor der Entstehung der Geschichtswissenschaften stammen, entnahm Thukydides, was Di Nuoscio wohl ein „Naturgesetz“ nennen würde: „Mit dem Regen steigt die Wassermenge der Flüsse“ (Di Nuoscio 2004, 223). M. Brodbeck formulierte: „‚Earthquakes lead to misery and wreckage’“ (M. Brodbeck, 1962, 252). K. R. Poppers (1980, 327) Beispiel für ein Gesetz war: „Wenn eine von zwei ungefähr gleich gut geführten und gleich gut ausgerüsteten Armeen einen ungeheuren Überschuß an Menschen besitzt, dann gewinnt die andere niemals.“ G. O. Wisdom bot folgende Generalisierung an: „Again, take the generalisation that, whenever a dictatorship becomes beset with severe social unrest which it cannot bring under control, it foments trouble with another country by ascribing to it hostile attitudes and actions; this will be condensed by an historian into some such concept as ‚scapegoat’” (Wisdom 1987, 69). Viel mehr ist in der philosophischen Literatur nicht zu finden. Siehe z. B. Haussmann 1991, Lorenz 1997. Auch von jenen Gesetzen, die Historiker „aus den Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, der Psychologie oder dem Common Sense“ seit mehr als 100 Jahren entnehmen sollen (z. B. Pape 2006, 136), ist meines Wissens so gut wie keines in der Geschichtsphilosophie zitiert worden. Warum schreibt niemand die „verwendeten Gestzmäßigkeiten“ mal auf, wenn stimmen sollte, dass sie sich „meist relativ leicht analysieren lassen“ (Pape 2006, 141)? S. Psillos (2002) glaubt, Hempel habe den Begriff der Kausalität über denjenigen der Erklärung explizieren wollen, was Hempel meines Wissens nicht geschrieben hat. A. Hüttemann (2013) glaubt, dass für Hempel Kausalität egal war, wogegen aber spricht, dass Hempel gerade auch in geschichtsphilosophischen Schriften immer wieder die Wörter „Ursache“ und „Wirkung“ verwendet und (Hempel 1942) ursprünglich gar die Relata der Gesetzeshypothesen im Antezdens mit „C“ benannte, was nicht unbedingt immer nur für „condition“ steht, sondern teilweise explizit für „cause“. Aus meiner Sicht hat Hempel eine Regularitätsmetaphysik der Kausalität (natürlich) vertreten bzw. vorausgesetzt, allerdings häufig wohl verschämt (siehe unten).

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

zwischen etwas, das „Sachverhalt“ oder „Eigenschaft“ genannt werden könnte, im soziohistorischen sein könnten, wäre dann die Frage. Für Hempel war die von einem Explanans aus singulären und generellen Prämissen und einem logischen Schluss konstituierte „Erwartbarkeit“ des Explanandum-„Phänomens“ im „logisch-systematischen Sinn“ (Hempel 1972) dasjenige, was eine wissenschaftliche Erklärung leistet und wissenschaftliches Verstehen auszeichnet. Mehr war mit Erklärung und Verstehen allerdings auch nicht verbunden. Unter „Erwartbarkeit“ oder „rationale Erwartbarkeit“ oder Erwartbarkeit im „logisch-systematischen Sinn“ fallen dann auch z. B. die auf der Basis der Prima-facie-Gesetzmäßigkeiten gebildeten Erwartungen, die durch All-Sätze wie „Alle Hasen haben eine Nase“, von Standardbeispielen wie „Alle Metalle leiten Strom“, „Alle Menschen sind sterblich“, „Shepherd cultures are nomadic“ (Bunge 1998b, Bd. 1, 374), „human triads (of equals) tend to be unstable“ (Bunge 1999, 10), „bureaucratic states collect revenues efficiently“ (Little 1998, 249) oder auch „In allen humanen Gesellschaften gilt das Inzesttabu“ ausgedrückt werden können. Auch das manchmal so bezeichnete „Eherne Gesetz der Oligarchie“ Robert Michels, das teilweise durch den Satz „Alle sozialen Organisationen weisen früher oder später oligarchische Strukturen auf“ ausgedrückt werden kann und berühmt ist, weil es eines aus der Handvoll überhaupt auch nur genannter und wohl bekannter Beispiele für sozialwissenschaftliche „Gesetze“ ist (Esser 1996), kann – falls es annäherungsweise wahr ist – zur Unterfütterung jener rationalen Erwartbarkeit im Unterschied zur Prophetie (siehe Popper 1987, Bunge 1973b) herangezogen werden. Hempel und Anderen zufolge können solche Gesetzesaussagen ohne Kausalitätsbezug explanatorische Kraft haben. Auch eines der beiden Beispiele aus einer jüngeren Kontroverse in der Philosophie der Sozialwissenschaften, nämlich „commercial hacienda systems tend to lead to agrarian revolt“ (Roberts 2004, 165, Kincaid 2004), gehört eventuell – je nach metaphysischer Interpretation von „tend to“ – in diese Sparte, genauso wie „The intertia resistance to change of a social system is proportional to its size“ (Bunge 2004a, 198).186 Eines der ganz wenigen Beispiele für explizite Gesetzesformulierungen in der Soziologie stammt von Peter M. Blau und dessen „Struktureller Soziologie“. Es wird von Peter Hedström wie folgt formuliert: „1. Zunehmende Größe erzeugt !? zu einem abnehmenden Grad strukturelle Differenzierung in Organisationen in verschiedenen Dimensionen. 2. Strukturelle Differenzierung in Organisationen erweitert die administrative Komponente“ (Hedström 2008, 34). Hedström merkt zudem (kritisch) an, Blau habe sich bezüglich seines Erklärungsverständnisses an Hempel orientiert, wobei Hedström dieses Verständnis rundweg ablehnt. Am Rande sei bemerkt, dass wir damit fast alle „Gesetze“ bereits beisammen haben, die überhaupt in Philosophie und sozialwissenschaftlicher Metatheorie von 1942 bis heute genannt worden sind.187 Das ist insofern eine Bemerkung wert, als Covering-Law-Theoretiker

186

187

Seine Auffassung dürfte sich auch verschiedentlich gewandelt haben. Der positivste Bezug auf Kausalität, der mir bekannt ist, findet sich in Hempel 1972, also vergleichsweise spät. Die Gesetzesaussagen haben prima facie, d. h. ohne philosophische Verrenkung, keinen Kausalitätsbezug oder keine kausale Reichweite, weil z. B. in „Menschen sind sterblich“ oder „Alle sozialen Organisationen weisen früher oder später oligarchische Strukturen auf“ über Kausalzusammenhänge nichts zu erfahren ist. In „commercial hacienda systems tend to lead to agrarian revolt“ führt das „tend to” eventuell genauso wie das „lead to” zu der Idee, soziale Systeme verursachten, sozusagen als solche, Agrarrevolutionen. Darauf kommen wir in Kapitel 7 und 6.3. Bei R. Boudon (1991, 13) findet sich noch: „A famous ‚law‘ owing its origins to Parsons suggests, for example, that the effect of industrialization is to make the nuclear family of the couple and their children the normal or modal type“. Er klassifiziert das „Gesetz“ an dieser Stell aber nicht unter jene Erklärungen, die er als „kausal“ auffasst. G. Albert (2005, 396) zitiert die Institutionalisten P. J. DiMaggio und W. Powell mit folgender „Gesetzes-Hypothese“: „Je größer die Abhängigkeit einer Organisation von einer anderen ist, desto stärker wird sie sich dieser Organisation in Struktur, Klima und Verhalten angleichen“.

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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häufig davon ausgegangen zu sein scheinen, dass man Gesetzesaussagen und zudem explanatorisch relevante Gesetzesaussagen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften in einer Vielzahl findet, was andere von Beginn an bestritten haben (A. C. Danto 1956, Donagan 1957, 1965), wobei alle Seiten offenkundig die Frage nach der „Funktion“ (Hempel 1942) von Gesetzeshypothesen nicht anhand eines Rekurses auf Praxis zu lösen versucht haben. Wie wir teilweise gesehen haben, worauf wir hier aber nicht eingehen können, ist plausibel, dass Indikatorgeneralisierungen weitaus häufiger vorkommen als erklärende Gesetzesaussagen. In den meisten dieser Prima-facie-Beispiele werden jedoch Eigenschaften beschrieben und korreliert oder die „Erwartbarkeit“ hat aus anderen Gründen nicht direkt etwas mit Kausalität zu tun. So besehen ist klar, dass die Rede von „Eigenschaften“ oder „Sachverhalten“ an dieser Stelle unklar ist, weil z. B. solche Fragen im Kontext der andauernden sozialwissenschaftlichen Kontroversen um „Emergenz“ (7.3.2, 7.3.5) seit Jahrzehnten umstritten sind. Hier werden aber prima facie Irgendwassen oder, anders gesagt, einem Typ von x, Eigenschaften zugeschrieben, die gesetzmäßig „verbunden“ sein sollen oder in gesetzmäßigen Zusammenhängen stehen sollen. Was sind solche Eigenschaften oder Sachverhalte? Gibt es sie? Wovon sind sie Eigenschaften? Das Problem ist, dass die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Geschichtswissenschaften im Speziellen auch keine geteilte Eigenschaftsontologie ihrer Gegenstände haben, welche Gegenstände auch immer das sein mögen (Kapitel 7). Sie verfügen auch nicht über eine geteilte und klare Ereignisontologie (oder auch eine Sachverhaltsontologie). Letztere wird genau dann zum Desiderat, wenn soziohistorische Kausalrelationen zwischen Ereignissen philosophischen Auffassungen zufolge, die mit den logisch-empiristischen nicht unverwandt sind, bestehen sollen, und davon ausgegangen wird, dass dies im Soziohistorischen und dortigen Kausalrelationen genauso der Fall ist wie in der Natur. Die These ist dann, dass allgemein-ontologische Thesen auch bezogen auf die Gegenstandsdomäne der Geschichtswissenschaft oder anderer Sozialwissenschaften zutreffen. Diese These wird manchmal „Naturalismus“ genannt. Am meisten rezipiert wurden in der Metatheorie der Geschichts- und Sozialwissenschaften im Umfeld der Covering-Law-Modelle ontologische Thesen zu Kausalität, die im Rahmen der soziohistorischen Covering-Law-Literatur und insbesondere von Hempel überraschenderweise letztlich gar nicht formuliert worden sind. Die Covering-Law-Modelle wurden hier immer als Kausalerklärungsmodelle aufgefasst. Hempel hat bekanntlich nicht die These vertreten, dass wissenschaftliche Erklärungen Kausalerklärungen sind, wie immer wieder zu lesen ist, sondern dass alle „wissenschaftlich“ zu nennenden Erklärungen Covering-LawErklärungen sind und einige davon Kausalerklärungen, wobei er Kausalerklärungen als nomologische Erklärungen auffasste. Das Formulieren einfacher Fragen führt auch hier zu interessanten Einsichten und ggf. zu Entideologisierung durch Differenzierung. Hat Hempel begründet, warum Kausalerklärungen Covering-Law-Erklärungen in der deduktiv-nomologischen Variante sind? Das hat Hempel insofern nicht getan, als er schlicht behauptete hat, in Kausalerklärungen würden strikte gesetzmäßige Beziehungen irgendwie mitbehauptet (semantische These; Hempel 1972, 7), ohne dies irgendwie durch soziolinguistische Analysen empirisch zu belegen oder anderweitig zu begründen (vgl. Dray 1957, Railton 1980), z. B. durch plausible Beispiele, zumal aus dem Bereich des Soziohistorischen. Hinter diesen Thesen steht versteckt eine klassische – letztlich von Hume übernommene – Regularitätsmetaphysik der Kausalität (ontologische These), die Hempel zwar erkennbar, aber bloß zwischen den Zeilen im Kontext anderer (methodologischer) Thesen überhaupt formuliert,

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aber überhaupt nicht verteidigt hat.188 Auch gerade im Kontext von Geschichts- und Sozialwissenschaften ist dies nicht geschehen. Die metaphysische These ist, dass eine Kausalrelation nichts anderes ist als universale, d. h. ausnahmslose Sukzession von Irgendwassen, also irgendwelchen Relata. Diese These steht auch teilweise hinter der These, Erklärungshypothesen müssten zwingend durch CoveringLaws gerechtfertigt werden (methodologische These). Dies gilt nicht für akausale Covering Law-Erklärungen, bei denen Gesetzesaussagen auch die Relevanz der Explanans-„Antecedentia“ für die Explanandum-„Postcedentia“ durch Erwartbarkeit und logische Ableitbarkeit herstellen sollten. In der Herstellung von explanatorischer Relevanz durch „nomologische“ Erwartbarkeit bestand ja die häuptsächliche „Funktion“ von „Gesetzen“ (Hempel 1942). Kausalhypothesen müssen offenkundig durch universale Gesetzeshypothesen gerechtfertigt werden, wenn Kausalität nichts als universale Sukzession ist. Ob dem so ist, ist schwierig zu sagen, weil sich Metaphysiker seit jeher darüber streiten und die philosophische Lage für NichtExperten immer unübersichtlicher wird. Hempel hat diese ontologische These aber nur vertreten, jedoch weder im Allgemeinen noch bezogen auf die Gegenstände der Sozialwissenschaften begründet oder auch nur andeutungsweise illustriert. Da der ontologische kategoriale Rahmen letztlich unklar blieb, erfährt man nicht genau, was als „Phänomen“ – so eine von Hempels Zentralkategorien – gelten dürfte, das auch mit anderen „Phänomenen“ oder „Ereignissen“ in „kausalen“ oder bloß „nomologischen“ Relationen stehen könnte oder vielleicht auch im Soziohistorischen nicht stehen könnte. Selbst wenn als geklärt unterstellt wird, was Gesetzmäßigkeiten sind und was Kausalität ist, bleiben die Relata eigentlich ungeklärt. Obwohl Covering-Law-Modelle in den Sozialwissenschaften und ihrer Philosophie teilweise als einzige Formen von Kausalerklärungsmodellen gelten oder galten – was ja sogar stimmen könnte, wenn die Metaphysik stimmt, wie z. B. Psillos (2002, 2009) behauptet189 – haben Hempel und Hempelianer letztlich keine einzige solcher „kausal“ 188

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Hempel ist bezüglich der ontologischen These schwer festzunageln. Hempel (z. B. 1965, 360 f.) behauptet zwar immer wieder, eine Kausalbehauptung unterscheide sich von einer anderen dadurch, dass implizit eine „covering uniform connection“ mitbehauptet sei. Dass aber eine Ursache einfach ein Vorhergeher (Antecedent) ist, der seiner Wirkung „regelmäßig“ oder „nomologisch“ vorhergeht, sagt er kaum offen. In meiner Lesart rutscht eigentlich offenkundige Metaphysik manchmal jedoch beinahe offen heraus, weil Hempel ansonsten Kategorienfehler begeht: „As for the first question, I think the causal statement does imply the claim that an appropriate law or set of laws holds by virtue of which X causes Y (…)“ (Hempel 1962b, 106, vgl. 1965, 348 f.). Irritierenderweise geht es bei jener ersten Frage darum, was mit einer Aussage wie „X verursacht Y“ gemeint sei, insbesondere, ob sich ein Sprecher auf ein Gesetz verpflichte. Auch andere Indikatoren bestätigen die These (siehe auch Hempel 1942), dass Hempel (selbstverständlich) Regularitätsmetaphysiker war: „Wann immer U, dann W. Es ist dieser gesetzliche Zusammenhang, der U-Ereignissen den Status von Ursachen mit Bezug auf W-Ereignisse verleiht“ (Hempel 1972, 7). Dieselben Unklarheiten und versteckte Metaphysik finden sich überall in dieser Tradition. Im Kontext der Darlegung der (früheren) Thesen von Murray G. Murphey schreibt z. B. Pape (2006, 139) kritisch von Fällen in Erzählungen, „wo gar keine explizten Gesetze bekannt sind, die die behaupteten Kausalbeziehungen tragen könnten“. Vorausgesetzt ist schlicht, dass „Gesetze“ vorausgesetzt sind und in mehrfacher Hinsicht (ontologisch, semantisch, methodologisch, logisch) vorausgesetzt sein müssen. Das führt auch zu der kognitiven Dissonanz, die darin besteht, die Verwendung von „Gesetzmäßigkeiten“ unterstellen zu müssen (Pape 2006, 141), obwohl gleichzeitig „sehr fraglich [ist], ob jede historische Erklärung sinnvoll mit Gesetzmäßigkeiten in Zusammenhang gebracht werden kann“ (Pape 2006, 136), was besonders auf „intentionale Erklärungen“ nicht zutreffen soll (ebd.), die aber gleichzeitig als besonders typisch historisch zu gelten scheinen (Pape 2006, 131). Regularitätstheoretiker haben das Glück des Philosophen, dass ihre Modelle gegen Einwände letztlich immun sind. Psillos beginnt sein Kausalitätsbuch (2002, 1) mit dem Satz: „The birth of our daughter was the cause of great happiness to my wife and me“. Geschichtswissenschaftler und Sozialwissenschaftler wissen, dass Geburten, besonders von Töchtern, zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Räumen keine Freude „verursachen“ oder diese jenen regelmäßig nachfolgen, sondern blankes Entsetzen, das nicht selten in der

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zu nennender Erklärungen aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften als Beispiele bereitgestellt. Falls eine Frage im Umfeld der Kausalitätsproblematik lautet „Welche Relata stehen in der Kausalrelation?“ oder „Welche Relata stehen im Soziohistorischen in Kausalrelationen?“, dann erhalten wir von Hempel wie auch der von ihm begründeten Tradition in der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften keinerlei (klare) Antwort und keinerlei Beispiele. Man weiß nach einer Re-Lektüre und einem Blick auf die Covering-Law-Literatur also eigentlich auch nicht, warum etwas, das manche im regularitätsmetaphysischen Sinn „Kausalität“ nennen, besonders im Soziohistorischen und entsprechenden Wissenschaften von irgendeinem Interesse sein sollte oder tatsächlich ist, zumal in anderen, „realistisch“ genannten Strömungen das von Hempel und Hempelianer zumindest im Kausalitätskontext Vorausgesetzte, nämlich strikte „empirische“ Regularitäten, seit Jahrzehnten als inexistent gelten und ferner jede Form auch von abgeschwächter Regularitätenmetaphysik abgelehnt wird („Critical Realism“, z. B. Benton 1977, Bhaskar 1979, Lloyd 1986, Archer 1995, Archer et al. 1998, Lawson 1997, Danermark et. al. 2002, Groff 2004, Manicas 2006, Kurki 2008, Elder-Vass 2010, Sayer 2000, 2010). Anders gesagt gilt wohl, „the positivist emphasis on causal explanation“ (M. Martin 2000, 103, vgl. Lorenz 1997, 66) ist ein Mythos, zumal im Kontext der Sozial- und Geschichtswissenschaften, obwohl der Mythos auch in der Geschichtsphilosophie noch in der jüngeren Hempel-Popper-Kritik fortgesponnen wird (Gorman 2007, Megill 2010, kritisch Gerber 2012), noch immer ohne die Konsultation von Wissenschaftspraxis oder die direkte und vergleichend-evaluative Konfrontation der abgelehnten und favorisierten ontologischen Thesen bezogen auf Kausalität und Kausalerklärung.190 Man kann also letztlich als Antwort auf die Frage, was im Covering-Law-Rahmen erklärt und verstanden werden soll, eigentlich nur sagen, dass im soziohistorischen Irgendwasse auf der Basis anderer Irgendwassen („Ereignisse“, „Bedingungen“, „Umstände“ etc.) erwartet werden und auf diese Weise bereits als erklärt gelten können. Sie können in dem Sinn als „erklärt“ gelten, dass damit die Frage bereits im Sinn eines Ideals beantwortet ist, warum diese Irgendwasse aufgetreten sind. Erwartbarkeit ist hinreichend zur Beantwortung von WarumFragen. Das war die Spezifik der „positivistischen“ Verstehenslehre. Mehr benötigt man diesem Ideal zufolge nicht, was die Formulierung von in den „Erklärenden Soziologien“ kritisierten Blackbox-Modellen ermöglicht, von denen es heißt, über ein Warum der „Gesetzmä-

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Ermordung des Kindes endet, vor allem von Töchtern: „‚May you be the mother of a hundred sons’ is the toast made to brides in India, where the birth of a son causes rejoicing and the birth of a daughter brings sadness. Why?“ (Henslin 2006, 5). Anders gesagt: Regularitätsmetaphysisch aufgefasste Kausalitäten (oder auch „kausale Regularitäten“, wie sie andernorts genannt werden) sind in den Geschichts- und Sozialwissenschaften offenbar nicht bekannt; siehe auch 6.3. Wenn das Fehlen dieser Begründungen zugestanden wird, kann man nicht nur bezüglich der ontologischen These Begründungen einfordern, sondern auch andernorts nach Differenzierungsmöglichkeiten fragen. Tucker (2004a/b) beispielsweise kritisiert auch jene methodologische These von Hempel, dass also Covering Laws, die er für gänzlich obsolet hält, in der Rechtfertigung von Erklärungshypothesen zwingend herangezogen werden müssen. Recht absurd klingt dies tatsächlich in Konfrontation mit z. B. McNeills (1949) Forschungsproblemen und anderem in der Mini-„Anatomie“. Andernorts wird aber geradezu offensichtlich auch, und zwar in vielleicht durchaus komplexeren Hypothesenbildungsprozessen, auf Regularitäten oder „Gesetze“ (vielleicht auch auf Hypothesen über Mechanismen im Sinne von Kapitel 7) zurückgegriffen (Kirby 1995, Stone 2003, Atkins 1992), zum Beispiel, um die Menge plausibler oder potenzieller Hypothesen einzugrenzen. Wie von Hempel (1942) und zuvor (3.1.3) angedeutet, brauchen Geschichtswissenschaftler oftmals eine Fülle von Indikatorgeneralisierungen, um ihre Hypothesengebilde zu errichten, selbst wenn diese nicht sonderlich spektakulär sind und heute wohl fast niemand sie „Gesetz“ nennen würde, z. B. *Wer im 19. Jahrhundert dazu fähig ist, seinen Namen unter eine Heiratsurkunde zu schreiben, der kann relativ flüssig lesen* (Kriedte 1991, 251).

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ßigkeiten“ oder auch der zu erklärenden „Ereignisse“ würde man in solchen Erklärungen gerade nichts oder zu wenig erfahren. Die obigen Beispiele für „soziale Gesetze“ illustrieren das teilweise auch sehr schön. Die einzige recht explizite These über die Welt, die man Hempel entlocken kann, wobei es sich letztlich um eine Voraussetzung handelt, ist die These, dass es dort Gesetzmäßigkeiten zwischen Irgendwassen gibt. Bloß ist gerade diese These im Bereich der Geschichts- und Sozialwissenschaften nicht nur im sogenannten Postmodernismus so umstritten, dass sie schwer begründungsbedürftig ist, zumal dann, wenn es letztlich fast keine Beispiele gibt. Auf die Frage, ob es wirklich kaum Beispiele gibt, kommen wir gleich zurück. Besonders in der Geschichtsphilosophie ist kaum thematisiert worden, dass diese Vorstellung von wissenschaftlichem Verstehen nichts als Erwartbarmachung von „Phänomenen“ schon früh kritisiert worden ist, gerade auch im Bereich der Philosophie der Sozialwissenschaften, und dass dieses Verstehensideal mittlerweile wohl kaum noch jemand im Wissenschaftskontext akzeptiert. Verstehen heißt bei Hempel, etwas begründet erwarten zu können, und es heißt auch eben nicht mehr, weshalb die Seite der schon früh sogenannten „Realisten“ den „Positivisten“ vorhalten konnte, das Verständnis von wissenschaftlicher Erklärung und Verstehen, wie es in (erfolgreichen) Wissenschaften zu finden ist, werde hier gerade nicht getroffen (z. B. Harré 1970, 1972, Bunge 1965, 1967a/b, 1968, Bhaskar 1978a, 1979). Für diese Kritik ist noch nicht einmal ausschlaggebend, was nun genau unter „Gesetzen“ verstanden wird, ob die Gesetzesaussagen strikt (ausnahmslos) sein müssen oder auch schwächere Varianten von generellen Aussagen „Gesetz“ genannt werden dürfen, also statistische Generalisierungen mit expliziten Wahrscheinlichkeitswerten (wie im IS-Modell), statistische Majoritätsbehauptungen oder Generalisierungen mit Ceteris-Paribus-Klauseln oder „normische“ Hypothesen. Denn die Kritik ließe sich auch so beschreiben, dass mit der Rede von „Gesetzen“ und der Subsumtion von Singularitäten unter irgendwie generelle und annäherungsweise wahre Sätze noch keineswegs verbunden ist, dass dasjenige in den Blick kommt, was als erklärungsrelevant gilt. In dieser „realistischen“ Philosophie der Naturwissenschaften forderte man schon früh die Beschreibung und Modellierung dessen, was „Mechanismus“ genannt wurde, wobei die Rede von „Positivismus“ mit der These verbunden war, sich mit phänomenalen Oberflächenregularitäten zu begnügen oder begnügen zu müssen, wohingegen man in den Sozialwissenschaften dem „Positivismus“ vorwerfen konnte, die wissenschaftliche Beschreibung der „Kernentitäten“ (so die Analytische Soziologie) nicht zu fordern, was man seit den späten 1970er Jahren ebenfalls in sozialtheoretischer Erweiterung mit dem Ausdruck „Mechanismus“ belegte. Vor dem Hintergrund dieser seit den 1960er Jahren existierenden Literatur ist auffallend, dass zumindest in der Hempelianischen (oder Humeanischen) Ontologie etwas, das „Mechanismus“ genannt wird, gar nicht vorkommt. In Kritik an Covering-Law- oder Subsumtionsmodellen heißt es noch in der neueren „mechanismusbasierten“ Analytischen Soziologie: 1. Das deduktiv-nomologische Modell ist nicht anwendbar, weil die deterministischen sozialen Gesetze, die es voraussetzt, nicht existieren. 2. Das induktiv-probabilistische Modell ist nicht nützlich für ein erklärendes Modell, weil (a) es oberflächliche Theorien und Erklärungen zulässt und somit legitimiert und weil (b) es Handlungen und intentionalen Erklärungen nicht die Rolle zugesteht, die sie haben sollten“ (Hedström 2008, 36). Auch hier geht es um Ideale und die philosophische Lancierung eines „mechanismusbasierten“ Forschungprogramms und Erklärungsverständnisses in einer Soziologie.

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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Das Hempelsche Verstehensideal führt gerade dann zu Problemen, wenn es keinerlei klare oder „intuitive“ und mit Beispielen belegte Vorstellungen davon gibt, was Gesetzmäßigkeiten im Soziohistorischen sind, die dann auch klarerweise als Erklärungsmacher fungieren können. Das Problem von Covering-Law-Modellen war bekanntlich recht schnell, erklärungstaugliche „Gesetze“ von den sogenannten „akzidentellen“ Generalisierungen oder bloß „gesetzesartigen Aussagen“ zu unterscheiden, wie z. B. „Alle Päpste sind männlich“, „Die Mannschaft, die das Heimspiel im Europapokal 1:0 gewinnt und das Rückspiel auswärts 2:1 verliert, zieht in die nächste Runde ein“ oder „Alle Credits bei Columbo sind gelb“ und „Heretics were persecuted in 17th-century Spain“ (Rescher/Helmer 1970b). Die Grundidee war ja, dass Nomologizität von Gesetzesaussagen deshalb Erklärung und Verstehen in einem objektiven oder methodologischen Sinn ermöglichen sollte, weil sie besonders gute Erklärungsmacher sind, was sie sind, weil sie (Natur-)Gesetze beschreiben. Autoren, die andere Ideale mit teilweise stark anderen Hintergrundontologien vertreten, wie früh Bunge (2009b 1959, 1967a/b, 1981) und im Sozialwissenschaftskontext neuerdings die sogenannten „Mechanisten“ (Hedström/Swedberg 1998, Demeuleneare 2011, Schmid 2006a, 2011b), glauben, dass viele Regularitäten oder „Gesetze“ bloß oberflächliche, wenn vielleicht auch kontextuell nützliche oder unverzichtbare „Subsumtions“-Erklärungen ermöglichen (so Bunge 1967a/b, 1983a, 1998b), wohingegen bessere Erklärungen und „wissenschaftliches“ Verstehen mehr erfordern. Die neueren sozialtheoretischen „Mechanisten“ glauben, im Unterschied wiederum zu Bunges auch in dieser Hinsicht pluralistischerer Erklärungsmethodologie (7.3.6), nicht an die Existenz von irgendetwas, das sie „soziales Gesetz“ nennen würden, die wenigstens in nicht-idealen sozialwissenschaftlichen Erklärungen verwendet werden können (vgl. auch Bunge 2007). Das heißt, Gesetze spielen in deren Metatheorien (offiziell) zumeist keine Rolle. Worum handelt es sich bei jenen Gesetzen („laws“), die zentral zur Erklärung beitragen und die seit jeher im Bereich der Geschichtsphilosophie im Speziellen und der Philosophie der Sozialwissenschaften im Allgemeinen als problematisch galten? Um Verwirrung um Ausdrücke wie „Gesetz“ oder „empirisches Gesetz“ zu vermeiden, bietet es sich an dieser Stelle noch immer an, zwischen „Gesetzen“ im Sinne von Aussagen und „Gesetzen“ in einem ontischen, objektiven oder, besser, realistischen Sinn zu unterscheiden (vgl. z. B. bündig bereits Bunge 1959a, 1963, 2010c, 12), worin auch immer diese ontischen Gesetze bestehen mögen, was natürlich Gegenstand von Kontroversen ist und am Ende auch darüber entscheiden kann, ob man jene Gesetze im Rahmen von Geschichts- und Sozialwissenschaften als relevant und zunächst einmal existent erachtet. Ich nenne Ersteres Gesetzesaussagen und Letzteres Gesetzmäßigkeiten. Wenn von Gesetzen oder – mit den Topflappen – „Gesetzen“ die Rede ist, ist hier immer beides zugleich gemeint oder der Kontext gibt her, was genau gemeint ist. In einem realistischen Verständnis wären erstere Gesetzesaussagen wahr, wenn letztere Gesetzmäßigkeiten existieren oder bestehen. Letztere Gesetzmäßigkeiten bestehen unabhängig von ersteren Gesetzesaussagen, was bereits eine metaphysische These ist, unabhängig davon, worin jene Gesetzmäßigkeiten ontisch genauer bestehen mögen und wie Gesetzesaussagen analysiert werden. Auch Hempel hat eine Form von Realismus vorausgesetzt (z. B. Hempel 1942).191 191

Wenn auch vielleicht eine Zeitlang nur einen phänomenalistischen Realismus, der für andere ein Antirealismus ist. Unter einer phänomenalistischen Ontologie verstehe ich eine solche, in der behauptet wird, die Welt bestehe aus Phänomenen und z. B. nicht Dingen. Auch Gesetze oder Kausalgesetze können dann Abfolgen von Phänomenen (mentalen „Erscheinungen“) beschreiben oder sein. Hempel (1942) deutete diese Unterscheidung zwischen Gesetzmäßigkeiten und Gesetzesaussagen natürlich auch an und nannte das, was von einer Gesetzesaussage beschrieben wird, zumeist „Regularität“ oder „Uniformität“ (Hempel 1965, 344). Ein epistemischer Phänomenalismus ist die These, dass nur Erscheinungen erkannt werden können.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Dass man den Unterschied zwischen Gesetzen als Gesetzmäßigkeiten und Gesetzen als Aussagen machen und durchhalten sollte, wird spätestens klar, wenn davon die Rede ist, Gesetze determinierten irgendetwas (siehe z. B. Kutach 2014, 84 ff.) und – wie es früher metaphorisch hieß – sie „regierten“ („govern“, z. B. Hempel 1942) irgendetwas.192 Das Problem der Unterscheidung zwischen akzidentellen Generalisierungen und „Natur-Gesetzen“, das natürlich eine ontologische Seite hat, wurde früher schon an Ausdrücken wie „nomologisches Gesetz“ (z. B. Beckermann 1979, 450) deutlich. „Gesetz“ kann in derartigen Fällen dann für „gesetzesartige Aussage“ gelesen und die eigentlich pleonastische Spezifizierung „nomologisch“ mit dem Problem verbunden werden, sogenannte „akzidentelle“, aber der Form nach gesetzesartige Aussagen von sogenannten „echten“ (Natur-)Gesetzesaussagen zu unterscheiden, wobei dann der Anspruch in einem realistischen Rahmen nur darin bestehen kann, dass „echte“ (Natur-)Gesetzesaussagen echte (Natur-)Gesetzmäßigkeiten beschreiben. Von philosophischer Seite gilt die Suche nach derartigen Kriterien zur Unterscheidung von akzidentellen Generalisierungen und „echten“ Gesetzesaussagen noch immer als problematisch (z. B. Hüttemann 2007). In soziohistorischer Metatheorie gilt fernab davon als ungeklärt, was unter einer sozialen Gesetzmäßigkeit verstanden werden könnte. Das metatheoretische Hauptproblem am Schnittpunkt von Philosophie und Sozialtheorie ist wohl nun vor dem Hintergrund subsumtionstheoretischer Traditionen auch nicht eine philosophische Rekonstruktion der Gesetzesartigkeit von soziohistorischen Gesetzen oder Gesetzesaussagen, sondern eigentlich die recht offensichtliche völlige Absenz von „Gesetzen“ in den Sozialwissenschaften, was sich besonders deutlich daran zeigen sollte, dass auch die letzten Hempelianer und Kritischen Rationalisten nach langer Suche nach „Gesetzen“ ihre früheren Auffassungen widerrufen haben (Schmid/Giesen 1976, Schmid 2006a, Esser et al. 1977, Esser 1996, Sztompka 1991), aber im Unterschied zu anderen an Programmen erklärender Sozialwissenschaft festhalten wollen. Der eigentlich recht einmütige Tenor ist mithin nun in der weitgehend ohnehin verschwundenen Literatur zu Subsumtions- oder Covering-LawModellen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, dass wohl alle „Gesetze“ in den Sozialwissenschaften akzidentell oder „phänomenal“ (Little 2010, 1998) sind, was ihren explanatorischen Gehalt zweifelhaft erscheinen lässt. Das methodologische Problem ist dann, dass die Subsumtion einer singulären Aussage unter eine generelle Aussage dann nicht mehr als erklärend gilt, wenn die in den generellen Aussagen beschriebenen Regelmäßigkeiten nicht in irgendeinem weiter aufgeladenen Sinn als Gesetzmäßigkeiten gelten können. Das gilt selbst dann noch, wenn die Aussagen nicht mehr einfach als falsch eingestuft werden, weil man z. B. die Kriterien für Aussagen, die als Gesetzesaussagen gelten, immer weiter zurückfährt, also nicht mehr nur strikte Gesetzesaussagen als solche akzeptiert, sondern statistische Abschwächung mit expliziten und dann auch zu benennenden Wahrscheinlichkeitswerten wie im induktiv-statistischen Modell, die Aufgabe der Forderung expliziter Werte in statistischen Majoritätsbehauptungen und anderem. Die Falschheit von Gesetzesaussagen galt früher als guter Indikator für das Nicht-Vorliegen irgendeiner Gesetzmäßigkeit. Antworten auf die Frage, was als „Gesetz“ zugelassen wird, dürften auch eine Rolle spielen, wenn man verstehen will, wie die idealtypisch völlig gegensätzlichen Einschätzungen von Subsumtionserklärungsmodellen oder eben „nomologischen“ Erklärungen in Philosophie,

192

Methodologischer Phänomenalismus ist die These, dass Forscher nicht danach streben sollten, hinter die Erscheinungen zu schauen, was nur die Kehrseite einer ontologischen These ist oder sein kann. Alles zusammen wird manchmal kurz „Positivismus“ genannt. (In den Sozialwissenschaften und ihrer Metatheorie wird das eher philosophische „Phänomen“ dann durch „Datum“ ersetzt.) Regularitätsmetaphysiker der Kausalität scheinen noch immer zu glauben, dass Gesetzmäßigkeiten in einem metaphysisch schwer zu verstehenden Sinn Einzelfälle determinieren, was uns aber an dieser Stelle nicht interessieren muss (Psillos 2009, Hüttemann 2013).

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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Geschichtstheorie und Sozialtheorie seit 1942 zustande kommen konnten und vielleicht behoben werden könnten. Covering-Law-Theoretiker scheinen von Hempel 1942 über Haussmann 1991 bis – unter leicht anderen Vorzeichen – Schnepf 2011 immer davon ausgegangen zu sein, dass auch die Geschichtswissenschaft über Gesetze in Fülle verfügt, wobei andere deren Existenz gänzlich abstritten, von Danto (1956), widerrufen in Danto (1980 1965), über Lorenz (1997) bis Tucker (2004a/b). Letztere lehnen Vorstellungen von nomologischen Erklärungen entsprechend auch ab. Starke Annahmen bezogen auf die für Erklärung notwendigen „Gesetze“ führen tendenziell zur praktischen Irrelevanz dieser Erklärungsvorstellung in allen Sozialwissenschaften, weil es derartige „Gesetze“ nicht gibt, d. h. niemand kennt solche Gesetzmäßigkeiten und verfügt über entsprechende, bestätigte oder gar als wahr eingestufte Gesetzesaussagen. Schwache Annahmen führen zur Trivialisierung oder ganz einfach zu der Frage, warum solche „Gesetze“ irgendetwas erklären, warum sie also überhaupt als Erklärungsmacher dienen können oder gar privilegiert werden sollten. Hempels IS-Modell ist in Antizipation von derartigen Problemen (Hempel 1942, Schurz 2004) entstanden, wurde aber letztlich gerade in dem Bereich kaum rezipiert, dessen Erklärungen so expliziert werden sollten. Über einen Mittelweg relevanter, d. h. auch explanatorischer und in irgendeiner oder gar einer breiten Praxis existenter „Gesetze“, also praxis-relevanter „Gesetze“, scheint es keine Einigkeit in Philosophie der Geschichte, Geschichtstheorie, Philosophie der Sozialwissenschaften, Sozial(meta)theorie und Wissenschaftstheorie zu geben. So stehen die Meinungen noch immer gegeneinander, dass es (i) überhaupt keine „Gesetze“ in den Geschichts- und Sozialwissenschaften gibt, dass es (ii) unendlich viele und auch bekannte gibt, oder (iii) dass beides irrelevant ist, weil es überhaupt keine explanatorischen „Gesetze“ gibt oder zumindest keine in einer breiten Praxis gibt, es sei denn, diese entstammen Naturwissenschaften und beschreiben physikalische, chemische oder biotische Gesetzmäßigkeiten neben technologischen Gesetzmäßigkeiten.193 Ich habe mir angesichts der Polarisierung der Positionen, die sich seit 1942 (Hempel 1942) oder ca. 1850 (Droysen 1972 1858) eigentlich kaum geändert hat, den Scherz erlaubt (Plenge 2014a), eine Art nomological turn in der Geschichtsphilosophie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu behaupten (Plenge 2014a), denn an Metatheoretikern, die überzeugt sind, dass es eine „Funktion allgemeiner Gesetze in der Geschichte“ gibt (Hempel 1942), herrscht kein Mangel, obwohl alle anderen gegensätzlicher Meinung sind und die Beispieldichte äußerst dünn geblieben ist (Roberts 1996, Klinger 1997, Di Nuoscio 2004, Schurz 2004, Antiseri 2005, Frings 2008, Scholz 2008b, Berry 2008, Schnepf 2011, Leuridan/Froeyman 2012). Obwohl wir in der Mini-„Anatomie“ letztlich kein ausreichendes Material finden, um uns auf die Seite neuerer Vorstellungen von Gesetzen, Gesetzesartigkeit und Erklärung schlagen zu können, kommen wir später darauf kurz zurück. Es gibt aus der hier eingenommen Perspektive zu wenig „Beispiele“, zu wenig echte Beispiele aus real-existierender Forschung, zu wenig diskutierte und praxisrelevante Beispiele und ferner wohl keinerlei generalisierbare Beispiele für „Gesetze“ (Antiseri 2005), „Gesetze“ oder auch „Quasi-Gesetze“ (Bunge 1985a, 1998, siehe auch 8.2), „Quasi-Gesetze“ (Rescher/Helmer 1970b, Rescher/Joynt 1970a), „Ceteris-Paribus-Gesetze“ (Kincaid 1996, 58 ff., 2004), „Invariante Generalisierungen“ (Woodward 2003, Leuridan und Froeyman 2012), „normische Generalisierungen“ (Scriven 1959), „normic laws“ (Bhaskar 1978a, 1979, Outhwaite 1987b) oder andere Dispositionalis193

In philosophischer Literatur, die beinahe verschwindend ist, über die Frage, ob die Sozialwissenschaften „Gesetze“ kennen, wird nicht über die Relevanz von „Gesetzen“ in der Breite der Sozialwissenschaften, sondern über singuläre Fälle gestritten, die keineswegs beispielhaft für irgendwas sein müssen und sein dürften (Kincaid 2004, Roberts 2004). Andere Thesen sind eher rein normativ; siehe McIntyre 1998.

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men, z. B. „nomische Muster“ (Bartelborth 2007), oder „normische Gesetze“ (Schurz 2004, 2006, 2008) und Anderes (Klinger 1997). Eine signifikante Anzahl von Beispielen brauchte es auch, da all diese philosophischen Positionen jeweils in der innerdisziplinären metatheoretischen Literatur der Sozialwissenschaften fundamental umstritten sind oder wären, wenn sie bekannt wären, weshalb einzelne „Beispiele“ auf philosophischer Seite nicht unbedingt viel zeigen. Man müsste also die Relevanz (2.2) philosophischer Ideen einigermaßen klar plausibilisieren können.194 Das Problem mit der Signifikanz von Beispielen ist ja, dass es sich überhaupt um Beispiele handeln sollte, und das muss man im Rahmen von Gesetzesliteratur im Kontext der Sozialwissenschaften bezweifeln. Die erkenn- oder erahnbaren Regularitäten aus der Praxis der Mini-„Anatomie“ scheinen aber in aller Regel eher strikt akzidentelle Regularitäten und selbst erklärungsbedürftig zu sein als „Gesetze“ in irgendeinem aufgeladenen Sinn oder explanatorische Generalisierungen, wenn sie nicht letztlich Naturwissenschaften entstammen. Das schließt nicht aus, sie aus pragmatischen Erwägungen und ohne kausalitäts- oder gesetzesmetaphysischen oder gesetzestheoretischen Ballast in Subsumtionserklärungen zu verwenden, was aber insofern durch die Mini-„Anatomie“ nicht gestützt wird, als fast keine Generalisierungen oder auch keine „Gesetze“ dort in expliziten Subsumtionserklärungen verwendet werden. Die letzte Rettung für Gesetzesvorstellungen in den Sozialwissenschaften könnte sein, dass man diejenige Regularitäten „Gesetzmäßigkeiten“ nennt, die man erklären kann, weil man theoretische Modelle über die jeweiligen Systeme (Kapitel 7) zur Verfügung hat und sie vielleicht auch noch aus anderen Gründen für robust genug hält, um ihnen den Titel „Gesetz“ zu verleihen. Bloß sind solche Regularitäten wohl genauso wenig bekannt wie entsprechende Theorien und Modelle geteilt wären (Esser 1996, 1999, 2000a/b/c/d, 2001, Schmid 2006a, Schmid und Maurer 2010, Blaikie 2007). Falls es signifikante Gesetzmäßigkeiten im Sozialen gibt, ermöglicht Hempels alte, oben bereits angesprochene Differenzierung zwischen Gesetzen und Kausalgesetzen, die auch andernorts geteilt zu werden scheint (Bunge 2009b (1959), Schurz 2006, 2008), vielleicht Subsumtionserklärungen auf der Basis solcher Gesetze, die andere für „phänomenal“ halten, auch aus pragmatischen Gründen. Denn es lässt sich eventuell auch bei einem Blick über die Mini„Anatomie“ hinaus zeigen, dass Geschichtswissenschaftler aus pragmatischen Gründen, hier „pragmatisch“ bezogen auf die in einem Forschungskontext verfügbaren und nur möglichen Hypothesen, auf solche „Gesetze“ manchmal auch insofern angewiesen sind, als sie nicht anders können, als jene „Gesetze“ manchmal als Indikator-„Gesetze“ und manchmal als explanatorische Gesetze aufzufassen, z. B. das „Gesetz“ von Nachfrage, Angebot und Preis, das Wirtschaftsgeschichtswissenschaftler teilweise nutzen, um auf der Basis der sogenannten „Bewegung der Preise“, über die quellenbezogen Hypothesen aufgestellt werden können, weil sie manchmal notiert worden sind, bei angenommener Konstanz des Angebots auf eine „Veränderung“ (Kapitel 7.3.5) der Nachfrage zu schließen. Und Erklärungen, in denen der Anstieg

194

Es ist auch unklar, ob Annahmen im Kontext jener Rede von „Gesetzen“ eine Lösung für deren Erklärungsprobleme liefern und/oder eine als erfolgreich geltende Wissenschaftspraxis rekonstruieren, z. B. weil eine kausalistische Deutung von Makro-„Gesetzen“ und abgeschwächten Versionen von „social laws“ auf entschiedene Ablehnung treffen würde, gerade bei denjenigen Metatheoretikern in den Sozialwissenschaften, die überhaupt noch einen (kausalen) Erklärungsanspruch für die Sozialwissenschaften erheben und auf die Erforschung von demjenigen dabei vertrauen, was sie in unterschiedlichen Bedeutungen „soziale Mechanismen“ nennen (z. B. Schmid 2005a/b, 2006a/b, Esser 1996, Manicas 2006, Lawson 1997, mit Einschränkung (7.3.8) Hedström 2008).

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der Preise durch den Anstieg der Nachfrage bei Konstanz des Angebots erklärt wird 195, die der Form nach Hempelianischen deduktiv-nomologischen Erklärungen gleichen, wird man finden können (Abel 1980, Hitzbleck 1971). Bezogen auf „die Geschichte“ ist damit aber natürlich nichts gezeigt, sondern gerade das „Gesetz“ von Angebot und Nachfrage ist eines der notorischen „Beispiele“. Eine letztlich wohl seltsame metaphysische Deutung dieser Erklärungen durch das Postulat von Kausalrelationen zwischen unklaren („Makro“-)Relata kann man an dieser Stelle auch vermeiden und solche Erklärungsargumente als Erwartbarkeitserklärungen deuten, deren kausale Reichweite dann noch auf einem anderen Blatt stehen kann. Denn prima facie klebt eine konkrete Person das Preisschild auf die Grinsegesichtmortadella, nicht die Nachfrage (Kapitel 7). Wie dem auch sei, eventuell handelt es sich hier um unabhängige Fragen, wenn sich signifikante Gesetzmäßigkeiten von Kausalgesetzmäßigkeiten unterscheiden ließen. Gerade die Regularitätsmetaphysik der Kausalität im Hintergrund der Rede von „Gesetzen“ war immer schon besonders umstritten und ist bis heute weder im Bereich des Soziohistorischen plausibel illustriert noch irgendwie verteidigt worden. Hempels nicht begründete und verschämte regularitätsmetaphysische Vorstellungen ermöglichen gerade auch im Kontext sozialwissenschaftlicher Rezeption und einem implizit-ontologischen Hintergrund über die „sozialen“ oder „historischen“ Kausalrelata hochumstrittene Kausalhypothesen, die letztlich nur vor einem regularitätsmetaphysischen Kontext überhaupt als kausale Hypothesen verstehbar sind, wenn diese Ontologie über Umwege und „akademische Osmose“ (William H. Sewell Jr.) in den Geschichts- und/oder Sozialwissenschaften auftaucht. Neutraler formuliert: Wenn von Kausalität zwischen irgendetwas die Rede ist, stellt sich – wie im Fall von Topolski, 3.1.6 – die Frage, vor dem Hintergrund welcher Kausalitätsvorstellung eine solche Redeweise überhaupt sinnvoll erscheinen kann und wie genauer die ontologischen Relata (und deren Wirkung) vorgestellt werden sollen. Wenigstens zwei Beispiele sollen dann doch hervorgezaubert werden, welche die Problematik von Philosophie in z. B. Sozialgeschichtswissenschaft zu erläutern helfen, u. a. die „philosophical choices“ (2.2), die Geschichts- und Sozialwissenschaftlern offen stehen. Nehmen wir Theda Skocpols (1979) sicherlich von John Stuart Mill und damit regularitätsmetaphysisch inspirierte und von P. Hedström (2008, 109) unter das Label „Aggregatinduktivismus“ gestellte geschichtswissenschaftliche oder soziologische Erklärung in der modifizierten Rekonstruktion des Soziologen Peter T. Manicas, wobei es sich um eine „kausale“ Erklärung handeln soll. McCullagh (2004, 34) spricht in seiner Diskussion von „structural causes“ („A“ für „Antezedent“, „G“ für „Gesetz“, „P“ für „Postzedent“): G If a state organization susceptible to administrative and military collapse is subjected to intensified pressures from developed countries abroad and there is widespread peasant revolt facilitated by agrarian socio-political structures, then there will be a social revolution. 195

Hier ergeben sich philosophisch dieselben Probleme wie in der orthodoxen Erklärungsdebatte (siehe z. B. Salmon 2006 1989, Bartelborth 2007). Denn wenn ein Wirtschaftsgeschichtswissenschaftler den (Durchnitts-)Preis einer Ware auf der Basis der Generalisierung als Indikator für die Nachfrage verwendet, indem er auf der Basis eines (quellenmäßig bekannten) Anstiegs der Preise auf einen Anstieg der Nachfrage schließt, gilt dies Hempel zufolge genauso als Erklärung wie umgekehrt, wenn der Anstieg der Nachfrage den Anstieg der Preise subsumtiv erklärt. Akteurmodelle werden vermutlich Ersteres unplausibel erscheinen lassen. (Mit anderen Worten: Hempel kann zwischen sog. Seinsgründen und Glaubensgründen nicht unterscheiden.) Hier hat man aber eventuell einen Fall, in dem Generalisierungen oder gesetzesartige Aussagen in der „historical constitution“ vergangener „facts“ eine Funktion erfüllen; vgl. anders und in dieser Terminologie Goldstein 1976, 202 ff.

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A-1 France (Russia; China) was a state organization susceptible to administrative and military collapse. A-2 France (Russia; China) was subjected to pressures from developed countries. A-3 In France (Russia, China) there was a peasant revolt facilitated by agrarian socio-political structures. P There was a social revolution in France (Russia; China). (Mit Änderungen adaptiert von Manicas 2006, 163.) Was immer „Makro“ genauer hier oder dort heißen mag, was in aller Regel unklar ist (Kapitel 7.3.7), hier handelt es sich insofern um eine Makro-Makro-Erklärung, als ein Makro„Phänomen“ auf der Basis von Makro-„Phänomenen“ subsumtiv erklärt wird, d. h., etwas Nicht-Individuelles wird durch etwas Nicht-Individuelles erklärt. Ferner ist offenbar in diesem regularitätsmetaphysischen Rahmen (denk)möglich, dass die Antecedentia hier in den drei Fällen die Postcedentia und alle „typengleichen“ „Ereignisse“, deren Ontologie im Bereich des Soziohistorischen im Umfeld regularitätsmetaphysischer Ideen nicht bekannt ist, verursachen, was Skocpols Vorstellung zu sein scheint und mit Hempels Buchstaben durchaus verträglich ist, aber auch mit den Thesen von „Bedingungs“-Theoretikern soziohistorischer Kausalität in Anlehnung an J. L. Mackie (z. B. Jakob 2008, Day 2009). Bei der Philosophin Jennifer Trusted findet sich eine Deutung von E. Durkheims Erklärung des Selbstmords, die manchmal als „soziale Erklärung“ mit „sozialen Ursachen“ gedeutet wird (Boudon/Fillieule 2012, 19). Auch Trusted identifiziert scheinbar Gesetz mit Kausalgesetz, Subsumtionserklärung mit Kausalerklärung und ferner Kausalität mit Gesetz, ohne das überhaupt für erläuterungsbedürftig zu halten und die Relata zu problematisieren, zumal die Kausalitäten intuitiv und auch sozialtheoretisch recht seltsam sind, wie auch die Gesetzesaussage oder, wie es früher mal hieß (z. B. McCullagh 1983), die gesetzesartige Aussage. Man kann den Eindruck haben, dass diese Interpretationen nur auf der Basis der ontologischen Unklarheit, die von Logischen Empiristen geerbt worden ist, möglich sind: Consider an observed regularity !, namely that suicide rates for Roman Catholics are lower than those for Protestants. It may be used as a simple causal law !? in a D-N explanation of there being a lower suicide rate in Spain than in Sweden: G Suicide rates are lower for Roman Catholics than for Protestants. A Spain has a much higher proportion of Roman Catholics than Sweden, which is largely Protestant. P Therefore suicide rates are lower in Spain than in Sweden (Trusted 1987).196 Weder die Historikerin/Soziologin Theda Skocpol noch die einen Soziologen philosophisch lesende Philosophin Trusted sagt allerdings viel dazu, warum man ihre Erklärungen bzw. Erklärungsrekonstruktionen als Kausalerklärungen auffassen können sollte, was also inwiefern hier in ontischen Kausalrelationen steht und ggf. warum die Beschreibung eine „kausal" zu nennende Erklärung ist. Man muss implizite ontologische Thesen wie Regularitätsmetaphysik unterstellen, um überhaupt eine Vorstellung zu haben. In Skocpols Erklärungshypothese ist eigentlich gar keine Rede von Kausalität und kaum erahnbar, was dort wie und inwiefern verursacht wird, wenn man nicht damit zufrieden ist, kategorial unanalysierte (Makro-) Antezedentia und (Makro-)Postzedentia per Regularitätsmetaphysik, d. h. auf der Basis von universalen Gesetzesaussagen, die strikte Regularitäten zwischen Ante- und Postzedentia ex hypo196

Für Kritiker an Sumbsumtionserklärungsmodellen ist auch dies ein schönes Beispiel dafür, dass man – entgegen Hempelianischen Vorstellungen – hier über ein Warum eigentlich gar nichts erfährt.

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thesi beschreiben müssten, in „kausal“ genannte Relationen zu stellen. Einzig die regularitätstheoretische Metaphysik, welche auch die in ihrer Relevanz umstrittene makro-komparatistische Methodik inspiriert zu haben scheint, gibt vage Anhaltspunkte dafür, warum man überhaupt eine kausale Deutung vornehmen könnte. Was geboten wird, ist die Übereinstimmung von drei recht vagen und heterogenen „Faktoren“ oder „Bedingungen“, deren lose zeitliche Anordnung manchem Geschichtswissenschaftler Sorge bereiten könnte (siehe z. B. auch Schützeichel 2004). Die Ausdrücke „Faktor“ und „Bedingung“ seien gewählt, um jede ontologische Festlegung zu vermeiden und nicht „Irgendwas“ schreiben zu müssen.197 Eine gute Frage, die für manche Philosophen vielleicht naiv ist, dürfte bezogen auf diese Beispiele auch einfach sein: Was wirkt worauf? Auch im Fall von Topolskis (3.1.5) Covering-„Law“-Hypothese ist weder klar, was worauf wirken soll, noch, was die beschriebenen Faktoren in welchem Sinn mit Kausalität zu tun haben, weil z. B. bloß Optionen für potenzielles Handeln andeutungsweise beschrieben werden: „In all territories where the coexistence of market possibilities for the sale of rural products and a serfdom of peasantry took place, the manorial-serf economy appeared and developed”. Topolski glaubte ja, solche Erklärungen seien unvollständig oder müssten „substantiiert” werden. Ontologisch wie methodologisch und substanziell-theoretisch kann dieser Schwenk zu weiteren Problemen führen (7.5, 7.6). In solchen Fällen ist es, obwohl dazu viel mehr zu sagen und viel mehr philosophisch und „historisch“ zu forschen wäre, offenkundig, dass die Kausalitätsvorstellung, die in keiner Weise einer (sozial-)wissenschaftlichen Herkunft ist, jene Kausalaussagen und die Annahme, hier handelte es sich um Kausalität, überhaupt erst ermöglicht und die Kausalitätsvorstellung nicht ihre Plausibilität beispielsweise dadurch erhält, dass eine allgemein akzeptierte geschichts- oder sozialwissenschaftliche Kausalerklärung eine philosophische Kausalitätstheorie irgendwie stützt. Das ist das Problem wohl mit allen philosophischen Kausalitätsauffassungen im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaften, obwohl schon hier festgehalten werden muss, dass es keinerlei philosophische Komparatistik von Kausalitätsvorstellungen und ihrer Relevanz in den Geschichts- und Sozialwissenschaften oder, besser, unterschiedlichen Schulen der Geschichts- und Sozialwissenschaften zu geben scheint. Zumeist werden auch gar keine Kausalaussagen oder Kausalerklärungen aus Geschichtsund Sozialwissenschaften irgendwie analysiert, obwohl manchmal behauptet wird, der „Begriff“ der Kausalität in diesen Wissenschaften werde expliziert. Hempel (1962, 104; 1965, 353) hatte beispielsweise behauptet, Thesen, wonach Kausalität etwas mit Hervorbringung zu tun hat, seien völlig unklar und Kausalaussagen ohne unterstellten Bezug auf Gesetze unverstehbar. Andere halten klarerweise dasjenige, was sie „Hervorbringung“ nennen, für das Zentrale an Kausalität. Nur vor dem Hintergrund der Unklarheit sozio-historischer Kausalrelata und der Annahme, Kausalität sei bloße Sukzession zwischen den Relata und nicht Hervorbringung oder Produktion, ist Kausalität zwischen irgendwelchen „Makros“ (relativ) unproblematisch denkbar, ob im klassisch regularitätstheoretischen Gewand, vor dem Hintergrund statistischer Kausalitätsdefinitionen oder neueren kausalitätssemantischen Interventionismen.198 Dass die Ontologie, d. h. hier Sozialontologie plus Kausalitätsontologie, hinter der vermeintlichen Kausalerklärung bei Skocpol (1979) und in ähnlichen Fällen nicht mitgeteilt wird 197 198

Diese Festlegung nehmen wir an anderer Stelle in einem systematischen Rahmen vor; Kapitel 7.4. Meine naive Frage, was wirkt worauf, würde dann von Regularitätsmetaphysikern vermutlich damit beantwortet, dass hier nicht z. B. die lose Menge von Bedingungen auf eine Soziale Revolution wirken – was intuitiv kaum verstehbar ist –, sondern dass die Soziale Revolution auf diese Menge von Bedingungen (regelmäßig, immer) folgt, was in diesem philosophischen Rahmen eben „Kausalität“ oder „Verursachung“ genannt wird.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

oder unklar bleibt, was eben philosophische Annahmen oder „philosophical choices“ (2.2) in oder vor der Praxis einfach verdeckt, führt bei anderen Sozialwissenschaftlern dann zur Kritik dieser (impliziten) Ontologie und der Ablehnung dieser „kausalen“ Erklärungen. Manchmal führt dies wohl zur Ablehnung jeder Rede von Kausalität im Sozialen oder zur Leugnung der Relevanz so verstandener Kausalität in den Geschichtswissenschaften. Der Geschichtswissenschaftler William H. Sewell Jr. (2005), der selbst in seiner vor-interpretativistischen Phase von Makro-Determination schreibt (Kapitel 3.1.5), was ebenfalls nur schwer zu interpretieren ist, nennt diese Erklärungen und die entsprechenden Ontologien „mechanical“, weil sie beispielsweise holistische Anklänge haben. Schließlich sind Personen in den in dieser Kausalerklärung beschriebenen Relata einer (vermeintlichen) Kausalrelation offenbar nicht vorgesehen. Kritiker solcher sozial-kausalen Erklärungen, in denen irgendwelche Makros als Verursacher irgendwelcher anderen Makros aufgefasst werden, kritisieren in aller erster Linie eine Kausalitätsmetaphysik nebst einer Sozial(meta)theorie und ihre forschungspraktische Seite, die ironischerweise aber von Hempel-Popperianern, denen diese oft zugeschrieben wird (zuletzt Gorman 2007), im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaften nicht nur kaum explizit vertreten, sondern auch nicht begründet und auch nicht irgendworan illustriert worden ist. Diese Kausalitätsmetaphysik kommt aber natürlich ohne „Geschichts“- oder Sozialmetaphysik im Hintergrund gar nicht aus, auch wenn sie weder bei den entsprechenden Philosophen noch bei entsprechenden Geschichts- und Sozialwissenschaftlern expliziert wird, denn ohne Relata gibt es auch keine „nomologischen“ oder „kausalen“ Relationen, zumindest in einem realistischen Verständnis. Erst recht in Trusteds Version von Durkheims Quasi-Gesetz oder Theorie ist recht offensichtlich von irgendwelchen Ursachen überhaupt nicht die Rede, sondern von Assoziationen von vagen Sozialmerkmalen („Protestantismus“, siehe 7.3.2 zu sozialen Eigenschaften) mit einer Form von Handeln als aggregierte statistische Variable.199 Auch hier ließe sich allenfalls von Subsumtionserklärungen oder Erwartbarkeitserklärungen „im logisch-systematischen Sinn“ (Hempel) sprechen. Die Frage am Schnittpunkt von Philosophie und Wissenschaft bleibt dann, ob einem so etwas in irgendeinem Kontext reicht. Leider muss es immer wieder wiederholt werden: Das Problem ist auch bezogen auf die Geschichtswissenschaft nach wie vor die Nicht-Existenz von Beispielen. Hempel (1942) behauptete, viele „Gesetze“ würden in geschichtswissenschaftlichen Erklärungen als zu „trivial“ im Sinne von „zu bekannt“ oder „selbstverständlich“ vorausgesetzt und daher nicht explizit genannt. Hempel hat keines dieser „Gesetze“ aus echten geschichtswissenschaftlichen Studien ausgegraben und in der Literatur zu Covering-Law-Erklärungen im Rahmen der Geschichtsund Sozialwissenschaften sind letztlich auch kaum welche oder letztlich – alles in allem gerundet – keine genannt worden. In der Mini-„Anatomie“ finden sich hinter Aussagen mit einem „weil“ eigentlich keine solchen selbstverständlichen „Gesetze“. Manchmal findet man in Metatheorie und Praxis etwas, was aber nicht ausnahmslos ernst zu nehmen ist 200, und sel199

200

Hier zeigt sich, dass nicht trivial ist, danach zu fragen, was die in unserem Diskursumfeld sogenannten „Positivisten“ mit „Immer wenn Fx, dann Gx“ ontisch oder einfach geschichts- und sozialtheoretisch meinen, zumal das offenbar beliebig interpretiertbar ist, wie die weitere Literatur zeigt. (1) „Wanderschaft stärkt durch alle mit ihr verbundenen Erfahrungen das Selbstbewußtsein” (Schubert, 1995, 32). (2) „Gefährlich war das Burgleben wegen der damit verbundenen Langeweile und ihrer Begleiterscheinung: Melancholie. Das wußten die Menschen aus Erfahrung: Musik lindert Depressionen, ‚schwere Gedanken’, trübsinnige Stimmungen. So wird im Wigalois von einem ‘grâve Adân’ erzählt: ‘sehs videlaere / die wolden im sine swaere / mit ir videlen vertrîben’” (Schubert 1995, 154). (3) „It is always pleasant to contemplate the tender green of young shoots or the golden ears of ripe corn, whose harvest will be chinking coin. But farming was no proper occupation for a gentleman“ (Bloch 1970, 143).

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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ten findet man etwas, das auch beinahe in einem Erklärungskontext steht, wie in Hempels Modellen „partieller Erklärung“ (Hempel 1942, 1965, 1977) vermutet worden ist, allerdings nicht im Kontext dessen, was in den Studien eigentlich eher im Zentrum steht und Gegenstand des Interesses ist, also bloß am Rande und beiläufig. Noch R. Schnepf (2011, 85 f.) ist der Auffassung, dass Geschichtswissenschaftler selbstverständlich auf „Gesetze“ in der Rechtfertigung von Erklärungshypothesen rekurrieren, kann aber bis auf ein eher unglückliches Beispiel von T. Mommsen keine Beispiele explizit machen. 201

201

(4) „‚Un peuple qui n’enseigne pas son histoire est un peuple qui perd son identité.‘ L’intéressant, dans cette affirmation, n’est pas d’abord qu’elle soit fausse, bien qu’elle le soit … Dans sa généralité même, l’affirmation du président de la République est erronée“ (gemeint ist Mitterrand; Prost 2010, 16). (5) „Yet charismatic authority is inherently unstable, tending either to disintegrate or to become institutionalized (in some form, in Weber’s view, of what he called bureaucratic or rational-legal authority” (Fulbrook 2002a, 129). (6) „Insulting people to their face is not likely to produce a beneficial diplomatic result“ (Eckstein 2006, 178). (7) „Unbehaglich fühlen wir uns nämlich gerade dann, wenn wir nicht genau wissen, was mit uns oder um uns herum los ist“ (Bänziger 2010, 89). (8) „Die Belegschaft der Firma fühlte mit ihm, denn Ludwig war ein liebenswürdiger Mensch, der seine Grenzen kannte. Ganz im Gegensatz zu seinem verheirateten jüngeren Bruder, der aggressiv, eitel und besonders streng war” (Pressac 1994, 36). Sogar zwei scharfe Kritiker von Hempel (siehe Plenge 2014c) formulieren in ihrer Geschichtsphilosophie Hempelsche „Gesetze“; Tucker, 2007, 211, Megill 2007, 43. Bei Karl-Joachim Hölkeskamp ist die folgende Passage zu finden: (9) „Der äußere Druck verursachte auch jenen permanenten Zwang zum Ausgleich in der Innenpolitik, der in den Jahrzenten nach 366 v. Chr. die Entstehung der außergewöhnlichen Homogenität der Nobilität wesentlich förderte“ (Hölkeskamp, 2011 1987, 244; siehe ein ähnliches Beispiel in Lorenz 1997). Wenn man Hempels (1942, 1965) Thesen zu unvollständigen Erklärungen im Hinterkopf hat und in anderem Kontext bei dem Geschichtsphilosophen Murray G. Murphey (2009, 93) den Satz „External conflict usually produces group integration“ liest, dann ist man geneigt und auch darin gerechtfertigt, auch bei Hölkeskamp eine elliptische Erklärung und ein entsprechendes Gesetz zu entdecken oder aber eine Art Erklärungsskizze. Bei dem Alltagshistoriker Ernst Schubert (1995, 146) findet sich in einer völlig marginalen Bemerkung das hübsche und wiederum akausale Beispiel: (10) „Mit der Sackpfeife ist die Schalmei verwandt, die zu den ‚lauten’ Instrumenten gezählt wird und erst im Spätmittelalter länger und damit tiefer wird.” Bei dem Sozialtopographen Wozniak findet sich die ebenso beiläufige Passage: (11) „Die Gerber tauchten die Rinds- und Kalbshäute, aber auch Ziegen- und Schafhäute über längere Zeiträume in immer frischere Laugen aus gewässerter Eichenrinde, die so genannte ‚Lohe’. Die Häute nahmen dabei den Gerbstoff Tannin auf” (Wozniak 2013, 267). Hier trifft eventuell zu, dass die generelle Darstellung oder, wenn man will, „Erzählung”, eine Art elliptische Erklärung auf der Basis einer völlig phänomenalen oder, wie es regelmäßig heißt, „empirischen Generalisierung” ist, wenn man das “dabei” als ein “weil” liest. Auch bei dem Kulturgeschichtswissenschaftler M. Füssel findet sich eine angedeutete Erklärung, die eventuell auf Common-Sense-Psychologie fußt und durch ein „mag kaum überraschen” die Generalisierung bloß andeutet. (12) „Aufgrund des gespannten Verhältnisses des Fürsten zur Stadt mag es wenig verwundern, dass der Universität der Vorrang gewährt wurde. Das Beispiel macht insofern nochmals deutlich, wie sehr die Rangverhältnisse von der jeweiligen Obrigkeit abhingen” (Füssel 2006, 320). Auf unexplizierten und erneut kontrastiven Common-Sense-Annahmen fußt auch Shepherds (1988, 410) Äußerung (für ein ähnliches Beispiel siehe Atkins 1992, 209): (13) „Tenants, because they received a share of the harvest, could be counted on to invest more labor and produce higher yields than hired laborers, to the benefit of landowners.“ Technologische Gesetzmäßigkeiten werden bei Pressac vorausgesetzt: (14) „Als der zweite Ofen des Krematoriums in Betrieb genommen wurde, stellte man fest, daß er aufgrund mangelnden Zuges sehr schlecht funktionierte. Am 2. April 1941 informierte Schlachter die Topf davon und verlangte einen Monteur, der Abhilfe schaffen sollte. Doch es war niemand abkömmlich. Die Topf riet daher, es mit den Regulierschiebern der unterirdischen Rauchkanäle zu versuchen, die zu jedem der Öfen gehörten. Durch das Schließen der Schieber des ersten Ofens und das Öffnen des zweiten sollte die Zugstärke verbessert werden. Doch die Bauleitung war nicht zu Versuchen bereit und ließ statt dessen den Kamin des Krematoriums auf 20 Meter

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Was man häufiger findet, ist nichts, was irgendwie einer Gesetzmäßigkeit in einem aufgeladenen Sinn ähnelt, sondern demjenigen gleichkommt, was ein Ökonom „Demi-Reg“ nannte oder eben den oben angedeuteten erklärbaren Regelmäßigkeiten. Was Geschichts- und Sozialwissenschaftler außerhalb der Rezeption naturwissenschaftlicher Hypothesen im Normalfall allenfalls kennen, sind unspezifizierte und vielleicht nicht weiter spezifizierbare allgemeine Muster, deren Nicht-Zufälligkeit man einzig in dem Sinne unterstellen zu können glaubt, dass sie „phänomenale“ Muster von sozialen Interaktionssystemen (oder Handlungssystemen) sind oder auch von ähnlichen individuellen Entscheidungsprozessen innerhalb von ähnlichen „sozialen Systemen“, „sozialen Strukturen“, „sozialen Situationen“ oder „Institutionen“ (Kapitel 7). Beispiele sind so etwas wie „If unemployment rises, wages do not increase” (Bunge 1996, 74), „… in the absence of unemployment compensation insurance, a 1% increase in unemployment is accompanied by about 1% increase in criminality” (Bunge, 1997, 432), „commercial hacienda systems tend to lead to agrarian revolt“, „plantation systems tend to lead to labor reforms“ (Roberts 2004, 165). Diese Autoren nennen allerdings diese und ähnliche Generalisierungen teilweise „Gesetze“. Ein weiteres Beispiel ist auch das von B. Pasternak (1978, 219) als Forschungsausblick am Ende einer Studie beiläufig formulierte, zudem komparative „other conditions being equal, families in rainfall areas are more likely to achieve and retain joint familiy form than those in irrigated areas“. Die schwache Regularität, also nichts, was einer strikten Gesetzmäßigkeit ansatzweise ähnelte oder auf der Basis von Regularitätsmetaphysik der Kausalität interpretiert werden müsste, ist bloß sozusagen das Ergebnis oder eine Resultante und eine generelle Aussage die Beschreibung desselbigen. Die Regularität „regiert“ und „determiniert“ natürlich nichts und der Zusammenhang ist auch nicht in irgendeinem metaphysischen Sinn „notwendig“, wie häufiger von Gesetzmäßigkeiten verlangt wird, oder eine solche Auffassung bedürfte einer Begründung.202 Pasternaks Regularität ließe sich auch in landläufiger Formulierung so zusammenfassen, dass dort, wo Menschen mit ähnlichem geistigem Mobiliar in ähnlichen Umständen („Situationen“) handeln bzw. miteinander interagieren, mit irgendeiner Regelmäßigkeit ähnliche Sozialgebilde entstehen, dort die „nuclear family“, dort die „joint family“. In der Terminologie der Philosophie und Metaphysik der (Natur-)Gesetze ist diese Regularität oder das „Gesetz“ akzidentell, sozusagen ein zufälliges oder kontingentes historisches Produkt. So etwas findet man etwas regelmäßiger in geschichtswissenschaftlichen Studien: The arable land im Norden Frankreichs im 17. Jahrhundert, dp was almost always laid out in strips, generally ten times as long as they were wide but sometimes longer; this is sometimes, though not fully, explained in terms of adaptation to the use of the wheel and mould-board plough, and the need to share inherited land equally (in accordance with local custom) (Goubert 1986, 7; siehe für ähnliche Fälle auch Bloch 1970, L. White 1968). Hier kommt die („historische“) Regularität zustande, weil Akteure technologische Neuerungen nutzen (wollen) und vor diesem Hintergrund praktische (Interaktions-)Probleme lösen müssen, die manche Soziologen wohl als „Kooperations“- oder „Koordinationsprobleme“ bezeichnen würden.

202

aufstocken, wodurch wieder ein guter Abzug gewährleistet war (siehe Dokument 8: Plan der Bauleitung Nr. 1424 vom 03.08.42)” (Pressac 1994, 27). Für Hempel war Notwendigkeit zumindest zu einem Zeitpunkt mit strikten und wahren Gesetzeshypothesen identisch (Hempel 1972).

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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In Topolskis (1979 1965) sinngemäßer genereller Aussage *Die Nuptialität bestimmt (in der Vormoderne) die Natalität* ist natürlich ebensowenig eine Kausalrelation beschrieben wie in anderen ähnlichen Fällen, obwohl Regularitätsmetaphysiker der Kausalität und kausalitätstheoretische Interventionisten schnell zu einer solchen Deutung zu greifen bereit zu sein scheinen. Hier ist die Generalisierung ansatzweise wahr nicht wegen der Existenz von spektakulären ontischen Gesetzmäßigkeiten und Kausalrelationen zwischen den Variablen Nuptialität und Natalität, sondern weil unter den entstandenen („historischen“) Lebensbedingungen der Vormoderne mit der „Kultur“, den „Institutionen“, „Systemen“, „Situationen“, „Strukturen“ (Kapitel 7), Menschen „regelmäßig“, „typischerweise“, „häufig“, „erklärbarerweise“ oder „normalerweise“ erst dann Kinder zeugen und bekommen, wenn sie geheiratet haben (und manche heiraten, wenn ein Kind droht). Und bevor das Kind kommt, scheinen sie vor dem Hintergrund der damaligen technologischen Möglichkeiten direkt – pleonastisch formuliert – kausal miteinander interagiert zu haben und selbstverständlich nicht Nuptialität und Natalität.203 Vermutlich verhält es sich hier bezogen auf Kausalität im Sozialen (oder „Soziale Kausalität“) letztlich immer gleich (7.4, 7.5). Aus der Sicht der Kritiker bzw. nun von Dissidenten von Subsumtionsmodellen im Kontext der Sozialwissenschaften ist dann auch egal, ob irgendwelche mittelprächtigen oder starken Regularitäten zu behaupten sind, sondern was man aus dieser methodologischen (und damit normativen) Sicht in sozialwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Sicht braucht, ist ein erklärendes Modell von solchen schwachen Regelmäßigkeiten, zu denen auch gehört, dass sich im Osten Europas unter ähnlichen „Umständen“ Akteure zur Errichtung anderer Wirtschaftsformen entschieden als im Westen Europas (Topolski, Kapitel 3.1.5). Die Mini-„Anatomie“ lehrt allerdings auch, dass es solche expliziten Modelle auch in der geschichtswissenschaftlichen Praxis eher selten gibt. Bemerkenswert ist vielleicht auch, dass hinter diesen methodologischen Forderungen die ontologische These steht, dass es im Sozialen keine Gesetzmäßigkeiten zu vermuten gilt, die in Covering-„Law“-Erklärungen oder Subsumtionserklärungen eingesetzt werden könnten. Geschichtswissenschaftler haben ähnliches häufiger vermutet. Tony Lawsons, der als ein Begründer des „ontological turn“ in den Wirtschaftswissenschaften bekannt geworden ist, gab folgende Beispiele für dasjenige, was er „Demi-Regs“ nennt: To the extent, then, that science is concerned to identify and understand relatively enduring structures and mechanisms the starting point will often be contrastives d. h. kontrastive Generalisierungen wie „Frauen verdienen weniger als Männer“, dp with at least some significant degree of space-time extension. Given that few scientifically interesting empirical contrasts involving social phenomena are likely to hold strictly or uniformly, the aim is to uncover those that at least hold to an extent that an enduring mechanism seems the likely explanation of the contrast involved. In short, the initiation of much social scientific research will inevitably depend upon the detection of contrastive social demi-regs. (…) The world might have been such that partial regularities of interest were never, or perhaps only rarely, in evidence. In fact, it is clear that in the social sphere, as elsewhere, contrastive demi-regs are pervasive at all levels. For example: ‚women look after children more often than men do’; ‚a relatively small proportion of children from poor backgrounds in the UK continue into higher education’; ‚average unemployment rates in western industrial countries are higher in the 1990s 203

Auch durchaus ähnliche Fälle werden von Philosophen und Soziologen offenbar kausalistisch interpretiert, also auch durchaus wörtlich; Kapitel 7.3.8, 7.4, 7.5.

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than the 1960’s; ‚in the 1990s UK firms are externalizing or ‚putting out’ more parts of the production process than twenty years ago’; ‚in the late nineteenth century UK firms increasingly internalized parts of the production process’; ‚in increasing proportion of the world’s population lives in cities’; ‚women in the UK usually wear brighter colours, use more make-up, but go alone to the pub less often than men do’; ‚the proportion of the UK public that reveals an intention to vote for the Conservative Party increases in run-ups to general elections’; ‚government spokespersons tell more lies in war-time’; ‚reported crime in the UK has increased steadily since the 1970s’; ‚Cubans currently spend more time in queues than the English, who in turn spend more time in queues than Italians’; and so on. Or, at a general level, the persistence of inflationary trends in certain economies but not others, of significant variations in rates of growth and decline of area-specific manufacturing sectors, of poverty in the midst of plenty, of production primarily for exchange rather than, as previously, for immediate use, provide examples of notable space-time patterns in economic phenomena. In each such case there is not an invariable relation but repetition of such a nature, or to such a degree, that an explanation seems required all the same. In each such case it is to be expected, or anyway is prima facie plausible, that there are systematic and identifiable mechanisms in play which social science can uncover” (Lawson 1997, 206 f., Hervorhebung dp; zur Inspirationsquelle für diese ökonomische Methodologie siehe die Metaphysik von u. a. Bhaskar 1978a, 1979). Auch Ökonomen scheinen also eher keinerlei sonderlich spektakuläre „general laws“ zu kennen (vgl. auch Bunge 1998) und auf die ebenso unklaren wie problematische Rede von „Strukturen“ und „Mechanismen“ können wir hier später nur kurz eingehen.204 Die Grundidee ist aber klar, und die These ist, dass es keine interessanten, relevanten, explanatorischen und zugleich sozialen „Gesetze“ gibt205, wobei die skizzenhafte Regularitätsmetaphysik der Logischen Empiristen hier durch eine pan-dispositionalistische Kräfte-Metaphysik („causal powers“) ersetzt wird, die offenbar mit anderen methodologischen Ideen verbunden ist, denn ansonsten müsste T. Lawson seine „positivistischen“ Fachkollegen nicht in beiderlei Hinsichten kritisieren. In einem leicht anderen metatheoretischen Umfeld nannte P. T. Manicas (2006) „Working class kids get working class jobs“. Bekannter ist auch die Toqueville-Generalisierung, die H. Esser J. C. Davies zuschreibt: „Revolutionen gehen – so James C. Davies – üblicherweise längeren Perioden der Verbesserung einer zuvor sehr schlimmen Situation voraus, wobei der 204

205

Siehe ansatzweise, aber nicht hinreichend, zum hier relevanten „Critical Realism“ Plenge 2014a; ausführlich Kaidesoja 2007, 2009, 2013. An dieser Stelle muss nur vermerkt werden, dass hier mit „Strukturen“ und „Mechanismen“ etwas fundamental Anderes gemeint ist als bei dem oben bereits zitierten Soziologen P. Hedström und dessen „Analytischer Soziologie“, was zu Verwirrung führen kann (siehe kurz 7.6). Dass (soziale) Regularitäten erklärt werden müssen, statt dass die sie beschreibenden Generalisierungen unproblematisch in (Subsumtions-)Erklärungen herangezogen werden können, ist natürlich die Konsequenz davon, sie nicht als „Gesetze“ auszuzeichnen. So heißt es z. B. bei den Soziologen P. T. Manicas (2006, 96): „It was noted that generalizations do not explain, that they need explaining.“ Für Manicas sind die Sozialwissenschaftlern zur Verfügung stehenden Generalisierungen bloß Indikatoren für das Vorliegen dessen, was auch er „Mechanismen“ nennt. Manicas zufolge gilt (ebd. 183) „necessity“ sei „the critical attribute of nomicity“. Ein anderer Soziologe schreibt ähnlich: „There are several general laws that do not explain the relation between the phenomena that they link together and do not make them understandable“ (Cherkaoui 2005, 102). Aus ähnlichen Gründen schreiben sozialwissenschaftsinterne Methodologen im Erklärungskontext auch nicht mehr von Gesetzen oder Covering-Law-Erklärung, sondern von „Strukturmodellen“, „Mehrebenenerklärung“, „Mikrofundierung“ oder „theoretischen Modellen“ (die ggf. eine Gesetzeshypothese enthalten, nämlich eine Handlungs- oder Entscheidungsgesetzeshypothese).

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Pfad der Verbesserung der Lage dann plötzlich unterbrochen wird“ (Esser 2000d, 383). Auch diese manchmal als „Gesetz“ bezeichnete Beschreibung einer Regelmäßigkeit ist nicht sonderlich vorhersagetauglich und der Ausdruck „Situation“ deutet schon auf unklare Weise an (Kapitel 7.1), dass aus Esserscher Sicht akteurzentrierte Modelle her müssen. Das gilt wohl in beinahe allen ähnlichen Fällen, die sich aus der verstreuten Literatur hervorwühlen lassen: „Marx’s law can be loosely paraphrased as: under capitalist relations of production, an increase in the productiveness of labour leads to an increased competition between labourers for a (relatively) diminishing number of jobs” (Benton 1977, 43). Daran ist ohne irgendeine spektakuläre Metaphysik und insbesondere kausalitätsmetaphysische Verrenkungen, d. h. eigentlich im Sinne Hempels und der „Positivisten“, nichts sonderlich „lawish“, wenn man es übersetzt in die These, dass bei Zunahme von Arbeitsproduktivität (durch z. B. Technisierung) der idealtypische Kapitalist als Komponente seines Sozialsystems und in Antizipation der Zukunft bzw. des Verhaltens anderer „Beschäftigte“ rausschmeißt, die, sollte es mehrere gleichzeitig treffen und die „Nachfrage“ nach „Arbeitskraft“ nicht steigen, und zudem das Sozialsystem mit seinen „Institutionen“ kein arbeitsfreies Einkommen kennt, sehen müssen, wo sie bleiben. Ist das nun aber ein „Gesetz“, also eine Gesetzesaussage, die eine Gesetzmäßigkeit beschreibt? Wenn für den Titel „Gesetz“ ausreicht, dass ein allgemeiner, nicht aus begrifflichen oder logischen Gründen wahrer Satz nicht als gänzlich falsch oder gar absurd, sondern als plausibel und annäherungsweise wahr und weiter erklärbar eingestuft werden kann, dann könnte dies so sein, zumal dann, wenn man genauere Vorstellungen davon hat, was überhaupt beschrieben wird. 206 T. Lawson definiert „demi regularities“ oder „demi-regs” folgendermaßen: „a partialevent-regularity which prima facie indicates the occasional, but less than universal, actualization of a mechanism or a tendency, over a definite region of space-time‘ (Lawson 1997,

206

Solche Beispiele wie zuvor genannt erinnern auch an D. Littles Frühphase, in der noch von „laws of tendency“ die Rede war, die allerdings keine Tendenzen in metaphysischer Sicht (z. B. Bhaskar 1978a, 1979) sein sollten: „What are the logical characteristics of laws of tendency, and how do they differ from laws of nature? A law of tendency is a statement to the effect that, holding other background conditions fixed, condition C tends to give rise to pattern P. Examples of such laws include these: „Capitalist ownership tends to concentrate over time”; „The rate of profit tends to fall over time”; „The capitalist economy tends toward crises of underconsumption over time” (Little 1986, 27). Die philosophische Literatur zu Ceteris-Paribus-Gesetzen kümmert sich um logische Probleme, die damit verbunden sein können, dass jene „Hintergrundbedingungen“, die konstant zu halten wären, in aller Regel gar nicht bekannt sind, was den empirischen Gehalt gefährden kann (Reutlinger et al. 2015, Kincaid 2004, Roberts 2004). Die Problematik besteht auch, weil CP-Klauseln gezogen werden (müssen), weil man ansonsten im Sozialen zumeist zu wissen glaubt, dass die Gesetzeshypothese, als strikte Gesetzesaussage formuliert, falsch ist. Abschwächungen der Kriterien für „Gesetze“ haben auch mit diesen Problemen zu tun, wobei die strikte Formulierung natürlich den Vorteil hat, dass leichter erkennbar ist, ob die Gesetzeshypothese falsch ist. Dass Ceteris-Paribus-Klauseln in Geschichtswissenschaften allerdings verwendet werden, ist nicht bekannt. Die „Mikrofundierer“ oder „Mehrebenenerklärer“ in den „erklärenden“ oder „analytischen“ Soziologien (Kapitel 7) haben, wie auch D. Little (siehe Literaturverzeichnis) in seiner jüngeren Philosophie, diese Probleme wohl nicht nur nicht, weil sie weder an die Existenz noch an die Fruchtbarkeit der Annahme der Existenz von sozialen „Gesetzen“ welcher Art auch immer glauben, sondern auch, weil vermutlich die Handlungstheorien im Zusammenspiel mit kontingentem „historischem“ Wissen über Akteure dabei behilflich sind, relevante „Faktoren“ oder „Bedingungen“ in der Modellbildung einzugrenzen. Das Problem ist dann der Nachweis des „Einflusses“ von sozialen „Faktoren“ oder „Bedingungen“ oder „Strukturen“ auf Akteure, nicht die Vervollständigung von Gesetzeshypothesen hin zu wenigstens ansatzweise striktallgemeinen und wahren Gesetzeshypothesen (was in der Regel einen unexplizierten regularitätsmetaphysischen Hintergrund voraussetzt), vielleicht auch, um genuine soziale Ursachen auf dieser Basis behaupten zu können.

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204207). Andere würden dies wohl so beschreiben, dass diese Regularitäten oder die sie beschreibenden Aussagen (a) unzählige Ausnahmen haben und (b) jene Regularitäten mitsamt den „Mechanismen“ überhaupt nur „historisch“ existieren. Eigentlich ist es wohl auch weit hergeholt, in solchen Fällen überhaupt von „Ausnahmen“ zu sprechen, denn niemand setzt voraus, dass diese Generalisierungen irgendwie strikt zu machen wären oder dass es ein sinnvolles Ideal wäre, zu strikten „Gesetzen“ zu finden, was Hempels Idee einer Schatzsuche (Hempel 1965) nach hinreichenden Antezedentia oder „Bedingungen“ zugrunde lag, dessen Auffindung dann erlauben sollte, von Verursachung zu sprechen.208 Hempel glaubte eine Zeitlang, Erklärungsskizzen müssten durch Aufhäufen von „Bedingungen“ oder „Antezedentia“ zu DN-Erklärungen mit strikten Gesetzen ausgebaut werden. Hinter dieser „Schatzsuche“ standen offenbar auch zwei metaphysische Thesen, nämlich, erstens, dass solche Regularitäten existieren, die mit dem Theorem des „existential regularism“ von u. a. M. G. White (1965) sozusagen immunisiert worden ist (vgl. Rainone 1990), indem später behauptet wurde, in Erklärungen müsste nur noch die Existenz eines ansonsten nicht weiter bekannten „Gesetzes“ plausibilisiert werden. Und zweitens stand dahinter versteckt die Regularitätsmetaphysik der Kausalität, denn solche strikten Regularitäten sollten dann das Vorliegen von Kausalität verbürgen. Man könnte zunächst immerhin vermuten, dass J. Topolski in seiner Forschung ähnliches unterstellte (Kapitel 3), wenn es nicht so wäre, dass auch er eine andere Metaphysik zugrunde legte.209 Allerdings scheint hier erneut die Interpretationsmöglichkeit auf, „Gesetze“ in den Sozialwissenschaften einfach so zu verstehen, dass es sich dabei um jene Regelmäßigkeiten handelt, die in sozialen Systemen zu beobachten sind, wobei diese Regelmäßigkeiten aufgrund von Strukturen, in denen die Komponenten dieser Systeme stehen, deren Interaktionen das Prozessieren eines einigermaßen regelmäßigen sozialen Mechanismus ist, als existent gelten können, bis ein konkretes System oder die Typen von Systemen im Verlauf der „Geschichte“ verschwinden. Eine solche These erfordert aber schon fünf Kategorien, die im Logischen Empirismus wie scheinbar auch allen Sozialontologien und auch allgemeinen Ontologien nicht vorkommen oder nur implizit vorkommen, die aber von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern häufiger verwendet werden, wenigstens in der Metatheorie. Darauf kommen wir in Kapitel 7. Wenn man mit einer solchen oder ähnlichen Strategie metaphysische Fragen um Gesetzmäßigkeiten entschärft und die recht mystische Verknüpfung mit Regularitätsmetaphysik der Kausalität aufgibt, die letztlich seit Droysen nie großen Anklang in den Geschichtsund Sozialwissenschaften gefunden hat, dann gibt es eventuell viele „Gesetze“ und wenigs207

208 209

Dies erinnert auch an Glennans (2002, 2010, 2014) „mechanistisch“ erklärbare Gesetze bzw. „changerelating generalizations“, zumindest oberflächlich. „Demi“ wird als „halfway or as false“ übersetzt (Lawson 1997, 320). In dieser Hinsicht ähneln sie entfernt den dispositionalistischen „normic laws“ (Bhaskar 1978a, 1979) und den evolutionstheoretisch fundierten Normalfallgesetzen (Schurz 2004, 2006, 2008). Topolski (1978, 5) verband die Rede von „essential connections“, „internal relationships“ (3.1.6) oder einfach Gesetzen mit einem „Marxist understanding of scientifc laws“. Eine weitere Erläuterung als die folgende ist mir nicht bekannt: „In our opinion (which is common to the Marxist understanding of scientific law) it does not suffice that a statement informs us that a class of facts does occur with a high probability or even does occur always in order to classify that statement as a law. A law should reflect an ontological internal relationship and not only a statistical regularity“ (Topolski, 1978, 5). Von dem genannten Gesetz heißt es, es erfasse eine „essential connection“ (Topolski 1978, 6). Lawson erbt als Kritischer Realist eine dispositionalistische Kausalitätsmetaphysik von R. Bhaskar. In dieser Schule beschreiben Gesetzesaussagen (Bhaskar: „normic laws“) keine Regularitäten oder „empirische“ Regularitäten (also Gesetzmäßigkeiten in diesem Sinn), sondern schreiben einem Etwas eine Disposition („power“) zu (siehe auch Lloyd 1986). Auf den Umstand, dass solche dispositionalistischen Gesetzmäßigkeiten (oder „Mechanismen“) von Kritischen Realisten wohl auch nicht benannt worden sind, kommen wir kurz später (6.3).

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

269

tens manche der obigen Generalisierungen könnten „Gesetz“ genannt werden. Sie sind in dem Sinne nicht „akzidentell“, dass sie wenigstens prinzipiell erklärbar sind. Das Folgende sind Beispiele für Regularitäten, Demi-Regs oder, wie er es manchmal nennt, Gesetze, die M. Bunge (1999, 17) aus sozialen Mechanismen in sozialen Systemen hervorgehen sieht: Wenn eine Person in Kanada um das Jahr 2000 mit seiner Medicare-Card in eine Arztpraxis oder Klinik ging, wurde sie behandelt. Der Arzt stellte die Behandlung immer der kanadische Regierung in Rechnung, woraufhin die Regierung den Arzt entlohnte. So etwas kennen gerade auch Geschichtswissenschaftler, die ja teilweise weitaus mehr down to earth sind als andere Kultur- oder Sozialwissenchaftler. Unter der Voraussetzung, dass man weiß, wie sich typische Akteure verhalten und darüber hinaus in Interaktionen verhalten, erfüllt das Gesetz sogar eine philosophische Daumenregel zur Identifikation von Gesetzesaussagen, nämlich die „Unterstützung“ kontrafaktischer Konditionalaussagen (siehe z. B. Hüttemann 2007). Falls man so etwas, vielleicht auch mithilfe anderer philosophischer Vorstellungen, „Gesetz“ nennen will, kann man das natürlich machen. (Und niemand muss irgendeine Angst davor haben, obwohl Historiker die Rede von Gesetzen in ihrem Kontext recht häufig beinahe panisch zurückgewiesen haben.210) Dann kennen Geschichts- und Sozialwissenschaftler vielleicht Unmengen von Gesetzen, obwohl sie bisher kaum glauben, ein einziges zu kennen. Der frühere Hempelianer M. Schmid schlägt sich auf H. Essers Seite, wenn er noch rhetorisch erwähnt: Esser … fragt (rhetorisch), welche ‚Gesetze‘ die Soziologie denn bislang entdeckt habe. Die symbolisch-interaktionistische und ethnomethodologische Kritik hat immer gewusst, dass es nichts zu entdecken gibt, konnte aber kein alternatives Erklärungsargument anbieten (Schmid 2006a, 126, Fußnote 887; vgl. Walter 1994, 60, Boudon 1999, Frings 2008, 164). Fraglich ist dann wieder, wer solche „Gesetze“, deren Erklärbarkeit auf der Basis von Akteurtheorien, Strukturannahmen oder „Mechanismen“ man vermutet, tatsächlich in Erklärungen verwendet, denn dafür gibt es wiederum in der Literatur wohl kaum Beispiele, selbst wenn man solche Generalisierungen zusammensucht und am Ende auch aus anderen Gründen vielleicht „Gesetz“ nennen möchte. Erklärbare oder plausible Regularitäten bereits als „Gesetze“ einzustufen, könnte in den Ohren mancher allerdings dann eine Trivialisierung von Gesetzesrede sein, denn mit „Gesetzen“ scheinen in der Tendenz der sozialwissenschaftlichen Metatheorie und substanzieller Theorie oder -Modellbildung („Positivismus“) solche skizzenhafte Mikro-Modelle gerade vermieden zu werden, die man in den Beispielen für Demi-Regs und Ähnliches offenbar immer unterstellen muss, um einen Erklärungszusammenhang zu erkennen. D. h. Sozialwissenschaftler befürchten, dass hinter der Fassade von „Gesetzen“ dasjenige schnell verschwindet, was man letztlich als den erklärenden Zusammenhang erachtet: „Covering-law explanations in the social sciences therefore normally are ‚black-box‘ explanations and they do not attempt to reveal any mechanisms that might have generated the observed relationships“ (Hedström/Swedberg 1996, 287). Allerdings nennen auch Hedström/Swedberg keine dieser 210

Historiker haben häufig jede Rede von Gesetzen mit den obskuren sog. „Geschichtsgesetzen“ verbunden, nicht mit den meist äußerst dürftigen Beispielen der Tradition der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften. Demgegenüber ist es auch ein Mangel, dass die „Geschichte“ der gar nicht trivialen, über Jahrhunderte verfolgbaren Versuche, mit der Rede von Gesetzen und ihrer Natur das Soziale zu naturalisieren und zu dehistorisieren, noch nicht geschrieben zu sein scheint, was einen legitimen Grund dafür bieten kann, mit dem Wort „Gesetz“ große Vorsicht walten zu lassen.

270

6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Covering-Law-Erklärungen, deren Existenz ihre Kollegen alleine schon bestreiten. „Erklärbarkeit“ von „sozialen Regularitäten“ heißt natürlich auch zunächst nicht viel, was Zweifel daran zu hegen erlaubt, hier vieles ein „Gesetz“ zu nennen oder sich davon einen großen (explanatorischen) Gewinn zu erwarten. Denn am Ende ist dann auch die Aussage „Jede Person, die bei der Reise nach Jerusalem keinen Stuhl abbekommt, scheidet (immer, in der Mehrzahl der Fälle, normalerweise oder ceteris paribus) aus dem Spiel aus“ ein Gesetz. Von ähnlichen (Pseudo-)Beispielen kann man sich beliebig viele leicht ausdenken.211 In der Anatomie findet man unspezifische und schwache Regularitäten oder „Demi-Regs“ auch bei M. Füssel, allerdings auch nicht in einem Erklärungskontext bzw. einem solchen, in dem etwas Singuläres durch den Rekurs auf eine Regularität subsumtiv erklärt werden soll, sondern als Ergebnis der Forschungsbemühungen: „Im Hinblick auf den Zusammenhang von Rangkonflikten und Verrechtlichung lassen sich zwei Punkte hervorheben. Im Sinne der Justiznutzungsthese wurde offenbar, dass Institutionalisierungsprozesse in Gestalt obrigkeitlicher Rangverordnungen und der Bereitstellung von Instanzen der Konfliktregulierung zu einem Anschwellen entsprechender Konflikte führten“ (Füssel 2006, 430 f.; vgl. 264). Im Kontext von Erklärungsmetatheorie drängt sich dann eine Frage auf: Warum?212 Andere Muster, die Füssel und andere Kulturgeschichtswissenschaftler interessieren, lauten wie folgt: „Männer saßen in der Kirche meist rechts, Frauen links (gesehen von der Eingangstür mit Blick auf den Altar (…)“ (Füssel 2006, 95). „Abstimmungen und Wortmeldungen erfolgten dem Rang nach“ (Füssel 2006, 52; siehe auch oben Kapitel 3.2). Dass Regelmäßigkeiten in kulturgeschichtswissenschaftlichen Abhandlungen beschrieben werden, kann nicht verwundern, denn man interessiert sich fast ausschließlich für „historische“ oder „kulturelle“ Regelmäßigkeiten (was oftmals auch für Sozialgeschichtswissenschaftler gilt). Zu den sozio-historischen Demi-Regs oder phänomenalen sozialen Regularitäten zählen auch die Wahlleiterthesen im Rahmen der Faktionentheorie:

211

212

Die Abschwächung der Bedingungen für Gesetze, die für manche dann eine Trivialisierung ist, kann in verschiedenen Stufen vorgenommen werden, die sich alle auch in der Literatur der Philosophie der Geschichts und Sozialwissenschaften seit 1942 finden. Erster Schritt: Die Annahme, dass Gesetze notwendige Zusammenhänge sind, wird aufgegeben. Zweiter Schritt: Die Annahme, dass Gesetze strikte (ausnahmslose) Regularitäten sind, wird aufgegeben. Dritter Schritt: Die Forderung, dass die Geltung von Gesetzen nicht (ad hoc) raum-zeitlich eingeschränkt werden darf, wird aufgegeben. (Ob diese Typen, die sich durch Gesetzmäßigkeiten auszeichnen, bloß zufälligerweise historisch, also in bestimmten Raumzeitgebieten zu finden sind, nicht raumzeitlich-universal, ist irrelevant, solange sich alle Token des Typs gleich verhalten und sich gleich verhalten würden, wenn sie andernorts auftreten würden.) Vierter Schritt: Die Annahme, dass Gesetzesaussagen sich auf Typen von irgendetwas, nicht konkrete Individuen beziehen, wird aufgegeben. Wenn man alles gleichzeitig zulässt, bekommt man Gesetze, die sich im Garten des Nachbarn zwischen Tagesschau und Wetterkarte finden lassen oder wenigstens vielleicht in einer größeren „Epoche“ bezogen auf historische Typen von Gärten. Andere nennen so etwas dann „empirische Regelmäßigkeiten“ bzw. „empirische Generalisierungen“, nicht Gesetze. Ein Beispiel: *Im Jahr 1904 im Kaiserreich waren Regierungsassessoren normalerweise Protestanten* (Wehler 1994 [1973], 76). Ein weiteres Beispiel: „Das Reichskonkordat mit der Kurie galt den meisten loyalen Katholiken als denkwürdiges Entgegenkommen“ (Wehler 2009, 84). Am Ende der Abschwächungsstrategie ist der Unterschied zwischen Gesetzmäßigkeiten und Gesetzesaussagen dann auch eigentlich verschwunden. Leider konnten Philosophen an Beispielen aus den Sozialwissenschaften nicht demonstrieren, welche Generalisierungen nun Gesetze sind und welche nicht, da man keine kennt. Füssels Einleitung ist zu entnehmen, dass er diese Frage auch gestellt hat: „Es wird also zu klären sein, warum es gerade in diesem Zeitraum zu einer solchen Häufung von Konflikten kam“ (ebd. 18). Ich muss allerdings gestehen, an dieser Stelle nicht zu wissen, wie die Frage beantwortet wird. Natürlich deutet die Rede von „Justiznutzungsthese“ eigentlich auf eine individualistische (7.1) Erklärung.

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

271

Eine wesentliche Annahme Münzers und seiner Nachfolger besteht dabei in der These, daß der wahlleitende Magistrat regelmäßig einen entscheidenden, kaum begrenzten bzw. begrenzbaren Einfluß auf den konkreten Ausgang der Wahlen ausüben konnte, d.h. praktisch immer in der Lage gewesen sei, die Kandidaten seiner Wahl (d.h. seiner „Partei”) durchzusetzen. Damit ist die „Wahlleiterthese” die wesentliche Grundlage der Parteien- bzw. Faktionentheorie überhaupt, weil nur sie es ermöglicht, die Auffälligkeiten in den Fasten Beamtenlisten, dp als Manifestationen des wechselvollen Kampfes von Adelsfaktionen um die „Macht”, als Gradmesser ihres jeweiligen Gewichtes im Vergleich zu ihren Gegnern zu erklären. Ohne die These vom überragenden Einfluß des Wahlleiters ist eine ausschließlich amts- und machtorientierte langfristige gentilizische Gruppenpolitik gar nicht denkbar (Hölkeskamp 2011 1987, S. 55 f.). Dabei kommt es Rilinger offenbar auch weder auf strikte Regularitäten noch auf statistische numerische Werte an, sondern Rilinger (1976), der die Thesen in diesem Kontext systematisch zu kritisieren trachtet, formuliert im Grunde so etwas wie ein Modell typischer Interaktionsformen im Rahmen des „Wahlsystems“ und der Römischen Republik unter der Voraussetzung all dessen, was man über dieses „System“ zu wissen glaubt. Zumindest würde ich an dieser Stelle etwas spekulativ so etwas hinter der Rede von „System“, „Struktur“, „Grammatik“ und „Mechanismus“ vermuten (3.1.3). Er fragt sich, ob diese Thesen über den „Einfluss“ von Wahlleitern mit der metaphorisch so bezeichneten „politischen Grammatik“ verträglich sind. Was genau das heißt, wie das Modell genau aussieht, ist allerdings zumindest innerhalb der kursorischen Sichtung im Rahmen der Mini-„Anatomie“ nicht zu klären. Ähnliche Erklärungsmodelle von schwachen „sozialen“ Regelmäßigkeiten finden sich bei dem Geschichtswissenschaftler L. White (1968), dessen Forschungen der obigen These Gouberts teilweise ähneln. L. White klärte den immerhin weltberühmten Soziologen R. Boudon (2010) nach dessen biographischer Selbstbeschreibung über gute Sozialwissenschaft auf. Soviel als Randbemerkung zu philosophischen Thesen der strikten Trennung von Geschichte und Sozialwissenschaft. Bei H. Medick findet sich im Rahmen der Mini-„Anatomie“ beiläufig das historische und kontrastive Muster beschrieben, das zuvor erforscht worden ist: Weber und Weberfrauen, die es zum Zeitpunkt der Eheschließung oder bald danach auf nicht mehr als eine landlose oder landarme Häuslerexistenz brachten, heirateten bis ins 8. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts deutlich später als diejenigen, deren Vermögensumstände den kleineren oder mittleren bis großen Besitzern zuzurechnen waren. Die mittleren und großen Besitzer unter diesen Webern dagegen ähnelten in ihrem Heiratsverhalten eher der Berufsgruppe der Vollbauern und Wirte, d. h. den vermögensten Land- und Grundbesitzern am Ort, als ihren ärmlichen Häusler-Weber Kollegen (Medick 1996, 325). So etwas haben Soziologen (und Geschichtswissenschaftler) offenbar vor Augen, wenn sie von „sozialen Regelmäßigkeiten“ oder in einem Atemzug von „Strukturen und Regelmäßigkeiten“ als ihren Forschungsgegenständen schreiben, die aber (natürlich) niemand „Gesetz“ nennt. Zudem scheint es über Lawson Beispiele hinaus, wie man auch zuvor sehen kann, nicht selten zu sein, dass solche Generalisierungen oder „Demi-Regs“ kontrastiv formuliert sind, was ein Mini-Indiz dafür sein kann, welche Funktion ihnen häufiger zufällt, nämlich dasjenige einzugrenzen, was manche Soziologen die irgendwie handlungsrelevante „Situation“ nennen, was Marx die „Verhältnisse“ nannte und andere die systemische „Umwelt“ der

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Akteure nennen (Kapitel 7): „Doch es fragt sich, welche Lebensumstände und Vermögensverhältnisse zum Zeitpunkt der Heirat sich hinter diesen Ziffern verbergen“ (Medick 1996, 325), in dem Menschen oder die soziologischen „Akteure“ dann interagieren und die Sozialund Geschichtswissenschaftler interessierenden, „historischen“ oder „kontingenten“ Regelmäßigkeiten sozusagen hervorbringen.213 Natürlich ist es aber auch hier so, dass nicht klar ist, ob und in welchem Sinn der Mikrosozialgeschichtswissenschaftler Medick überhaupt etwas erklären möchte oder in welchem Sinn etwas erklärt werden soll. Mit methodologischen Post-Hempelianern im Hinterkopf (z. B. Schmid 2005a, 2006a/b) kann man vielleicht schon sagen, dass das Fehlen explanatorischer Regularitäten („Gesetze“) genauso wenig ein substanzielles Erklärungsproblem in einem methodologischen oder „objektiven“ Sinn löst wie das Formulieren von kontrastiven Fragen. Letzteres kann man z. B. in J. Topolskis (Kapitel 3.1.5) Forschung erahnen. Ein Hempelianer kann z. B. noch immer danach fragen, was genau die erklärenden Hypothesen sind, und darf fordern, sie möglichst klar zu formulieren. Aus dieser Perspektive ist ein Problem, dass viele Geschichtswissenschaftler kein explizites und methodologisch orientiertes Erklärungsziel haben, was auch damit verbunden sein dürfte, dass in solchen Kontexten, in denen man Akteur-, Interaktions-, handlungstheoretische oder „mikrofundierende“ (Little 1998, Schmid 2006a) Modelle vermuten oder erwarten könnte, so weit ich sehe, eher selten solchen Modelle mit den entsprechenden Hypothesen formuliert werden, was damit zu tun haben könnte, dass Handlungs- oder Akteurtheorien in Geschichtstheorien und geschichtswissenschaftlicher Forschung nicht sonderlich zentral sind. Solche Modelle halten „individualistische“ (7.1) Sozialwissenschaftler im Unterschied zu „sozialen Gesetzen“ für explanatorisch, wobei diese wohl kein Problem mit der Rede von Gesetzen hätten, wenn man genau jene schwachen Regularitäten „Gesetz“ nennen würde, die „individualistisch“ (7.2) erklärt werden können oder gar erklärt worden sind. Man betritt hier bedauerlicherweise am Schnittpunkt von Philosophie, Geschichts- und Sozial(meta)theorie das unübersichtliche Feld dessen, was manchmal „Theoriepolitik“ genannt wird. Das heißt, die Einen würden dazu tendieren, möglichst viel „Gesetz“ zu nennen, weil sie aus philosophischen Erwägungen glauben, dass dies in guter Praxis zu finden sein muss, wohingegen die Anderen möglichst nichts „Gesetz“ nennen wollen, weil sie aus soziologischen oder sozialmetatheoretischen Erwägungen glauben, dass dies in guter Praxis nicht zu finden ist und Entsprechendes auch keine Fruchtbarkeit versprechende Annahme (mehr) ist, weil die Annahme der Existenz von „Gesetzen“ bloß explanatorischer Sozialwissenschaft im Weg steht. In der Geschichtstheorie hat sich weltweit kein Stand zum Thema ergeben oder er wäre identisch. Wie dem auch sei, wir finden hier nur alte Probleme, denn was nun als „Gesetz“ in den Sozialwissenschaften zu bezeichnen ist, bleibt recht offen und ferner auch, ob es überhaupt welche gibt. Wenn es keine klare ontologische oder theoretische Vorstellungen von den Gesetzmäßigkeiten gibt, die von Kandidaten für Gesetzesaussagen beschrieben werden, dann ist der explanatorische Gehalt der Generalisierungen zweifelhaft (wohl selbst dann, wenn deren Falschheit und Irrelevanz nicht offensichtlich ist). In den Fällen, in denen der explanatorische Gehalt erahnbar ist, liegt dieser wohl häufig an impliziten Annahmen über Anderes, nämlich Akteure und deren Entscheiden, Handeln und Interagieren in bestimmten „Kontexten“, „Situationen“, „Strukturen“ oder „Systemen“ oder an Thesen über (soziale) „Mechanismen" (Kapi213

Im Anschluss heißt es wie durchaus häufiger in ähnlichen Kontexten (7.4): „Wie wirkten nun diese Umstände und Verhältnisse auf das Heiratsverhalten zurück, das in den Unterschieden der Heiratsalter zum Ausdruck kommt? (Medick 1996, 325). Auch hier schlummert also eine Makro-Mikro-Ontologie. Wohl nicht zufällig ist auf der Seite auch von „Zusammenhängen“ die Rede (5.5).

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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tel 7), obwohl gerade diese Annahmen in Rahmen der Mini-„Anatomie“ wieder eher implizit sind, weshalb man wieder bezweifeln könnte, es sei überhaupt etwas erklärt. Wenn der explanatorische Gehalt aber nicht von sozialen Gesetzmäßigkeiten in einem aufgeladenen Sinn rührt, sondern von impliziten Annahmen über Anderes, dann liegt der Gedanke nah, die Annahmen über das Andere explizit zu machen und es nicht bei phänomenalen Regularitäten zu belassen. Das ist wohl minimal die Annahme derjenigen Gruppen von Sozial(meta)theoretikern, die eben zumeist unter das Label „Individualismus“ gestellt werden, das in den Sozialwissenschaften teilweise ein Schimpfwort ist. Wenn es eine Fülle von bekannten sozialen Regularitäten und ihrer Erklärung gäbe, dann könnte man darüber spekulieren, ob die seit spätestens 1942 vorwaltende dichotomische Einschätzung von Covering-„Law“-Modellen ein Streit um Worte ist, nämlich um die Verwendung des Worts „Gesetz“. Nur gibt es diese Beispiele nicht, obwohl wir hier mehr zusammenzutragen versucht haben als andernorts. Es könnte aber trotz der unklaren Lage sein, dass es hier und dort Subsumtionserklärungen auf der Basis unterschiedlicher Generalisierungen oder „Gesetze“ geben könnte, was ja nicht dagegen spricht, diese Regularitäten selbst zu erklären oder auch singuläre Fälle durch mehr als Subsumtion unter „phänomenale“ Generalisierung zu erklären (z. B. durch „Erzählungen“), also sich in der Methodologie zunächst pragmatisch zu verhalten und auch „social laws“ zuzulassen, soweit diese plausibel erscheinen. Wenn man so will, dann kann man sagen, ein gewisser Grad von Verstehen wird in manchen Fällen, von denen man dann mehrere zusammentragen müsste, bereits durch Subsumtionserklärungen und Erwartbarkeit im „logisch-systematischen Sinn“ (Hempel) möglich. Kontrovers ist ja zudem im Kontext der soziohistorischen Metatheorie auch vornehmlich die Rede von „sozialen Gesetzen“, zudem in „kausaler“ Deutung. Im Forschungskontext benötigt man auch manchmal nicht mehr und manchmal hat man sicherlich nicht mehr. Es ist vor dem Hintergrund der Mini-„Anatomie“ auch klar, was eigentlich schon immer klar war, nämlich dass die Thesen haltlos sind, dass in „der Geschichte“ gar keine „Regularitäten“, „Generalisierung“ oder „Gesetze“ eine Rolle spielen, wobei für diese Feststellung sekundär ist, was man genauer jeweils darunter versteht. Immerhin das zeigt der Anhang zu diesem Abschnitt recht deutlich. Das liegt vornehmlich auch daran, dass die Geschichtswissenschaften vermutlich die Wissenschaften mit den heterogensten Gegenständen sind, weshalb nicht überrascht, dass man neben physischen und chemischen auch biotische Regel- oder Gesetzmäßigkeiten neben technologischen andeutungsweise beschrieben findet, die sogar in recht klaren explanatorischen Kontexten eine Funktion erfüllen. Hat das aber jemals jemand ernsthaft bezweifelt?214 In diesen Fällen gibt es aber auch Wissenschaften mit klareren Auf214

An dieser Stelle sei noch die disziplininterne Kritik von D. H. Fischer an traditionellen Annahmen zitiert, jedwede generelle Annahmen kämen in „der Geschichte“ nicht vor oder seien verboten. Fischer nannte dies „The fallacy of the insidious generalization“. Ich vermute, er ist in Forschungsliteratur seltener zu finden als in Erzählungen: „The fallacy of the insidious generalization is committed by a historian who swears up and down that he cannot and will not generalize upon his subject, and then proceeds to bootleg generalizations into his work, without recognizing their existence or controlling their content. An example is H. A. L. Fisher, an English academic historian who prefaced one of his books with the following assertion: ‚One intellectual excitement has, however, been denied me. Men wiser and more learned than I have discerned in history a plot, a rhythm, a predetermined pattern. These harmonies are concealed from me. I can see only … one great fact with respect to which, since it is unique, there can be no generalization.’ This statement is followed by a considerable number of generalizations, some of which are quite as absurd as the disclaimer which preceded them. ‚The Athenian empire, the brilliant growth of two generations, shared the fate of every polity which rises by the repression of local liberties.’ Fisher wrote, again: ‚It is the property of polytheism to be tolerant.’ And again: ‚Men once embarked on the ocean of political strife are apt to be carried further than they intended’ (Fischer 1970,124). Auf die erkenntniskritische Seite, die mit Hempels Lehre von „unvollständigen Erklärungen“ einerseits und mit der Problematik der Rechtfertigung von Erklärungsbehauptungen zu tun hat, konnten wir hier nicht ge-

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fassungen über ihre Gegenstände, klareren Modellen über Zusammenhänge in den relevanten „Systemen“ (Kapitel 7) und entsprechend verlässlichere und nützlichere Generalisierungen. Covering-Law-Theoretiker haben im Rahmen der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften viele Fragen offen gelassen, darunter die sozialontologischen nach den Referenten für jene Gesetze, für die man letztlich keine Beispiele liefern konnte und bis heute keine signifikante Zahl liefern kann. Die Relata von soziohistorischen Kausalrelationen wurden nicht benannt und der Zusammenhang mit Regularitätenmetaphysik nicht hergestellt oder deren Fruchtbarkeit erwiesen. Letztlich fehlt aber noch immer eine Typologie der in Geschichtswissenschaften tatsächlich in unterschiedlichen Kontexten relevanten Generalisierungen oder „Gesetze“ (siehe teilweise Brzechczyn 2009b). Ohne überhaupt Generalisierungen auszubuddeln, wird man auch die nächsten 75 Jahre die „Funktion“ von „Gesetzen“ in der „Geschichte“ (Hempel 1942) oder den Sozialwissenschaften nicht belegen können, was man durchaus bedauern kann (Plenge 2009). Und das ist wohl noch immer weit schwerer, als Covering-Law-Theoretiker wohl aus metaphysischen oder auch schlicht logischen Gründen zu vermuten scheinen. Ihr aus logischer Sicht starker und für viele sicherlich unwiderlegbarer Punkt, auf den wir am Rande bereits gestoßen sind (5.4), ist, dass theoretische Erklärungen – zum Beispiel im Unterschied zu reinen singulären Erzählungen und singuläre Kausalaussagen – des Verhaltens von Typen von Systemen letztlich immer eine explizite oder implizite allgemeine Hypothese mit einer Wenn-dann-Struktur beinhalten, wobei diese Erklärungen eine logische Form haben, die mit Hempels Modellen entweder identisch ist oder, auch abhängig von Entwicklungen in der Logik, eine ähnliche Form haben (siehe z. B. mit unterschiedlichen Auffassungen Schurz 2006, 2008, Schmid 2005a, 2006a, Bunge 1967). Dann müsste man allerdings jene sozialwissenschaftlichen Theorien oder sozialwissenschaftlichen Modelle finden (7.5) und deren Verwendung in Geschichtswissenschaften nachweisen. Beides dürfte sich als schwierig erweisen, denn einige theoretische Soziologen behaupten, dass die einzige Theorie, die die theoretische Soziologie kennt, eine „Theorie des individuellen Handelns“ ist (Schmid Manuskript, 39). Von dieser kann man wiederum behaupten, dass unklar ist, worum es sich dabei genau handelt und ob irgendein Geschichtswissenschaftler sie verwendet. Darauf werden wir nun kommen. Aus mehreren Gründen ist es also kaum möglich, bezogen auf diese alten Fragen sich eindeutig zu positionieren. Klar ist nur, dass strikter „Methodendualismus“ in der Breite genauso obsolet ist wie auch klar ist, dass bezogen auf diese Breite nichts Eindeutiges gesagt werden kann. Anhang:

Regelmäßigkeiten oder „Demi-Regs“ in der Forschung

Hier also eine (weitere) Auswahl von Hypothesen über generelle Zusammenhänge. Wie zuvor stammen sie teilweise aus der Mini-„Anatomie“, teilweise aus anderen Quellen, um die Liste etwas zu verlängern, was ein Kritiker kritisieren darf: Soziale oder soziohistorische Regelmäßigkeiten oder „Demi-Regs“. (1) *Die Nuptialität bestimmt (in der Vormoderne) die Natalität* (Topolski 1979 1965, xvi).

nauer eingehen. Es handelt sich aber um die beste Seite des „Positivismus“ aus der hier eingenommenen Perspektive, neben dem Streben nach Klarheit.

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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(2) *Im Feudalismus hängt das Einkommen des Adels von der Feudalrente ab.* *Mit dem Sinken der Feudalrente sinkt der Konsum des Adels* (Topolski, 1979 1965, 53). (3) *Nomadenvölker sind egalitär* (Hall 1992, 92). (4) „Steuerzahlungen flossen in die römische Staatskasse, das aerarium populi Romani“ (Alpers 1995, 98). (5) *Erbschaften von Freigelassenen fielen dem Patron zu* (Alpers 1995, 203 f.; in dieser rechtshistorischen Studie werden häufiger Regeln (oder „Institutionen“; 7.6) wie die (manchmal) aus ihrer Befolgung in einem sozialen Kontext resultierenden Regelmäßigkeiten nebeneinander genannt). (6) „Als allgemeine, bis in die jüngste Zeit hinein bestätigte Regel darf gelten, daß bei steigenden Preisen oder sinkenden Einkommen der Fleischverzehr steigt. (…) Selbstversorgerhaushalte mögen sich der genannten Regel entziehen, doch gibt es auch zwischen ihnen und den Preis- und Einkommensgrößen der Märkte noch mancherlei Beziehungen“ (Abel 1980, 39). (7) „Der Wandel der Interaktionsverhältnisse lässt sich auch an den ständischen Intervallabstufungen innerhalb der Gestaltung des Briefkopfs ablesen. Die Distanz zwischen Titelanrede und Textanfang betrug Mitte des 17. Jahrhunderts zwei Finger bei Anrede des Hochadels, einen Finger bei Anrede an den niederen Adel; bei Gleichrangigen konnte man gleich mit einer neuen Zeile beginnen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war der Abstand bei Anrede eines Ministers auf einen Handbreit plus einen Finger angewachsen, das Maximum – zwei Hand breit – wurde um 1730 erreicht. Einige Jahre später, um die Mitte des 18. Jahrhunderts, genügte wieder eine Hand, denn alles andere galt als Verschwendung. Auch im Bereich des gesellschaftsutopischen Schrifttums lassen sich entsprechende Wandlungsprozesse beobachten. Konnte im ‚wohleingerichteten Staat Ophir’ Ende des 17. Jahrhunderts die Rangordnung der Ehrenstellen gar nicht genau genug beobachtet werden, so sucht beispielsweise in Niels Klims unterirdischer Reise Mitte des 18. Jahrhunderts der Fürst der Potuaner strikt die Gleichheit unter seinen Untertanen zu erhalten, so dass es schließlich ‚im ganzen Fürstentum keine Klassen und Ehrenstellen mehr’ gibt“ (Füssel 2006, 397 f.). (8) „The presence or absence of urban clusters made a profound difference to regional social life, and significantly shaped the possibilities for state formation. Under the conditions of production and transportation prevailing in Europe before the nineteenth century, substantial cities stimulated cash-crop agriculture in tributary areas reaching many miles into the countryside. Commercial agriculture, in its tum, generally promoted the prosperity of merchants, larger peasants, and smaller landlords while reducing the ability of great landholders to dominate the people in their rural surroundings. (A significant exception occurred, however, where the city’s ruling class also held extensive land in the hinterland, as was frequently the case in Italian city-states; there the peasantry felt the full weight of lordly control.)” (Tilly 1990b, 48.) (9) „Within each path marked out in the capital-coercion diagram, earlier steps constrained later ones. If urban ruling classes played important parts in the initial consolidation of a given state (as they did in Holland), long and afterward the state bore their imprint in the

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form of bourgeois institutions. If a state originated in conquest of largely rural populations (as did successive Russian empires) it continued to offer little scope to such cities as grew up in its midst; in such regions, large nobilities grew up as monarchs granted fiscal privileges and substantial local jurisdictions to arms-bearing landlords in return for their intermittent military service“ (Tilly 1990b, 58). (10) „Representative institutions generally first appeared in Europe when local, regional, or national governments bargained with groups of subjects who had enough power to inhibit the governments‘ operation but not enough power to take them over (Tilly 1990b, 64). (11) „Differential incomes are associated with different positions in the relations of production within capitalism” (Higgs et al. 2004, 96). (12) „Eine feste Residenz bildet immer ein viel stärker gegliedertes und geordnetes Zeremonialwesen aus als der typische mittelalterliche Königshof” (Schubert 1995, 90). (13) „Secondly, it has recently been demonstrated by Brunt, and in even more detail by Hopkins and Burton, that there was more fluidity in the occupation of office over generations than previous theories presupposed. These analyses of course confirm what is undeniable, that the higher the offices reached by a man’s immediate ancestors the better his chances of high office himself“ (Millar, 1984, 10 f.). (14) Regionen mit höherer Diversifizierung („fertile and varied regions“) im Agrarsektor sind in der Vormoderne weniger anfällig für schwere Hungersnöte als „cereal-producing regions“ (frei nach Goubert 1956, 70). (15) *Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.* Oder anders: *Von gesellschaftlichen Krisen (Missernten etc.) profitiert (in der Vormoderne) die bourgeoisie (und nicht die Bauern).* („Mechanismus“: Bauer muss in Krise überleben, daher leihen, und am Ende Besitz an den Gläubiger überschreiben, um zu überleben. Frei nach Goubert 1956, 73 f.) (16) „By the 1920s a migrant stream had developed that served southern Illinois farmers. The largely white families in this stream wintered in the Missouri Delta, working as timber cutters. In the spring they planted cotton; when the crop was ‚laid by,’ they came to southern Illinois to harvest fruit and vegetable crops, returning to Missouri in the fall to pick cotton. These families, as long as they remained migratory, were so weakly tied to the region or to one another that they presented little potential for organizing jointly with locally resident laborers. This wide diversity meant that those not owning land were unlikely to see themselves as a class with a common set of interests that were opposed to those of landowners“ (Adams 1997, 555 f.). (17): „In certain situations, or to a limited degree, a lord might inherit from his serf. Two different systems were in operation. One, particularly associated with the extreme north, is almost completely analogous to the custom commonly observed in England and Germany: whenever a serf died, the lord was entitled to a small part of his estate, the best chattel, the best head of cattle, or perhaps a very small sum of money. The other system, generally known as the right of mainmorte, was peculiar to France and the more frequently followed there. Where a serf left children – or, according to a later modification of the

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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rule, where he left children living with him at the time of his death – the lord got nothing. If the heirs were only collateral, the lord took everything. Under both systems, apart from some cases recognised as exceptions, the heritability of tenures is clearly as much an established part of the customs affecting serfs as it is for the villeins: and the general tenor of the charters is to treat serfs as heredes, men with a patrimony“ (Bloch 1970, 88). (18) „Besonders deutlich traten diese sozial-ökonomischen Voraussetzungen ländlichgewerblicher Existenz an der kritischen Scheidelinie zwischen Söldner-Haushalten mit kleinem Landbesitz und den gewerbetreibenden Häuslern hervor, die meistens nur über Gartenland verfügten. Das agrarische ‚Zubrot” aus dem kleinen Landbesitz der Gewerbesöldner bot für eine auskömmliche gewerbliche Existenz stets bessere Voraussetzungen als die Landarmut oder gar Landlosigkeit der Häusler. Dies galt für eine konjunkturell günstige Situation wie die des Jahres 1743 ebenso wie für das Jahr 1779, in dem – nach dem Ausweis der Zollregister – die Nachfrage nach den Produkten des Laichinger Leinengewerbes vorübergehend drastisch zurückging. 1743 erfreuten sich jeweils 84% sowohl der kleineren wie der mittleren Besitzer unter den Webern eines auskömmlichen oder besseren gewerblichen Verdienstes und Einkommens, von den Häusler-Webern waren es dagegen nur 44%. In der kritischen Situation des Jahres 1779 vermochten 85% der Weber mit mittleren d. h. kleinbäuerlichem Besitz ein mindestens auskömmliches gewerbliches Verdienst zu erzielen, von den Gewerbesöldnern mit kleinem Besitz waren es immerhin noch 58%. Von den Häusler-Webern dagegen rutschten in diesem Jahr Dreiviertel (75%) unter die Schwelle eines gewerblichen Verdienstes, mit dem sie zurechtkommen konnten” (Medick 1996, 213 f.). (19) „In a feudal economy isolated from the rest of the world the general law of prices is determined by the fluctuation of the prices of the agricultural products, and the latter – in the relatively short period when the demand can be treated as constant – are determined by the crops” (W. Kula, zitiert in Topolski 1987, 86). Technologische Regularitäten: (20) „Neuere Versuche haben gezeigt, daß ein ‚Trebuchet‘ mit 15 Meter langem Schleuderhebel und einem Gegengewicht von 9000 Kilogramm einen Stein von 100 Kilogramm Gewicht nahezu 300 Meter weit schleudern kann. Demgegenüber ist die Höchstleistung eines Katapultes altrömischer Bauart der Wurf eines Steines von etwa 26 Kilogramm Gewicht auf flacherer Flugbahn über etwa 400 Meter. Da beim damaligen Stand der Belagerungstechnik das Gewicht des Geschosses wichtiger war als die Wurfweite, stellten die ‚Trebuchets‘ einen wesentlichen Fortschritt dar“ (L. White 1968, 86). (21) *Die Leistung einer fistula quinaria (Verbindungsröhre mit Öffnungsweite von ca. 23,1 mm) betrug 40,6 cbm/24 Stunden* (Hainzmann 1975, 24). Chemische und Biotische Regularitäten (22) „Viruses and bacteria such as Mycobacterium tuberculosis and brucella do not multiply in milk, however, and their infective power therefore depends upon the original load” (Atkins 1992, 216).

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(23) „Künstliche Säuglingsnahrung führte bei Unkenntnis der Bedeutung der Keimfreiheit zu hoher Säuglingssterblichkeit, ohne Geburtenbeschränkung – infolge verkürzter Laktationsamenorrhoe – zugleich zu hoher ehelicher Fruchtbarkeit, mithin zu einem ‚System der Verschwendung menschlichen Lebens’, während langes Stillen sowohl Fertilität wie Säuglingsmortalität auf dem mäßigen Niveau eines ‚Systems der Bewahrung menschlichen Lebens’ hielt. Die grundlegenden Zusammenhänge solcher kontrastierenden Verhaltensweisen freilich bleiben noch zu untersuchen; sie werden tief in die ökonomischen und sozialen Strukturen wie in kulturelle Momente langer Dauer reichen. Schon jetzt ist deutlich, daß die Unterscheidung von Systemen hohen und niedrigen Drucks nicht nur für agrarische, sondern ebenso für proto-industrielle Bevölkerungen von weitgehender Bedeutung ist” (Medick et al. 1992, 86). (24): „Dieses Produkt d.i. Zyklon B, dp, ein Schädlingsbekämpfungsmittel, war in Metalldosen verschiedener Größen erhältlich (200g, 500 g, 1kg und 1,5 kg). In ihnen befand sich eine inerte, poröse Trägersubstanz, die flüssigen Cyanwasserstoff (Blausäure) absorbiert hatte und dem ein Produkt beigemengt worden war, das einen Tränen- und Niesreiz auslöste. Damit sollte jeder ungeschützte Benutzer vor dem an sich geruchlosen Cyanwasserstoff gewarnt werden; öffnet man die Dose, verdampft Cyanwasserstoff bei einer Temperatur von 27°C.” (Pressac 1994, 19). (25) „Studies have been undertaken of the relationship between climate and some of the major diseases that afflict sheep such as liverfluke, swayback and pregnancy toxaemia. Liverfluke for example is particularly closely related to the amount of rainfall between May and October each year. Temperatures during the first three months of the year are closely related to mortality in sheep flocks. Prolonged snow and frost in particular can cause mortality to soar and lambing success to fall away. If harsh winters persist and reduce the general health of the flock then fleece weights will fall too“ (Stephenson 1988, 382). (26) „Baltic amber is distinguished by its richness in succinic acid and has a characteristic spectral pattern (…)“ (Huggett 1988, 64). (27) „At first the innovators clung quite naturally to the old biennial or triennial system. But it was soon realised that many forage crops gave a better yield when they were left undisturbed to establish themselves on the same ground for several years. Then, when corn was sown again, the growth was all the thicker and the ears all the heavier. This discovery led to the creation of short-term ‚artificial meadows‘ and the construction of longer and more flexible rotation cycles, to the total disruption of the former system“ (Bloch 1970, 216). (28) „The reason for the fall in fleece weights probably has more to do with how the sheep themselves were managed. As Stephenson rightly diagnosed, one of the main factors affecting the health of a flock and the yield of wool is the amount and quality of fodder provided for sheep, particularly during the winter season when natural grazing was restricted. The chronic underfeeding of sheep both reduces the growth and thickness of wool and affects their ability to withstand outbreaks of disease. Indeed, in his sheepfarming manual of 1837, William Youatt listed ‚bad keep‘ and ‚starvation‘ at the head of his list of possible causes of sheep scab. But whereas Stephenson attributed a reduction in levels of nutrition after the Black Death to climatic change, the evidence from manorial accounts suggests instead that farm managers deliberately cut fodder provision in response to falling wool prices“ (Stone, 2003, 7).

6.1 Subsumtionsmodelle von Erklärung und Verstehen („Positivismus“)

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(29) „However, the factor which seems to have had the greatest impact on trends in fertility rates after the Black Death was the health and strength of the ewe, and the chief determinant of this was whether or not they were milked. Milking had a more debilitating effect on ewes than the suckling of lambs, since milking often went on beyond the date at which lambs would have been weaned. As Ryder wrote, ‚whereas a normal lactation will cease when the lambs are weaned at about five months, milking will extend the lactation period to seven months after birth‘. Lactation has the effect of delaying the return of the normal cyclical pattern of oestrous behaviour in the ewe through the release of prolactin (Stone 2003, 14). (30) „Das wichtigste Bindeglied zwischen Ernährung und Bevölkerungswachstum ist die Fruchtbarkeit. In Zeiten von Hungersnöten kam es bei europäischen Frauen oft zu Amenorrhöe, da bei unterernährten Frauen die Ovulation weniger häufig stattfindet oder ausbleibt. Wenn das Grundgewicht einer Person bereits niedrig ist, kann ein zusätzlicher Gewichtsverlust von nur etwa 15 Prozent zu zeitweiliger Unfruchtbarkeit führen. Bei zahlreichen Frauen im 18. Jahrhundert, die „am Rande des Existenzminimums“ lebten und deren Ernährungsstatus durch hohes Krankheitsrisiko besonders gefährdet war, fehlte zweifellos die zur Reproduktion notwendige Fettschicht. Das Alter, in dem die Menarchie eintritt, steht ebenfalls mit dem Ernährungszustand in Zusammenhang und hat sich im Laufe der vergangenen Jahrhunderte um drei Jahre verringert“ (Komlos, 1994, 30 f.). (31) „Short stature among coal miners was probably also connected with discrete environmental influences associated with underground work. Sunlight deprivation would have produced a suppressive effect upon the skeletal development of children working in coal mines. The majority of these were employed as underground hauliers and were required to work an average of 10 to 12 hours per day. This work was, of necessity, performed during daylight hours. In the absence of artificial pit-head lighting at most mines, coal had to be transported to the surface and landed during daylight. Consequently, coal-mining children were deprived of sunlight for long periods. (…) Es folgen einige Beobachtungen von Zeitgenossen aus Quellentexten, dp. Such observations are consistent with modern studies of factors affecting skeletal development. Long periods spent underground must have deprived children of adequate amounts of ultra-violet radiation necessary for the conversion of the pre-hormone 7-dehydrocholesterol into calciferol, the essential hormone which aids calcification of bone. Moreover, calciferol deficiency results in the growth of soft bone and in rickets. Consequently, children who worked in mines from a very early age were bow-legged. An 1842 Sub-Commissioner thought that 'children who are employed at the pit mouth, or in farmers' service, are straighter on the legs and better looking than those working underground'. He added, 'I have noticed the children who do not work or have not from an early age worked in pits, are well and better formed than those, if even of the same family, who have worked at an earlier age than 12 years.' A surgeon from Derbyshire observed: 'those who have worked very young have their growth stunted, and are very often bow-legged' and the Derbyshire Sub-Commissioner observed that 'of the five children I examined . . . three were not only bow-legged, but their arms were bowed in the same way'. In 1842, Thomas Rayner, a surgeon of 27 years' experience, noted: 'Collier children are liable to rickets ... The privation from light also tends to prevent the healthy action of the skin. Sub-Commissioner Symons ascribed the 'stunting' of colliers chiefly 'to their deprivation of day light, and also to overworking, where it occurs'. Indeed, the regular stresses resulting from work probably contributed to retarded bone development among mining children: most of these were employed in

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haulage, where pushing was the predominant motive force. Moreover, a modern study of human growth has suggested that 'variation in growth . . . especially in height, is essentially an expression of the variation in rates of bone growth'. It follows, therefore, that factors affecting skeletal development are primarily those that influence height” (Kirby 1995, 693).215

6.2

Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

Die auf Hempels These (1942, 1965, 1972, 1977), dass in geschichtswissenschaftlichen Erklärungen häufig „Gesetze“ nicht genannt werden, weil sie als zu selbstverständlich gelten, bezogene Gegenthese, dass diese in der Mini-„Anatomie“ nicht sonderlich signifikant zu finden sind – wobei „signifikant“ natürlich dehnbar ist –, gilt auch für Handlungsgesetzeshypothesen, die aus der Sicht von zumindest manchen „individualistischen“ (7.1) Soziologen die besten oder, besser, einzigen Kandidaten für „Gesetze“ in den Sozialwissenschaften sind, weil sie nur hier signifikant stabile Gesetzmäßigkeiten vermuten (vgl. besonders Essers „Soziologie“, im Literaturverzeichnis). Interessanterweise scheint es in der versprengten Geschichtsphilosophie in der Tendenz eher umgekehrt zu sein, also Makro-„Gesetze“ werden vermutet und die Existenz von Handlungsgesetzmäßigkeiten und die Bekanntheit von Handlungsgesetzesaussagen abgestritten (siehe Plenge 2014b und dortige Literatur). Vorsichtiger und mit dem Geschichtswissenschaftler W. Schmitthenner (1952) formuliert, muss gesagt werden, dass sich diese „impliziten“ Handlungsgesetze auf der Basis der Mini„Anatomie“, also unserer Datenbasis, bisher nicht nachweisen lassen. Uns kann auch die Geschichtstheorie bezogen auf die in „der Geschichte“ verbreiteten oder dort „impliziten“ handlungstheoretischen Annahmen wohl nicht weiterhelfen, denn innerhalb der Geschichtstheorie scheint es kaum oder letztlich keinerlei handlungs(meta)theoretische Tradition zu geben. Zumindest ist sie nicht leicht zu finden (siehe die Bibliographie). Die einzigen mir bekannten oder in Erinnerung gebliebenen expliziten Äußerungen stammen von A. Frings (2007a/b, 2008), einige wenige andere finden sich in der Historischen Soziologie (und in Roberts 1996). Vor dem Hintergrund des Umstands, dass Geschichtsphilosophen „historische Erklärungen“ per Definition mit singulären Handlungserklärungen identifiziert haben, ist auch das eine seltsame Feststellung. Würden Geschichtswissenschaftler primär Handlungen erklären, dann würde man eine dichte theoretische und metatheoretische Literatur dazu nach mehr als 150 oder 200 Jahren Geschichtswissenschaften erwarten. Wir können hier auch die Seltsamkeit der Beobachtung nicht weiter verfolgen (im Anschluss an 4.2), dass in der gesichteten geschichtswissenschaftlichen Praxis Beispiele für Behauptungen der Art „Am … (Datum) um (Uhrzeit) in … (Ort) hat x (x = Mensch mit einem Namen) die Handlung h ausgeführt, weil y (y = etwas Mentales)“ kaum zu finden sind, woraufhin auch noch die Quellen- und Datengrundlage für diese Hypothesen mitsamt einer Ar215

So viel zu einigen Beispielen. N. Rescher und seine Mitstreiter nannten Ähnliches am äußersten Rand der Geschichtsphilosophie, soweit die Beispiele aus einem sozio-historischen Kontext stammen, „transitorische Regularitäten“, „quasi-laws“ oder gar „historische Gesetze“. Ich vermute, auch hier war nicht mehr gemeint als irgendeine Regelmäßigkeit, die irgendwie weiter erklärbar oder wenigstens plausibel und in diesem (pragmatischen) Sinn nicht akzidentell ist und kontextuell für Erklärungen herangezogen werden kann; siehe Rescher/Helmer 1970, Rescher/Joynt 1970 neben Dray 1993. Für eine weitere kleine Liste siehe Kapitel 8.2. Einen Eindruck von den „sozialen Regelmäßigkeiten“ und/oder generellen, aber lokalen („historischen“) „Zusammenhängen“, die Sozialgeschichtswissenschaftler kennen, bietet auch Kriedte 1991. Das Werk ist voll von Demi Regs, kommt aber wohl doch ohne Gesetze aus.

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

281

gumentation, welche die Daten mit jenen Hypothesen verbinden, aufgrund der erkennbaren Minimalstandards geschichtswissenschaftlichen Forschens eigentlich folgen müsste. Es wird also nicht dasjenige gemacht, was viele Geschichtsphilosophen letztlich per Definition mit „historischer Erklärung“ verbinden, (z. B. von Dray 1957 über R. Martin 1977 bis Gerber 2012216). Wenn überhaupt ansatzweise oder explizit der Anspruch erhoben wird, Handlungen zu erklären, handelt es sich um Typen von Handlungen (z. B. Topolski 1994a, teilweise Frings 2007a, Shepherd 1988) im Rahmen einer Art Modellbildung, was im Zweifel im Rahmen der „idiographischen“ Geschichtsphilosophie als verboten beziehungsweise unhistorisch gilt (z. B. zuletzt Tucker 2004a/b). Dass ein zumeist vager alltagspsychologischer Hintergrund auch hinter den Zeilen dort regelmäßig vorhanden oder zu vermuten ist, wo Beschreibungen und Erklärungen oder ein „Verstehen (understanding)“ (Kapitel 4.2, Kapitel 5) von Handlungen keine oder keine zentrale Rolle spielen, gehört auch zur Annäherung an die Wahrheit (z. B. Stone 2003, Salle 2006, Füssel 2006, Millar 1984, 1986, Newman 1979, Schmitthenner 1952, passim), ist aber an dieser Stelle nicht sonderlich relevant, weil es nicht das ist, worum es in Handlungserklärungsphilosophie und wissenschaftlicher Handlungstheorie geht. Denn dort geht es um explizite Hypothesen über Gegenstände, die als „Handlung (von Menschen)“ bezeichnet werden, nicht um einen „interpretativen“, „hermeneutischen“ oder „humanistischen“ Hintergrund von Annahmen, die in den jeweiligen Texten nicht expliziert werden. Ferner ist es auch eine Form der Trivialisierung zu behaupten, dass ein vage erahnbarer alltagspsychologischer Hintergrund zwischen den Zeilen bereits mit einer Erklärung oder einem Verstehen verbunden ist. Zum Beispiel auch, weil in solchen Fällen unklar bleibt, was auf der Basis wovon erklärt und verstanden wird, wie also die handlungstheoretische Annahme überhaupt lautet. Dass Menschen aus „Gründen“, „Motiven“ oder „Intentionen“ handeln oder sich „entscheiden“, bezweifelt wohl kaum jemand (siehe jedoch Historiker, die McCullagh 2004, 36, diskutiert). Dieser Eindruck könnte auch etwas mit der Zufälligkeit des Samples zu tun haben. Da ich zumindest bei einer kurzen Suche nach falsifizierenden Zeitschriftenbeiträgen nicht fündig geworden bin, halte ich es für unwahrscheinlich, dass außerhalb der Mini-„Anatomie“ im Rahmen der Geschichtswissenschaft signifikant singuläre Handlungen erklärt und ferner auf der Basis expliziter und kontrollierter Hypothesenbildung erklärt werden. 217 Wir können hier als Plausibilisierung nur wiederholen, dass „rationale“ (z. B. Dray 1957, Hempel 1962, Frings 2007b), „intentionale“ (Gerber 2012) Erklärungen, „hermeneutisches“ „Verstehen“ (siehe z. B. Lorenz 1997) oder „teleologische“ Erklärungen (von Wright 2008 1971) aufgrund von epistemischen Schwierigkeiten allzu häufig nicht zu haben sind. Wenn man das festgehalten hat, dann kann man auch Handlungsphilosophie oder Handlungswissenschaft ohne Scheuklappen und in entsprechenden Grenzen betreiben, d. h. bezogen auf diejenigen Fälle, in denen wirklich singuläre (oder typische) Handlungen erklärt werden. Der Soziologe Hartmut Esser (1999, 247) behauptete vor diesem Hintergrund völlig richtig: „Welche Handlungstheorien die Historiker verwenden, kann man nur aus ihren Werken 216

217

So ist in D. Gerbers „Analytischer Metaphysik der Geschichte“, die den Erklären-Verstehen-Gegensatz und ontologischen Anti-Naturalismus für gegenstandslos hält, folgende These zu lesen: „Historische Erklärungen beziehen sich auf die Intentionen der Handelnden sowie auf deren kausale Vorgeschichte und deren Konsequenzen und erklären das historische Ereignis – die Handlungen oder die Handlungen –, indem sie möglichst viele relevante und in relevanter Weise geordnete Informationen zu diesem kausalen Zusammenhang liefern“ (Gerber 2012, 21; Hervorhebung im Original). Da Gerber keine Erklärung aus den Geschichtswissenschaften nennt, ist offenkundig, dass „historische Erklärung“ hier per Definition auf „intentionale Handlungserklärung“ festgelegt ist. Mit der Disziplin (2.1) muss dies noch gar nichts zu tun haben. Ähnlich verfährt der Geschichtstheoretiker A. Frings (2008, 149 f.; einschränkend ebd. 163). Auch einer der wenigen hoffnungsvollen Titel führte zu keinem eindeutigen Befund; Halperin 2010.

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erschließen“, vorausgesetzt, dort wird versucht, Handlungen zu erklären und die Hypothesen und deren Rechtfertigung sind minimal nachvollziehbar. Die Anatomie gibt nun überprüf- wie widerlegbare Anhaltspunkte dafür, dass dies nicht so häufig ist, wie manche vermuten. Ferner liefert die Mini-„Anatomie“ nicht genug Material, um über jene Handlungstheorien im Rahmen der Geschichtswissenschaft Signifikantes zu sagen. Die Vielfalt dieser Handlungstheorien ist zudem nicht dogmatisch auszuschließen, auch weil in den Sozialwissenschaften (Etzrodt 2003, Miebach 2007), den Psychologien (Heckhausen/Heckhausen 2010) und den Philosophien (klassisch Schmid 1979, Beckermann 1977) unterschiedliche Auffassungen hierzu kursieren, wie jeder kursorische Blick zeigt, die sich auch wechselseitig ausschließen sollen und ferner an dieser Stelle natürlich unüberschaubar sind: „Die Soziologie leistet sich, wie wir wissen, nach wie vor den Luxus sehr verschiedener und sich gegenseitig auch als ausschließlich verstehender Handlungstheorien“ (Esser 2001, 307). Auch über deren tatsächliche Verwendung wie auch die Methodologie dieser Verwendung scheint es unterschiedliche Auffassungen zu geben. Die Lage scheint alles in allem sehr unübersichtlich zu sein, wie ich Experten mit gewisser Überraschung entnehme: Die Problemgeschichte der Frage, welcher Handlungstheorie die besten Erklärungschancen einzuräumen seien, muss erst noch geschrieben werden (Schmid 2011a, 218). Darüber hinaus fehlt bislang eine kanonische oder wenigstens systematische Darstellung der vorliegenden Theorien und Modelle des Handelns (Schmid/Maurer 2010, 107). Über die handlungstheoretischen Hypothesen ist man sich schon innerhalb der „erklärenden“ oder „analytischen“ Soziologien nicht einig, in denen der metatheoretische Anspruch erhoben wird, auf der Basis von handlungstheoretischen Annahmen in den Sozialwissenschaften „individualistisch“ oder „mikrofundierend“ zu erklären. Das gilt auch für die Vorstellung von Rationalität in Theorien rationalen Handelns: Jeder Versuch, die Kernannahmen einer Theorie rationalen Handelns zu rekonstruieren, sieht sich alsbald der Schwierigkeit gegenüber, dass es keine vereinheitlichte Auffassung darüber gibt, wie sie lautet (Schmid 2011a, 218; siehe schon Schmid 1979). Frings (2007b) spricht entsprechend von einer Familie von „Theorien rationalen Handelns“. Auch über den epistemischen Status entsprechender Hypothesen bezogen auf ihren empirischen Gehalt, ihre Rechtfertigung oder gar Wahrheit gibt es wohl keine Einigkeit. Instrumentalistische Tendenzen sind häufiger zu vernehmen und werden auch häufiger kritisiert. Meines Wissens spielt auch geschichtswissenschaftliche Handlungserklärungspraxis in Handlungsgeschichtsphilosophie keine große Rolle. An dieser Stelle unserer philosophischen Streifzüge ist für Handlungsphilosophie oder –theorie insofern eigentlich der falsche Ort, als die ontologischen Fragen in diesem Kontext aus meiner Sicht weitgehend sekundär sind, wir aber hier vornehmlich ontologische Probleme skizzieren wollen. Auch für die Aufstellung von Normen bezogen auf die Erklärung von Handlungen ist hier der falsche Ort und insofern ist meine Auffassung diesbezüglich an dieser Stelle ebenso irrelevant, zumal die Experten keine eindeutige Lage überliefern und die Mini-„Anatomie“ auch keine bereitstellt. Wir kommen später kurz darauf zurück (7.5), wenn in einem konkreteren metatheoretischen Problemkontext absehbar ist, dass ohne irgendeine Akteurtheorie ein Problem kaum lösbar erscheint. Dort darf man dann vielleicht behaupten, wenn ihr Geschichtswissenschaftler ein

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solches Problem lösen wollt, dann werdet ihr irgendeine explizite Handlungstheorie vermutlich benötigen. Auch weil die Experten keine Einigkeit erzielen können, muss man an dieser Stelle festhalten, dass Handlungstheorie aus meiner Sicht letztlich nichts ist, wozu Geschichtsphilosophen direkt etwas beitragen können, obwohl seit Dray (1957) ein anderer Eindruck erweckt wird. Das Aufstellen von Handlungstheorien ist in der hier eingenommenen Sicht die Aufgabe von Wissenschaftlern. Geschichtsphilosophen könnten die Praxis der Erklärung von Handlungen in Geschichtswissenschaften kritisch analysieren, was aber nicht der Fall zu sein scheint, und sie können, falls eine Vielzahl von Handlungstheorien verfügbar ist und eventuell verwendet wird, diese Theorien und ihre Verwendung vergleichend untersuchen, was ebenfalls nicht der Fall zu sein scheint. Bereits Hempel (1961/62) hat im geschichtsphilosophischen Kontext aus meiner Sicht richtigerweise darauf verwiesen, dass die weitere Klärung von Handlungstheorien bzw. Handlungsgesetzmäßigkeiten eine Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung ist. Auch im Fall von Philosophie drängt sich die erkenntniskritische Frage auf, woher Philosophen etwas im Gegenstandsbereich von Wissenschaften zu wissen beanspruchen können, sei dies der Gang der Geschichte, das Funktionieren von Gesellschaften oder das Funktionieren von Gehirn und Geist. Auch in jüngerer Literatur aus dem geschichtsphilosophischen und zugleich handlungsphilosophischen Kontext muss man den Eindruck haben, dass die Theorie der Geschichtswissenschaften keine Metatheorie der Wissenschaft ist, sondern die Wissenschaft teilweise ersetzen möchte, indem Thesen über Relata und Relationen aufgestellt werden218, letztlich a priori.

218

Dass derartige Probleme noch heute bestehen, dürfte daran deutlich werden, dass zum Beispiel in D. Gerbers (2012) Philosophie „historischer Erklärung“ die Handlungstheorie, die in jenen Erklärungen vorkommen soll, als Handlungsphilosophie selbst erfunden wird. D. h. das „Modell für historische Erklärungen“, von dem verschiedentlich die Rede ist (z. B. Gerber 2012, 57, 62), ist gar keine Metatheorie der Erklärung, sondern eine substanzielle Theorie, in der Thesen darüber aufgestellt werden, welche Relata in einem Gegenstandsbereich in welcher Relation stehen und daher in „historischen Erklärungen“ angeführt werden sollen. Es wird also keineswegs mehr, wie Dray und Hempel z. B. wenigstens noch behaupteten, die Erklärungspraxis von Geschichtswissenschaftlern analysiert. Gerber formuliert z. B. als Ansprüche an ein „intentionales Erklärungsmodell“ bzw. ein „Modell für historische Erklärungen“ die Beantwortung der folgenden Fragen: „Wer oder was bringt eigentlich eine Handlung hervor? Was bringt eine Person dazu, zu handeln, welche konkreten mentalen Voraussetzungen sind dabei gegeben? Ein Modell einer intentionalen historischen Erklärung kann diese Fragen nicht offenlassen, weil sie die Struktur der Erklärung wesentlich betreffen“ (Gerber 2012. 63). Handelt es sich um ein metatheoretisches Modell einer intentionalen Erklärung von Handlungen oder um ein substanziell-theoretisches Modell von Handlungen oder Prozessen in (Gehirnen von) Menschen? Der Unterschied zwischen Metatheorie, also einer Wissenschaftstheorie auf der einen Seite, die z. B. wissenschaftliche Theorien oder Erklärungen zum Gegenstand hat und diese in irgendeiner Hinsicht analysiert und auch womöglich kritisiert, und jenen wissenschaftlichen Theorien und Erklärungen auf der anderen Seite, droht hier aufgehoben zu werden. Das wird auch an verschiedenen Stellen recht deutlich: „Intentionen sind nicht aus sich selbst motiviert und nicht aus sich selbst begründet. Sie entstehen, weil eine Person diese oder jene Überzeugungen oder diese oder jene Wünsche hat. Und umgekehrt können Intentionen wiederum bestimmte Überzeugungen oder Wünsche verursachen, die zur Herausbildung einer weiteren Intention führen können. Die Relationen sowohl zwischen unterschiedlichen Intentionen als auch zwischen Intentionen und anderen mentalen Zuständen sind kausale Relationen, sodass diese unterschiedlichen mentalen Zustände ein vielfältig verknüpftes kausales Netz bilden, auf das sich eine Handlungserklärung zunächst, aber nicht alleine, beziehen wird“ (Gerber 2012, 105 f.). „Die kausale Wirksamkeit einer Intention ist meiner Konzeption von Intentionen und Handlungen zufolge nicht dem Gehalt, sondern dem Modus des mentalen Zustandes, der eine Intention ist, zuzuschreiben“ (Gerber 2012, 267). Natürlich tappt eine jede Onto-Methodologie in gewissen Grenzen in diese Falle, was aber auch immer problematisch ist, soweit man keine wissenschaftlichen Theorien oder Modelle zur Verfügung hat, die jene stützen (Kapitel 7).

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Ich glaube aber, dass die Literaturlage, die aus dem Kontext der geschichtsphilosophischen Literatur von der klassischen Dray-Hempel-Kontroverse (Dray 1957, Dray 1963, Hempel 1961/62, 1963, 1965, Adelman 1974) in neuere „mikrofundierende“ oder „individualistische“ (7.1) Soziologie führt, soweit man versucht, über den Tellerrand zu schauen, bis heute eine ähnliche Problematik teilt und identische Probleme noch jüngst in der Geschichtsphilosophie zu finden waren (McCullagh 1998). Die Literaturlage zeigt zwar nicht, dass in (tatsächlichen) Handlungserklärungen, z. B. auch in Geschichtswissenschaften, „implizit“ Handlungsgesetzeshypothesen zu finden sind, weil dies meines Wissens niemand auf der Basis irgendeines signifikanten Beispielkorpus‘ untersucht hat. Sie zeigt aber vielleicht, dass es kaum einen anderen Kandidaten für die Erklärungsmacher gibt als solche Gesetzeshypothesen (oder, wenn man will, Generalisierungen), wenn Handlungen mentalistisch und sozusagen „intern“ und nicht „extern“ erklärt werden sollen. Die Alternativen sind (mir) nach wie vor unklar, wenn nicht inexistent, falls unter Erklärungen von Handlungen mehr verstanden werden soll als das Erzählen von „Geschichten“ (2.1) mit unklarem oder nicht vorhandenem Hypothesenhintergrund („Verstehen“). Auf die Problematik, die sich auch im Rahmen der Geschichtstheorie stellt, in der zwar seit einhundertfünfzig Jahren immer mal zu lesen ist, in „der Geschichte“ gehe es um „der Mensch“, aber kaum mehr über diesen Menschen zu erfahren ist (jenseits von Orientierungshypothesen), haben Andrea Maurer und M. Schmid hingewiesen, wenn sie die Herkunft von Handlungsvorstellungen mancher Sozialwissenschaften aus mancher Philosophie kritisch beäugen, wobei das Problem sei, dass philosophische „Handlungsannahmen“ auch häufig „nicht zwangsläufig das Problem der Erklärung sozialer Sachverhalte vor Augen haben“, wobei sie natürlich einen nicht-pragmatischen und nicht rein erotetischen Erklärungsbegriff vor Augen haben: So ist sicher zutreffend, dass „der Mensch, nach Gehlen und Schütz ‚das handelnde Wesen‘ – also das durch bewußtes, zielorientiertes oder planendes Handeln vor anderen Lebewesen ausgezeichnete Wesen – , … das planende, soziale Wesen“ ist; es bleibt aber durchaus unsicher, ob man mithilfe einer solchen These erklären kann, was Akteure in unterschiedlichen Problemlagen tun werden (Schmid/Maurer 2010, 108). Zum Beispiel hilft eine philosophische These, die besagt, Intentionen (oder etwas ähnliches) verursachten Handlungen oder verursachten sie nicht, in Forschungen wie J. Topolskis (3.1.5) eventuell auch kaum sonderlich weiter (siehe auch kritisch Frings 2013). Unklar und kein geteiltes Gut ist aber nach wie vor, wie jene erklärenden generellen Hypothesen oder eben jene exakteren Gesetzeshypothesen (ggf. „rationaler“) Handlungserklärung genauer aussehen sollten, wie also das „Handlungsgesetz“, die „Selektionsregel“ oder das „Prinzip“ genauer lautet, wobei schon umstritten zu sein scheint, ob es sich dabei um Handlungsgesetze im Allgemeinen (ohne Entscheidung zwischen evaluierten Alternativen) oder Entscheidungsgesetze im Speziellen handelt oder handeln soll (mit ausnahmslos eingebauter Evaluation von Alternativen). Eine exaktere Neubetrachtung von klassischeren Kontroversen im Rahmen der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften (und darüber hinaus ggf. in der Handlungsphilosophie) wäre auch insofern nicht gänzlich nutzlos, als die jüngere „individualistische“ (7.2) sozial(meta)theoretische Literatur frühere Probleme oder Problematiken teilweise zu reproduzieren scheint, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, ob (i) solche Handlungserklärungen überhaupt als „nomologische“ Erklärungen aufzufassen sind, (ii) ob dementsprechend eine (möglichst exakte und zuvorderst gehaltvolle) Gesetzeshypothese formuliert werden muss, (iii) ob in derartigen Handlungstheorien unverzichtbar von Rationalität die Rede ist, (iv) ob diese

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

285

Rationalität als subjektiv oder objektiv aufzufassen ist (siehe noch McCullagh 1998 oder das homo oeconomicus-Problem in der Sozial(meta)theorie, z. B. Frings 2007b, 2008), und ob entsprechende Erklärungen vielleicht noch in irgendeinem Sinn als „kausal“ aufgefasst werden dürfen. Das in der Philosophie kaum vorhandene Hauptproblem der Sozial(meta)theorie mit „individualistischem“ Einschlag ist, (v) wie man Soziales auf der Basis von Modellen über Individuen erklären kann, nämlich deren Handeln und Interagieren, und wie Annahmen über dasjenige, was zumeist „Struktur“ genannt wird, in jenen Erklärungen berücksichtigt werden kann.219 Ähnlichkeiten in der „Struktur“ neuerer sozial(meta)theoretischer Literatur mit der „Struktur“ früherer geschichtsphilosophischer Traditionen fallen schnell auf, wenn man feststellt, dass die Analytische Soziologie zwar Covering-Law-Modelle der Erklärung (von Sozialem) ablehnt und eine DBO-Theorie (Desire, Belief, Opportunity) der Handlungserklärung favorisiert, von der aber nach meinem Eindruck nicht gänzlich klar ist, wie die Theorie (oder eben die Gesetzeshypothese) genau lautet. Dieselbe Problematik gab es bekanntlich zwischen Hempel und Dray. Der Soziologe R. Boudon, der von der methodologischen Einheit der Wissenschaften ausgeht, kritisiert verschiedentlich Rational-Choice-Theorie, von der es wiederum vielerlei Varianten geben soll, als zu partiell und favorisiert ein allgemeineres Rationalmodell („Modèle rationnel général“). Der Analytische Soziologe P. Hedström hält Rational ChoiceTheorien teilweise für falsch, teilweise für einen Spezialfall der DBO-Theorie, wohingegen M. Schmid es umgekehrt sieht, wobei H. Esser der Auffassung sein dürfte, dass DBOTheorien zu vage und daher vielleicht gar nicht als „Theorie“ zu qualifizieren sind. Dies sei hier vorgreifend nur angedeutet, um gleichzeitig anzudeuten, was wir hier nicht machen können, was aber gleichwohl im Rahmen der Metageschichtswissenschaft sich als nützlich erweisen könnte, nämlich ein Vergleich der verfügbaren Handlungstheorien und zugleich ein Vergleich ihrer Verwendung in der Praxis. Auf der philosophischen Seite führt diese Handlungserklärungsproblematik normalerweise zu metaphysischen Fragen im Umfeld von Kausalität, die wir später kurz entschlossen völlig umgehen. Da ich im Rahmen der gesammelten Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ keine Fülle an (expliziten) Handlungserklärungen gefunden habe (siehe auch 8.1) und ich ferner auch über kein Inventar von Handlungstheorien verfüge, kann ich hier natürlich keinen Beitrag zu einem solchen Vergleich leisten. Wir können nur kurz die Lage in der Geschichtsphilosophie und etwas darüber hinaus rekapitulieren, was nützlich sein kann, da sich diese „Geschichte“ wohl immer mal wieder wiederholt. William Dray hatte im Rahmen seiner These, „historische Erklärungen“ seien anders als wissenschaftliche oder nomologische Erklärungen, ein gehaltloses „principle of action“ formuliert, das auch mit einer andersartigen Form von Verstehen in Zusammenhang stehen sollte. Auch hier gab es Idealvorstellung bezüglich Verstehen, bloß andere. Es lautete „When in a situation of type C1 … Cn the thing to do is x“ (Dray 1957, 132). Unter anderem da Dray nicht sagte, was er mit „Situation” meint, wurde lange gerätselt, was das Prinzip überhaupt besagt, das auch als Kriterium der „Angemessenheit” („the thing to do“) einer Handlung (oder Handlungswahl) in einer „Situation“ dienen sollte. Hempel kritisierte das „Prinzip“ – wie auch jeder Proseminarleiter in der Geschichtswissenschaft, der Anachronismen befürchtet – als normativ (Hempel 1961/62, 1963, 1965). Schon Drays Formulierungen ließen im Unklaren, ob hier ein „objektives“ Kriterium der „Angemessenheit“ behauptet wird, das ein externer Hypothesenbilder sozusagen an das Handeln heranträgt, oder ob das „Prinzip“ die „subjektive“ Handlungswahl auszeichnet. Im Rückgriff auf unsere Lehre zum Verstehen blieb Dray klare Thesen über die Relata und Relationen schuldig, die das Verstehen von Handlungen im All219

Nach etwas Klärungsvorlauf komme ich auf die letzte Problematik zurück; 7.2, 7.4, 7.5, 7.6.

286

6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

gemeinen und in der Geschichtswissenschaft im Besonderen auszeichnet, denn die deskriptive Adäquatheit von Drays Modell, das auch als genuin historisch vorgestellt worden ist, wurde zwar behauptet, aber keineswegs nachgewiesen.220 C. G. Hempel kritisierte Drays Handlungsprinzip auch als non-explanatorisch, weil das Draysche Handlungsprinzip Hempels Erklärungs- und Verstehenskriterium verletzt, nämlich Information bereitzustellen, die das tatsächliche Auftreten des Explanandums erwartbar machen. Drays Prinzip lässt im „logisch-systematischen Sinn“ nur einen Satz darüber ableiten, der beschreibt, was „zu tun war“ oder „zu tun gewesen wäre“, nicht jedoch über die faktische Ausführung einer Handlung. Auch im Proseminar Geschichte, nicht bloß in logischempiristischer Wissenschaftslehre, lernt man aber durch „akademische Osmose“, solche normativen Aussagen zu vermeiden und wie L. von Ranke, M. Bloch und andere forderten, lieber zu versuchen, herauszufinden, wie es gewesen ist und dabei vielleicht auf allgemeine Hypothesen darüber zurückzugreifen, wie Akteure oder andere Gegenstände regelmäßig ticken. Hempels alternative (Re-)Konstruktion „rationaler Handlungserklärungen“ lautete folgendermaßen (Hempel 1962a, 1961/62, 1963, 1965): (Rat-Ex-Hempel)

A was in a situation of type C. A was disposed to act rationally. Any person who is disposed to act rationally will, when in a situation of type C, invariably (with high probability) do X. A did X (with high probability). (Mit Adaptionen zitiert nach Hempel 1962a, 27.)

Die normative Prämisse im Drayschen Modell soll hier durch eine empirische Generalisierung bzw. ein „Gesetz“ ersetzt werden. Damit ist die Erklärung nach Hempel nomologisch, beinahe. Je nachdem, was mit „Situation“ gemeint ist, kann man den Rest der Erklärungsskizze eventuell weiter auffüllen. Doch auch hier bleibt unklar, was mit „Situation“ genau gemeint ist. Die Frage ist dann im Rückblick folgende: Hat Hempel sozusagen ein „nomologisches“ Handlungsprinzip oder Handlungsgesetz im Unterschied zu Drays normativem Handlungsprinzip geliefert, also ein Kalkulationsprinzip oder eine „Gesetzmäßigkeit …, denen die Handlungsselektion folgt“ (Schmid 2011a, 220) angegeben, das sozusagen tatsächliche Handlungen, wie die klassische Metapher lautet, „regiert“ oder in Entscheidungen zum Handeln sozusagen tatsächlich, wenn auch vielleicht unbewusst, „angewendet“ wird? Frings (2007b, 40) schreibt von „Regeln, nach denen die Akteure vor dem Hintergrund der wahrgenommenen Situation bestimmte Handlungen wählen“. Die Antwort lautet, dass Hempel dies nicht getan hat, da er keines zu kennen glaubte und weitere Schwierigkeiten sah. Er schrieb zwar, dass ein Handlungswahlprinzip nötig sei, glaubte aber, dass z. B. in Handlungserklärungen in „Geschichte“ das Rationalitätskriterium ad hoc sei: „it is left to our judgment to put an appropriate construal on the explanatory hypothesis of rationality and to recognize that what was done was rational relative to the adduced reasons“ (Hempel, 1961/62, 23). Das heißt wohl so etwas wie: Rationalität liegt im Auge des Betrachters. Das ist aber nicht dasjenige, was gesucht wird, wenn in einem realistischen und nicht rein instrumentalistischen Sinn eine Handlung erklärt werden soll, indem sie irgendwie als „rational“ beschrieben wird. Letztlich war Hempels empirische Gesetzesaussage genauso leer wie Drays normatives „Handlungsprinzip“, weil man auch bei Hempel nicht weiß, was „to act rationally“ in den

220

Formulierungen, die Drays „Prinzip“ ähneln, finden sich ganz selten in der Mini-„Anatomie“ (Kintzinger 2000, z. B. 45) und in Lehrbuchtexten (Wolfrum/Arendes 2007, z. B. 116).

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

287

sogenannten „situations“221 überhaupt heißt. Das dispositionale Gesetz ist allenfalls eine Gesetzesskizze und damit auch die Erklärung eine Erklärungsskizze im Hempelschen (1942, 1965) Sinn. Ein Experte und zugleich Sympathisant mit einer Hempelschen Erklärungslogik schrieb dazu, Hempel könne „keine Angaben darüber machen (…), welchen inhaltlichen Charakter sein allgemeines Dispositionsgesetz (…) eigentlich hat“ (Schmid 1979, 137). Es fehlte also noch immer eine allgemeine Hypothese (oder Gesetzeshypothese), wenn man zunächst gewillt ist, eine in irgendeinem Sinn „methodenmonistische“ oder „naturalistische“ Perspektive auf Handlungen und ihre Erklärungen in der Tradition dieser Debatte einzunehmen. Wir haben schon ansatzweise gesehen, dass J. Topolski (3.1.5) auch über keine verfügte oder zu klären wäre, über welche er zu verfügen glaubte.222 Obwohl diese Debatten im Umfeld von Gründe-versus-Ursachen-Literatur und Fragen aus dem Erklärung oder Verstehen-Umfeld häufiger ideologisiert worden sind, geht es in dieser Tradition im Kern einzig um die Frage, wie menschliches Handeln zustande kommt, ob es hierbei Muster gibt, die durch generelle Sätze beschrieben werden können, die ferner in Erklärungsargumenten verwendet werden können. Um mehr geht es eigentlich nicht. Und obwohl auch dieser Literaturstrang in der Geschichtsphilosophie größtenteils schon vor Dekaden verschwunden ist, war es wohl derjenige, in dem die Diskussionslage am klarsten gewesen ist.223 Hempel war sich dieses Mangels einer (realistischen oder wahrheitsnahen) Gesetzeshypothese aber vollauf bewusst und wollte das Problem der weiteren wissenschaftlichen, nicht philosophischen, Forschung überlassen, äußerte sich ferner skeptisch über die „vague general procedure of explanation by reasons“ und glaubte an ihre Ersetzung durch exaktere Prozeduren (Hempel 1961/62, 23). Hempel hatte teilweise, im Rahmen der Rekonstruktion von Drays unklarem Handlungsprinzip, für „Situation“ schlicht Paare von Wünschen und Überzeugungen eingesetzt, was Hempels Idee mit dem später aufgeführten Vorschlag von P. M. Churchland einigermaßen kompatibel macht. Zu Irritationen führt immer wieder, dass – auch bei Hempel – mit „Situation“ manchmal Subjektives gemeint ist, das sich in den Köpfen der Akteure befindet, manchmal Soziales oder Objektives (Kapitel 7). Ein weiteres gehaltloses „Prinzip des rationalen Handelns“, das bemerkenswerterweise unfalsifizierbar ist, formulierte K. R. Popper: „Agents always act in a manner appropriate to the situation in which they find themselves“ (Popper 1967, 361; vgl. kritisch Schmid 1979). Popper unterstellte also irgendeine Form von (objektiver) Rationalität für alle Handelnden und alle Handlungen in seiner „Logik der Situation“ a priori, wobei genauso wie bei W. Dray damit noch überhaupt nicht gesagt ist, worin die „Angemessenheit“ überhaupt besteht. Im 221

222

223

Wie auch bei anderen sind diese Situationen bei Hempel recht seltsame und unspezifische Gegenstände (Hempel 1961/62, 13 f.): „… in certain kinds of situation (whose full specification would have to include information about the agent’s objectives and beliefs, about other aspects of his psychological and biological state, about his environment, et cetera)“. Bei Dray (1957, 123) ist offenbar im direkten Anschluss an die Formulierung des „principle of action“ von objektiven Situationen die Rede („a person’s response to a situation“), was problematisch erscheinen lässt, sein Prinzip mit Subjektivem auszufüllen. Pape (2006, 140) scheint „Situation” generisch für „Handlungen”, „Ereignisse” und „Zustände” zu verwenden (oder Haufen von Derartigem), schreibt aber auch, ein „Situation” genannter Gegenstand „veränderte“ sich. In Topolskis stellenweise angedeuteter „Motivationaler Struktur“ „Sm=“ mit „P“ für „purpose of action, K-knowledge about the conditions of actions, V-values, norms, beliefs, E-emotional element“ (Topolski 1978, 11 f.), fehlt letztlich eine theoretische (d. h. hier allgemeine) Hypothese, welche P, K, V und E mit der Ausführung einer Handlung (bzw. einen Explanandum-Satz mit einem Explanans) durch einen Wenn….Dann-Satz und einen Schluss verbindet, was – gemäß Hempel und anderen – auch die Relevanz der Faktoren begründet. Man kann aber auch einfach fragen, was man vom Handeln (und Entscheiden) von Menschen verstanden hat, wenn man über keine (wahrheitsnahe) theoretische Annahme verfügt. Was immer mal wieder auch bei Geschichtswissenschaftlern auf Skepsis stößt, ist die manchmal anzutreffende Annahme, dass eine solche Handlungsgesetzmäßigkeit in der biotischen Natur des Menschen vermutet wird, also sozusagen transhistorisch ist.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Unterschied zu Drays Prinzip, dessen Texte zur Handlungstheorie früher berühmt waren, wird Poppers Prinzip noch immer unter Sozialwissenschaftlern rezipiert. Braun/Gautschi (2011, 58 f.) rekonstruieren dessen „Situationslogik“ folgendermaßen (in leichter Veränderung meinerseits): (Situationsbeschreibung): (Analyse der Situation) (Rationalitätsprinzip) (Explanandum)

Akteur A ist in Situation S. In Situationen wie S ist H die angemessene Handlung. Akteure handeln immer situationsangemessen. Daher hat Akteur A in S die Handlung H ausgeführt. (Braun/Gautschi 2011, 58 f.)

Auch hier ist es so, dass man nicht weiß, was „angemessen in einer Situation“ überhaupt auch nur heißt und man erfährt auch nichts darüber, warum man glauben soll, dass Handelnde überhaupt „situationsangemessen“ handeln und ferner warum sie „situationsangemessen“ handeln. M. Bunge (1999, 105) schrieb süffisant, Poppers Rationalitätsprinzip gelte auch für ein Elektron. Man müsste also mehr über den Gegenstand solcher Erklärungstypen erfahren, also etwas mehr über Menschen und deren „Kalkulieren“ (Dray), „Entscheiden“ und Handeln in Situationen. Darüber hinaus müsste man erfahren, was mit „Situation“ gemeint ist (siehe auch Kapitel 7). Damit sind wir bei der Schließung des narrativen Kreises angekommen 224, denn das Problem taucht im Kontext von Redeweisen von „Angemessenheit“ und Ähnlichem in Erklärungskontexten immer wieder auf, beispielsweise wenn der Soziologe R. Boudon (2013) von „guten Gründen“ spricht, der Geschichtsphilosoph C. B. McCullagh (1998) von „Rationalität“ und die Analytische Soziologie (Hedström 2008) von „Opportunitäten“ und vor diesem Opportunitätshintergrund „plausiblen“ Handlungswahlen auf der Basis von Wünschen und Überzeugungen („beliefs“, „desires“). Einige Kandidaten für allgemeine Hypothesen zur Erklärung von individuellen Handlungen, in lockerer oder strengerer Formulierung, scheinen nach wie vor folgende zu sein. P. M. Churchlands (1970) Vorschlag lautet in einer Übersetzung von Michael Schmid folgendermaßen (P = Personen, Z = Ziele, H = Handlungen; H-G = Handlungsgesetzeshypothese): (H-G)

224

Für alle (P), alle (Z) und alle (H), wenn gilt: (1) P hat Z tatsächlich, und (2) P glaubt, daß unter den gegebenen Umständen H ein Mittel (unter anderen möglichen) ist, Z direkt oder indirekt zu erreichen, und (3) P hat kein alternatives Ziel Z‘, das unter den gegebenen Umständen stärker ist als Z, (4) P glaubt, daß es unter den gegebenen Umständen keine Alternative H‘ gibt, die als Mittel zur Erreichung von Z dienlich sein kann und die P gegenüber H vorzieht oder von P gegenüber H als gleichwertig eingestuft wird, und

Um die „Geschichte“ einigermaßen zu vervollständigen, könnte man noch von Wrights (2008 1971) „praktischen Syllogismus“ hinzufügen. Das damit gebaute Erklärungsargument wurde in den 70er Jahren aus logischer Perspektive kritisiert, ähnlich wie in Hempels Kritik an Dray. Dasselbe wiederholte A. Frings (2007b) mit einem Vorschlag von A. Donagan. Das Problem dabei ist, dass eine logische Korrektur solcher Erklärungsargumente über die Rechtfertigung und Wahrheit der allgemeinen Prämissen (sowie möglicherweise deren Gesetzesartigkeit) nichts aussagt. Aus einer anderen logischen Perspektive (derjenigen des sog. nicht-monotonen Schließens) wurde Frings deduktive Korrektur dann auch bereits korrigiert, bevor sie formuliert worden war (Schurz 2004).

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

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(5) P weiß wie man H ausführt, und (6) P ist in der Lage, H zu tun Dann (7) tut P H (Schmid 1979, 69, Churchland 1970). Andere Gesetzeshypothesen oder lockerere Formulierungen finden sich häufiger, wobei nicht klar ist, ob hier immer dieselbe psychische Gesetzmäßigkeit beschrieben wird oder aber (leicht oder stark) unterschiedliche: Die einfachste und voraussetzungsloseste Handlungstheorie ist die nomologische Annahme der subjektiven Rationalität: Handelnde wählen stets diejenige Handlung, die ihnen nach Abwägung aller möglichen, subjektiv vermuteten Handlungskonsequenzen am geeignetsten erscheint, das gewünschte Ziel zu erreichen (Frings/Marx 2006, 95). Übrig bleibt die nomologische Vermutung, dass jeder Mensch, der vor Handlungsalternativen steht (und dies kann immer unterstellt werden), immer diejenige Handlung wählt, die subjektiv „das für die Realisierung des beabsichtigten Zweckes angemessenste Mittel“ darstellt (Frings 2008, 144). Personen wählen aus einem set überhaupt verfügbarer oder möglicher Handlungsalternativen diejenige, die am ehesten angesichts der vorgefundenen Situationsumstände bestimmte Ziele zu realisieren verspricht (Esser 1991, 54). Das Gesetz des Handelns ist also wieder das, das auch bei der Ehescheidung und bei der Umweltmoral anwendbar war: Menschen handeln so, daß sie mit der gewählten Alternative besser dastehen als mit der Wahl irgendeiner anderen Alternative (Esser 1996, 73). Menschen handeln normalerweise zweckrational (Scholz 2008b, 128). Wenn der Akteur a das Ziel z hat und glaubt, die Handlung h sei ein geeignetes Mittel, um z zu erreichen, dann wird a normalerweise versuchen, h zu vollziehen (ebd. 115). …. Akteure handeln, wenn sie überzeugt sind, dass die Handlung das gewünschte Ergebnis hervorbringen wird (Hedström 2008, 115). Sane people so act as to maximize their perceived rewards and to minimize their perceived penalties (Murphey 1986, 54). Alle Akteure versuchen, mit ihren Handlungen ihre (gegebenen) Ziele in höchstem Maße zu realisieren (Schmid/Maurer 2010, 116). Humans are able to choose reflectively to act for their own good reasons (within certain restraints), whatever those reasons are and however they are influenced (Lloyd 1986, 186). Die Fragen im Anschluss an die Probleme mit Drays und Poppers „Prinzipien“ eines „angemessenen“ Handelns sind klar: Was heißt „am geeignetsten“, „geeignetes Mittel“, „am ehesten … zu realisieren verspricht“, was heißt „zweckrational“, was heißt „good reason“ oder „notwendig“, „in höchstem Maße“ oder „besser dastehen“ genauer, und muss man dazu Genaueres sagen oder reichen auch vage oder, besser, komparativ vagere Annahmen. Im Grund-

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satz ist das eine Hempelianische Frage an eine Erklärungs- oder Gesetzesskizze (Hempel 1942, 1965). Eine weitere Frage ist, ob solche Handlungsgesetzesskizzen überhaupt dasselbe beschreiben, also dieselbe Gesetzeshypothese über eine Gesetzmäßigkeit ausdrücken. Es ist recht klar, dass nicht immer dasselbe gemeint ist, z. B. mit „zweckrational“, „im höchsten Maß zu realisieren“ oder auch der verschiedentlichen Rede von „Maximierung“. Auch ist mir nicht klar, ob in diesen handlungstheoretischen Vorstellungen immer die These eine Rolle spielt, dass sich Akteure zwischen mindestens zwei Alternativen entscheiden müssen, die ihnen dann auch bewusst sein müssen. Der Geschichtstheoretiker A. Frings (2007a/b, 2008) setzt beispielsweise voraus, dass sich Akteure immer zwischen Alternativen entscheiden, was in der Churchland-Formulierung oder der alternativen Gesetzeshypothese zumindest bezogen auf die „Ziele“ nicht der Fall ist, denn dort heißt es bloß, der Akteur habe keine anderen Ziele. In kurzen Zweckrationalitätsformeln und Belief-Desire-Thesen ist offenbar oftmals weder von Evaluationen von Zielalternativen noch von Mitteln (explizit) die Rede, sondern es heißt, wenn jemand einen „Grund“ (oder ein „Motiv“, eine „Intention“) hat, dann handelt er (normalerweise). Es stellt sich also eine Frage, die sich bezogen auf alle Hypothesen stellt: Was stimmt denn eigentlich oder welche Gründe gibt es für oder gegen die jeweiligen Hypothesen? Zuvor stellt sich die Frage, wie die zu evaluierende Hypothese genau lautet. Die allgemeine Haltung gegenüber Churchland-Hypothesen oder auch kürzen Zweckrationalitäts- oder Belief-DesireFormeln scheint mir zu sein, dass diese als trivial eingeschätzt werden, und zwar „trivial“ im Sinn von „wahr und allzu bekannt“ oder „wahrheitsnah“.225 Rational-Choice-Theorien gelten demgegenüber häufiger als falsch. Ein anderes Gesetz bzw. eine „Entscheidungsregel“ aus dem Spektrum von Rational Choice lautet folgendermaßen: Die Entscheidungsregel lautet daher wie folgt: Von mehreren Handlungsalternativen, die ein Akteur in Erwägung zieht, wählt er diejenige, für die die perzipierten Handlungskonsequenzen am positivsten bewertet und am sichersten erwartet werden; in anderen Worten: Der Akteur wählt diejenige Handlungsalternative mit dem höchsten SEU-Wert subjective expected utility, dp bzw. dem höchsten Nettonutzen. Für zwei Handlungsalternativen H1 und H2 erfolgt die Wahl von H1 also dann, wenn gilt: SEU1 > SEU2 bzw. als Nutzendifferenzial formuliert: (SEU1 – SEU2) > 0 (Kunz 2004, 45; Kunz 1997). Der Kritische Rationalist Hartmut Esser behauptete, die Wert-Erwartungstheorie dieser Gestalt könne „als gut bestätigt gelten“ (Esser 1991, 59) und behauptete später immerhin noch in starker Abschwächung: „Vollkommen ohne empirische Grundlage ist … die Theorie des rationalen Handelns keineswegs“ (Esser 1999, 314). Das Problem ist für Außenstehende, dass die Grundlage dieser Behauptungen der Bestätigung eigentlich so gut wie nie geliefert wird und die Kritiker demgegenüber hin und wieder auf falsifizierende Experimente verweisen, die zeigen, dass in den Fällen, in denen dies experimentell überprüfbar ist, Menschen nicht ihren „Nutzen“ „maximieren“, es sei denn man immunisiert die These, indem man jeweils einen entsprechenden „Nutzen“ erfindet. Mit allen Vorteilen des Klartextes hat M. Bunge (2009a, 53), ein früherer Verfechter von Rational-Choice-Theorien, zur Bestätigung von RC-Theorien 225

Schon lange gelten sie teilweise als verkappte analytische Aussagen, die bloß explizieren, was manche mit „rational“ oder „rationalem Handeln“ meinen, obwohl von Rationalität in den Hypothesen oder Theorien gar nicht explizit die Rede ist (siehe bereits Schmid 1979). Sie gelten dann als „trivial“ im Sinne von „gehaltlos“ bezüglich der Erhellung realer Handlungen. Auch Kelle (2004, 102) spricht von „(weitgehend empirisch gehaltlosen) Rationalitätsannahmen“.

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

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geschrieben: „Ignore for the moment the conceptual imprecision of the postulate in question d. h. der Nutzenmaximierung, dp, and ask who conducted the empirical test required to regard it as true. The answer is Nobody.“ Ich will schnell zu der Klarstellung greifen, dass ich gar nicht beurteilen kann, ob das so ist, und dass in der mir bekannten Literatur nicht klar ist, ob die Autoren jeweils dieselbe Theorie „rationalen“ Handelns vor Augen haben.226 Die Analytische Soziologie bemüht eine Plausibilitätsintuition zur Rechtfertigung ihrer Vorstellungen von Handlungen und ihrer Erklärung. Die Frage, ob die DBO-Theorie auch stimmt (und ggf. in welchen Grenzen sie stimmt), wird nach meinem Eindruck auch in der Analytischen Soziologie nicht gestellt, was auch damit zu tun haben dürfte, dass man in den Sozialwissenschaften noch immer damit beschäftigt ist, Forschungsprogramme ans Laufen zu kriegen und im akademischen Überlebenskampf von anderen abzugrenzen, was natürlich damit verbunden sein muss, die zentralen Annahmen nicht sofort zu torpedieren. Hedström behauptet im Unterschied zu Esser, es gäbe keine bessere Theorie als die sogenannte DBO-Theorie, die letztlich vermutlich einer Zweckrationalitätshypothese oder dem Churchland-Gesetz ähnelt, denn er hält RC-Theorien wohl – obwohl (mir) nicht klar ist, ob er dieselbe meint wie z. B. Esser – für unrealistisch, also falsch.227 Esser nennt die WertEwartungs-Theorie in der exakteren RC-Variante die einzig brauchbare Theorie der „Selektion von Handlungen bzw. Aktivitäten ganz allgemein“ (2001, 268), ist aber wohl auch gewillt, sie gänzlich instrumentalistisch zu deuten und daher mit ihrer möglichen Falschheit gar kein Problem zu haben.228 „Instrumentalismus“ meint hier natürlich, dass für die Verwendung der Theorie und die Beurteilung ihrer Erklärungskraft im Rahmen der favorisierten Modellierungsart, in der sie als Instrument dient, letztlich egal ist, ob Menschen tatsächlich – immer und ausnahmslos, regelmäßig, normalerweise oder überhaupt irgendwann – so entscheiden, wie die Theorie behauptet.229 226

227

228

229

Nach Abschluss des Manuskripts bin ich auf den Austausch von M. Bunge (2009c, 2009d) mit U. Berger (2009) gestoßen, der meine skeptische Zurückhaltung vollauf bestätigt. Zum Beispiel wirft Berger Bunge vor, über ein anderes Verständnis von „Nutzen“ und „Nutzenmaximierung“ zu reden als (manche) Ökonomen. Worum es sich bei jenen „opportunities“ handelt, wäre eigens zu klären, denn jene „Opportunitäten“ ersetzen in der jüngeren Analytischen Soziologie die früheren „Situationen“, und beides umfasst Gegenstände außerhalb von Akteuren. „Die WE-Theorie ist nur ein ‚Modell‘ des Entscheidungsprozesses, keine empirische Beschreibung oder Erklärung auch der Vorgänge im Gehirn oder in den Muskeln des Akteurs. Das muß sie auch nicht sein – solange sie als Logik der Selektion innerhalb einer soziologischen Erklärung brauchbar arbeitet. Für ihre Anwendbarkeit als Logik der Selektion ist es daher ganz gleichgültig, ob die Menschen jeweils auch ‚wirklich‘ über die Folgen ihres Tuns sinnhaft nachdenken oder nicht. Es genügt, daß sie so handeln, ‚als ob‘ die WE-Theorie auch ‚wirklich‘ zutreffen würde“ (Esser 1999, 249). By the way, ähnlich äußerte sich bereits Dray (1957) im Kontext seiner Rede von „Kalkulationen“, wofür er sich später entschuldigte (Dray 2000), indem er Hempels Kritik daran akzeptierte. Damit ist aber auch der vormalig oder noch immer heiß umkämpfte Kausalcharakter in ein „als ob“ transformiert: „Für alle menschlichen Akteure gilt: Wenn zwei Alternativen i und j zur Wahl anstehen, dann wählt der Akteur die Alternative mit der jeweils höheren Nutzenerwartung. Die Erwartungen und die Bewertungen bzw. das Produkt p * U Wert für subjektive Wahrscheinlichkeit mal Wert für subjektiven Nutzen, dp bilden den Ursachenteil sic! des Gesetzes für die Selektion des Handelns, das selegierte Handeln ist der Folgenteil des Gesetzes, und die Maximierung der Nutzenerwartung stellt die Selektionsregel dar: die funktionale bzw. kausale Verbindung zwischen Ursache und Folge“ (Esser 1996, 96). „Gesetz“ kann hier also durchaus mit „falsche gesetzesartige Aussage“ übersetzt werden. Inwiefern dann noch vom Kausalcharakter der Erklärung gesprochen werden kann, darf gefragt werden. Vgl. in der Geschichtstheorie offenbar ähnlich Frings (2007b, 49), der dann auch eigentlich nicht mehr über „Gesetze“, sondern von „Abstraktionen“ sprechen möchte. Wenn Falschheit kein Problem mehr ist, dann kann man mit Theorien „rationalen“ Handelns auch das „Handeln“ z. B. von Wellensittichen und anderen Haustieren „erklären“, wie es im Alltag ja auch durchaus

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Dennoch kann an der These, eine Rational-Choice-Theorie sei die einzig brauchbare Theorie, ja auch etwas dran sein, nur wissen wir das in unserem Rahmen hier nicht und können es nicht wissen, denn wir haben keinen Vergleich, keine Kriterien des Theorienvergleichs und kaum bzw. keine Beispiele für Erklärungen auf der Basis der unterschiedlichen Theorien in echter Wissenschaftspraxis, denn in der „Anatomie“ haben wir keine diesbezüglich eindeutigen Studien gefunden und im Rahmen von Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie sind keine zu finden. Daher kann auch die Fruchtbarkeit unterschiedlicher Handlungstheorien letztlich nicht beurteilt werden, d. h. die Verwendbarkeit in konkreter Forschung oder in Forschungsprogrammen, denn gemäß der hier zugrunde gelegten Metaphilosophie der Philosophie der Geschichtswissenschaften können wir nicht einfach unterstellen, eine favorisierte Handlungstheorie sei auch diejenige „der Geschichte“, obwohl dies in der Tradition so gehandhabt wurde. Auch ihren jeweiligen Nutzen und Nachteil kann man kaum a priori einschätzen. Ich kann hier letztlich zu dieser Problematik nichts sagen, da ich weder wissen kann, welche Gesetzeshypothesen wahr (oder wahrheitsnah) sind, noch kann ich sagen, welche dieser Hypothesen in geschichtswissenschaftlicher Praxis faktisch verwendet werden (8.1). Ich kann ferner, bis auf eine spätere Randbemerkung, die ein Problem andeutet, nichts dazu sagen, welche Theorien aufgrund welcher Merkmale dazu geeignet sind, in geschichtswissenschaftlichen Erklärungen von singulären oder typischen Handlungen verwendet zu werden. Erahnbar ist aber trotz der sogar von Experten bemängelten Unklarheit, dass es am Ende doch so sein könnte, dass die Gemeinsamkeit der meisten Handlungsannahmen in Psychologien (Heckhausen/Heckhausen 2010) und Sozialwissenschaften (so wiederholt Esser in seiner „Soziologie“, im Literaturverzeichnis), trotz der immer wieder diagnostizierten Unterschiede immerhin darin bestehen könnten, dass jeweils eine Bewertungs- und eine Erwartungskomponente in diesen Theorien enthalten sind, auch terminologischen Unterschieden zum Trotz. Die genauere („gesetzmäßige“) Beziehung von Bewertungs- und Erwartungskomponenten mit Entscheidungen und Ausführungen von Handlungen ist dann problematisch. Und das ist die Frage nach der genauen Formulierung einer Handlungstheorie und letztlich eine Frage für Wissenschaftler. Vor dem Hintergrund einer solchen Sichtweise sind frühere philosophische Streitfragen, ob Handlungserklärungen z. B. „wissenschaftliche“ (oder historische), „nomologische“ oder „kausale“ Erklärungen seien, sekundär. An dieser Stelle unserer Problemexposition, die in diesem Kapitel einen ontologischen Fokus hat, ist nur bemerkenswert, dass in der philosophischen Gründe-versus-Ursachen-Literatur, die in der Handlungsphilosophie zentral ist, auch nur zur Debatte steht, ob dasjenige, was jeweils unter „Gründen“ oder „Intentionen“ oder „Motiven“ und anderem verstanden wird, eine Handlung in irgendeinem Sinne von „Verursachung“ verursacht, die zumeist im Kopf von Akteuren vermutet wird. Der Sinn von „Verursachung“ muss in solchen Fällen dann auch vorausgesetzt werden, womit man in die Untiefen der Kausalitätsphilosophie (6.3) und letztlich die Metaphysik des Geistes eintaucht. Darauf will ich hier nicht eingehen, weil dies in unserem Kontext, d. h. vor dem Hintergrund unseres Gegenstandes (2.1), zu wenig führt und ferner ein weiteres Fass ohne Boden gefüllt werden müsste. Aus meiner Sicht machen diese ontologischen Fragen und ihre Antworten aus der Perspektive einer Metatheorie der Geschichtswissenschaften im Allgemeinen wie der Sozialwissenschaften im Besonderen – zu beobachten ist, weil diese teilweise auch so „handeln“, als ob sie „rationale“ Akteure sind. Es dürfte aber zumindest zweifelhaft sein, ob es sich hier um rationale Akteure handelt. Meine Tageszeitung schreibt auch Pflanzen manchmal rationale Kalkulationen zu – als ob. Wenn die Falschheit von Handlungsgesetzen auf „individualistischer“ Seite kein Problem mehr ist, dann überzeugt der unter Individualisten gegenüber Holisten verbreitete Einwand, makrosoziale Gesetzeshypothesen seien falsch, eigentlich auch nicht (siehe stellvertretend für viele z. B. Frings 2008, 142).

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

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und vielleicht im Kontrast zu einer allgemeinen Handlungsphilosophie und dortigen Interessen – keinen großen Unterschied. Die entscheidenden Fragen sind aus dieser wissenschaftsorientierten Perspektive, wie in unserem Fall Geschichtswissenschaftler tatsächlich Handlungen erklären, wie sie, falls dies möglich ist, „Gründe“ (oder „Pro-Einstellungen“; Davidson 1990) oder „Intentionen“ oder „Motive“ auf der Basis von Quellen und Daten begründet identifizieren können, ob es stabile Handlungsgesetzmäßigkeiten gibt und wie die entsprechenden Gesetzeshypothesen lauten, deren Kenntnis und Anwendung letztlich die Erklärung und das Verstehen ausmachen, soweit keine andere Kandidaten verfügbar sind, wie ich hier durchaus mit etwas Dogmatik darüber hinaus auch behaupten möchte, zumal die Verwendung von Kausalvokabular in diesem Kontext für sich gänzlich uninformativ ist. Und ferner ist eine mögliche Frage, ob man nicht nur bei der Erklärung letztlich auf Gesetzeshypothesen angewiesen ist, sondern auch bei der Identifikation von „Gründen“, „Motiven“ oder „Intentionen“ auf der Basis von Daten aus Quellen, was zuvor (4.2) mit M. Bunge als „inverses Problem“ bezeichnet wurde. Die einzige hierzu am äußersten Rande der Geschichtsphilosophie zu findende Methodologie ist mit der Annahme der (im Einzelfall revidierbaren) Präsumtion von Rationalität verbunden (Scholz 2001), wobei mit „Rationalität“ hier subjektive Zweckrationalität und keine objektive Rationalität gemeint ist und vorausgesetzt wird, dass Menschen normalerweise „rational“ handeln. Wir haben schon kurz behauptet, dass das idealtypische Problem eines an singulären Handlungen interessierten Geschichtswissenschaftlers nicht mit (1) Mentales → Handlungsvollzug gut beschrieben ist, sondern mit (2) Quelle → Datum → Verhalten → Mentales. Das erstere Problem stellt sich, soweit blanke Spekulation (oder die Projektion von intuitiven Annahmen des Hypothesenbilder als Default-Strategie „in the absence of evidence to the contrary“; so teilweise Dray 1957, 125) als ungeschichtswissenschaftlich ausgeschlossen wird, erst nach der Lösung des zweiten. Hier sei nur am Rande bemerkt, dass die angedeutete Vermutung (4.2), das erste („direkte“) Problem sei leichter zu lösen als das zweite, mit einer implizit vertretenen generellen („gesetzesartigen“) Annahme über die relevanten Zusammenhänge zu tun haben dürfte, womit dann erneut die Frage ist, welche Annahme das ist und ob sie stimmt. Eine solche implizite Generalisierung über Handlung und ihre Entstehung stünde dann auch hinter der (unklaren und traditionellen) Rede vom „Verstehen“ im Unterschied zur „Erklärung“ von Handlung. Aus einer solchen Perspektive ist der Unterschied zwischen „Erklärung“ und „Verstehen (understanding)“ also bloß derjenige der Explizitheit der (allgemeinen) Hypothesen und vorgenommener Schlüsse (was natürlich schon x-mal geschrieben worden ist). Die Grundlage von Handlungs(geschichts)philosophie ist in der Regel die Annahme, dass in einer Alltagspsychologie, die „wir“ teilen, eine solche Annahme bereits verborgen ist und ferner die alltägliche Praxis der Erklärung von Handlungen nicht nur als erfolgreich gilt, sondern dass sie auch erfolgreich ist, weil diese Erklärungen oder die dort implizit verwendeten generellen Hypothesen (annäherungsweise) wahr sind.230 Auch diese Annahme kann man 230

Manche gehen davon aus, dass „die“ Alltagspsychologie kaum signifikant durch eine explanatorisch relevante wissenschaftliche Psychologie und bessere Psychologie ersetzt werden kann. Philosophen fragen daher auch selten, ob die von ihnen favorisierten handlungsphilosophischen Annahmen stimmen, weil sie dies insofern voraussetzen, als sie die Adäquatheit von Common Sense Annahmen präsumieren. So schreibt der Soziologe P. T. Manicas beispielsweise: „We are, in fact, quite good at both explaining and predicting the acts of persons, quite independently of knowledge provided by the human sciences. Indeed, as ordinary socialized human beings we are better at explaining and predicting human acts than sophisticated science is at explaining and predicting the final outcome of falling leaf. And, indeed, there is no reasonable hope that the human sciences could do better in explaining and predicting the acts of persons than we do in our own very pre-scientific way” (Manicas 2006, 54). Wer das nicht glaubt, hat wohl keinerlei Verwendung für philosophische Handlungstheorie, die auf diesen Annahmen wohl zumeist fußt. Fraglich ist aber dann, warum jene Annahmen, auf denen die alltägliche und erfolgreiche Erklärungspraxis vermeintlich fußt, so selten über-

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

bestreiten, z. B. weil allgemeine Handlungserklärungspraxis nicht systematisch untersucht wird. Glaubt man, dass Handlungserklärungspraxis im Alltag eine solche allgemeine Hypothese beinhaltet, dann liegt der Gedanke (zunächst) nahe, dass auch (manche) Geschichtswissenschaftler auf der Basis einer solchen Hypothese Handlungen erklären und verstehen. Diese Fragen können wir hier bezogen auf die Geschichtswissenschaft nicht beantworten oder einzig ideologisch beantworten. Im Bereich der Problematiken im Umfeld von Handlungstheorien oder Handlungsgesetzen braucht man eine wohl weitgehend noch inexistente Komparatistik von Handlungstheorien, auch bezogen auf ihre Verwendungsmöglichkeiten in zum Beispiel geschichtswissenschaftlicher Forschung, aus der man dann eine signifikante Zahl von echten Beispielen benötigte. Es hilft ja nicht weiter, favorisierte Annahmen einfach in Texte hineinzulesen oder selbst über Handlungsgesetze (oder andere Theorien) zu spekulieren, während andere darüber empirisch und experimentell forschen. Im Fall von Fragen zur Anwendung von Handlungstheorien ist ohnehin der Punkt, an dem man im Detail die Datenlage, die dem Geschichtswissenschaftler zur Verfügung stand, erheben müsste. D. h. im Zweifel müsste man selbst das Archiv oder die Drucke der MGH konsultieren (z. B. im Falle von Kintzinger 2000), um zu eruieren, welche Schwierigkeiten und welche Möglichkeiten in der Erklärung von Handlungen tatsächlich bestehen und wie sie genutzt werden.231 Das zeigt sich z. B. auch daran, dass möglicherweise exaktere Gesetzeshypothesen wie Rational-Choice-Annahmen mit der Forderung der numerischen Angabe von Erwartungswerten in Fällen von singulären Handlungserklärungen in der Geschichtswissenschaft insofern vielleicht nicht verwendbar sind, als Geschichtswissenschaftler über solche numerischen Werte keine Quellen/Daten haben und ferner im Allgemeinen wohl noch kein objektiver, d. h. intersubjektiv überprüfbarer Indikator zur Erschließung von solchen numerischen Werten bekannt zu sein scheint. Das hieße aus Kritikersicht, die vermeintlich exakten Nummern, die

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haupt aufgeschrieben werden und warum auch Philosophen diesbezüglich kaum Einigung erzielen. Und gerade vor diesem Hintergrund, den Manicas ausspricht, muss die Frage sein, wie die Hypothesen überhaupt lauten, die „implizit“ herangezogen werden. Ich würde all diese Fragen als offen auffassen wollen (Kapitel 9). Am Rande sei bemerkt, dass RationalChoice-Theoretiker unter Umständen jeden Vergleich ihrer Theorien mit Alltagspsychologie ablehnen. Es soll hier weder gesagt werden, dass die Lösung der Probleme der Hypothesenbildung über Mentales in jedem Fall äußerst schwierig oder gar unmöglich ist, wie A. Marwick (2001) zu behaupten scheint. Vielleicht ist es manchmal gar einfach möglich. Nur hängt dies von der Quellenlage und der speziellen Beschaffung der jeweiligen Quellen fundamental ab, neben dem zur Verfügung stehenden Hintergrundwissen. Die Ausgangslage geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis besteht hier nunmal darin, dass normalerweise niemand befragt werden kann, Egodokumente selten und oftmals zweifelhaft sind, und Handlungen (Verhalten) noch nicht einmal beobachtet werden können. Wenn das Problem in manchen Fällen nachvollziehbar gelöst werden kann, dann würde man auch an dieser Stelle allerdings gerne wissen, wie das grob funktioniert (und eigentlich müsste das schnell zu klären sein, wenn es denn stimmt, dass Historiker dies seit Jahrhunderten regelmäßig versuchen und auch erfolgreich versuchen). Geschichtswissenschaftler schreiben von entsprechenden Schwierigkeiten recht häufig. R. Walter (2006, 30) schreibt in an Collingwood erinnernder Terminologie, dass Rekonstruktionen eines „Innen“ geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen neben der eines „Außen“ eine „besondere Komplexität verleihen“, „wobei die Rekonstruktion des ‚Innen‘, der Ideen und Motive komplizierter ist und zuweilen an Quellenmangel scheitert“. Tilly (1990, 690) schreibt, das Dilemma der individualistischen Sozialwissenschaften (und dessen mögliche Dramatik aus realistischer Perspektive) auf den Punkt bringend (siehe auch 8.1): „Most historical writing […] consists of creating motivated narratives from documents that do not contain narratives and provide only sketchy indications of motives.“ Man muss wohl hinzufügen: Oftmals auch gar keine. Tilly hielt damals die Entdeckung für möglich, „that reliable knowledge of human action is impossible“ (ebd. 710). Der Skeptiker auf philosophischer Seite ist freilich erneut irritiert, wenn die Methode der „narrativen Geschichte” beiläufig wie folgt beschrieben wird (Stone 1979, 19; siehe aber auch die Skepsis ebd., 22): „understanding based on observation, experience, judgement and intuition”. Falls „Wissen von menschlichem Handeln“ sich als unmöglich erwiese, müsste man freilich auch konsequenterweise z. B. alle Gerichte abschaffen, zumindest die Suche nach „Motiven“ von Tätern.

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

295

manchmal als Gütekriterium einer Handlungstheorie gelten, sind bloß irreführende Girlanden, weil sie schlicht und ergreifend einfach erfunden werden, notgedrungen erfunden werden müssen oder wiederum auf der Basis von „Einfühlung“ sozusagen erhoben werden müssen. Die Erfindung irgendwelcher Werte gilt zumeist als pseudowissenschaftlich. Wir können das letztlich hier nicht thematisieren, aber Zweifel kann man auf der Basis der dünnen Mini-„Anatomie“ diesbezüglich formulieren, denn – so weit ich sehe – nennt niemand im Rahmen unserer Mini-„Anatomie“ numerische Werte für Bewertungen und Erwartungen (siehe z. B. Kintzinger 2000, Topolski 1994a, Frings 2007a). Auch A. Frings, der sich an Essers „Erklärender Soziologie“ orientiert, die im Rahmen des „Modells der soziologischen Erklärung“ eine Rational-Choice-Theorie favorisiert, nennt – so weit ich sehe – keine numerischen Erwartungswerte, weshalb er wohl verschiedentlich von einer „weichen“ Anwendung von Rational Choice spricht. Die Frage, ob es sich hierbei um eine „weiche“ Anwendung oder aber überhaupt keine Anwendung der Theorie handelt, ist dann wohl nur die andere Seite der Frage danach, in welchem Verhältnis auch die obigen handlungstheoretischen Annahmen zueinander stehen.232 In der Diskussion unter manchen sozialwissenschaftlichen „Individualisten“ (7.2) scheint ferner vorausgesetzt zu sein, dass es eine einzige, integrative Handlungstheorie geben kann. In einer (oder mehreren) weberianischen Metatheorietraditionen scheint die These vertreten zu werden, dass es eine solche integrative und auch universale (sozusagen transhistorisch gültige) Handlungstheorie nicht gibt, sondern unterschiedliche „Handlungstypen“ oder „Handlungsgesetze“, die mit unterschiedlichen (historisch gebildeten) „Handlungsdispositionen“ zu tun haben (G. Albert 2007, 342; vgl. Boudon 2013). G. Albert rechnet diese Strömung demjenigen zu, das er „Holismus“ (7.2) nennt. Diese Strömung verkompliziert die Theorielage also noch weiter und macht sie für mich einfach unübersehbar. Aber natürlich dürfte das eine Sicht sein, welche eventuell verbreitete Annahmen von RC-Kritikern unter Geschichtswissenschaftlern ausspricht. Denn in dieser Weberianischen Sicht gibt es nicht eine einzige (transhistorische) „Logik der Selektion“, sondern historisch variierende „Logiken der Selektion“ von Handlungen.233 Manchmal hat man freilich den Eindruck, dass die Kunst von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern darin besteht, über Handlungskontexte oder Handlungssysteme (Kapitel 7) zu schreiben, ohne jemals eine singuläre Handlung oder einen Typ von Handlung zu erklären oder auch nur zu beschreiben, und nicht in der „historischen Erklärung von Handlungen“ (Dray 1963; Martin 1977).234 Offensichtlich ist auch der per Definition mit „Geschichte“ oder „Historischer Wissenschaft“ verbundene Idiographismus im Handlungserklärungskontext insofern illegitim, als nicht nur Topolskis Modelle für Typen von Akteuren aufstellt, sondern auch Chamoux/Dauphin in der altehrwürdigen Annales ein allgemeineres Modell hätten er232 233

234

Eine Antwort auf diese Fragen ist eigentlich auch vorausgesetzt, wenn man (in echten Forschungskontexten) auf „beste Erklärungen“ von Handlungen oder der von ihnen produzierten Daten schließen möchte. G. Albert schreibt dann auch in Abgrenzung vom „Modell der soziologischen Erklärung“ von H. Esser: „Im moderaten methodologischen Holismus liegen Soziologie und Geschichtswissenschaft in gewissem Sinne näher aneinander als im methodologischen Individualismus“ (G. Albert 2007, 347). Das liege, so Albert, auch an ontologischen Annahmen. Zu Individualismus/Holismus siehe Kapitel 7. Beispielsweise geht es Füssel auch um „die konkrete Praxis ständischer Interaktion“, „institutionelle Mechanismen“, „‚institutionelles Handeln‘“, „symbolisches Handeln“ und/oder „die Kultur der Gelehrten als symbolische Praxis (…), als System von Bedeutungen“ (Füssel 2006, 3-32). Ich habe aber nicht den Eindruck oder halte es für eine offene Frage, ob in der Studie Handlungen erklärt und verstanden werden sollen und vermute, dass Füssel dies verneinen würde, wenn man unter Handlungserklärungen Wert-Erwartungsoder Belief-Desire-Erklärungen versteht. Wenn das nämlich so wäre, dann benötigte man die aufgebotene Sozial- und Kulturtheorie am Ende ja vielleicht gar nicht oder die metageschichtswissenschaftliche Frage wäre, wozu sie gebraucht wird.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

stellen müssen, wenn sie ihren Forschungsausblick, der ein Handlungs- oder Entscheidungsmodell zumindest anzudeuten scheint, in die Tat umgesetzt hätten (3.1.1).235 Im Fall allgemeiner Modellbildung könnten die Probleme und ihre Lösung etwas anders aussehen, weil hier mehr Spielraum für (begründete) Spekulation bestehen könnte. Man kann auf geschichtsphilosophischer Seite das Problem natürlich dadurch lösen, dass man diese Forschung für unhistorisch oder nicht der Historischen Wissenschaft zugehörig erklärt (2.1). Ich würde die These wagen wollen, dass Geschichtswissenschaftler weitaus häufiger Typen von Handlungen beschreiben und vielleicht auch erklären als singuläre Handlungen. Sie wäre allerdings mitsamt den anderen Fragen gesondert zu untersuchen. An dieser Stelle müssen wir es dabei bewenden lassen und kurz auf die Ontologie zurückkommen, die man an dieser Stelle vielleicht erwarten würde, da in diese Problematiken auf philosophischem Feld zumeist wohl Kausalitätsprobleme als signifikant erachtet werden. Zum Beispiel wurde mal klassisch über den „vermeintlich grundsätzlichen Unterschied zwischen mentalen Handlungserklärungen und wissenschaftlich-kausalen Erklärungen“ (Beckermann 1977) gestritten, was dann, im Rückgriff auf die DN-Logik und ihre implizite Metaphysik, im Kontext von Fragen um die „logische Struktur“ von Handlungserklärungen (Beckermann 1979) diskutiert wurde.236 Die metaphysische Deutung von handlungstheoretischen Annahmen, Handlungsgesetzen oder (als adäquat vorausgesetzten) Handlungserklärungen („Gründe versus Ursachen“) ist vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen Problemeingrenzung sekundär, weil man ohnehin in einem im weitesten Sinn „naturalistischen“ oder „materialistischen“ und „szientistischen“ (Kapitel 7.1) Kontext voraussetzen kann, dass Handlungen, bei denen es sich zudem im Fall der Geschichtswissenschaften um körperliche Aktivitäten handeln muss, weil es sonst dazu keinerlei Quellen zu finden gibt, letztlich im Gehirn verursacht werden. Ich will mal darüber spekulieren, dass kein Geschichtswissenschaftler dies bezweifeln würde.237 Insofern ist die Frage, wo die spannende Frage ist, wenn die Frage nicht ist, ob es psychische Handlungsgesetzmäßigkeiten gibt und wie deren Verwendung genauer möglich ist, wobei man über die physiologischen Kausalprozesse ohnehin (noch) nichts oder nicht viel weiß und in den meisten sozial- und geschichtswissenschaftlichen Kontexten, außerhalb der social cognitive neuroscience, auch nichts wissen muss, zumal in konkreten Erklärungskontexten. Eine weitere philosophische und metaphysische Lösung zum Verhältnis von Leib und Seele (oder sogenannter mentaler „Downward Causation“) braucht man dann erst ganz am Ende oder aber, soweit 235

236

237

Dort hieß es (Chamoux/Dauphin 1969, 682; Hervorhebung dp): „comment et pourquoi les familles, à tel moment de l’histoire, en sont-elles arrivées à ne plus considérer la procréation comme leur fonction vitale et primordiale ?“ Spuren davon finden sich noch in den Ideologisierungen von handlungstheoretischen Fragen in den Sozialwissenschaften. Kritisch äußert sich Esser (2001, 307): „Daran war der Handlungsphilosophie immer schon sehr gelegen, und noch heute werden auch in der Soziologie alle Vorschläge begierig aufgenommen, die zu zeigen versuchen, daß es beim Handeln ‚kausale‘ Erklärungen gar nicht geben könne.“ Dennoch dürfte gelten: Im Instrumentalismus sind bezüglich Kausalität alle Katzen grau. (Zu den Anführungszeichen siehe 6.1.) Schon Dray (1963) hatte auf unklare Weise insinuiert, das Covering-Law-Modell (der Erklärung) stünde einer humanistisch orientierten Historiographie entgegen, was schlicht Unsinn ist, denn weder eine bestimmte Logik (der Erklärung) noch eine Kausalitätsmetaphysik haben ersichtich eine solche Konsequenz. By the way, schon Dray (1957) konfundierte ontologische, epistemische und logische Fragen, wenn er Covering-Law-Theoretikern (mit Collingwood im Rücken) unterstellte, deren Gesetzesaussagen beschrieben bloß Abfolgen von Beobachtbarem (die sog. Außenseite von „Ereignissen“), was dann Gesetzesaussagen ausschließt, die mentale Zusammenhänge beschreiben (die sog. Innenseite von „Ereignissen“). M. G. Murphey (2009, 59) formulierte: „As for motivating action being causal, the wonder is that anyone has ever denied it“. Eine andere Frage ist dann aber, welche Theorie etwas erklärt. M. Bunge (2010c, 224) schreibt im Rückgriff auf Wissenschaft, „from the point of view of cognitive neuroscience, reasons for acting are efficient causes“.

6.2 Handlungserklärung und Verstehen („Hermeneutik“)

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entsprechende Thesen nicht irgendwelchen Forschungslinien auch in den Neurokognitionswissenschaften im Weg stehen, überhaupt nicht, weil sie z. B. viel zu sehr mit den internen Problemen von Kausalitätsphilosophie belastet sind, worauf wir gleich kurz kommen (6.3). 238 Eine Annahme, die aber einen ontologischen Hintergrund haben könnte, ist die von Handlungsgeschichtsphilosophen wohl regelmäßig gemachte Unterstellung, dass Geschichtswissenschaftler (singuläre) Handlungen erklären wollen, was die Kehrseite eines ontologischen Individualismus (7.2) sein könnte, der ebenso begründungsbedürftig ist wie jede Form von „historischem“ oder, besser, sozialontologischem Realismus (Kapitel 7.1), den letztlich wohl beinahe alle Sozialwissenschaftler in irgendeiner Form vorauszusetzen scheinen. Falls man überhaupt an der These festhalten will, dass Geschichts- und Sozialwissenschaftler etwas erklären wollen, dann ist die erste Frage, was sie denn überhaupt erklären wollen, denn auch sie schreiben, wie beinahe alle anderen Sozialwissenschaftler, dass sie eigentlich keine individuellen Handlungen erklären wollen, sondern Soziales (z. B. Frings 2007b, 38, 2008, 142). Der Philosoph C. Jakob (2008, 137) schrieb: „Wenn Handlungserklärungen überhaupt eine angemessene Erklärungsform sind, dann eignen sie sich für die Erklärungen von Handlungen“, eigentlich auch bloß Entscheidungen und z. B. nicht für den Prozess zwischen Handlungsentscheidung und dem Erfolg oder Misserfolg eines Handlungsprozesses, über den sie nichts enthalten. Dass unterschwellig eine Form von ontologischem Individualismus mitschwingt, wird daran deutlich, dass in der Philosophie selten die Frage gestellt wird, die bei Geschichts- und Sozialwissenschaftlern immer primärer war, nämlich wie Handlungen auf der Basis von etwas „Externem“ erklärt werden können, inwiefern hier von „kausal“ zu nennenden Erklärungen gesprochen werden kann, und ob eine „Makro“-„Mikro“-Kausalrelation oder aber etwas anderes vorliegt. Der gesamte philosophische Critical Realism, der heute teilweise Social Realism genannt wird und Unmengen an Literatur hervorgebracht hat (Plenge 2014a), in Deutschland aber beinahe unbekannt geblieben ist, obwohl er in angelsächsischer Sozial(meta)theorie allgegenwärtig ist, handelt letztlich von dieser Problematik.239 Diese Fragen spielen interessanterweise auch in philosophischer Kausalitätsliteratur kaum eine Rolle. Da handlungstheoretische Annahmen jeglicher Herkunft über Soziales („Kontexte“, „Strukturen“, „Situationen“ „Prozesse“ etc.) nichts enthalten, kann mit ihnen diese Problematik genauso wenig angegangen werden wie in Gründe-versus-Ursachen-Ontologie. Wiederholt ist auch behauptet worden, dass man ohne Annahmen über Soziales gerade menschliches Handeln nicht (hinreichend) erklären und verstehen kann.240 Wenn man glaubt, dass Geschichts- und Sozialwissenschaftler in aller Regel an der Erklärung von Sozialem interessiert sind, dann verfehlt die Handlungsgeschichtsphilosophie die Gegenstände dieser Wissenschaften, d. h. mögliche Relata („Soziales“) und Relationen („Pro238

239 240

Ferner sehe ich nicht, wie man außerhalb eines neurobiowissenschaftlichen Rahmens Interessantes über reale Kausalzusammenhänge in diesem Bereich sagen kann. Muss man dazu nicht das relevante System (7.3.1) untersuchen und die wirkenden Komponenten benennen? Falls man das nicht glaubt, dann muss man Kausalität in „kausal“ genannte Handlungserklärungen letztlich auch über irgendein anderes metaphysisches Postulat hineinlegen, das die Wirkung des Mentalen auf das oder durch das Gehirn behauptet, was in jedem Fall zu kontroversen Thesen führt, mit denen sich diejenigen, die Handlungen im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaften erklären wollen, nicht gerade zwingend befassen müssen. Dasselbe gilt ähnlich auf der „Gründe“-Seite der Gründe-versus-Ursachen-Kontroverse, wenn es dort z. B. in Collingwoodscher Manier heißt, Handlundlungen würden einen Gedanken „ausdrücken“ („express“) oder ähnlich (z. B. Dray 1993, 49; Mahajan 2011). Der Critical Realism hat sogar eine Schule in den Wirtschaftsgeschichtswissenschaften inspiriert; siehe Walter 2006, 25 ff. Statt vieler Bunge (1985b, 30): „La actividad económica y, en general, la conducta social, es ininteligible cuando se la considera separadamente del sistema en que ocurre dicha actividad; …“

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

zesse“, „Strukturen“, „Makrodetermination“ etc.). Auf diesen Punkt, an dem es sich lohnt, nach Relata und Relationen zu fragen, kommen wir gleich kurz und später erneut zurück. Wie dem auch sei, auch bezogen auf alle diese alten Fragen gibt es mehrere Gründe dafür, warum eindeutige Thesen schwierig sind.

6.3

Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“) Verwirrende und frustrierende Kontroversen können ihre Ursache darin haben, dass unterschiedliche scharfe Varianten eines vagen Begriffs im Umlauf sind. Da verschiedene Präzisierungen desselben vagen Begriffs entsprechende Mehrdeutigkeit erzeugen, können sie zu „Aneinandervorbeireden“ führen, besonders wenn die fraglichen Präzisierungen nicht explizit ausgesprochen, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden (Brun/Hirsch Hadorn 2014, 134).

Obwohl in neuerer Wissenschaftstheorie die Auffassung sich durchzusetzen scheint, in Wissenschaften hätten Erklärungen etwas mit Beschreibungen von Ursachen und Wirkungen zu tun, ist auch dies keine Position, die in der Geschichtsphilosophie oder den Sozialwissenschaften und ihrer Metatheorie ohne Weiteres konsensfähig ist. Natürlich wird sie immer wieder generisch formuliert: Der Begriff ‚Erklärung‘ hat in den Wissenschaften einen klaren Inhalt: Im Kern bedeutet er die Angabe von Ursachen für das Auftreten von bestimmten Phänomenen. Man könnte auch sagen, Wissenschaft beantwortet Warum-Fragen (Hill 2002, 15). Die Erklärung eines Phänomens bedeutet im Prinzip, das zu erklärende Phänomen als Folge bestimmter (kausaler) Ursachen zu erkennen (Esser 1996, 40). I argue that all explanation is causal. To explain a phenomenon (an Explanandum) is to cite an earlier phenomenon (the Explanans) that causes it (Elster 1983, 7). Social explanations must involve reference to the causes of actions, events, and processes, whatever else they may refer to (Lloyd 1986, 148). Ein Kausalitäts- und Wissenschaftsphilosoph schrieb ähnlich: „Isn’t it a platitude (…) that in order to explain something, you need to cite its causes?“ (Psillos 2002, 2). Ein Philosoph der Geschichte schrieb, unter der Hand schon die ersten Probleme einschleusend: „We explain a historical outcome when we identify the social causes, forces, and actions that brought it about, or made it more likely“ (Little 2010, 5). Die Probleme betreffen in ontologischer Hinsicht natürlich die Relata („historical outcome“, „social causes“, „forces“) und die Relation im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaften, denn diese scheinen auch im Vergleich der Auffassungen zu Kausalität und Kausalerklärung implizit oder explizit höchst unterschiedlich aufgefasst und explizit überraschend wenig thematisiert zu werden. Man könnte auch sagen, diese Relata sind eigentlich genauso unklar und letztlich unbekannt wie die Auffassung der „kausal“ genannten Relation innerhalb von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie kein Thema und innerhalb anderer Sozialwissenschaften und Sozial(meta)theorie kaum ein Thema ist. Innerhalb der Philosophie ist sie umstritten. Triviales gibt es hier wohl nicht und auch keine alltagsintuitiven Auffassungen über „kausal“ zu nennende Erklärungen. Viele frustrierende Kontroversen in diesem Kontext haben zwar vielleicht an sich keine Ursachen (wie Brun/Hirsch Hadorn oben nahelegen).

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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Fehlgezündete kausalistische und anti-kausalistische Initiativen könnten aber mit der Vielzahl von Kausalbegriffen zu tun haben, die gewöhnlich in unserem Kontext nicht geklärt wird. Die im vorigen Kapitel (4.2) vorgenommene Einschätzung, dass „kausale“ Erklärungen in den Geschichtswissenschaften nicht so sonderlich zentral zu sein scheinen, ist vor dem Hintergrund von Auffassungen über die Allgegenwärtigkeit von „kausalen“ Erklärungen seltsam. Gemäß der geschichtsmetaphilosophischen Politik, der wir uns nun mal verschrieben haben, müssen wir hier Folgendes direkt festhalten: Kausale Erklärungen, d. h. die explizite Formulierung und Umsetzung des Anspruchs, für dezidiert beschriebene Wirkungen die dezidiert beschriebenen Ursachen bzw. irgendwelche Ursachen zu finden, was auch immer „Ursache“ und „Wirkung“ hier heißen mag, sind in den Geschichtswissenschaften in der Breite tatsächlich eher selten, zumindest spricht viel dafür (4.2). Und wenn man noch voraussetzt, dass diese Ursache-Wirkungs-Beziehungen nicht einfach vom Himmel regnen und dem Geschichtswissenschaftler oder Geschichtsschreiber dann schlicht aus der Feder fließen („Erzählung“), sondern in expliziter Hypothesenbildung methodisch (und theoretisch) kontrolliert erhoben werden (müssen), dann steigt die Zahl derartiger „Kausalerklärungen“ nicht gerade weiter an. An dieser Stelle sollte ich vorsichtshalber wiederholen (Kapitel 4.2), dass mir auch in diesem Fall genauso wie im Fall von Covering-Law-Erklärungen und Handlungserklärungen „die Geschichte“ nicht bekannt ist, also die Geschichtswissenschaften in Breite und Tiefe. (Eine Teil-Einschränkung der These folgt am Ende dieses Kapitels.) Das ist zugegebenermaßen eine ebenso höchst seltsame Feststellung wie diejenige, dass Handlungen in der vermeintlichen Geisteswissenschaft par excellence nicht sonderlich häufig im Zentrum des Interesses stehen. Nicht nur in mancher neueren wissenschaftsphilosophischen Schule spielen Kausalität und Kausalerklärungen wieder eine große Rolle (Kapitel 4.2), obwohl früher auch dort für die Relevanz von Kausalität argumentiert werden musste, sondern es existieren scheinbar auch seit Jahrzehnten mehrere Common-Sense-Auffassungen von Geschichtsschreibung und der Rolle von Kausalität darin. Ein „‚Beispiel‘“ (Topolski 1983a) für historische und kausale Erklärungen lautete mal wie folgt: The causal statements characteristic of these disciplines „the law“ und „history“, dp are of the form ‚This man’s death on this date was caused by this blow“ (Hart/Honoré 1959, 9). Wäre dies nicht nur der Form nach, worauf hier angespielt wird, sondern auch dem Inhalt nach so, gäbe es wohl keinen Dissens und auch keine Streitigkeiten zwischen Kausalisten und Antikausalisten, die von J. G. Droysen aufwärts immer mal wieder im Kontext von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie zu vernehmen waren. Von Antikausalismus war verschiedentlich die Rede, obwohl genauso immer mal sporadisch, ohne Explikation der Kausalitätsvorstellungen und ohne Beispiele aus Forschung auch in der Geschichtstheorie behauptet worden ist, in „der Geschichte“ gehe es um Ursachen (z. B. Bernheim 1908, 164, 613 f., Carr 1962, Topolski 1983a, 830, Evans 1999, Howell/Prevenier 2004, 159 f., Frings 2007b, 2008). Ein Dictum von M. Bloch diente den Herausgebern der Lehrbuchreihe Geschichte kompakt (z. B. Müller 2006) gar als Geleitwort: „Ursachen dürfen in der Geschichtswissenschaft, wie sonst auch überall sonst, nicht postuliert werden. Man muß sie suchen“ (Bloch 2002 1949, 214). Die expliziten Kausalhypothesen bzw. Erklärungsversuche, die wir im Rahmen der Anatomie überhaupt gefunden haben, sehen auch nicht so aus wie in diesem Beispiel, wie bereits M. Mandelbaum (1977) kritisierte, oder sie sehen nur in wenigen Fällen, in denen aber auch kein sonderlicher Kausalerklärungsanspruch erhoben wird, sondern Vorgänge beschrieben werden, entfernt ähnlich aus (z. B. vielleicht „narrative“ Passagen bei Füssel 2006, Pressac

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

1994, Frings 2007a). Wir kommen unten auf diese Problematik zurück. In der Anatomie reden Stephenson (1988), Stone (2003), Kirby (1995) und Frings (2007a) neben Shepherd (1988) explizit von Ursachen und Wirkungen, aber in allen Fällen geht es um im Vergleich dieser Vorstellung seltsame Explananda, nämlich „Trends“ (Stephenson 1988, Stone 2003), „Eigenschaften“ von Gruppen (Kirby 1995), „die Geburt des Kapitalismus“ und ähnliches als Primafacie-Wirkungen (Topolski 1994a, 1979 1965), z. B. auch „soziale Revolutionen“ (Skocpol 1979).241 Der Form und dem Inhalt nach sind sie häufiger nicht singulär (siehe dazu auch 3.2). Auch manche Beispiele aus traditionellerer Historiographie sind gegebenenfalls anders und eventuell weniger ernst zu nehmen. Dass von „Ursachen“ und „Wirkungen“ hier und dort manchmal in geschichtswissenschaftlichen Kontexten auf genauso vage Weise geredet wird wie im Alltag außerhalb der Historischen Seminare, wird niemanden überraschen, ist aber eher uninteressant.242 Dass der Prophet der Kausalität nicht überall willkommen ist, ist aus der Tradition der Philosophie der Geschichte und der Sozialwissenschaften klar. Denn eine Form von Antikausalismus durchzieht die Philosophie der Geschichte seit einhundertfünfzig Jahren. Vielleicht ist Antikausalismus sogar ein prägendes Merkmal der Philosophie „der Geschichte“. Diese Tradition klingt auch noch in dessen Kritik von C. Lorenz durch: In erster Linie hat meine Analyse verdeutlicht, daß (einige) Historiker zwischen dem Beschreiben und Erklären unterscheiden und beim Erklären Ursachen benennen. Diese Tatsache macht die Leugnung des Kausalitätsproblems für die historische Forschung zu einer sinnlosen theoretischen Strategie (Lorenz 1997, 232; Hervorhebung dp). C. Lloyd (1986, 20, Hervorhebung dp) fragte bereits in Anspielung an Antinaturalismus und Antikausalismus innerhalb der Geschichtswissenschaften beziehungsweise der Sozialgeschichtswissenschaften, dabei die Alternativen andeutend: „Should social historians see their task as causal explanation or should they try to interpretively understand their object? Whatever decision is made, further problems arise“. Auch die mit Anti-Kausalismus häufig im Kontext von Geschichts- und Sozialphilosophie verbundene Trennung von demjenigen, was „Natur“ genannt wird und demjenigen, was „Geist“ oder „Geschichte“ genannt wird, ist wieder241

242

Bei Shepherd (1988) finden sich Verwendungen von Kausalbegrifflichkeiten, bei denen sich die Fragen stellen, ob es (a) nicht eigentlich um etwas anderes geht und (b) was im Sozialen eigentlich die Relata von Kausalrelationen sind (siehe auch unten). Zum Beispiel schreibt Shepherd (1988, 412, 413, 424): „China’s population quadrupled during the period from 1400 to 1900 (…). Over the same period cultivated acreage only tripled, causing a decline in per capita acreage. Labor-intensive agriculture (…) enabled China to sustain this tremendous population growth. The migration of labor adjusted imbalances in the distribution of land and labor, between regions as well as between families, and caused landlordism to increase.” „During the ‚vegetable revolution‘ of the 1950s and 1960s, the owners of previously unproductive dry land in the New Territories subdivided their land and let out small parcels to immigrant vegetable farmers. This caused a dramatic rise in tenancy.” „When tenants and laborers discovered better opportunities on frontiers, in depopulated regions, or in non-agricultural pursuits, their emigration caused a decline in rental and managerial landlordism.” „Some of the early historians of the war looked for single causes to explain it. For instance Rhodes wrote: ‚of the American Civil War it may safely be asserted that there was a single cause, slavery‘“ (McCullagh 1998, 206). „Manche Historiker wie Thomas Nipperdey betonen die unheilvolle Wirkung des Kulturkampfes auf die deutsche Geschichte“ (Kohl 2013, 28), so heißt es in einem Lehrbüchlein, das allerdings nur entfernt mit Wissenschaft zu tun hat. In einem anderen solchen heißt es (Wunderer 2012, 46), „die in den ersten Jahren der Republik zu Tage getretenen strukturellen Probleme blieben unverändert erhalten und wirksam“. In einem dritten heißt es (Kuhn 2012, 30): „Nach einer weit verbreiteten Meinung war der Aufstieg des Bürgertums die wichtigste Ursache für den Ausbruch der Französischen Revolution.“ Siehe auch die letzte Fußnote dieser Arbeit.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

301

holt beschrieben und kritisiert worden. Ein Weberianer formulierte dazu deutlich: „The critics of causal reasoning in history tend to forget that human affairs are thoroughly intertwined with natural processes“ (Ringer 1989, 161). Da wir z. B. ansatzweise die Forschungen von Stone (2003), Stephenson (1988), Atkins (1992) und Kirby (1995) zur Kenntnis genommen haben und ferner von den technologischen und anderen Scheußlichkeiten in Pressac (1994) Kenntnis haben, und es unzählige weitere Beispiele gibt, können wir nun sogar begründet behaupten, dass einige Geschichtswissenschaftler – wenn nicht beinahe alle (7.1) – das in der Metatheorie genauso sehen. Der letztere Fall sollte auch noch daran erinnern, dass Antikausalismus bei allen Unklarheiten um Kausalität im Kontext der Sozialwissenschaften gerade in den Geschichtswissenschaften nicht nur unglaubwürdig, sondern auch schnell absurd ideologisch ist. Man sieht aber auch im Zitat von Ringer bereits, dass es notwendig sein könnte, mindestens ontologische und methodologische Problematiken wie auch Fragen bezüglich der (heterogenen) Forschungspraxis in „der Geschichte“ zu unterscheiden, d. h. verschiedene Differenzierungen anzustreben. Denn während manche Autoren überall wie selbstverständlich und a priori dasjenige vermuten, was sie „kausale Erklärung“ oder „Ursache-Wirkungs-Beziehung“ nennen, glauben andere ebenso selbstverständlich und ebenso a priori, so etwas nirgends finden zu können: „Historical understanding is achieved by describing the past with the help of strong and vigorous Ns „narrative Substanzen“, dp, and not by the discovery of causal relationships“ (Ankersmit 1981, 163). Diejenigen Geschichtsphilosophen, die in jüngerer Zeit behaupten, „historische Erklärungen“ seien „kausal“, verteidigen wiederum offensichtlich eine Ontologie der Kausalität oder eine bestimmte Verwendung von Kausalvokabular, untersuchen aber keine (kausalen) Erklärungen der Geschichtswissenschaft und weisen auf diese Weise nach, dass in der Geschichtswissenschaft kausal erklärt wird oder überhaupt erklärt wird, vielleicht gar in der Breite (z. B. Jakob 2008, Gerber 2012; siehe zur weiteren Literaturlage Plenge 2014c und im Kontext 2014a). Murray G. Murphey (2009, 60), einer der profiliertesten analytischen Geschichtsphilosophen, behauptete in seiner erneut bahnbrechenden Monographie, nicht ansatzweise zu wissen, was Kausalität ist und ferner, dass nicht nur er allein, sondern niemand wisse, was Kausalität ist. Dennoch war er wie oben Lloyd davon überzeugt, dass Geschichtswissenschaftler kausal erklären, was immer sonst noch zu Erklärungen zu sagen sein könnte. Wie er Letzteres aber zu wissen beanspruchen kann, wenn er Ersteres glaubt und ferner nicht nachweist und mithin unter der Voraussetzung nicht nachweisen kann, dass geschichtswissenschaftliche Erklärungen kausale Erklärungen sind, sagte auch Murphey nicht. Die Verwunderung über die philosophische Lage (Plenge 2014b) lässt philosophische Debatten im Umfeld von Kausalität vielleicht viel eher interessant erscheinen als die erahnbare Geschichtswissenschaftspraxis. Murphey (2009, , 47) schrieb vor seinem Kapitel zu Kausalität und Erklärung, wer sich nicht für „philosophy of history“ interessiere, könne es überspringen. Neuerdings wird die von vielen als Binsenweisheit aufgefasste These, „historische Erklärungen“ seien „Kausalerklärungen“ nicht nur von Jakob (2008), Day (2009) und Little (2010) oder Gerber (2012) wieder aufgestellt und zu verteidigen versucht. Noch der Geschichtswissenschaftler A. Frings (2007a/b, 2008) wollte in einer auch praktischen Auseinandersetzung mit Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie nachweisen, dass „historische Erklärungen“ Kausalerklärungen sind, was wohl heißen muss, dass die obige Plattitüde auch innerhalb der Geschichtswissenschaft keineswegs selbstverständlich sein kann, also die These, dass „die Geschichte“ „kausal“ erklärt. Denn wenn das so wäre, müsste dies nicht im Rahmen einer

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

geschichtswissenschaftlichen Dissertation eigens thematisiert werden.243 Dass dem trotz unterschiedlicher Common Sense-Auffassung so ist, bestätigt Christopher Lloyd: „Some historians have been ambivalent about whether establishing causation is their aim; and furthermore there is a glaring lack of agreement about what the establishment of causation involves“ (Lloyd 1991, 192). Damit sind wir schon näher an die interessantere Problematik herangerückt. Lloyd hatte dann auch eine handliche Hypothese zur Plausibilisierung der Unklarheit parat: „This ambivalence and confusion springs ultimately from a lack of agreement among philosophers about the nature of causal explanation (…)“ (Lloyd 1991, 192). Auch hier ist klar, dass mehreres unklar zu sein scheint. Kurz gesagt ist völlig offensichtlich, dass es einfach falsch ist, dass „historische Theorien“ immer „kausale Theorien“ sind (Pape 2006), „historische Erklärungen“ „kausale“ Erklärungen sind (z. B. Murphey 2009) oder die Geschichte die „kausale“ „Geschichte“ von einem „Ereignis“ zurückverfolgt (z. B. Gerber 2012), wenn dies nicht definitorisch einfach festgelegt wird und damit eine Metaphysik der Kausalität oder „der Geschichte“ (2.1) sozusagen ad hoc methodologisiert wird. Um festzustellen, dass Geschichtswissenschaftler in diesem Sinn nicht immer kausal erklären, muss man sich nur an verschiedenen Strömungen in der Kulturgeschichtswissenschaft und auch der Sozialgeschichtswissenschaft bedienen. Die anderslautende generische Festlegung, dass die Geschichtswissenschaften mit Kausalität und kausaler Erklärung nichts zu schaffen haben, ist aber zunächst genauso willkürlich wie sie unklar ist, da „Kausalität“ prima facie ein ontologischer Begriff und „kausale Erklärung“ ein epistemisch-methodologischer Begriff ist, der eine epistemische Leistung beschreibt. Zumindest sind solche Festlegungen willkürlich, wenn man den Gegenstand unscheinbar und vage mit der Disziplin Geschichtswissenschaft festlegt und sich bemüht, herauszufinden, was dort tatsächlich passiert und zunächst zu schauen, was sich an geschichtswissenschaftlichen Erklärungen (2.1) vielleicht finden lässt, bevor man definiert, was man unter einer „historischen Erklärung“ verstehen möchte. Falls die These, dass geschichtswissenschaftliche Erklärungen nicht immer und vielleicht nicht signifikant kausale Erklärungen sind, falls es überhaupt viele Erklärungen gibt, auf diese Art zu stark formuliert ist, dann lässt sich zumindest sagen, dass eine andere Antwort von vornherein zur Trivialisierung aller möglichen Fragen und ihrer Antworten im Bereich der Kausalitätsproblematik in den Geschichts- und Sozialwissenschaften bzw. in Geschichts- und Sozial(meta)theorie führt (Kapitel 7). Denn hier ist offensichtlich alles bezogen auf die gleich skizzierte Kausalitätsproblematik völlig unklar. Falls es so sein sollte, dass doch jede „historische Theorie“ eine „kausale Theorie“ ist, dann wäre unter Umständen wieder unklar, ob bzw. warum sie eine „erklärende Theorie“ ist und inwiefern und inwieweit sie was genau erklärt oder auch gut erklärt, zumal häufiger gar nicht leicht zu sagen ist, worum es genau geht (Kapitel 3) in solchen Studien oder auch solchen kausalen Erklärungen. Trivialisierung droht z. B. auch, wenn es so gut wie nichts mehr gibt, was nicht als „Ursache“ bezeichnet werden kann, was auch zur Konsequenz haben könnte, dass Erklärung oder wissenschaftliche Erklärung als dasjenige, was manche „Kausalerklärung“ nennen, viel zu einfach wird: „In der Alltagssprache wie in der Philosophie wird das Wort ‚Ursache‘ in einem sehr weiten Sinn verwendet: So ziemlich alles, was irgendeinen Unterschied bedingt oder hervorruft, wird als Ursache bezeichnet“ (Bunge/Mahner 2004, 94). 243

Siehe auch Daniel (2002, 405) zur Kausalitätsskepsis in der Kulturgeschichte oder dem dortigen Befolgen der „Aufforderung, dem Ursachenglauben abzuschwören“. Dass metageschichtswissenschaftliche Fragen in Dissertationen (Frings 2007a) diskutiert werden (müssen), könnte man auch durchaus als Krisensymptom deuten.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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U5

U1 U3 Historisches Ereignis U2

Abbildung 20

U4

Schlangenmodell „historischer“ Kausalerklärung. Die Zeit verläuft von rechts nach links.

Wie das genauer gemeint ist, wird später anhand der Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ und später im Kontext von Geschichts- und Sozialwissenschaftsontologie am Schnittpunkt mit Soziologischer Theorie (Kapitel 7) erläutert. Denn dass Kausalität eine Funktion auch dort zukommt, wo prima facie weder erklärt noch kausal erklärt wird, ist offenkundig und Antikausalismus ist auch in dieser Hinsicht obsolet. Außerhalb von philosophischer Esoterik ist niemand strenger Antikausalist. Dennoch ist auch eher am Rande der neueren philosophischen Erklärungstheorie von Skeptizismus bezogen auf die Erklärungskraft von demjenigen, was manche „kausale Erklärung“ nennen, zu lesen: „Was ist der genaue Anteil am Erklären, den wir erhalten, wenn wir sagen, dass eine Ursache-Wirkungsbeziehung vorliegt? Das scheint mir nicht klar zu sein“ (Bartelborth 2007, 118; siehe auch 7.3.8, 7.4, 7.5). Auch vor dem Hintergrund von Trivialvorstellungen von Geschichte (ontisch) und Geschichte (epistemisch) ist das nachvollziehbar. Hinter der teilweise als truistisch angesehen These, Historiker würden und müssten kausal erklären, steht meines Erachtens häufiger in einer Form so etwas wie eine (naive) Metaphysik oder Alltagsmetaphysik „der Geschichte“ oder „des Sozialen“ und eine zumindest bezogen auf viele Bereiche der Geschichtswissenschaften recht naive Vorstellung von Geschichtswissenschaft. Wenn man das etwas transformiert, erhält man eine idealtypische geschichtsphilosophische Vorstellung über „historische Erklärung“ oder auch „historische“ Forschung (Abbildung 20). Wir nennen sie, in der Tradition von „Sanduhr-“ (Gay 1976) und „Baum“Modellen (Roberts 1996, Glennan 2010) das „Schlangenmodell“ historischer Erklärungen bzw. die Schlangenmetaphysik „der Geschichte“. Das zu lösende Problem für den Historiker ist im Schlangenmodell, ein sog. „historisches Ereignis“ (Krieg, Revolution oder die Tat eines Helden) zu erklären (vgl. für eine etwas andere Verballhornung solcher Ideen Mandelbaum 1967, 416 ff.). Und da unter Erklärungen das Auffinden von Ursachen (oder etwas, das jemand „Ursache“ nennt) verstanden wird, ist der Historiker angehalten, Ursachen zu suchen (oder etwas „Ursache“ zu nennen). Mit „dem Begriff“ der Geschichte und „dem Begriff“ der Kausalität ist dann verbunden, dass diese Ursachen zeitlich vor dem historischen Ereignis zu suchen sind. Die Kreise sind Reminiszenzen an Humes Billardkugeln. Geht man weit genug hinter U5 zurück bis Un, dann ist man beim Urknall angekommen. Manche Geschichtsphilosophen würden in diesem Erklärungsmodell sofort auch den „genuin narrativen Charakter“ der „Geschichte“ wiedererkennen, schließlich werden in manchen Vorstellungen von „Erzählungen“ oder „Geschichten“ doch vermeintlich annähernd solche Abfolgen beschrieben. Eine durchaus mögliche Erklärungsvariante wäre hier auch so etwas wie die Thesenmenge, die Reformation (U5) verursachte die Französische

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Revolution (U4) verursachte die Reichsgründung 1871 verursachte den Ersten Weltkrieg (U3) verursachte den Zweiten Weltkrieg (U2) verursachte den Bau der Berliner Mauer (U1) verursachte den Fall der Berliner Mauer („Historisches Ereignis“), wobei auch die Transitivität der „kausal“ genannten Relation unterstellt werden könnte, sodass U5 auch U1 verursacht. Zum Beispiel ist im Rahmen mancher Auslegung von kontrafaktischen Kausalitätsdefinitionen im Kontext der „Geschichte“ derartiges nicht nur möglich, sondern vielleicht auch vorgesehen. Auch hier bräuchte man neben der Plausibilisierung von solchen Kausalrelationen eine Vorstellung von den Relata der „kausal“ genannten Relation. Das kann aber doch vermutlich nicht die zielführende Idee sein, wenn es um geschichtswissenschaftliche Erklärung geht, denn außerhalb mancher philosophischer Ideengebäude dürfte so etwas als genauso absurd gelten wie das folgende, von A. Marwick abgelehnte „cause-and-effect-model“: „CAUSES → THE SIXTIES → CONSEQUENCES“ (Marwick 1998, 23). Schul- und andere Lehrbücher enthalten manchmal lose Listen oder nennen Haufen sogenannter „Ursachen“ oder „Gründe“ (vgl. z. B. Wolfrum/Arendes 2007 oder auch Wehler 2009). Worum geht es also grob im Kontext von philosophischen Fragen bezüglich Kausalität und Kausalerklärung? Diese Frage wird interessanterweise in der Philosophie der Geschichte eigentlich nicht gestellt. Aus meiner Sicht umfasst die Kausalitätsproblematik mindestens vier Probleme, die sich in vier Fragen ausdrücken lassen, die zusammen eine Problematik ergeben. Mario Bunge (2009b 1959, xxii) nannte zwei Probleme, nämlich, erstens, das ontologische Problem („what is causation“) und, zweitens, das methodologische Problem („what are the causation criteria“). Im Kern dieselbe Problembestimmung wurde in der Geschichtsphilosophie noch von Tucker (2009b) verwendet, obwohl er die ontologische Problematik ohne Umschweife als irrelevant verabschiedet, was alleine schon eine Trivialisierung von Fragen um kausale Erklärung ist. Denn dann hat die Rede von kausaler Erklärung offenbar keinerlei signifikanten Gehalt im Unterschied zu einer Rede, die auf das „kausal“ verzichtet. John L. Mackie (1980, 1 f.) sprach von drei Problemen, nämlich, drittens, von dem semantischen Problem, der Frage nach „unserem“ Begriff oder „dem“ Begriff („what does it mean?“, „what do we mean?“ oder „what do I mean?“ in meiner Formulierung). Dass die Unterscheidung sinnvoll sein kann, mag sich auch daran zeigen, dass Mackie selbst offenbar jeweils unterschiedliche Lösungen für diese drei Probleme hatte, eine „mechanistische“ für das ontologische Problem, eine kontrafaktische für die Semantik der kausalen Alltagssprache und eine Bedingungslehre im Rechtfertigungs- oder Kriterienkontext.244 Die Unterscheidung ist auch sinnvoll, da manche Philosophen offenbar das erste Problem für unlösbar halten und daher zum Beispiel bloß das dritte angehen, was dafür spricht, dass sie diese nicht für identische Probleme halten. Das heißt, sie äußern sich über Begriffsverwendungen, aber nicht dazu, was Kausalität ontisch ist. Andere könnten vielleicht glauben, das ontologische und das semantische Problem seien irgendwie dasselbe, was davon abhängen sollte, was unter „Semantik“ jeweils genauer verstanden wird. Das erste, ontologische Problem könnte beinahe dasselbe sein wie das dritte, semantische Problem für jene, die glauben, dass die Angabe von „Wahrheitsbedingungen“ für Aussagen mit vermutetem kausalen Gehalt schon etwas darüber enthält, was Kausalität ontisch ist. Diese Annahme scheint man nicht teilen zu müssen, da bezogen auf entsprechende Annahmen die Thesen im Raum stehen,

244

Ein weiteres Problem, das Philosophen zu Spekulationen eingeladen hat, ist: Wie haben wir diesen Begriff bzw. die Vorstellung von Kausalität erworben? Es scheint aus der Mode gekommen zu sein.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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dass philosophische „Kausalitätstheorien“ mit ontischen Kausalrelationen gar nichts zu tun haben.245 Eine wiederum andere Sicht könnte in häufiger zu findenden Kritik aufscheinen, dass Kausalität (ontisch) mit dessen Kriterium oder, vielleicht besser, Kriterien (z. B. Regularität, Manipulation/Intervention, kontrafaktische Abhängigkeit) verwechselt worden ist. Daher wurde immer mal etwas geschrieben wie „causation is not identical with any of the tests of it“ (Bunge 2009b 1959, 73). Das ist aus Kritikersicht eine Konfundierung der methodologischen (oder epistemologischen) Problematik mit der ontologischen Problematik. Diese Problematik scheint, wenn der Eindruck nicht täuscht, häufiger im Kontext statistischer „Kausal“Modelle in den Sozialwissenschaften aufzuscheinen, deren kausalen Gehalt in einem realistischen Sinn Kritiker aus anderen Lagern konsequent bestreiten. Ich füge dem noch das vierte Problem hinzu, das sich im Erklärungskontext stellt: Was ist überhaupt eine Kausalerklärung oder aber eine adäquate oder befriedigende Kausalerklärung in der jeweiligen Wissenschaft mit einer wie beschaffenen Gegenstandsdomäne? Die Frage wird von manchen Kausalisten auch im Erklärungsrahmen nicht gestellt, weil sie diese Frage durch eine Identifizierung von Kausalität und Erklärung wohl für wenig relevant halten, die vielleicht mit den angedeuteten reifizierenden oder metaphysischen Erklärungsvorstellungen zu tun haben (5.4). Die Komplexität der Kausalitätsproblematik führt aus meiner Sicht auch zu Schwierigkeiten, zentrale philosophische Thesen bei unterschiedlichen Autoren einzuordnen bzw. ihre Formulierungen zu interpretieren und richtig zuzuordnen. M. G. Murphey (2009), im Rahmen der Geschichtsphilosophie wohl der mit der Literatur am besten vertraute Autor, glaubt z. B., wie auch manche Dispositionalisten in der neueren Metaphysik, philosophische Kausalitätsauffassungen behandelten eigentlich bloß das methodologische Problem, obwohl es anders zu sein scheine. Ihm zufolge bestimmten philosophische Kausalitätsdefinitionen bloß Indikatoren für Kausalzusammenhänge, sagen aber nichts über Kausalzusammenhänge oder, anders gesagt, die Ontologie der Kausalität. In manchen Fällen ist dies ja auch recht offensichtlich (z. B. im neueren Interventionismus; Woodward 2003246). Der Geschichtsphilosoph Christopher B. McCullagh (1998, 172) schreibt zum Beispiel „To say that one event caused another also means that it brought its effect about“, womit er 245

246

Mumford (2009, 265) behauptet dies für alle philosophischen Auffassungen, mit Ausnahme des Dispositionalismus. Von den anderen „Strategien“ heißt es: „they have varying degrees of success in describing what is true when there is causation, they are not about the causation itself“. Von Regularitätstheorien der Kausalität heißt es auch immer wieder, diese seien keine Theorien der Kausalität, sondern Theorien der Verabschiedung von Kausalität (z. B. Vollmer 1988). Dasselbe wird von kontrafaktischen Theorien behauptet. Im Interventionismus heißt es grob, eine Ursache u für eine Wirkung w sei etwas, das man herausfindet, indem man mit einer (weiter definierten) Interventionsvariablen i (und im Fall der Sozialwissenschaften wie auch in den philosophischen Grundannahmen in dieser Vorstellung modellimmanent im Gedankenexperiment) eine Veränderung von u herbeiführt, wobei alternative Routen der Verursachung in der weiteren Festlegung der Interventionsvariablen ausgeschlossen werden. Über die Kausalrelation an sich, auch jene zwischen der Ursache u und einer Wirkung w, erfährt man also rein gar nichts. Allein deshalb handelt es sich überhaupt nicht um eine Ontologie der Kausalität oder von irgendetwas anderem (siehe auch Hüttemann 2013). Dass reale Interventionen und entsprechend produzierte Wirkungen bei gleichzeitigem Ausschluss alternativer Einflüsse ein guter, wenn nicht der beste Indikator für das Vorliegen von Kausalrelationen ist, dürfte eine These sein, die Experimentatoren in den (Natur-)Wissenschaften schon immer geteilt haben und was seit Claude Bernards Tagen bekannt sein dürfte (vgl. Bunge 2012b, 54). Bloß gibt es in den Sozialwissenschaften kaum Experimente im Speziellen (vgl. Bunge 1998a) und ferner ist Interventionswissen im Allgemeinen in den Sozialwissenschaften wohl eher nicht bekannt, so lange „Wissen“ hier einigermaßen streng definiert wird.

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weiten Teilen der Kausalitätsphilosophie zu widersprechen scheint (vgl. z. B. Hüttemann 2013), die davon ausgeht, dass Kausalität keine Hervorbringungsrelation ist. Die These muss aber nicht mit Kausalität in den Dingen oder „causation as it is in the world“ (Psillos 2002) zu tun haben.247 Eine solche These, wie sie McCullagh zuvor aufgestellt hat, ist noch immer mit der These vereinbar, dass es gar keine Kausalität „da draußen“ gibt und vielleicht auch gar keine Welt. Dass McCullagh (1998, 172 f.) eigentlich keine semantische These, sondern eine ontologische These im Visier hat, wird deutlich, wenn er direkt im Anschluss schreibt: „I will show that a cause is an event which triggers a disposition in something to produce a certain kind of effect, and thus sets in train a tendency for such an effect to occur.“ Die These ist natürlich bis zum Bersten aufgeladen mit Metaphysik in einer dispositionalistischen Variante, teilweise im entfernten Anschluss an den Critical Realism (Plenge 2014a). Dass diese These in irgendeiner Weise ausspricht, was es allgemein heißt, „zu sagen“ oder was „man meint“, wenn „man“ sagt, dass ein Gegenstand (im neutralen Sinn) einen anderen verursacht, wie es in der ersten Behauptung anklingt, ist eigentlich nicht ansatzweise einzusehen und ist auch im Rahmen anderer Kausalitätsdefinitionen kaum erkennbar, obwohl man meines Erachtens auch in Sozialwissenschafts- und Geschichtswissenschaftsphilosophie die eigene Metaphysik gerne in vermeintlich harmlosere Thesen über irgendwelche Redensarten gekleidet hat und zu kleiden versucht, wie z. B. auch Hempel und die früheren Regularitätsmetaphysiker, ohne diese Redensarten ansatzweise empirisch zu erheben. Es kann aber wiederum auch sein, dass „a ist Ursache von b genau dann, wenn gilt: …“ als reines methodologisches Kriterium dafür aufgefasst wird, wann eine Ursache-WirkungsBeziehung vorliegt oder wann man von diesem Vorliegen berechtigt zu wissen beanspruchen darf. Hierbei handelt es sich sozusagen um eine Art von philosophischer Indikatorhypothese. Das kann aber eben auch damit verbunden sein, dass irgendeine Ursache-WirkungsBeziehung zwischen irgendwelchen Gegenständen zwar vorliegt, die aber in der auf einen soziohistorischen Kontext übertragenen Indikatorhypothese, also der philosophischen Kausalitätsdefinition, überhaupt nicht genannt ist. Eine bessere Formulierung für dasjenige, was gemeint ist, wäre dann so etwas wie folgt: Wenn im konkreten Fall der Fall ist, was in der These „a ist Ursache von b genau dann, wenn …“ gefordert ist und ein entsprechender Satz als wahr gelten kann, dann liegt irgendeine Kausalrelation irgendwozwischen vor. Im Erklärungskontext kann das heißen, dass man selbst bei Erfüllung der Kriterien über die echten Ursachen noch gar nichts erfahren hat, wie z. B. vielleicht in Belief-Desire-Handlungserklärungen, in denen über neuronale Prozesse nichts zu vernehmen ist, bei denen vielleicht die eigentlichen Ursachen, das Wirken von Ursachen auf Wirkungen, zu vermuten sind, in soziologischen Variablenerklärungen wie „Bildung verursacht Einkommen“, in denen über interagierende Personen nichts erfahren wird, oder in interventionistischen Variablenerklärungen wie „age causes length, not the other way around“ (so ein bekannter Interventionist), in denen von biotischen Prozessen und mithin vielleicht echten Kausalrelationen überhaupt keine Rede ist, aber das Vorliegen von irgendwelchen kausalen Relationen zwischen irgendwelchen hier völlig unbekannten Relata vermutet werden darf, weil das jeweilige philosophische Kriterium als erfüllt oder der Indikator als gegeben aufgefasst wird. Dasselbe könnte oben im Fall der „kausalen“ Erklärungen von Skocpol und der Rekonstruktion von Durkheim durch Trusted gelten. Ein Beispiel für die Problematik könnte auch im Vorliegen einer „kont247

Solche Ambiguitäten finden sich häufig. Zum Beispiel schreibt Psillos, der zuvor klargemacht hat, dass Regularitätstheorien für ihn metaphysische Theorien sind: „Programmatically, RVC d. h. Regularity View of Causation, dp ties causation to the presence of regularities: to call a sequence of events c and e causal is to say that this sequence is part of (instantiates) a regularity, namely an invariable (and unconditional, according to Mill) succession between event-types C and E“ (Psillos 2009, 141). Man sollte hinzufügen: So reden Regularitätsmetaphysiker.

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rafaktischen Abhängigkeit“ zwischen dem Auftreten des Ersten Weltkrieges und dem Auftreten des Zweiten Weltkrieges zu finden sein, die für manche Philosophen dafür zu sprechen scheint, dass der Erste Weltkrieg sozusagen wortwörtlich den Zweiten Weltkrieg verursacht hat. Dass dasjenige, was eine Ursache-Wirkungs-Beziehung ontisch ist, genau das ist, was ein philosophisches Kriterium oder, besser, eines der vielen Kriterien für das Vorliegen einer Ursache-Wirkungs-Beziehung oder eine Semantik besagt, die einigen zufolge als rein stipulativ eingestuft werden, kann also schon bezweifelt werden. Und das könnte wieder heißen, dass man scheitern kann oder muss, wenn man bloß auf der Basis von philosophischen Kausalitätsdefinitionen echte Kausalrelationen oder auch echte Kausalerklärungen bestimmen oder im Rahmen einer Art Anwendungsprojekt zum Beispiel in Geschichtswissenschaften im Rahmen einer Mini-„Anatomie“ identifizieren will, wenn man nicht weitere Annahmen macht, die oft über den Gehalt der Definitionen zumindest in unserem Gegenstandsbereich weit hinausgehen, nämlich über ontologische oder sozialtheoretische Annahmen über die Gegenstände dieser Wissenschaften, die Relata der Kausalität, die „Systeme“ im jeweiligen Gegenstandsbereich und vermutlich vieles mehr (Kapitel 7). Wir haben schon gesehen, dass womöglich auf regularitätsmetaphysischer Basis „kausal“ genannte Zusammenhänge behauptet werden können, die außerhalb dieses Rahmens – und das heißt hier von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern selbst – abgelehnt werden, was auch genauso für alle anderen Kausalitätsvorstellungen zu gelten scheint. Obige recht offenkundig vorphilosophisch („intuitiv“) absurde Schlangenmetaphysik der Geschichte ist vor dem Hintergrund von kontrafaktischen Kausalitätsdefinitionen bei zugleich unklar bleibenden Kausalrelata („Ereignisse“), zumal soziohistorischer Art, und ausbleibender Anknüpfung an geschichts- und sozialtheoretische Traditionen durchaus denkbar. Obige Skocpol-Erklärung und die Durkheim-Hypothese ist als kausale Hypothese aufgefasst für viele Geschichts- und Sozialtheoretiker ebenso absurd, obwohl sie prima facie vor dem Hintergrund NeoMackieanischer Bedingungstheorien, in deren sozial- und geschichtsphilosophischen Varianten die sozialen und nicht-sozialen Relata ebenso wenig thematisiert werden (Plenge 2014c), denkbar und plausibel sind. Von statistischen Kausalitätsdefinitionen wird seit Jahrzehnten Ähnliches aus allen Sozialwissenschaften berichtet, wobei hier teilweise statistische Kausalmodelle die Verwendung von Kausalvokabular sogar teilweise monopolisiert haben, weshalb dann in anderen Schulen Kausalität oder zumindest kausale Rede komplett abgelehnt wird oder im Kontext von Erklärung wenig vorkommt. Manchmal gibt es dann Kapitel zum „kausalen Modellieren“ und ein weiteres zur (sozialwissenschaftlichen) Erklärung. Wenn man lange genug wühlt, auf Feinheiten verzichtet und sich nicht daran stört, dass eventuell eine oder jede Schule nur einen einzigen Autor bzw. einen einzigen Aufsatz oder gar bloß eine Fußnote beinhaltet, dann ergeben sich im Rahmen der Geschichtsphilosophie folgende Modelle oder Kausalitätstheorien oder -ontologien und damit verbundener Modelle kausaler Erklärung, denn in Modellen kausaler Erklärungen wird in aller Regel ein realistisches Kausalitätsverständnis vorausgesetzt. Die Frage ist dann: Welches denn und warum? Von Erklärungen wird im Ideal verlangt, dass sie echte Kausalrelationen beschreiben, genauso wie eigentlich in nomologischen Modellen gefordert wird, dass Gesetzesaussagen und entsprechende Erklärungsargumente echte Gesetzmäßigkeiten beschreiben. In beiden Fällen ist unklar, worum es sich dabei handelt, was auch zu unterschiedlichen Auffassungen über die Relevanz von „nomologischen“ und „kausalen“ Erklärungen in den Sozialwissenschaften beiträgt. Folgende Kausalitätsmodelle lassen sich aus der versprengten Literatur der Geschichtsphilosophie zusammensuchen:

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(I) Regularitätsmodelle Typ 1: „Naives“ Gesetzesmodell (Hempel 1942, 1965 und alle Hempelianer; siehe auch Hüttemann 2007); (II) Regularitätsmodelle Typ 2: (i) notwendige „Bedingungen“ oder hinreichende „Bedingungen“, (ii) INUS-„Bedingungen“ oder (iii) „Minimale Theorien“ (siehe Gallie 1959, Marc-Wogau 1962, Ringer 1989, Day 2009, Jakob 2008, Schnepf 2011; siehe auch den allgemein-philosophischen Überblick in Baumgartner/Graßhoff 2004 und Topolski 1976); (III) Kontrafaktische Kausalitätsmodelle (z. B. Gerber 2012, 2014, kritisch Reiss 2009, Bunzl 2004, Hassig 2001 und andere). (IV) Regularitätstheorie Typ 3: Statistische-Relevanz-Modelle (nur teilweise und cum grano salis McCullagh 1998; 2004, 35); (V) Regularitätsmodell bzw. kontrafaktisches Modell Typ 4: Interventionistische Modelle (Leuridan/Froeyman 2012); (VI) „Prozess“-Modell (Mandelbaum 1977); (VII) Powers- bzw. Dispositionen-Modelle (Lloyd 1986, 1993, McCullagh 1998, Little 2010); (VIII) Energie-Transferenz-Modelle (beiläufig Topolski 1976, 272, FN 5; Tilly 2002, XI f., 2005 6 f.) (IX) Kein-Kausalitätsmodell-der-Kausalität-Modell: Primitivismus (Tucker 2009b, Miller 1983) bezüglich Kausalität (ontisch) und „Kausalität“ (semantisch) und der damit verwandte „Evidentialismus“ (Tucker 2009b, methodologisch); (X) Ontischer, semantischer und methodologischer Eliminativismus oder AntiKausalismus.248 Man sieht leicht, dass man sogar im Rahmen der Geschichtsphilosophie vielleicht nicht viel entbehren muss im Vergleich zu den philosophischen Mutterdiskursen (Hüttemann 2013, Kutach 2014, Psillos 2002, Baumgartner/Graßhoff 2004, Jakob 2008, Swain 1989, Esfeld 2007, Wallace 1974). Denn wenn man einige Ergänzungen vornimmt, dann hat man eventuell beinahe das gesamte Spektrum beisammen, das allerdings für Nicht-Experten wohl unübersehbar ist: (XI) Regularitätstheorie Typ 5: Naturgesetzmodelle (vgl. Psillos 2002, 2009).249 Das letzte Modell hat mit dem Problem der Festlegung dessen, was als Naturgesetzmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit (6.1) gelten kann, zu tun. Es spielt aber in der (Philosophie der) Geschichtswissenschaft und der Sozialwissenschaft keine Rolle oder zumindest aus meiner Sicht 248 249

Latent zu finden von J. G. Droysen über M. Oakeshott bis G. Mahajan und vielen, die sich (zu einer Form von) „Hermeneutik“ bekennen. Je nach Naturgesetztheorie handelt es sich um Regularitätstheorien oder um etwas anderes.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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keine erkennbare Rolle. Dass dies letztlich niemand vertritt, liegt daran, dass niemand glaubt, etwas zu kennen, das den Namen „Naturgesetz“ im Sozialen verdienen könnte – jenseits einer pragmatischen Verwendung von „soziales Gesetz“ – und darüber hinaus zusätzlich noch regularitätsmetaphysische Ideen von Kausalität im Sozialen zu stützen vermag, also z. B. „soziale Kausalität“ im Sinne von Makro-Makro-Kausalität auf der Basis von sozialen Naturgesetzen, also strikten Sukzessionen von irgendwelchen sozialen Relata (siehe auch im Kontext 7.5). Primitivisten (IX) und Eliminativisten (X) weigern sich entweder zu sagen, was sie unter Kausalität verstehen (IX) oder sie lehnen die Verwendung von Kausalitätsvorstellungen in den Geschichtswissenschaften komplett ab (X), also auch realistisch aufgefasste kausale Erklärungen. Eine Untersuchung wäre wert, welches Kausalitätsmodell Eliminativisten im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaften eliminieren wollen. Aber auch diese „Geschichte“ ist noch nicht geschrieben. Der eigentlich nur von A. Tucker vertretene „Evidentialismus“ ist eine Form des Primitivismus und behauptet, dass ontologische und semantische Fragen irrelevant sind im Kontext einer (geschichts-)wissenschaftlichen Kausalitätsproblematik. Die einzige Frage ist dieser Auffassung zufolge, wie Wissenschaftler „Kausal“-Hypothesen rechtfertigen oder rechtfertigen sollen. Dabei muss dann aber offensichtlich offen bleiben, welche Hypothesen Kausalhypothesen sind und welche nicht. Oder es muss unterstellt werden, dass die jeweiligen (Geschichts-)Wissenschaftler das wissen, (Geschichts-)Philosophen darüber aber nicht nachdenken und dazu nichts sagen dürfen: „The relevant philosophic question is not ‚what are historiographic causal statements?‘ das ist das oder ein semantisches Projekt, dp but ‚how do historians justify causal statements?‘“ (Tucker 2009b, 107). Der Evidentialismus in dieser Form ist aber offensichtlich auch ein Primitivismus, der manchmal auch auf die These hinauszulaufen scheint, es sei genau das eine Ursache für eine Wirkung, was in einer Erklärung beschrieben wird. Bloß sollte in kausalistischen Erklärungstheorien im Anschluss an traditionelle Probleme mit Covering-Law-Erklärungsmodellen und der vermuteten Nicht-Existenz von strikten Regularitäten im Soziohistorischen eine Vorstellung von Kausalität zu explizieren helfen, was eine Erklärung in einem onto-methodologischen oder „objektiven“ Sinn (5.4) und nicht bloß in einem pragmatischen oder erotetischen Sinn ist – und nicht umgekehrt. Die Strategie ist legitim, weil sie Schwierigkeiten umgeht, nämlich ontologische. Sie ist aber auch wenig erhellend und läuft auf die These hinaus, dass Kausalität etwas Epistemisches ist und vom Denken von Forschern abhängt, also Kausalidealismus, was die wenigstens glauben, weil die meisten am Ende ontologische Realisten im Allgemeinen und bezogen auf Kausalität im Besonderen sind (7.1). Diese Variante läuft auch darauf hinaus, dass alle Fragen bezüglich kausaler Erklärungen eigentlich irrelevant werden und nutzlos sind. Auch das läuft auf eine Trivialisierung von Kausalitäts- und Kausalerklärungsproblematiken hinaus. Tuckers Primitivismus-Evidentialismus ist auch insofern legitim, als keine Kausalitätsvorstellung im Bereich von Geschichts- und Sozialwissenschaften einer Analyse von Kausalaussagen, Kausalerklärungen und Kausalerklärungsstrategien in diesen Wissenschaften entsprungen ist oder gar einem evaluativen Vergleich von unterschiedlichen Strategien. Bloß ist Tuckers Strategie praktisch auch mit dem Verzicht auf eine solche vergleichende Analyse von Praxis (und Metatheorie) verbunden, schießt sich also ins eigene Bein oder schleust bloß unkontrollierte Vorstellungen ein. Diese Unklarheiten sollten uns die Gelegenheit geben, aus der Bestimmung der allgemeinen philosophischen Kausalitätsproblematik heraus die genauere Problematik im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaftsphilosophie und ihrer anderen Metatheorien genauer einzugrenzen. Christopher Lloyd hat das Kernproblem aus geschichts- und sozialtheoretischer Perspektive auf den Punkt gebracht: „If a theorist begins with an explicit or tacit concept of

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

social reality it should greatly constrain what can then be said consistently about causation and change“ (Lloyd 1993, 154). Ein Problem ist recht offensichtlich, dass unterschiedliche Philosophen, Geschichts- und Sozialwissenschaftler mit unterschiedlichen Kausalitätsvorstellungen im Rücken völlig unterschiedliche „kausal“ genannte Relationen zu kennen glauben, weil sie mit anderen grundlegenden Vorstellungen über diese Relata starten und grundlegend unterschiedliche Auffassungen über die Relation, die sie „Kausalität“ nennen, diesen Relata hinzufügen. Eine „beste Praxis“, deren Analyse dazu dienen könnte, die Spreu bezüglich soziohistorischer Kausalität und Kausalerklärung recht simpel vom Weizen zu trennen, scheint es nicht zu geben oder Philosophen haben sie nicht gefunden. Auch Sozial(meta)theoretiker können sie seit mindestens 75 Jahren scheinbar kaum benennen und in Geschichtstheorie spielt die komplexe Kausalitätsproblematik überhaupt keine Rolle, soweit das hier bekannt ist (siehe Literaturverzeichnis). Strikter ontologischer Anti-Kausalismus und ein vager genereller Kausalismus sind nur die gröbsten Pole unter zahllosen ontologischen Optionen im Metatheoriefeld der Geschichtsund Sozialwissenschaften, die auch wiederum bisher nicht vergleichend untersucht worden sind, auch nicht mit einer Ausrichtung auf die Vielfalt der Wissenschaftspraxen in Geschichts- und Sozialwissenschaften, denen man einfach prima facie unterschiedliche ontologische Annahmen (und „philosophical choices", 2.2) zuschreiben kann. Lloyd formulierte dies ähnlich in Form von Fragen, was immer ein erster Schritt zur Klärung der Lage zu sein scheint. Wir finden hier zum größten Teil die obige allgemeine Kausalitätsproblematik auf den Kontext der soziohistorischen Wissenschaften übertragen: Q1 What sort of relationship is believed to exist between supposed cause and effect? Is it sequential, conditional, structural, or something else? (…) Q2 Is the causal structure of society completely different from that of natural systems and events or is there an underlying similarity? Q3 What is it that analyses of social causation have to explain – behaviour, culture, structure, structural change, or all of these? Q4 What are the causal relationships between human action, culture, structure, and social change? Is social structure perhaps epiphenomenal – the merely apparent but non-existent result of human thought and behavior. We must distinguish between general concepts of causality Ontologisches Problem and causal attribution Methodologisches Problem, on one hand, and theories Erkärungsproblematik of social causation Ontologie, on the other (Lloyd 1993, 159; Satz des Textes wurde verändert, dp). Q1 betrifft die allgemeine Ontologie der Kausalität. Q2 betrifft das Naturalismus/Antinaturalismus- oder Materialismus/Idealismus-Problem, das manche auch durch das vermeintliche Gegensatzpaar „Natur“ und „Geschichte“ ausdrückten. Q3 betrifft die sozialontologischen Probleme vor dem Hintergrund der Präsupposition, dass Soziales, manchmal auch „Historisches“ genannt, Gegenstand der Erklärung ist (oder sein soll) und Erklärungen kausale Erklärungen sind (oder sein sollen). Q4 betrifft die Problematik von Makro-Mikro-Kausalität und Mikro-Makro-Kausalität.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

Abbildung 21

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„The Transformational Model of Social Activity” (aus Bhaskar 1979, 46). Das Modell der Makro-Mikro-Makro-Verbindung impliziert Makro-Mikro-Kausalität durch soziale „causal powers“ oder „mechanisms“. Siehe dazu auch die Kapitel 7.4 und 7.5.

Was unterschieden ist, muss aber dann irgendwie verbunden werden, ansonsten lohnt der Aufwand nicht, d. h. z. B., eine allgemeine Kausalitätsontologie (Relation, Q1, Q2) müsste in eine Sozial- oder Geschichtsontologie eingebettet werden (Relata, Q3, Q4). Ein Problem mit den Kausalismen im erklärungsmetatheoretischen Rahmen im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaftsphilosophie ist aus meiner Sicht ganz einfach, dass dies nicht oder nur ganz selten geschieht. Und das hat einen ganz einfache Konsequenz: Die angenommen Relata der Kausalität bleiben auch insofern blass, als sie nicht geschichts- oder sozialontologisch spezifiziert werden. Die kausalistischen Philosophien aus der obigen Liste stellen zumeist eine These bzgl. Q1 auf und unterstellen schlicht, dass auf Q2 mit metaphysischer (oder bloß semantischer) Identität geantwortet werden muss. Q3 halten diese Philosophien wohl für nicht sonderlich relevant oder unproblematisch, denn dazu findet man gewöhnlicherweise nichts. Hier sind mehrere Relata Gegenstand der Problematik, je nachdem, was unter „sozialer Kausalität“ verstanden wird. Zur Auswahl stehen Makro-Ursachen von Mikro-Wirkungen, Mikro-Ursachen von Mikro-Wirkungen und Mikro-Ursachen von Makro-Wirkungen und Makro-Ursachen von Makro-Wirkungen. An dieser Stelle müsste die Thematik der Allgemeinen Metaphysik auf die Erklärungsgegenstände von Sozialwissenschaften übertragen werden. Ontologisch heißt dies, es müsste gesagt werden, was mit „Makro“ und „Mikro“ oder auch „Struktur“ und „Society“ gemeint ist und wie die entsprechenden Relationen vorzustellen sind, die in den berühmten McLennan-Bhaskar-Boudon-Archer-Coleman-Esser-Hedström-Badewannen (Bhaskar 1979 (Abbildung 21), Boudon 1980, Archer 1982, 1995 (Abbildung 22), Coleman 1994 (Abbildung 29), Esser 1996, Hedström 2008, Hedström/Ylikoski 2010 (Abbildung 34)) durch Pfeile angedeutet werden. Wenn auf eine spezifische Formulierung der Frage à la Q4 geantwortet wird, dass das Soziale – zumeist „social structure“ genannt – nicht existiere und ein Konstrukt ist (z. B. Harré 2009, 2002; Harré/Varela 1996), erübrigt sich für viele Soziologen und Geschichtswissenschaftler jede Antwort auf Q3 und die Antworten auf die Fragen Q2 und Q1 verlieren jedwede Relevanz, weil damit ihre Wissenschaften hinfällig zu werden scheinen (z. B. Greshoff 2011a), insoweit von diesen ein Bezug auf Kausalrelation gefordert wird. Dies ist selbst dann gegebenenfalls noch so, wenn jene „Strukturen“ genannten Gegenstände existieren sollten, aber nicht verursacht werden, weil deren „Entstehung“, „Transformation“ oder auch „Veränderung“ manchmal als genuiner Erklärungsgegenstand ausgerufen wird. Zum Beispiel sind für die meisten Sozialwissenschaftler Fragen aus dem Kontext der Gründe-versus-UrsachenMetaphysik schlicht irrelevant oder sekundär, weil ihre anvisierten Explananda aus ihrer Sicht dort weder ontologisch noch methodologisch vorkommen, weil man letztlich etwas Soziales ergründen oder gar erklären möchte (vgl. auch Frings 2007b, 2008) und nicht die „Emission einer singulären Handlung“ (Schmid 1979).

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Abbildung 22

„The morphgenetic sequence“ der realistischen Sozialtheorie von Margaret Archer (aus Archer 1995, 76). Die Ontologie impliziert Makro-Mikro-Makro-Verursachung. „Structure“ bezeichnet eine emergente „causal power“ oder etwas, das eine solche hat. vgl. auch bereits Archer 1982. Siehe dazu auch die Kapitel 7.4 und 7.5.

Dass eine Antwort auf Q1 auch methodologische Konsequenzen haben kann oder eindeutig hat, haben wir schon vermutet. Denn wenn Kausalität z. B. nichts ist als eine statistische Relation und auch bloß als solche aufgefasst wird, dann mag es so sein, dass die Suche nach Korrelationen zwischen Irgendwassen für Kausalerklärungen hinreicht. Wenn Kausalität (im Sozialen, Q2) etwas anderes ist, dann könnten andere Strategien nahe liegen. Die selbsternannten „Realisten“ im Unterschied zu den „Positivisten“ in der Metatheorie innerhalb der Sozialwissenschaften sehen das so, dass andere Strategien nahe liegen, weil sie andere allgemeine Kausalitätsontologien (Relation) mit wohl anderen Sozialontologien (Relata) vermählen. Ob Danermark im folgenden Zitat recht hat, hängt also auch von einer metaphysischen These (oder einfach der Verwendungsweise von Kausalvokabular) ab: The predominant methods of empiricist social science, the study of empirical regularities or co-variation between standardized variables, cannot offer opinions on anything but only empirical regularities and statistical correlations; they cannot answer questions regarding causes (Danermark 2002, 54). Die „Realisten“ glauben z. B., dass Kausalität ontisch mit der Produktion oder Hervorbringung der Wirkung zu tun hat, nicht bloß mit (statistischen) Regularitäten, kontrafaktischen Abhängigkeiten oder der „Bedingung“ einer Wirkung durch eine „Bedingung“, wobei sie diese Hervorbringung mit sogenannten „causal powers“ verbinden. Das ist dann mit der methodologischen Konsequenz verbunden, jene Entitäten („Dinge“, Bhaskar 1978a, 1979) zu untersuchen, die jene Kräfte („powers“) besitzen, die sie teilweise „agent“ oder „structure“ im Unterschied zu „event“ nennen, womit sie tendenziell auch allgemein-ontologisch einen anderen Typ von Relatum benennen.250 Das wirft bereits das ontologische Problem auf, welche „Dinge“ jene „causal powers“ besitzen, wobei die Kritischen Realisten zumeist auch insofern einen sozialen Realismus vertreten (Q3, Q4), als die Annahme nicht bloß ist, dass genuin Soziales existiert, sondern dass dasjenige, was sie zumeist „Strukturen“ nennen, auch zur Verursachung fähig ist, und zwar durch die „causal powers“, die jene „Strukturen“ genannten Gegenstände vermeintlich haben oder sind (Abbildung 22). 250

Auch hier, wie in mancher Geschichtstheorie, verwirrt das kategoriale Oppositionsverhältnis. Kritische Realisten haben sich ebenfalls seit den 70er Jahren „Ereignis“ sozusagen als Feindkategorie in Abgrenzung vom „Positivismus“ ausgesucht. Kritische Realisten favorisieren dann auch andere Relata der Kausalität, die letztlich (ebenso) unklar bleiben, z. B. Strukturen, „powers“, „emergente“ Eigenschaften.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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Zu den methodologischen Konsequenzen einer Metaphysik der Kausalität gehört also letztlich auch, was genau unter einer kausalen Erklärung verstanden wird. Wenn die Relata der Kausalität wie auch die Kausalrelation selbst höchst unterschiedlich aufgefasst werden, dann sehen die entsprechenden Modelle auch anders aus, z. B. handlungstheoretisch „mikrofundierte“ (Little 1998, Schmid 2006a) Modelle bei den einen, statistische Variablenmodelle bei den anderen oder „Geschichten“ („Erzählungen“) bei den dritten. Beispielsweise würden jene Realisten auch die obigen „Kausal“-Erklärungen von Skocpol und Durkheim in den Rekonstruktionen von Trusted und Manicas von vornherein aus ontologischen Gründen ablehnen, wie auch statistische „Kausal“-Modelle als Erklärungsmodelle, die nun von allen „Erklärenden Soziologen“ und „Analytischen Soziologen“ genauso abgelehnt werden wie sie qualitative oder „verstehende“ Sozialforscher schon immer abgelehnt haben. Während man auf der Basis von statistischen Kausalitätsvorstellungen methodologisch dazu gezwungen ist, nach Korrelationen zu suchen und klassische Humesche Regularitätsmetaphysik auch zum Vergleich von „typenähnlichen“ Fällen zwingt, deren Existenz im Soziohistorischen auch unterstellt werden muss, haben die kontrafaktischen Kausalitätsontologien wiederum gerade im Kontext der Geschichtswissenschaften zur Konsequenz, dass methodologisch Intuitionen über die Wahrheit kontrafaktischer Aussagen wie „Wäre x nicht der Fall gewesen, wäre y nicht der Fall gewesen“ ausreichen, um Kausalrelationen nachzuweisen. Damit sind wir schon beim vierten Aspekt der Kausalitätsproblematik angekommen. Selbst wenn klar wäre, was Kausalität ist, was potenzielle Relata in einer Domäne sind und wann eine Kausalhypothese wahr ist, und darüber hinaus klar ist, wie man das herausfindet, ist aber eigentlich die Frage noch offen, ob man eine Erklärung oder eine wissenschaftliche Erklärung in der jeweiligen Disziplin oder Forschungslinie hat, sobald man Ursachen für Wirkungen benennt. Ich nenne die Thesenmenge, in der dies anders gesehen wird, „naiver methodologischer Kausalismus“.251 Was behauptet ein (naiver) methodologischer Kausalist in der Erklärungstheorie im Umfeld der Geschichtswissenschaft idealtypisch? Vermutlich behauptet er so etwas wie Folgendes: (Naiver methodologischer Kausalismus) Eine Behauptung der Art „a erklärt b“ (oder „b weil a“) ist in Geschichtswissenschaften genau dann eine Erklärung, wenn gilt: a ist (eine) Ursache für b. Letzteres wiederum heißt dann ungefähr so etwas wie „die Aussage ‚a verursacht b‘ ist wahr“. Man sieht sofort, dass die (naive) Kausalismus-These einen gewissen Reiz hat, denn man muss jetzt eigentlich nur noch wissen, was „a verursacht b“ genauer heißt oder was eine Kausalbeziehung zwischen Ursache a und Wirkung b ist, und ex hypothesi ist dann klar, was eine (geschichtswissenschaftliche) Erklärung ist, und dass in konkreten Fällen, abgesehen von jedem Kontext, eine (geschichtswissenschaftliche) Erklärung vorliegt oder nicht vorliegt. Die 251

An dieser Stelle müssen wir noch kurz der Vollständigkeit halber festhalten, dass das Erklärungsideal und ggf. auch das Verstehensideal offenkundig in der kausalistischen Sektion der Literatur („Kausalismus“) in der Angabe von Ursachen des Explanandums besteht, wohingegen es in der Covering-Law-Sektion in der Bereitstellung von Explanans-Informationen bestand, welche (bloß) die Erwartbarkeit des Explanandums gewährleisten („Positivismus“). In der idealtypischen handlungsphilosophischen Sektion der Geschichtsphilosophie und auch mancher Philosophie der Sozialwissenschaften besteht das Ideal in der Angabe von „Gründen“, „Motiven“ oder „Intentionen“ für individuelle Handlungen („Hermeneutik“, „Interpretativismus“), wobei je nach weiteren ontologischen (Gründe versus Ursachen) und theoretischen Annahmen („nomologische“ Handlungstheorie) teilweise Überschneidungen mit den anderen Sektionen bestehen.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Erklärungstheorie passt dann auch auf einen halben Bierdeckel in Form einer der vielen Kausalitätsdefinitionen. Den ganzen Aufwand bis hierher, also Fragen zu Forschung, Erklärung und Verstehen (Kapitel 5) oder „Wissensdynamik“, der natürlich immer weitere Unklarheiten bringt, hätten wir uns einfach ersparen können. Dass das nicht so klar ist, wird daran deutlich, dass auch dies umstritten ist. Auch hier liegen Trivialisierungspotentiale. Das Problem ist gar nicht, dass man vor diesem Hintergrund schon relativ klar sagen können muss, was „a verursacht b“ heißt, was „a verursacht b“ z. B. im Soziohistorischen heißt, was die soziohistorischen Relata sind, was Kausalität ist und ferner sagen können muss, wo sie in der jeweiligen Domäne des Philosophen (z. B. den Geschichtswissenschaften) inwiefern eine Rolle spielt. Ein Kritiker des naiven methodologischen Kausalismus kann noch immer bezweifeln, dass der Satz „a ist Ursache von b“ eine Erklärung des Auftretens von b ist, beispielsweise weil es, so ist immer zu lesen (z. B. Kitcher/Immerwahr 2014), angeblich immer sofort so ungemein viele Ursachen für jene mit „b“ bezeichnete Wirkung gibt, aus denen dann eine Menge ausgewählt werden muss, die als erklärend gilt. Sloganhaft wurde das schön von C. Jakob zusammengefasst: „Nicht alle Ursachen erklären ihre Wirkung“ (Jakob 2008, 88). So besehen ist die obige Kausalismusthese falsch. Selbst wenn klar wäre, was Ursachen und Wirkungen sind und was Ursachen und Wirkungen ferner in den (Gegenständen der) Geschichts- und Sozialwissenschaften sind, ist klar, dass bloße Beschreibungen irgendwelcher Ursachen für viele Geschichts- und Sozialwissenschaftler sowie Metatheoretiker keine Erklärungen liefern, was dann mit weiteren, durchaus kontextuellen Annahmen zusammenhängen kann. Daniel Little (2010, 118) schrieb beispielsweise: „I will put it forward as a methodological maxim that a causal assertion is explanatory only if it identifies a causal process that recurs across a family of cases. … A true causal story is not always explanatory.“ Damit gelten gänzlich singuläre „historische“ Kausalhypothesen als non-explanatorisch, zumindest manchmal.252 Natürlich ist diese These und die Einforderung von irgendwie „regelmäßigen“ Zusammenhängen letztlich genauso ad hoc wie die These, die Angabe einer Ursache oder jede wahre Kausalbehauptung erkläre immer schon, weil Kausalität irgendwie inhärent sei, etwas zu erklären, soweit sie nicht weiter begründet wird, z. B. durch die These, dass man eigentlich nur durch generelle Zusammenhänge etwas versteht.253 Manchmal ist auch völlig Singuläres bereits kontextuell explanatorisch, wofür wir nun leicht Beispiele aus der Geschichtswissenschaft bieten könnten, in denen man manchmal aus banalen forschungspraktischen Gründen („Quellenlage“ oder/und auch Theoriearmut) über nichts anderes verfügt (siehe fiktive „Beispiele“ in Tucker 2004b).254 Anders gesagt, wird in der naiv-kausalistischen Übertragung von „a verursacht b“ (Ontologie) in „b weil a“ (Methodologie) der Erklärungszusammenhang letztlich stipulativ einge252

253

254

Hier ist ein Punkt, an dem die Schurzsche Mahnung einschlägig ist, dass klar sein muss, ob das Finden oder Haben einer Erklärung im Fokus steht und ferner, ob der Forscher und dessen Wissenssystem als maßgebend gilt oder das irgendeines Rezipienten; siehe Kapitel 5.4. Eventuell können Vereinheitlichungsideen im Kontext von Erklärung und Verstehen dazu herangezogen werden (z. B. Weber et al. 2013, Schurz 2006). Sie spielen jedoch in der Metatheorie der Geschichts- und Sozialwissenschaften bisher keine Rolle, was seinen Grund darin haben könnte, dass es entsprechende Hypothesen oder Theorien in diesen Wissenschaften nicht gibt. Früher wurde das Problem, dass manche Erklärungen völlig singulär sind, dadurch gelöst, dass man dortige Annahmen (in der philosophischen Analyse) durch Umformulierung mit einem „Immer wenn … dann“ ad hoc universalisierte, was darüber hinwegtäuschen musste, dass die allgemeinen Aussagen dann falsch sind, wohingegen man zuvor vielleicht begründet glauben konnte, die singulären Aussagen seien wahr oder zumindest besser gerechtfertigt als die generellen (und die Frage offen ließ oder spekulativ und dogmatisch beantwortete, ob die hineininterpretierte generelle Aussage dem Historiker bekannt war und in der Erklärung eine Rolle spielte); siehe Goldstein 1996, 1976; Tucker 2004a.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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führt und damit Metaphysik in einen methodologischen Kontext sozusagen überführt, was in einem Bereich wie unserem gerade dann auffallen muss, wenn es keinerlei signifikanten Konsens im Kontext von Kausalität und Kausalerklärung gibt. Es könnten ja auch andere Relationen eine Rolle spielen, wenn unser geborgtes und eventuell leicht uminterpretiertes Forschungsprogramm zu Verstehen in eine richtige Richtung zeigt. Eine solche Pluralität von Verstehen ermöglichenden Relationen ist aber in Kausalismen nicht vorgesehen, was so lange nicht ins Gewicht fällt, als neben letztlich im soziohistorischen Kontext unanalysierten Relata der Kausalrelationen (zumeist „Ereignisse“) keinerlei weitere Kategorien das Mobiliar der Welt bilden, sodass andere Relationen wenigstens in Betracht kommen können (8.1). Für Kausalisten ist der Zusammenhang von Kausalität oder vermutlich wahren Kausalaussagen und einem dadurch gestifteten Erklärungszusammenhang so selbstverständlich richtig, dass dieser Zusammenhang gar nicht explizit hergestellt werden muss. Andere Autoren unterscheiden plausiblerweise wahre Kausalaussagen von Erklärungen, indem sie weitere kontextuelle Desiderate einführen, deren Erfüllung eine wahre Kausalaussage erst zu einer Erklärung macht, wie Wissenszugewinn, Manipulation (Jakob 2008) oder auch Verstehen. Zum Beispiel kann ganz einfach gefordert werden, in Erklärungen müssten Ursachen angegeben oder gefunden werden, die man noch nicht kannte (ein dynamischer Erklärungsbegriff, Kapitel 5.4), oder es kann gefordert werden, es müssten bestimmte Typen von Modellen, Erzählungen oder Theorien geliefert werden (z. B. „mikrofundierte“), weil man nur auf bestimmten „Ebenen“ oder durch bestimmte Typen von „Entitäten“ Verursachungen erwartet. Ein idealtypischer naiver methodologischer Kausalist verwechselt daher epistemische Leistungen wie Erklärungen mit ontologischen Kategorien wie Kausalität, denn im Geschichtswissenschaftskontext wie in anderen Wissenschaften – so haben wir vermutet – sind Erklärungen und Kausalerklärungen nur insofern interessant, als sie vor dem Hintergrund von Forschungstraditionen entsprungene (wissenschaftliche) Probleme auf der Basis von als signifikant erachteten Hypothesen zu lösen versprechen (Kapitel 5.1), womit individuelle Forscher vermutlich anstreben, etwas besser zu verstehen als zuvor. Daher ist ein naiver methodologischer Kausalismus genau dann insignifikant, falsch oder irrelevant, wenn man mit geschichtswissenschaftlichen Disziplinen (Kapitel 2.1) geschichtswissenschaftliche Forschungsprozesse in den Blick zu nehmen versucht. Denn zum Beispiel ist zumindest in Jakobs (2008) (Regularitäts-)Metaphysik der Kausalität der Urknall eine Ursache für jedes beliebige folgende konkrete Vorkommnis („Ereignis“, „Zustand“), z. B. auch für mein Schreiben dieses Satzes. Nur hängt es nach Jakob vom Kontext und der Erfüllung anderer Kriterien ab, ob eine im Rahmen der vorausgesetzten Kausalitätsmetaphysik wahre Kausalaussage wie „Der Urknall verursachte das 3:1 durch Lars Ricken am 28. Mai 1997 im Olympiastadion“ eine gute oder gar eine ideale Erklärung ist, die man beispielsweise am Tag darauf in der Zeitung druckt. Man wird stipulieren dürfen, dass z. B. Stephenson (1988) und Stone (2003) im Rahmen ihrer Forschungsinteressen genauso die – im Rahmen bestimmter Vorstellungen – wahre Kausalaussage à la „Der Urknall verursache das Fellwachstum der mittelalterlichen Schafe am 5. Oktober 1496, am 7. März 1512, am 29. Oktober 1537 usw.“ als Erklärung kaum akzeptieren würden, vielleicht auch, weil sie nicht glauben, dadurch etwas besser verstanden zu haben. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich in Jakobs Terminologie um eine wahre Kausalaussage, aber eben keine Erklärung. In all diesen Fällen ist das Vorliegen von wahren Kausalhypothesen nicht hinreichend für das Vorliegen von Erklärungen. Wir können hier annehmen, dass jene Kausalaussagen, wie auch immer es sich bezogen auf ihren kausalen Gehalt verhalten mag, weder die Probleme jener Wissenschaftler lösen noch zum (geschichtswissenschaftlichen) Verstehen beitragen.255 255

Auch hier sieht man, dass es nicht so trivial ist, Verstehen in Kapitel 5 zum Ziel von Forschung auszurufen.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Das Mehr, das eine Erklärung erfüllen soll, kann umfassen, dass die Kausalhypothese eine spezifische Frage beantworten soll, die Ausdruck eines definitiven Problems ist, das sich im Überzeugungssystem eines Forschers sozusagen findet. Zum Beispiel eine kontrastive Frage, wie im Fall von Topolski (Kapitel 3.1.5) durchscheint. Denn der Urknall erklärt intuitiv zumindest auch nicht, warum im Westen Europas kapitalistische Wirtschaftssysteme entstanden, im Osten aber eine Gutswirtschaft auf der Basis von Sklavenarbeit, da der Urknall ja – auf der Basis dieser Kausalitätsmetaphysik – Letzteres genauso verursacht hat wie Ersteres. Dann hängt es von der Konzipierung des Problems ab, wann etwas eine (kausale) Erklärung ist (erotetischer Erklärungsbegriff, Kapitel 5.4). Und wie das Problem weiter formuliert ist, hängt von vielerlei Annahmen im Rahmen von Topolskis Ansatz in Abgrenzung zu anderen Alternativmodellen ab, z. B. von seinem Marxianisch inspirierten „Activist Concept of the Historical Process“ (Topolski 2009), das allerdings, wie wir gesehen haben, zu gewissen ontologischen Paradoxien im Rahmen von Topolskis Philosophie und Forschung führt. Naiver methodologischer Kausalismus ist also selbst dann nicht so eindeutig richtig, wenn man voraussetzt, was nicht vorauszusetzen ist, nämlich eine klare und geteilte Antwort auf die anderen drei zuvor skizzierten Fragen, welche die komplexe Kausalitätsproblematik ausdrücken. Der Geschichtsphilosoph C. McCullagh (1998) würde beispielsweise vor dem Hintergrund seiner dispositionalistischen Metaphysik der Kausalität die obigen Kausalerklärungen durch den Verweis auf den Urknall nicht nur aus kontextuellen Gründen ablehnen, sondern weil für ihn der Urknall keine Ursache des Jahrhunderttors durch Lars Ricken gewesen ist, da ihm zufolge eine Ursache ein Ereignis ist, das eine Disposition oder causal power triggert. Der Urknall triggerte aber wohl kaum Rickens Disposition zu einem satten Lupfer. Die oben skizzierte Kausalismusthese beantwortet unter der Voraussetzung dessen, was nicht vorauszusetzen ist, also überhaupt nur, was minimal eine Kausalerklärung ist, aber nicht, was eine gute Kausalerklärung in zum Beispiel der Frühchristlichen Archäologie oder der Makrosoziologie und/oder der Historischen Soziologie ist. Andere Geschichts- und Sozialwissenschaftler würden wiederum kausale „Geschichten“ (2.1) von vornherein nicht als (wissenschaftliche) Erklärungen zulassen, sondern bloß solche, die theorieorientiert formuliert sind, was eine Vorstellung davon voraussetzt, welche Theorien über welche Gegenstände in den Geschichts- und Sozialwissenschaften zur Verfügung stehen (siehe auch 7.5). Wir können an dieser Stelle darauf nicht genauer eingehen, zumal viel fraglich ist, sondern wir können die Problematik nur grob umreißen. Aus meiner Sicht ist die philosophische Lage bezüglich Kausalität im Hinblick auf eine mögliche „Anwendung“ philosophischer Vorstellungen auf Geschichts- und Sozialwissenschaften aus mehreren Gründen gänzlich unbefriedigend und nicht ansatzweise dazu geeignet, ein irgendwie klares Verständnis von „kausal“ zu nennenden Erklärungen dort zu begründen (siehe auch 7.3.8, 7.4, 7.5). Erstens ist die Vielfalt philosophischer Kausalitätstheorien so groß, dass Außenstehenden nicht offensichtlich sein kann, dass diese unterschiedlichen Kausalitätstheorien ein und dieselbe (ontische) Relation rekonstruieren. Es ist nicht klar, ob und wie diese Auffassungen begründet sind, gerade auch im Hinblick auf Geschichts- und Sozialwissenschaften. Ferner scheint unklar, was überhaupt die „Theorie“ ist in philosophischer Kausalitätstheorie, welche Probleme aus der obigen groben Aufdröselung der Problematik gelöst werden sollen. Zweitens springt aus unserer Perspektive in die Augen, dass zumindest mir außerhalb des „Social Realism“ oder „Critical Realism“ in der Tradition von R. Bhaskar (z. B. 1978, 1979) keine signifikante Literatur bekannt ist, in der problematisiert wird, was die Relata in soziohistorischen Kausalrelationen sind oder sein könnten, dass also die Frage gestellt wird, die in Soziologischer Theorie und teilweise, jedoch ohne expliziten Kausalitätsbezug, in Geschichtstheorie relevant ist, zum Beispiel im Rahmen der Fragen nach dem „Verhältnis“ oder dem „Einfluss“ von Struktur und Handlung. Ferner ist die Literatur dazu äußerst verstreut.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

317

Philosophische Kausalitätsdefinitionen sind daher auf soziohistorische Kontexte strikt besehen ganz einfach allein deshalb nicht anwendbar, weil die Relata kategorial vielfältig und in aller Regel sozial- oder geschichtsontologisch unbestimmt sind. Wenn es z. B. in klassischen Regularitätstheorien heißt256, ein Ereignis a sei Ursache von b, wenn Ereignisse vom Typ B immer (strikt) auf Ereignisse vom Typ A folgen, dann kann man damit im Soziohistorischen so lange nichts anfangen, wie man nicht weiß, was mit „Ereignis“ und „Typ von Ereignis“ hier gemeint ist. Eigentlich kann man dann auch kaum wissen, ob stimmt, was seit mindestens einem halben Jahrhundert beinahe alle in unserem Kontext behaupten, dass niemand solche Regularitäten zu kennen glaubt. Wenn die Relata als „Ereignisse“ bezeichnet werden, ist auch in anderen kausalitätstheoretischen Kontexten selten zu erfahren, was damit im Allgemeinen gemeint ist (Gerber 2012, Jakob 2008, Day 2008), und es ist noch weniger klar, was unter einem „historisch“ oder „sozial“ zu nennenden Ereignis zu verstehen ist (z. B. auch Hempel 1965, 1972), weil das nicht problematisiert wird. Es ist auch schwer zu erfahren, was ein „Typ“ von Ereignis sein soll, z. B. im Fall von so etwas wie Skocpols „Sozialen Revolutionen“. Regularitätsmetaphysiker der Kausalität benötigen klare Typen von historischen oder sozialen Ereignissen, um an die Existenz der für Kausalität „konstitutiven“ Regularitäten oder Gesetzmäßigkeiten zwischen Typen von Ereignissen glauben zu dürfen (z. B. Psillos 2009). Der Typ Ereignis soziale Revolution gilt dann auch als transhistorisch gleich, was das Vorliegen von Kausalität in diesem metaphysischen Rahmen ja erst ermöglicht. D. Little (2010) glaubt, vermutlich im Einklang mit vielen Geschichtswissenschaftlern, nicht an solche transhistorischen Typen von „historischen“ Ereignissen. Man müsste jetzt natürlich eigentlich alle Kausalitätstheorien im Allgemeinen und ihre aus meiner Sicht nicht existenten sozialontologischen Spezifikationen durchgehen, was hier nicht möglich ist. In Bedingungstheorien oder Neo-Mackieanismus257 bleibt unklar, was 256

(Naive Regularitätsanalyse der Kausalität) „Ein Ereignis u ist die Ursache eines Ereignisses w genau dann, wenn gilt: (i) u und w sind aktuale Ereignisse, d. h. solche, die tatsächlich vorliegen, (ii) u und w sind raumzeitlich benachbart, (iii) u geht w zeitlich voran, (iv) auf alle Ereignisse des Typs U (also Ereignisse, die u (hinreichend) ähnlich sind) folgen regelmäßig (d. h. ausnahmslos) Ereignisse des Typs W (also Ereignisse, die w (hinreichend) ähnlich sind (Hüttemann 2013, 67; Swain 1989). Das „d. h. ausnahmslos“ muss man mit „!!!“ versehen. Die (non-naive) Variante verlangt nicht nur ausnahmslose Regelmäßigkeit (oder die Wahrheit eines All-Satzes), sondern Naturgesetzmäßigkeit, z. B. wie folgt: (Nomologische Analyse der Kausalität)

257

Where c and e are specific events that occurred, c is a cause of e if and only if: (i) e does not occur after e; and (ii) from a statement of the laws of nature, L, the antecedent conditions, a, and the occurrence of c, it can be deduced that e occurs; but this cannot be deduced from any proper subset of (L, a, c) alone. (Swain 1989, 200) Das Kürzel „INUS“ steht für „insufficient but non-redundant part of an unnessesary but sufficient condition“. Ein Originalzitat kann auch hier nicht schaden: „Then in the case described above the complex formula ‚ABC or DGH or JKL)‘ represents a condition which is both necessary and sufficient for P: each conjunction, such as ‚ABC‘, represents a condition which is sufficient but not necessary for P. Besides, ABC is a minimal sufficient condition: none of its conjuncts is redundant: no part of it, such as AB, is itself sufficient for P. But each single factor, such as A, is neither a necessary nor a sufficient condition for P. Yet it is

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

überhaupt die soziohistorischen „Bedingungen“ ontologisch sein sollen, deren Cluster per metaphysischer These komplexe hinreichende „Bedingungen“ bilden sollen und als solche etwas verursachen (z. B. Jakob 2008, Day 2009). Diese „Bedingungen“ – Mackie (1980) sprach auch von „Ereignissen“ und „Situationen“ – sollen aber im jüngeren NeoMackieanismus durchaus transindividueller oder sozialer Art sein können. Soziale „Bedingungen“ können wohl auch auf Transindividuelles oder Soziales sozusagen direkt wirken (Makro → Makro). Hier hat man letztlich dasselbe Problem wie bereits im Anschluss an Hempels Functions (1942; vgl. 1965, 348), wo bereits von „C1 ….Cn“ die Rede war, wobei im Rahmen von Mackie-Kausalität gilt, dass diese Cs oder Bedingungen ontisch unabhängig voneinander sind, aber dennoch sozusagen gemeinsam die Wirkung folgen lassen (aber nicht hervorbringen). D. h., das Wirkungs-„Ereignis“ oder die Wirkungs-„Situation“ poppt ex hypothesi auf, wenn die zusammen hinreichenden, wenn auch vielleicht nicht notwendigen Bedingungen unabhängig voneinander vorliegen. Die Kausalrelation besteht auch hier in nichts als der (vermuteten) regelmäßigen Abfolge beim Vorliegen typengleicher und in der Gesamtheit hinreichender Cluster von „Bedingungen“, „Ereignissen“ oder „Situationen“. Im Soziohistorischen stellt sich gerade wegen des Fehlens irgendwelcher Beispiele die ontologische Frage, wie so etwas denkbar ist, wobei Skocpols (1979) von Sozial(meta)theoretikern wiederholt kritisiertes Beispiel zur Illustration des Problems recht gut geeignet wäre. Hier ist Kausalität prima facie auch ohne dasjenige möglich, was individualistische Sozialtheoretiker „Akteure“ nennen, ohne dass aber diskutiert wird, worum es sich bei den „Bedingungen“, „Faktoren“ oder „Ereignissen“, die als sozial vorgestellt werden, überhaupt handelt. Kausalerklärung ist entsprechend möglich, ohne dass etwas über Akteure gesagt werden muss. Auch in jenem sozialen Realismus (Critical Realism), der nur einer unter mehreren Realismen ist (Kapitel 7), ist nicht leicht zu klären (Plenge 2014a), wie der kategoriale Rahmen der ontologischen Vorstellungen im Umfeld der Kausalitätsproblematik genauer aussieht, der auch hinter der Rede von „mechanistischen“ Erklärungen als Verstehensideal (z. B. Manicas 2006) und genuiner Form „wissenschaftlicher Erklärung“ (z. B. Benton 1977, Benton/Craib 2001, Outhwaite 1987a, Sayer 2000, 2010, Danermark et al. 2002, Blaikie 2007, Archer et al. 1998) im Unterschied zu Covering-„Law“-Erklärungen steht. So heißt es verschiedentlich in dieser Tradition wie folgt: Science is the mode of enquiry that concentrates on the uncovering of causal mechanisms (Lloyd 1986, 21, vgl. Harré 1970, 1972, Bhaskar 1978a, 1979). The explanation of social phenomena by revealing the causal mechanisms which produce them is the fundamental task of research (Danermark et al. 2002, 1). Das Erklärungs- und Verstehensideal besteht in dieser Schule also einerseits in der Beschreibung dessen, was zumeist „Mechanismus“, „kausaler Mechanismus“, „generativer Mechanismus“ oder „unterliegender Mechanismus“ genannt wird. Wissenschaftliche Erklärungen sollen nicht bloß Subsumtionserklärungen sein, sondern „zugrunde liegende“ oder „generative“ Mechanismen beschreiben. Die Sozial(meta)theorie oder Sozialontologie umfasst zentral clearly related to P in an important way: It is an insufficient but non-redundant part of an unnecessary but sufficient condition: it will be convenient to call this (using the first letters of the italicized words) an inus condition (Mackie 1980, 62). „Ursachen“ nennt Mackie nun solche Bedingungen, die mindestens INUSBedingungen sind, also in einem der Disjunkte der „komplexen Regularität“ (oder, besser, ihrer Beschreibung) vorkommen. Siehe auch Hüttemann 2013. Bei „P“ handelt es sich genauso um Typen wie bei den „Bedingungen“.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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folgende Thesen: (1) Irreduzible soziale Entitäten existieren. (2) Soziale Entitäten verfügen über „causal powers“ (oder sind „causal powers“). (3) Soziale Entitäten wirken auf Akteure. Eine vierte These, die selten explizit ausgesprochen wird, besteht in einer (4) dispositionalen Theorie der Kausalität. Vage formuliert heißt dies: Kausalität hat etwas mit Kräften/Dispositionen zu tun. Diese sozialen Entitäten, die zumeist als „Strukturen“ und als „emergent“ bezeichnet werden, werden in dieser mittlerweile auch heterogenen Strömung durchaus unterschiedlich aufgefasst und scheinen manchmal gar abstrakte Entitäten („soziale Positionen“, Porpora 1989) oder Mischungen aus konkreten Entitäten und abstrakten Entitäten zu sein („Institutionen“, Little 2010, 7.6). Teilweise liegen sie im „transzendentalen Raum des Seins“, also wohl in einer Sphäre jenseits aller konkreten Entitäten (vgl. Kaidesoja 2007, 2013 zu Bhaskar 1978a, 1979, siehe ferner das Literaturverzeichnis). Was dort unter „sozialen Strukturen“ genau verstanden wird, die als Träger von „emergent causal powers“ dazu imstande sein sollen, auf Akteure oder auch anderes zu wirken, also die Relata eines Typs von soziohistorischer Kausalrelation (Makro-Mikro), ist durchaus unterschiedlich.258 Mal scheint die ontologische Architektonik vorzusehen, dass Strukturen „emergente“ Eigenschaften und Kräfte haben (Archer 2000a), andernorts scheinen Strukturen emergente Eigenschaften und zugleich Kräfte zu sein. Auch das kann dazu führen, dass unklar bleibt, was genau wirkt, wenn etwas Soziales wirkt. Da in diesem ontologischen Rahmen sowohl soziale Entitäten als auch individuelle Akteure als mit „causal powers“ ausgestattet gedacht werden oder einfach solche Kräfte sind und zudem unklar ist, wo sie zu situieren sind, nenne ich diese Richtung auch den sozialrealistischen Pan-Dispositionalismus.259 Da hier von Kausalität als Produktions- oder Hervorbringungsrelation gesprochen wird, kann man auch von Produktionsmodellen sozialwissenschaftlicher Erklärung sprechen, im Unterschied z. B. zu Covering-Law-Vorstellungen, in denen bloße Abfolgen ausreichen. Es ist auch hier nicht leicht zu klären, wie „Strukturen“ oder auch „Institutionen“ überhaupt Träger von „causal powers“ sein könnten und wie jene Ursachen ihre Wirkung entfalten, die eben nicht bloß als reguläre Folgen, Bedingungen oder kontrafaktische Abhängigkeiten aufgefasst werden, sondern als Produzenten der jeweiligen Wirkung. In diesem Kontext wird teilweise der Ausdruck „Mechanismus“ verwendet, der aber bei beinahe jedem Kritischen Realisten etwas leicht oder fundamental anderes meint (vgl. teilweise Plenge 2014a).260

258

259 260

Bei Roy Bhaskar, dem in den Sozialwissenschaften wohl berühmtesten Philosophen, findet man als Beispiele für „social entities“ „institutions, traditions, networks of relations and the like“ (Bhaskar 1989, 175). Beispiele für „social structures“ sind „religious rites established by the practices of the long dead” (Bhaskar 1994, 95), „the economy, the state, the family” (Bhaskar 1989, 4), „Nazism, bureaucracy and (…) capitalism” oder auch „everything that is there before any given voluntaristic act” (Bhaskar 2001, 28 f.), wozu auch „languages”, „systems of belief, cultural and ethical norms” (1978, 196) gehören sollen. Bhaskar (2001, 37) nennt auch „the age structure of a population, or the occupational structure of a population” als etwas, das „emergent” genannt wird und über „causal powers” verfügen soll oder eine solche Kraft ist. Wir kommen auf die Begrifflichkeiten in Kapitel 7 in klärender Absicht ausführlich zurück. Das Verhältnis der Rede von „causal powers“ und Dispositionen ist in diesem Diskursfeld unklar; vgl. Fleetwood 2009, 2011. Wir können darauf hier nicht lang eingehen, aber der Kategorie „Mechanismus“ kommen hier verschiedene Funktionen zu, indem das Wort dazu verwendet wird, die Relation zwischen unterschiedlichen Relata anzudeuten: (1) Ein Mechanismus „vermittelt“ die Wirkung eines sozialen Relatums auf ein anderes soziales Relatum (Explanandum; Makro-Makro). (2) Ein Mechanismus vermittelt zwischen der „causal power“ einer sozialen Entität und ihrer Wirkung auf einen Akteur (Makro-Mikro). (3) Ein Mechanismus ist generell dasjenige, das zwischen einer jeden Ursache und einer jeden Wirkung den „unterliegenden“ (unbeobachtbaren) und „produktiven“ Zusammenhang herstellt. Im letzten Fall ist man eigentlich in der allgemeinen On-

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Kritische Realisten (Archer 1995, Elder-Vass 2010, Manicas 2006) und andere Dispositionalisten der Kausalität im Bereich des Soziohistorischen (wie Little 2007, 2010, McCullagh 1998) sagen überraschend wenig dazu, worin genau der Zusammenhang zwischen Dispositionen oder „causal powers“ und Kausalität eigentlich besteht, wie also die obige These Nummer (4) lautet. Welche „Trigger“ genau die Manifestation von Dispositionen „verursachen“, zum Beispiel von „social causal powers“, bleibt mehrdeutig. Es bleibt auch zum Beispiel offen, ob nur dies eine Kausalrelation ist (Trigger → Manifestation einer Disposition) oder auch die Manifestationsrelation zwischen beispielsweise einer stipulierten „causal power“ einer „social structure“ und dem Handeln der Akteure, wobei es sich prima facie um etwas anderes als eine Relation der Art Trigger→Dispositionsmanifestion handelt, nämlich um die Relation Disposition→Manifestation. Wie genau solche dispositionalistisch aufgefasste Kausalketten wie Trigger→Disposition→Manifestation im Soziohistorischen zu denken sind, in denen soziale Kausalkräfte und individuelle Kausalkräfte sozusagen zusammenspielen, ist letztlich kaum zu erfahren. Hier ist z. B. möglich, dass ein Akteur auf bisher unbeschriebene Weise zum selben Zeitpunkt die „power“ einer „social structure“ auf ungekläre Weise triggert, in dem diese Kraft auf den Akteur auf ungeklärte Weise wirkt. Es gibt meines Wissens trotz der Vielzahl der Literatur keine klaren und prominenten Beispiele für social causal powers („Makro“) und eine (ontologische) Vorstellung davon, wie sie im Handeln von Akteuren („Mikro“) getriggert werden und wie jene sozialen Kräfte ggf. dann zusätzlich noch auf etwas anderes wirken („Makro“). Da unklar ist, was jene „Strukturen“ genannten Entitäten sind, die – so die Hypothese – kausale Kräfte haben, ist auch schwierig zu sehen, wie das Vorliegen dieser Kräfte getestet werden könnte. Eine Idee aus der Wissenschaftstheorie (z. B. Schurz 2006, 2008) ist, dass man Manifestationsbedingungen der Disposition (oder power) festlegt, bei deren Vorliegen sich das Verhalten des Trägers der Disposition (oder power) immer oder zumindest mit irgendeiner Wahrscheinlichkeit zeigt. Eine „soziale Struktur“ hätte also genau dann eine Disposition (oder power) oder, besser, deren Zuschreibung ist berechtigt, wenn die Struktur ein bestimmtes Verhalten zeigt, sobald die Test- oder Stimulusbedingungen erfüllt sind. Es ist meines Wissens, wie zuvor bereits angedeutet, keine solche Stimulus- oder Triggerbedingung für eine social causal powers benannt worden. Es sind auch kaum Beispiele für ein „Verhalten“ (oder „Prozessieren“, 7.3.5) einer „sozialen Struktur“ aufgrund von deren Kräften bekannt. Das dürfte auch daran liegen, dass nicht klar ist, was für ein Typ von Entität jene Strukturen genau sind (7.3.4) und ob es überhaupt sinnvoll ist, ihnen ein Verhalten zuzuschreiben. Wenn z. B. Sprengstoff seine Kraft oder Power nach der Einwirkung eines Stimulus manfestiert, dann geht man davon aus, dass der Sprengstoff sozusagen etwas macht, sich „verhält“ oder „prozessiert“. Nichts davon wird im Fall von „sozialen Strukturen“ beschrieben.261

261

tologie und nicht in der Sozialontologie oder der Sozial(meta)theorie. Hier geht es – wenn ich recht sehe – um eine Theorie der Kausalität. Zur Verwirrung führt (Plenge 2014a) in diesem Kontext auch, dass „Mechanismus“ manchmal (1) ein Ding (komplexe Entität), (2) eine Eigenschaft oder (3) einen „Prozess“ meint, ohne dass dies expliziert wird. Aus all diesen Gründen ist die Literatur des sozialrealistischen Pan-Dispositionalismus teilweise schwer verstehbar, zumal die Unklarheiten um soziale Entitäten („Strukturen“) als Relata noch hinzutreten. Dieselben Schwierigkeiten zeigen sich auch andernorts (7.6). Hempel (1972) hatte diese kausal-ontologischen Probleme wohl nicht, weil er erstens von „causal powers“ nicht sprach, sondern von Dispositionen. Zweitens fasste er dann – im Unterschied zum Critical Realism – dispositionale Erklärungen als non-kausale Formen von Covering-Law-Erklärungen auf. Drittens thematisierte er die Triggerproblematik nicht. Wir können auf diese Seite des Hempelschen Werkes hier nicht eingehen, müssen aber nur, wie in all den anderen Fällen auch, festhalten, dass in dieser Tradition keine dispositionalen Erklärungen aus der Geschichtswissenschaft besprochen worden sind.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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Letztlich wird das Verhalten jener Strukturentitäten auch deshalb nicht thematisiert, weil deren (einzige) ontologische oder metasozialtheoretische Rolle darin besteht, auf Akteure, durch Akteure oder in Akteuren (7.4) zu wirken.262 Anders gesagt, es ist zwar sehr häufig auch von der „Transformation“ der „Strukturen“ („Makro“) durch das Handeln von Akteuren die Rede, aber was sich dort genau verändert und was unter „Veränderung“ zu verstehen ist, wird letztlich nicht thematisiert. Was ist aber ein naheliegender Unterschied zu den anderen Erklärungsvorstellungen? Hinter der Rede von „Mechanismen“ verbirgt sich die angesprochene Idee, dass wissenschaftliche Erklärungen mehr enthalten müssen als die Subsumtion eines singulären Satzes unter einen allgemeinen und dass auch statistische Relationen nicht als erklärend gelten. Mit der sozial-ontologischen Einrahmung ist die These verbunden, dass in sozialwissenschaftlichen Erklärungen „Strukturen“ und ihre Wirkungen thematisiert werden müssen, was auf sogenannte Makro-Mikro-Probleme hinausläuft, die es natürlich in anderen Erklärungsvorstellung unter der Voraussetzung anderer Ontologien und Sozial(meta)theorien überhaupt nicht gibt. Damit ist auch verbunden, dass es nicht ausreicht, irgendwelche „Ereignisse“ zu benennen, die außerhalb dispositionalistischer, manchmal „realistisch“ genannter Kausalitätsvorstellungen (Little 2010) andere „Ereignisse“ verursachen können, sondern es müssen die „Produzenten“ oder „hervorbringenden“ Entitäten eines Explanandums benannt werden. Allein die Besprechung dieser realistischen Tradition würde hier zu weit führen und eigentlich genauso ein eigenes langes Kapitel erfordern. Wir müssen hier also eine starke Abkürzung vornehmen (siehe teilweise Plenge 2014a), auch weil es in allen diesen Fällen keine „Geschichten“ oder Überblicksdarstellungen in unserem Gegenstandsbereich gibt. Alles in allem können fundamental unterschiedliche und unterschiedlich unklare Relata des Sozialen oder Historischen in „kausal“ genannte Relationen gestellt werden, zumindest per Definition und in der Metatheorie. Da kaum Beispiele und kaum als zweifelsfrei gegenstandsadäquat aufgefasste Beispiele für Kausalhypothesen oder -erklärungen vorhanden sind, also keine „beste Praxis“ (2.3) diesbezüglich zu haben ist, ist auch unsicher, ob man irgendwelche „kausal“ genannten Hypothesen realistisch deuten kann, die hier oder dort in den Geschichts- und Sozialwissenschaften und ihrem Metadiskurs zu finden sind. Die unterschiedlichen Auffassungen über Relata und Relationen führen im Feld der Kausalität hier also letztlich, wenn der Schein nicht trügt, zu fundamental unterschiedlichen Auffassungen über „kausal“ genannte Relation und zu der Prima-facie-Plausibilität der These, dass unterschiedliche Kausalitätsphilosophien nicht ein und dieselbe Kausalrelation erfassen, sondern womöglich derer vielerlei Typen oder auch gar keine. Beispielsweise ist in der kontrafaktischen Kausalitätsvorstellung von D. Gerber (2012, 2014263) möglich oder denkmöglich, 262

263

Dispositionalisten könnten auch das Verhalten einer sozialen Ganzheit dadurch (ad hoc) philosophisch erklären, dass sie dieser eine Disposition zu diesem Verhalten zuschreiben. Dazu könnte auch der Fall gehören, in dem diese Disposition durch einen Trigger außerhalb ausgelöst wird, z. B. wenn ein Kunde bei VW ein Auto bestellt. Das ist aber kein Fall, der im Critical Realism zentral ist, sondern es geht um die Wirkung einer „sozialen Struktur“ als Ganzheit auf Individuen. In einer leichten Veränderung der ursprünglichen Idee (Hüttemann 2013, Swain 1989, Esfeld 2007) lautet sie: „A is a cause of B iff: 1. A occurred and B occurred. 2. A occurred at time t-1 and B occurred at time t-2, i. e. A and B are temporally related to each other and A occurred earlier than B. 3. If A had not occurred at time t-1, but everything else being equal, then the following holds: either (a) B would not have occurred at time t-2 or (b) there is at least one essential property of B, which B would not have possessed, that is, C would have occurred.

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dass räumlich und zeitlich ganz weit entfernte „Ereignisse“ einander verursachen, also Ereignisse, die Jahrhunderte auseinander liegen. „Alle im kontrafaktischen Sinne notwendigen Ereignisse für das Eintreten eines anderen bestimmten Ereignisses sind eine Ursache dieses Ereignisses, ganz egal wie nah oder weit der raum-zeitliche Zusammenhang ist“ (Gerber 2012, 125). Auch folgende metaphysische Überzeugung, die vermutlich nicht wenige (Geschichts-) Wissenschaftler teilen, gilt in dieser Ontologie nicht: A thing that, at a given time, does no longer or not yet exist cannot act upon a thing existing at that time. Only simultaneously existing things can do so, though they need not do so, of course“ (Bunge/Mahner 1997, 26). Der philosophisch, d. h. ontologisch, bereits signifikante Punkt ist zunächst, dass in jener Ontologie im Umfeld der kontrafaktischen Kausalitätskategorie (und andernorts) gar keine Kategorie eines Dings zu finden ist, was alleine bereits für die Annahme der Möglichkeit solcher Kausalrelationen mitverantwortlich sein könnte, neben der Vorstellung, dass Kausalität bloße Abhängigkeit ist und keine Relation der Hervorbringung oder Produktion der Wirkung durch die Ursache („act on“). Denn im Rahmen einer Ontologie von Dingen (Kapitel 7) ist es beispielsweise seltsam zu behaupten, dass jemand noch an der Zeugung seiner Ur-ur-ur-ur-Enkel mitwirkt, wenn er schon gestorben ist, weil eine entsprechende kontrafaktische Aussage über Ereignisse intuitiv wahr zu sein scheint, z. B. über die „Abhängigkeit“ der Geburt der Ur-urur-ur-Enkel von der Zeugung der Tochter. Auch eine Form von Selbstverursachung scheint in einem solchen Rahmen (denk-)möglich, denn auch der Tod (eines Dings?) hängt ab von dessen Geburt. Aber verursacht die Geburt den Tod?264 Bis auf wenige Aufsätze hat auch die kontrafaktische Theorie der Kausalität, wie jede andere auch, die in D. Lewis (1986a/b) einen berühmten Vertreter hat, in der Geschichtsphilosophie keinerlei signifikante Aufmerksamkeit auf sich gezogen und auch keine in der Geschichtstheorie, genauso wenig in der Soziologischen Theorie und den Sozialwissenschaften generell. P. Hedström (2008, 28, Fußnote 5), der sich um die Belebung von (Kausal)Erklärungsbemühungen in der Soziologie verdient zu machen versucht, schreibt entsprechend zu kontrafaktischen Vorstellungen: „Dieser Ansatz hatte indessen keinen großen Einfluss auf die soziologische Theorie und wird deshalb hier nicht diskutiert.“ In der Philosophie scheint sie viele Anhänger zu haben. Im Rahmen von metawissenschaftlichen Erörterungen fällt natürlich auch direkt auf, dass solch eine kontrafaktische Kausalitätsvorstellung nicht nur weit mehr Ursachen von „Ereignissen“ zulässt als alle anderen, sondern dass auch „kausal“ genannte Erklärungen viel einfacher werden, weil man offenbar keinerlei weitere Hypothesen über die Gegenstände der jeweiligen Wissenschaft benötigt, um (wissenschaftlich) und kausal erklären zu können, sobald Kausalerklärung im Rückgriff auf diese Kausalitätsdefinition bestimmt wird. Intuitionen über kontrafaktische Abhängigkeiten reichen nicht nur für die Rechtfertigung von Kausalhypothesen bereits aus, sondern bestimmen offenbar auch den explanatorischen Gehalt. Das heißt auch, ein Geschichtswissenschaftler, der nach philosophischen Wahlen (2.2) kontrafaktischen 4. If (b) in condition (3) is the case, then it also holds that A and C would be temporally related to each other in the same way as A and B (Gerber 2014, 209; 2012, 124).

264

Inwiefern andere Auffassungen von kontrafaktischer Kausalität bestimmte Probleme nicht haben, kann und soll hier nicht Thema sein. Es fällt auf, dass auch andernorts nicht davon die Rede ist, dass irgendetwas auf ein Ding wirkt, sondern dass irgendetwas auf ein Ereignis wirkt, wobei nicht gesagt wird, was genau „Ereignis“ meint; siehe z. B. Bunzl 1997, 38, in der Diskussion von Thesen A. Dantos.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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Kausalitätsvorstellungen anhängt, wird auch substanziell anders forschen als jemand anderes, der z. B. glaubt, für „kausal“ zu nennende Erklärungen etwas über „causal agents“ und deren „powers“, über „Mechanismen“ oder „Strukturen“ erfahren zu müssen. Zu den philosophischen Wahlen gehören dann auch Wahlen von Annahmen über die Relata, z. B., ob etwas, das „First World War“ genannt wird, als vormals real existent aufgefasst wird, sodass sich beispielsweise sinnvoll Fragen wie „What was the cause of the First World War?“ stellen lassen, was. z. B. beiläufig Goldstein (1976, 83 f.) bestritten hat (anders Kistenfeger 2011, 224). Hier kann man besonders Barthelborts Skepsis gegenüber der Erklärungskraft von Beschreibungen von Ursache-Wirkungs-Beziehungen nachvollziehen, denn es ist wirklich zweifelhaft, was inwiefern und in welchem Grad erklärt und verstanden worden ist, wenn man nichts anderes zu wissen beanspruchen kann, als dass ein „b“ Genanntes nicht der Fall gewesen oder eingetreten wäre, wenn ein „a“ Genanntes auch nicht der Fall gewesen („Tatsache“, „state of affairs“) oder eingetreten wäre („Ereignis“), wobei man gerade dies aus nicht wirklich durchsichtigen Gründen eben „Kausalität“ nennt. In obigem Schlangenmodell, das durch nichts in kontrafaktischer Kausalitätsliteratur zu den Geschichtswissenschaften ausgeschlossen zu sein scheint, dürfte dies schlagend klar werden. Entweder Kausalität ist eben doch etwas anderes oder es ist unklar, was an kausalen Erklärungen so toll sein soll, zumal Geschichtswissenschaftler solche Thesen zumindest in der Mini-„Anatomie“ nicht aufstellen und beinahe keinerlei explizite Behauptung einer kontrafaktischen Abhängigkeit darin zu finden ist. Während im Rahmen dieser kontrafaktischen Vorstellung von Kausalität solche weit entfernten Kausalrelata möglich sind, will im Rahmen der Geschichtsphilosophie C. B. McCullagh (1998) dies mit einer Dispositionenmetaphysik gerade ausschließen265, wobei die soziohistorischen Träger jener Dispositionen und „Tendenzen“ auch dort recht unklar bleiben. M. Mandelbaums (1977) Kausalitätsvorstellung, in der Kausalität mit der Rede von „Prozessen“ verbunden wird, führt auch in die genau entgegengesetzte Richtung im Vergleich zu kontrafaktischen Vorstellungen, insofern „Prozesse“ nicht nur als Kategorie für die Ursachen eingeführt werden, sondern auch so eng mit den Wirkungen sozusagen verschweißt werden sollen, dass beinahe nicht mehr klar ist, inwiefern Ursachen und Wirkungen noch getrennt sind. Mandelbaums Vorstellung ist nicht nur in dieser Hinsicht recht interessant, sondern auch insofern, als es sich um die einzige Kausalitätsvorstellung handelt, die im Rahmen der Geschichtsphilosophie selbst erfunden und nicht importiert worden ist. Sie blieb jedoch sehr dunkel und skizzenhaft, weshalb sie schwer in kurzen Worten zu erläutern und zuvorderst schwer zu verstehen ist. Sie war allerdings auch mit der These verbunden, dass „Strukturen“ und „Institutionen“ zu Wirkungen tendenziell fähig sind, wobei das kategoriale Verhältnis von jenen „Strukturen“ und „Institutionen“ und zu „Prozessen“ nicht geklärt wurde, ob also z. B. Strukturen und Institutionen auch Prozesse sind oder nicht. Es wurde auch dort nicht klar, 265

„One objection to Lewis‘ theory is that it allows too many things to be causes. According to Lewis, causal relations are transitive, so the causes of any event include every contingently necessary event and state of affairs for it going right back to the beginning of time. That means very remote events are causes of what happens today. It means that the Big Bang at the beginning of the universe caused a leaf to fall, or a person to smile today, and my great great grandparents‘ decision to have children was a cause of my writing this sentence. I suggest that we do not normally regard very remote events, such as these, as causes of what happens today” (McCullagh 1998, 177). Je nach Auffassung über die Relata der Kausalität entdeckt ein Kontrafaktiker bei Wozniak (2013, 105) eine Kausalrelation und gar eine kausale Erklärung: „Das Münzrecht hat die Äbtissin Mathilde 994 von Otto III. zusammen mit dem Zoll- und Handelsrecht verliehen bekommen. Im ausgehenden 16. Jahrhundert war dieses Recht noch im Besitz des Stiftes.“ Im Unterschied zu Hume und Humeanern glaubt McCullagh auch nicht, dass zwischen (Typen von) Ursachen und ihren Wirkungen starke Regelmäßigkeiten bestehen, was wiederum Gerbers (2012) kontrafaktischen Annahmen entspricht: „There is not a very regular relation between causes and effects“ (McCullagh 2008, 277).

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

was mit „Strukturen“ und „Institutionen“ gemeint ist. Auch von „Geschichte“ als ontische Kategorie ist hier verschiedentlich die Rede (2.1), ohne dass dies geklärt wird. Wir haben schon ansatzweise gesehen und könnten dem weiter nachgehen, dass dies auch in geschichtstheoretischen Schulen wie der Historischen Sozialwissenschaft oder der Historischen Anthropologie unklar bleibt. Das Mackie-Modell der Kausalität, in dem nebeneinander her existierende Antezedenzien als Gesamtheit und einzeln etwas verursachen, sobald sie zusammen hinreichend sind für die Folge, wobei die Komponenten des Haufens oder der Menge von Antezedenzien („Bedingungen“) scheinbar durchaus räumlich und zeitlich getrennte „Ereignisse“, „Zustände“, „Eigenschaften“, „Bedingungen“, „Faktoren“, „Situationen“ etc. sein können (so Mackies 1980 Kategorien), sich allerdings weder berühren müssen noch dies dürfen, also wie nebeneinander liegende, kontaktlose (logische) Klötzchen vorzustellen sind266, hat Maurice Mandelbaum (1977) bereits im Rahmen der Geschichtsphilosophie kritisiert.267 Denn auch diese lockere Beziehung zwischen jenem, was „Ursache“ und jenem, das im Mackie-Rahmen „Wirkung“ genannt wird, hielt er für unplausibel. Wie gesagt, Beispiele für diese Kausalitätsvorstellung sind aus den Geschichts- und anderen Sozialwissenschaften nicht bekannt oder müssten gesucht werden. Im Rahmen der Mini-„Anatomie“ hat sich im Rahmen seiner Metatheorie A. Frings (2007a) stellenweise an Mackie-Kausalität orientiert, obwohl nicht direkt sichtbar ist, inwiefern diese Entscheidung etwas mit den späteren Kapiteln zu „Ursachen“ in dieser Studie zu tun hat.268 In statistischen Kausalitätsvorstellungen269 scheinen im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaften wiederum „kausal“ genannte Relationen möglich, die vor dem Hintergrund anderer Vorstellungen eher seltsam klingen oder unmöglich sind, z. B. vor dem Hintergrund klassischer Regularitätstheorien, in denen strikte (ausnahmslose) Regularitäten zwischen den Relata gefordert werden, was aber dazu führen kann, dass es im Soziohistorischen keinerlei Kausalität gibt. Zwei Beispiele seien bloß als lockere Illustration zitiert, wobei im ersten wieder von sozialen Ursachen die Rede ist, im zweiten von Kausalrelationen zwischen Variablen: Todd also argues that there is a causal order among the large social factors he singles out. Family structure is causally relevant to literacy and educational level; literacy is relevant to religious dissent and the emergence of Cathars, Waldensians, and Protestants; family structure is relevant to reproductive rates that are in turn relevant to the spread of industry; and traditions of inheritance are relevant to a region’s re266

267 268

269

Man fühlt sich an Hume erinnert: „Everything is loose and separate“, was gerade im Rahmen von Sozial(meta)theorie oder Ontologie seltsam klingen kann (Kapitel 7). Man muss Metaphysiker durchaus ernst nehmen: „According to the regularity theory of causation, a cause does not make the effect happen. Events just happen” (Kutach 2014, 33). Zu Mandelbaums differenzierter Auseinandersetzung mit Hempel siehe Mandelbaum 1961. Es könnte sein, dass auch Frings wie Lorenz (1997) den regularitätsmetaphysischen Hintergrund von Mackie-Kausalität ignoriert, der letztlich mit Hempels weitgehend identisch ist, obwohl Lorenz Mackie gegen u. a. Hempel und die „Positivisten“ ausspielt. Zumeist wird etwas Ähnliches wie folgt genannt (siehe auch Hüttemann 2013): (Statistisches Kausalitätsmodell) Where c and e are specific events that occurred, c is a cause of e if and only if: (1) c does not occur after e; and (2) P (e, c) > P(e) (3) there exists no event s such that s is earlier than or simultaneous with c and s screens of c from e (Swain 1989, 203).

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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ceptiveness to the ideology of the Revolution. And the patterns created by these causal processes are very persistent; so the southern belt of high-literacy départements of the twelfth century coincides almost exactly with the pattern of high incidence of baccalauréats and doctors in the late twentieth century (Little 2010, 77, Hervorhebung dp). Das heißt in die Sprache statistischer Kausalitätstheorien oder -metaphysiken übersetzt vermutlich, die sogenannte „Familienstruktur“ (z. B. Kernfamilie) verursacht sprachliche Fähigkeiten, die wiederum religiöses Sektierertum verursachen usw., was vermutlich als Kausalkette zu denken ist. Bei Harmut Esser findet sich ein unter Soziologen scheinbar berühmt gewordenes Beispiel, an dem man die eigenen soziohistorischen Kausalintuitionen überprüfen kann, womit man letztlich etwas macht, das Sozialwissenschaftler im Allgemeinen und manche Geschichtswissenschaftler in ihrer Karriere auch machen müssen, wenn sie vor philosophischen Wahlen stehen: Die Bildung des Vaters wirkt sich mit 0.31 direkt auf die Bildung des Befragten aus – und darüber dann natürlich auch indirekt (etwa mit 0.31*0.39 = 0.12) über die Bildung auf den letzten Beruf. Der Beruf des Vaters schließlich hat direkte Auswirkungen auf alle drei Variablen der Karriere des Befragten: Mit 0.22 direkt auf den ersten und mit 0.12 sogar noch direkt auf den letzten beruflichen Status (Esser 2000a, 204 f.). In diesen Vorstellungen wirken also Bildungsvariablen von statistischen Vätern auf Bildungsvariablen von statistischen Befragten. Vermutlich soll das dann auch in Einzelfällen gelten, denn ansonsten ist bereits fraglich, was solche Modelle mit realen Kausalrelationen zu tun haben, denn diese werden gewöhnlich als spezifisch (konkret) aufgefasst. Dies ist nicht plausibler oder vielleicht auch nicht unplausibler als die Behauptung, die Schlacht bei Marathon habe die Demokratisierung Europas verursacht, die bei Kontrafaktikern zu finden ist, oder Katholizismus verursache im Sinne von Mackie-Kausalität irgendetwas anderes, z. B. Antisemitismus (Lorenz 1997). Dabei muss man diese Aussagen natürlich immer durchaus wörtlich nehmen, weil ansonsten Kausalerklärungen und Kausalhypothesen witzlos sind, denn die Idee sollte doch wohl gewesen sein, dass das eine in einer kausalen Erklärung genannte Relatum das andere bewirkt oder verursacht, ansonsten kann man mit jeder noch so absurden stipulativen Ad-hoc-Definition von „Verursachung“ etwas basteln, was als „kausale Erklärung“ bezeichnet werden kann. Soziologen aus anderen Schulen, die an diese metaphysische, methodologische und sozialtheoretische Adäquatheit nicht glauben, sprechen daher im Kontext von „korrelationsstatistischen ‚Kausalanalysen‘“ in Anführungszeichen (Schmid 2006a, 143) und nennen sie mit einem von Imre Lakatos geborgten Ausdruck und mit wenig Möglichkeiten zu Missverständnissen „intellektuelle Umweltverschmutzung“ (Schmid 2006a, 137270). Wenig überraschend sind für den Soziologen R. Boudon (Boudon/Fillieule 2012) solche „Kausalanalysen“, die wohl unter der Voraussetzung bestimmter Kausalitätsbegriffe oder Kausalitätsmetaphysiken überhaupt vorgenommen werden, überhaupt keine Erklärungen oder aber bloß schlechte. Natürlich ist dies die Auffassung einer sozialtheoretischen und methodologischen Schule neben anderen, die andere Vorstellungen haben, unter der Voraussetzung expliziter oder impliziter

270

Tucker (2012) hält diese „intellektuelle Umweltverschmutzung“ (M. Schmid) offenbar für „die sozialwissenschaftliche Methode“. Beide werden ihre Gründe haben. Zur Problematik um die „beste Praxis“ siehe Kapitel 2.3.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

„philosophical choices“.271 Bedauerlicherweise ist mir keine vergleichende und evaluative Betrachtung der Kausalitätsvorstellungen in den Geschichts- und anderen Sozialwissenschaften bekannt. Scheinbar glaubt außerhalb der einen Gruppen von Sozialwissenschaftlern, in denen so geredet wird, niemand daran, dass derartige Kausalattribuierungen wie „Bildung verursacht Einkommen“ oder „Individualismus verursacht Kriminalität“, „Age causes length“, „Das Bruttosozialprodukt verursacht Kindersterblichkeit“ oder „Inflation verursacht Arbeitslosigkeit“ und Ähnliches ontologisch Sinn machen und tatsächliche, reale Kausalitäten beschreiben und darüber hinaus sonderlich erklärungstauglich sind, was auch an mancher Polemik deutlich wird.272 Während in der Philosophie gelegentlich das Beispiel „Bildung verursacht Einkommen“ im Rahmen von statistischen Modellen als Paradigma für sozialwissenschaftliche Kausalhypothesen herangezogen wird, fragte sich ein Soziologe mal, warum die Gebildeten dann noch arbeiten gehen, wenn das zutrifft. Die philosophische Frage, die von dem Scherz aufgeworfen wird, ist, vor dem Hintergrund welcher anderen Kausalitätsvorstellung und Sozialtheorie (Ontologie) er dies für Quatsch hält. Vor dem Hintergrund anderer Kausalitätsvorstellungen (wie z. B. 7.3.8) ist es nicht eine Bildungsvariable, gemessen z. B. in Semestern oder der Dauer der Anwesenheit in Mensen, die etwas verursacht, sondern ein Mensch geht u. a. mit einem Zeugnis, das er und andere womöglich für „kulturelles Kapital“ halten, zu einem anderen, der das dufte findet, weil er vom selben Schlag ist, und erzählt diesem dabei eine schöne Geschichte (2.1), weshalb er einen Job bekommt, mit dem er mehr verdient als andere. Auch die These der sozialrealistischen Pan-Dispositionalisten (wie Archer 1995, 2000a, Elder-Vass 2010), „soziale Strukturen“ wirkten als „social causal powers“ auf, durch (Archer 2000a) oder in (Elder-Vass 2010) Personen, dürften andere Sozialwissenschaftler als ebenso seltsam einstufen (Kapitel 7). Man bräuchte nun eigentlich jenseits einer solchen Skizze eine komparative Evaluation von philosophischen Kausalitätsvorstellungen im Kontext von Geschichtswissenschaften und Sozialwissenschaften, letztlich im Hinblick auf mindestens die vier Aspekte der Kausalitätsproblematik. Die gibt es offenbar nicht. Das wäre nichts anderes als die Frage nach der Rolle von philosophischen Vorstellungen am Beispiel von Kausalität in dem heterogenen Gebilde 271

272

Mir ist nicht klar, ob Boudon bloß glaubt, dass diese Beschreibungen, die er auch „kausal“ nennt, nicht („theoretisch“, Boudon/Fillieule 2012, 52) erklären, oder ob er auch glaubt, dass es ontologisch falsch ist, zwischen demjenigen, was er manchmal „soziale Tatsachen“ nennt, Kausalrelationen zu behaupten (auf der Basis statistischer Kausalitätsbegrifflichkeiten). M. Bunge formulierte als (Gegen-)Beispiel zu frühen statistischen Kausalitätsvorstellungen: „The conditional probability of the reader’s reading these lines, given that he was born, is greater than the absolute probability of that event, yet his birth cannot be regarded as a cause of his reading these lines. A necessary conditon of course is not a cause – unless one believes in predestination. Hence causation cannot be defined in terms of probability (Bunge, 1977a, 210 f.). Ich muss auch gestehen, dass mir nicht klar ist, wie ähnliche Kausalbehauptungen auf philosophischer und sozial- wie geschichtswissenschaftlicher Seite zu verstehen sein sollen, ob damit wirklich gemeint sein soll, dass irgendwelche Referenten jener Variablen etwas verursachen. Kaum jemand dürfte ohne philosophischen Einfluss ernsthaft glauben, dass z. B. die Variablen wie „the migrant stock differences among German provinces“ Migrationsraten und Migrationszahlen verursachen, z. B. durch einen „push“ und einen „pull“ durch jene Variablen; siehe Fußnote 46, S. 71. Wenn ich die Kritischen Realisten, die Erklärenden Soziologen und Analytischen Soziologen richtig verstehe, dann deuten sie so etwas derart, dass statistische Regelmäßigkeiten bloß andeuten, dass etwas gegebenenfalls erklärungsbedürftig ist. Es glaubt auch sicherlich kaum jemand an „the effects of specific occupations upon historical heights“ von konkreten Personen (3.1.8). T. Kaidesoja schreibt wie viele andere aus dem Spektrum „realistischer“, „erklärender“ und „analytischer“ Sozial(meta)theoretiker: „Though they cannot be used as causal explanations, statistical models may nevertheless be fruitfully employed in identification of the social phenomena that require theoretical explanation as well as in empirical testing of the proposed theoretical models and causal explanations. Perhaps they could also be useful as heuristic devices for developing theoretical models (Kaidesoja 2013, 46)“.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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der Sozialwissenschaften, letztlich am Schnittpunkt von deren Metatheorien (Ansätzen) und jeweiliger konkreter Forschung. Das gibt es erst recht nicht. Daher ist auch nicht ersichtlich, was genau für irgendeine kausalitätsphilosophische Vorstellung im Kontext der Geschichtsund Sozialwissenschaften genauer sprechen könnte, ohne deren Bestimmung und Wahl die Rede von Kausalität und kausalen Erklärungen aber uninteressant ist. Mir fehlen dazu auch ganz einfach die Kenntnisse. Es scheint aber klar, dass unterschiedliche Schulen in ihrem Ansatz (Hintergrundwissen plus Problematik plus Ziele plus Methoden) implizite oder explizite Kausalitätsvorstellungen haben, die von den jeweils anderen abgelehnt werden. Auf philosophischer Seite ist in jedem einzelnen Fall nicht klar, ob die philosophischen Kausalitätstheorien eine ontische Relation bzw. die ontische Kausalrelation treffen. Keine dieser Vorstellungen hat im Kontext unseres Gegenstandes irgendetwas mit den Arten und Weisen zu tun, wie Geschichtswissenschaftler Kausalaussagen formulieren, weil dies nicht untersucht ist. Bezogen auf methodologische Fragen scheint es keine eindeutigen Evaluationsmöglichkeiten zu geben und auch bezogen auf die vierte Problematik, nämlich kausale Erklärung, kann wenig gesagt werden, da nicht bekannt ist, dass auf der Basis irgendeiner philosophischen Kausalitätsvorstellung in der Geschichtswissenschaft signifikant „kausal“ erklärt wird oder zufällig auf ähnliche Art und Weise kausal erklärt wird. Bemerkenswert ist einzig vielleicht, dass in der Mini-„Anatomie“ keine kontrafaktischen Abhängigkeiten behauptet werden und entsprechend auch keine Kausalhypothesen mit dementsprechendem Gehalt geäußert oder auch gerechtfertigt werden.273 Die Relevanz von kontrafaktischen Vorstellungen, die scheinbar, im Unterschied zu Regularitätsmetaphysiken, manchmal als besonders geschichtswissenschaftsaffin gelten, konnte auch jüngst nicht belegt werden, weil keine faktischen Behauptungen über geschichtswissenschaftliche Forschung aufgestellt werden, sondern kontrafaktische: „Typische Fragen in diesem Zusammenhang wären (…)“. „Nehmen wir an, in einer historischen Darstellung wären folgende Sätze zu lesen: (…)“ (Gerber 2012, 126, 287; Hervorhebung dp; vgl. Gerber 2012, 107 f.; siehe und vgl. teilweise auch Megill 2007, Gorman 2007). Damit müssen wir an das einleitend angedeutete Paradox anknüpfen. Dass kausale Erklärungen in den Geschichtswissenschaften vielleicht nicht so häufig sind, wie manche vermuten, ist zunächst eine seltsame Hypothese. Natürlich hängt das in gewissem Sinne davon ab, was man unter „Kausalität“ und unter „Erklärung“ versteht. Versteht man unter „Erklärung“ hier grob, dass explizit irgendetwas benannt wird, das als „Wirkung“ bezeichnet wird und explizite Hypothesen über Verursachung formuliert und gerechtfertigt werden, dann ist dies vermutlich wirklich seltener als gedacht. Das Problem mit jeder These, die ähnlich lautet wie „Geschichtswissenschaftler erklären kausal“ oder „Historische Erklärungen sind kausale Erklärungen“, ist, dass von einem erklärungstheoretischen Kausalisten, welcher genaueren Ausprägung auch immer, erwartet werden muss, dass er recht genau den Ort in der Geschichtswissenschaft oder, besser, den Ge273

A. Tucker (2009, 103) schrieb: „The minority of historians who use counterfactuals explicitly support them by considering empirical evidence.“ Allerdings nannte Tucker nicht Ross und Reiter, glaubte aber, dass Geschichtswissenschaftler wohl häufiger ihre Kausalhypothesen rechtfertigen können, als dass sie kontrafaktische Behauptungen rechtfertigen können. Der Punkt ist hier auch nicht, dass man manchmal kontrafaktische Annahmen in die Texte hineinlesen kann (z. B. 3.1.7), sondern dass dies in vielen Fällen mit Kausalität (und Erklärung) noch nicht zwingend etwas zu tun haben muss und darüber hinaus, wie Tucker (2009) wohl auch vermutet hat, in der Regel nicht nur ontologisch und bezogen auf die Semantik kausaler Rede, sondern auch in der doppelten Hinsicht methodologisch irrelevant ist. Kurz: Das Hineinlesen von kontrafaktischen Annahmen zeigt nicht, dass sie – wie Tucker schreibt – „benutzt“ worden sind. Siehe im Kontext auch Kapitel 7.3.8, denn man könnte die These wagen, dass kontrafaktische Annahmen dann vielleicht wahr sind, wenn Kausalität vorliegt, aber Kausalität nicht vorliegt, wenn eine kontrafaktische Annahme plausibel oder wahr zu sein scheint. Der Unterschied kann letztlich gewaltig sein, auch im Kontext von Erklärungsthematiken.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

schichtswissenschaften benennt, an dem kausale Erklärungen formuliert werden oder wenigstens der Anspruch erhoben wird, solche Erklärungen zu formulieren. Das weitere Problem ist nicht nur, dass diesen Ort niemand benannt hat, sondern dass jenseits der Methodologisierung einer Alltagsmetaphysik nicht klar ist, wo überhaupt in den Geschichtswissenschaften oder auch den Sozialwissenschaften generell dieser Ort ist, falls er existiert. Kulturgeschichte in den vielen Ausprägungen? Klassische historistische Politikgeschichte? Historische Sozialwissenschaft? Historische Sozialforschung? Historische Soziologie? Annales? Visual History („Bilder machen Geschichte“)? Wird irgendwo signifikant eine bestimme Kausalitätsvorstellung implizit oder explizit vorausgesetzt? Welche Vorstellungen über die Relata sind zu finden und welche theoretischen Überlegungen gibt es über Kausalzusammenhänge zwischen jenen Relata in den jeweiligen Schulen? Auf der Basis der Mini-„Anatomie“ kann man dazu bezogen auf alle Kausalitätsvorstellungen letztlich wieder nichts Definitives sagen oder man müsste die ontologische, semantische und methodologische Relevanz aller dieser philosophischen Vorstellungen bestreiten. Im Zweifelsfall könnte man, wenn man nicht die komplexe Kausalitätsproblematik mit ihren vier Gliedern en bloc berücksichtigt, in die wenigen expliziten Kausalerklärungsversuche der Anatomie jede Kausalitätsvorstellung hineinlesen (z. B. Stone 2003, Stephenson 1988, Kirby 1995, Atkins 1992), was aber auch kein signifikantes Problem löst. Auch bezogen auf die Breite der geschichtswissenschaftlichen Forschung steht zu vermuten, dass ganz verschiedene Vorstellungen in teilweise verfeindeten Schulen zu verorten sind, was eben auch keine Basis für einen eindeutigen methodologischen Kausalismus bietet. Man könnte also die These aufstellen, dass sich auch verstreute geschichtswissenschaftliche Forschung oder auch bestimmte Schulen durch unterschiedliche Kausalitätsvorstellungen unterscheiden. Die These setzt aber die (äußerst) heikle Annahme voraus, dass in den Geschichtswissenschaften Kausalitätsvorstellungen bekannt sind. Sie ist auch heikel, weil Geschichtswissenschaftler als Geschichtstheoretiker, soweit das hier bekannt ist, darüber nicht viel geschrieben haben, eigentlich so gut wie nichts. Ein wenig müssen wir aber doch über die Breite der Beispielstudien sagen, bevor wir später auf die Kausalitätsproblematik im Rahmen der expliziten Ontologie zurückkommen (Kapitel 7). Wie sieht also nun der Umgang mit Kausalität oder „Kausalität“ in nicht gerade wenigen geschichtswissenschaftlichen Studien nach den Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ aus? Auch die meisten derjenigen, die in der Anatomie keine kausalen Erklärungen anstreben und formulieren, setzten vermutlich oder sicherlich voraus, dass ihre Gegenstände kausale Anteile haben und dass ihre Beschreibungen eine kausale Reichweite haben, wie ich dies hier einmal grob nennen möchte. Beispiele seien genannt: Auch William McNeill (1949, 3.1.1) geht sicherlich davon aus, obwohl er das nicht schreibt und wohl nicht glaubt, schreiben zu müssen, dass irgendetwas die Veränderungen an den Kartoffelpflanzen hervorgebracht hat, die dafür sorgten, dass diese sich irgendwann in Irland wiederfanden, obwohl er keinen Verursacher und eigentlich keinerlei konkrete Ursache-Wirkungs-Beziehung benennen kann, schon gar keine mentalen Hervorbringer in Köpfen eines Kartoffelträgers, dessen Bewegung im Raum wir hier vorerst als (non-kausalen) Prozess oder das Prozessieren eines Systems auffassen wollen (7.3.5). Das heißt selbstverständlich, jemand, der bloß die Bewegung von etwas im Raum beschreibt, übermittelt keinerlei kausale Information. Es müsste minimal bezogen auf die Kartoffel so sein, dass ein Kartoffelträgerprozess einen Kartoffelprozess verursacht hat. Und das setzt McNeill sicherlich voraus, spielt aber für seine Forschung, d. h. für seine konkrete Hypothesenbildung, überhaupt keine signifikante Rolle. A. H. M. Jones (1960) kann zwar über konkrete kausale Relationen nichts sagen, zum Beispiel kann er nichts über die Herstellung auch nur eines konkreten Stückes Tuch oder Kleidung oder auch dessen Transport, Verkauf und Nutzung sagen, was ihn ganz einfach auch

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weder interessiert noch auf der Basis seiner Quellen interessieren könnte. Er wird aber davon ausgehen, dass das Tuch bzw. die Kleidungsstücke, die in der römischen „Cloth Industry“ hergestellt worden sind, deren „Organisation“ ihn interessiert, durch die Tätigkeiten vieler Hände hergestellt worden sind, und dass in sozialen Gebilden, deren „Organisation“ er erforschen möchte, Personen miteinander interagiert haben, was in meiner Redeweise Kausalität per Definition beinhaltet (7.3.1). Vermutlich wird er auch glauben, dass die Handlungsgründe der anonymen Personen, von denen er allerdings keinerlei kennt, etwas mit diesen Interaktionen zu tun haben. Jones Quellen und damit verbunden seine Hypothesen enthalten über all das aber wohl überhaupt nichts, und da er alles, was mit Kausalitäten zu tun hat, seinem Hintergrundwissen bzw. dem in den Altertumswissenschaften bekannten Auffassungen darüber, „wie es typischerweise gewesen“ ist, entnehmen muss, erfindet er natürlich keine singulären Ursache-Wirkungs-Abfolgen und die generellen Ursache-Wirkungs-Abfolgen interessieren eigentlich nicht. Ihn interessiert das grobe „Was?“ und das grobe „Wo?“ und teilweise das grobe „Wie?“ hinter dem Ausdruck „Organisation“. Dasselbe gilt mehr oder weniger auch von allen Autoren, die Sozialgeschichtswissenschaften verschiedener Arten und Weisen betreiben, wie z. B. Newman (1979), Wozniak (2013), Sewell (1985). Gerade in Fällen wie Jones‘ Forschung kann man dennoch bewundern oder sich darüber wundern (vgl. Goldstein 1976, 211), wie viel Informationen Historiker aus überschaubarem Quellenmaterial extrahieren oder extrahieren zu können glauben. Pressac (1994) erforscht recht dezidiert, d. h. nach den Möglichkeiten seiner Daten, Interaktionen zwischen Personen, die Mitglieder von Kommandanturstäben in Auschwitz gewesen sind und solchen von beispielsweise der Firma Topf, die Krematorien lieferte und instand setzte. Hier haben wir sogar eine Studie, die in dem Sinn „narrativ“ ist, dass diese Interaktionen teilweise chronologisch, d. h. in zeitlichen Relationen, dargestellt werden, ohne dass (kausale) Handlungserklärungen signifikant eine Rolle spielen, vermutlich weil selbst in solchen Fällen Daten über „Gründe“ oder „Intentionen“ schwer zu haben oder auch für die zu lösenden Probleme insignifikant sind. Hier sind „triviale“ Kausalrelationen in den Beschreibungen vorausgesetzt, die einzige des empirischen Nachweises und faktisch auch keiner interessanten „Gesetze“ immer bedürfen, wie Hempel (1942) gegenüber Mandelbaum (1938) behauptet, z. B. Telefonate und Interaktionen via Postweg, die Geschichtswissenschaftlern (epistemischer Realismus vorausgesetzt, 7.1) über Quellen manchmal zugänglich sind (siehe zu diesem Singularismus Mandelbaum 1977, Tucker 2004a/b). Vor dem Hintergrund mancher onto-methodologischer Erklärungsbegriffe haben wir hier entweder keinerlei Erklärungen oder schlechte, weil z. B. keine „Gesetze“ genannt werden.274 Wenn man aber so will, dann wird hier häufig kausal erklärt, woran vielleicht auch nicht gezweifelt werden muss, wenn keine expliziten Fragen gestellt werden und Wörter wie „Ursache“ und „Wirkung“ nicht verwendet werden, weil dasjenige, was manche „Mechanismen“ nennen würden, insofern unspektakulär ist, als klar ist, dass Kausalität vorliegt, falls überhaupt irgendwo Kausalität vorliegt, vorausgesetzt, die Hypothesen sind wahr. M. Hainzmann (1975) wird davon ausgegangen sein, dass die Beamten, die das „Wasserversorgungssystem“ des Antiken Rom verwaltet haben, in ihrer Funktion mit anderen Menschen interagiert haben und idealtypisch, d. h. undatierbar, sowie eigentlich generell und grob rekonstruiert er dies manchmal, nämlich wenn er dazu verstreute Quellen hat. Das läuft manchmal auf nicht mehr hinaus als den Existenznachweis dieser Interaktionsformen, mit der 274

Im Kontext der Mordmaschinerie von Auschwitz spielen noch andere und in diesem Fall regel- oder gesetzmäßige (oder mechanismisch erklärbare und generelle) Kausalrelationen eine (explanatorische) Rolle, wobei Geschichtswissenschaftler sogar manchmal nah an strikte Gesetzmäßigkeiten herankommen wollen, um gegen die sogenannten „Revisionisten“ zu argumentieren (Morsch 2011).

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Altgeschichtswissenschaftler aber wunschlos glücklich sind, weil anderes gar nicht möglich ist. Wer als Privatier einen Anschluss ans Wasserversorgungssystem wollte, marschierte zum Kaiser bzw. musste zum Kaiser marschieren und ihn darum ersuchen. Manche solcher Fälle sind „bezeugt“. Wer gegen die Ordnung verstieß, wurde von Magistraten manchmal besucht und bestraft. Hainzmann schreibt aber wohl über kaum eine einzige dieser Interaktionen, und falls doch, sind diese singulären oder „individuellen“ Vorkommnisse letztlich völlig egal, aber natürlich kausal, soweit es irgendetwas im Soziohistorischen gibt, das kausal ist. Auch hier wird ein Handlungskontext vorausgesetzt, ohne dass Handlungen signifikant erklärt würden. Und manchmal ist den Quellen zu entnehmen, dass ein Kaiser eine neue Wasserleitung in Auftrag gegeben hatte, wobei man viel mehr als diese basale Tatsache (7.3.7) nicht herausfinden kann, zum Beispiel auch nicht, wer den Auftrag empfangen und warum er ihn umgesetzt hat oder warum der Kaiser das wollte. Man weiß sozusagen (hypothetisch) von der Existenz eines Kausalrelatums, weil es dazu überhaupt Quellen gibt, vielleicht bloß ein Halbsatz in einer Inschrift („Gestiftet von x“), und falls man glaubt, dass das Ding dann auch gebaut worden ist, dann geht man davon aus, dass es eine Unzahl an Kausalrelationen zwischen des Kaisers Auftrag und der Fertigstellung gegeben hat, wobei man über das Dazwischen dann in aller Regel nichts Konkretes sagen kann. Das sind immer insofern kausale Erklärungen, als hier Informationen über ex hypothesi reale Kausalzusammenhänge in den Texten geliefert werden (vgl. z. B. Railton 1980), an denen aus philosophischen bzw. ontologischen Gründen niemand zweifeln würde, obwohl manche Philosophen eventuell an der Rechtfertigung von solchen beiläufigen Kausalbehauptungen, die auch nicht sonderlich als Erklärungen und Antworten auf explizite Warum-Fragen drapiert werden, zweifeln, weil z. B. keine Natur-„Gesetze“ bekannt sind, keine kontrafaktischen Abhängigkeiten bekannt oder begründbar sind und statistische Relationen wohl auch keine Rolle spielen, sondern die „Plausibilität“ oder „Wahrscheinlichkeit“ der dokumentarischen Argumentation die Plausibilität der kausalen Hypothesen verbürgt (Langlois/Seignobos 1900, Bernheim 1908). Wenn man so will, dann haben diese Studien, auch wenn sie keine sonderlich zentralen Warum-Fragen und auch keine theoretischen Annahmen („Gesetze“) enthalten, hier und dort sozusagen immer einen impliziten Warum-Hintergrund und eine kausale Reichweite, neben teilweise aber auch anderen Fragen und anderen signifikanten Relationen. Für weitere Beispiele aus der Mini-Anatomie lassen sich ähnliche Hypothesen formulieren (z. B. Sewell 1985, Füssel 2006, Calaresu 2013, Bloch 1970) In allen diesen und unzähligen Fällen in den Hunderten von geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften ist ein möglicher Indikator dafür, dass diese Geschichtswissenschaftler nicht kausal erklären oder Kausalerklärungen suchen, dass sie teilweise weder irgendeine (einzige) Warum-Frage noch eine solche stellen, die unzweifelhaft eine kausale Reichweite hat, also „Ursachen“ zu „Wirkungen“ erfragt, weil z. B. auch kein klares Explanandum (Wirkung) benannt wird. Und selbst das Stellen von Warum-Fragen dürfte manchmal nicht reichen, um kausale Erklärungen zu erhalten, denn Adams (1997) fragt nach einer Warum-Erklärung einer Absenz, und man kann der Auffassung sein, dass gerade Absenzen nicht als Verursacher und auch nicht als Wirkungen infrage kommen, obwohl selbst das unter Philosophen umstritten ist.275

275

Dass mit Kausalitätsliteratur, die Absenzen als Ursachen zulassen, etwas nicht stimmt, ist aber nur jenen „intuitiv“ einsichtig, die glauben, dass Kausalität etwas mit der Hervorbringung oder Produktion von Veränderungen in Dingen durch Veränderungen in anderen Dingen zu tun hat (7.3.8). Andere glauben, dass eine Kausalitätstheorie dann zu bezweifeln ist, wenn sie Verursachungen von etwas durch das Nichts nicht zulässt. Das zeigt aus meiner Sicht, dass in keiner Weise eine Einigkeit über den Gegenstand von Kausalitätstheorien besteht, also über jene Relation oder eben jene Relationen, die „Kausalität“ genannt werden.

6.3 Kausalmodelle von Erklärung und Verstehen („Kausalismus“, „Realismus“)

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In diesem recht offensichtlichen und vielleicht völlig trivialen Sinn kann ein methodologischer Antikausalismus (bezogen auf kausale Erklärungen) in den Geschichtswissenschaften einige Plausibilität beanspruchen, vor allem auch vor dem Hintergrund der Globalthesen, historische Erklärungen seien klarerweise „kausal“, deren Gültigkeit a priori als gewiss gilt. Wenn man so will, was aber die Tendenz zur Trivialisierung in sich trägt, dann kann man aber auch sagen, dass hier öfters und mithin vielleicht immer implizit und vielleicht quasi-narrativ singuläre und generelle Kausalzusammenhänge beschrieben werden, also Informationen über Kausalitäten vielleicht gar gesucht und gefunden und dem Leser unterbreitet werden, und dass insofern auch immer kausale Erklärungen sozusagen als Kollateralschaden mitgeliefert werden, auch wenn das nicht wirklich im Interesse der jeweiligen Forscher liegt und diese das auch wohl kaum glauben würden, wenn man ihnen dies unterbreitete. Diese Lesart ergibt sich aber nur ansatzweise direkt vor dem Hintergrund des ansonsten unterkomplexen naiven methodologischen Kausalismus, kaum vor anderen Vorstellungen von Erklärungen und kausalen Erklärungen (Kapitel 5.4), in denen etwas mehr verlangt wird, z. B. allein die Formulierung einer klaren Frage. Wenn man das so sieht, dann steckt hinter kausalen Erklärungen aber auch nicht unbedingt viel Spannendes, denn dann können Geschichtswissenschaftler fast nicht anders, als kausale Erklärungen zu liefern. Zum Beispiel formuliert dann nebenbei jeder Geschichtswissenschaftler bereits Kausalerklärungen, der einen dynastischen Stammbaum malt oder die Ergebnisse einer A-Kreisliga (im Fußball) abschreibt. Das ist aber eher nicht dasjenige, was Kausalisten im Kontext von Thesen zu sogenannten „historischen Erklärungen“ vor Augen hatten, was eigentlich umstritten gewesen und vielleicht auch irgendwie interessant ist. Wenn man nicht so will, lässt sich dies auch so zusammenfassen: „Kausalität“ bleibt in vielen geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen, auch über die Mini-„Anatomie“ hinaus, eine Blackbox. 276Maurice Mandelbaum (1942) hatte vor langer Zeit behauptet, die Ablehnung in der geschichtswissenschaftlichen Metatheorie von etwas, das in der Praxis offenkundig relevant sei, nämlich Kausalität, sei ein Paradox, das eine Untersuchung wert sei. Ich würde dieses Paradox in einer Version 2.0 folgendermaßen fassen: Es besteht in der Kluft zwischen einer offenkundig vorausgesetzten und allgegenwärtigen Kausalitätsontologie auf der einen Seite und der Seltenheit von expliziten (und vielleicht theoriegeleiteten oder modellhaften) kausalen Erklärungen auf der anderen Seite. Sieht man das so, dann stellt sich die Kausalitätsproblematik wie auch die Erklärungsproblematik eventuell etwas anders dar, zunächst einmal differenzierter und ohne ideologische Obertöne. Es ist dann auch eventuell möglich, dass es keine einheitliche Lösung für alle Bereiche der Geschichtswissenschaften und hinsichtlich der vier-schichtigen Kausalitätsproblematik gibt. Gelegentlich ist in der Philosophie von „begrifflichem Pluralismus“ nun die Rede, weil das wechselseitige Verhältnis der Kausalitätsphilosophien scheinbar genauso schwer zu klären ist wie deren Adäquatheit zu ihren Gegenständen (Realität, Redensarten, Rechtfertigungspraxis und Erklärungspraxis). Bei E. Nagel (1961, 73) hieß es bereits: „The fact that the term „cause“, dp has this wide spectrum of uses immediately rules out the possibility that there is just one correct and privileged explication for it.“ Das gilt gerade dort, wo es gar keine klare Verwendung und klarerweise signifikante Verwendung gibt, nämlich wohl in Geschichts- und Sozialwissenschaften. Ein Pluralismus täuscht aber gerade in unserem Gegenstandsfeld eventuell darüber hinweg, dass die Unterschiedlichkeit der Vorstellungen über Kausalrelata und Kausalrelationen im Bereich der Geschichts- und Sozialwissenschaften jenseits eines Common-Sense-Realismus vielleicht viel eher einen Kausalitätskonstruktivismus nahe legt, der

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Die Uneinigkeit wie auch die Unklarheiten über soziale Makro-Makro- und Makro-Mikro-Kausalität sind ein zweiter deutlicher Indikator für diese Unklarheit aus dem Feld der Sozial(meta)theorien. Zur Historischen Soziologie siehe Schützeichel 2004.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

„kausal“ genannten Erklärungsvorstellungen jede Prima-facie-Plausibilität und Trivialität nimmt, und keinen Pluralismus, der unterstellt, dass an allen philosophischen Kausalitätsvorstellungen im Rahmen ihrer „Verwendung“ in den Sozialwissenschaften gleichzeitig irgendetwas dran ist, zumal die Sozialwissenschaften noch keine annähernde Einheitlichkeit in der Auffassung über das Mobiliar des Sozialen erreicht haben, also auch mögliche Relata in Kausalrelationen (Kapitel 7). Dabei müssen wir es hier bewenden lassen, bis wir wenigstens einen expliziteren ontologischen Rahmen zur Verfügung haben (7.3.8, 7.4, 7.5). Aber das Ontologiedefizit scheint gerade im Kontext von Kausalitätsontologie und Kausalerklärungsvorstellungen offenkundig zu sein. Hier kann man offenbar rein gar nichts voraussetzen. Genaueres weiß man erst, wenn man über eine komparative Evaluation von Kausalitätsphilosophien im Rahmen von Geschichts- und Sozialwissenschaften verfügt. Natürlich ist es auch hier so, dass die Probleme so groß sind, dass es mehrere Gründe dafür gibt, dass man auch bezogen auf „die Geschichte“ keine eindeutigen und einfachen Antworten auf alte Fragen geben kann.

6.4

Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

Damit kommen wir zu den berühmt-berüchtigten „Erzählungen“. Hier ist das Ontologiedefizit vielleicht versteckter und in der Vielfalt der Narrativismen auch eventuell kaum erkennbar: „Es ist wie in anderen Ansätzen, die sich als ‚narrativ‘ verstehen, nicht leicht, genau zu bestimmen, was eigentlich das Narrative ausmacht“ (Schützeichel 2004, 56). Peter T. Manicas (2006, 165) zitiert Theda Skocpol mit der Behauptung, „since ‚narratives can be structured in many, many ways,‘ ‚ to advise people to write ‚narratives‘ is really to advise nothing‘“. Aufgrund dieser Vielfalt und Unklarheit ist auch schwer möglich, schnell herauszufinden und kurz und knapp darzustellen, was hier und dort unter „Erzählung“ verstanden wird und was dies in den jeweiligen Vorstellungen vielleicht mit Erklärung und Verstehen zu tun hat, vielleicht gar mit Forschung. In einer Sprache, die dem Narrativismus eigentlich fremd ist, könnte man – mit einem von Passmore (1958) geborgten Ausdruck – sagen, dass unklar ist, was ein „narratives Modell“ ist. Eine systematische Übersichtsdarstellung über Anerkanntes und Strittiges am Schnittpunkt von Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie und Methodologie der (Historischen) Sozialwissenschaften scheint es diesbezüglich ebenfalls nicht zu geben. Auch in den expliziteren Vorstellungen von „Narrationen“ und „narrativen Erklärungen“ muss irgendetwas „erzählt“ werden. In wenigstens manchen dieser Strömungen gibt es einen erkennbaren Zusammenhang der Erklärungsvorstellungen mit ontologischen Vorstellungen über Gegenstände der Geschichtswissenschaften und insbesondere bestimmte Relata und Relationen, kann man doch recht problemlos Vorstellungen von „genetischen“, „genetischsequenziellen“, „historischen“, „historisch-genetischen“, „kolligatorischen“, „kausalen“ oder auch „strukturellen“ und neuerdings ansatzweise „mechanistischen“ (Glennan 2010, 2014) Erzählungen finden. Auch hier könnte man viel aufklären, wenn man unsere einfachen Fragen stellte. Es gibt narrativistische Vorstellungen mittlerweile nicht mehr nur im Rahmen der Geschichtsphilosophie, sondern auch in der Breite der sozialwissenschaftlichen Metatheorie. Dabei finden sich in den unterschiedlichsten Traditionen, die in vielen Fällen auch nichts miteinander gemeinsam haben, immer wieder ontologische Ideen, nicht nur im Rahmen des „phänomenologischen“ Narrativismus, der Erzählungen in die Welt verlegt und dessen Vertreter von J. Paper (2006) daher mit dem Ausdruck „plot reifier“ bezeichnet worden sind. Obwohl die ontologischen Vorstellungen zumeist im Mantel von dualistischen Vorstellungen

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

333

und mit dem Bestreben einer Abgrenzung von historischen Erklärungen und historischem Verstehen von „wissenschaftlichem“ Erklären und Verstehen formuliert worden sind, könnte man versuchen, diese Literatur zu integrieren oder systematisierend zu rekonstruieren, indem man fragt, nach welchen Gegenständen gefragt wird, welche Fragen in diesen Philosophien als zentral gelten und inwiefern deren Beantwortung in welchen Grenzen etwas an diesen Gegenständen (im neutralen Sinn) erklärt oder verstehbar macht. Ferner wäre jeweils nach dem Kontakt dieser Philosophien mit konkreter Forschung zu fragen, denn auch hier ist er eher selten. Wir können dem hier nicht in der notwendigen Breite und tiefe nachgehen, da die Literatur auch hier überbordend und desintegriert ist. Wenn von „Narrationen“ und „narrativen Erklärungen“ in geschichtsphilosophischem Kontext die Rede ist, dann muss man immer vor Augen haben, dass jene Erklärungen nicht aufgrund von darin versteckten Hypothesen über Gesetzmäßigkeiten oder Kausalrelationen erklärend sein durften, wie etwa in Hempels (1962, 1965, 1977, Esser 1996) Vorstellungen zu „historisch-genetischen Erklärungen“ und den weitgehend damit identischen Vorstellungen von A. C. Danto (1980 1965) über „historische Erzählungen“, weil dann mit der Abgrenzung von Subsumtionsmodellen der genuin „historische“ Charakter verloren gegangen wäre, mit dem ja unter anderem Geschichte von (Natur-)Wissenschaft abgegrenzt werden sollte. Obwohl in manchem geschichtstheoretischen Kontext der Ausdruck „Erzählung“ irgendwie mit „Handlung“ assoziiert wird (vgl. bereits Mandelbaum 1967), dürfen Historische Erzählungen auch nicht bloß verkappte Handlungserklärungen sein oder mikrofundierte Modelle „historischer“ oder sozialer Prozesse, denn im letzteren Fall wäre der Großteil der explanatorischen Kraft unter Umständen in (impliziten) Handlungstheorien und entsprechenden allgemeinen Hypothesen zu verorten (siehe auch 8.1). Wir können dies hier nur streifen. Aber auch hier ist es so, dass die Relata und die Relationen oder, allgemeiner formuliert, die Gegenstände zu problematisieren sind, wobei prinzipiell die Möglichkeit besteht, dass in Narrativismen andere Relationen zentral sind als in anderen Erklärungsvorstellungen. Sie müssten dann bloß benannt werden, sodass man versuchen könnte, sie in eine Allgemeine Hermeneutik der Geschichtswissenschaften zu integrieren oder gar den spezifischen („historischen“) Charakter eines Typs von Erklärung und Verstehen nachweisen, indem man z. B. eine Relation benennt, die spezifisch ist für „narrative Modelle“ oder eben Erzählungen. Grob angedeutet ist die Lage wie folgt: In Abgrenzung zu Covering-Law-Modellen wurde im Rahmen genetisch-sequenzieller Vorstellungen betont, dass zeitliche Abfolgen von irgendwas eine narrative oder „historische“ Erklärung auszeichnen, und nicht Gesetzmäßigkeiten oder regularitätstheoretisch verstandene Kausalität. Manchmal war in einem Atemzug von einem „sequential or narrative view of historiography“ (Mandelbaum 1967, 416) die Rede. Topolski (1976) nannte solche Vorstellungen genetisch-sequenzielle Erzählungen, die in mancher Literatur locker mit Autoren wie von Ranke und anderen assoziiert werden (Di Nuoscio 2006; siehe auch Plenge 2014b; Mink 1966, 33: „understanding afforded by sequential explanation“). Die Sicht ist nicht illegitim, denn manchmal wollen Geschichts- und Sozialwissenschaftler, wenn sie dazu auch entsprechende Daten haben, wirklich (auch) haarklein rekonstruieren, wie irgendetwas aufeinander gefolgt ist. Eine Frage ist aber im Rahmen dieses Kapitels: Was genau folgt aufeinander?277 Sind zeitliche Relationen wirklich alles, was in der Beschreibung dieser Abläufe eine Rolle spielt? 277

Die Frage ist nicht trivial, wenn man sich zum Beispiel vergegenwärtigt, dass im Pan-Dispositionalismus sozusagen zeitliche Instanzen von Strukturen mit ihren „causal powers“ aufeinander folgen können, in anderen Kausalerklärungsvorstellungen bisher wohl nicht gesagt worden ist, was genau jene (historischen oder sozialen) Ereignisse sind, die aufeinander folgen, und ferner geschichtstheoretische Schulen seit der Re-

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Bei idealistischen Autoren wie M. Oakeshott (1966), die früher viel zitiert worden sind, sollten solche Beschreibungen unfassbar „eng“ sein („no lacuna is tolerated“) und Kausalität sollte und durfte keine Rolle spielen. Es ist nur nicht wirklich zu sehen, vor dem Hintergrund welcher (idealistischer) Ontologie dies durchzuhalten ist, wobei Forschungspraxis auch hier nicht relevant war. Wie dem auch sei, solche Beschreibungen wurden auch als genuin „historisch“ aufgefasst. Niemand in der Anatomie (Kapitel 3) bietet ein schlagendes Beispiel dafür, dass „die Historiker“ chronologische Abfolgen von Irgendwassen „erzählen“ oder sich vornehmen, diese im äußersten Detail sozusagen als Selbstzweck zu beschreiben. Das machen sie ganz einfach nicht oder nur selten, vermutlich, weil sie einfach Probleme lösen wollen, die zudem beinahe immer einen anderen Zuschnitt haben. Zumindest in keinem unserer Fälle machen sie so etwas in sonderlich signifikanten Ausmaßen, obwohl natürlich Beschreibungen von irgendwelchen Relata in zeitlichen Relationen immer wieder vorkommen, z. B. in der Erforschung und Beschreibung von Trends in Schafwollproduktion, der Bevölkerungsentwicklung von Marseille oder Laichingen (Stone 2004, Stephenson 1988, Sewell 1985, Medick 1996) oder in Interaktionen im Rahmen des Kampfes für oder gegen Schriftwechsel (Frings 2007a). Der Narrationsskeptiker und Historische Soziologe W. Bühl (2003, 27) schrieb: „Ein narrativer Zug scheint unvermeidlich für alle Historiker zu sein, insofern in die Historiographie immer eine zeitliche und chronologische Ordnung eingeschlossen ist. Für die gewählte Chronologie braucht man eine plausible Erklärung.“ Hier sind mit dem Label „narrativ“ also ganz einfach zeitliche Relationen zwischen Irgendwassen gemeint, wobei Narrationen Texte sind, die jene Relata in den Relationen beschreiben.278 Daran sollte aber nichts irgendwie spezifisch narrativ oder spezifisch geschichtswissenschaftlich („historisch“) sein, denn zeitliche Ordnungen sind wohl in allen Wissenschaften relevant oder vorausgesetzt. Spannender scheint schon, was genau eine zeitliche Ordnung hat, ob dies – wie im strikten ontologischen Individualismus – zum Beispiel immer bloß isolierte Handlungen individueller Menschen sind oder auch anderes. Man könnte nun weiter stipulieren, dass diese Vorstellungen von sequenziellen Erzählungen auf impliziten Vorstellungen von (ontischen) Geschichten aufbauen, denn einige der erkenn- (7.3.5) bzw. erahnbaren (2.1) Geschichtsbegriffe haben etwas mit zeitlichen Relationen von Irgendwassen zu tun. Man muss aber mehr erfahren über die Relata dieser Relationen, um irgendetwas genuin Historisches oder „Narratives“ vermuten zu dürfen. Von anderen als zeitlichen Relationen und Relata ist auch die Rede, wenn unterschiedlich und unterschiedlich vage von „Ganzem“ und „Teilen“ auch in Kontexten von Narrativismen die Rede ist. In ontologischer Sprache wurde im Rahmen von etwas, das man „einordnende Erzählungen“ nennen könnte (Plenge 2014c), teilweise gesagt, es würde gezeigt werden müssen, dass ein Etwas sozusagen ein „Teil“ von einem „größeren“ oder „ausgedehnteren“ Etwas ist, das immer mal ein „Ganzes“ genannt wird. In der Beschreibung dieser Relation bzw. dem Aufzeigen dieser Relation besteht dann – so eine mögliche metatheoretische Hypothese – eine Erklärungsleistung einer Person bzw. die Erklärung als Aussagenzusammenhang auf einem Stück Papier. Auch dynamisch betrachtet (Kapitel 5.4) könnte man das Auffinden einer solchen Relation bzw. diesbezüglicher Informationen womöglich als eine Erklärungsleistung auffassen. Die Fragen sind aber eigentlich: Welche Relation genau? Welche Relata? Die Rede

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volution der Annales die Erforschung von etwas, das „Ereignis“ genannt wird, entweder ablehnen oder als sekundär erachten. Bei dem Geschichtstheoretiker Prost (2010, 240) reichen zwei zeitlich geordnete „Ereignisse“ aus, um „die Erzählung zu definieren“. Rüsen (2013, 46) bestimmt das Erzählen (und damit nicht die Erzählung als Text) folgendermaßen: „Erzählen ist ein besonderer mentaler Vorgang der menschlichen Sinnbildung. In ihm steckt ein gerüttelt Maß an kognitiven Erkenntnisleistungen, aber zugleich auch mehr: nämlich grundlegende Bezüge auf eine handlungsbestimmende und leidensbewältigende Ethik.“

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

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von „Etwas“ soll wieder andeuten, dass hier ontologische Unklarheiten zu vermuten sind. Ich hatte z. B. mal die Interpretationshypothese aufgestellt, bei dem „Ganzen“ seien „Prozesse“ gemeint, was ich dann direkt einschränkend kommentierte (Plenge 2014c). Denn beinahe niemand in der Geschichtsphilosophie hat, soweit das hier bekannt ist, sich beispielsweise dazu geäußert, was mit „Prozess“ gemeint sein könnte, auch nicht im Rahmen von „Kolligation“, worunter manchmal auch jene Erzählungen oder Erklärungen fallen, die ich als „einordnende Erzählungen“ bezeichne. Was auch immer solche Prozesse sind und was immer deren „Teile“ sind, wurde also, erstens, nie gesagt und, zweitens, kämen auch andere „Ganzheiten“ infrage, in denen vielleicht nicht bloß zeitliche Relationen und eine „Prozess“-Kategorie eine Rolle spielen (Kapitel 7). Wie wir nun wiederholt ansatzweise sehen werden und gesehen haben, ist offenbar unklar geblieben, welche „Ganzheiten“ das sein könnten. Geschichts- und Sozialwissenschaftlern kommt sofort das Wort „Struktur“ in den Sinn oder vielleicht „Institution“. Das war aber in diesen Fällen nicht gemeint. Manche würden auch sicherlich sagen, jene Ganzheiten, in die man narrativ z. B. ein Ereignis einordnet, seien ontische Geschichten (Kapitel 2.1) oder „temporal wholes“ (Mandelbaum 1977). Aber das wurde in Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts eigentlich nicht explizit thematisiert. Die Geschichtstheorie dürfte in dieser Hinsicht mehr zu bieten haben als die Geschichtsphilosophie. Auch diese zweiten Typen von einordnenden Erzählungen wurden teilweise und zumeist lose in den Kontext der Rede von „Erzählungen“ gestellt (zuletzt latent Day 2008, Walsh 1951). Andere nannten so etwas „Kolligation“ (von „colligere“ = „zusammenfassen“), wobei der Ausdruck auf W. Whewells History of the Inductive Sciences zurückgeht. Wiederholt finden sich Bezugnahmen auf diese „Kolligation“ noch heute in der Literatur (Tucker 2004a/b), obwohl die Ursprungsliteratur in der Geschichtsphilosophie sehr begrenzt ist (siehe Plenge 2014c). Auch hier sollen Kausalität und/oder Gesetze oder „Mechanismen“ keine Rolle spielen. Es scheint aber so vage geblieben zu sein, was die Ontologie hinter solchen „Erzählungen“ ist, dass wir hier ggf. mehr hineinlesen als drin steckt, um überhaupt etwas zu sagen.279 Diese Vorstellungen können aber insofern an Vorstellungen von (manchen) Geschichtsund Sozialwissenschaftlern andocken, als diese manchmal schreiben, sie erklärten und verstünden durch Einordnung von etwas in einen „Kontext“ oder eine „Struktur“, also einen irgendwie umfassenderen Gegenstand (im neutralen Sinn). Wir sind auf eine solche Grundidee bereits gestoßen (5.5): Historians tend to explain things not by subsuming them under a general or ‚covering‘ law, but by relating them to their context (Sewell 2004, 10; Hervorhebung dp). They were shared by „most Conservatives and many Liberals“. This is a distinctive form of explaining motives, by placing them in the context of larger structures of consciousness (Topolski 1991, 329, Hervorhebung dp). In the process of developing such explanatory procedures, we often refer to structural explanation, locating a given element within a structure and studying its role in it, as well as to genetic explanations (such as a demonstration of the developmental stages of a type of social consciousness) (Topolski 1991, 336, Hervorhebung dp).

279

Ich kann hier im Vergleich zu Plenge (2014c) auch keine Neu-Exegese dieser Literatur vornehmen. Ich erlaube mir hier also eine Vogelperspektive, um möglicherweise verschiedene Diskursuniversen im Rückgriff auf Kapitel 5 aneinander wenigstens anzunähern und auf Kapitel 7 hinzuarbeiten.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Hier sind nun Relationen zu vermuten, die im Kontext von Verstehen diskutierbar wären, die in klassischen Debatten durch die Polarisierung der Lager vielleicht keine wechselseitige Beachtung gefunden haben. Ähnliche Äußerungen könnten wir vermutlich aus zahllosen geschichtswissenschaftlichen Ansätzen zusammentragen. Zu klären wäre nur, was jeweils mit „Kontext“ und „Struktur“ genauer gemeint ist und wozwischen genau welche Typen von Relationen bestehen. Tucker (2004a) scheint im Kontext von Thesen zu „kolligatorischer Erklärung“ davon auszugehen, dass etwas, das „Renaissance“ genannt wird, ein solches Ganzes ist. Was „Kontext“ genauer heißen soll, wird meines Wissens selten genauer zu klären versucht, obwohl die Einordnung von etwas in einen solchen Kontext oder die „Zusammenfassung“ von etwas manchmal als spezifisch „historisch“ gilt, auch im Unterschied zu Subsumtionserklärungen oder anderem. Wir erinnern uns kurz daran, dass wir prinzipiell für jede Relation zwischen irgendwelchen Gegenständen (im neutralen Sinn) offen sind und deren Erklärungs- und Verstehenszuträglichkeit nicht von vornherein ausschließen (Kapitel 4.2, Kapitel 5). Man müsste nur bezogen auf, erstens, sequenzielle und einordnende oder „kolligatorische“ Erzählungen etwas mehr erfahren, nämlich was genau in welchen Relationen steht. Wir haben zuvor schon gesehen, dass Carl G. Hempels Ontologie recht skizzenhaft und begrenzt gewesen ist, wie es wohl auch die kausalistischen Ontologien geblieben sind, denn wenn man so will, existieren im „Positivismus“ bloß recht unbestimmte Irgendwasse, also unexplizierte „Phänomene“, „Tatsachen“ und „Ereignisse“ und Regularitäten zwischen diesen. Das kann natürlich dazu motivieren und hat dazu motiviert, nach anderen explanatorischen Relationen als Regularitäten Ausschau zu halten (wie tendenziell auch bei Mink 1969 und anderen), wenn man glaubt, dass es z. B. jene (strikten oder anderweitig explanatorischen) Regularitäten nicht gibt, was dann letztlich zu der Opposition zwischen „Positivisten“, „Hermeneutikern“ oder „Interpretisten“ und „Narrativisten“ führt. Doch die Rede davon, unklare und zumeist unexplizierte Alternativkategorien wie „Situation“, „Struktur“ oder „Institution“ seien der „Kontext“, klärt eben auch nicht, worin die Relation zwischen was genau besteht, was inwiefern erklärt und besser verstanden wird. Auch die Rede von der „Konstitution“ von „Sinn“ durch „Kontext“ hilft wenig, wenn man nicht weiß, was „Konstitution“, „Sinn“ und „Kontext“ genauer bedeuten. Das werden wir nun sehen. Eine Variante dieser einordnenden Erzählungen wird man außerhalb der engeren geschichtsphilosophischen Erzählforschung vermuten dürfen, wenn Hermeneutiker oder Verstehende über „Sinn“ und „Teile“ und „Ganzes“ reden. Auch hier dürfte man häufiger so etwas wie Sewells Rede von „Kontext“ finden. Der Soziologe H. Esser zählt zwar zu den Erklärern in Hempel-Popperscher-Tradition, anhand seiner Äußerungen lässt sich aber erahnen, was anderen vor Jahrzehnten im Rahmen von (Formen von) Hermeneutik ähnlich vorschwebte. Esser schreibt: ‚Sinn‘ bedeutet – in einem sehr weiten Sinne –, daß es für einen Sachverhalt eine Verweisung auf andere Sachverhalte gibt, die den Sachverhalt in einen Rahmen stellt, der über das einzelne Ereignis hinausweist (Esser 2000d, 34; Hervorhebung dp). So etwas Ähnliches scheint man – ich spekuliere etwas – auch außerhalb der eher analytischen Philosophie der Geschichte finden zu können, also die Rede von „Sinn“ und „Verweisung“. Hier wird mit „Verweisung“ eine Relation angedeutet und mit der Metapher des „Rahmens“ auch irgendein Ganzes. Ferner heißt es: Beim subjektiven Sinn eines Handelns besteht die Verweisung in seiner Einbettung in die subjektiven Absichten des Akteurs und in die aus seiner Sicht mittelgerechte Wahl

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

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des Handelns. Beim sozialen Sinn eines Handelns beziehen sich die Verweisungen auf sozial geltende Regeln, in die ein Handeln eingebettet ist: die Regeln einer übergreifenden, von allen Mitgliedern eines Kollektivs geteilten, Vorstellung einer Ordnung (Esser 2000d, 34). Der sogenannte „subjektive Sinn“ verweist also in Weberianischer Sprache auch zurück auf die Erklärung von Handlungen. Esser glaubt im Rahmen seiner „Erklärenden Soziologie“ hierzu über Gesetze und/oder Kausalität zu verfügen, worin er auch die Erklärungsleistung gemäß dem deduktiv-nomologischen Modell sieht. Im Fall des „subjektiven Sinns“ von individuellen Handlungen ist die schwer verständliche Metaphorik hinter „Verweisung“ und „Einbettung“ also prima facie in eine Theorie (oder Gesetzeshypothese) übersetzbar und daher auch vielleicht verstehbar. Das heißt, die entscheidende Relation ist hier eine mentale Gesetzmäßigkeit, die in einer Handlungstheorie hypothetisch beschrieben wird. Die Relation hinter der Rede von „Verweisung“ auf „sozial geltende Regeln“ und was auch sonst noch immer zum Sozialen oder Kulturellen gehören mag, ist aber wohl erneut nicht aus der Verweisungs- und Rahmen-Metaphorik heraus in etwas Verstehbares zu übersetzen. Dass andere Autoren auch hier statt von „Verweisung“ von „Verursachung“ durch Soziales vor dem Hintergrund von anderen Ontologien sprechen, kann hier nur notiert werden (z. B. Fleetwood 2008). Das Erklärungspotenzial, das in der Rede von „Verweisung“ vermutet werden könnte, aber von Esser selbst nicht behauptet wird, ist nicht direkt ersichtlich, wird man doch bloß metaphorisch darauf verwiesen, dass mehr als eine Person irgendetwas glaubt, also ein „Kollektiv“ (7.3.1) oder eine „Gruppe“ (7.3.1) bestimmte Vorstellungen teilt („Vorstellungen einer Ordnung“). Mehr ist auch in obiger Äußerung von Topolski mit „structure of consciousness“ nicht gemeint. Es werden also (bloß) Ähnlichkeitsrelationen behauptet. Der metatheoretische gedankliche Rahmen ist hier so ähnlich wie in Vorstellungen von „Kolligation“ oder einordnenden Erzählungen, die man auch „kontextualisierende Erzählungen“ nennen könnte. Aber auch hier müsste man mehr erfahren, zumal die Relata, z. B. „Sinn“, scheinbar kaum verstehbar beschrieben werden können.280 Wo ist also inwiefern die Erklärungsrelation oder was wird inwiefern verstanden? Ein Beispiel erläutert die Frage: „Erst vor dem Hintergrund ! der Abseitsregel ist es beispielsweise sinnvoll !, eine Abseitsfalle aufzubauen“ (Esser 2000b, 20). Das heißt aber auch prima facie, wie wir bereits vermuteten (4.2), nichts anderes, als dass eine Person x eine Überzeugung über die Überzeugungen und Ziele anderer – im Profifußball minimal 22 weiterer – Personen hat und vor der „Emission einer Handlung“ (Schmid 1979) mit dieser Überzeugung irgendwie kognitiv arbeitet. Nur wer glaubt, dass zum Beispiel ein Schiedsrichter recht wahrscheinlich pfeift, wenn er das Kommando gibt und die Abseitsfalle erfolgreich „zuschnappt“, der glaubt auch, dass es „sinnvoll“ ist („nützlich“, „Erfolg versprechend“, „eine gute Geschichte“), das Kommando zu geben oder, falls er das alleine kann, einfach selbst den Schritt nach vorne zu machen. Neben Ähnlichkeitsrelationen bezüglich irgendwelcher Überzeugungen von Personen spielt in solchen Fällen also zusätzlich die Trivialität der Orientierung individueller Entscheidungen an Hypothesen über das Denken und Handeln anderer eine Rolle („soziales Handeln“). Das versteht man vor dem Hintergrund von noch so skizzenhaften Handlungstheorien und ihren generellen Annahmen zumindest grob, wenn man „Sinn“ in eine Erwartungs- oder Überzeugungsvariable der generellen Hypothesen oder Gesetzeshypothesen sozusagen übersetzt. Aber die Notwendigkeit einer Sinnentität oder Sinnstiftungsentität („Rahmen“) und ei280

Esser (siehe Literaturverzeichnis) verfügt über eine sieben Bände umfassende Soziologie, in der jene „Verweisung“ letztlich in handlungstheoretisch fundierte Modelle von Interaktionen zwischen konkreten Personen übersetzt wird (oder werden soll).

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

ner genuinen „Operation“ namens „Verstehen" (Abels 1946) oder eine besondere Relation zwischen „Kontext“ oder „Sinn“ und Handeln ist wohl weder für Erklärung noch für Verstehen notwendig. Von „Teilen“ und „Ganzen“ und „Meaning“ ist aber auch im Kontext von „hermeneutic understanding“ immer mal die Rede, gerade auch im Kontext von „Historizität“. 281 Damit kommen wir zu einer weiteren Version. In einer dritten Variante von „Kolligation“, nämlich der begrifflichen (und nicht modellartigen) Zusammenfassung oder Zusammenbindung von Irgendwassen zu Irgendwassen, die auch locker in den Kontext der Rede von „Erzählung“ gestellt worden ist (Plenge 2014c), war die Idee, dass man durch die Bildung eines Begriffs zur „zusammenfassenden“ Beschreibung von etwas dieses etwas bereits erklärt oder „historisch“ versteht. Das heißt grob, man beschreibt ein (zusammengebundenes) Etwas oder auch eine (bloße lose) Menge von Etwassen282 als ein anderes Etwas, z. B. als eine „Renaissance“, „Feudalismus“, „Fordismus“, „Industrielle Revolution“ oder „Military Revolution“, „Putsch“, „1. WK“, „Geist des Kapitalismus“, „Fußballweltmeisterschaft“, „Junggesellenabschied“, „Mittelstand“, „Impressionismus“, „Stand“, „Klasse“, „Ritual“ oder „Generation Golf“, „Das lange 19. Jahrhundert“, „Untergang des Abendlandes“, „Risikogesellschaft“ oder vielleicht auch „Kultur der Gewalt“, „Deutscher Sonderweg“ oder „Zeitalter des Vorstoppers (im Fußball)“. Zu denken ist auch an Kockas (1978) „Klassengesellschaft“, die sich, so die titelgebende Hypothese, im Krieg befand. Wehler (1994 [1973], 64) sprach mal vom „Erklärungswert[]“ eines Begriffs wie „Bonapartismus“. William Dray (1959) prägte in einem Aufsatztitel den Ausdruck „Explaining What in History“. Andernorts wird die Frage, die in manchen solcher Fälle beantwortet werden soll, wie folgt formuliert (z. B. McCullagh 281

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Im Kapitel zum „hermeneutic understanding“ finden wir bei Mahajan (2011, 57: „Understanding the meaning of words, symbols and language through systematic exegesis is an essential part of the hermeneutic exercise but, by itself, it is insufficient and must be supplemented with historical exegesis. Every expression – word or action – is a part of the ongoing process of life and it must be related to that whole if we are to understand it at all; that is, it must be placed in the context of the historical world of the agent. Thus, historical exegesis also entails the recovery of the part-whole relationship. While it does not advocate historical determinism, it suggests that we can understand an expression when we place it in the historical world of which it is a part. The specificity of the agent’s experience, the concerns of his time illuminate the meaning of that text and enable us to make sense of the non-linguistic practices that inform the text.“ Mir ist nicht klar, um welche Teil-Ganzes-Beziehung es sich handelt, da mir nicht klar ist, was genau der Teil und was das Ganze ist. Daher ist der Hinweis, etwas dadurch besser zu verstehen, dass man es in den „ongoing process of life“ oder die „historical world“ einordnet, so klar wie der Hinweis, man verstehe Mentales durch Einfühlung. Auch aus dem sogenannten „Historismus“ sind durchaus ähnliche Vorstellungen überliefert. Bei Bernheim hieß es immer wieder (siehe auch Bernheim 1908), die „Geschichtsforschung will nicht nur wissen, was Einzelnes geschehen ist, sie will auch wissen, wie es geschehen ist, wie es geworden ist, im Zusammenhange der Entwicklung will sie das Einzelne sehen“ (Bernheim 1880, 90). Es heißt auch, „es wird uns als die eigentliche und höchste Aufgabe unserer Wissenschaft gelten, das einzelne Individuum im Zusammenhang mit seinem Volke und seiner Zeit, die einzelnen Zustände, Thaten und Institutionen der Völker im Zusammenhang mit ihrer eigenartigen nationalen Entwicklung, endlich die Geschichte der einzelnen Völker als Momente in der Gesammtentwicklung des menschlichen Geschlechtes zu erfassen und zu verstehen“ (Ebd. 7). Kurzum, die Wörter „Entwicklung“ und „Zusammenhang“ umfassen auch hier eine wohl bei genauerem Hinsehen unter Umständen äußerst problematische Ontologie, die eventuell unterstellt, dass dasjenige, was als (übergeordneter) „Zusammenhang der Entwicklung“ bezeichnet wird, in jedem Einzelnen anzutreffen ist. Denn es heißt, „in jeder einzelnen Erscheinung, jedem individuellem Thun den Zusammenhang der Entwicklung zu erkennen und aus der Kenntnis dieses Zusammenhanges erst das Einzelne wahrhaft zu begreifen“, sei die Eigenart der „Geschichte“ (ebd. 103). Im Rahmen unseres Programms (5.6) wäre also genauer zu klären, was das jeweils Einzelne ist und worin der Zusammenhang besteht. Die später erneut geforderte vergleichende Ontologie des Sozialen könnte man also auch „historisch“ bezogen auf die klassische Geschichtstheorie und dortige Ansätze ausweiten. Siehe im Vergleich dazu später 7.3.1.

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

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2004): Worauf lief das alles hinaus? What does it all amount to? Manche würden sicher schreiben: Was bedeutet das alles? Es dürfte nicht allzu wild spekuliert sein, dass im Kontext der Metatheorien der Geschichtswissenschaften bis heute so etwas oftmals unter „Interpretation“ oder „Deutung“ verstanden wird. Am Beispiel von Kockas „Klassengesellschaft im Krieg“ würde aus dieser Sicht eine kolligatorische Erklärung, manchmal mit „Erzählung“ assoziiert, öfters mit „Interpretation“, vermutlich darin bestehen, dass gezeigt worden ist, dass das – mit ontologischen Vorsichtsanführungszeichen versehen – Kaiser-„Reich“ oder vielleicht die deutsche „Gesellschaft“ die „Eigenschaften“ soundso hatte und deshalb eine Klassengesellschaft genannt werden kann, der Begriff „Klassengesellschaft“ also angewendet werden darf.283 Bekanntlich nannte Kocka dies nicht „Kolligation“, sondern „Theorieverwendung“, ein „Modell“ oder die Anwendung eines Marxianischen Klassenmodells auf einen konkreten Fall. Der Grundgedanke besagt also wohl im weiten Feld dieser Vorstellungen im Rahmen von „Kolligation“, die vielleicht anhand von Kocka irreführend illustriert sind, weil dessen theoretische Vorstellung ausgefeilter waren, dass man durch diese Begriffsbildung eine (a) Gemeinsamkeit (Ähnlichkeit) von Etwassen (z. B. im Fall der Renaissance oder des Fordismus) oder vielleicht einen (b) Zusammenhang von Etwassen (z. B. im Fall der Klassengesellschaft) zeigt, sodass nahe gelegt werden kann, diese Etwasse bildeten (c) ein „Ganzes“, seien sozusagen keine unverbundene, unrelationierte oder ungebundene Menge oder ein bloßer „Haufen“ (Kapitel 7.3.1), sondern eine verbundene neue „Ganzheit“. Es ist wohl auch ein weiterer grober Fall denkbar, dass (d) ein ganzes Gebilde als solches eine Eigenschaft hat und zugeschrieben bekommt, beispielsweise eine „Eigenschaft“, eine Klassengesellschaft zu sein. Hier öffnen wir erneut das angekündigte Fass (5.5), das darin besteht, dass ontologische Unschuld dann unmöglich wird, wenn explizit oder implizit von Relationen die Rede ist. Die Erklärung oder die Erklärungsleistung (Erfolg des Forschers) besteht dann darin, dass diese Darlegung oder bloße Behauptung dieses Ganzheitscharakters oder dessen Erfassung (z. B. „x und y und z konstituierten eine militärische Revolution“) oder die Behauptung des Zutreffens einer Beschreibung (z. B. „x war eine Klassengesellschaft zu t“) die Erklärung oder Erklärungsleistung bereits ist, vielleicht auch bloß die Feststellung von Gemeinsamkeiten (Ähnlichkeiten) im Untersuchungsfeld („Fordismus“, „Renaissance“, „Zeitalter des Vorstoppers im Fußball“). Worin dieser Ganzheitscharakter besteht, der allerdings in diesen Fällen eben offenbar nicht notwendig in Zeitlichkeitsmetaphern gekleidet oder „prozessual“ zu verstehen ist, wie obige Beispiele zeigen, sondern z. B. auch in räumliche Metaphern gekleidet werden kann, ist selten gefragt worden, sondern die Rede von „Teilen“ und „Ganzem“ ist in solchen Fällen prima facie rein metaphorisch, da die Relation (oder Typen von Relationen) und die Relata oder (Typen unterschiedlicher Relata) nicht problematisiert, genannt oder in einem systematischen Rahmen erläutert werden. Daher muss die Frage auch offen bleiben, inwiefern überhaupt ein Ganzes vorliegt (siehe auch Lorenz 1997; siehe zu bleibenden Unklarheiten bei manchen „Institutionalisten“ auch 7.6). Es bedürfte also auch in solchen Kontexten einer expliziten Ontologie, um die Rede von Etwassen vermeiden zu können und die Plausibilität der Vorstellungen weiter beurteilen zu können. Eine methodologische Frage wäre gewesen, wie eine solche „kolligatorische“ Begriffsbildung vor sich gehen kann und wie nützliche „kolligatorische Begriffe“ von unnützen zu unterscheiden sind, wozu auch zu klären wäre, was mit ihnen überhaupt genau erreicht werden soll. Falls solche Kolligationen nicht irgendwie realistisch aufgefasst werden und mit 283

„Reich“, „Gesellschaft“ und „Eigenschaft“ müssen hier bis zum Ontologiekapitel mit Topflappen angefasst werden.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

Kolligationen eine gegenstandsadäquate Zusammenfassung wenigstens prinzipiell angestrebt wird und diese Kolligationen also falsch sein könnten (was oftmals nicht intendiert gewesen zu sein scheint, vgl. Mandelbaum 1977, 164 f., oder andernorts als unmöglich erachtet wird, vgl. McCullagh 2004, 31), dann bräuchte es immer noch irgendwelche Kriterien, bessere von schlechteren Kolligationen abzugrenzen und eine Erläuterung davon, worin hier der Erklärungscharakter nun genau besteht.284 Manche (relativistische) Narrativisten würden, was sicherlich auch in vielen Fällen sehr plausibel ist, argumentieren, dass solche Kolligationen willkürlich und die stipulierten Ganzheiten fiktiv sind (z. B. Ankersmit 1981). Wenn es aber solche gegenstandsadäquaten Zusammenfassungen gibt, dann könnten sie etwas mit dem Verstehen von etwas zu tun haben, weil in solchen Zusammenfassungen Relata und Relationen zu einem Ganzen „zusammengefasst“ werden, natürlich in rekonstruktiven Modellen. Auch hier treffen wir auf implizite Ontologien. Allein schon die Frage, was durch so eine Begriffsbildung überhaupt erklärt wird, muss als ungeklärt gelten, genauso wie die Frage, wodurch und inwiefern überhaupt, wenn man nicht etwas mehr erfährt. Wird das „Ganze“ durch die „Teile“ erklärt oder umgekehrt? Was ist aber zum Beispiel ein Teil einer „Revolution“ oder des „Kalten Krieges“ (Gaddis 2005), ein „Teil“ einer Klassengesellschaft oder ein Teil der „Renaissance“? Beispiele aus der Anatomie für potenzielle Ganzheiten sind z. B. das „Roman political system“ (Millar 1984, 1986), Marseille (Sewell 1985), unterschiedliche Gutsherrschaften (Topolski 1994a, Stone 2003), Wasserversorgungssysteme (Hainzmann 1975) oder die „Nobilität“ oder auch deren „Entstehung“ (Hölkeskamp 2011 1987), also kategorial prima facie durchaus unterschiedliche Ganzheiten (Kapitel 7). In anderen Kontexten aus der Geschichtswissenschaft, in denen diese Vorstellungen von „Kolligation“ gar nicht bekannt sind, wurden sie wie folgt kritisiert, wobei hier gewisse sozialtheoretische Schulen vor die Flinte der Kritik gezogen werden: Mit der Etikettierung z. B. von Kälteeinbrüchen im Juni als Schafskälte erklärt man dieses Ereignis nicht. Die bloße Bezeichnung der spontanen Entstehung einer sozialen Bewegung als Selbstorganisation macht ebenso wenig verständlich, warum es diese Bewegung plötzlich gibt. Und es führt auch nicht sehr weiter, zu fragen, ob – beispielsweise – die Europäische Gemeinschaft ein korporativer Akteur oder aber ein Regime oder eine gewisse Mixtur aus beidem „ist“ (Esser 1996, 57). Auch in den obigen Fällen sollte die bloße „Bezeichnung“ von etwas als irgendetwas vielleicht noch nicht alles sein. Anders gesagt, die Frage ist nicht in allen Fällen „Was ist x?“, sondern gegebenenfalls „Woraus besteht x?“ („Analyse“). Die reine Beschreibung durch ein Wort wird es wirklich kaum sein, die etwas erklärt und besseres Verstehen ermöglicht, wenn wir nicht an die „Magie der Worte“ (H. Esser) glauben wollen. Ist die Beschreibung adäquat, ermöglicht sie Tatsachenwissen (7.3.7). Wir gehen aber hier ja von der Hypothese aus, dass mit Verstehen etwas mehr verbunden ist (5.5). Der Titel von Drays Aufsatz „Explaining What in History“ erinnert daran, dass Esser hier voraussetzt, dass Erklärungen immer WarumErklärungen auf der Basis von „Gesetzen“ sind, wir aber gar nicht ausschließen, dass anderes möglich und legitim ist.285 Da bei Esser also auch eine dezidierte und selbstredend normative Vorstellung dessen, was (Sozial-)Wissenschaft ist oder sein soll, eine zentrale Rolle spielt, die ich hier noch im284 285

Die Frage stellt sich auch, was dies nun wieder mit Erzählung zu tun hat. Auf all diese Punkte kommen wir (beiläufig) in Kapitel 7 zurück, wodurch die hier an den Tag gelegte Skepsis sich zugleich selbst erklärt und zum Teil auflösen wird. Auf die Relationen und das Verstehen von Ganzheiten im Kontext der Mini-„Anatomie“ kommen wir in Kapitel 8.1 zurück.

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

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mer vermeiden muss (Kapitel 2), will ich festhalten, dass der Geschichtswissenschaftler M Füssel (2006) häufiger schreibt, ein x lasse sich mit einem Autor y und dessen Theorie (z. B. Luhmann, Bourdieu, Foucault, Althusser, de Certeau etc.) als ein z beschreiben, d. h., es lässt sich mit dem Vokabular oder den „Konzeptualisierungen“ (Füssel 2006, 333) eines bestimmten Autors beschreiben oder erfassen.286 Solche Fälle zieht Esser hier innerhalb der Soziologie vor die Flinte der metatheoretischen Kritik. Der Leser von Füssels „Gelehrtenkultur“, der nicht genauer mit der Forschungslinie vertraut ist, könnte vor dem Hintergrund solcher Kritiken fragen, warum diese Beschreibungen interessant sind, was ihre geschichtswissenschaftliche Funktion ist im Rahmen eines Forschungsprozesses oder auch im Rahmen eines Forschungsberichts oder eben einer „Erzählung“. Die Vermutung liegt nahe oder zumindest nicht ganz fern, dass damit eine Form von Erklärung verbunden sein soll beziehungsweise Verstehen erreicht werden soll287, zumal die Verwendung solcher Begrifflichkeiten in der Beschreibung von etwas in den Geschichtswissenschaften teilweise als „Theorieverwendung“ bezeichnet wird, mit der man andernorts beinahe immer Erklärung mit dem Ziel eines besseren Verstehens verbindet. Eine aus metageschichtswissenschaftlicher Perspektive und ferner vor dem Hintergrund der (analytischen) Erklärungstheorie auffällige sprachliche Wendung ist entsprechend „Vgl. zu diesem Begriff Autor x“. Es darf aber, auch im Anschluss an die alte „Theoriebedarfsdebatte“, noch als offen gelten, wozu man das genauer machen sollte und wozu dieser Vergleich dann hinreicht und wozu nicht.288 Auch hier darf man vielleicht implizite, vielleicht „philosophisch“ zu nennende Annahmen über Mittel, Wege und Ziele von Forschung vermuten (2.2), zumal es bekannte Kritiken diesbezüglich lange gibt. Seit sich G. Patzig (1979) als Philosoph in die Geschichtstheorie im Rahmen eines der wenigen runden Tische (2.2) einzumischen versucht hat, ist eine Kritik dessen, was manchmal auch „Interpretation“ von irgendetwas anhand von „Kategorien“, Begriffen oder Begriffsrahmen oder „Theorie“ genannt wird, bekannt: „Translation into one’s professional jargon produces familiarity not explanation“ (Bunge 1983b, 22), so lautet eine alte These. Und wie ein anderer bekannterer Autor in einer generellen Hypothese behauptete, „familiarity breeds content, but no insight“ (Hempel 1965, 432289). Aus einer metageschichtswissenschaftlichen Per286

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288

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„Der dargestellte Konflikt lässt sich mit Begriffen Michel de Certeaus als Unterschied von Strategie und Taktiken begreifen“ (Füssel 2006, 289). „Diesen Prozeß, kann man mit Begriffen der Kommunikationstheorie auch als Umstellung von ‚analoger‘ auf ‚digitale‘ Kommunikation beschreiben“ (Füssel 2006, 168 f.). „Die Studentenzeit war, in Begriffen der Ritualtheorie gesprochen, die Phase dauerhafter Liminalität, in der, durch die akademische Gerichtsbarkeit dem Zugriff der städtischen Obrigkeit weitgehend entzogen, bestimmte Formen der Devianz geradezu zur Norm bzw. zum Ausdruck einer spezifischen Gruppenidentität wurden“ (Füssel 2006, 251 f.). „Den für die hier verfolgte Fragestellung überzeugendsten Versuch einer Konzeptualisierung makrohistorischer Entwicklungen stellt die systemtheoretische Beschreibung gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse dar, die im Wesentlichen in der Formel von der Umstellung von ‚stratifikatorischer‘ auf ‚funktionale Differenzierung‘ kulminiert“ (Füssel 2006, 332). „Nach der Gefahr der übertriebenen Eingebildetheit wendet sich der Autor einem Phänomen zu, das man mit Pierre Bourdieu als Unterschied zwischen institutionalisiertem und nicht institutionalisiertem kulturellem Kapital bezeichnen könnte“ (Füssel 2006, 365). Die Vermutung ist zwar recht spekulativ, lässt sich aber tentativ an Stellen wie folgender Begründen: „Inzwischen wird dem Begriff der ,Repräsentation‘ eine zentrale Rolle für das Verständnis vormoderner Gesellschaften zugewiesen. Bereits seit längerem zu einem ‚Schlüsselbegriff‘ der Kultur- und Geschichtswissenschaften erklärt, stehen gleichwohl die wenigen konzeptionellen Erörterungen des Begriffs der ,Repräsentation‘ in einem merkwürdigen Missverhältnis zu seiner geradezu ubiquitären Verwendungsweise in empirischen Untersuchungen. Eine für unseren Zusammenhang anschlussfähige Konturierung des Begriffs hat Roger Chartier vorgenommen“ (Füssel 2006, 19; Hervorhebung dp). Vgl. zu dieser Wendung z. B. im Kapitel 1 in Füssel 2006 die Fußnoten 10, 12, 31, 62, 68, 75, 95, 127 und später 1514, 1598, 1782. H. White (2008 1973) sah dies wohl anders.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

spektive ist die Frage, worin der kognitive Nutzen der Übernahme von theoretischen Begriffen aus der „Theorie“ oder einem „Ansatz“ genauer besteht. Die Frage müssen wir auch gar nicht vom philosophischen Ross herab stellen, schließlich ist die Skepsis von vielen Geschichtswissenschaftlern gegenüber demjenigen, das in Teilen der Geschichtswissenschaften „Theorie“ und ihre „Verwendung“ genannt wird, allzu bekannt. Im Rahmen der Vorstellungen von Kolligation ist die Frage, worin genau z. B. die Erklärung- und Verstehensleistung besteht, wenn etwas durch die beschreibende Verwendung eines bestimmten Begriffs als ein X erfasst wird. Eine bekannte geschichtswissenschaftsinterne Kritik ist, dass in vielen Fällen Triviales in aufgeblasenen Jargon gekleidet wird und der begriffliche Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag steht, was philosophische Kritiker dadurch erweitern können, dass sie behaupten, in vielen Fällen würde eben gar nichts auch nur irgendwie erklärt oder besser verstanden, sondern bloß beschrieben. Hier hilft also zumindest auch der Hinweis nicht weiter, dass es Gesetze (oder Generalisierungen) und Kausalität oder auch Handlungstheorien und (soziale) Mechanismen nicht sind, soweit nicht klar ist, was genauer der Ersatz ist. Bleibt dies unklar, endet man vielleicht bei der Idee, allein schon Buchtitel seien kolligatorische Erklärungen und vielleicht auch Kurzformen genuin „historischer Erzählungen“ („nascita del capitalismo“, Topolski 1979; „Gelehrtenkultur als symbolische Praxis“, Füssel 2006; Hervorhebung dp). Das ginge dann wohl etwas zu schnell und zu einfach (Kapitel 5.4). 290 Der Geschichtswissenschaftler G. Komlos schrieb in seinem Werk Folgendes, wobei er direkt im Anschluss durchblicken lässt, dass dasjenige, was manchmal „Kolligation“ genannt wird, seines Erachtens ihm nicht dabei hilft, seinen Gegenstand zu „verstehen“, womit offensichtlich das Ziel seiner Forschung bezeichnet ist: Perioden zu benennen mag heuristischen Wert haben, aber historische Informationen können daraus nicht abgeleitet werden; es besteht sogar die Gefahr, daß die Bezeichnung als solche fälschlicherweise als Erklärungsmodell der Wirtschaftsgeschichte jener Zeit angesehen wird (Komlos 1994, 12). Beispiele, die Komlos hier vorschweben, sind kolligatorische Ausdrücke wie „Protoindustrialisierung“. Aber um die bloße „Benennung“ von Perioden oder die „bloße Bezeichnung“ von Irgendwas wird es – so viel wird man unterstellen dürfen – in den meisten Fällen auch nicht gehen. Fergus Millar wendet nicht bloß den Ausdruck „Demokratie“ oder ähnliches auf seinen Fall an, sondern auch er redet (vage) von einem „Modell“ des „Römischen Politischen 290

Hier ist auch der Punkt, an dem die Problematiken um geschichtswissenschaftliche Ansätze oder „Paradigmen“ (4.1.5) mit klassischen Fragen nach „Theorieverwendung“ und „Theoriebedürftigkeit“ und nach philosophischen Wahlen (2.2) vermittelt in einer als kontrastive Frage formulierten, sehr einfachen Problematik münden, die einen Ansatzpunkt dafür bietet, die von Frings (2.2) angemahnte interdisziplinäre Gesprächsrunde zwischen Philosophen, Geschichts- und Sozialwissenschaftlern zu starten: Warum Weber, Marx, Luhmann, Foucault, Bourdieu, Schütz oder Esser (oder x) und nicht Micky Maus? In der Mini„Anatomie“ dürften allein M. Füssel, A. Frings und J. Topolski neben anderen recht unterschiedliche Auffassung davon haben, was für sie Theorien sind und worin ihre Verwendung besteht. Hier würde ich neben der Frage nach der basalen Ontologie auch mit Hempelianern noch immer fragen wollen, welche generellen Hypothesen (jenseits von Orientierungshypothesen) hier eine Rolle spielen, falls überhaupt irgendwelche. J. Topolski fragte in ähnlichem Kontext ebenfalls nach den allgemeinen Hypothesen, wenn von „Theorien“ die Rede ist. M. Bunge (1983c, 144) behauptete: „In den Sozialwissenschaften gibt es eine Tendenz, jede Ansammlung von Meinungen mit dem Wort Theorie zu würdigen, so zusammenhanglos und unbegründet sie auch seien. Fast immer handelt es sich dabei um bloße theoretische Rahmen oder um Doktrinen.“ Vgl. Patzig 1979. In der jüngeren, auch kulturtheoretischen Geschichtstheorie scheint man häufig Definitionen als „Theorien“ zu bezeichnen, früher z. B. auch die von Weber (1980).

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

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Systems“ und behauptet in meiner (Re-)Konstruktion, so etwas wie folgende Frage beantworten zu können: Wie hat x allgemein oder typischerweise funktioniert? (vgl. Bunge 2004a). Auch hier ist es eben nicht die bloße Wortmagie, sondern ein Modell von x, in dem, wie vage auch immer, Relata und Relationen angedeutet werden, wobei dies dann in ein generisches kolligatorisches Urteil wie „Rom war eine Demokratie zwischen t1 und t2“ münden mag. Der ontologische Mangel ist an dieser Stelle eine klare Kategorie für jenes x. Das Problem ist – so die Kritik aus der Altgeschichtswissenschaft – dass Millars Modell empirisch-theoretisch inadäquat ist (in Teilen), weil es vielleicht eine „Idealvorstellung“ einer sogenannten „klassischen Verfassung“ dem Gegenstand überstülpt. Das heißt allerdings auch, dass diese Geschichtswissenschaftler glauben, dass diese Behauptungen über solche Ganzheiten falsch und andere richtig sein können, was nahe legt, dass sie sozialontologische Realisten sind (Kapitel 7.1). Auch im Rahmen von Thesen zur sogenannten „Pfadabhängigkeit“, die auch teilweise im Rahmen von Erzählungsliteratur zu finden sind, finden sich immer wieder ontologische Ideen, um die wir uns hier nicht kümmern können, die aber auch dadurch motiviert sind, dass in Geschichtswissenschaften im Speziellen wie auch in Sozialwissenschaften im Allgemeinen gezeigt werden müsse, „wie es gekommen“ ist, weil dasjenige, das sozusagen am Ende herauskommt, von kontingenten „Umständen“ oder „Ereignissen“, die sozusagen am Anfang eingetreten sind, abhängen (Relation). Die Kritik an Covering-Law-Modellen ist vor einem ähnlichen Hintergrund gewesen, dass man auf der Basis der Kenntnis einer – sagen wir mal kategorial unbestimmt – frühen Bedingung niemals auf der Basis von Gesetzen hätte vorhersagen können, was später ex post ohne Rekurs auf Gesetze in gewissen Grenzen erklärt werden kann. Hier wurde früher die klassische Hempelsche These von der Strukturgleichheit von (wissenschaftlicher) Erklärung und wissenschaftlicher Vorhersage kritisiert. Es gab im Kontext ähnlicher Vorstellungen im Rahmen der Geschichtsphilosophie eine Zeit lang das geflügelte Wort „Das kann man nur historisch erklären“ (Lübbe 1977). In den Sozialwissenschaften ist regelmäßiger von unintendierten (sozialen) Handlungsfolgen die Rede und neuerdings von „Pfadabhängigkeit“, was z. B. heiße, „what happened last year signifikantly constrains what can happen this year and what will happen next year“ (Tilly 1990a, 687).291 In neuere Philosophie der Historischen Wissenschaften ist ähnlich von Ex-post-factum-Erklärungen die Rede (Tucker 2004a/b). So etwas findet sich auch in der Anatomie. In einer intentionalistisch gewendeten Variante schrieb J. Rüsen ähnlich: Geschichtliche Verläufe sind gerade dort spezifisch geschichtlich, und d. h. einer spezifisch historischen Erklärung bedürftig, wo sie nicht als Resultat der Absicht verständlich gemacht werden können, die genau das wollte, was geschehen ist (Rüsen 1997, 176, Hervorhebung dp). Hier wird also, wenn auch recht unauffällig, eine ontologische Vorstellung im weiten Sinne mit einem spezifischen Typ von Erklärung korreliert, der „historisch“ genannt wird. 291

Wenn dies so ist, kommt man natürlich schnell auf die Idee, dass „soziale Prozesse“ oder „historische Prozesse“ immer signifikant unähnlich sind, was zu methodologischen Vorschriften führen kann, die Historiker (und andere Sozialwissenschaftler) häufiger teilen sollen und „historistisch“ genannt werden könnten: „A fortiori, according to standard historical reasoning, urbanization, militarization, and commercialization are not the same processes when they occur within feudal and capitalist regions or periods. Two methodological injunctions follow: First, never interpret an action until you have placed it in its time and place setting; and second, use the greatest caution in making generalizations and comparisons over disparate blocks of time and place” (Tilly 1990a, 687).

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Die gesamte geschichtsphilosophische Literatur seit spätestens 1942 kennt viele solcher Wellen von Thesen zum spezifisch „historischen Verstehen“ oder „historischen Erklären“, die auch immer mal wieder mit der Spezifik des „History writing“ oder der „Geschichtsschreibung“ im Unterschied zur Wissenschaft zu tun hatte (2.1). Hier ist mit Intentionalität im Unterschied zu Vorstellungen, die bloß auf zeitliche Relationen abzielen (sequenzielle Erzählungen), etwas benannt, das spezifisch für alle Sozialwissenschaften ist, nämlich Intentionen, Motive oder Gründe von Menschen. An dieser Stelle fällt auf, dass man den Sieg der Fußballmannschaft von Borussia Dortmund gegen diejenige des FC Bayern München in dieser Sicht nicht „historisch erklären“ kann, wenn der BVB das intendierte, die Niederlage des FCB gegen den BVB aber schon, falls keine Intentionen des FCB benannt werden können, die jene Niederlage verständlich machen. Eine universale „spezifisch historische“ Erklärungsvorstellung für die Disziplinen, die „Geschichtswissenschaften“ genannt werden, liegt also auch hier nicht vor. Von „geschichtlichen Verläufen“ oder aber ganz einfach „Geschichte“ ist auch andernorts immer mal die Rede gewesen. Eine spezifisch „historische“ Erklärung soll dann einen solchen „Verlauf“ oder eine solche „Geschichte“ beschreiben. G. Graham behauptete, eine „historisch“ zu nennende Erklärung beschreibe die „Geschichte“ einer „Tatsache“. Er sagt aber nicht, was er genauer mit „Geschichte“ und mit „Tatsache“ meinte, was eine Tatsache ist und inwiefern diese eine „Geschichte“ hat, womit ja teilweise gemeint zu sein scheint, diese „Geschichte“ sei irgendwie ein verbundenes Ganzes (siehe auch teilweise Kaiser/Plenge 2014). Dass dies keine illegitime Rückfrage ist, werden wir in Kapitel 7 erneut sehen (2.1). Hier geht es nur darum, dass auch diese Ideen mit ontologischen Vorstellungen verbunden sind, die sozusagen methodologisiert werden, wenn gesagt wird, eine „historische Erklärung“ sei genau das, was jene ontologischen Ideen umsetzt. Die Problematik lautet dann: Da die ontologischen Ideen größtenteils implizit und auch dadurch vage sind, fällt es besonders schwer, sie in der Praxis erfüllt zu sehen oder danach zu fragen, inweit sie begründet sind. Die Beispiele für diese Problematik lassen sich leicht erweitern. Mit letzten kursorischen Hinweisen wollen wir die Diagnose eines Ontologiedefizits im Kontext von Erklärung von Verstehen abschließen. C. G. Hempel, der gelegentlich auch das Wort „history“ in einem ontischen Sinn benutzte, behauptete, eine genetische Erklärung „beschreibt das jeweils untersuchte Phänomen als letztes Glied einer Entwicklungsfolge und erklärt es dementsprechend durch die Schilderung der aufeinanderfolgenden Stadien dieser Folge“ (Hempel 1977, 170). Was ist aber ein „Phänomen“, ein „Stadium“ und was „entwickelt“ sich in einer „Entwicklungsfolge“, falls sich überhaupt irgendetwas entwickelt? In der mit Hempels Vorstellung eng verwandten Vorstellung von A. C. Danto (1980 1965) gilt das Explanandum einer Erzählung oder erzählenden Erklärung als kontinuierliches „Subjekt“, das Veränderungen unterliegt. Zentrale Beispiele waren ein Fürst, der seine Verlobung abbläst und ein Auto, das eine Delle abbekommt. Gibt es aber nur solche „Subjekte“ oder gibt es auch andere, um die sich Geschichtswissenschaftler in „historischen Erzählungen“ kümmern? Unsere Auflistung von geschichtswissenschaftlichen Kategorien in Kapitel 5.5 deutet an, dass sie (natürlich) auch anderes zu kennen glauben. Welche „Subjekte“ verändern sich im Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften (darunter die Geschichtswissenschaften), falls so etwas tatsächlich als existent angenommen werden darf? Auch die Veränderung der metatheoretischen Vorstellung von Hempel (1962) zu Danto (1980 1965) ist bei näherem Hinsehen eventuell ontologisch fundamental, obwohl der Unterschied oberflächlich betrachtet nur in dezent anderen Betonungen von Kausalität und Gesetzen erkennbar ist. Denn während bei Danto „Veränderungen“ eine Rolle spielen, ist im Hempelianismus zentraler bloß von Abfolgen die Rede, wie scheinbar in vielen Traditionen,

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

Abbildung 23

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„Strukturindividualistisches Erklärungsmodell“ (aus Frings 2008, 143). Wirken „soziale Situationen“ auf Akteure und wirken Handlungen auf „Kollektive Phänomene“ (siehe Kapitel 7)?

die Profi-Metaphysiker wohl als „Humeanismus“ bezeichnen. (Von „change“ oder auch Persistierendem war auch andernorts die Rede – ohne weitere ontologische Explikation; siehe Louch 1969, McCullagh 1969.) Obwohl die Vorstellungen bis auf metaphysische Feinheiten beinahe identisch sind, verwendete Hempel im Unterschied zu Danto im Kontext seines Modells der „genetischen Erklärung“ (Hempel 1962a, 1977), das vermutlich Stegmüller (1983) „historisch-genetische Erklärung“ nannte, den Ausdruck „Erzählung“ nicht, vermutlich, weil er einfach profunde unklar war und geblieben ist.292 In der Spezifik von etwas, das „Erzählung“ genannt wird, liegt der Erklärungswert aber auch in diesen Vorstellungen nicht, sondern dieser liegt in Gesetzmäßigkeiten und Kausalrelationen. Die Probleme damit kennen wir nun schon. Im ontologischen Individualismus (7.2) des Narrativismus des Philosophen F. Ankersmit (1981) sind andere „Subjekte“ als individuelle Menschen ebenso nicht vorgesehen wie in dem ontologischen Individualismus des Narrativismus des Geschichtstheoretikers P. Veyne (1996 1975). Wenn nicht alles täuscht, haben nicht nur Handlungsgeschichtsphilosophen oftmals einen ontologischen Individualismus im Keller der Implizitmetaphysik, aus dem sie sich philosophisch Erfrischung holen, sondern auch manche Narrativisten. A. Frings scheint aber durchaus im Anschluss an A. Danto an die Existenz von sozialen oder historischen „Subjekten“ zu glauben, denn er transformiert Dantosche Vorstellung in eine Essersche MakroMikro-Makro-Ontologie. In Essers Ontologie im Hintergrund des Modells der soziologischen Erklärung ist nicht von „Subjekten“, aber von „sozialen Gebilden“, „Systemen“ und „Situationen“ die Rede. In Rüsens (1986, 44) Interpretation der Dantoschen Ontologie kann es sich bei dem „Subjekt“ auch um ein „komplexes sozio-ökonomisches System“ handeln oder um „Systeme von Eigenschaften“. In Anknüpfung an Vorangegangenes können wir also fragen, was in den schematischen Sätzen einer narrativen Erklärung nach Danto (zitiert nach Frings 2008, 138) in (1) „x ist F in t-1“ und (2) „H ereignet sich mit x in t-2“ und (3) „x ist G in t-3“ 292

Hätte Hempel dies gemacht, wäre er sicherlich in die Annalen, Chroniken, Geschichten oder Metaerzählungen des Narrativismus als einer von dessen Begründern eingegangen.

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mit „x“, „F“ und „H“ eigentlich gemeint ist. (Die Sätze 1 und 3 sollen das Explanandum bilden, 2 soll das Explanans sein.) Ähnliche Fragen stellen sich immer wieder, wenn man die Literatur danach absucht. Zum Beispiel schreibt auch Kistenfeger (2011, 252 f.) im Rahmen seines konstruktionistischen Narrativismus, einer Form von epistemischem Realismus, von der „Eigenschaftsveränderung eines historischen Individuums als Protagonisten der historischen Narration“. Kategorial wird jener Protagonist „Ereignis“ genannt, der oder das eine „zeitliche Erstreckung“ oder „‚Lebensdauer‘“ habe. Frings (2007, 37) schreibt, in historischen Erklärungen werde immer eine Veränderung („Wandel“, „Prozess“, Frings 2008, 139, 149) erklärt, und zwar die Veränderung eines „identischen Objekts“ zwischen „zwei zeitlich auseinander liegenden Situationen“. Da Frings auch davon schreibt, seine Analyse solle die „Geschichte der sowjetischen Alphabetpolitik hinreichend erklären“ (Frings 2007, 12) und ferner seien solche Erklärungen „kausal“ (ebd. 12), stellt sich die Frage, welches das „identische Objekt“ ist, das mit der Alphabetpolitik um die Durchführung von Schriftwechseln persistiert, ob dies jene „Situationen“ genannten Gegenstände selbst sind oder etwas anderes, z. B. um die Persistenz oder Veränderung „sozialer (oder kultureller) Strukturen“ (z. B. Frings 2008, 130). Falls die „Subjekte“ zwischen den „Situationen“ persistieren und davon zu unterscheiden sind, wäre eine Frage, in welchem kategorialen Verhältnis diese Subjekte mit jenen Situationen stehen. Ferner stellt sich vor dem Hintergrund von Kausalitätsproblematiken die Frage, was eigentlich worauf im Historischen wirkt, ob z. B. auch „soziale Situationen“ (oder „Strukturen“) irgendwie wirken, wie Frings „Badewannen“ nahelegen (Abbildung 23). Mit dieser Frage ist man wieder im Feld der Kausalitätsontologie und der Frage nach den Relata der Kausalität. (Der Skeptiker oder Pedant fragt, warum im Dantoschen Modell neben einem x kein y auftaucht, das etwas an x verursacht., was besonders dann relevant wird, wenn man das Modell sozusagen sozialisiert.) Frings schreibt (2007, 37), „die Schriftlichkeit der Völker der Sowjetunion“ (ebd. 37) sei in diesem Fall das persistierende Objekt, das sich aber auch verändert und als soziogeschichtswissenschaftliches Explanandum auch ein „kollektives Phänomen“ (Abbildung 23) ist. Frings schließt zuvor explizit aus, dass es in solchen historischen Erklärungen bloß um „zwei Ereignisse, von denen eines dem anderen vorausgeht und dieses kausal verursacht“ (ebd. 37), geht, wie es z. B. in Gerbers (2012) Analytischer Metaphysik der Geschichte auf der Basis einer kontrafaktischen Kausalitätsdefinition der Fall ist. Frings schreibt zudem auch, „Geschichten“ würden in seiner Studie „beschrieben“ (ebd. 39) bzw. „erklärt“, was zeigt, dass es sich hierbei um eine ontologische Kategorie handelt. Aber was wird dann da beschrieben oder erklärt? Während Frings „kausale Erklärungen“ vornehmlich auf handlungstheoretischer Basis vornehmen möchte, obwohl auch kollektive Explananda als „verursacht“ aufgefasst werden (z. B. Frings 2008, 147), warnt Füssel (2006, 222, 291) stellenweise vor „Psychologisierung“ und „psychologisierender (…) Interpretation“ und verweist auf „Ursachen“ auf „struktureller Ebene“.293 Nebenbei gefragt, wenn davon die Rede ist, etwas sei „kausal verursacht“ (vgl. „kausal ursächlich“ in Frings 2007b, 32), ist damit gesagt, dass etwas auch nonkausal verursacht werden kann? (Zur möglichen Relevanz der Frage siehe 7.4 und 7.5 neben 6.3.) Zur groben Einordnung des heterogenen philosophischen Feldes kann man sagen, dass es in solchen „narrativen“ Vorstellungen letztlich auch um Ontologien der Gegenstände der Geschichtswissenschaften und teilweise von Relata und Relationen geht. Das war natürlich auch verschiedentlich klar, aber die Konsequenzen sind meines Wissens selten explizit gezogen 293

Zum Beispiel heißt es stellenweise konkret, „Ausdifferenzierung“ sei eine „Ursache“: „In der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Ämter- und Titelhierarchien kann darüber hinaus eine der strukturellen Hauptursachen für Rang- und Präzedenzkonflikte gesehen werden“ (Füssel 2006, 333).

6.4 Narrativistische Modelle von Erklärung und Verstehen („Narrativismus“)

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worden. Zum Beispiel schrieb Louch (1969, 59): „It would be instructive to be able to offer an account of the historical entity“, denn er scheint auch geglaubt zu haben, dass in „Erzählungen“ in seiner Redensart die Persistenz von irgendetwas vorausgesetzt werde. Wenn man so will, kann man eine grobe Ordnung vielleicht dadurch vornehmen, dass in klassischen („historischen“) Vorstellungen eher temporale „Ganzheiten“ und deren „Teile“ eine Rolle spielen, in anderen „Ganzheiten“, die irgendwie anders sind und andere „Teile“ haben. In beiden Fällen bleibt unklar, worum es sich bei solchen Ganzheiten überhaupt handelt und was diese Ganzheiten überhaupt integriert. Bei M. Mandelbaum (1967, 418) hieß es mal explizit: „The relationship which I […] take to be fundamental in historiography is […] a relationship of part to whole, not a relationship of antecedent to consequent”. Jene Relationen sollen offenbar auch die Antwort auf die Frage bereitstellen, „what relationships must exist if a temporally related series of events is to be taken as constituting the elements which, together, form a single history“ (Mandelbaum 1967, 416). Jene Elemente und ihre Relationen blieben jedoch in meiner Lesart eher blass. Mandelbaum nennt als Beispiel für ein solches Ganzes an jener Stelle „a man’s life“, von dessen „parts“ es heißt, sie müssten nicht alle „simultaneously present“ sein. Später sprach er von „Institutionen“, „Strukturen“ und „Prozessen“. „Prozess“ trat stellenweise das Erbe von „Geschichte“ im vorangegangenen Zitat an, dessen Teile „Ereignis“ genannt wurden (z. B. Mandelbaum 1977, 175). Als kontinuierlich existierende Entitäten wurden z. B. auch Gesellschaften ins Spiel gebracht. Damit bleiben die möglichen oder tatsächlichen Gegenstände von geschichtswissenschaftlicher Forschung aus ontologischer Perspektive auf philosophischer Seite recht unklar. Warum ist das problematisch? Weil man nur etwas verstehen und auch nur etwas erklären kann. Schließen wir mit einer Frage? Worin besteht das spezifisch narrativistische Erklärungsund Verstehensideal („Narrativismus“) im Unterschied zu Subsumtionsmodellen („Positivismus“), Handlungserklärungsmodellen („Interpretativismus“, „Hermeneutik“), Kausalmodellen („Kausalismus“) oder auch der Struktur-Akteur-Metatheorie des Critical Realism („Social Realism“ oder Pan-Dispositionalismus)? Obwohl das Feld der Narrativismen an dieser Stelle unübersehbar ist und wir vieles ausgeklammert haben (nämlich textualistisch-relativistische Narrativismen, die allerdings auch keine Forschung kennen und deshalb hier irrelevant sind; vgl. Lorenz 1997), ist dies recht unklar. Ich will vorschlagen, das genuin Narrative an diesen Vorstellungen gibt es nicht und das Ideal besteht darin, irgendwelche Relationen zwischen Irgendwas zu erfassen und (vage) zu beschreiben.294 Das schließt die anderen Vorstellungen aber alle nicht aus und beeindruckende andere Relationen, sozusagen genuin narrativer oder auch genuin „historischer“ Art, werden nicht erkennbar benannt. Wenn überhaupt in „narrativen“ Passagen in der Mini-Anatomie von Erklärungen in einem objektiven, nicht völlig pragmatischen Sinn ansatzweise klar gesprochen werden kann, dann oftmals durch vorausge294

Falls es so wäre, dass in Erzählungen (per Definition) irgendwelche Relationen beschrieben werden und alle Beschreibungen von Relationen bereits „Erklärungen“ genannt werden können, dann stimmt es sogar, dass man nicht erzählen kann, ohne zu erklären (so Veyne 1996 1975, 132; Pandel 2010, 88 (Hervorhebung im Original) und im Anschluss mit Verweis auf „Wirkungen“ und „Ursachen“: „Jede Erzählung ist eine Erklärung.“). Louch (1969, 59) schrieb über die „historische Erklärung“ als „Erzählung“: „Smoothness of passage is, moreover, one paradigm of what it is to understand or become clear about something. The account that can convert the apparent discontinuities in human, biological, geological or cosmological history into the preceived [vermutlich „perceived”, dp] evolution of earlier into later states is in that sense explanatory.” Dies sollte nicht mit Kausalrelationen verbunden sein (ebd. 57) – dann aber irgendwie schon (ebd. 69 f.). Auch H. Whites (H. White 2008 1973) Arten der Argumentation, d. h. die „formativistische“, „mechanistische“, „organizistische“ und „kontextualistische“ könnte man in diesem Rahmen teilweise zu integrieren versuchen. Über „semantische Konnektive“, als das „wichtigste Merkmal, das Ereignisse zu einer Geschichte verknüpft“, verhandelt Pandel (2010, 33), wobei es sich um eine nicht-ontologische Behandlung der Relationen- und Relevanzproblematik zu handeln scheint.

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

setzte und nicht theoretisch beschriebene kausale Relationen (zumeist im Sinn von Kapitel 7.3.8), sozusagen die bloße, jedoch dokumentarisch begründete Vermutung eines kausalen Triggers des Beschriebenen (6.3). Erzählungen, in welcher Spielart auch immer, liefern also vermutlich auch kein „genuin historisches“ Modell von Erklärung und Verstehen, zumal ein solches, das mit der Breite der Geschichtswissenschaften und mit den Kernmerkmalen geschichtswissenschaftlicher Forschung etwas zu tun hat.295 6.5

Zusammenfassung: Was soll inwiefern genauer erklärt und verstanden werden?

Was hat diese Skizze nun eventuell gezeigt? Eigentlich benötigte jeder der verfügbaren groben philosophischen Ansätze im Rahmen von Erklärung-Verstehen-Erzählung-Kontroversen ein eigenes Kapitel zur Systematik der Vorstellung und auch zur „Geschichte“ der jeweiligen Kontroversen, also (i) Covering-Law-Erklärungen („Positivismus“), (ii) Handlungserklärungen („Hermeneutik“), (iii) narrative Erklärungen („Narrativismus“), (iii) kausale Erklärungen („Kausalismus“), und (iv) produktivistische oder „mechanistische“ Makro-Mikro-MakroErklärungen („Realismus“ oder Pan-Dispositionalismus).296 Dies würde hier den Rahmen sprengen, es würde allerdings auch zu mehr Differenzierung führen. Dabei käme in einer Fragerichtung vermutlich noch klarer heraus, dass es sich bei diesen Schulen zu einem großen Teil um Methodologisierungen von Metaphysiken handelt, wobei diese Metaphysiken in unterschiedlichen Graden implizit oder „verschämt“ bleiben. In drei der fünf Fälle ist dies auch eigentlich recht klar, nämlich Covering-Law-Modellen, kausalen Modellen und „mechanistischen“ oder sozialrealistischen Modellen. Im Meer der Narrativismen ist es versteckter. Der 295

296

Ein allgemeines, von vielen Autoren geteiltes, „Erzählung“ definierendes Merkmal scheint es letztlich schlicht nicht zu geben. Für die einen beschreiben Erzählungen per Definition Singuläres, für die anderen nicht. Für die einen beschreiben Erzählungen per Definition etwas, das mit Menschen und Handeln zu tun hat, für andere nicht. Für die einen beschreiben Erzählungen epochale („politische“) Großereignisse und dort aktive Helden, für andere die Denk- und Erfahrungswelt von Haufen von Menschen in einer Epoche. Für die einen beschreiben Erzählungen per Definition Kausalrelationen, für andere ist dies ausgeschlossen oder sekundär. Für die einen werden Erzählungen per Definition in der Alltagssprache geschrieben und sind eingängig und detailliert, für andere sind sie all dies nicht. Für die einen sind Erzählungen Abfolgen oder Zusammenhänge von Sätzen, für andere sind sie draußen in der Welt oder Kategorien des menschlichen („historischen“) Geistes. Für die einen sind Erzählungen („Geschichten“) solche Satzfolgen, in denen etwas erklärt wird, für andere sind Erklärungen etwas, in dem irgendetwas erzählt wird. Vermutlich gilt: Und so weiter und so fort (siehe z. B. Pandel 2010). Auch aus diesem Grund ist bezogen auf Erzählungen eine klare Positionierung schwierig, aber wohl auch unnötig. C. McCullagh (1969, 260) schrieb also richtigerweise: „The historian tries to understand […] historical facts by gathering information of the historical circumstances related to them. His aim is not primarily to construct a narrative about them”, was immer das sein mag. Nach wie vor Erhellendes aus analytischer Perspektive zu „Erzählungen“ und der frühen Debatte bieten Mandelbaum (1969) und Schmid/Giesen 1976. Die zeitgenössische Unübersehbarkeit der Literatur zu Erzählungen in unterschiedlichen Disziplinen kann man Frings 2008 entnehmen. Wenn von „mechanismischen“ oder „mechanistischen“ Erklärungsvorstellungen die Rede ist, dann muss man streng besehen philosophische Vorstellungen (Plenge 2014a) von sozial(meta)theoretischen unterscheiden (Schmid 2006a). Beide gibt es, von Philosophen zumeist unbemerkt, seit den 1970er Jahren. In diesem Kapitel wird einzig auf eine Variante des philosophischen Lagers angespielt, die allerdings einen extrem starken Einfluss auf eine recht breite sozial(meta)theoretische Schule hat, nämlich den Kritischen Realismus. Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch, dass es hier nicht um relevanzlose Elfenbeinturmphilosophie und –ontologie geht, was man daran sieht, dass sich ontologische Vorstellungen explizit in methodologischen Lehrbüchern für Nachwuchswissenschaftler finden. Hier gibt es also ganz praktisch eine „Sociology-Philosophy Connection“ (Bunge 1999). Siehe zur Rolle der Ontologie des Kritischen Realismus Danermark et al. 2002, Blaikie 2007, 2010, Sayer 2010. Dort heißt es dann manchmal auch, Sozialforscher sollten transzendentale Argumente bezogen auf die Existenz von „Strukturen“ formulieren (siehe zur philosophischen Quelle der Idee Bhaskar 1978a, 1979).

6.5 Zusammenfassung: Was soll inwiefern genauer erklärt und verstanden werden?

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Handlungsgeschichtsphilosophie bleiben geschichts- oder sozialontologische Fragestellungen erspart. Der ontologische Individualismus, den man im Hintergrund vermuten darf, lässt aber offen, was ein tatsächliches oder mögliches Explanandum von Geschichts- und Sozialwissenschaften ist, da von individuellen Handlungen dort selten und selten ausschließlich die Rede ist. Nicht nur im Fall von Handlungserklärungen, sondern auch in Narrativismen, ist die Bezeichnung von irgendetwas als „historische Erklärung“ oder auch „historisches Verstehen“ recht willkürlich, gerade auch vor dem Hintergrund der Impressionen der Mini-„Anatomie“. 297

Diese ontologisch ausgerichtete Fragerichtung dieses Kapitels drängt sich auch auf, wenn es recht offensichtlich ist, dass über die Gegenstände der Geschichts- und Sozialwissenschaften keinerlei geteilte Meinungen zu existieren scheinen und sich auch beim Blick über die Grenzen erweist, dass ontologische Ideen in Geschichtstheorie und Sozialtheorie (allgegenwärtig) eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich im Kern – natürlich – sowohl um Annahmen über Relata als auch über Relationen, wobei sich beides als verblüffend unklar erweisen kann, ganz besonders auch dann, wenn die Relation mit dem Wort „Kausalität“ bezeichnet werden soll. Die oben gestellten Fragen waren folgende: Was soll eigentlich erklärt und verstanden werden? Inwiefern soll es erklärt und verstanden werden? Welche Relation ist zentral, falls überhaupt eine? Was ist problematisch an der philosophischen Position oder dem metatheoretischen Ansatz? Inwiefern ist die jeweilige Metatheorie fruchtbar im Hinblick auf die „Anatomie“, darüber hinaus und bezogen auf das simple Forschungsprogramm bezüglich Erklärung und Verstehen? Die Antworten sind, dass unklar bleibt, was überhaupt in Geschichtsund Sozialwissenschaften erklärt und/oder verstanden werden soll und welche Relationen dabei relevant sind. Kurz gesagt, die ontologischen Ideen sind in diesen Kontexten die problematischen Ideen und zuvorderst sind sie unklar. Es ist kaum zu erfahren, was mit Ausdrücken wie „Ereignis“, „Bedingung“, „Situation“, „Struktur“, „Zustand“, „Eigenschaft“, „Ganzes“, „Kontext“, „Institution“, „Mechanismus“, „Struktur“, „Prozess“, „soziales Phänomen“, „Tatsache“, „Sachverhalt“ oder „Fakt“ gemeint ist, besonders im Kontext der Gegenstände der Geschichts- und Sozialwissenschaften. Mit jenen Ausdrücken werden einerseits Explananda angedeutet, andererseits Ursachen und Wirkungen und jene Gegenstände, die sich durch Gesetzmäßigkeiten auszeichnen oder in solchen stehen sollen. Was z. B. mit „historisches Ereignis“, „historischer Sachverhalt“ oder „historischer Prozess“ gemeint ist, bleibt weitgehend offen. Genauso problematisch ist die Bestimmung der Fruchtbarkeit der Vorstellung für eine Orientierung tatsächlicher Praxis, die eigentlich einzig im Fall von Handlungstheorien gegeben ist, da letztlich kaum Gesetze bekannt sind, wenn diese nicht aus einem naturwissenschaftlichen Kontext stammen, Kausalvorstellungen im Rahmen der Geschichts- und Sozialwissenschaften die Relata fehlen und die Relation selbst umstritten, unklar oder gar beliebig ist. Die Forderung, „Erzählungen“ zu schreiben oder „historisch zu erzählen“ ist wohl gehaltlos, wenn man nicht nach Relata und Relationen sucht, die im Kontext von Erzählungsmodellen von Erklärung und Verstehen durchscheinen. Diese Relationen erweisen sich als wenig aufregend (zeitlich), unklar im Fall der Rede von „Teilen“ und „Ganzheiten“, von „Strukturen“ oder auch „Situationen“. Dieselben Unklarheiten über Relata, Relationen und Explananda oder Intelligenda finden sich auch außerhalb der Philosophie der Geschichtswissenschaften im Speziellen und der Sozialwissenschaften im Allgemeinen. Das Problem aller Erklärungs297

„Gegen ein unbewußtes Arbeiten mit traditionellen ontologischen Annahmen sowie ein mangelndes Gespür für ontologische Implikationen und Alternativen ist schwerer anzukommen als gegen explizite und entfaltete Ontologien“ (Tegtmeier 1992, 16 f.).

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

und Verstehensvorstellungen ist in diesem Kontext die Unklarheit der Gegenstände dieser Wissenschaften (und deren zu vermutende Heterogenität in unterschiedlichen Schulen). Zum Beispiel ist es gar nicht leicht, in der Makro-Mikro-Makro-Soziologie, deren Ontologie – so die Hypothese – in den „Badewannen“- oder „Boot“-Heuristiken (z. B. Abbildung 23. S. 345, Abbildung 29, S. 419, Abbildung 34, S. 508) angedeutet werden, zu bestimmen, was genau mit „Makro“ gemeint ist und insbesondere, welcher Typ von Gegenstand genau gemeint ist. Das Anschlussproblem ist, worin die Relationen genauer bestehen sollen, die mit Pfeilen angedeutet werden. Sogar im Rahmen der Anatomie finden sich zwei verwandte, wenn auch im Detail wohl unterschiedliche Auffassungen zu einer Makro-Mikro-Ontologie in der Geschichtstheorie von H. Medick (1996) und der Geschichtstheorie von A. Frings (2007a), die wiederum etwas anders ist als diejenige von J. Topolski (Kapitel 3.1.6). Nicht nur in der Makro-Mikro-Makro-Soziologie und in den damit verbundenen Fragen um „Individualismus“ und „Holismus“ (7.2), sondern auch hier werden die jeweiligen Makros nicht nur mit unterschiedlichen Termini benannt, sondern auch in diesem Mini-Ausschnitt der Geschichtstheorie (z. B. „Situation“, „Struktur“, „Subjekt“). Andere eher randständig bei Geschichtstheoretikern zu findenden Signaltermini wie „Mechanismus“ und zentralere wie „Institution“ und „System“ haben wir zuvor bereits gelistet (5.5). Manche koppeln begrifflich scheinbar „Prozess“ als Makro-Kategorie des Sozialen mit „Geschichte“, was hieße, dass z. B. Personen so etwas nicht zukommt, dass sie also keine Geschichte haben. Auch das klingt seltsam. Das Ganze ergibt die Gegenstände der Geschichts- und Sozialwissenschaften betreffend ein recht offensichtliches terminologisches und ontologisches Chaos. Wir hätten nun vor dem Hintergrund der philosophischen Traditionen direkt eine andere, pluralistisch-pragmatische Haltung einnehmen könnten. Diese würde besagen, mal sind „Gesetze“ relevant, mal sind „Ursachen“ relevant, mal „Gründe“ und manchmal wird irgendetwas „erzählt“. Das haben wir nicht getan, weil dies – aus der hier eingenommenen Perspektive – gerade die teilweise recht fundamentalen ontologischen Probleme am Schnittpunkt von Philosophie, Geschichtstheorie und Sozialtheorie verdecken würde. Auch bezogen auf die Mini„Anatomie“ hätte diese pluralistisch-pragmatische Haltung ein anderes Vorgehen zur Folge gehabt. Wir hätten grob die vier (Covering-Law, Kausalismus, Intentionalismus, Narrativismus) oder letztlich fünf großen Alternativen („Social Realism“, Pan-Dispositionalismus) der philosophischen Literatur listen und zeigen können, dass sie vor dem Hintergrund der Mini„Anatomie“ alle sozusagen recht haben, mal hier und mal dort. Wenn man die Identifizierung von „kausal“ genannten Erklärungen mit Covering-„Law“-Erklärungen berücksichtigt, d. h. kausale Erklärungen als eigenständige Schublade ausschließt, dann gibt es eine solche Art Pluralismus natürlich an verschiedenen Orten schon lange (z. B. Rüsen 1986; auch Kistenfeger 2010 und andere). Die Mini-„Anatomie“ zeigt bloß gerade im Kontext der Erklärungsdebatte der Geschichtsphilosophie (Plenge 2014c) und neuerer sozialphilosophischer „Mechanismus“Philosophie, dass dieser Pluralismus bezogen auf die Praxis noch immer recht wenig irgendwie exakt treffen würde, weil vieles zu unklar ist, wobei die neuere Sozialphilosophie und – theorie gerade klar macht, was unklar ist, nämlich dass in Kausalerklärungsliteratur die Relata der vermuteten soziohistorischen Kausalität kaum thematisiert werden und die Frage noch immer offen ist, ob irgendetwas, das „Gesetz“ genannt zu werden verdient, auf der Ebene der Geschichts- und Sozialwissenschaften (i) überhaupt ein Erklärungsmacher und Verstehenhervorbringer ist oder aber (ii) nur einer unter vielen, (iii) vielleicht kein idealer. Denn in der sozialtheoretischen Literatur wird recht schnell klar, dass nicht klar ist, welches diese Relata bei „Makro“ und „Mikro“, „Gesellschaft“ und „Individuum“ sind, und wie jene Relationen zwischen ihnen genauer zu verstehen sind, seien dies nun z. B. Gesetzmäßigkeiten, Kausalrelationen oder auch bloß zeitliche Relationen oder Teil-Ganzes-Relationen. Hier hat man also

6.5 Zusammenfassung: Was soll inwiefern genauer erklärt und verstanden werden?

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prima facie dieselben ontologischen Probleme wie auch in den zuletzt skizzierten Hintergrundontologien von randständigen Narrativismen. Darum werden wir uns gleich kümmern müssen. Eine klarere und explizitere Ontologie „des Sozialen“ und „der Geschichte“ ist dann nicht nur vor dem Hintergrund der hier vermuteten Unklarheiten diesbezüglich in der Philosophie der Geschichte und der Philosophie der Sozialwissenschaften ein Desiderat, sondern auch im Hinblick auf die metatheoretische Integration der scheinbar recht heterogenen Praxis. Denn die Vermutung ist, dass eine explizitere und revisionsoffene Ontologie perspektivisch sowohl mehr aus der Praxis zu integrieren vermag, als auch mehr aus der philosophischen Tradition der Geschichts- und Sozialphilosophie. Man könnte zusammenfassend auch sagen, dass all diese Ontologien oder Implizitontologien in Geschichtsphilosophie und vermutlich auch der Geschichtstheorie kategorial unterkomplex sind. Wenn man ganz holzschnittartig den Punkt machen will, dann ist die einzige Kategorie oder die Signalkategorie in einer Schule „Ereignis“ („Positivismus“, Analytische Philosophie), in einer anderen „Struktur“ („Realismus“, Geschichts(meta)theorie) und in einer dritten „Meaning“, „Sinn der Handlung“ („Hermeneutik“) oder auch so etwas wie „sozialer Sinn“. Unterschiedliche Schulen fügen dann den zumeist recht unklaren Kategorien unterschiedliche Typen von Relationen hinzu. Zudem verstecken sich die Ontologien manchmal auch hinter Dummy-Kategorien, die keinem Test ausgesetzt werden, weil sie gar nicht expliziert werden. Man könnte den Stand der Dinge aus der Vogelperspektive zum einen „kategoriale Isolation“ und zum anderen „kategoriale Armut“ nennen. Beides ist auch in Debatten der Geschichtstheorie zu erahnen (4.2). Das Ontologiedefizit lässt sich wieder ganz einfach in eine Frage packen: Was untersuchen denn nun Geschichtswissenschaftler überhaupt? Will man die Frage stellen, dann muss man noch immer voraussetzen, dass sich trotz der vermuteten Heterogenität dazu etwas Allgemeines sagen lässt. Wenn man unter Methodologie eine normative Variante von Erkenntnistheorie versteht (Bunge/Mahner 1997, 61) und Methoden Verfahrensweisen sind, die helfen sollen, bestimmte Probleme bezüglich bestimmter Gegenstände oder Gegenstandstypen zu lösen, dann gibt es auch keine Methodologie ohne explizite oder implizite Ontologie (5.5). Davon berichten Geschichtstheoretiker in den verstreuten Äußerungen zu geschichtswissenschaftlichen Ansätzen immer wieder. Ontologie scheint also in diesem Rahmen auch forschungspraktisch relevant zu sein, wenn gilt: „one investigates only facts that one deems possible in the light of one’s ontology“ (Bunge 2004b, 378). Auch hier liegt seit Jahrzehnten Potenzial für „philosophische Wahlen“ (Tilly 1990a). Die allgemeinsten Formen dieser Ontologie-Methodologie-Verbindung sind die allgemeinen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Ansätze wie „Individualismus“, „Holismus“ und ein Dritter Weg, die aber scheinbar in der Geschichtstheorie weniger explizit thematisiert werden als in der Sozial(meta)theorie. Die Soziologin M. Archer, die am Ontological Turn (Wan 2011a) in der angelsächsischen soziologischen Theorie beteiligt ist, schrieb allgemein: A social ontology does not dictate a specific form of practical social theory, but since it commits itself (corrigibly) to what exists, then it necessarily regulates the explanatory programme because its specification of the constituents (and non-constituents) of reality are the only ones which can appear in explanatory statements (which does not rule out substantive debate about the most promising contenders within the abstractly defined domain of the real) (Archer 1998, 194). Dass Ontologie (Metaphysik) irgendwie in den Sozialwissenschaften relevant ist, weiß dort eigentlich fast jeder, auch wenn dies früher nur seltener „Ontologie“ oder „Metaphysik“

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6 Gibt es ein Ontologiedefizit im Feld von Erklärung, Erzählung und Verstehen?

genannt wurde.298 Jeder dort hat wohl eine leicht andere Meta-„Theorie“ über den Gegenstand des Wissens und Nicht-Wissens und Verstehens, d. h. hyperallgemeine Ansichten, die sich auf das Soziale oder Historische in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen. Die basale Ontologie in den Sozialwissenschaften scheint noch immer nicht geklärt zu sein, denn „nach wie vor (gibt es) kein weithin geteiltes Konzept davon, was als Soziales im Kern den Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften ausmacht“ (Greshoff 2011a, 248). Man könnte nun behaupten, dass die wohl unvermeidlich gewesene Verabschiedung der sogenannten „spekulativen Philosophie der Geschichte“, auch bekannt als „Metaphysik der Geschichte“ oder „Geschichtsphilosophie“, die gerade Geschichtswissenschaftler immer genervt hat, weil sie – cum grano salis (2.1) – deren Job übernehmen wollte, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Befürworter von Ontologie im Wissenschaftskontext formulieren daher regelmäßig Sätze wie folgenden: „As has been remarked many times, and rightly so, an antimetaphysician is just one who holds primitive and unexamined metaphysical beliefs“ (Bunge/Mahner 1997, 3; vgl. Wan 2011, 172). Auch noch die eigentlich naheliegenden ontologischen Probleme sind aufgrund des Ontologievakuums in der Geschichtsphilosophie lange nicht behandelt worden: Before attempting to describe the history of x, we must have some idea about x (Bunge 1996, 142; siehe erneut 2.1). Wenn wir an dieser Stelle einfach naiverweise voraussetzen, dass Geschichtswissenschaftler die Geschichte eines x untersuchen, was ist dann mit einem solchen x gemeint und was mit dessen Geschichte? In der Philosophie der Geschichte wurde die Frage meines Wissens nicht explizit gestellt (bis zu Gerber 2012). Man begnügt sich bekanntlich regelmäßig mit der vagen einleitenden Unterscheidung von „historia“ im Sinn von „res gestae“ und „historia rerum gestarum“ (z. B. Faber 1972). Wenn der Soziologe G. Albert (2008) formulieren konnte, dass zu den Geburtsfehlern der Soziologie das (positivistische) Metaphysikverbot zählte, dann wird man sich nun dazu herausgefordert sehen, die These zu formulieren, dass zu den Geburtsfehlern der Critical Philosophy of History oder Analytischen Philosophie der Geschichte das Metaphysikverdikt zählt, das man ursprünglich legitimerweise aufstellte, um sich von der Spekulativen Geschichtsphilosophie über „die (eine) Geschichte“ zu emanzipieren (siehe etwa Walsh 1951, A. C. Danto 1980 [1965], Dray 1964). Das hatten Geschichtswissenschaftler allerdings schon mindestens ein halbes Jahrhundert zuvor vollbracht.299 Diese Wissenschaftler und die von ihnen vertretenen Disziplinen oder Schulen stehen also, wenn man ihnen glaubt, explizit vor philosophischen Problemen (2.2). Auch im Folgenden ist keine Problemlösung zu erwarten, sondern eher eine Klärung der Problematik. Die Frage, die als ontologische aufgefasst werden kann (Plenge 2014a) und das Problem ausdrückt,

298 299

Siehe z. B. Blaikie (2007, 2010), der teilweise davon ausgeht, dass Sozialforscher diese Ontologie aus einem Bestand auswählen, bevor sie ein Forschungsprojekt lancieren. G. Albert steht mit seiner kontroversen und natürlich absichtlich herausfordernden Pointe auch kaum allein, denn der Soziologe Dave Elder-Vass schrieb, ähnlich wie mittlerweile viele andere Sozialwissenschaftler, „one of the problems of the social sciences is a lack of ontological rigor“ (2007, 228). Natürlich schrieb auch Topolski bereits: „Discussions of historical explanation have suffered from being isolated from theoretical reflection on the structure of the past – the process of history – and from analysis of the changing praxis of historians. Reflection on historical explanation can be revitalized if it is linked to the theory of the process of history and to the real problems of historians‘ technique“ (Topolski 1991, 324). Manche Geschichtstheoretiker nennen alles, was ihnen nicht in den Kram passt, „Metaphysik” (Marwick 1995).

6.5 Zusammenfassung: Was soll inwiefern genauer erklärt und verstanden werden?

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könnte sein: Was soll eigentlich genauer untersucht, erklärt und verstanden werden? Eigentlich müssen wir sie hier nur wiederholen (5.6), haben dafür aber neue Gründe gesammelt.

7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme der philosophischen Methodologie und der Sozial(meta)theorie zu klären helfen? The sceptic may not deny the possibility of ontology but will regard it as inconclusive. With this we concur: metaphysics is indeed inconclusive – but so is factual science (Bunge, 1977a, 7).

Wenn die These des Bestehens eines Ontologiedefizits im Rahmen der Geschichtsphilosophie wie auch teilweise in den Sozialwissenschaften zumindest eine Anfangsplausibilität hat (so auch in der Geschichtsphilosophie Little 2010, Gerber 2012, Scholz 2014), dann ergibt sich ein Desiderat, nämlich dieses Defizit irgendwie zu beheben. Das Desiderat ergibt sich auch vor dem Hintergrund von Äußerungen aus der Geschichtstheorie, die besagen, über Gegenstände der Geschichtswissenschaften (und deren Relationen) bestünde keine Einigkeit300, sowie von kategorialen Oppositionen zwischen unterschiedlichen Schulen, auch im Kontext der Benennung epistemischer Ziele, die grob seit bald einhundert Jahren in wechselnden Wellen andauern (4.2). Da ich die Ontologie schwerlich selbst erfinden kann, müssen wir sie irgendwo hernehmen. Was ist also gesucht? Gesucht wird aus der hier eingenommenen Perspektive eine Ontologie, die kompositorisch komplexer ist als die bisherigen im Rahmen der Geschichtsphilosophie und mancher Sozialwissenschaftsphilosophie implizit verbreiteten. Das heißt, gesucht wird eine Ontologie, die mehr als eine oder zwei Kategorien beinhaltet. Angesichts des kaum zu bezweifelnden Durcheinanders im metatheoretischen Vokabular der Sozialwissenschaften sollte die Ontologie nicht bloß ein Haufen von Begriffen sein, sondern eine Struktur haben, d. h., der Zusammenhang der Kategorien sollte möglichst klar sein. Die Ontologie sollte in Auseinandersetzung mit der metatheoretischen Entwicklung in den Sozialwissenschaften entstanden sein und Potenzial für kritische Auseinandersetzungen mit diesen Wissenschaften oder auch die Klärung von metatheoretischen und (forschungs-)praktischen Problemen bieten. Das heißt auch, die Ontologie sollte der Methodologie zuarbeiten – und vielleicht umgekehrt: „ontology must be realistic and it must guide epistemology if the latter is to be of any use in research“ (Bunge 2003a, 137). Da Geschichtswissenschaftler und Philosophen, wie z. B. Emile Callot (1962, 10) feststellte und Arthur Marwick (2001; Kapitel 2.2) monierte, normalerweise unterschiedliche Sprachen sprechen und sich daher wechselseitig nicht verstehen, was besonders auch im Rahmen der Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur am Schnittpunkt von Philosophie, Geschichts- und Sozialtheorie deutlich wird, sollten in der Ontologie möglichst Begriffe auftauchen, die Geschichtswissenschaftler oder unterschiedliche Gruppen von Geschichtswissenschaftlern und auch andere Sozialwissenschaftler zumindest auf ähnliche Weise in ihren eigenen Metadiskursen, aber auch in Forschungstexten, verwenden, z. B. „System“ (z. B. Topolski 1976, 4, Braudel 1986b 1979, Ganshof 1961), „Gesellschaft“ und deren „Entwicklung“ bzw. deren „qualitative“ und „quantitative“ „Veränderung“ (z. B. Cardoso 1982, 170; Wehler 1980), „Kausalität“ (z. B. Bernheim 1908, Bloch 2002 [1949], E. H. Carr 1962, Howell/Prevenier 2004, Frings 2008), „Mechanismus“ (z. B. Cordoso/Brignoli 1986, 25; Vilar 1982, 51,), „Struktur“ (z. B. de Lara 1974, Medick 1984a/b, 1996 Lloyd 1993, Skocpol 1979, Sewell 2004, Sewell 1985) „Geschichte“ (2.1, passim). So wäre zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Ontologie für diese Wissenschaften irgendwie relevant, d. h. potenziell hilfreich 300

Fulbrook 2002a, 76: „If we cannot even agree on what it is we are talking about – on categories for labeling the past – it is hardly likely that we will reach agreement on stories constructed in terms of these elements. But, if we are going to continue to investigate the past, we cannot simply agree to leave it like that.“

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_7

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

ist, indem sie etwas zu klären verspricht, was auch heißt, dass sie sich an sie letztlich wendet, nicht an philosophische Elfenbeinturmdiskurse. Schön wäre eine Ontologie, von der einige immerhin weltberühmte Sozialwissenschaftler behauptet haben, etwas in der Richtung läge ihrer Arbeit und Vorstellung von wissenschaftlicher Sozialwissenschaft zugrunde (J. Coleman, R. K. Merton, C. Tilly), die zudem von noch mehr Soziologen überhaupt rezipiert wird, zumal auch kritisch (Schmid 2006a), von der Makrosoziologie (Pickel 2006) bis hin zur Sozialen Arbeit (Klassen 2010) und immerhin ein Lehrbuch der Historischen Soziologie (Bühl 2003). Vorteilhaft wäre, wenn sie auch von vornherein Ähnlichkeiten aufwiese mit Ontologien – oder in der Geschichtswissenschaft so genannter „Theorie“ –, die manche Gruppen von Geschichtswissenschaftlern schon länger rezipieren (z. B. Giddens 1997 1984 oder Lloyd 1986, 1991, 1993). Hilfreich wäre eine Ontologie, die z. B. jene Ontologie des „Social Realism“ oder „Pan-Dispositionalismus“ zu klären oder zu ersetzen helfen kann (Plenge 2014a), die immerhin manche Intuition bezogen auf „Agency-versus-Structure“ von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern aufnimmt. Gut wäre auch eine Ontologie, die fast niemand kennt, sodass die folgende Darstellung oder darstellende Rekonstruktion wenigstens einen Hauch von Neuheit hat.301 Noch besser wäre, wenn Platz für fruchtbare Kontroversen bliebe, sodass z. B. Sewells (2005) Programm aufgenommen werden könnte, demzufolge Geschichtswissenschaftler etwas zur „social theory“ (Ontologie?) beitragen könnten und sollten. Gebraucht wird auch eine Ontologie, die vielleicht ontologisches Vereinheitlichungspotenzial im Hinblick auf Fragen von Forschung, Erklärung und Verstehen bietet (Kapitel 5, Kapitel 6), indem die Gegenstände geschichts- und sozialwissenschaftlicher Forschung differenzierter beschreib- oder erkennbar werden, und die zwar, wie es im Eingangszitat von Mario Bunge angedeutet wird, nicht abschließend bewiesen oder völlig eindeutig, aber so begründbar und anschlussfähig ist wie anderes in den Wissenschaften. Wenn man diesen Katalog voraussetzt, was man ja nicht tun muss, gibt es nur einen Kandidaten. Zumindest ist mir kein anderer Kandidat bekannt. Den müssen wir damit wohl oder übel auch zwangsläufig wählen, genauso wie im Themenbereich „Verstehen“ prima facie nur ein Kandidat gegeben war (Kapitel 5): Die Wahl fällt auf den philosophischen Systemismus, die Systemik oder den Emergentistischer Systemismus.302 Der Systemismus wird nicht nur aufgrund der obigen Kriterien und einer gewissen Alternativlosigkeit hier als Ausgangspunkt gewählt, sondern auch, weil sich an ihm zudem viele (philosophische) Probleme illustrieren lassen, die andernorts auch zu finden oder zu vermuten sind, nämlich in vielen Sozial(meta)theorien. Das dürfte daran liegen, dass die Problematik der Sozialwissenschaften mit einem gewissen Wissenschaftlichkeitsanspruch, so wie diese sie teilweise selbst beschreiben, im Systemismus ernst genommen wird, weshalb auch deren basales Vokabular dort auftaucht. Die Wahl des Systemismus ist jedoch an dieser Stelle zunächst einmal willkürlich in dem Sinn, dass er vor dem Hintergrund der metatheoretischen Probleme der vorangehenden Kapitel (Kapitel 3 bis 5), Debattenmuster in Geschichts- und Sozialtheorie („Struktur versus Handlung“) sowie vor dem Hintergrund der Impressionen aus der Anatomie dem Autor eine plausible Metatheorie zu sein verspricht, indem der Systemismus Probleme löst oder zu klären verspricht. Man kann aber diese Problematiken, Debattenmuster und jene Impressionen (a) zunächst ablehnen oder nicht teilen (so vermutlich Tucker 2004a), oder (b) andere Kandidaten an dieser Stelle zunächst rezipieren, falls man zu dem 301 302

Eine Ausnahme der Rezeption am Rande der Philosophie der Geschichte ist Johannessen (2012). Bunge 1959a, 1967a/b, 1976, 1977a/b/c, 1979a/b, 1981, 1983a/b, 1984a/b, 1985a, 1985a/b, 1988, 1989, 1992b, 1993, 1995, 1996, 1997, 1998a/b, 1999, 2001a/b/c, 2006a, 2008, 2009a, 2009b 1959, 2010a/c, 2012a/b, 2013a 1959, Bunge/Ardila 1990, Bunge/Mahner 1997, 2004.

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Ergebnis kommt, ohne ein gewisses Maß an expliziter Ontologie geht es an einer Stelle nicht weiter (z. B. Gerber 2012). Die Frage an einer solchen Stelle sollte immer sein, was sich mit einem philosophischen Import anfangen lässt. Es geht also vornehmlich darum, überhaupt eine Ontologie zu haben, die wenigstens einige Rätsel klärt, was auch schlicht heißt, dass sie diese zu formulieren oder genauer zu fassen hilft. Aber letztlich geht es hier nicht um Philosophie, sondern um Geschichtswissenschaften, sodass ansatzweise gezeigt werden muss, dass man mit dieser Ontologie hier überhaupt etwas anfangen kann. Die einigermaßen willkürliche Wahl ist an dieser Stelle aber im Vergleich überhaupt kein Problem, da die Ausgangspunkte der Autoren im vorangehenden Kapitel im philosophischen Rahmen der geschichtsphilosophischen Tradition von der Praxis aus betrachtet auch eher willkürlich sind. Von „Systemen (7.3.1, Abbildung 24), „Strukturen“ (7.3.4),

Abbildung 24

„Menschliche Wesen und ihre Subsysteme und Supersysteme“ (aus Bunge 2001b, 87).

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

„Mechanismen“ (7.3.6), „Aggregaten“ (7.3.1), „Prozessen“ (7.3.5) und „Emergenz“ (7.3.2) reden aber vergleichsweise viele Geschichts- und Sozialforscher und Geschichts- und Sozialtheoretiker. Auch Kausalität (7.3.8) ist natürlich nicht zu vermeiden und über Gesetzmäßigkeiten werden wir auch im Rahmen der Systemik kurz spekulieren (7.5), wie schon zuvor (Kapitel 6). Der nun zu gehende Weg kartographiert sich quasi von selbst: Der Systemismus wird als Ontologie und Methodologie skizziert. Dabei wird er skizzenhaft nebenbei als weniger problematisch und weitaus klarer gewürdigt als andere Angebote in der aber nach wie vor unübersehbaren Fülle von Metatheorien, Ansätzen und Philosophien (zum Beispiel im Vergleich zum realistischen Pan-Dispositionalismus). Zudem wird er in jüngerer sozial(meta)theoretischer Literatur insofern situiert, als deren Vokabular ebenso skizzenhaft bereits mit den Kategorien der Systemik verglichen wird. Dabei treffen wir immer wieder auf das Problem, abstrakte ontologische Ideen sozusagen mit konkreteren sozial(meta)theoretischen Vorstellungen und sogar geschichtswissenschaftlicher Praxis ansatzweise in Kontakt zu bringen. Das führt dann auch hier und dort zum Knirschen im Gebälk der Systemik. Im Vorbeigehen streifen wir in Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie notorisch unklare Begrifflichkeiten wie „Realismus“ und stürzen uns, wann immer das möglich ist, auf die Impressionen aus der Mini-„Anatomie“. Das große Problem der möglichen Schnittmenge von Wissenschaft und Philosophie wird dadurch nicht gelöst, da wir auch hier keine vergleichende Betrachtung von geschichts- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen, ihren philosophischen Annahmen und ihrer womöglich damit zusammenhängenden Erfolge und Misserfolge vornehmen können, obwohl sie teilweise offen zutage liegen. Mit anderen Worten, ohne eine viel breitere Analyse und einen viel breiteren Einbezug nicht nur von Metatheorie, sondern von Forschung auf der Basis von Metatheorie (oder bloß einer vorgeschobenen, illusionären Basis), die hier natürlich nicht möglich ist und Einzelnen ohnehin unmöglich ist, wird Metatheorie, und wohl darin besonders auch Ontologie, schnell zum müßigen Austausch von Labels, wie z. B. auch die ErklärungVerstehen-Erzählung-Kontroversen zeigen. Wie dem auch sei, vor dem Hintergrund der darzustellenden Systemik in Kombination mit dem Forschungsprogramm zu Erklärung und Verstehen kann man sich dieser Schnittmenge von Wissenschaftspraxis und Philosophie im Anschluss vergleichsweise einfach weiter annähern.

7.1 Systemismus und Realismus: Grundlagen Le malheur est que, si l’on chasse la norme de vérité par la porte, elle revient par la fenêtre, … (P. Veyne, 1996 1975 75 f.).

Systemismus ist ein Ansatz. Ein Ansatz besteht aus einem (falliblen) Hintergrundwissen, einer Problematik, einer Menge von Zielen und einer Menge von (verbesserbaren) Methoden (Kapitel 5.6). Da er sehr allgemein ist, handelt es sich um einen philosophischen, d. h. Disziplinen übergreifenden Ansatz, im Unterschied zu beispielsweise begrenzten Ansätzen der Kultur- oder Sozialgeschichte (z. B. Kocka 1986, Ruloff 1995, Cardoso/Brignoli 1986, van Dülmen 2001, Daniel 2002) oder den sogenannten Bindestrich-„Geschichten“ (wie „GenderGeschichte“, „Alltags-Geschichte“, 2.1). Das Ziel des philosophischen oder metawissenschaftlichen Ansatzes besteht darin, Probleme finden, formulieren und lösen zu helfen (Bunge 1995, 18 f.). Das Metaziel dürfte mit „Verstehen“ für basale Wissenschaft, im Unterschied zu Technologie oder angewandter Wissenschaft, gut benannt sein, ob in den Realwissenschaften („empirischen Wissenschaften“) oder den Formalwissenschaften (wie Mathematik und Lo-

7.1 Systemismus und Realismus: Grundlagen

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gik).303 Das passt uns an dieser Stelle gut ins Konzept, d. h., es passt zu unserem Forschungsprogramm (Kapitel 5.5). Systemismus ist aber selbst keine Theorie (im hier relevanten, allerdings unklaren Sinn), d. h. der Ansatz ersetzt keine wissenschaftliche Forschung und stellt keine Erklärungen für alles und jeden bereit, zum Beispiel indem er Forscher einen systemischen Jargon zur Verfügung stellt, den diese dann verwenden. Dies wird ja teilweise von geschichtswissenschaftlichen Ansätzen (4.1.5) oder auch sogenannten Systemtheorien erwartet.304 Der Systemismus umfasst grob vier philosophische Komponenten: (a) eine Ontologie (Metaphysik) und (b) eine Methodologie. „Ontologie“ und „Metaphysik“ heißt hier dasselbe. Da Ontologie und Methodologie aufeinander bezogen sein sollen, kann man von „an ontology-methodology pair“ (Bunge 2001c, 294) sprechen. Die dritte Komponente umfasst (c) eine Ethik, nicht zuletzt eine Sozialethik und (d) eine (Sozial-)Technikphilosophie (Bunge 1998, 2009; 2014a 1980), von denen sich auch sagen lässt, dass sie nicht unabhängig von den anderen Komponenten sind. Zu dem falliblen und meliorablen Hintergrundwissen dieses philosophischen Ansatzes gehören die ontologischen Thesen von unterschiedlicher Allgemeinheit, d. h. zum einen bezogen auf die Gesamtrealität, zum anderen auf bestimmte Bereiche oder „Ebenen“ der Realität.305 Der Unterschied lässt sich plastisch an den auch andernorts bekannten ontologischen Pyramiden darstellen oder der etwas detaillierteren baumartigen Struktur (siehe Abbildung 24) entnehmen. Das heißt, bestimmte der ontologischen Thesen gelten für alle Ebenen, bestimmte nur für bestimmte Ebenen. Als zu unterscheidende Hauptebenen gelten die physische, chemische, biologische, soziale und technische Ebene (z. B. Bunge 1995, 35). Falls nichts Soziales existiert, gelten natürlich allgemeinere Thesen nicht für irgendetwas Soziales. Die Existenz von Sozialem wird im Systemismus jedoch angenommen. Die ontologischen Thesen sollen nicht einfach völlig a priori gelten oder begründet sein, sondern (a) die Ontologie ausdrücken, die Wissenschaftler ihrer tatsächlichen Arbeit zugrunde legen, im Unterschied zu philosophischen Verlautbarungen im Anschluss an diese Arbeit oder vor dieser, und (b) mit den substanziellen wissenschaftlichen Theorien bzw. dem Wissen, das in allen Wissenschaften produziert worden ist, kompatibel („extern kohärent“) und von diesem inspiriert sein. Alles in allem sollen die ontologischen Thesen nicht völlig anders gerechtfertigt sein als hyperallgemeine Theorien in den Wissenschaften. Es sei betont (Kapitel 2.1),

303

304 305

Dass Verstehen das Ziel von Wissenschaftlern ist, zieht sich von Anfang bis heute, soweit dies mir bekannt ist, durch das Werk; siehe z. B. auch schon Bunge 1959a, 1959b, 2013a 1959, neben Bunge 1967a/b und 1983b. „Scientists are expected to explore the world in order to understand it“ (Bunge 1998a, 1). „In principle anything can be the object of understanding (…)“ (Bunge 1983a, 4). Einmal heißt es (Bunge 2010c, 17), das Ziel der Epistemologie sei „to understand understanding”. Im deutschsprachigen Raum klingt dies wohl noch immer teilweise seltsam. In der neueren (Allgemeinen) Hermeneutik sieht man das wohl genauso: „Grundsätzlich können alle Dinge verstanden werden (…)“ (Scholz 2016b, 21). M. R. Cohen (1947, 68, Fußnote 3) schrieb in seiner Philosophie der Geschichte: „Science aims not only to recognize things but to comprehend and understand them.“ Siehe auch 4.2 sowie Kapitel 5. Zu Letzterem siehe kritisch Essers „Soziologie“, im Literaturverzeichnis. In der Disziplin Soziale Arbeit wird bereits die philosophische Systemik als „Theorie“ mit der Bielefelder Systemtheorie verglichen. Obwohl sehr viel von Mikro- und Makro-Ebenen in der Soziologie und ihrer Philosophie geschrieben wird, wird eigentlich selten gesagt, was mit „Ebene“ gemeint ist. An dieser Stelle ist nur wichtig, dass Ebenen Mengen sind, damit etwas Begriffliches und keine Dinge im Speziellen oder eine ontische Kategorie im Allgemeinen. Das heißt auch, Ebenen, zum Beispiel Mikro-Ebenen, Meso- und Makro-Ebenen, eine „untere“ und eine „obere“ Ebene usw. können weder miteinander interagieren noch voneinander abhängen, und sie können auch nicht evolvieren, haben keine (eigenständigen, autonomen) Gesetze und keine (emergenten) Eigenschaften etc., weil sie nicht existieren. Das heißt, die Bioebene ist die Menge aller Biosysteme, die soziale Ebene ist die Menge aller Sozialsysteme usw.; vgl. Bunge 1981, 28 f., 2010c, 90, und Wan 2011a, 51, neben Elder-Vass 2010, 20.

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

dass zu diesen Wissenschaften auch die Geschichtswissenschaften zählen (z. B. Bunge 1988, 1998, Kapitel 8.2), was international gesehen bekanntermaßen nach wie vor unüblich ist. Dieser Link zu Wissenschaften soll auch dafür sorgen, dass die später folgenden Definitionen, welche letztlich die ontologische Theorie bilden, eben nicht arbiträr oder rein stipulativ sind (vgl. z. B. auch Bunge/Mahner 2001). Das heißt, der Anspruch dieser Metaphysik ist zugleich empirisch und szientistisch, d. h., wissenschaftliche Theorien gelten als privilegierte Quellen für ontologische Thesen, im Unterschied zu reiner „philosophischer“ Spekulation auf der Basis einer Analyse der eigenen „Intuitionen“. Diese wissenschaftlichen Theorien sollen (fallibel) jene ontologischen Thesen begründen helfen. Es wird also auch angenommen, dass es keinerlei strikte Grenze zwischen Wissenschaft und Ontologie im Speziellen oder Philosophie im Allgemeinen gibt oder aber geben muss. Von der Systemik („systemics“) oder der ontologischen Seite des systemischen Ansatzes heißt es daher, er sei „part and parcel of scientific ontology, which in turn is included in the intersection of science and philosophy“ (Bunge 1993, 221). Das ist zumindest die philosophische Hypothese. Sie passt auch in unsere globale Fragerichtung, in der die Relevanz von Philosophie/Geschichtsphilosophie nicht vorausgesetzt wird (2.2). Ein Problem, das sofort benannt werden soll, damit keine Illusionen transportiert werden, ist, dass es in den Geschichts- und Sozialwissenschaften eventuell gar keine Theorien gibt, also auch keine, die für eine Ontologie sprechen. Die Ontologie soll ferner (c) fruchtbar im Kontext der Wissenschaften selbst sein. Negativ formuliert heißt dies, wenn (a) und (b) und (c) nicht erfüllt werden oder von vornherein nicht erfüllt werden sollen, dann ist die – aus meiner Sicht, Kapitel 2 – wichtige metaphilosophische Norm wohl verletzt oder von vornherein missachtet: „a philosophy of x should match x rather than be at variance with x“ (Bunge 1996, 10). Wenn dies der Fall ist, droht Irrelevanz bezogen auf die Wissenschaften oder eine spezifische Wissenschaft. Auch hier sei nicht verschwiegen, dass die vermutete Heterogenität der Sozialwissenschaften sofort damit verbunden sein sollte, dass es keine Metatheorie für alle gibt, darunter auch Ontologie. Last but not least, besteht der Anspruch nicht darin, bloß die Sprache der Wissenschaft(en) oder sogenannte Begriffsrahmen kategorial einzufangen, sondern die kategoriale „Struktur“ der Welt zu erfassen, um einmal die übliche Metapher zu verwenden (Bunge 1977a, 11). Das heißt, der Anspruch dieser Metaphysik ist realistisch (nicht z. B. kantianisch). Wie ich mich zu diesem Anspruch verhalte, wird später kurz zur Sprache kommen müssen. Für die Frage, was man mit dem Systemismus in Konfrontation mit Geschichtswissenschaften und anderen Sozialwissenschaften beziehungsweise „Soziologischer Theorie“ machen kann, ist dies aber sekundär, d. h., man kann sich bezogen auf den Realismusanspruch dieser Ontologie zunächst agnostisch verhalten. Weitere Meta-Metaphysik soll und kann hier nicht betrieben werden, obwohl z. B. der Critical Realism – immerhin die in den Sozialwissenschaften verbreitetste Ontologie – zeigt, dass dies nötig wäre (Kaidesoja 2013). Zu den allgemeinen ontologischen Thesen (AoTh), die letztlich nicht bewiesen werden können, zählen folgende Thesen, die offenbar alle in Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie aus der Mode gekommen sind, was aber eben nicht heißt, dass sie in der Praxis abgelehnt werden. Wir starten mit den grundlegendsten: These des ontologischen Realismus: (AoTh-1) Das Universum und dessen Komponenten existieren völlig unabhängig davon, ob irgendein Wissenschaftler sie untersucht (oder sonst ein Mensch darüber nachdenkt).

7.1 Systemismus und Realismus: Grundlagen

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Diese These lässt noch offen, woraus das Universum (oder die Welt) letztlich besteht. Sie gilt mit Einschränkung auch für vergangene, d. h. nicht mehr existente Komponenten dieses Universums oder das Universum als Ganzes. Die Einschränkung bezieht sich natürlich darauf, dass diese nicht mehr existieren. Weder Augustus noch dessen Annahme des Ehrennamen „Augustus“ (27. v. Chr.) existieren noch306. Beispiele: Am 2. Punischen Krieg, am Heiligen Römischen Reich zu einem Zeitpunkt, an meinem mittlerweile verstorbenen Großvater am 07.07.1974, einem „historischen“ Datum (Williams 1999, 654), oder auch an der heutigen Weltwirtschaft ändert sich nichts dadurch, dass irgendwer darüber Hypothesen aufstellt. Kulturtheoretiker oder sogenannte „postmoderne Theoretiker“ glauben wohl manchmal anderes („Konstruktivismus“). Nota bene, die ersten Beispiele setzen bereits irgendeinen sozialontologischen Realismus voraus, was nicht zwingend ist. Außerhalb der Philosophie stimmt der These des ontologischen Realismus wohl fast jeder zu. Die Geschichtswissenschaftler aus der Anatomie lassen kaum Zweifel daran aufkommen, dass sie dies glauben. Geschichtstheoretiker schreiben manchmal etwas anderes, wobei nicht immer klar ist, ob sie das auch wörtlich meinen: „Es gibt keine Wirklichkeit jenseits der menschlichen Deutung“ (Baberowski 2003, 45). P. Veyne (1996 1975, 51) sah dies scheinbar gänzlich anders – abhängig davon, was er mit „Tatsache“ meint; 7.3.7 – und behauptete, nichts könne die „Tatsachen“ und ihre „Verbindungen“ verändern. Jeder Praktiker, der sich vornimmt, handelnd auf ein System (7.3.1) irgendwie einzuwirken oder tatsächlich einwirkt, setzt eigentlich auch den ontologischen Realismus voraus, z. B. auch Mediziner (Bunge 2012b), obwohl die These des ontologischen Realismus innerhalb der Philosophie in den letzten 50 Jahren vielleicht teilweise unpopulär gewesen ist.307 Geschichtswissenschaftler wirken zwar selten auf die sie interessierenden Gegenstände ein, es sei denn, sie befragen Personen in „oral history“. Dennoch setzen sie die Existenz dessen, was sie „Quellen“ nennen, als existent jenseits der menschlichen Deutung (im hier relevanten Sinn) doch wohl voraus, ansonsten wäre es allein absurd, z. B. diese Personen überhaupt zu befragen oder über Quellen und ihre Entstehung Hypothesen aufzustellen und diese irgendwie kontrollieren zu wollen, wie zumindest Klassiker noch glaubten (Bernheim 1908). Deutungen von Menschen sind vor diesem Hintergrund real und die Frage, ob ihre „Deutungen“ (Hypothesen) über irgendetwas anderes auch noch etwas Reales treffen, ist eine andere Frage. In den Geschichtswissenschaften heißt es häufiger, über Realität oder „wie es gewesen ist“ könne man nichts erfahren, sondern bloß über Deutungen der Realität durch Menschen. In diesem Fall sind die als real existierend vorausgesetzten Entitäten aber noch immer diese Menschen mit ihren Eigenschaften. Kontroverser ist schon eher die folgende systemische These: These des ontologischen Materialismus: (AoTh-2) Die Welt ist ausschließlich aus Dingen (d. h. konkreten oder materiellen Dingen) zusammengesetzt.

306

307

Die These steht bereits im Kontrast zu Psillos (2009) „eternalism“, den er in seiner Regularitätsmetaphysik der Kausalität benötigt, und eventuell Ansichten des Geschichtsphilosophen Wächter (1986, 8). Psillos zufolge dürften Oktavian/Augustus und dessen Namensannahme 27 v. Chr. noch heute existieren. Vgl. Bunzl 1997 zu demjenigen, was er „metaphysischen Realismus“ nennt, der allerdings eine ontologische These bereits mit einer bezüglich Wahrheit vermischt (ebd., 8).

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Das heißt auch, es gibt keine Mischformen aus konkreten Dingen und abstrakten Dingen, z. B. Zahlen, Theorien, Regelsystemen oder auch fiktiven Entitäten wie Banana Joe oder Micky Maus: „Jeder Gegenstand ist entweder ein Ding oder ein Konstrukt, d. h., kein Objekt ist nichts von beiden, und keines ist beides“ (Bunge/Mahner 1997, 5). Abstrakte, begriffliche Gegenstände, auch „Dinge“ genannt, sind im Systemismus darüber hinaus nützliche Fiktionen, d. h. eigentlich inexistent. Beispiele: Die Theorie oder Modelle der Photosynthese,

Abbildung 25

„Die logische Abfolge der zentralen Begriffe unserer Ontologie“ (aus Bunge/Mahner 2004, 17). Diese Darstellungen unterschlägt Details, die wir im weiteren Verlauf klären.

7.1 Systemismus und Realismus: Grundlagen

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Marxens Theorie des Kapitals oder auch M. Alpers‘ (1995) geschichtswissenschaftliche Theorie über den fiscus Caesaris existieren nicht, was auch heißt, dass sie sich nicht verändern, auch wenn man manchmal so redet (und so reden muss), als täten sie das. Festzuhalten ist hier nebenbei, dass „Ding“ bzw. „System“, d. h. „komplexes Ding“308, die fundamentale Kategorie dieser Ontologie ist (Abbildung 25), nicht „Ereignis“ (wie tendenziell bei Luhmann, vgl. Wan 2011a), „Prozess“ (wie tendenziell bei Giddens 1997 1984 und Esser 1996) oder „Struktur“ (wie bei jenen, die „Strukturalisten“ genannt werden). Warum das so ist und warum damit keine statische, ahistorische und inhumane Weltsicht verbunden ist, wird unten klarer werden. Im Grunde ist das Gegenteil der Fall. Bedauerlicherweise gibt es meines Wissens im Bereich der Geschichts- und Sozialphilosophie keinen Vergleich von, ja nicht einmal einen Hinweis auf unterschiedliche ontologische Architektoniken und somit auch keine vergleichenden und evaluativen Perspektiven auf solche Architektoniken. Die (vergleichende) Ontologie der Sozialwissenschaften ist eigentlich noch inexistent.309 Die Materialismusthese besagt natürlich kürzer, dass alles, was existiert, materiell ist. Die weitere Ausbuchstabierung dieser These bzw. die Kriterien für Materialität, wie Veränderbarkeit oder Besitz von Energie oder anderes, die z. B. Micky Maus,  und die Theorie der Quantenmechanik als abstrakte Gegenstände nicht besitzen (vgl. z. B. Bunge 1981, 2002, 2003a, 2006a, 2010c), sollen hier nicht Thema sein, da sie für die Philosophie der „höheren“ Wissenschaften nur ganz am Rande (nämlich eventuell in Kausalitätsfragen) oder gar nicht relevant sind, sodass man sie eigentlich unterschlagen sollte, weil „Materialismus“ die AlltagsAssoziation von Tischen und Steinen heraufbeschwört, genauso wie die Rede von „Dingen“. Kürzer: Diese Thesen müssen letztlich (vornehmlich oder auch) unter Physikern oder in der Philosophie der Physik verhandelt werden. Dabei können schon signifikante Unterschiede auftauchen. Zum Beispiel scheint im Materialismus von R. Bhaskar die Fähigkeit, Veränderungen hervorbringen zu können (qua „causal powers“) das Realitätskriterium zu sein, was unter Umständen in Übertragung auf die systemische Rahmenontologie zur Inexistenz sozialer Systeme führt (7.4). Aber ausgeschlossen wird davon abgesehen durch jede Materialismusthese die Existenz von Göttern, Geistern und Dämonen, Zeitgeistern, des Schicksals der Nation, „sozialer Strukturen“ in mancher Bedeutung und Ähnlichem jenseits von Raum-Zeit und konkreten Dingen oder Systemen. Ausgeschlossen werden aber auch Tatsachen als Entitäten, die jenseits von Raum und Zeit existieren sollen (z. B. Jakob 2008), da jenseits der Raum-Zeit – so die Annahme – überhaupt nichts existiert. Wie dem allen auch sei, ein Realitätskriterium ist in diesem Materialismus Veränderbarkeit. Die Gegenthese zum Materialismus ist traditionell Idealismus: Alles, was existiert, ist geistig (Bunge/Mahner 2004), der in unterschiedlichen Formen in den Sozialwissenschaften bzw. mancher ihrer Metatheorien („meaning“) populärer ist, zumindest scheint es so. Eine Mischwelt gibt es im Rahmen der Systemik also nicht. Seitdem Geschichtswissenschaftler den Weltgeist, das Schicksal der Nation und den lieben Gott nicht mehr in ihrer (wissenschaftsrelevanten) Ontologie und vor allem in wissen308

309

Ich werde hier aus naheliegenden Gründen das ontologische Fass nicht aufmachen, was genau ein Ding ist und welche Auffassungen von Dingen es gibt. Es sei bloß darauf hingewiesen, dass Philosophen auch manchmal „Ding“ („thing“) verwenden wie andere „Entität“, d. h. als Variable für alle möglichen Kategorien. Mit „Ding“ ist hier aber natürlich kein Alltagsbegriff wie „anfassbarer Gegenstand“ oder auch „massehaltiger Gegenstand“ oder so etwas gemeint. D. h., es handelt sich um einen metaphysischen Begriff. Bunge (1977, 273 ff.) zufolge zeichnen sich Prozessmetaphysiken dadurch aus, dass sie eben nicht Dinge als fundamentalste Kategorie ansehen, sondern Prozesse. Entsprechendes gilt dann auch für Ereignisontologien oder Strukturalismen. Für Letztere nennt Bunge als Beispiel Lévi-Strauss. Es scheint eventuell auch Sachverhaltsontologien zu geben. Prozessontologen können dann dasjenige, was sie „Prozess“ nennen, nicht bestimmen, wie dies in 7.3.5 vorgenommen wird. Solche Unterschiede können an verschiedenen Stellen relevant sein.

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schaftlichen Texten zulassen – was vor gar nicht mal 100 Jahren noch möglich war –, sind sie Krypto-Materialisten (oder -Naturalisten), obwohl es auch diesbezüglich immer mal randständige Kontroversen gibt (Forland 2008) und im Weltmaßstab auch hier nichts wirklich eindeutig sein dürfte. Teilweise wird dann in der Philosophie der Sozialwissenschaften und andernorts der heiße Ausdruck „Materialismus“ durch den ebenso heißen Ausdruck „Naturalismus“ ersetzt.310 Da „Materialismus“ eben ein Schimpfwort ist und zu reduktionistischen (physikalistischen) (Miss-)Verständnissen gerade im Bereich vermeintlicher „Geistes“Wissenschaften einlädt, sei vorschnellen Einwänden sofort durch eine weitere These oder im Kern zwei verbundene (und selbstverständlich kontroverse) Thesen hier begegnet, nämlich Systemismus und Emergentismus, denn „systemism implies emergentism, the thesis that every system has global or emergent properties“ (Bunge 2010c, 9). Thesen des ontologischen Systemismus: (AoTh3) Jedes konkrete (oder materielle) Ding ist entweder ein System oder eine Komponente eines Systems. (AoTh4) Jedes konkrete System, mit der Ausnahme des Universums, ist ein Subsystem eines anderen Systems. (AoTh5) Jedes konkrete System, mit der Ausnahme des Universums, interagiert mit mindestens einem anderen System (Bunge 1993, 215). (AoTh6) Das Universum ist ein System, nämlich das System, zu dessen Komponenten jedes andere Ding gehört und das selbst keine Umwelt hat und keine äußeren Einflüsse (Bunge 1979a, 245 ff.; Bunge/Mahner 1997; Bunge/Mahner 2004). These des ontologischen Emergentismus oder emergentistischen Systemismus: (AoTh7) Jedes System hat mindestens eine emergente Eigenschaft. Auf die zentralen Kategorien kommen wir später. Zu den allgemeinen ontologischen Thesen gehören auch u. a. kausalitätsontologische Annahmen (7.3.8). An dieser Stelle kommt es zunächst auf eine auch Geschichtswissenschaftlern, und zwar wohl fast aller Lager, wohlvertraute Idee an, die ihnen – außerhalb eines ontologischen Kontextes – so einsichtig ist, dass sie sie kaum hinschreiben würden, stehen sie doch häufig auch hinter Vorstellungen von „historischer Kontextualisierung“ (Kapitel 6.4): Es gibt keine unabhängigen Dinge: Die Grenzen, die wir zwischen den Entitäten ziehen, sind immer imaginär. Was existiert, das sind Systeme (physisch, chemisch, lebendig und sozial) (Bunge 1974, 446). Die einzigen unteilbaren Dinge („Individuen“), die daher keine Systeme (komplexe Dinge), aber Teile anderer Systeme sind (AoTh3), kennt nach Expertenmeinung vielleicht die Physik, ansonsten aber niemand.311 Die Systemik ist die ontologische Seite dieser in Wissenschaften wohl verbreiteten Ansicht. Die methodologische Seite der Ontologie ist Geschichtswissenschaftlern auch vertraut (5.5): „Nothing can profitably be studied in isolation“ (Bunge 1993, 310

311

Zum verwirrend vielschichtigen Ausdruck „Naturalismus“ siehe Bhaskar 1979, 1981, Thomas 1979, Bunge/Mahner 2004, Bunge 2010c; zum Übernatürlichen im Rahmen der Wissenschaften und Streitpunkten diesbezüglich siehe Mahner 2012. Falls diese überhaupt Dinge kennt, was eine ontologische Frage in der Philosophie der Physik ist. Manche scheinen zu glauben, sie kenne nur etwas, das „Strukturen“ genannt wird.

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210), weder eine Person noch eine Gesellschaft, was nichts anderes heißt, als dass nach Relationen zwischen was auch immer gesucht werden sollte. Das ist natürlich der Anknüpfungspunkt für eine allgemeine Verstehenslehre (Hermeneutik), die davon ausgeht, dass Verstehen im Erfassen von Zusammenhängen oder Relationen besteht (Scholz 2015b, 2016b, Kapitel 5.5), wo auch immer etwas verstanden werden soll oder auch tatsächlich verstanden wird. Der Zusammenhang von Ontologie („There are no stray things.“) und Methodologie ist schon an dieser Stelle greifbar, wenn auch scheinbar trivial und hyperallgemein: „Look for relations, in particular links (couplings or connections) among things“ (Bunge 1981, 25). Das heißt in Bezug auf den hier relevanten Gegenstandsbereich zunächst nichts anderes, als dass, z. B., Menschen bzw. Gesellschaften, erstens, nicht unabhängig ihrer physischen und biotischen Umwelt sind, sondern letztlich „nur“ Teile eines umfassenden Physikochemobiosystems oder, vielleicht kürzer, Ökosystems sind. Für Ökogeschichtswissenschaftler oder Umwelthistoriker heute und Marxisten früher, Anthropometrische Geschichtswissenschaft, Historische Demographie – und sonst eigentlich auch alle anderen – war und ist auch das natürlich eine Trivialität, die man allerdings in Metatheorie nicht unbedingt vergessen sollte und von selbst ernannten „hermeneuticists“ (einer Schule) oder strengen Gründe-UrsachenDichotomisten regelmäßig vergessen wird. Zweitens ist damit verbunden, dass Dinge (Systeme) der höheren Ebenen aus Dingen (Systemen) der vorhergehenden Ebenen bestehen (synchron) und sich aus diesen zusammengesetzt haben (diachron oder „historisch“) und daraus evolviert sind (Bunge 2003a, 1977a, 1979a). Die Erfüllung der These, alle Systeme hätten emergente Eigenschaften, führt dann prozessual gewendet („Emergenz“; 7.3.2) zur vermuteten und metaphorisch so genannten „Pyramiden-“ oder „Ebenenstruktur“ der Realität, die eben nicht nur mit der These verbunden ist, dass nichts aus nichts entsteht und sich auch nichts in nichts auflöst, sondern auch mit der These, dass Neues aus (zusammengesetztem, komplexen) Altem entstehen kann, d. h. z. B. dass Leben, Bewusstsein, Geist oder die Fähigkeit, einen Witz zu erzählen, aus Physikochemobio-Komponenten und deren Verbindungen (7.3.3) entstehen. Mit dem systemischen Emergentismus oder dem emergentistischen Materialismus ist also, sobald man die „Seinspyramide“ zeitlich auffächert, eine auf Veränderung (7.3.5) Wert legende oder „evolutionistische“ Ontologie verbunden (Bunge 1977a, 1979a, 1981, 2003a, 1995, 1996, 1998, 1999), was uns den Geschichtswissenschaften, von denen es ja lange hieß, sie untersuchten zuvorderst Veränderungen oder sollten dies (z. B. Topolski 1976; Le Goff/Nora 2011 1974, 13), Idrissi 2005, 67), eventuell auch hier schon ein Stück näher bringt, falls es stimmt, dass Geschichtswissenschaften Veränderungen untersuchen. Man kann den Kern des Vorangegangenen auch kürzer fassen und damit erste Bedenken gegen das Wort „Materialismus“ auflösen, auf das man bei Bedarf auch verzichten könnte oder im Rahmen der Sozialwissenschaften bis auf Weiteres besser verzichten sollte. Ich will aber hier im Rückgriff auf den Systemismus diesen nicht bereits dadurch verwässern, dass alles, was aus irgendwelchen zumeist intuitiven Erwägungen unplausibel oder ungewohnt scheint oder sich auch am Ende als unplausibel erweisen könnte, verschwiegen wird. Dieser Materialismus ist nicht-reduktionistisch oder, was dasselbe heißt, kein Physikalismus. Das heißt, es ist nicht so, wie häufiger zu lesen ist, dass der „materialistische Monismus“ zwingend behauptet, alles sei „physischer Natur“ (z. B. Heintz 2004, 6). Im Systemismus gilt: Alles ist materiell, aber nicht alles (bloß) physisch. Es wird auch stipuliert, dass jedes System über (mindestens) einen sogenannten „Mechanismus“ verfügt, aber nicht alle Mechanismen sind physisch, sondern es gibt auch soziale Mechanismen. Auch diese ontologische These hat eine methodologische Kehrseite, nämlich dass die Physik nicht alles erklärt und auch nicht erklären kann (z. B. Bunge 1984b, 36).

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

Dem Systemismus zufolge existieren mentale Eigenschaften als emergente Eigenschaften von Biosystemen (Dingen) und soziale Eigenschaften als Eigenschaften von Soziosystemen (Dingen) und diese Eigenschaften sind jeweils als emergente Eigenschaften (7.3.2) ontologisch irreduzibel. Das heißt zunächst ganz einfach, ein einziges Neuron kann noch nicht denken oder einen Witz erzählen und ein einzelner Mensch ist noch kein Kapitalismus. Die Fähigkeit zu denken existiert aber dennoch in komplexen Neuronensystemen und eine strukturierte Menge von interagierenden Menschen bzw. eine strukturierte Menge der von ihnen gebildeten Sozialsysteme (7.3.3) kann eine kapitalistische (oder feudalistische oder sonstige) Gesellschaft sein, zumindest aus der Sicht dieser Form von sozialontologischem Realismus. All diese Eigenschaften mitsamt den Dingen (Systemen), die sie haben, gelten im Systemismus, obwohl sie zugleich als (ontologisch) irreduzibel gelten, als materiell. Daher ist z. B. auch von „social matter“ (Bunge 1981, 2001b) die Rede, was wieder nur heißen soll, dass komplexe Systeme, deren Komponenten materielle Systeme sind, nicht plötzlich zu etwas gänzlich anderem werden (Bunge 2001c, 295, 2010c, 84; vgl. auch Droste 2001, 75). Auch Wünsche, Überzeugungen etc. sind, falls sie existieren, im systemischen Rahmen materielle Eigenschaften von materiellen Systemen und daher ist es ontologisch zweifelhaft, in der Geschichtstheorie davon zu schreiben „actions are located at the intersection of the material world and the world of consciousness“ (Topolski 1991, 334), zumal „world“ und „intersection“ hier unexpliziert bleiben. Im sozialontologischen und sozialwissenschaftlichen Kontext ist die Rede von „Materialismus“ eigentlich zu vernachlässigen312, so lange man nicht gewillt ist, starke sozialontologische Holismen zu vertreten, in denen z. B. die Gesellschaft (oder Soziales) plötzlich ontisch unabhängig von Personen wird und ein Eigenleben zu führen beginnt, was die meisten als unplausibel erachten.313 So etwas ist für „Materialisten“ immer schwer zu akzeptieren. Fügen wir also eine schon etwas spezifischere ontologische These (SoTh) in einer aber völlig allgemeinen Form hinzu: These eines sozialontologischen Realismus: (SoTh1) Es existieren irreduzible soziale Entitäten. Die These ist natürlich nicht spezifisch systemistisch, denn es gibt (vermutlich) bisher ungezählte und bedauerlicherweise unverglichene sozialontologische Realismen, z. B. den pandispositionalistischen Critical Realism. Es gibt wohl auch ungezählte sozialontologische Krypto-Realismen, in denen soziale Systeme aus kommunizierenden Kommunikationen bestehen sollen und doch nicht bestehen, da sie vom Beobachter abhängen.314 Da „Entität“ und „Gegenstand“ im Systemismus andere Ausdrücke für „Ding“ und „System“ sind, was in anderen Kontexten der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften anders ist, in denen „Entität“ als eine Art uninterpretierte Variable für irgendeine (unexplizierte) Kategorie stehen kann, müssen wir an dieser Stelle etwas aufpassen und die These spezifizieren.

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Das ist im weiten Sinn wohl mittlerweile eine Standardmeinung in allen im weitesten Sinne wissenschaftsorientierten oder „naturalistischen“ Philosophien, ob man das nun „Materialismus“ nennt oder nicht. Hier kommt es einzig auf dasjenige an, was man philosophisch hochtrabend formuliert die Kontinuität des Seins nennen könnte, nämlich vom Physischen bis zum Sozialen, was einzig ontologische Brüche oder „Dualismen“ ausschließt. Mit ähnlichen Auffassungen scheinen Sozialtheoretiker aber durchaus noch zu kämpfen; Greshoff 2008d. So der ontologische Konstruktivist Luhmann; siehe dazu kritisch Greshoff 2008d, Wan 2011, Bunge/Mahner 2004.

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These des sozialontologischen Systemismus (= eine Form von sozialontologischem Realismus): (SoTh2) Es existieren soziale Dinge (= Entitäten), d. h. (in erster Linie) soziale Systeme. (SoTh3) Soziale Systeme haben soziale emergente Eigenschaften. In eine unmissverständliche Analogie gepackt heißt dies zunächst auch im Rückgriff auf die These des ontologischen Realismus im Allgemeinen: „Social reality, though constructed by people, once made is out there, embedded in nature, just like rocks and rivers“ (Bunge 2001b, 136; 1998a, 69; 2009a, 27, 2010c, 84). Obwohl diese Aussage insofern „metaphysisch nichtwohl formuliert“ (Bunge/Mahner 1997) ist, als die soziale Realität genauso wenig existiert wie die natürliche Realität315, ist gemeint, dass soziale Systeme zwar „Konstruktionen“ sind, aber deshalb gerade – wie der metaphorische Ausdruck ja auch nahe legt – nicht weniger real sind. Zumal die „Geisteszustände“ dieser Personen, um es im Rahmen dieser Ontologie erneut unrund formuliert auszudrücken (7.3.5), genauso real sind wie Eigenschaften von Steinen und Flüssen. Die obige Einschränkung „in erster Linie“ wird später aufgelöst, wenn es um die Unterscheidung von Systemen und Aggregaten und die Frage geht, was mit „soziale Eigenschaft“ im Systemismus gemeint ist oder, besser, in meiner Lesart dieses philosophischen Systems. Das Sozialatom, also das kleinste Sozialding, ist das kleinstmögliche Soziosystem, das in dieser Ontologie aus mindestens zwei Tieren oder, im Fall von human-sozialen Systemen, aus zwei konkreten Menschen gebildet wird. Mit der vermuteten Existenz sozialer Systeme ist nun zunächst wenigstens ontologisch die Möglichkeit gesichert, dass Geschichts- und Sozialwissenschaftler überhaupt etwas anderes als atomisierte Individuen untersuchen können, wie sie zumeist auch selbst glauben. Die These des epistemischen Realismus ist nun eine Komponente, die es auch so erscheinen lässt, als sei diesen Untersuchungen auch nicht von vornherein jeder Erfolg versagt. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine erkenntnistheoretische These (AeTh), die auch nicht bloß für Wissenschaften gelten soll, die allerdings in Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie wohl kaum noch en vogue ist (siehe zu Ausnahmen McCullagh 1983, 1998, Murphey 1973, 1994, 2009, Bunzl 1997; Little 2010, Mandelbaum 1938): These des erkenntnistheoretischen Realismus: (AeTh1) „Wir können etwas von der Welt wissen, obwohl nur partiell, unvollkommen (oder annäherungsweise), und graduell“ (Bunge/Mahner 1997, 68; vgl. Evans 1999, 239, 243). Epistemische Anti-Realisten (z. B. Meiland 1965, Goldstein 1976) bestreiten dies, zumal auch im geschichtsphilosophischen Kontext.316 Im Geschichtskontext kann die Geltung des erkenntnistheoretischen Antirealismus auf Vergangenes eingeschränkt werden. Ein Geschichtswissenschaftler kann also für solche Antirealisten, die man „historische Antirealisten“ nennen könnte, schon wissen, welche Buchstabenfolge in diesem Moment auf einem Blatt Papier („Quelle“) steht oder welche Sorte Pizza er sich in diesem Moment zu Gemüte führt. Von einem „historischen“ (d. h. vergangenen) Moment vor diesem Moment kann er aber 315 316

„Realität“ bezeichnet die Menge des Realen und ist als solche inexistent. Was existiert, das sind im Rahmen der Systemik konkrete Systeme. „Geschichte“ scheint häufiger auch so ein Begriff zu sein (2.1). Zur wie immer in unserem Feld unklaren Literaturlage siehe Plenge 2014b.

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niemals etwas wissen. Dass diese Konsequenz in dieser Allgemeinheit streng besehen absurd ist, ist fast jedem einsichtig, bloß in philosophischen Seminaren bleibt man zurückhaltend – manchmal begründet. Geschichtswissenschaftler sind gewöhnlich genauso epistemologische Realisten wie sie ontologische Realisten sind. Zumindest waren sie das früher und man wird zumindest der Mehrzahl offensiver Äußerungen dazu einen solchen Realismus entnehmen können: „The historian works on the assumption that he is capable of reconstructing and understanding the events of the past. If an epistemologist manages to convince him that that is not so, the historian should change profession“ (A. Momigliano, zitiert in Cipolla 1991, 53; Hervorhebung dp).317 Man sollte dem Zitat bloß ein „im Prinzip“ hinzufügen. Zu diesen basalen Realismusthesen hieß es früher in der Geschichtsphilosophie, Geschichtswissenschaftler setzten sie klarerweise voraus (vgl. Murphey 1994, 2009, McCullagh 1983, 1998, Lorenz 1997, 180). Die Texte der Mini-„Anatomie“ sprechen zumindest nicht dagegen, sondern eher dafür, genauso wie die Mehrzahl der geschichtstheoretischen Monographien, die vor ca. 1990 publiziert worden sind. Beim erkenntnistheoretischen Realismus im obigen Sinn handelt sich offensichtlich um einen Im-Prinzip-Realismus. Es handelt sich dabei nicht um einen Realismus, der behauptet, dass jede (geschichts-)wissenschaftliche Hypothese wahr ist. Man hat manchmal den Eindruck, dass „Realismus“ in Geschichtstheorie, Geschichtsphilosophie oder im sogenannten „Narrativismus“ so verstanden und damit ad absurdum geführt wird. Im Gegenteil sind die meisten erkenntnistheoretischen Realisten, zumal praktizierende Wissenschaftler, der Meinung, dass die meisten Hypothesen in Wissenschaften (streng besehen) falsch sind. Der ImPrinzip-Realismus findet sich natürlich auch bei Klassikern der Geschichtstheorie an zentralen Stellen, wenn auch etwas zwischen den Zeilen: „Nicht ohne Grund braucht man jene Bezeichnung nämlich „Quellen“, dp speziell für das Material der historischen Disziplinen, denn dieses ist nicht (…) zugleich der Gegenstand der Erkenntnis selbst, sondern nur das Mittel dazu“ (Bernheim 1908, 252). Geschichtswissenschaftler sind aber offenbar wie auch andere Wissenschaftler aufgrund des eigentlich allseits anerkannten Fallibilismus (vgl. auch Junker 2002, 229) zugleich methodologische Skeptiker, aber eben keine systematischen oder philosophischen Skeptiker (siehe dazu z. B. Bunge 1991a). Der Im-Prinzip-Realismus ist aber eine Voraussetzung des pragmatischen Realismus oder, wie wir es auch nennen könnten, des methodologischen Realismus als Teil des Wissenschaftsethos. Der methodologische Realismus besagt, dass Wissenschaftler wahre Hypothesen (Theorien, Modelle etc.) anstreben sollen, was nur dann plausibel erscheint, wenn man auch den obigen erkenntnistheoretischen Realismus oder Im-Prinzip-Realismus vertritt. Nur vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass Hypothesen auch im „Glücksfall“ wahr sein können, erscheint es plausibel, aufwendige Rechtfertigungsbemühungen aufzunehmen und nicht bloß „Geschichten“ zu „erzählen“. Ferner lohnt es nur vor diesem Hintergrund, überhaupt Methodologie (normative Wissenschaftslehre) zu betreiben. Bis vor kurzem waren Geschichtswissenschaftler wohl recht einmütig erkenntnistheoretische Realisten und methodologische Realisten, obwohl es neuere methodologische Schriften kaum noch zu geben scheint (vgl. z. B. Frings/Marx 2008, Gunn/Faire 2012), zumindest an der Oberfläche der Metatheoriediskurse. Dieser Sicht auf oder Kombination von ontologischem, epistemischem und methodologischem Realismus ist zwar wohl derzeit in Geschichtstheorie (Paravicini 2010) und Geschichtsphilosophie (Plenge 2014b) unpopulär. Wissenschaftler sprechen sie aber aus, wenn sie etwa sagen, ohne regulatives Wahrheitsideal wäre wissenschaftliche Forschung nicht nur undenkbar, sondern auch unbefriedigend. Und dieses Wahrheitsideal als regulative Idee mits317

Zur Tendenz in der „Zunft“ und deren Kritik siehe den Mediävisten Paravicini 2010.

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amt Fallibilismus bezüglich aller Hypothesen setzt ontologischen Realismus letztlich (ceteris paribus) voraus. Der obige ontologische Realismus ist die Voraussetzung dafür, dass Hypothesen-Tests oder Verifikationsbemühungen überhaupt notwendig sind, weil alle Hypothesen trivialerweise wahr wären, wenn sich die Welt oder, besser, ihre Komponenten nach diesen Hypothesen richten und sich entsprechend verändern würden. Denn dann würden diese Hypothesen bei ihrer Äußerung oder beim Denken instantan wahr werden und veränderten im Denken oder Äußern instantan und allein dadurch die Welt. Das heißt im Rahmen des Systemismus oder emergentistischen Materialismus, die Gedanken verändern die Eigenschaften materieller Systeme. Schön wär es – ausschließlich nette „Geister“ vorausgesetzt –, müsste man sich doch dann nie mehr ein Bier bestellen, sondern könnte bloß behaupten, dort stünde eines, und der Wunsch wäre erfüllt. Kürzer zusammengefasst: Der erkenntnistheoretische Realismus ist Bestandteil einer jeden Methodologie, da in dieser die Möglichkeit von wahren Hypothesen vorausgesetzt ist, ansonsten bräuchte es keine Normierung von Verfahrensweisen, d. h. Regeln des Forschens, sondern „anything goes“ und „anything counts“ würden reichen (vgl. teilweise Haskell 1990). Auch die vergleichsweise junge anti-postmodernistische Literatur aus der Geschichtstheorie zeigt, dass viele Geschichtswissenschaftler den methodologischen Realismus mit seinen Komplementärrealismen zumeist akzeptieren bzw. voraussetzen (Appleby et al. 1995, Windschuttle 1997, Evans 1999, Paravicini 2010). „Geschichtswissenschaftlichen Realismus“ könnte man die These nennen, die besagt, dass einige spezifische Hypothesen, ein spezifisches Modell oder eine spezifische Theorie, die sich in Geschichtswissenschaften auch auf Unbeobachtbares beziehen wie Theorien, die in Debatten um wissenschaftlichen Realismus in der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie verhandelt werden (siehe z. B. Turner 2007), wahr sind oder, besser gesagt, dass es gute Gründe gibt, daran zu glauben, dass die Rechtfertigungen dieser Hypothesen, Modelle oder Theorien so gut ist, dass man trotz Fallibilismus an deren Wahrheit glauben kann, until further notice. Um die These überhaupt diskutieren zu können, müsste man aber spezifische Forschungsprodukte der Geschichtswissenschaften in dieser Hinsicht untersuchen, was bisher eigentlich nicht geschehen ist. Und insofern sind bis dahin auch alle Thesen von „Krise“ der Geschichtswissenschaft, die mit universalem Anti-Realismus kokettieren, eigentlich bloßes Geschwätz318, obwohl sich damit natürlich Aufsehen erregen lässt. Dass sich bei einer entsprechenden Untersuchung herausstellte, dass ein globaler geschichtswissenschaftlicher Antirealismus richtig ist, der sich ohne solche Untersuchungen viel leichter behaupten lässt, ist allerdings kaum zu erwarten. R. J. Evans (1999, 94) glaubt, wie viele andere (McCullagh 2004, 22), Historiker verfügten „über jede Menge unumstrittener, in keiner Weise kontroverser historischer Fakten“ (siehe zu „Fakten“ 7.3.7). Da Realismus oder Realismen hier nicht Thema sind, können wir die Frage offen lassen, ob man noch andere Realismen benötigt, etwa „internen Realismus“ (Lorenz 1997, 2004a; Bunzl 1997).319 Ferner benötigte man zu einer fruchtbaren Behandlung all der Fragen ein hohen Maß an philosophischer Grundlagenarbeit, zudem 318

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Alle diese Realismen werden, inklusive der Forderung nach Rechtfertigungsbemühungen, von Postmodernen abgelehnt, teilweise mit recht simplen Gleichungen wie etwa: „In the end history is theory and theory is ideological and ideology just is material interests“ (Jenkins 1991, 19). Natürlich werden keinerlei Anstalten gemacht, die Thesen wenigsten ansatzweise anhand von konkreten Studien zu belegen oder wenigstens an deren Beispiel zu diskutieren. Andere Argumentationsweisen sind allgemein sprachtheoretischer oder philosophischer Natur oder „narratologisch“. Eine systematisch vergleichende Auffassung ist mir bisher nicht bekannt. Siehe zur „Krise“ auch den Geschichtstheoretiker Noiriel 2005. Ich versuche terminologisch und sachlich Realismusfragen von Objektivitätsfragen zu trennen; siehe Plenge 2014b; Plenge 2018. Auch globale Realismen lassen sich ohne Betrachung geschichtswissenschaftlicher Praxis leichter behaupten, z. B. insinuativ auf der Basis von Alltagsbeispielen (so beiläufig Plenge 2014b), die mit geschichtswissenschaftlicher Praxis wenig bis nichts zu tun haben können.

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in vergleichender Perspektive, zu der es im Rahmen der Geschichtsphilosophie zum Großteil bisher nicht gekommen ist. (Weshalb ich mich an dieser Stelle zurückhalte; siehe Kapitel 9.) Eine weitere erkenntnistheoretische Metahypothese haben wir teilweise schon gestreift: These des epistemologischen oder methodologischen Szientismus320: Die beste, das heißt die am meisten Erfolg versprechende und zugleich erkenntniskritischste Art und Weise, Wissen zu erlangen, ist die (hier) sogenannte allgemeine wissenschaftliche Methode (z. B. Bunge 2013a 1959, 1959a/b, 1967a/b, 1998b). Eine etwas abgewandelte grobe Variante dieser (Meta-)Methode haben wir in Kapitel 5 bereits zur Kenntnis genommen. Auch in der Kürze hat sie noch Würze: „Background knowledge → Problem → Solution candidate (hypothesis, experimental design, or technique) → Test → Evaluation of candidate → Eventual revision of either solution candidate, checking the procedure, background knowledge, or even the initial problem“ (Bunge 2009a, 31; Bunge/Mahner 1997, 76 ff.). Wenn diese allgemeine wissenschaftliche Methode mit einer allgemeinen geschichtswissenschaftlichen Methode übereinstimmt, wovon ich nun im Anschluss an die „Anatomie“ ausgehe, dann wird auch eine entsprechende These des geschichtswissenschaftlichen Szientismus (vermutlich) Geltung beanspruchen können, auch wenn dabei Fragen offen bleiben, z. B. das Desiderat von spezifischeren Rechtfertigungsmodellen für (unterschiedliche Typen von) geschichtswissenschaftlichen Hypothesen (Kapitel 5.1, 4.1.4). Was ist eine praktische Konsequenz dieser These außerhalb der Geschichtswissenschaften? Wenn wir etwas über „Vergangenheit“ oder „Geschichte“ (Kapitel 2.1) erfahren wollen und keine Geschichtswissenschaftler sind, sollten wir mit kritischem Geist Geschichtswissenschaftler zuallererst konsultieren und z. B. nicht Geschichtsphilosophen oder Oma Irmgard. Was ist die Konsequenz im Rahmen der Geschichtswissenschaften selbst oder deren gesellschaftlicher Rolle? Wenn Prima-facie-Geschichtswissenschaftler allerdings die obigen drei basalen philosophischen Annahmen nicht teilen und mithin die Szientismusthese in ihrem Bereich ablehnen (wie es die sog. „Postmodernen“ bekanntlich ohnehin halten, für die alles gleich falsch, ungerechtfertigt und ideologisch ist und geschichtswissenschaftliche Hypothesen so viel kognitiven Gehalt haben wie ein Musikstück; vgl. z. B. kritisch McCullagh 2004), sollten wir ihnen – offenkundig – weder Glauben schenken noch ihnen Forschungsgelder zuweisen, weil dann letztlich jeder sein eigener Historiograph sein kann. (Man stelle sich einen Forschungsantrag vor, in dem jenen philosophischen Annahmen ganz offen widersprochen wird und stelle sich vor, wie die wahrscheinliche Reaktion der Gutachter wäre.) Letzteres wäre eine Frage für die Geschichtswissenschaftsethik, die bisher allerdings nicht existiert. Damit haben wir das Grundgerüst beisammen, das natürlich teilweise in einer systematischen Erkenntnistheorie und Methodologie der Geschichtswissenschaften breit diskutiert werden müsste – also nicht hier. Es ist eben so, wie es P. Veyne oben eingangs auf den Punkt brachte. Auch die Wahrheitsproblematik lässt sich letztlich nur um den Preis aus der Tür hinausjagen und einige Jahrzehnte aussperren, dass sie irgendwann durchs Fenster wieder einsteigt (siehe Paravicini 2010) und noch immer nicht bekannter, sondern bloß älter geworden ist.

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Die Begriff „Szientismus“ ist zumeist negativ besetzt und damit ist Vielfältiges gemeint; siehe Bunge 2017, Kapitel 10.

7.2 Systemismus als echte Alternative zu Individualismus und Holismus?

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7.2 Systemismus als echte Alternative zu Individualismus und Holismus? Die Brücke zu den Geschichtswissenschaften wie auch den anderen Sozialwissenschaften soll nun dadurch geschlossen werden, dass wir die Alternativen zum Systemismus kurz benennen. Selbstverständlich handelt es sich dabei um den Individualismus und den Holismus. Obwohl diese Terminologie wie die dazu gehörenden Probleme in Geschichts- und Sozialmetatheorie allgegenwärtig sind, taucht beides in der Debatte um geschichtsphilosophische Vorstellungen im Kontext von Erklärung, Verstehen und Erzählung seltener auf. Aus meiner Sicht ist dies ein Grund, warum z. B. Geschichtswissenschaftler sich für diese Literatur gesetzmäßig nicht interessieren, weil diese Absenz damit verbunden ist, dass die Gegenstände ihrer Wissenschaft oder ihrer Wissenschaften vielleicht gar nicht zur Sprache kommen. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass es meines Wissens den Individualismus genauso wenig gibt wie den Holismus, und dass es in der Literatur scheinbar auch keine große Einigkeit darüber gibt, was genau eigentlich „Individualismus“ (oder „Atomismus“) oder „Holismus“ (oder „Kollektivismus“, „Strukturalismus“ oder „Organizismus“) bedeuten. Etwas anders formuliert: Systemismus ist eine neuere Alternative zu den traditionellen Ansätzen (siehe z. B. Bunge 1977b, 1979b, 2000a/b, 2001a), neben anderen, z. B. Institutionalismus (Hodgson 1989) oder Strukturismus (Lloyd 1986, 1991). Obwohl die Kontroversen um diese Ansätze schon seit Schumpeters Zeiten, auf dessen Habilitationsschrift von 1908 der Ausdruck „methodologischer Individualismus“ zurückgehen soll (Hodgson 1989, 56), andauern, sind die Unterschiede teilweise äußerst unkonturiert, wofür ein Indikator ist, dass häufiger vorzukommen scheint, dass Sozial- oder auch Geschichtstheoretiker, denen Individualismus vorgeworfen wird, sagen, sie seien keine Individualisten, und dass Autoren, denen Strukturalismus oder Holismus vorgeworfen wird, behaupten, sie seien doch auch Individualisten. Beispielsweise wurde von dem vormaligen Erzholisten Emile Durkheim nun wiederholt behauptet, er sei eigentlich Individualist (Wan 2011, 45). Hartmut Esser berichtet von seinem Modell soziologischer Erklärung (MSE), es sei gleichermaßen als „dem methodologisch Individualismus zugeordnet“ und als „Variante der kollektivistischen Makrodetermination“ kritisiert worden (Esser 2006, 357). Und dem Philosophen M. Bunge, der seit Jahrzehnten explizit kein Individualist sein will, wurde unterbreitet, er sei doch auch Individualist (Bunge 2001a; van den Berg 2001). Meiner Meinung nach liegt dies zuallererst daran, dass die ontologischen Thesen zumeist nicht spezifiziert werden und auch die methodologischen Thesen damit missverstanden werden können oder unklar bleiben. Die Unterschiede zwischen den vermuteten Ding-, Struktur-, Prozess- und Ereignisontologien sind nur die fundamentalste Ebene der ontologischen Unklarheiten. Individualismen oder auch Holismen sind jedoch, wie auch der Systemismus, allgemeine Ansätze und unter einem Ansatz wird in der systemischen Wissenschaftslehre ein abstraktes Gebilde verstanden, das aus einem Hintergrundwissen (inklusive Ontologie), einer allgemeinen Problematik (= Menge von Problemen), einer Menge von Zielen und einer Menge von Methoden besteht (5.6). Eine fruchtbare Analyse geschichtstheoretischer Ansätze könnte damit beginnen, diese in diesen vier basalen Hinsichten zu untersuchen und mit den klassischen metatheoretischen/philosophischen Ansätzen zu kontrastieren. Wenn man insbesondere die Spezifik auch der ontologischen Annahmen solcher Ansätze nicht im Auge behält, verschwimmt alles zu einem Brei (7.6). Wenn man z. B. unter „Holismus“ bloß die These versteht, dass irgendwelche Ganzheiten existieren, was immer das genauer sein mag, dann sind viele Individualisten ontologische Holisten. Methodologische Individualisten schreiben dann, sie seien keine Reduktionisten, d. h. ontologische Reduktionisten. Damit sagen sie aber unter Umständen, dass sie sozialontolo-

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gische Realismen vertreten, nämlich dass jenseits von Individuen doch noch etwas existiert und Gesellschaft oder sonst etwas nicht einfach nichts anderes ist als ein Haufen von Individuen. Letzteres wäre so etwas wie eine ontologische Reduktion. Zu den ontologischen Unklarheiten zählt bereits die generische Rede von Gesellschaft (oder von „die Gesellschaft“) als Gegenstand von Sozialwissenschaften, was manchmal mit der Annahme verbunden ist, „kleinere“ Gegenstände könnte es nicht geben (vgl. kritisch Elder-Vass 2010). Auch in „Narrativismen“ bzw. den Modellen kolligatorischer Erklärung werden unklare „Ganzheiten“ oder „Kontexte“ eingeschleust, in denen ein Erkenntnisgegenstand „eingeordnet“ werden und dadurch verstanden werden soll (Kapitel 6.4). Bezüglich des idealtypischen methodologischen Individualismus ist dies bekanntermaßen so, d. h., er ist sozusagen ein ontologischer Holismus im obigen vagen Sinn. Denn die These des idealtypischen methodologischen Individualismus ist, irgendetwas Soziales (Ontologie) sollte im Rückgriff auf Hypothesen über Individuen erklärt werden (Methodologie), was die Existenz von etwas Sozialem in Wissenschaftsprogrammen mit realistischem Anspruch voraussetzt, worum auch immer es sich genauer bei dem Sozialen handelt.321 Man bezeichnet eine Erklärung als individualistisch (im methodologischen Sinne), wenn man P d. h. „ein soziales Phänomen P“, dp ausdrücklich als Folge des Verhaltens der zu dem sozialen System !, in dem P beobachtet wird, gehörigen Individuen auffaßt (Boudon/Bourricaud 1992c, 223). Hier wird mindestens die Existenz dessen, was „soziales Phänomen“ und „soziales System“ genannt wird, vorausgesetzt. Zu diesen Systemen sollen jene Individuen „gehören“ und jene „sozialen Phänomene“ sind dasjenige, was erklärt werden soll. Ferner wird vorausgesetzt, dass P irgendwie „in“ dem System „beobachtet“ wird und „Folge“ von irgendwas ist, also nicht bloß vom Himmel fällt. Spannender wäre im Unterschied zu diesem Individualismus vielmehr, wenn der idealtypische methodologische Individualist auch ontologischer Individualist wäre, wenn also Maggie Thatcher („Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt nur Individuen.“) Sozialwissenschaft oder deren Metatheorie betreiben wollte. Im Unterschied zum Individualismus des vorigen Absatzes wäre dieser Individualismus sowohl ontologisch als auch methodologisch, wobei Letzteres eine direkte Konsequenz der Ontologie auf der metatheoretischen Ebene ist, die manchmal „Regeln der Methode“ (Durkheim 1984 1898) genannt worden ist. Denn wo nichts Soziales existiert, kann auch z. B. nichts Individuelles in einem realistischen Sinn durch Soziales erklärt werden und natürlich kann auch nichts Soziales mit realistischem Anspruch erklärt werden. Auch hier muss man im Kontext der Methodologie von Forschung, Erklärung und Verstehen eigentlich die Hosen bezüglich der Gegenstände runterlassen, d. h. ontologische Annahmen offen legen. Ferner sollte der methodologische Individualist seine Ontologie auch deshalb klären, weil es sonst sein kann, dass sich unter den Hypothesen über Individuen, die Soziales ex hypothesi erklären sollen, auch Hypothesen über Prima-facie-Soziales einschleusen, z. B. die sogenannten „Situationen“, die „Situation der Akteure“, die Situation, „in der sich die Akteure in einem gegebenen sozialen Gebilde befinden“ (Esser 1991, 46) oder die „Logik der Situation, der sich die Akteure immer wieder gegenübersehen“ (Esser 2000a, 426). Auch die „opportu321

Siehe dazu auch in der Geschichtstheorie den „Individualisten“ Frings 2008. Ein ontologischer Individualist in der Geschichtstheorie ist Veyne 1996 1975. Als ontologischer Individualist wird in der Sozialtheorie gewöhnlich M. Weber (1980) in dessen „Grundbegriffen“ aufgefasst, dessen Äußerungen die These nahe legen, dass aus seiner Sicht „soziale Gebilde” bloß begrifflich, also inexistent sind.

7.2 Systemismus als echte Alternative zu Individualismus und Holismus?

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nities“ in mancher Sozialtheorie, die sich auch irgendwie außerhalb des Akteurs befinden sollen (Hedström/Ylikoski 2010, Hedström 2008; vgl. dazu Greshoff 2010), gehören hier hin. Die sogenannten „Situationen“ bezeichnet auch M. Schmid (2006, 19) als „(‚objektive‘) Restriktionen und Opportunitäten“, denen „sich ein Akteur gegenüber sieht“. Der Historiker A. Frings (2008, 149) schreibt von „Handlungssituationen (d. h. Umwelten)“. Wenn dem so ist, dann scheinen diese Situationen irgendwie zu existieren, aber außerhalb des Kopfes eines Einzelnen. Was immer Situationen und Opportunitäten sein mögen, irgendwie gehören sie in aller metatheoretischen Regel zu den sogenannten „Makros“, dem NichtIndividuellen oder „Transintentionalen“ (Greshoff et al. 2003) und sind damit – die systemische Ontologie, die unten folgt, vorausgesetzt – keine Eigenschaften von einzelnen Personen, falls sie mit der Kategorie „Eigenschaft“ gut bezeichnet sind bzw. überhaupt irgendwie existieren. Ausdrücke wie „Situationseigenschaften“ (Schmid 2011a, 228, 2009, 137) oder „Eigenschaft der Situation“ (Esser 1999, 262) und die Rede von der „Wirkung eines Situationsmerkmals auf ein anderes“ (Esser 2000d, 69) deuten in dieselbe objektivistische oder realistische Richtung.322 Halten wir aber fest: Auch die Situationisten sind sozialontologische Realisten (oder, vorsichtiger, Prima-facie-Realisten), obwohl selten gesagt wird, was genauer mit „Situation“ gemeint ist. Auch z. B. der Soziologe A. King (1999), der der Soziologin M. Archer (1995) und den Kritischen Realisten eine „non-reductionist social ontology“ (King 1999, 200) vorwirft und diese ablehnt, ist in der Variante seines „Interpretativismus“ eigentlich versteckter sozialontologischer Realist, was er dann später auch zugab (King 2007), indem er den ihm zugeschriebenen Individualismus leugnete. Bloß ist in diesem Fall wie andernorts nicht ganz klar, bezogen auf was genau er Realist ist, und was dies für Kontextfragen bedeutet, z. B. bezogen auf Kausalität und die Relata der Kausalität. Dort wo es recht klar ist, besteht kein deutlicher kategorialer Kontrast zu dem folgenden Systemismus. King warf dann auch – sozusagen in der oben angedeuteten Tradition der Debatte – zuvor seinen „realistischen“ Kontrahenten Individualismus vor (King 2007, 215). Obwohl Realismus in den Geschichts- und Sozialwissenschaften der letzten Dekaden wohl weitgehend verpönt gewesen ist, sei festgehalten, dass aus philosophischer Perspektive die Frage eigentlich nie ist, ob man Realist ist oder nicht, sondern hinsichtlich welcher Entitäten (im neutralen Sinn) man Realist ist und bezogen auf welche nicht. An die eigene Existenz glaubt zumeist auch noch der stringenteste Antirealist. Auch ein ontologischer Phänomenalist glaubt noch an die Existenz von Phänomenen. Wenn im Rahmen eines sozialontologisch realistischen Individualismus das Verhalten oder Handeln von Individuen dann eben doch auch im Rückgriff auf etwas NichtIndividuelles erklärt wird, dann ist der Individualismus eben weder (streng) ontologisch noch (streng) methodologisch und man erhält ähnliche Probleme, auf die man im philosophischen pan-dispositionalistischen sozialen Realismus mitsamt seinem kausalen Realismus trifft, denn irgendwie müssen „Makro“ und „Mikro“ (7.3.7) wieder verbunden werden, soweit diese Ebe322

Dass Situationen, zumindest im Denken von vielen individualistischen Soziologen, irgendwie nicht rein individuell („subjektiv“) sein können, zeigt sich auch daran, dass Soziologen davon sprechen, Akteure könnten oder müssten sich an die Situation anpassen (Schmid 2006a, 24) und fernerhin eine „subjektive Wahrnehmung“ von einer „objektiven Situation“ zu unterscheiden versuchen (z. B. Schmid/Maurer 2010, 105, Fußnote 15; vgl. Hedström 2008). Es heißt daher auch klar, „Situationsmodelle“ würden „Faktoren der Makroebene“ beschreiben (Schmid/Maurer 2010, 91). Ferner heißt es, Akteure könnten durch „Einwirken“ solche sozialen Situationen „verändern“ (Greshoff 2011c, 193), was auch mindestens voraussetzt, dass diese Situationen existieren. Ansonsten ist noch weniger klar, was überhaupt gemeint ist. Bei einer Historikern ist zu lesen (Recker 1990, 39 f.): „Die bedrängte Ostfront konnte auch deshalb nicht mit zusätzlichen Kräften gestützt werden, weil am 7. und 8. November 1942 alliierte Truppen in Nordafrika gelandet waren und die dortige Situation in Bewegung gebracht hatten.“

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

nen jeweils mit etwas Realem bevölkert werden. Von methodologischem Individualismus heißt es regelmäßig, er schließe die Erklärung individueller Handlungen durch anderes („Soziales“, „Kulturelles“) aus (z. B. Bhaskar 1978b), wohingegen andere methodologische Individualisten von diesem Ausschluss nichts wissen wollen (z. B. Schmid/Maurer 2010). 323 Auch hier redete man also vielleicht häufiger aufgrund des Ontologieverdikts aneinander vorbei. Ein Nicht-Individualist (Holist) sollte also sagen, was an seiner Ontologie über Individualismus hinausgeht und ein Nicht-Holist (Individualist) sollte sagen, worin sich seine Ontologie von Holismus (oder Kollektivismus oder Strukturalismus oder Strukturismus) unterscheidet. Das heißt auch, ein Systemist (oder ein „Institutionalist“, „Realist“, „Figurationist“, „Konstellationist“, „Relationalist“ oder „Strukturindividualist“ etc.) sollte in der Metatheorie sagen, worin die Unterschiede genau liegen, ansonsten wird man Dissense niemals auflösen können. Dasselbe gilt natürlich im Rahmen der geschichtstheoretischen Ansätze. Wenn man so will und terminologische Vagheiten, starke Vereinfachungen wie auch das Fehlen einer detaillierten Analyse an dieser Stelle zugesteht, dann verlief die geschichtstheoretische Debatte wohl auch in Wellen, in denen sich eher individualistische und eher holistische Ansätze abwechseln (Historismus → Sozialgeschichten → Mikrogeschichten und andere Kulturgeschichten → ?). Ein Nutzen der folgenden systemischen Ontologie ist, dass letztlich viele Differenzen so weit auflösbar werden oder perspektivisch auflösbar sind, bis die Restfragen insofern nur noch philosophisch sind, als man z. B. noch danach fragen kann, ob man die Annahmen, die ansonsten alle weitgehend teilen, wirklich sozialrealistisch interpretieren soll oder eben nicht. Das ist zumindest die optimistische Lesart und Einordnung (7.6). Angesichts der nun erneut häufiger eingestandenen oder beklagten konfusen Lage bezüglich allgemeiner Annahmen oder auch bloß allgemein verbreiteter Terminologie in geschichts-, kultur-, sozial- und gesellschafts(meta)theoretischen Lagern ist dies nicht wenig wert, soweit dabei etwas minimal klarer wird als zuvor und obwohl am Ende wohl alles umstritten bleibt. Die zentralen Fragen hinter der Individualismus-Holismus-Problematik und einem „Dritten Weg“ sind im Rahmen einer Ontologie die Fragen aus unserem Kapitel zu Forschung, Erklärung und Verstehen (Kapitel 5.6): (Q1) Aus welchen Typen von Entitäten setzt sich das Mobiliar des Sozialen (oder der „Geschichte“, 2.1) zusammen, falls ein solches existiert?

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„Although there is a lack of uniformity in the use of the label, it is argued here that the key element in the classic statements of methodological individualism is a refusal to examine the institutional or other forces which are involved in the moulding of individual preferences and purposes. We are thus confronted with a remarkable optimism about the possibility of explanation of social phenomena in terms of individuals, but an extreme reluctance to give even partial explanations of individual behaviour in social or even psychological terms“ (Hodgson 1989, 54). Die metatheoretischen Labels sind eben klarerweise nur eines, nämlich unklar und irreführend. Wenn man in D. Porporas beiläufiger Bestimmung von „Holismus“ das „gänzlich“ durch ein „auch“ ersetzt, dann wären solche Individualisten bereits Holisten: „the whole enterprise of sociological holism – explaining social facts entirely in terms of social facts“ (Porpora 1989, 203). Manche sozialwissenschaftlichen Individualisten wollen eben Soziales auch durch Soziales erklären, indem sie Individuelles auch im Rückgriff auf Soziales erklären (z. B. Esser 1996, Hedström 2008). Hier sei die Problematik deshalb anhand von Zitaten bereits illustriert, weil sie ontologisch ist und mithin unabhängig davon ist, ob Sozialtheoretiker das Universum mit Situationen, Strukturen, „Sinn“ oder eben Systemen oder sonst etwas bevölkern, was immer sie jeweils darunter verstehen mögen. Sie ist auch unabhängig davon, ob sie diese Problematik „ontologisch“ nennen oder nicht, nämlich z. B. „geschichtstheoretisch“ oder „sozialtheoretisch“. Ontologische oder, wenn man will, substanzielle Annahmen und methodologische Annahmen kommen hier immer im Bündel.

7.2 Systemismus als echte Alternative zu Individualismus und Holismus?

375

(Q2) Gegeben die Antwort(en) auf Q1: Welche Komponenten dieses Mobiliars verursachen oder determinieren welche anderen inwiefern, falls derartige Relationen zwischen diesem Mobiliar vorkommen? (Q3) Gegeben die Antwort(en) auf Q1: Welche Komponenten dieses Mobiliars stehen mit welchen anderen in welchen Typen von Relationen? Das sind im Kern die Fragen dieses Kapitels, die wir auch beiläufig an Soziologische Theorien richten werden. Die methodologische Kehrseite werden wir aber immer im Blick behalten, denn sie ist selbstverständlich die Verbindung zu den Kapitel 6 (Erklärung, Verstehen, Erzählen), Kapitel 5 (Forschung, Erklärung und Verstehen) und Kapitel 3 (Geschichtswissenschaftspraxis): (Q4) Was soll erklärt und/oder verstanden werden? (Q5) Was soll auf der Basis der Beschreibung welcher Relationen zwischen welchen Relata erklärt und/oder verstanden werden? Eigentlich ist offenkundig, dass sich methodologische Fragen wie „Wie finde ich etwas über x heraus?“ oder „Wie erkläre oder verstehe ich am besten x?“ erst im Anschluss an ontologische Fragen zu x überhaupt stellen lassen (Blaikie 2010, 2007), sei es so, dass diese implizit bleiben, sei es so, dass diese offensiv angegangen werden. Das triviale Bestreben dieses Kapitels ist es nicht zuletzt, eine solche explizite Ontologie erstens überhaupt und zweitens vor dem Hintergrund der offensichtlichen Defizite der Implizitmetaphysiken (Kapitel 6) zu offenbaren. Da Mario Bunge (1979b) die idealtypischen ontologischen und die idealtypischen methodologischen Thesen von Individualismus und Holismus übersichtlich und kurz auseinanderzuhalten versucht hat, werde ich dessen Analyse der Ansätze hier übernehmen. Dabei muss man dann 35 Jahre später in Rechnung stellen, dass sich z. B. heutige Individualisten von dem Idealtyp teilweise noch weiter entfernt haben, und die Rede von „Strukturindividualismus“ (Wippler 1978, Greshoff 2009, Esser 1996), „kontextueller Individualismus“ (Boudon 1999), „institutioneller Individualismus“ (Schmid/Maurer 2010, 16) oder „individualisme méthodologique complexe“ (Manzo, zitiert in Wan 2011a, 164), „methodologischer Situationalismus“ (in Heintz 2004, 15), „moderater methodologischer Holismus“ (G. Albert 2005, 2007) und „relational realism“ (Tilly 2002) unter Umständen schon so lesen lässt, dass niemand mehr Pure-Bread-Individualist sein möchte und kaum jemand Holist in irgendeinem sonderlich interessanten Sinn ist. Einzig der „reduktive Individualismus“ (Greve 2014) oder NeoWeberianismus könnte ein strenger(er) Individualismus sein, obwohl auch das zu bezweifeln und daher zu überprüfen wäre, da auch das im Rahmen einer „moderat holistischen Alternative“ bezweifelt worden ist (G. Albert 2007). Der (Institutionen-)Ökonom G. Hodgson fragte also nicht ohne Anlass bereits keck in Richtung von J. Agassis Variante eines „institutional individualism“: But why is theirs an ‚individualist‘ rather than (say) an ‚institutionalist‘ methodology? Why can’t noun and adjective be switched, to give ‚individualist institutionalism‘? Or why cannot the primacy of the individual be qualified by a label such as ‚structured individualism‘, or whatever? (Hodgson 1989, 62.) Die Labelitis existiert wohl auch, weil irgendetwas unklar ist.

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

Auch hier hilft ein wenig Ordnung und Übersicht eventuell weiter. Demnach ist Individualismus ein metatheoretischer Ansatz (oder „the great hero theory“; Bunge 1977b, 304), der sich im Kern auf drei ontologische und drei methodologische Thesen reduzieren lässt: Individualismus Ontologie: (OI1) Eine Gesellschaft ist eine Menge von menschlichen Individuen. Supraindividuelle Totalitäten sind begrifflich und nicht konkret.324 (OI2) Da soziale Totalitäten Abstraktionen sind, haben sie keine globalen oder emergenten Eigenschaften: Jede soziale Eigenschaft ist eine Resultante oder ein Aggregat von Eigenschaften der Mitglieder der Gesellschaft. (OI3) Da es keine systemischen Eigenschaften gibt, kann eine Gesellschaft nicht auf ihre Mitglieder einwirken („act on“): Gruppendruck ist die Gesamtsumme des Drucks, der von jedem einzelnen Gruppenmitglied ausgeübt wird. Interaktionen zwischen zwei Gesellschaften bestehen in Interaktionen zwischen ihren individuellen Mitgliedern. Und sozialer Wandel (oder soziale Veränderung) ist die Gesamtheit von Veränderungen in den individuellen Komponenten der jeweiligen Gesellschaft. Methodologie: (MI1) Das angemessene Studium der Gesellschaft ist das Studium von Individuen. (MI2) Die letzte Erklärung von sozialen Tatsachen muss im Rückgriff auf individuelles Verhalten erfolgen. (MI3) Soziologische Hypothesen und Theorien werden durch Beobachtungen von individuellem Verhalten getestet (Bunge 1979b, 15). Holismus ist demnach ein Ansatz (oder „the opaque totality myth“, Bunge 1977b, 305), der sich im Kern auf drei ontologische und drei methodologische Thesen reduzieren lässt: Holismus Ontologie: (OH1) Eine Gesellschaft ist eine Totalität, die ihre Mitglieder transzendiert. (OH2) Eine Gesellschaft hat Gestalteigenschaften oder globale Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind emergent, d. h., sie sind nicht reduzierbar auf irgendwelche Eigenschaften von Individuen. (OH3) Die Gesellschaft wirkt auf ihre Mitglieder stärker ein („act on“) als diese auf die Gesellschaft. Interaktionen zwischen zwei Gesellschaften ist eine Ganzes-GanzesAngelegenheit. Und soziale Veränderung (oder sozialer Wandel) ist supraindividuell, obwohl soziale Veränderung die Mitglieder der Gesellschaft beeinflusst („affect“). Methodologie

324

Das heißt natürlich: Sie existieren nicht bzw., besser, ihre Existenz wird im Individualismus nicht angenommen.

7.2 Systemismus als echte Alternative zu Individualismus und Holismus?

377

(MH1) Das angemessene Studium der Gesellschaft ist das Studium ihrer globalen Eigenschaften und Veränderungen. (MH2) Soziale Tatsachen sind auf der Basis supraindividueller Einheiten erklärbar, z. B. dem Staat oder supraindividuellen Kräften wie das nationale Schicksal. Individuelles Verhalten ist verstehbar (obwohl vielleicht nicht erklärbar) auf der Basis des betroffenen Individuums wie auch der Wirkung („action“) der gesamten Gesellschaft auf ihn oder sie. (MH3) Soziologische Hypothesen und Theorien sind entweder jenseits der empirischen Testbarkeit (antiwissenschaftlicher Holismus) oder sie werden in Konfrontation mit soziologischen und historischen Daten getestet (wissenschaftsorientierter Holismus) (Bunge 1979b, 16). Auch dualistische Verstehen-Lehren („hermeneutical holisms“) sind manchmal, wie wir schon teilweise gesehen haben, latent ontologisch und methodologisch, wenn auch vielleicht im Sinne einer intuitionistischen Methodologie und einer idealistischen Ontologie, holistisch.325 Wie man sieht, findet man auch latent bereits Christopher Lloyds (Kapitel 6.3) Fra-

Abbildung 26

325

„Holism: the individual is just a drop in the social sea (e.g., Marx) (b) radical individualism: individuals, who are free and mutually independent, are the source of everything social (c) institutional individualism: individuals are constrained by institutions (e.g., Weber) (d) internalist systemism: structure prevails over environment (e) environmentalist systemism: system embedded in environment (f) full-fledged systemism: the constituents interact both among themselves and with their environment” (aus Bunge 2006c, 13).

„Those in the holistic-hermeneutical tradition of thought, including Berlin and Trevor-Roper, claim that the task of historians is to interpretively understand the meanings of actions, events, processes, and social wholes. For them society is a whole which can only be comprehended through empathetic understanding. To attempt to analytically deconstruct a social whole is to destroy its essential character. Although social wholes have components they cannot be reduced to those components“ (Lloyd 1986, 21).

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

gen im Rahmen von Kausalitätsproblemen in diesen Thesenmengen. Da schon in der obigen Kennzeichnung der Ansätze Vokabular auftaucht, das wir noch nicht zur Kenntnis genommen haben, müssen wir nun dieses erst im Rahmen der Darstellung des Systemismus einführen, von dem es heißt, er sei die Vereinigung des Besten aus den beiden obigen „Welten“. Auch das lässt sich in drei ontologischen und drei methodologischen Thesen zusammenfassen (7.6). Aber wie man sehen wird, geht der ganze Pfiff verloren, wenn man nicht ein wenig mehr sagt, denn auch oder erst recht in diesem Fall sind zwei mal drei Thesen zu wenig. Graphisch finden sich die Unterschiede zwischen den Ansätzen in Abbildung 26 angedeutet, die bereits beinahe alles antizipieren lässt, was nun folgt, aber breit diskutiert werden muss, weil auch systemismusintern Probleme lauern. Das werden wir nun machen. Ich werde dafür argumentieren, dass der „full-fledged systemism“ (Abbildung 26) im Vergleich mit anderen Ontologien und Methodologien ein hohes Klärungspotenzial bezüglich der Geschichts- und anderer Sozialwissenschaften aufweist und dabei hilft, unser Forschungsprogramm zu verwirklichen, weil er auch zur Praxis passt, zumindest besser als andere Angebote.

7.3

Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch A conceptual system has the virtue that all of its components hang together: every one of them can only be understood and justified by reference to the rest, and therefore they all stand or fall together (Bunge 2001a, 420).

Wir wollen nun diese Ontologie skizzieren und ein wenig in Sozialtheorie, Geschichtstheorie und Geschichtsforschung situieren oder umgekehrt. Aus der Sicht des Lesers wird diese Ontologie vielleicht zu extensiv mit dem Vokabular sozialtheoretischer Literatur verglichen, was sich aus seiner Sicht vielleicht in einer Konfrontation mit zu vielen Zitaten aus dieser Literatur niederschlägt. Dazu sei Folgendes verlautbart: So wie es zuvor um Geschichtswissenschaft gehen sollte, soll es hier nun, erstens, um eine Problematik gehen, die prima facie alle Sozialwissenschaften betrifft, darunter die Geschichtswissenschaften und einige Beispiele aus der Mini-„Anatomie“. Zumindest behaupten fast alle Sozialwissenschaftler, dass die Problematik sie betrifft. Es soll also letztlich nicht um Philosophie als l’art pour l’art gehen, was diesen Aufwand erübrigte. Zweitens gehe ich davon aus, dass die sozialtheoretische Literatur im Rahmen der Ontologie von terminologischen Schwierigkeiten und Vagheiten durchzogen ist, die andere Schwierigkeiten und insbesondere unnötige, auch methodologische oder substanziell-theoretische Dissense zur Folge haben. Die Zitate sind hierfür auch Belege. Drittens vermute ich, was nun auch ansatzweise zu zeigen ist, nämlich dass der Systemismus ein hohes oder höheres Maß von Ordnung in den Kategorienhaufen bringt, auch in den geschichtstheoretischen aus Kapitel 5.6, was auch dann nützlich ist, wenn dessen Thesen am Ende partiell oder völlig falsch sein sollten. Warum? Weil man erst feststellen kann, ob etwas falsch ist, wenn man weiß, was behauptet wird. Das heißt, die Vorgehensweise ist selbst dann noch nützlich, wenn, wie Bunge sagt, jede Ontologie letztlich „inconclusive“ ist, was noch viel mehr eine Debatte erfordert, wenn gilt: „Every social theorist or investigator has a social ontology“ (Archer 2000a, 464), und man ferner nicht von vornherein davon ausgeht, dass ontologische Probleme völlig fruchtlos sind, also keinerlei rationaler Debatte und Klärung zugänglich sind. Dass die Systemik ein begriffliches System und nicht bloß ein Haufen ist, wie oben eingangs geschrieben steht, hat den Vorteil, dass dadurch Klärungen möglich sind. Der Nachteil ist möglicherwiese, dass man – zumindest zunächst – das gesamte Paket buchen und sich nicht einfach Häppchen herauspicken kann. Ich gehe hier davon aus, dass gerade das ganze Paket – in meiner Lesart – besonders klärend ist, und dies besonders vor dem Hintergrund der

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

379

in den vorangegangenen Kapitel dargelegten „Geschichte“. Viertens wird hier auch die Schwierigkeit erneut dokumentiert, allein terminologisch die Brücke zwischen Geschichtsund Sozial(meta)theorie einerseits und Philosophie andererseits zu schlagen.

7.3.1 Dinge, Systeme und Aggregate Kurz: Es gibt die Menschen wirklich, ebenso wie die sozialen Systeme … (Esser 2003, 1).

Fangen wir mit einem äußerst prätentiösen Satz an, der sofort erneut klar macht und klar machen soll, dass wir hier Ontologie (Metaphysik) betreiben: Wie wir schon gesehen haben (7.1), ist die Welt ein System aus Systemen. (Konkrete) Systeme sind (konkrete) Dinge, aber nicht jedes Ding ist ein System. Einfache, unzusammengesetzte Dinge sind keine Systeme. Neben Systemen umfasst der Systemismus auch Aggregate. Aggregate sind auch Dinge, sie sind aber, genauso wie einfache Dinge, keine Systeme. In die Rede von Ganzheiten gekleidet heißt das: Alles, was ein System ist, ist eine Ganzheit („whole“), aber nicht alle Ganzheiten sind Systeme, denn manche Ganzheiten sind Aggregate (Bunge 1979a, 35). Gemeinsam ist diesen Ganzheiten offensichtlich, dass sie aus mehreren Komponenten bestehen können. Worin besteht aber der signifikante Unterschied? Um das zu klären, müssen wir zunächst eine andere Frage genauer beantworten. Was ist also ein System? (System-1) A concrete system is a bundle of real things held together by some bonds or forces, behaving as a unit in some respect, and (except for the universe as a whole) embedded in some environment (Bunge 1999, 22). (System-2) A system is a complex object every part or component of which is connected with other parts of the same object in such a manner that the whole possesses some features that its components lack – that is, emergent properties. A system may be conceptual or concrete but not both. (…) A concrete, or material, system is one composed of concrete things linked together by nonconceptual ties, such as physical, chemical, biological, economic, political, or cultural links (Bunge 1996, 20 f.). Beispiele für Systeme sind Atome, Moleküle, Kristalle, Sterne, Zellen, multizelluläre Organismen, Ökosysteme, Familien, Wirtschaftsunternehmen, NGOs, Bundesstaaten, Nationalstaaten und Gesellschaften. Geschichtswissenschaftlern entnehmen wir folgende mögliche und bekannte Beispiele. Prima facie sind auch das Weltsystem (Wallerstein 1986) oder auch die Mittelmeerwelt (Braudel 2001 1949), Stammesverbände, Gefolgschaften, Lehnsverbände, Grundherrschaften (Schulze 1990), das vormoderne „Ganze Haus“, Königshöfe (ob reisend oder resident, z. B. Kintzinger 2000), Dörfer und Städte (Schulze 1992) oder ganze Reiche (Schulze 1998) Systeme im obigen Sinn, ebenso wie der Hansebund. Dem Soziologen H. Esser (2000d, 243) entlehnen wir sogenannte „Organisationen“, die in der Organisationssoziologie behandelt werden, aber auch Gegenstände von Geschichtswissenschaften sind, wie beispielsweise „ein Ministerium, das Militär, das Bundesverfassungsgericht oder die Gefängnisse“, aber auch „Schulen und Universitäten, Krankenhäuser, Kindergärten und Altersheime oder die öffentlichen Rundfunkanstalten und die privaten Sender“, „Gewerkschaften und Ar-

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

beitnehmerverbände, der Bund der Steuerzahler oder die Kassenärztliche Vereinigung, die Kirchen, die Parteien, die zahllosen freiwilligen Vereinigungen und Vereine oder auch die diversen Stiftungen der Wohltätigkeit“. Dem Eingangszitat können wir an dieser Stelle bereits entnehmen, dass zumindest Hartmut Esser sozialontologischer Realist ist, obwohl auch er Wörter wie „Wirklichkeit“ oftmals in Anführungszeichen kleidet, zum Beispiel direkt vor dem Eingangszitat. Halten wir schon vorgreifend fest, was hier grob unter sozialen Systemen verstanden wird: (Soziales System) A social system is a concrete system composed by animals that (a) share an environment; (b) act directly or indirectly upon other members of the system; and (c) cooperate in some respects with one another while competing in other respects. (Human-Soziales System) A human social system is a social system composed by human beings who depend upon their own work or that of others to meet their needs and satisfy their desires (Bunge 2001b, 106; vgl. 1993, 1995). Hierbei handelt es sich natürlich um die oben sogenannten Sozialatome mit minimal zwei Komponenten. Da wir uns hier nur mit human-sozialen Systemen befassen, nennen wir diese kurz „soziale Systeme“. Die beiden vorangegangenen Definitionen System-1 und System-2 besagen eigentlich dasselbe. In der ersten ist von „bonds“ („Verbindungen“ oder „Verknüpfungen“; 7.3.3) und Kräften die Rede, was in der zweiten durch „being connected“ sowie „ties“ und „links“ ausgedrückt wird, was unter Umständen auch bereits weniger physikalisch oder physikalistisch klingt als die Rede von „forces“, die im Rahmen der systemischen Sozialontologie nur eine (vergleichsweise recht spekulative) Randrolle einnimmt (Bunge 1999). Klar ist, dass sich die Typen von Systemen der „Seinspyramide“ (7.1) durch mindestens zweierlei unterscheiden: Erstens die Arten von Komponenten und zweitens die Art der Kräfte, Verbindungen oder Verknüpfungen zwischen diesen Komponenten (Bunge 2004a, 188). Auch daher ist diese Ontologie nicht reduktionistisch, weder physikalistisch noch biologistisch. Weder Atome noch irgendwelche Zellverbünde sind Komponenten sozialer Systeme, weil sie nicht in sozialen Beziehungen (Relationen) stehen, also nicht zu „social bonds“ (7.3.3) fähig sind. Wenn in der Definition von „Verhalten als Ganzes“ die Rede ist, sind damit Prozesse gemeint. Auf Prozesse kommen wir gleich (7.3.5). Wenn in der zweiten Definition von „features“ die Rede ist, dann heißt dies dasselbe wie „Eigenschaft“ (7.3.2) direkt im Anschluss. Die „bonds“ (Verbindungen), die in der ersten Definition auftauchen, gehören auch schon zu den Eigenschaften, die in der zweiten explizit auftauchen. Auch darauf kommen wir gleich. Aber der entscheidende Punkt ist ganz einfach: Zwischen den Komponenten von Systemen bestehen Relationen und diese Relationen oder, besser, die Komponenten-in-Relation machen den Systemcharakter aus. Aggregate sollten sich also im Hinblick auf diese Relationen von Systemen unterscheiden. Wir sollten schon hier feststellen, dass alles, was in der systemischen Ontologie behauptet wird, für kleinste und größte Systeme oder Supersysteme gelten muss, von der Zelle bis zum Universum, von den zwei Spaziergängern, von denen prima facie auch gilt, sie verhalten sich

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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oder es, nämlich das soziale System, verhält sich als Ganzes, über eine Fronleichnamsprozession (z. B. beschrieben in Füssel 2006) bis zu Gesellschaften und sozialen Weltsystemen. Dasselbe Problem, das hier „ontologisch“ genannt wird, hat die Erklärende Soziologie in ihrer (Meta-)Theorie, insbesondere im Rahmen des Modells der soziologischen Erklärung, das universale Gültigkeit beansprucht und allein dadurch als ontologisch gelten kann (siehe Essers „Soziologie“ im Literaturverzeichnis). Die Heuristik soll alle sozialwissenschaftlichen Gegenstände in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Fokus nehmen. Auf Ähnlichkeiten und Unterschiede komme ich am Rande der Skizze immer mal wieder zu sprechen. Was ist genauer ein Aggregat? (Aggregat) An aggregat or assemblage is a collection of items not held together by bonds, and therefore lacks integrity or unity. Aggregates can be either conceptual or concrete (material). (…) A concrete or material aggregate (…) is a compound thing, the components of which are not coupled, linked, connected, or bonded, such as fields constituted by two superposed fields, a celestial constellation and random sample of a biological population (Bunge1979a, 4). Weitere, wohl eingängigere Beispiele für Aggregate sind Sandhaufen, Müllhalden, Menschenansammlungen oder -massen („crowds“; Bunge 2001c, 169 f.), z. B. die Menge an Menschen auf dem Münsteraner Wochenmarkt (nicht aber die einzelnen Marktstände) oder auf der Südtribüne im Westfalenstadion (nicht aber die Ultrasvereinigung), Flüchtlings-„Ströme“ (nicht aber die einzelnen Familien), eine WG-Party (nicht aber die WG, die die Party veranstaltet) oder das Auditorium einer Vorlesung. Der Stau auf der Autobahn und die „Gemeinschaft“ der Deutschsprechenden sind genauso Aggregate wie die Anhängerschaften von Parteien oder Sportvereinen.326 Kohorten, soziale Klassen und soziale Gruppen sind Sozialwissenschaftlern bekannte Aggregate wie auch sogenannte „Sektoren“ einer Wirtschaft („Primärer Sektor“). Auch „Menschheit“ oder „Philosophie der Geschichte“ sind Aggregatbegriffe wie auch „Kultur“ in den meisten Varianten der unendlichen Vielfalt an Bedeutungen dieses Ausdrucks (Esser 2001). Die meisten dieser Beispiele sind offensichtlich Beispiele für soziale Aggregate. (Siehe für einige dieser Beispiele Bunge 1997, 271, Bunge 1995.) „Soziales Aggregat“ ist allerdings wieder für viele Soziologen ein Widerspruch in sich, was uns daran erinnern sollte, dass der Ausdruck „sozial“ vielfältig verwendet wird, genauso wie „Aggregat“. Man könnte nun meinen, dass Aggregate oder auch Gruppen (siehe auch unten) in diesem Sinne für Sozialwissenschaftler insignifikant sind oder irrelevant. Wer könnte auf die Idee kommen, die Gruppe der Rothaarigen zu untersuchen? Ich glaube, das wäre deskriptiv vorschnell. Manche Soziologen und Geschichtswissenschaftler würden behaupten, dass Mainstream-Soziologien und Sozialgeschichtswissenschaften zu unterschiedlichen Zeiten einzig solche Gruppen (statistisch) untersucht haben. „Für die Gruppe der Schwarzhaarigen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gelebt haben, hat sich noch kein Historiker interessiert“ (Gerber 2012, 287). Das kann man bezweifeln, denn falls man keine Geschichtswissenschaftler findet, die sich für die Gruppe der Schwarzhaarigen interessieren, dann interessiert sich Kirby (1995) für eine Gruppe von Grubenarbeiterkindern, Hitzbleck (1971) für Gruppen von Heringen (und deren Preise) und z. B. Sewell (1985) und Newman (1979) für Gruppen von Migranten. Medick (1996) untersucht z. B. Gruppen wie 326

Oder es handelt sich um ganz schwach kohäsive soziale Systeme. Das Problem ist hier: Systematizität ist eine graduelle Eigenschaft, zumindest gilt dies im Systemismus (Bunge 1979b, 35).

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Häusler-Weber, Tagelöhner, Vollbauern, Wirte etc. (siehe ähnlich Goubert 1956 über „social types“, sowie Schubert 1995), und Gender-Geschichtswissenschaftler untersuchen nicht selten Gruppen von, zum Beispiel, Frauen. Steiner (2007, 179) schreibt auch über „Gruppen von Industriewaren“, wie z. B. „Herrenmäntel“ und „Kühlschränke“. Kulturgeschichtswissenschaftler untersuchen bloße Haufen oder, wie Bunge auch dies nennt, „unstructured aggregates“, z. B. auch Haufen von Praktiken wie „birth control or voting“ (Bunge 1998, 276), andere untersuchen die „Adel“ genannte Gruppe in der Frühen Neuzeit, wobei es eine interessante Frage wäre, ob es sich dabei nicht eigentlich um komplexe soziale Systeme handelt, was vermutlich eher nahe liegt. Terminologische Vorsicht ist hier in jedem Fall geboten: Letztere Gruppen sind in der Bedeutung der empirischen Sozialforschung von „Gruppe“ zu nehmen, nicht in der mancher Philosophie und Soziologie, in der „Gruppe“ ansatzweise dasselbe heißt wie „System“ im Systemismus oder (vielleicht) „organisierte Gruppe“ bei manchen Soziologen (Boudon/Bourricauda 1992, 256, vgl. auch Hedström 2008, 119, Greshoff 2011a, 244, Esser 2001, 41). Zum Beispiel schreibt S. Fleetwood (2008, 257): „It is true that relations between individuals in a group are necessary for the group to be a group.“ Je nachdem, was mit jenen „Relationen“ gemeint ist (7.3.3), handelt es sich um ein System. Einen teilweise in der Sozialforschung weitaus verbreiteteren Begriff von Gruppe haben französische Soziologen vor Augen, wenn sie über die Verwendung des Ausdrucks in ihrer Wissenschaft schreiben: „So bezeichnet man beispielsweise als soziale Gruppe oder als soziale Kategorie eine Menge von Individuen, die ein gemeinsames Merkmal haben (die Gruppe der Abiturienten, die Gruppe der Personen zwischen 40 und 45 Jahren usw.)“ (Boudon/Bourricaud 1992a, 256). Solche Gruppen sind auch das Brot und die Butter von manchen Gruppen von Sozialgeschichtswissenschaftlern, z. B. auch manchmal „die Gruppe der Weber mit mehr als zwei Stühlen“ (z. B. Kriedte 1991, 237; siehe 54 f. und passim). Gruppen, also Mengen von Akteuren (Personen, Individuen, Subjekten etc.) mit ähnlichen Eigenschaften oder „Sozialmerkmalen“ oder, mit einer Formulierung eines Soziologen gesagt, „Bündel von einigermaßen ähnlichen Menschen“ (vgl. Hedström 2008, 135), unterscheiden sich aus systemischer Sicht fundamental von Systemen und auch von Aggregaten, wobei es eine gewisse terminologische Nähe von „Gruppe“ und „Aggregat“ gibt, die in den Absätzen zuvor auch leicht problematisch ist: Soziale Gruppen sind nicht real wie soziale Systeme (Bunge 1995, 52). Anders gesagt, Gruppen existieren nicht. Klassen, Stände und Schichten oder andere „soziale Kategorien“ sind, je nachdem, wie die jeweiligen Begriffe definiert sind (siehe z. B. Esser 1999, 463 f.), Gruppen in diesem Sinn. Vor dem Hintergrund ist auch klar, dass es ungenau ist, generisch zu behaupten „strictly speaking, there is no such thing as a ‚state‘, an ‚economy‘, a ‚culture‘, a ‚social class“ (Collins 1981, 987 f.), da es sich hierbei, je nach Verständnis der Begriffe, um kategorial völlig Unterschiedliches handelt. Staaten und Wirtschaften sind Kandidaten für Systeme, Kulturen selten und soziale Klassen nie. Soziale Gruppen gelten also im Rahmen der Systemik, im Unterschied auch zu Aggregaten wie Menschenmassen, als überhaupt nicht existent, auch wenn solche Unterteilungen nützlich und objektiv gerechtfertigt sein können, nicht bloß „soziale Konstruktionen“, d. h. willkürlich sein müssen. Aggregate sind in diesem Rahmen intuitiv recht seltsame, weil nichtintegrierte Dinge. Gruppen sind keine Dinge, sondern begriffliche Konstrukte. Kirbys (1995) Gruppe der Grubenarbeiterkinder existiert als soziale Entität nicht. Daher ist gar nicht so klar oder intuitiv zu sagen, was genau der Gegenstand seiner Forschung ist (8.1), da es weder um singuläre Menschen noch um konkrete soziale Entitäten geht. Unklarheiten sind vorprogram-

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miert, wenn Soziologen z. B. schreiben, „soziale Phänomene (…) beziehen sich auf Eigenschaften von Gruppen von Individuen“ (Hedström 2008, 104), wenn nicht genauer gesagt wird, was mit „Gruppe“ gemeint ist, denn bei jenen „Eigenschaften“ kann es sich dann um bloß statistische Artefakte, also fiktive Eigenschaften handeln (z. B. Durchschnitte).327 Vorsicht ist auch im Fall von „Aggregat“ geboten: Manche Soziologen bezeichnen teilweise sowohl Systeme als auch Aggregate im obigen Sinn, ggf. auch deren Eigenschaften, als „Aggregate“ oder „Aggregationen“ (Greshoff 2010, 2011, 2012; Esser 1996). Greshoff (2012, 2011) unterscheidet zum Beispiel „additive Aggregationen“ von „nicht-additiven Aggregationen“, wobei er nicht-additive Aggregationen auch „systemische Aggregationen“ nennt. Eine Instanz von systemischen Aggregationen nennt Greshoff dann auch – wohl mit Max Weber – „soziale Gebilde“. Vermutlich läuft das inhaltlich auf die Unterscheidung von Systemen und Aggregaten im obigen Sinn hinaus, was man auch besser terminologisch eindeutig machen sollte.328 Eine andere Terminologie, die begriffliche Unterschiede und mithin ontologische Unterschiede verstellt, könnte auch unterschiedliche methodologische Probleme verstellen, nämlich das entweder manchmal so genannte „Problem der Aggregation“, das Problem der „Transformation“ oder, in P. Hedströms Terminologie, das Problem der „Kombination“ (Greshoff 2012, Schmid 2009, Esser 1996, 2009, Hedström 2008, 30), wobei die unterschiedlichen methodologischen Probleme, die sich an dieser Stelle jeweils auf den Übergang von „Mikro“ zu „Makro“ (7.3.7) beziehen, eben eine ontologische Wurzel haben oder haben könnten. „Aggregative Eigenschaft“ ist nämlich beispielsweise häufiger der ontologische Gegenbegriff zu „emergente Eigenschaft“ (Bunge 1979b). Eine vor diesem Hintergrund naheliegende Idee ist, dass in Sozialwissenschaften manchmal der eine Typ von Eigenschaft erklärt und verstanden werden soll, mal der andere, was unterschiedliche Erklärungsmodelle erfordern könnte. Erstere Eigenschaften sind ontologisch reduzibel, wenn auch mögliche soziale und sozialwissenschaftliche Explananda. Letztere Eigenschaften sind ex hypothesi nicht reduzibel (7.3.2), aber auch soziale und sozialwissenschaftliche Explananda.329 Dasselbe zunächst rein terminologische Problem, das mit der Rede vom Sozialen häufiger verbunden ist, taucht vielerorts auch auf, wenn von „Kollektiven“, „Kollektivphänomenen“, „Kollektivitäten“ oder einfach „Sozialem“ die Rede ist. Solche „Kollektive“ oder „Kollektivphänomene“ sollen in Sozialwissenschaften der Gegenstand des Interesses sein (z. B. Esser 1991, 40; vgl. Hedström 2008, 108). Hartmut Esser nennt beispielsweise in seinem Hauptwerk „die moderne Gesellschaft“ und auch eine „Scheidungsrate“ gleichermaßen „kollektive Sachverhalte“. Im Rahmen des Systemismus ist eine Gesellschaft jedoch ein existentes komplexes System (wie wohl auch für Esser), die Scheidungsrate ist jedoch eine mathematische Fiktion. Zu Sachverhalten (Tatsachen) kommen wir später (7.3.7). 327

328 329

Es gibt auch andere Bezeichnungen für das hier Gemeinte. Zum Beispiel nennen manche Soziologen dasjenige, was hier „Gruppe“ genannt wird, wie zuvor andeutungsweise gesehen, „soziale Kategorie“, wobei dies Mengen von Akteuren sind, die eine „gesellschaftliche Lage“ teilen (Esser 2000a, 47). Aggregate als konkrete Dinge scheinen sich von Gruppen als abstrakten Gegenständen auch dadurch zu unterschieden, dass – je nach Spezifikation der notwendigen Ähnlichkeiten – eine Gruppe zeitlos ist. Die Gruppe der Grubenarbeiter kann also auch die Grubenarbeiter zu allen Zeiten umfassen, das Aggregat auf dem Wochenmarkt ist raum-zeitlich lokalisiert. H. Esser (1996) nennt allerdings sowohl Aggregate (und Gruppen) als auch soziale Systeme (im Sinne des Systemismus) gleichermaßen „soziale Gebilde“. Das ist einer der Punkte, an denen Unklarheiten drohen. Auch in Daniel Littles (2010, 58) im Anschluss an die Verwendung der Wörter „Institution“, „Struktur“, „Formation“ und „System“ beiläufig geäußerte These, soziale Eigenschaften seien Eigenschaften von „Populationen“, ebnet die Unterscheidung von Systemen und Aggregaten und diejenige von emergenten und resultierenden Eigenschaften ein, die allgemein hinter seiner eher beiläufigen Rede von „Supervenienz“ zu verschwinden scheint.

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Notorische Probleme und gegebenenfalls ontologische Fehler können aus der NichtUnterscheidung von Systemen, Aggregaten und Gruppen resultieren, z. B. die Verwechslung einer Klasse „an sich“ zu einem Zeitpunkt (eine Gruppe), wie es früher hieß, mit Klassen „für sich“ (potenziell Systeme) oder die Verwechslung von sozialen Gruppen wie der Gruppe der Metallarbeiter mit Gewerkschaften (System). Beides ist ähnlich wie die kategoriale Verwechslung der Anhängerschaft einer Fußballmannschaft mit einer Mannschaft oder der konkreten Mannschaft, der die Menge der Anhänger anhängt. „In other words, it is important to notice that the working class and a socialist party are ontologically different kinds of entities“ (Kaidesoja 2007, 11). Genauer gesagt ist die Arbeiterklasse im Systemismus überhaupt keine Entität (7.1), sie ist auch kein Prozess.330 Gewöhnlich ist das auch klar, denn kein Mediävist verwechselt einen der drei (oder vier) Stände des Spätmittelalters mit einem konkreten adeligen Hof, einem Bistum, einem Bauernhof (oder auch einer Stadt). Stellenweise scheint in der Mini-„Anatomie“ bei Adams (1997) die Terminologie diesbezüglich nicht klar und eine Verwechslung von Gruppen („social categories“) und Systemen droht zumindest, wenn beispielsweise von „cross-class solidarities between producing and owning classes“ die Rede ist (Adams 1997, 568). Solche Solidaritäten bestehen natürlich nicht zwischen Klassen (Gruppen), sondern zwischen konkreten Personen. Bei Füssel (2006) findet man unter seinen Forschungsgegenständen mit Universitäten soziale Systeme und mit dem Gelehrtenstand eine Gruppe. Der für beispielsweise Kulturgeschichtswissenschaftler offenbar öfter relevante Punkt im Kontext der Beschäftigung mit solchen Gruppen ist wohl, dass sie in der mentalen Welt von konkreten Akteuren (Menschen), die sie zu ihren Gegenständen zählen, „konstruiert“ werden, nicht nur von einem Forscher. (Ein bekannteres Bespiel für solche Gedankendinge ist die Nation, die als solche dann nicht mit Nationalstaaten zu verwechseln ist.) Eventuell können Annahmen über diese Gruppen bzw. die gruppenkonstituierenden „konstruierten“ Merkmale in Handlungen oder Interaktionen relevant sein, wenn Überzeugungen über Gruppenzugehörigkeiten entscheidungsrelevant werden. Dabei geht es aber nicht um reale Entitäten, die „Gruppen“ genannt werden, sondern um Überzeugungen von Personen über andere Personen oder auch irgendwelche Gegenstände, also vermutlich den „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ (A. Schütz). Gruppen sind also inexistente begriffliche Objekte im Unterschied zu Aggregaten und Systemen. Was unterscheidet Systeme von Aggregaten? Offensichtlich liegt der Unterschied in den Relationen zwischen den jeweiligen Komponenten. „Aggregates lack a definite internal structure (…)“ (Bunge 2001c, 171; Bunge 1995, 13; Hervorhebung dp). Auf die Kategorie einer Struktur kommen wir gleich (7.3.4). Hier sei nur vermerkt, dass obige Verbindungen („bonds“, „ties“) etwas mit jenen Strukturen zu tun haben, denn Letztere werden von Ersteren konstituiert. Wir sollten aber erneut festhalten, dass von den Komponenten von Systemen auch gilt, dass diese miteinander interagieren, die Komponenten von Aggregaten aber nicht oder nicht signifikant: „When two or more things get together by interacting strongly in a specific way they constitute a system, i. e., a complex thing possessing a definite structure“ (Bunge 2001c 169). Da in den beiden obigen Definitionen von Interaktion nicht direkt die Rede war, was zu Missverständnissen einladen und zu Verwirrung führen kann (wie in Plenge 2014a), will ich schon hier explizit festhalten, dass sich (soziale) Systeme im systemischen Ansatz auch durch die Interaktion oder bestimmte Formen von Interaktion zwischen ihren Komponenten von Aggregaten unterscheiden. So lautet zumindest eine Hypothese der systemischen Ontologie. 330

„Klasse ist nach einem Diktum von E. P. Thompson ‚kein Ding, sondern ein Geschehen‘“ (Kriedte 1991, 274).

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Das sei hier festgehalten, da von „Systemdenken“ in den Sozialwissenschaften teilweise gilt, dass dieses gerade keine Interaktionen zwischen den Systemkomponenten in den Blick nimmt oder auch nur die Existenz von solchen Interaktionen annimmt (Holismus). Da die Komponenten von (human-)sozialen Systemen sozusagen am unteren Ende Menschen sind, ist es daher richtig und nicht verboten, statt von „sozialen Systemen“ von „Handlungs“- oder „Interaktionssystemen“ (Wan 2011a) oder „social action systems“ (T. Fararo) zu sprechen. Außerhalb starker dualistischer Holismen ist dies ohnehin klar. Unter „Interaktion“ ist hier Folgendes zu verstehen (Bunge 1977a): Zwei Dinge interagieren miteinander genau dann, wenn Ding x auf Ding y wirkt und Ding y auf Ding x, zu unterschiedlichen, nah beieinander liegenden Zeitpunkten oder gleichzeitig. Alles andere ist dasjenige, was man im Englischen als einseitige Aktion („action“; „a acts on b“) bezeichnen kann, also auch in Fällen, die nichts mit Menschen und deren Handeln zu tun haben. Dies alles setzt offenkundig kausale Begriffe voraus, auf die wir im systemischen Rahmen später kommen (7.3.8). Wir könnten aber hier auch auf die Kausalitätsvorstellungen aus anderen Kapiteln zurückgreifen, um weiter zu explizieren, was „Interaktion“ heißt, wenn wir das wollten (Kapitel 6.3).331 Aggregaten mangelt es also an Relationen unterschiedlicher Typen. Sie haben auch nicht als Ganzheiten jene Eigenschaften, von denen schon häufiger die Rede war, emergente Eigenschaften. Wochenmärkte in Innenstädten und Fanmassen auf Tribünen (Aggregate) haben zum Beispiel wie Alterskohorten, soziale Schichten, soziale Klassen, „Sozialstrukturen“ und soziale Gruppen allen denkbaren Zuschnitts (z. B. Einkommensgruppen) keine emergenten Eigenschaften. Auch darauf kommen wir später zurück. Systeme aber haben also, im Unterschied zu Aggregaten, auch emergente Eigenschaften. So lautet zumindest die systemische Hypothese. Festgehalten werden sollte, dass der wissenschaftsorientierte Charakter des Systemismus ihrem Urheber zufolge allein darin zu erkennen ist, dass die Kategorie eines Systems hier fundamental ist, weil in allen Wissenschaften Systeme untersucht werden. Philosophische und speziell ontologische Wörterbücher kennen scheinbar keine Systeme (siehe z. B. Stanford Encyclopedia of Philosophy (Onlineaussgabe) oder Beebee et al. 2011). 7.3.2 Emergente, resultierende und soziale Eigenschaften Zentral für die systemistische Ontologie ist in Analogie zur Unterscheidung von Systemen und Aggregaten, also jeweils Dingen, die Unterscheidung von emergenten und resultierenden Eigenschaften der jeweiligen Dinge. Die Unterscheidung zwischen emergenten und resultierenden Eigenschaften geht ursprünglich auf G. Lewes und das Jahr 1875 zurück (Vollmer 1995, Hodgson 2000, Elder-Vass 2010), findet sich aber auch schon lange bei Wissenschaftlern, z. B. den bekannten Soziologen Larzarsfeld/Menzel (1965). Von Emergenz ist in der Soziologie oder den Sozialwissenschaften schon seit Jahrzehnten die Rede, ob mit positivem oder negativem Bezug (Vanberg 1975, Lindenberg 1977, Archer 1982, Sawyer 2001, Greve 331

Es kann aber aus verschiedenen Erwägungen nützlich sein, auch dieses Verständnis von „Interaktion“ explizit zu machen. Denn dann wird klar, dass zumindest im Rahmen des Systemismus hochgradig zweifelhaft ist, dass ein „Individuum“ (d. h. eine Person) mit einem „Aggregat“ oder einer von dessen (Pseudo-) Eigenschaften „interagieren“ kann, z. B. mit der „Durchschnittsgeschwindigkeit auf der Autobahn“, wie der Soziologie P. Hedström (2008, 69, 104) schreibt. Wie dem auch sei, natürlich ist mit „sozialer Interaktion“ vermutlich im Normalfall ein Spezialfall von „Interaktion“ im obigen Sinne gemeint, nämlich Interaktionen von menschlichen Akteuren („soziales Handeln“), wobei Soziologen auch häufig einseitige Einwirkung als „Interaktion“ bezeichnen.

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2014, Hodgson 2000, Lawson 1997, Schmid 2006a, Hedström 2008, Esser 1996). Zum Beispiel ist beinahe immer auch von Emergenz die Rede, wenn von „Reduktion“ die Rede ist, häufiger als dessen „anti-reduktionistischem“ Pendant (King 1999, Heintz 2004, Moessinger 2008, Greshoff 2011a, Frings 2007b). Emile Durkheim und Norbert Elias gelten neben Karl Marx, Thorsten Veblen und Jean Piaget als prominente sozialwissenschaftliche Emergentisten, aber auch James Coleman (1994, 5) schreibt genauso von „emergent phenomena at the system level“, wie Hartmut Esser (1996) und viele andere von Emergenz schreiben. In der Analytischen Soziologie heißt es (Hedström 2008, 103): „Soziale Phänomene sind emergente Phänomene, die durch soziale Prozesse erzeugt werden“. Die Zentralität von Emergenz ist in diesem Bereich der Sozialwissenschaftsmetatheorie, in dem das Ziel nicht in Ontologie liegt, methodologisch, da mit „Emergenz“ regelmäßig das benannt wird, was es in Sozialwissenschaften zu erklären und/oder verstehen gilt. Daher rührt auch eine leicht irreführende Terminologie, die philosophische Unklarheiten andeutet. Denn z. B. in der Analytischen Soziologie ist das Verständnis von Emergenz nicht ontologisch, sondern epistemisch, und in der Erklärenden Soziologie existieren – so lautet meine Vermutung; 7.6 – zwei Vorstellungen parallel, eine realistische und eine epistemische. Das führt im Zitat von Hedström zu unauffälligen Kategorienfehlern, denn was nur im Geist eines Forschers als „emergent“ bezeichnet wird, wird nicht durch soziale Prozesse erzeugt, sondern existiert womöglich überhaupt nicht. Der OntologieMethodologie-Link sollte allerdings klar sein, wenn in den „erklärenden“ Sozialwissenschaften mit (meta-)theoretischem und realistischem Anspruch wiederholt zu lesen ist, das Erklärungs- oder Verstehensproblem liege darin, zum Beispiel „emergente kollektive Effekte“ oder „emergente Effekte (…) auf der Strukturebene“ (Schmid/Maurer 2010, 22, 18) theoretisch aufzudröseln. In der Analytischen Soziologie heißt es, Veränderungen in der „sozialen Interaktionsstruktur – sowohl zwischen Akteuren als auch zwischen verschiedenen mentalen Zuständen –“ könnten einen „tiefgreifenden Effekt auf die emergierenden sozialen Phänomene“ haben (Hedström 2008, 143). Wenn von Effekten/Wirkungen die Rede ist, unterstellt man eigentlich, dass dasjenige, was bewirkt wird, existiert. Der Ökonom Geoffrey M. Hodgson (2000, 75) behauptet: „We find emergent properties in any complex, evolving system, throughout the natural and the social realm“. Hier findet man also – zumindest im Selbstverständnis und teilweise – die eigentlich interessierenden Explananda oder Intelligenda. Allerdings wird unter „Emergenz“ offenbar schon lange Vielfältiges verstanden. Was ist also eine emergente Eigenschaft im Rahmen der systemischen Ontologie? Und was ist eine resultierende Eigenschaft? (Emergente und resultierende Eigenschaften) Let P be a property of a complex thing x other than the composition of x. Then: (i) P is resultant or hereditary if, and only if, P is a property of some components of x; (ii) otherwise, i. e., if and only if no component of x possesses P, P is emergent, collective, systemic, or gestalt oder „global“, dp (Bunge 2001c, 79). Bei Emile Durkheim (1984 1895, 93; siehe dazu auch Sawyer 2001, Heintz 2004) hieß es berühmterweise bereits: „Jedesmal, wenn irgendwelche Elemente eine Verbindung eingehen und damit neue Erscheinungen hervorbringen, läßt sich wohl einsehen, daß diese Erscheinungen ihren Sitz nicht in den Elementen, sondern in dem durch deren Vereinigung hervorgebrachten Ganzen haben.“ Das klingt natürlich zunächst ähnlich, wobei viel davon abhängt, was unter jenen „Elementen“ und ihren „Verbindungen“ verstanden wird. Was hier in emergente und resultierende Eigenschaften differenziert wird, wird in mancher Soziologie

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offenbar manchmal gleichermaßen als „Kollektiveffekt“ bezeichnet (Schmid 2009, 142, Fußnote 17), was eventuell die kategorialen Unterschiede einebnet. Manchmal ist auch von „Struktureffekten“ (Schmid 2009), „Kompositions-“ und „Aggretationseffekten“ die Rede, was auch für R. Boudon gleichbedeutend ist mit etwas, das er „emergent“ nennt (Boudon 1991, 56). Eine Feinheit ist an dieser Stelle zu beachten, um den gemeinten Unterschied zwischen resultierenden und emergenten Eigenschaften besser verstehen zu können. Wie auch in anderen Ontologien, wird im Rahmen des Systemismus zwischen demjenigen, was Bunge allgemeine (oder generische) Eigenschaften einerseits und individuelle Eigenschaften andererseits nennt, unterschieden (Bunge 1977a; Bunge/Mahner 1997, 2004, 28, Bunge 1996, 19). In anderen Kontexten wird statt von allgemeinen Eigenschaften von „Variablen“ gesprochen, statt von individuellen Eigenschaften von „Werten von Variablen“. Es sollte weitere Terminologien diesbezüglich in der Allgemeinen Metaphysik geben.332 Ein (Trivial-)Beispiel für eine allgemeine Eigenschaft ist ein Grinsen (eines Gesichts), eine individuelle Eigenschaft oder Ausprägung dieser Eigenschaft ist die Breite des Grinsens (eines Gesichts). Ein weiteres Beispiel für eine allgemeine Eigenschaft ist die Größe einer Person, eine individuelle Ausprägung davon ist (eventuell etwas gemogelt) 1,80 m im Fall von Daniel Plenge. Folgender Fall ist also denkbar: „Two organisms oder zwei beliebige Systeme, dp may possess exactly the same generic properties while the individual values of the latter vary“ (Bunge/Mahner, 1997, 11). Auch zwei Gesellschaften haben jeweils eine Bevölkerung und sie setzen sich aus Sozialsystemen zusammen, beide allgemeinen Eigenschaften könnten sich aber hinsichtlich der individuellen Eigenschaften („Werte)“ unterscheiden, z. B. der Bevölkerungsgröße oder der Anzahl von Sozialsystemen, aus denen es besteht. Es wird manchmal tendenziell übersehen (z. B. Greshoff 2011a), dass es bei emergenten Eigenschaften im obigen Sinn, also Eigenschaften von Systemen, die dessen Komponenten nicht haben, um allgemeine Eigenschaften („Variablen“) geht, nicht um individuelle Eigenschaften (Werte von „Variablen“). Wäre dies nicht so, gäbe es wirklich keinen signifikanten Unterschied zwischen emergenten und resultierenden Eigenschaften. Jede Rede von Emergenz im ontischen Sinn wäre bloß verwirrend. Der Unterschied von Emergenz und Nicht-Emergenz ist aber nicht der zwischen beispielsweise der Körpergröße von einem Enkel und der Größe von dessen Teilen oder seiner Größe im Vergleich zur Größe von dessen Großvater, sondern der zwischen dem Opa, der gestern noch quicklebendig einen Witz erzählte, und dem Opa, der heute in der Kiste liegt. Dieser Opa hatte am Tag zuvor viele allgemeine Eigenschaften (lebendig; Fähigkeit, Witze erzählen und verstehen zu können etc.), die er am Tag darauf nicht mehr hat, und es gibt viele Dinge, die jene emergenten Eigenschaften niemals haben, z. B. Tische und Computer. Auch der Enkel hat in seiner Geschichte (7.3.5) bestimmte Fähigkeiten erworben, die dessen Teile nicht besitzen. Kauft man derartige und schönere Beispiele, was viele nicht tun, dann kauft man in der Regel auch Folgendes: „The problem is not whether emergent properties exist, for to deny them implies inter alia that it does not matter whether one is alive or has been reduced to a handful of ashes“ (Bunge 2001a, 407). Das Problem ist vielmehr vor dem Hintergrund dieser Annahme die Erklärung von emergenten Eigenschaften. Und zu den Hintergrundüberzeugungen, vor denen sich das Erklärungsproblem ergibt, gehört – in aller Regel, jenseits philosophischer oder metasozialwissenschaftlicher Diskurse – die ontologische These, dass das zu Erklärende existiert. Hempel 332

Klar zu sein scheint an dieser Stelle nun, dass sich hinter jeder Variablenterminologie in den Sozialwissenschaften sozialontologische Vorstellungen über Relata und Relationen (Kapitel 6) und damit Ontologien von Erklärung und Verstehen verbergen, abgesehen davon, wie diese Ontologien am Ende aussehen.

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(1942, 1965) hätte gesagt, die Annahme wird vorausgesetzt, dass der Satz, der das Explanandum-„Phänomen“ beschreibt, wahr ist, bevor man anfängt, eine Erklärung zu suchen. Wenn es also berühmterweise am Beispiel des Mentalen oder von psychischen Eigenschaften heißt, „feeling, recalling, imagining, and reasoning are emergent properties of the brain“ (Bunge 2001c, 77333), dann ist damit gemeint, dass das Gesamtsystem im Kontrast mit seinen Teilen generische Eigenschaften hat, die dessen Teile nicht haben. Die Masse des Gehirns ist aber demgegenüber nur die resultierende Eigenschaft der Masse seiner Teile, sodass trivialerweise die (individuelle) Eigenschaft im Vergleich des Systems mit seinen Teilen eine andere (individuelle) Eigenschaft ist, d. h. eine andere Ausprägung, einen anderen Wert hat. Das ist aber mit emergenten Eigenschaften nicht gemeint. Insofern ist es aus der Perspektive der systemistischen Ontologie von Emergenz seltsam und ein Kategorienfehler, Unerklärbarkeit oder „Unzurückführbarkeit“ der emergenten Eigenschaften eines Systems auf Eigenschaften der Komponenten des Systems in den Begriff von „Emergenz“ oder „emergenten Eigenschaften“ hinein zu definieren und einen rein ontologischen Begriff emergenter Eigenschaften als einen „schwachen“ Begriff zu bezeichnen (z. B. Heintz 2004). Dies scheint jedoch im Literaturspektrum eine häufiger mit „Emergenz“ verbundene Annahme zu sein. Auch aus der Perspektive eines (realistischen) Wissenschaftlers ist offensichtlich das Ontische entscheidend und Voraussetzung für alle Fragen nach Erklärung (Methodologie/Erkenntnistheorie), die natürlich in einer (realistischen) Ontologie nichts zu suchen haben. Ob etwas eine Eigenschaft hat oder nicht hat, hängt nicht davon ab, ob jemand darüber irgendeine erklärende Hypothese bildet, ontologischer Realismus (7.1) vorausgesetzt (vgl. auch G. Albert 2007, 345). Im Kritischen Realismus heißt es regelmäßig (siehe Bhaskar, im Literaturverzeichnis), die Erklärung von emergenten Eigenschaften erkläre die emergenten Eigenschaften eben nicht weg (vgl. Bunge 2010c, 75). Auch der epistemische Emergenzbegriff, der in der Philosophie verbreitet zu sein scheint und Unerklärbarkeit als das Charakteristikum des Emergenten behauptet, landete als positivistisches Erbe in der Soziologie: „emergent: also: unerklärbar“ (Esser 2009, 265, siehe zur Quelle der Auffassung Hempel/Oppenheim 1948). Im Kontext von Wissenschaften und Wissenschaftsphilosophie ist man dann geneigt, emergente Eigenschaften als eine Form von Mystizismus oder antiszientistischem Holismus abzulehnen, denn was soll man z. B. mit Eigenschaften anfangen, die als unerklärbar gelten, wenn man das Hauptproblem gerade darin sieht, Emergentes erklären zu wollen? Dass etwas eine emergente Eigenschaft ist, hat also im Systemismus überhaupt gar nichts damit zu tun, wie das Überzeugungssystem eines Forschers überhaupt beschaffen ist und ferner, ob sich in diesem Überzeugungssystem Erklärungen finden. Etwas ist selbst dann emergent gemäß obiger Definition, wenn gar keine Forscher und mithin überhaupt keine Menschen existieren. Es ist daher in Abgrenzung zu holistischen, epistemischen oder ontologischepistemologischen Zwitterbegriffen von Emergenz im systemischen Ansatz von „rationalem Emergentismus“ die Rede, der neben dem ontologischen Postulat auch ein dazu passendes methodologisches Postulat umfasst: (Thesen des rationalen Emergentismus) Postulate 1: Some properties of every system are emergent. (…)

333

Eigentlich müsste es wohl korrekterweise hier heißen, die Fähigkeit zu x sei eine emergente Eigenschaft von Gehirnen. In der obigen Formulierung liegt eher die Kategorie eines Prozesses nahe, die allerdings von derjenigen von Eigenschaften logisch abhängig ist; siehe 7.3.5.

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Postulate 2: Every emergent property of a system can be explained in terms of properties of its components and of the couplings amongst these. (Bunge 2001c, 80; siehe ferner Bunge 1979a Bunge/Mahner 1997, Bunge/Mahner 2004; Hervorhebung dp).334 Wie oben (7.2) in der Charakterisierung des holistischen Ansatzes zu vernehmen war, akzeptieren idealtypische Holisten emergente Eigenschaften (Ontologie), halten sie aber für unerklärbar (Methodologie), was die Zurückweisung der Notwendigkeit der Analyse eines Systems in seine Komponenten und deren Relationen beinhaltet (vgl. auch Bunge 1993, 214). Im idealtypischen Holismus finden wir also einen onto-epistemischen Emergenzbegriff, der Unerklärbarkeit in „emergente Eigenschaft“ hineindefiniert. Mithin ist dieser eigentlich methodologischen Überzeugung bezüglich Emergenz oder emergenten Eigenschaften geschuldet, dass analytisch oder wissenschaftlich orientierte („individualistische“) Soziologen Emergenz ablehnen oder kritisch sehen, obwohl solche Emergenzverständnisse keinen Eigenschaftsdualismus beinhalten müssen (was wider die Emergenzthese wäre; vgl. auch Albert 2005, 390), da nicht behauptet wird, die Eigenschaften des Ganzen seien unabhängig von denen der Teile (siehe teilweise anders Greshoff 2011a; Hedström 2008, 36, der den „Holisten“ Peter M. Blau kommentiert). An diesen Stellen kommt es immer wieder zu schiefen Diskussionen. Es ist natürlich noch kein legitimer Einwand gegen diese Emergenzontologie und das Erklärbarkeitspostulat, dass die Ontologie selbst keine Erklärung des Auftretens von emergenten Systemeigenschaften ist, und „durch die Annahme eines ‚emergenten Sprungs‘“ es durchaus so aussieht, als ob „das Neue eher irgendwie vom Himmel (fällt), als dass es nachvollziehbar erklärt wird“ (Greshoff 2011a, 251). Hier ist der Unterschied zwischen Ontologie und wissenschaftlicher Theorie einschlägig (7.1). Die systemistische Ontologie überlässt insbesondere die Sozialwissenschaft oder die sozialwissenschaftliche Forschung noch immer den Sozialwissenschaftlern und unterstellt insbesondere, dass es ein Fehler ist, in Ontologie nach allgemeinen oder universalen, vermeintlich erklärenden Emergenzmechanismen zu suchen, die von der Physik bis zur Volkskunde relevant sind, weil deren Existenz nicht vermutet wird (z. B. Bunge 2003a). Im Bereich von Erklärung gilt in der Tat: „Dafür sind andere Konzepte notwendig“ (Greshoff 2011a, 251), zumal systemtypenspezifische und solche, die den Besonderheiten der Komponenten der Systeme Rechnung tragen. Auch die These, dass mentale Fähigkeiten im obigen Sinn emergent sind, erklärt selbstverständlich überhaupt nichts, selbst wenn mit „emergent“ nicht „unerklärbar“ gemeint ist.

334

Die Grundlage für das Postulat sind die bisher erfolgreichen Erklärungen in den Wissenschaften.

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Abbildung 27

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„Systemintegration und soziale Integration in Netzwerken“ (aus Esser 2003, 129). Der „erklärende“ Soziologe H. Essers thematisiert mit der „Systemintegration“ aus systemistischer Perspektive eine global-emergente Eigenschaft eines sozialen Systems. Die Systemintegration ist die „Dichte“ der Relationen zwischen sozialen Systemen, die Sozialintegration diejenige der Relationen zwischen Personen.

Auch „Makro-Determination“ (Greshoff 2011a) oder „Downward Causation“ muss man nicht in den Begriff emergenter Eigenschaften bereits hineindefinieren, was man daran sieht, dass dies im Systemismus nicht der Fall ist. Kritische Realisten in der Tradition von R. Bhaskar definieren Kausalität unter dem Mantel ihrer Gleichsetzung von Eigenschaften und Kräften („causal powers“) bereits in „emergente Eigenschaften“ hinein (z. B. Elder-Vass 2010) und verschleiern damit u. a., dass die dispositionalistische Kausalitätsvorstellung gerade im sozialphilosophischen Kontext unklar ist, da unklar bleibt, wie jene „emergent causal powers“ überhaupt auf was genau wirken. Hier ist es dann so, dass mit sozialen emergenten Eigenschaften („social structure“) recht automatisch Thesen über Kausalrelationen verbunden sind. Da dies im Systemismus nicht der Fall ist, müssen wir gleich drei Kapitel zu ähnlichen Fragen anschließen. Mit anderen Worten, den (einen) philosophischen Emergenzbegriff (Heintz 2004, 24) gibt es scheinbar genauso wenig wie den (einen) philosophischen Kausalitätsbegriff (Kapitel 6.3) oder den (einen) philosophischen Erklärungsbegriff (Kapitel 5.4) oder den einen philosophischen Verstehensbegriff (Kapitel 5.2) oder den einen Geschichtsbegriff (Kapitel 2.1). Was für emergente und resultierende Eigenschaften im Allgemeinen gilt, gilt auch für den sozialen Fall:

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(Gesellschaftliche Eigenschaften) P is said to be a societal property (or feature) iff there exists a human society  such that  possesses P. Clearly, P is a resultant societal property iff P is a societal property and a resultant one, otherwise it is an emergent societal property (Bunge 1979b, 24; 1979a, 190 f.). Dies heißt zunächst nur, dass soziale Eigenschaften oder gesellschaftliche Eigenschaften immer entweder Eigenschaften von sozialen Systemen sind, die sowohl emergent als auch resultierend sein können, oder von sozialen Aggregaten, die einzig resultierende Eigenschaften sein können (ansonsten handelte es sich um Systeme). Damit ist auch gesagt, dass es irreführend ist, in diesem Rahmen Individuen soziale Eigenschaften zuzuschreiben bzw. den Ausdruck „soziale Eigenschaft“ auf Individuen anzuwenden, z. B. weil sie eine Eigenschaft haben, die andere Personen auch haben („sozial geteilt“; 6.4), die Eigenschaft durch Interaktion erworben wurde („sozial verursacht“) oder von anderen zugeschrieben wird („sozial konstruiert“). Sozialontologische Individualisten (Atomisten) müssen natürlich soziale emergente Eigenschaften genauso ablehnen wie die Existenz von sozialen Systemen, was ihnen ein Erklärungsproblem erspart, oder sie müssen aufhören, ontologische Individualisten zu sein (7.2). Die sozialen Eigenschaften werden manchmal auch „kollektive Eigenschaften“ genannt (Bunge 1996, 19 f.). Wenn man dabei berücksichtigt, dass es in diesem ontologischen Rahmen zweierlei Arten dessen gibt, was „Kollektiv“ in einem ontischen Sinn genannt werden kann, nämlich Systeme und Aggregate (neben fiktiven Gruppen als dritter Variante), kann man dies so halten. Tut man dies nicht, sind Verwirrungen vorprogrammiert, z. B. wenn es heißt, die genuine Aufgabe von Sozialwissenschaften sei es, „Kollektivphänomene“ („collective phenomena“) zu erklären. Zum Beispiel ist im ersten flinken Nachdenken einsichtig, dass es etwas anderes ist, zu erklären, warum 80000 Menschen am Samstag um 15:30 im Westfalenstadion stehen (ein Mikro-Makro-Problem der Aggregatbildung), oder aber zu erklären, warum der Output einer formalen Organisation ansteigt (ein Mikro-Makro- oder MakroMikro-Makro-Problem der Emergenz von emergenten Eigenschaften; s. u.). Im ersten Fall des einen Kollektivs (Aggregats) haben die 80000 (cum grano salis) nichts miteinander zu tun, bis sie im Stadion sind, und selbst dort haben sie noch eigentlich nichts miteinander zu tun. Im zweiten Fall eines Kollektivs (Systems) haben sie viel miteinander zu tun und sind ex hypothesi teilweise aneinander „gebunden“. Die methodologische (und insbesondere logische) Seite dieser Mikro-Makro-Erklärungsprobleme wird – wie oben angedeutet – manchmal Problem der „Aggregation“, Problem der „Transformation“ oder der „Kombination“ genannt, teilweise mit ontologischen Zwischentönen, die mit denselben Ausdrücken bezeichnet werden (z. B. „Aggregation“ als Prozesskategorie; siehe z. B. Esser 1996). Teilweise heißt es „Problem der Erklärung sozialer Emergenz“. Nichts ist in der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften nötiger als die Andeutung von Relevanz durch Beispiele, zumal die Existenz von Systemen und ihren emergenten Eigenschaften letztlich nur durch plausible Beispiele und wissenschaftliche Modelle nachgewiesen oder plausibilisiert werden kann. Die Beispiele müssen nicht immer weit entfernt sein. Wenn ein Geschichtswissenschaftler Vergleiche anstellt, stellt sich immer die Frage, was hier eigentlich verglichen wird und damit stellen sich ontologische Fragen, z. B. bezüglich der Eigenschaften und der Eigenschaftsträger. Auch in mancher Fragestellung als Ausdruck eines Problems könnte man sich fragen, wonach gefragt wird oder was der (soziale) Gegenstand der Fragestellung ist: „How far was manufacture concentrated in certain districts or towns?“ (Jones 1960, 184 f.). Auch wenn Historiker in der Politikgeschichte beiläufig von

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„territorialer Veränderung“ schreiben (z. B. Hildebrand 2003, 37), stellen sich ontologische Fragen. Obwohl in der Literatur auch kaum Beispiele für emergente soziale Eigenschaften existieren, können wenigstens als potenzielle Beispiele für emergente soziale Eigenschaften im obigen Sinne folgende Fälle gelten, die auch teilweise die Problematik eines solchen Realismus bereits andeuten: Soziale Differenzierung, Systemintegration (Abbildung 27, Esser 2003, 26), Erträge und Ressourcen von (formalen) Organisationen (Esser 2000d, 256), die Verteilung des Reichtums (Esser 2000a, 119), die „Dichte im Netzwerk der Beziehungen“ (Esser 2000d, 91) in einem System, Größe einer „Gruppe“ (Esser 2001, 420) „stratifikatorische“ und „funktionale Differenzierung“ (Füssel 2006, 332), „social structure, viability, cohesion, history, progress, decline, and wealth distribution“ (Bunge 1999, 107), „territory and population of a nation, the dominant modes of production, the ruling ideology, the type of government“ (Bunge 1996, 19 f.), „cohesiveness, stability, (…) division of labour, social stratification, and social order“ (Bunge 2003a, 113 f.), „Grad der Geschlossenheit“ (Hölkeskamp 2011 1987, 252), „… das Bruttoinlandsprodukt, (…) die Sozialstruktur“ (Bunge 1989a, 137), „social mobility, economic growth, and political stability“ (Bunge 1999, 8), „die kulturelle, insbesondere die technische Entwicklung“ (Bunge 1995, 30), „the equilibrium (or desiquilibrium) of a market“ (Bunge 2003a, 13), „coordination“ in Sportmannschaften (Bunge 2003a, 106), „der Feudalismus, der Kapitalismus, der Rechtsstaat und der Wohlfahrtsstaat“ (Bunge 2008, 40), „Hierarchie, Kommandostrukturen“ (Bunge 2008, 42), „los estados de paz y guerra“ (Bunge 2008, 44), „the manorial system of agriculture“, „mobility“ (Postan 1973a, 187, 195), „geringe Stärke der serbischen Armee 1389“ und die „Innere Uneinigkeit der von den Osmanen vernichteten christlichen Staaten“ (Kintzinger 2000, 233), „productivity“, „levels of development“, „distribution of power“ (Archer 1995 51, 55), „agricultural productivity and total agricultural production“, „international division of labour“ (Topolski 1981, 383, 390), „die Konzentration von Produktionsmitteln“ (Topolski 1979 1965, 138), „Niveau und Wachstum der Industrieproduktion im Kaiserreich“ (Burhop 2011, 37)), Ineffizienz von Armeen, „the density of the German system“ (Straßensystem), „political integration“ (Skocpol, 1979, 75, 96, 183), „chronic inefficiency of the monarchical government“ (Marwick 2001, 203), die „Organisation“ (7.3.4) eines hochmittelalterlichen Königs- und Fürstenhofs (Schubert 1995, 90), der (Grad der) „Homogenität, Kohärenz und Stabilität dieser Gesellschaft (Hölkeskamp 2011 1987 16), „increasing administrative centralization“, „concentration“, „industrialization“ (Sewell 1985, 15, 30), „population density“, „degree of urbanization“ (Newman 1979, 281, Topolski 1979 1965, 147; Shepherd 1988, 406: „density of population per cultivated area“), „Stabilität der res publica“ (Rilinger 1976, 102), „die Rentabilität der Verlage“ (Kriedte 1991, 97), Dispersion und Fragmentierung von bebauten landwirtschaftlichen Flächen (Bloch 1970, 40) oder die „Zersplitterung des Besitzes“ eines Klosters (Linck 1979, 57), „segregation“ und „diversity“ (Gilliland et al. 2011) oder „social heterogeneity“ (Little 2010, 69), die Häftlingszahlen in Konzentrationslagern (Riedle 2011, 41 f.), „ownership concentration“ (Shepherd 1988).335

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Zum Abschluss der Liste sei ein eingängiger, aber schwer verwirrender Slogan genannt, der Probleme hinter Ontologien sozialer Eigenschaften genauso offenlegt wie die Plausibilität: „Even though some of us are democrats, none of us is a democracy; and the form of government of a society may be undemocratic even if most of the members of the polity are democrats“ (Bunge 2001c, 298). Letzteres ist für einen Systemisten wohl der Hinweis auf die Relevanz von sozialen Strukturen von Systemen (7.3.4). Millar (1984, 1986) hatte behauptet, die Römische Republik sei eine Demokratie gewesen. Kontrahenten scheinen das zu bestreiten. Ihre Gemeinsamkeit ist allerdings, dass sie über soziale Eigenschaften streiten, prima facie Eigenschaften von sozialen Systemen (6.4).

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Potenzielle Beispiele für resultierende Eigenschaften sind: „die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen“ (Cardoso/Brignoli 1984, 32), „der Gesamtkonsum an Nahrungsmitteln und die Geburtenrate“ (Bunge 1995, 67), „the total consumption (but not the production) of a given social system“ (Bunge, 1979b, 22), die „Zahl der in Gang befindlichen Stühle“ in der Krefelder Leinenweberindustrie (Kriedte 1991, 278). In einem Lehrbuch lesen wir: „In Italien beispielsweise existierten 1950 lediglich 342.000 Privatautos; 1960 waren es zwei Millionen, 1965 bereits 5.5 Millionen und 1975 15 Millionen“ (Liedtke 2010, 70). Da einzig die Kriterien zur Identifikation von resultierenden und emergenten Eigenschaften hier zur Verfügung stehen, die in den Definitionen gegeben werden, ist natürlich manchmal nicht klar, ob eine Prima-facie-Eigenschaft als resultierend oder emergent oder vielleicht etwas anderes aufzufassen ist. Topolski entnehmen wir hintereinander, wenn auch teilweise in Prozesskategorien formuliert, folgende Beispiele, deren kategoriale Zuordnung auch nicht intuitiv eindeutig ist: „Arbeitsproduktivität emergent?, Produktionsvolumen emergent?, effektive Nachfrage (resultierend?, Investitionen resultierend?, Akkumulation von Kapital emergent?“ (Topolski 1979 1965, 37).336 Auch andere Fälle sind prima facie nicht eindeutig, zumal auch ontologisch oder kategorial komplex. Zum Beispiel sind Verteilungen (innerhalb der Komposition eines System), wie die von Sewell angedeuteten 62.2 Prozent Arbeiteranteil in Marseille oder die „pauperization of the rural population“ (Topolski 1981, 383), der Anteil einer „Steuergruppe“ der Altstadt an der Gesamtkomposition (Wozniak 2013, 190) eventuell als emergente Eigenschaften aufzufassen, genauso wie „the density of population“, in der sich die Altstadt von der Neustadt Marseilles unterschieden haben soll (Sewell 1985, 57, 103), weil man diese Prima-facie-Eigenschaften wiederum nur den Ganzheiten zuschreiben kann. Dabei muss es sich bei den Ganzheiten und ihrer Komposition allerdings um Systeme handeln. Die „sozialökonomische Differenzierung innerhalb der Lohnarbeiterschaft“ (Kocka 1978, 8) ist keine emergente Eigenschaft, da die Lohnarbeiterschaft kein System ist, sondern eine (fiktive) Gruppe. Allerdings wird deren Anteil einer Gruppe an der Komposition eines Systems, z. B. der Weimarer Republik, gelegentlich als Eigenschaft des Ganzen aufgefasst, also als emergente Eigenschaft.337 Etwas paradox formuliert: Das Durchschnittsalter 336

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Bei dem Soziologen D. Elder-Vass (2010, 17 f.) werden als Beispiele für resultierende Eigenschaften von „Haufen“ („heaps“) „Gruppengröße“ und „Durchschnittsgröße“ genannt. Prima facie ist es jedoch so, dass, sobald mit „Gruppe“ ein System gemeint ist, die Gruppengröße eine emergente Eigenschaft ist, denn Personen haben so etwas nicht. Die Mitgliederzahl von Borussia Dortmund ist keine Eigenschaft eines seiner Mitglieder, z. B. vom Autor. Die Durchschnittsgröße einer Gruppe in irgendeinem Sinn von „Gruppe“, z. B. auch die Durchschnittskörpergröße in England (3.1.8), ist aber wohl dem gegenüber überhaupt keine Eigenschaft, sondern ein fiktives statistisches Merkmal einer (statistischen) Gruppe, d. h. ggf. ein interessantes Explanandum („im logisch-systematischen Sinn“; Hempel 1972), aber dennoch inexistent. Was real ist, ist auch hier die Größe eines Systems und diese Eigenschaft ist in diesem Fall resultierend oder emergent. Auch so etwas wie eine „Sparquote“, von der gesagt wird, sie sei „in England von 5.7 Prozent im Jahr 1760 auf 7,9 Prozent im Jahre 1801 gestiegen“ (Komlos, 1994, 4), existiert nicht, auch wenn hier so geschrieben wird, als ob sie sich verändert. Was dort existierte, waren Personen mit emergenten Sparvorhaben im Geist und deren Umsetzung. Andere Beispiele aus dem eher unklaren Segment der statistischen Artefakte, die manchmal auch „resultierend“ genannt werden, sind Heirats-, Geburten-, Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsraten (Chamoux/Dauphin 1969, 665), die „production of grain crops per capita“ (Topolski 1981, 383 f.) oder die Durchschnittsgröße der englischen Bevölkerung (Kirby 1996). Verkomplizierend kommt hinzu, dass der Unterschied zwischen emergenten und resultierenden Eigenschaften relativ zu einer Ebene sein kann, d. h., was auf einer Ebene eine emergente Eigenschaft ist, kann auf einer nächsthöheren eine bloße Resultante sein. Z. B. ist die Produktion von Roheisen (von der Wehler 1994 [1973], 26, berichtet) eventuell auf der Ebene des produzierenden Betriebes emergent, auf der Ebene des Reiches resultierend. Das dürfte so sein, da die Komposition eines Systems eine Eigenschaft des Ganzen ist, entsprechend auch bestimmte Anteile von Typen von Komponenten innerhalb der Komposition. Natürlich sind das irgendwie „seltsame“ Eigenschaften, aber irgendwie „intuitive“ Eigenschaften kennt wohl – in Philosophie und Wis-

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einer Bevölkerung ist keine Eigenschaft von irgendwas, aber der Anteil oder auch die soziogeographische Verteilung von Alten und Jungen, die manchmal sogenannte „age structure of a population“ (Little 2010, 18), die bekanntlich in der Historischen Demographie insofern zentral ist, als sie in der Problematik dieser „problemorientierten Disziplin“ auftaucht und in Bevölkerungspyramiden graphisch repräsentiert wird (Imhof 1977), könnte eine solche (emergente) Eigenschaft bereits sein, genauso wie der Anteil bestimmter Typen von Sozialsystemen an einem Supersozialsystem, wie in dem Fall, den Bunge mal in vermutlich unsauberer, weil verwirrender Terminologie (7.3.4) die „family structure“ einer „community“ nannte (Bunge, 1979a, 190 f.). Wenn von Verteilungen (oder „Verteilungsstrukturen“, Schmid 2009) die Rede ist, darf nicht vergessen werden, worin verteilt wird. Und im Fall von sozialen Systemen stehen „am Ende“ Personen und interagierende Personen. An dieser Stelle der Beispielauflistung lohnt sich die Feststellung, dass eine Ontologie genauso wenig obskur sein oder Sensationelles liefern muss wie Wissenschaften, obwohl die Listen nicht über die bleibenden Unklarheiten hinwegtäuschen können. Seltsam und obskur wird es in vielen Fällen erst, wenn Kausalität ins ontologische Spiel kommt und behauptet wird, Soziales, z. B. emergente Eigenschaften oder Strukturen (in der Vielfalt der Bedeutungen von „Struktur“, 7.3.4, 7.3.4.1) würden auf irgendetwas anderes wirken (Kapitel 6, 7.4). Der obige Begriff von emergenten Eigenschaften betrifft also den Fall, in dem eine Ganzheit (System) eine Eigenschaft hat, die keine seiner Komponenten hat. Ich denke fast, vielen Geschichtswissenschaftlern wird ein anderer Fall viel einleuchtender sein. Ist es nicht so, dass jemand nur ein König, Senator, Bundeskanzler, Lehnsherr oder Leibeigener, Bourgeois, Student, Professor, Dekan, General oder einfacher Soldat, Türsteher oder Pförtner ist, weil er der Teil eines Ganzen ist? Wohlgemerkt, die letztere Formulierung setzt allein schon die Existenz eines Ganzen voraus (Kapitel 6.4).338 Den intrinsischen (oder globalen) emergenten Eigenschaften von Systemen wurden im Rahmen der Systemik relationale (oder strukturelle) emergente Eigenschaften hinzugefügt. Das ergibt folgende erweiterte Definition: (Globale oder intrinsische Emergenz und relationale oder strukturelle Emergenz) P is an emergent property of a thing b if and only if either b is a complex thing (system) no component of which possesses P, or b is an individual that possesses P by virtue of being a component of a system (i. e., b would not possess P if it were independent or isolated (Bunge 1996, 20).

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senschaft – niemand. Der Soziologe R. Boudon (2013, 24, Fußnote 9) schreibt: „Die Ablehnung des methodologischen Individualismus basiert zuweilen auf der Ansicht, er könne emergenten sozialen Effekten nicht Rechnung tragen. Weber etwa interpretierte jedoch sogar ein so massives emergentes Phänomen wie die Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich als Effekt nachvollziehbarer Beweggründe seitens der römischen Soldaten und Funktionäre“. Dasselbe Problem, das man auch so beschreiben kann, dass Geschichtswissenschaftler nach eigener Auskunft auch über Personen oder „Individuen“ nur im „Kontext“ von etwas anderem reden, über das keine Einigkeit besteht, hat die Geschichtswissenschaftlerin Fulbrook (2002a, 78) thematisiert und dabei eine sozial-realistische Ontologie angedeutet: „All individuals are situated and in deep measure constituted by distinctive historical environments, however much their unique activities may serve to transform these; and historians have to characterise even the most apparently unique individuals in terms of collective concepts, which simply pervade all historical writing, whatever the focus.“ Zu klären ist, was „historical environment“ heißt oder auch „Konstitution“. In gewissen Grenzen ist das natürlich trivial, denn außerhalb von Sozialsystemen kann z. B. auch kein Individuum reich sein, was diesen in sog. „Krisen“ bewusst wird.

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Prima-facie-Beispiele sind im Anschluss an die soeben gelisteten Fälle auch so etwas wie die „Kompetenzen der Censoren“ (Alpers 1995, 38), also alles, was mit Rollen oder manchmal so genannten „Positionen“ in Sozialsystemen zu tun hat (vgl. Kaidesoja 2013, 193), z. B. die Ämter und entsprechende Handlungsmöglichkeiten (7.3.3), die altgeschichtswissenschaftliche Prosopographen Personen hypothetisch zuschreiben, oder auch Preise (Bunge 1996, 20), ob vom Hering oder von sogenannter „Arbeit“ (Topolski 1981, 383 f.). Ebenso „trivial“ ist natürlich die soziogeographische Position von Dörfern, „Flecken“ oder Städten (Medick 1996, 98) innerhalb größerer Zusammenhänge (Systeme). Aber auch die „soziale Integration“ einer Person (Esser 2000a, 269), d. h. das „Ausmaß der Beziehungen“ und ihrer „sozialen Einbettung“, könnte ein Kandidat für relationale/strukturelle emergente Eigenschaften eines Akteurs als Komponente von einem oder vielen sozialen Systemen sein, wie auch dessen „Positions- und Rollensatz“ mit den damit sich ergebenden Handlungsmöglichkeiten durch „Kontrolle von Ressourcen“ (Esser, 2000a, 123 f.) und sich daraus ergebenden Möglichkeiten von demjenigen, das Geschichts- und Sozialwissenschaftler als „Macht“ bezeichnen. Dass der König (Komponente) außerhalb seines Hofes (System) nackt ist, wissen Geschichtswissenschaftler bekanntlich wohl schon länger als (andere) Sozialwissenschaftler, die in dieselbe Richtung häufiger – seit Marxens Zeiten und zumeist wohl auch mit Übertreibungen – behaupten, den „Mensch an sich“ gäbe es nicht (z. B. Esser, 2000d, 163 ff.), d. h. außerhalb von (sozialen) Rollen, Relationen und Systemen (siehe auch Greshoff 2011a). Ein gewisses ontologisches Paradox im Bereich des Sozialen, das auch weithin bekannt ist, liegt ja durchaus bezüglich Personen darin, dass deren „Fähigkeiten“ oder Handlungspotenziale extrinsisch oder relational sind, wohingegen die Fähigkeit oder Disposition eines Stückes Salz, sich in Wasser aufzulösen, einzig von dessen innerer Komposition und Struktur abhängt.339 Eine solche Grundidee sollte es gewesen sein, die manche „Kritischen Realisten“ (Porpora 1989) dazu gebracht haben, „sozialen Positionen“ (sozusagen) als Komponenten von „systems of human relationships among social positions“ irgendwelche „causal powers“ anzuheften, das heißt so genannten „Positionen“ (und nicht konkreten Personen), die für sich irgendwie existieren sollen. Eine solche Annahme teilt der Systemismus nicht, weil Positionen nicht jenseits von konkreten Akteuren im idealistischen Nirwana existieren können. Auf Kausalität und „soziale Kausalität“ kommen wir erst später. Man könnte nun meinen, dass diese Idee strukturell emergenter Eigenschaften zu breit ist, weil es dann vielleicht zu viele von diesen Eigenschaften gibt, weil es fast gar keine Eigenschaften von Personen gibt, die nicht strukturell-emergent sind und zudem Geschichts- und Sozialwissenschaftler interessieren, denn diese interessiert gewöhnlich selten rein Privates, sondern Mitgliedschaften in sozialen Systemen, Rollen und Kompetenzen oder „Ordnungen“ wie Plätze in Hierarchien. Ein kritischer Punkt könnte hier sein, dass viele dieser relationalemergenten Eigenschaften selbstredend öfters oder gar immer etwas mit demjenigen zu tun haben, was manchmal „Intersubjektivität“ genannt wird, und daher die Annahme, so etwas auf sozialer Ebene sei nicht weniger real als anderes, anzuzweifeln ist. Das ist eine sicherlich legitime Frage, die auch darauf hinauslaufen könnte, die Frage zu stellen, ob es überhaupt angebracht ist, im Soziohistorischen (realistisch aufgefasste) Eigenschaftskategorien zu verwenden. Eine erste systemistische Entgegnung ist aus meiner Sicht, dass man auf der sozialen Ebene die Spezifik der Gegenstände berücksichtigen muss, nämlich die mentalen emergenten Eigenschaften der Komponenten jener (human-)sozialen Systeme, ohne die es natürlich keine 339

Das fällt spätestens dann auf, wenn z. B. Herrschaft manchmal als eine Fähigkeit definiert, nämlich als durch Sanktionsapparate ermöglichte „Fähigkeit“, eigene Absichten per Anweisung durchsetzen zu können. In einer Variante des Kritischen Realismus wird dies vermutlich als „Wirkung“ einer „sozialen Struktur“ in einem Herrschenden aufgefasst. Das werde ich später nicht glauben; siehe 7.4.

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sozialen Systeme gibt. Die relational-emergenten Eigenschaften hat jemand dann auch, weil er und nicht zuletzt andere bestimmte Überzeugungen haben und – nicht zu vergessen – auf dieser Basis miteinander interagieren und praktische Probleme lösend ihr Überleben sichern. Auch die weiteren „Verbindungen“ oder „Verknüpfungen“ im Sozialen funktionieren selbstredend auf der Basis einseitiger oder wechselseitiger Überzeugungen (7.3.3). Viel mehr Realität kann es aber in sozialen Systemen und für Personen in sozialen Systemen auch nicht geben. Die Frage, ob mit diesem Truismus, nämlich der Abhängigkeit manches Sozialen von Überzeugungen und teilweise intersubjektiv geteilten Überzeugungen, die Realität sozialer Systeme geleugnet werden muss, kommen wir am Rande immer wieder, werden sie aber letztlich weitgehend offen lassen müssen (7.6). Wir können nun die oben angekündigte Einschränkung der Behauptung, mit „soziale Eigenschaft“ sei eine Eigenschaft eines sozialen Systems gemeint, ausführen. Gemäß diesem Begriff von relational-emergenter Eigenschaft kann man prinzipiell eine Eigenschaft einer individuellen Person, die diese nur hat, weil sie Teil eines sozialen Systems ist, auch eine „soziale Eigenschaft“ dieser Person nennen, obwohl diese Eigenschaft keine Eigenschaft eines sozialen Systems ist. Halten wir also als Überblick fest, was hier, d. h. an dieser Stelle in diesem Buch, unter einer sozialen Eigenschaft verstanden wird. (Soziale Eigenschaften) Eine Eigenschaft P eines Dings x ist dann eine soziale Eigenschaft, wenn (i) P eine emergente Eigenschaft und x ein soziales System ist oder (ii) P eine resultierende (manchmal „distributiv“ genannte) Eigenschaft und x ein soziales System ist oder (iii) P eine resultierende Eigenschaft und x ein soziales Aggregat ist oder (iv) P eine relational-emergente Eigenschaft einer Person x als Komponente eines sozialen Systems ist. Vielleicht gibt es noch weitere Kandidaten, zum Beispiel Eigenschaften von Artefakten in sozialen Interaktionskontexten (z. B. der „Wert“ eines Geldscheins oder der „Preis“ einer Ware) oder auch anderes, was ggf. auch zu kontraintuitiven ontologischen Konsequenzen dieser Ontologie führt.340 Demgemäß hat jemand keine soziale Eigenschaft, wenn er eine Überzeugung oder eine Mentalität, eine Wahrnehmung oder „Repräsentation“ (Füssel 2006) oder Ähnliches hat, die auch noch jemand anders hat oder mit ihm „teilt“, die „sozial“ ist im Sinn von „sozial verbreitet“, wie manchmal jedoch zu lesen ist, sondern diese Personen haben ähnliche mentale Eigenschaften und diese sind individuell. Beispiele für unklare Redeweisen ließen sich leicht liefern, in denen Mentalitäten oder „soziale Drehbücher“ und Ähnliches und Anderes zu sozialen Entitäten außerhalb von Akteuren werden, die als reifizierte Kategorien dann womöglich mit konkreten Personen ein „System“ bilden können sollen oder plötzlich auf Personen wirken. Die ganze Struktur-versus-Handlung-Literatur auch in der Geschichtstheorie (spätestens 340

Die Hypothese „‚Abul Abaz‘ war der Name des 810 gestorbenen Elefanten, den Harun ar-Raschid Karl dem Großen geschenkt hat“, könnte auch eine Eigenschaft dieses Elefanten beschreiben, die dieser hat, weil er in einem sozialen System sozusagen eine Rolle spielt, wenn er auch wohl keine Komponente ist, nämlich seinen Namen. Diese Eigenschaften oder Tatsachen (7.3.7), die man wohl „konventionell“ nennen würde, sind eventuell auch vor dem Hintergrund der obigen Bestimmungen strukturell-emergente Eigenschaften, vorausgesetzt, so etwas gilt überhaupt als Eigenschaft. Eigenschaftsontologie könnte ein unvermeidbares Feld der Sozialwissenschaftsontologie werden.

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seit Schieder 1968) ist voll von ähnlichen und ähnlich problematischen Formulierungen, die sich in der Soziologie spätestens seit Durkheim (1984 1895) finden. Eine weitere ontologische These besagt im Rahmen des Systemismus, dass jedes Ding x in dem Moment, in dem es zu einer Komponente eines Systems y wird oder in dem Moment, in dem sich das System y neu bildet, dessen Komponente x damit wird, eine relationale (oder strukturelle) emergente Eigenschaft annimmt: When two or more individuals (atoms, persons, or what have you) get together to form a system each of them acquires at least one property that it lacked before, starting with that of being bound to other system components (Bunge 2003a, 78). Unscheinbar, aber fundamental ist dabei, dass Dinge diese beiden Typen von emergenten Eigenschaften erwerben können, d. h., sie nehmen diese Eigenschaften zu einem Zeitpunkt an. An dieser Stelle wird auch klar, warum in der Definition System-2 zentral von den „Verbindungen“ der Teile eines Systems gesprochen wurde. Denn die Entstehung oder eben die Emergenz eines Systems ist u. a. zentral die Entstehung der Verbindungen zwischen den Komponenten des Systems. Was auch sonst? Darauf kommen wir zurück, wenn der systemische Begriff einer Struktur erläutert wird (7.3.4). Hier ist auch die Stelle, an der die obige Bemerkung einschlägig ist, die Verbindungen, die in der Definition System-1 auftauchen, seien Eigenschaften, die in Definition System-2 vorkommen, denn solche Relationen bzw. das Verbundensein der Komponenten gilt in der Systemik als Eigenschaft der Komponenten (und die Gesamtheit der Verbindungen als Eigenschaft des Ganzen; 7.3.4).341 Die beiden Fälle von emergenten Eigenschaften lassen sich also auch im Hinblick auf Zeit und Veränderung, also Prozesse, grob bestimmen. Auf Prozesse kommen wir später noch genauer zu sprechen (7.3.5). Dies wird Emergenz genannt: (Emergenz, prozessual) 1. Ein Ding, das zur Zeit t die Eigenschaft(en) B besitzt, entwickelt sich zu einem Ding mit der oder den neuen Eigenschaft(en) P zur Zeit t‘, wobei t‘>t Globale Emergenz. 2. Ein Ding, das zur Zeit t die Eigenschaft(en) B besitzt, erwirbt die neu(en) Eigenschaft(en) P dadurch, dass es zu einem Bestandteil eines Systems zur Zeit t‘ wird, wobei t‘>t Relationale Emergenz (Bunge/Mahner 2004, 81). Dies sind zwei Fälle von Veränderung, denn was zuvor als „Erwerb von Eigenschaften“ bezeichnet wurde, ist nichts anderes als ein Fall von Veränderung eines Dings. Veränderungen sind im Systemismus immer Veränderungen des Zustands eines Dings. Um den Begriff des Zustands werden wir uns gleich kurz kümmern (7.3.5). Kauft man dies, ist natürlich ein bemerkenswerter, wenn auch kaum spektakulärer Punkt, dass bei der Entstehung von Systemen nicht nur eine Veränderung auf Systemebene oder des Ganzen stattfindet, sondern ex hypothesi gleichzeitig eine Veränderung der (Mikro-)Systeme stattfindet, die zu Teilen des umfassenderen Systems werden (Bunge 1995, 34; 2003a, 12). Systembildung lässt die Komponenten oder „precursors“ (Vorgänger) des Systems nicht unverändert, Aggregatbildung bzw. Teilnahme daran im Zweifel schon. 341

Hier ist ein Ganzes (System) also wieder nicht bloß ein Haufen ansonsten unveränderter Komponenten oder „Atome“, sondern in der Bildung des Ganzen verändern sich – so lautet die Annahme – die Teile. So weit ich sehe, nennt G. Albert (2005, 400) die Gegenthese „Atomismus“.

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Wie dem auch sei, Dinge und nur Dinge haben in der systemistischen Ontologie Eigenschaften. Die materialistische Grundausrichtung beinhaltet auch, dass Eigenschaften nur in Dingen (in rem) existieren, nicht vor den Dingen (ante rem). Das heißt einfach, eine Eigenschaft P ist genau dann real, wenn es ein Ding x gibt, das Träger von P ist (Bunge 1977a, 99), denn vorher gibt es diese Eigenschaft nicht (anders z. B. Elder-Vass 2010 und teilweise R. Bhaskar bezogen auf „social structures“; vgl. Kaidesoja 2007). Das heißt auch, dass neuartige Typen von Eigenschaften nur mit Dingen einer neuen Art entstehen und mit diesen verschwinden. Jenseits feudaler Systeme gab es sozusagen keinen Feudalismus. Anders ausgedrückt: Irgendeinen ahistorischen Präformismus, den Geschichtswissenschaftler vielleicht im Rahmen von Metaphysiken und Geschichte befürchten, gibt es nicht, zumindest nicht im Systemismus, und auch die soziale Eigenschaft, feudalistisch, kapitalistisch, demokratisch oder sonst etwas zu sein, emergiert erst mit konkreten sozialen Systemen mit entsprechenden Strukturen (7.3.4). Geschichtswissenschaftlern ist das normalerweise auch ohne jede Ontologie klar, wie man z. B. auch Kritiken von Hölkeskamp (2011 1987) an Millars (1984, 1986) Begriff einer „Verfassung“ der Römischen Republik entnehmen kann, die teilweise als von Konkretem unabhängig gedacht zu werden scheint (8.1). Wenn oben unvorsichtigerweise Durkheim zitiert wurde, dann lässt das Zitat noch offen, was die „Elemente“ sind, die als „Verbindung“ eine neue „Erscheinung“ „hervorbringen“. Im Systemismus sind diese Elemente immer Dinge/Systeme. Im Rahmen von Sozialsystemen sind diese Komponenten Menschen oder aber soziale Systeme (7.3.3). Im Rahmen der Geschichtsphilosophie wird diese Leerstelle auch häufiger zum Problem (z. B. in Lorenz 1997) und führt häufiger in den objektiven (ontologischen) Idealismus, in dem die „Komponenten“ von „Strukturen“ z. B. Ideen, Regeln, Normen oder „Bedeutungen“ sind, z. B. latent in Littles „Lokalismus“ (2010), Fleetwoods (2008) Rede von „Institutionen“ als „Systeme von Regeln“ oder der kulturtheoretischen Rede von Kultur als „System von Bedeutungen“. 342 Auch in manchen sozialwissenschaftlichen Neo-Institutionalismen, in denen ontologisch oder reinbegrifflich jene Regeln, die „Institutionen“ genannt werden, nicht von sozialen Systemen, die auch „Institutionen“ genannt werden, getrennt werden (Hodgson 2006), drohen schnell Unklarheiten, d. h. Kategorienfehler (7.6). Eine methodologische Norm ergibt sich auch aus diesen ontologischen Festlegungen ganz beiläufig: Wenn man von Eigenschaften spricht, muss man – innerhalb dieses ontologischen Rahmens – das Ding/System benennen, das Träger dieser Eigenschaft ist. Dies ist ein unscheinbarer Punkt, an dem die Ontologie methodologische Implikate hat, selbst wenn diese recht naheliegend sind. Wovon redet aber z. B. ein Geschichtswissenschaftler, der einen Diskurs (Martschukat 2001, Bänzinger 2010) oder gar dessen „Geschichte“ untersucht? Was ist der Gegenstand von Wilsons (2010) „history of football tactics“? Was ist der Gegenstand von Gaddis (2005) „The Cold War“? Was ist der Gegenstand von Frings (2007a) „Schriftpolitik“, von Hölkeskamps (2011 1987) „Entstehung der Nobilität“ oder Kintzingers (2000) „Westbindungen“, um nur einige Beispiele zu nennen. Was entsteht da oder was verändert sich, was hat dort eine Geschichte? In einigen der Fälle ist dies leicht zu beantworten, in anderen nur schwer oder gar nicht. Natürlich können solche Fragen auch als Kritiken an emergentisti342

Füssel (2006, 28) schreibt z. B. von Kultur als „System von Bedeutungen“. Natürlich ist es nicht verboten, so zu reden. Die Systemik stellt dann nur zur Debatte (a), was mit „System“ gemeint ist, was (b) auf die Frage hinausläuft, worin die Struktur des Systems besteht, wobei ferner daran erinnert werden muss, (c) konkrete Systeme nicht mit abstrakten oder gedanklichen Systemen zu verwechseln, sobald jene Systeme allesamt als „sozial“ qualifiziert werden, was auf die Frage nach den Komponenten hinausläuft. Anders gesagt, Menschen nutzen vielleicht etwas, das „Systeme von Bedeutungen“ genannt wird, aber Zusammenhänge von Menschen sind keine solchen „Systeme“. Häufiger ist ja in der Kulturtheorie zu lesen, Gesellschaft sei ein Text oder wie ein Text.

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schem Sozialrealismus gelesen werden bzw. zu einer solchen führen, weil Sozialsysteme irgendwie „seltsame“ Dinge sind und in diesem Kontext die Annahme von Systemeigenschaften ebenso „seltsam“ erscheinen kann. Meiner Ansicht nach sind solche Zweifel nicht unbegründet. Ein globaler ontologischer Individualismus ist zwar in jeder Hinsicht einfacher, führt aber zur globalen Irrtumstheorie für die Sozialwissenschaften inklusive der Geschichtswissenschaften (Ankersmit 1981). Denn recht häufig schreiben diese nicht über Individuen. Ontologischer Individualismus ist – wie lange bekannt ist – sicherlich (zumindest intuitiv) einfacher, aber gerade im Kontext der Sozialwissenschaften auch nicht die Herausforderung. Inwiefern sozialontologischer Realismus als plausibel gelten kann, hängt aus der hier eingenommenen Sicht letztlich davon ab, wie Ergebnisse der Sozialwissenschaften zu interpretieren sind und zuerst davon, welche es überhaupt gibt (7.6). Auf Veränderungen kommen wir im Kontext der Behandlung von Zuständen, Ereignissen, Prozessen und Geschichten zurück. Zunächst müssen wir mehr über Relationen erfahren, um dann mehr über den systemischen Begriff einer Struktur erfahren zu können.343

7.3.3 Bindende, nicht-bindende Relationen und Gesellschaft Nicht ein System, sondern Systeme … (Braudel 1986b 1979, 513).

Diese kategoriale Bestimmung von Systemen soll uns noch nicht reichen. Was ist mit „bonds“ („ties“, „links“, „connections“) genauer gemeint, von denen nun schon wiederholt, nämlich bereits in der Definition eines Systems, die Rede war, zumal das Vorhandensein von solchen Verbindungen Systeme von bloßen Aggregaten unterscheiden soll und offensichtlich etwas damit zu tun hat, eine Menge von Komponenten als eine integrierte Ganzheit (Kapitel 6.4) aufzufassen? Verbindungen sind zunächst offensichtlich Relationen. Daher kann man auch obige Definitionen von „System“ (7.3.1) durch folgende ersetzen: (System-3) A system is a complex object every part or component of which is related to some other component of the same object (Bunge 1993, 211). Mit Relationen kommen immer mindestens zwei Relata, also die Entitäten, die in der Relation stehen. Der letzte Punkt ist zwar einerseits trivial, insofern dies per Definition von „Relation“ gilt. Es ist aber andererseits nicht trivial, da mithin die Relationen im Sozialwissenschaftskontext, häufig im Mantel des Ausdrucks „Struktur“ versteckt, von den konkreten Dingen gelöst werden, die in jenen Relationen stehen (z. B. Bhaskar 1979, Porpora 1989, Fleetwood 2008). Die systemische Antwort auf die Frage, was bleibt, wenn man die Relata einer konkreten Re343

Gerade in der Metatheorie der „historischen“ Wissenschaften ist es geboten, auch kurz den Unterschied zwischen absoluter Neuheit oder Emergenz und relativer Neuheit oder Emergenz einzuführen: „Ein Emergenzprozess ist absolut, wenn das Neue ein in der Geschichte des Universums nie zuvor da gewesenes Ding ist, d. h., wenn es sich um ein völlig neuartiges Ding handelt; er ist relativ, wenn es bereits andere Dinge mit den gleichen emergenten Eigenschaften gibt“ (Bunge/Mahner 2004, 82; Bunge 2003a). Der Erwerb einer „historischen“ wissenschaftlichen Idee durch einen mittelalterlichen Menschen ist beispielsweise auch ein Fall von absoluter Emergenz, genauso wie die Entstehung der ersten Demokratie.

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lation wegnimmt, ist allerdings folgende: Dann bleibt genauso viel übrig, wie wenn man von einer deduktiven und abstrakten Relation zwischen Prämissen und Konklusionen, beispielsweise in DN-Erklärungen (6.1, Fußnote 180), die Prämissen und die Konklusionen wegnimmt, nämlich nichts, auch wenn symbolisch ein Strich übrig bleibt. Der Soziologe D. Porpora behauptete wie andere Soziologen, sich auf einen Physiker beziehend, „relationships are more real than particulars“ (Porpora 1989, 206), was einer Metaphysik nahe kommt, die ich als „strukturalistisch“ bezeichnen würde, weil Strukturen/Relationen irgendwie realer sein sollen als ihre Relata. Verbindungen oder Verknüpfungen („bonds“) sind also Relationen. Aber nicht alle Relationen sind Verbindungen (Verknüpfungen), sondern es gibt auch nicht-bindende Relationen oder „mere relations“ (Bunge 1979a, 6; siehe erneut 5.5). Die vorige Definition (System-3) ist diesbezüglich also auch unvollständig. Bindende Relationen gelten nicht nur im Systemismus als solche, die einen Unterschied in den Relata bedingen oder ausmachen. Bindende Relationen oder, besser, etwas, was diesen ähnlich ist, werden manchmal in anderen Kontexten „interne“ Relationen genannt (z. B. Bhaskar 1978a, 1979), im Unterschied zu „externen“ Relationen.344 Nicht-bindende Relationen („externe Relationen“) sind beispielsweise räumliche Relationen, zeitliche Relationen und Ähnlichkeitsrelationen zwischen Eigenschaften konkreter Dinge, wie in „a ist größer als b“, „a ist älter als b“ oder auch „Die Produktivität eines spätmittelalterlichen Schafs hinsichtlich der Produktion von Wolle ist gegenüber der Produktivität eines spätfrühneuzeitlichen Schafs halb so hoch“. Als Beispiele für nicht-bindende soziale Relationen werden Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen, z. B. Berufsgruppen oder Alterskohorten, Schichten und Klassen (Bunge 1979a, 202) sowie „x ist reicher als y“ (Bunge 2001b, 113) genannt. Die nicht-bindenden Relationen zwischen konkreten Personen können – so die Hypothese – bindende Relationen möglich machen, sind aber keine. Man denke im letzteren Fall z. B. an die möglicherweise sich ergebenden Machtrelationen zwischen konkreten Personen, die sich hinsichtlich ihres Reichtums unterscheiden. Was in den Geschichts- und Sozialwissenschaften alles unter „sozialen Relationen“ oder „Beziehungen“ verstanden wird, kann hier nicht Gegenstand sein, da auch das unübersichtlich zu sein scheint. Charles Tilly beispielsweise bezeichnet „social transactions and relations“ als „fundamental entities ! of social life“ (Tilly 2002, xi), und jene Transaktionen, die in der Systemik als (einseitige) „Wirkungen“ oder (wechselseitige) „Interaktionen“ bezeichnet werden, subsumiert er nicht unter seinen Begriff von „Relation“, was im Rahmen der Ontologie der Systemik jedoch der Fall ist, handelt es sich doch um kausale Relationen. Das kann, wie auch in vielen anderen Fälle der Rede von „sozialen Relationen“ oder „sozialen Beziehungen“, schnell zu begrifflicher Verwirrung führen. Klar ist, dass hier Klärungspotenzial auch im Hinblick auf die noch zu thematisierenden sozialen Strukturen (7.3.4) in den Sozialwissenschaften zu vermuten und dort zu suchen ist. Klientelbeziehungen in der Antike oder Lehns„Bindungen“ und die „grundherrlichen Bindungen“ (Schulze 1990, 105) im Hochmittelalter sind drei Beispiele für bindende Relationen. Man sieht leicht, in kulturtheoretischen Begriffen gesprochen sind soziale Verbindungen (oder, vielleicht besser, ihre Typen) sozusagen kulturrelativ oder „historisch“. Was zeichnet nun aber bindende oder verbindende Relationen im Unterschied zu „bloßen“ Relationen aus? Ein Problem im Rahmen des Systemismus ist, dass dies aus der hier eingenommen Sicht nicht gänzlich klar ist.345 Nicht zuallerletzt riecht es natürlich gehörig 344 345

Bei Fleetwood (2008, 258) heißt es zum Beispiel, Beschäftigungsbeziehungen („employment relations“) seien interne Relationen, „i.e. where the nature of one of the relata, depends upon the nature of the other“. Überraschenderweise ist auch in „Finding Philosophy in Social Science“ nicht (zentral) von jenen Verbindungen die Rede; siehe Bunge 1996.

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nach Kausalitätsproblemen (Kapitel 6.3), wenn von „Verbindungen“ die Rede ist. Aber man ahnt bereits vor dem Hintergrund des weithin geteilten Desinteresses an Kausalität in Geschichts- und Sozialtheorie, dass Kausalität eventuell nicht alles ist, was soziale Systeme zusammenhält. Soziologische Systemtheorien Bielefelder Herkunft sollen ja sogar gar keine Kausalität kennen (siehe Wan 2011a). Ich habe diese Problematik zuvor zu verschleiern versucht, indem ich von „bedingen oder ausmachen“ gesprochen habe. Auch M. Bunge zufolge sind nicht alle Verbindungen bzw., anders gesagt, bindenden Relationen kausale Relationen. Dass hier schon relevant ist, welches Kausalitätsverständnis zugrunde liegt, ist klar. Wir können also auch nicht einfach zum Kapitel 6 zurückgehen und die Rede von „Verbindungen zwischen Dingen“ durch Kausalverbindungen ersetzen, zumal in den meisten Vorstellungen von kausalen Erklärungen von Dingen und Systemen überhaupt keine Rede ist, weil diese Kategorien in diesen Ontologien nicht vorkommen, was ja auch ein Vorteil sein mag: Spatial and temporal relations, such as ‚to the left of‘ and ‚later than‘, are nonbonding. However, such relations, in particular those of spatial and temporal contiguity, may render bonding relations possible. By contrast, electromagnetic, chemical, biological, ecological, and social relations are bonding: they make a difference to the relata. However, this does not mean that all bonds are causal: in fact, only some are. For example, chemical and loyalty bonds are not causal (Bunge 2003a, 20). Was ist also mit einer Verbindung genauer gemeint? Versuchen wir das etwas zu klären: (Bond-1) A link between two things relates them in a way that affects them. Attractive and repulsive bonds, cooperative and competitive relationships, and relations of social exchange, whether cohesive or disruptive, are all links or binding relations“ (Bunge 1992a, 216; Hervorhebung dp). In einer früheren Definition ist auf ähnliche Weise davon die Rede, verbindende Relationen seien solche, die einen Unterschied in den Relata ausmachen, was so beschrieben wird, dass eine Veränderung in einem Ding x von einer Veränderung in Ding y begleitet wird, ihr vorhergeht oder nachfolgt (Bunge, 1977a 101 f.). In Bond-1 ist von Veränderung eines Dings nicht direkt die Rede. Wenn nicht alle Verbindungen kausal sind, heißt dies, dass ein Ding, das einen Unterschied in einem anderen „ausmacht“, was sich eventuell durch „affect“ im Englischen ausdrücken lässt, damit scheinbar noch keinen Unterschied in diesem anderen notwendigerweise verursacht („cause“), aber dennoch eine Verbindung vorliegt. Im Loyalitätsfall ist auch einigermaßen klar, wie das zu denken ist. Denn die Loyalitätsverbindung zeigt sich beim Eintreten in Kausalrelationen, nämlich in Interaktionen mit anderen Personen. Diese emergente mentale Eigenschaft macht einen Unterschied im Vergleich zu Kontrastfällen, d. h., eine Person würde sich in dem Kontrastfall, in dem keine solche non-kausale Verbindung besteht, anders in Interaktionen Verhalten als in dem Fall, in dem eine Verbindung besteht. Der Klient grüßt den Patron morgens im antiken Rom überaus freundlich, nicht aber irgendeine beliebige Person auf der Straße. Kausalität kommt also nur sekundär ins Spiel oder dann, wenn die Loyalitätsverbindung handlungstheoretisch und anschließend interaktionstheoretisch modelliert wird. Im Fall sozialer Relationen hat man natürlich – zumindest außerhalb von manchen sozialtheoretischen Vorstellungen über soziale Beziehungen, für die auch eine Person ausreicht – immer zugleich mentale und vielleicht zugleich dispositionale Aspekte von

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sozialen Relationen und den kausalen Anteil in physischen Interaktionen, z. B. in obigen kooperativen und kompetitiven Verbindungen. (Bond-2) Two different concrete things are linked (or coupled or bounded) together if and only if one of them acts upon the other. In turn, one thing acts upon a second thing if and only if the trajectory of the latter in its state space differs from its trajectory in the absence of the former (Bunge 1992a, 216, Hervorhebung dp, Hervorhebung im Original getilgt). Hier ist davon die Rede, eine Verbindung bestehe genau dann, wenn ein Ding x auf ein Ding y einwirkt („act on“). Hier ist eine Verbindung also – sozusagen ganz einfach – eine kausale Relation zwischen zwei Dingen. Mehr zu kausalen Relationen im Rahmen der Systemik folgt später. Wie dem auch sei, dies soll zeigen, dass die Differenz in tatsächlichen und hypothetischen Zustandsveränderungen eines Dings zuvor zunächst ein Kriterium (Indikator) dafür ist oder sein kann, dass eine „Verbindung“ mit einem anderen Ding besteht, wobei damit noch nicht zwingend gesagt ist, dass die Verbindung einzig kausal ist. Wenn beispielsweise die obige Loyalitätsverbindung als mentale oder sozial-psychische („intentionale“) Relation zwischen Personen verstanden wird, dann manifestiert sie sich vielleicht in Interaktionen, d. h. kausalen Relationen, ist aber keine.346 Auf eine weitere Komplikation, die in einer weiteren Bestimmung des Begriffs einer Verbindung liegt, kann hier nur in der nächsten Fußnote verwiesen werden, weil diese Verbindungen auch non-kausal sind oder non-kausale Anteile haben. Damit ist auch gesagt, dass (mir) die Ontologie der Verbindungen nicht gänzlich klar ist. Diese Schwierigkeit, „Verbindungen“ eindeutig festzunageln, sei auch genannt, da man zumindest über Fälle spekulieren darf, in denen Verbindungen vorliegen, aber weder mentale oder sozial-psychische noch kausale Beziehungen entscheidend sein können. Wir müssen hier mal ausnahmsweise ein „Beispiel“ erfinden. Innerhalb von kapitalistischen Wirtschaftssystemen können zwei Unternehmen, die ein ähnliches Produkt herstellen, in einer Konkurrenzrelation miteinander stehen, ohne jemals miteinander signifikant kausal, d. h. über ihre Komponenten (Kapitel 7.3.8, 7.4., 7.5), zu interagieren. Diese Beschreibung setzt eventuell schon ein bestimmtes Kausalitätsverständnis voraus (7.3.8), denn z. B. in der Ontologie von unterschiedlichen Kontrafaktikern wären dies wohl kausale Relationen. Es könnte gar so sein, dass die Komponenten der Unternehmen von jenem anderen Unternehmen gar nichts wissen, aber plötzlich der Umsatz des Unternehmens – ein Kandidat für eine emergente Eigenschaft – einbricht, sobald das andere Unternehmen auf den Markt tritt oder sich sonst wie verändert. Warum? Weil Kunden mit dem anderen Unternehmen bzw. dessen Mitarbeitern in Kausalbeziehungen eintreten, nämlich dort etwas kaufen, nicht aber mit dem anderen. Prima facie ist dies eine „bindende soziale Relation“, gar eine Relation zwischen ganzen sozialen Systemen (Waren produzierenden Unternehmen innerhalb eines Marktsystems), nicht individuellen Personen, die einen Unterschied ausmacht („affect“), aber keine Kausalrelation ist („act on“). Im Systemismus kann man dies auch eventuell so auffassen, dass die 346

Es ist klar, dass man eventuell gewillt sein kann, solche sozial-mentalen Eigenschaften wie Loyalitätsverbindungen dispositional aufzufassen, was im Rahmen einer Ontologie nicht heißen muss, dass man auf eine vielleicht handlungstheoretische Modellierung von solchen Interaktionen zugunsten der Verwendung ontologischen Jargons verzichtet, wie Mikrofundierer oder „Individualisten“ sicherlich teilweise befürchten. Dann lässt sich vielleicht auch sagen, dass der Besitz der Disposition Verhalten in gewissem Sinn determiniert.

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Existenz des einen Unternehmens die möglichen Zustände des anderen determiniert. Die Determination von möglichen Zuständen ist aber in diesem Rahmen keine Kausalrelation, denn verursacht werden im Rahmen dieser Ontologie bloß Veränderungen von Zuständen, wobei die Rede von „faktischen Zuständen“ bloß redundant ist (7.3.7). Das eine Unternehmen wirkt nicht auf das andere, interagiert nicht mit dem anderen, konkurriert aber mit dem anderen um das eine oder auch das andere und determiniert eben damit etwas an diesem anderen, z. B. dessen market share oder gar dessen Pleite, die in kausalen Interaktionen mit Banken und Rechtssystemen exekutiert wird, aber nicht eingetreten wäre, wenn das andere Unternehmen nicht existiert hätte. Diese Abhängigkeit oder Verbindung könnte man dann durch Gedankenexperimente erläutern, obwohl sie im systemischen Rahmen nicht kausal sind: Würde das Unternehmen y nicht existieren und Toaster produzieren und verkaufen, dann würde Unternehmen x signifikant mehr Toaster verkaufen (ceteris paribus). 347 Der Soziologe D. Porpora (1989, 205) schrieb in einem netten Reim: „The capitalists often compete with rivals they 347

Während zuvor in Bond-2 davon die Rede ist, der faktische Zustand (eigentlich ein Pleonasmus, s.u.) eines Dings y verändere sich, wenn die Verbindung zu einem Ding x besteht, ist im Folgenden von etwa anderem die Rede, was die systemismusinterne Vorstellung von Verbindungen („bonding relations“) auch unklar oder komplexer erscheinen lässt. (Bond-3) Let a and b denote two concrete things, and call S(a) and S(b) their corresponding state spaces. Further, call S(b│a) the state space of thing b in the presence of thing a. We stipulate that a influences b, or a exerts power over b, if S(a│b) ≠ S (b), that is, when a alters the set of possible states of b. In other words, a influences b if a either shrinks or expands the set of possible states of b. … Now, an influence can be either restricting (dominating, coercive) or broadening (empowering, emancipating). In the first case the influence shrinks, in the second it expands, the set of possible states of the patient“ (Bunge 2009a, 187). Der Begriff des Zustandsraums bezeichnet im Systemismus die Gesamtheit der (gesetzmäßig) möglichen Zustände eines Systems. Er umfasst also die Gesamtheit der Eigenschaften, die ein Ding oder System potentiell annehmen kann oder, anders gesagt, alle individuellen Eigenschaften oder Werte, welche die generischen Eigenschaften annehmen können. Der tatsächliche Zustand oder die Geschichte (siehe unten) eines Dings bewegt sich – so die ontologische Hypothese – in diesem Möglichkeits-Raum. Von diesem Möglichkeitsraum heißt es oben, er verändere sich, wenn weitere Umweltbedingungen hinzutreten oder, anders gesagt, wenn das System in neue Relationen eintritt. Eine Relation von einem Ding x und einem Ding y ist gemäß Bond-3 eine Verbindung (und keine nicht-bindende Relation), wenn sich der Raum möglicher Zustände durch die Relation ändert. Eine Einschränkung (oder Restriktion) eines Dings x durch ein Ding y ist eine Minderung der Anzahl möglicher Zustände. Damit ist dann der Gedanke verbunden, dass die Zu- oder Abnahme des Möglichkeitsraums auch in gewissem Sinn determiniert, was tatsächlich passiert. Um Kausalität kann es sich bei den letzten Verbindungen ontologieintern jedoch wiederum nicht handeln, da Kausalität hier die faktische Hervorbringung von Veränderungen von tatsächlichen Zuständen ist, nicht die Veränderung möglicher Zustände. Zugegebenermaßen klingt dies erst einmal seltsam und es klingt ferner nach einem leicht oder gar ganz anderen Typ von Verbindung, gerade weil es sich auch um keine Kausalverbindung handeln kann (Kapitel 7.3.8). Im Rahmen eines dem obigen Beispiel ähnlichen Falles bedeutet dies, dass das Bestehen einer Konkurrenzrelation der Unternehmen in diesem Sinn die möglichen Zustände dieser Unternehmen determiniert, ohne dass Kausalrelationen bestehen. Die Existenz des einen Konkurrenten für den anderen macht einen Unterschied, verursacht aber nichts. Kausalität ist an dieser Stelle ontologieintern ausgeschlossen. Das ist natürlich eine aufgeladene Ontologie. Sie sei hier nicht verschwiegen, weil es eben vielleicht gerade im Soziohistorischen notwendig sein könnte, vielerlei unterschiedliche Formen ontischer Bedingungen oder, besser, Determinationsrelationen zu unterscheiden und vielleicht andere, ungewohnte, Kategorien zu erfinden. Dies kann zudem als ontologischer Versuch aufgefasst werden, dasjenige zu erfassen, was Soziologen den einschränkenden oder ermöglichenden „Einfluss“ von „Opportunitäten“ und „Restriktionen“ nennen. Die Ideen von Zuständen und Zustandsräumen ist selbstredend im geschichtsphilosophischen Kontext ungewöhnlich. Von Zustandsräumen ist jedoch in den Wirtschaftsgeschichtswissenschaften scheinbar – beiläufig – die Rede (Walter 2006).

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never meet“. Wie dem auch sei, Interdependenzen oder (soziale) Interdependenztypen und Interaktion (Kausalrelationen) sind in dieser Ontologie wie auch in mancher Soziologie nicht (unbedingt) dasselbe, obwohl hier viel Klärungsbedarf besteht.348 Die sanfte Mystik um die „Verbindungen“ löst sich auf, wenn man erneut feststellt, dass es sich (natürlich?) immer um sozial-psychische Relationen und Interaktionen handelt, was nichts anderes heißt als Interaktionen zwischen Menschen auf der Basis irgendwelcher Überzeugungen und was auch immer man im mentalen Inventar von Akteuren sonst noch vermutet (Erwartungen), wozu man aus systemischer Sicht letztlich die entsprechenden Wissenschaften konsultieren muss, denn gerade hier ist die ontologische Luft dünn: A human social system is a social system composed of people and their artifacts. Such a system is held together or torn asunder by feelings (e.g., of benevolence or hatred) and beliefs (e. g. norms and ideals), by moral and legal norms, and above all by social actions such as sharing and cooperating, exchanging and informing, discussing and commanding, coercing and rebelling. All such actions are dynamic social relations. They are relations in that they involve two or more individuals. And they are dynamic in being carried out over time, in affecting their relata, and by varying in intensity (Bunge 1996, 21). Kurz gesagt und damit Unklarheiten durchaus zugeschüttet, hat man (i) psycho-soziale (bindende) Relationen, dazu gehören auch Erwartungen und, wie Soziologen schreiben, Erwartungs-Erwartungen an andere und ihr Verhalten, vielleicht Annahmen über die „Geltung“ (oder vermutete Einhaltung) von Regeln und Normen durch andere, die letztlich für Geschichts- und Sozialwissenschaftler nur in (ii) sozialen Interaktionen überhaupt relevant sind, es sei denn, sie untersuchen sie als abstrakte Gegenstände. Diese spielen beiderseits wieder in (iii) intersozialsystemischen bindenden Relationen eine Rolle, also Verbindungen zwischen sozialen Systemen als solchen. Das ist alles nicht sonderlich überraschend, wäre es nicht so, dass die Rede von sozialen Relationen auch im Rahmen realistischer Sozialontologien recht unklar ist, gerade auch im Kontext der Rede von sozialen Strukturen. Solche Sozialsystem-Sozialsystem-Relationen sind in diesem Rahmen auch weniger mystisch als diejenigen, die wir oben am fiktiven Beispiel eines Marktgeschehens stipuliert haben. Bezogen auf Sozialsystem-Sozialsystem-Relationen gilt in der Systemik Folgendes: (Intersozialsystemrelationen) If  is a society, then (…) for any (bonding or nonbonding) system-to-system relation U in the family of subsystems of , there is a bonding person-to-person relation V in the structure of  such that, for any subsystems x and y of , if Uxy, then there is at least one component of a of x, and another b of y, such that Vab (Bunge 1979a, 222).

348

Soziologen unterscheiden manchmal zwischen „Interdependenzsituationen“ und „Interaktionssituationen“ (Schmid 2005b, 126). H. Esser schreibt unabhängig von dieser Unterscheidung: „Interdependenzen entstehen daraus, daß die Akteure nicht vollständig alle die Ressourcen kontrollieren, für die sie sich interessieren. Das ist eigentlich der überwiegende Normalfall und der Motor für das gesamte ‚interaktive‘ Geschehen in einer Gesellschaft“ (Esser 1999, 145). Hier haben wir im Rahmen der Systemik den Fall, in dem nichtbindende Relationen (Ähnlichkeiten), die hier wohl zumindest teilweise „Interdependenzen“ genannt werden, bindende Relationen ermöglichen und in gewissem Sinn determinieren, z. B. wenn ein Armer auf einen Reichen trifft. Natürlich geht auch hier ohne die Interessen und Hypothesen der Akteure über die Ressourcen von anderen nichts, worüber auch Ontologien nicht hinwegtäuschen sollten.

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Das heißt in anderen Worten, wenn eine Relation U zwischen zwei Sozialsystemen x und y als Ganzheiten besteht (kurz: Uxy), wobei sowohl x als auch y Subsysteme der Gesellschaft  sind, dann existiert eine konkrete Person a, die Komponente von x ist, und eine Person b, die eine Komponente von y ist, sodass diese in der Relation V stehen (kurz: Vab). Hier liegt zunächst kein großes Mysterium, daher sei ein Beispiel angefügt: „Factory a supplies concern b with merchandise (or goods) c, or Sabc for short. This boils down to the following: members of a produce c, and members of a (the same or different) deliver c to members of b“ (Bunge 1979a, 222). Anders gesagt: Ohne inter-personale Relationen gibt es keine SozialsystemSozialsystem-Relationen, was eigentlich trivial ist, wenn nicht gerade im Kontext der Rede von „sozialer Kausalität“ auch anderes behauptet werden würde, nämlich dass Soziales auch direkt auf anderes Soziale wirkt, dass es also (kausale) Relationen gibt, die irgendwie „jenseits“ konkreter und miteinander interagierender Personen liegen. Was ist also eine soziale Relation grob im Systemismus? Zunächst können wir festhalten, dass es zwei verschiedene Typen von sozialen Relationen im Systemismus gibt. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf die Relata. Im einen Fall von sozialer Relation sind die Relata konkrete Personen, im anderen Fall sind dies soziale Systeme. Von den ersten heißt es nun, sie seien die Grundlage für die anderen, wie schon nach dem vorherigen Kapitel zu vermuten gewesen ist: (Basale soziale Relationen) A root (or basic) social relation is a social relation that is (i) bonding, (ii) person to person (rather than system to system), and (iii) an interaction (rather than a one-sided action). We assume that all social relations are either basic or generated by relations of this kind (…) (Bunge 1979a, 222). Interessanterweise zitiert Bunge den Erzindividualisten George C. Homans mit dem Satz: „Repeated interactions between particular persons are the very guts and marrow of social life“ und kommentiert: „The systemist gives full assent to this view but he also admits intersystem bonds“ (Bunge 1977a, 234; vgl. z. B. Hedström 2008, 35). Das soll allerdings heißen, dass auch Relationen zwischen Sozialsystemen genauso real sind wie Intrasozialsystemrelationen zwischen Personen.349 Übrigens muss etwas Ähnliches sogar in der Schlachten-und-KriegeHistorie anerkannt werden, denn Kriege sind etwas Soziales, keine Ereignisse oder Prozesse, die bloß in Personen stattfinden. Trotz möglicher Seltsamkeit der Rede von Dingen/Systemen setzt wohl auch dieser Ansatz die Existenz von sozialen Systemen voraus (Armeen etc.), es sei denn, man beschreibt bloß isolierte Handlungen und Interaktionen der langbärtigen „Großen Männer“. Die sozial-psychischen Relationen, die ich oben hinzugefügt habe, und in denen auch Normen, Werte, Regeln, „Institutionen“ (Esser 2000d) und „Kultur“ (Esser 2001), z. B. die Kenntnis von „frames“ oder „Skripten“ des (sozialen) Handels – und was sonst noch – zu 349

Hier lauern ontologische Reduktionismusprobleme, also die Frage, ob Sozialsystem-SozialsystemRelationen nicht als inexistent aufgefasst werden sollen, also letztlich bloß diejenigen zwischen konkreten Personen bestehen. Das werden wir hier nicht klären können. Uns reicht der Hinweis, dass sich dieses Problem auch in der Betrachtung ganz normaler geschichtswissenschaftlicher Forschung stellen kann. So heißt es im Untertitel zu Kintzinger (2000): „Auswärtige Politik zwischen dem Reich, Frankreich, Burgund und England in der Regierungszeit Kaiser Sigismunds“, d. h. genauer, dort stehen keine Namen für konkrete Personen.

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situieren sind, sind hier in der Annahme versteckt, dass Interaktionen zwischen zwei Personen stattfinden und im Humansozialen als wechselseitig „bezogenes“ Handeln aufgefasst werden („soziales Handeln“), in dem Akteure Ziele verfolgen oder, was auf dasselbe hinausläuft, praktische Probleme lösen und lösen müssen (Kapitel 5.1). Man darf sich fragen, ob man hier zu diesem Handeln oder Interagieren in einer Ontologie jenseits der auch klärungsbedürftigen Kategorie der Verbindungen mehr sagen muss, damit es nicht nur klarer, sondern auch interessanter wird, oder ob man dann den legitimen Bereich von kategorialer Ontologie bereits verlässt und Sozialwissenschaft oder Sozialpsychologie betreibt, auf philosophischer Seite im berühmten Lehnstuhl. Das können wir hier offen lassen. Der idealtypische Systemist glaubt wie ein Begründer des Strukturindividualismus: „Interdependenzen sind des kollektiven d. h., besser, sozialsystemischen, dp Pudels Kern“ (Lindenberg 1977, 63). Was genauer diese Interdependenzen sozusagen inhaltlich auszeichnet, ist entweder Gegenstand von Psychologie und der Soziologie sozialer Relationen oder einer Philosophie sozialer Relationen, welche auf deren Ergebnissen aufbaut. Zu den Kategorien dieser Ontologie gehört nun auch etwas, das für Geschichts- oder Gesellschaftswissenschaften („Gesellschaftsgeschichte“) nicht ganz unwichtig ist, nämlich Gesellschaften. Vermutlich kommen sie in philosophischen Ontologien nur (noch) selten vor. Gesellschaften werden als Systeme von Systemen aufgefasst, wobei zur Unterscheidung der (Sub-)Systeme Typen von (sozialen) Relationen herangezogen werden: (Gesellschaft) A Human society is a system composed of four major subsystems: (a) the biological system, whose members are held together by sexual relations, kinship relations, child rearing, or friendship; (b) the economic system, whose bonds are relations of production and exchange; (c) the political system, whose specific functions are to manage the common goods and control the social activities; and (d) the cultural system, whose members engage in such cultural or moral activities as learning or teaching, informing or recording, discovering or inventing, designing or planning, singing or dancing, counselling or healing, worshipping or debating, and so on (Bunge 2001b, 107). Jedes soziale System als Subsystem einer Gesellschaft ist demnach eine Komponente von mindestens einem der obigen Systeme. Obwohl sicherlich kontrovers oder gerade weil es kontrovers ist, ist es nicht trivial, dass eine Gesellschaft hier eine ontologische Kategorie ist, denn zumindest im Systemismus darf man die Frage „Wie funktioniert eine moderne Gesellschaft?“ (Esser 2003) durchaus wörtlich nehmen, genauso wie die Frage von Mediävisten: „Wie funktionierte das Alte Reich?“ (Gotthard 2006).350 Auch vom zweiten Reich heißt es, „es war ein aus 25 Bundesstaaten sowie dem Reichsland Elsass-Lothringen bestehendes Gebilde“ (Burhop 2011, 82). Diese Gesellschaftsontologie ist allerdings aus meiner Sicht nicht der Kern des Systemismus (anders scheinbar Schmid 2006a) und muss nicht ins Zentrum gerückt werden, denn 350

Ein Philosoph sagt mir mal, „Gesellschaft” sei keine philosophische Kategorie, sondern wohl nur so etwas wie „Substanz”. Wie dem auch sei, die Rede von Kultur als materielles System kann irritieren, muss es aber nicht (Bunge 2010c, 129): „[C]ultures (in the sociological sense) are material systems because they are composed by concrete persons that produce or exchange cultural goods, from poems and theorems to blueprints and recipes, through concrete communication channels“. Trivial ist das nicht, weil z. B. manche Kommunikationssoziologien die kommunizierenden Menschen vergessen sollen (Bunge 2010c, 67).

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diese Rede von biotischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Systemen verdeckt eventuell, dass diese Ontologie genauso akteurnah ist wie z. B. der „Methodologische Lokalismus“ von D. Little oder der „strukturtheoretische Individualismus“ (Greshoff 2009; 7.6; Schmid 2006a fühlt sich an T. Parsons erinnert). Denn diese vier grobschlächtigen Systeme, die sich in jeder Gesellschaft finden lassen sollen, setzen sich aus unzähligen anderen verbundenen Sozialsystemen zusammen, in denen nie „das System“ das Szepter in der Hand hält, obwohl die Existenz von Gesellschaften angenommen wird, sondern konkrete Personen, was an der obigen Bestimmung von Intersystemrelationen bereits deutlich wird. F. Braudel hat den Dämpfer gegenüber holistischen Systemvorstellungen wohl schon formuliert, weshalb ich ihn eingangs bereits zitiert habe: „Nicht ein System, sondern Systeme …“ (Braudel 1986b [1979], 513). Auch hier wäre alles weiter Interessante natürlich den Sozialwissenschaften inklusive den Geschichtswissenschaften zu entnehmen, d. h. zu den unterschiedlichen Typen von Komponenten von entsprechenden Systemen, ihren typischen Relationen und auch Prozessen (7.3.5) oder Mechanismen (7.3.6). Die vermutete „Ebenen“-Struktur des Sozialen auf Erden können wir nun kurz und bündig zusammenfassen: (Supergesellschaft) A supersociety is a system composed of human societies. (Weltsystem) The world system is the supersociety composed of all the human societies. Es bleibt genug Klärungsbedarf, doch es sollte wenigstens plausibel sein, dass wir mit diesem ontologischen Unterkapitel nicht an Geschichts- und Sozialwissenschaftlern vorbeireden. Zum Beispiel forschen sie auch über die Europäische Union und ihre „Integration“ (Supergesellschaft) oder das „Weltsystem“, von dem es sogar mal mehrere gegeben haben soll (Wallerstein 1986, Eckstein 2006), wobei zu den theoretischen oder ontologischen Grundannahmen zu gehören scheint, dass sich auch solche Systeme in unterschiedlichen Epochen in mehreren Hinsichten unterscheiden können. Allein eine solche These setzt die Existenz jener Systeme voraus. Mit Verbindungen und nicht-bindenden Relationen waren wir schon fast bei den berühmtberüchtigten (sozialen) Strukturen angekommen. Und in deren Rahmen brauchen wir die nicht-bindenden und besonders die bindenden Relationen allein aus logischen Gründen, bevor wir über Strukturen reden können, selbst wenn – aus der hier eingenommenen Sicht – hier (mir) nicht alles völlig klar ist. Im Rahmen einer Klärungsskizze, deren Zweck auch darin liegt, Probleme zu finden, und vor dem Hintergrund der Vermutung (z. B. 7.6, Plenge 2014a/c), dass es andernorts auch nicht klarer ist, reicht uns dies an dieser Stelle. Dass es andernorts nicht klarer ist, legen auch die als Einstieg in unser nächsten Kapitel zitierten Autoren aus den Sozialwissenschaften deutlich nahe. Bedauerlicherweise haben sich Philosophen zur hier einschlägigen Terminologie bisher kaum klärend geäußert.

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7.3.4

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Strukturen, Umgebungen und Grenzen von Systemen und das CES-Modell Het is een modewoord geworden … (Slicher van Bath 1978, 125). Es indudable que, en los últimos tiempos, el concepto de estructura ha ocupado un lugar importante en la obra de los historiadores. Es igualmente cierto que estos últimos utilizan tal concepto en una gran variedad de acepciones (Cardoso/Brignoli 1984, 49). Der Strukturbegriff hat verschiedene Bedeutungen in der Soziologie, die sich nur schwer und wahrscheinlich gar nicht erschöpfend darstellen lassen (Boudon/Bourricaud 1992d, 555).

Die bisherige Skizze der Systemik können wir nun in Form des CES-Modells eines Systems einer Zusammenfassung zuführen. Hier wird auch erneut deutlich, dass die Ontologie eine direkte methodologische Seite hat. Im Rahmen des systemischen Ansatzes wird davon ausgegangen, dass jedes System eine Zusammensetzung oder Komposition („Composition“), eine Umgebung („Environment“) und eine Struktur („Structure“) hat. Ins Deutsche übertragen ergibt sich das ZUS-Modell (Zusammensetzung, Umgebung, Struktur; Bunge/Mahner 2004). Genauer lässt sich jedes konkrete System s zu jedem Zeitpunkt t seiner Existenz durch das folgende Minimodell m(s, t) = beschreiben, dabei ist C(s,t) die Menge aller Komponenten von s zum Zeitpunkt t; E(s,t) die Menge der Dinge, die keine Komponenten von s sind, zum Zeitpunkt t; S(s,t) die Menge aller Relationen zwischen den Komponenten C von s zum Zeitpunkt t und jenen Komponenten E von s zum Zeitpunkt t. (Siehe z. B. Bunge 1977b, 293; 1993, 217; 1996.) Die Verbindung zum Vorangegangenen ist nun leicht herzustellen. Zum einen ist mit dem Begriff „Struktur“ im Systemismus immer die Struktur eines Systems gemeint. Anders gesagt, wer von Strukturen redet, der muss auch von Systemen und ferner ihren Komponenten reden. Viele Probleme in der Rede von „sozialen Strukturen“ außerhalb der Systemik rühren daher, dass Strukturen ontologisch irgendwie als eigenständig aufgefasst werden und die Rede von Strukturen in keinen weiteren ontologischen Kontext eingebettet ist. Diese ontologische Architektonik in Form des CES-Modells sorgt dafür, dass der Systemismus weniger spektakulär klingt als anderes in der Sozial(meta)theorie und Sozialontologie, macht ihn aber auch eventuell realistischer, forschungsnäher und vor allem klarer. Die Struktur eines Systems ist also die Gesamtheit der Relationen zwischen den Komponenten eines Systems (interne Struktur). Die Komponenten von Systemen sind Dinge/Systeme, keine Eigenschaften und keine Ereignisse oder „Variablen“. Gemäß der Unterscheidung zwischen bindenden Relationen und nicht-bindenden Relationen lässt sich diese Menge von Relationen in zwei Untermengen teilen: (a) die „system structure (or bondage)“ und (b) die „spatial structure (or configuration)“ (Bunge 1979a, 11). Das gilt für die Menge von Relationen, die zwischen dem Komponenten des Systems bestehen, d. h. für die interne Struktur des Systems (Abbildung 28), und die Menge von Relationen, die Komponenten des Systems mit der Umgebung haben, also die externe Struktur des Systems. Letztere wird auch als Exostruktur bezeichnet, erstere als Endostruktur. Wenn man aus der Endostruktur wie der Exostruktur eine Gesamtmenge bilden würde, ließe sich von der totalen Struktur eines Systems sprechen (Bunge 1995, 15). Zeitliche Relationen kommen dann hinzu, wenn man Veränderungen der Komponenten, Interaktionen zwischen Komponenten oder auch Veränderungen des Systems annimmt bzw. kategorial hinzufügt (7.3.5).

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Abbildung 28

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Ein System aus vier Komponenten. Die Gesamtheit der Pfeile („bondage“ oder Systemstruktur) und der Kanten („configuration“ oder räumliche Struktur“) ist die Struktur eines beliebigen Systems zu einem Zeitpunkt und als solche eine emergente Eigenschaft des Systems.

Andere Wörter zur Bezeichnung dessen, was im Systemismus „Struktur“ (eines Systems) genannt wird, sind „Organisation“, „Konstellation“, „Konfiguration“, „Kombination“, „Architektur“, „Ordnung“, „Arrangement“, „Organisationsstruktur“ (Kriedte 1991, 89) und vermutlich vieles mehr, z. B. in den Geschichtswissenschaften manchmal „Verfassung“, das allerdings in diesen Kontexten auch Nähen zu „Zustand“ oder auch „System“ aufweist (neben anderem). Viererlei ist im Anschluss an diese Strukturontologie im Kontext von Geschichtsund Sozialtheorie mindestens eine Feststellung wert, da es etwas zu klären verspricht. (1) Aggregate haben im Unterschied zu Systemen keine Systemstruktur (oder Verbindungsstruktur = „bondage“), obwohl sie eine räumliche Struktur (oder Konfiguration) haben. Man denke an die Menge von Menschen auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt oder die „Schlange“ an der Supermarktkasse. Übrigens heißt dies auch, was früher mal „truistic social atomism“ genannt wurde, nämlich die Doktrin, die in dem Slogan „society consists of individuals“ zusammengefasst werden kann, ist keine Binsenweisheit, sondern im systemischen Rahmen ist dies schlicht falsch (vgl. z. B. Bunge 1984b, 15). Soziale Systeme – oder „Gesellschaft“ in der unbestimmten Redeweise in mancher Sozialtheorie – bestehen, erstens, aus miteinander verbundenen Personen, zweitens, aus miteinander verbundenen sozialen Systemen. Soziale Aggregate bestehen aus Personen ohne weiteren Zusatz, außer nicht-bindenden Relationen. Dass diese Verbindungen auch sozial-psychisch und Interaktionen sind, ferner weiterer Klärung bedürfen, ändert an diesem Umstand nichts, der von eigentlich allen Geschichtsund Sozialwissenschaftlern anerkannt wird, obwohl die „Struktur“-, „Relations“- und „Beziehungs“-Terminologie überall recht unklar zu sein scheint. Das heißt, dass im Rahmen der systemischen Ontologie Ausdrücke wie „strukturelle Aggregationen“ zur Bezeichnung von Sozialem (z.B. Greshoff 2008a, 127) ein Widerspruch in sich sind. Denn im Systemismus gilt, wenn etwas ein Aggregat (oder eine Aggregation) ist, dann hat es keine bindende Struktur, und wenn etwas eine bindende Struktur hat, dann ist es ein System. Die Verbindungen sind jedoch dasjenige, was Sozialwissenschaftler gewöhnlich im Unterschied zu räumlichen Relationen als relevant erachten. Wenn beispielsweise der Soziologe A. King in Kritik an der Soziologin M. Archer behauptet, „division of labour consists of other people, which means that it is substantially autonomous of each individual, but not

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more than all of them“ (King 1999, 213), ist das aus systemistischer Sicht richtig und zugleich falsch. Es ist falsch, wenn man die unterschiedlichen Relationen dabei vergisst und nicht konkret benennt. Es ist truistisch, wenn man die Relationen hinzufügt. Ceteris Paribus ist auch der „Situationist“ oder „Interpretativist“ ein Systemist, d. h., wenn man Unklarheiten um den Ausdruck „Situation“ ausblendet und für „Gruppe“ „System“ einsetzt: „The group with all its internal and external relations is the primary social fact and the individual is a product of the group“ (King 2007, 218). „Produkt“ ist hier wieder klärungsbedürftig (7.5, 7.6). (2) Mit diesem Strukturbegriff ist auch verbunden, dass alle Formen von (sozialen) „Interdependenzverhältnissen“ (Schmid 2011a, 217), „Machtstruktur“ (Esser 2000d, 295), Hierarchien, Positionen und ähnlichem, z. B. die in den Sozialwissenschaften teilweise zentralen Netzwerke, die im Rahmen der systemischen Ontologie schlicht „Systeme“ genannt werden351, hier abgebildet werden müssen und abgebildet werden können müssen, denn die Struktur eines Systems ist ja die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Komponenten des Systems. Was Soziologen manchmal „Beziehungsverhältnisse“ (Schmid 2006a, 23) oder „Abhängigkeitsverhältnisse“ (Schmid 2009, 149 f.) nennen, findet hier Platz und wird verwirrend generisch in aller Regel als „soziale Relation“ bezeichnet. Dazu sollten auch „dynastische Bindungen“ zu zählen sein (Kintzinger 2000, 29 ff.). Auch „jenes Geflecht von Verbindungen (…), das innerhalb der römischen Nobilität bestand und vor allem bei den Wahlen der römischen Magistrate sichtbar wurde“ (Christ 1980, 69), um dessen Existenz Altgeschichtswissenschaftler seit einem Jahrhundert streiten, gehört in diese ontologische Schublade. Anders gesagt, die Herausforderung einer jeden Sozialontologie, die Sozialwissenschaftler präsumtiv ernst nimmt, dürfte sein, dasjenige, was Soziologen und Sozialpsychologen (etc.) „soziale Beziehung“ oder „soziale Relation“ nennen, hier unterzubringen, was natürlich bedeutet, dass man diese in einer Philosophie der (sozialen) Relationen bereits abgebildet haben muss (7.3.3), denn eine Struktur ist ja eine Gesamtheit aus solchen Relationen. Auch dasjenige, was der Geschichtswissenschaftler Jones (1960, 188) „guild organization“ nennt, die überall in der Kleidungsindustrie im Untersuchungszeitraum üblich gewesen sein soll, ist im Systemismus die Struktur eines sozialen Systems, also einer Gilde, und diese Struktur setzt sich aus den Relationen zwischen konkreten Personen zusammen, den Mitgliedern der Gilde. Die sogenannte „Organisation“ kann natürlich, was eigentlich klar ist, gar nichts anderes betreffen als dasjenige, was organisiert ist, und das sind die jeweiligen Komponenten. Wenn von 351

In einem Lexikon der „Grundbegriffe“ der „Soziologie und Sozialtheorie“ heißt es: „Unter einem ‚N[etzwerk]‘ versteht man allgemein eine Menge von Knoten, die mittels Kanten, links oder ties miteinander verbunden sind. Die Knoten eines sozialen N[etzwerks] bilden soziale Akteure wie z. B. Personen, Gruppen, Organisationen, Nationen, Institutionen, Vereine. … N[etzwerke] können klein (z. B. Familie, Freundeskreis) oder groß sein (z. B. das Internet)“ (Bellinger/Krieger 2008, 204). Lässt man Details beiseite, muss dies nicht weiter kommentiert werden, d. h. im Rahmen der Ontologie des Systemismus sind dies soziale Systeme. Das Problem ist oft in den Sozialwissenschaften, dass der Ausdruck „System“ mit holistischen Sozialtheorien verbunden ist und daher gemieden wird. Von einem ähnlichen Strukturverständnis ist überall zu lesen, wenn man die systemische Brille aufsetzt. Wenn manche Soziologen von „Systemintegration“ und „Sozialintegration“ sprechen, dann haben sie Mengen bestimmter Typen von Relationen in einer definiten Menge von Komponenten bzw. Relata (zu einem Zeitpunkt) vor Augen (Esser 2000a, 270), also dasjenige, was im Systemismus „Struktur des Systems“ genannt wird, wenn sie auch vielleicht andere Vorstellungen von den Typen von Relata haben und an dieser Stelle unter Umständen das Wort „Struktur“ nicht verwenden, sondern dieses zur Bezeichnung von anderem reservieren. „Systemintegration“ bezieht sich auf die Gesamtheit der Relationen zwischen Sozialsystemen und „Sozialintegration“ auf die Gesamtheit der Relationen von Akteuren zu anderen Akteuren. Diese Sozialtheoretiker sind also eventuell Krypto-Systemisten im philosophischen Sinn, obwohl sie keine Systemtheoretiker im soziologischen Sinn sein wollen. Unter der Hand taucht dies in geschichtswissenschaftlichen Texten auf, wenn von „Konzentrationsprozessen“ (z. B. Wehler 1994 [1973]) in ganzen Industrien z. B. geschrieben wird, was übersetzt ein Prozess der Systemintegration ist.

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„regulierten Handlungssystemen“ (Schmid 2011a, 236) oder „social action systems“ (T. Fararo) die Rede ist, hat ein idealtypischer (philosophischer) Systemist kein terminologisches Problem, schließlich sind Sozialsysteme im Rahmen des emergentistisch-materialistischen Sozialsystemismus letztlich Gebilde oder, wenn man will, Aggregate aus interdependenten und interagierenden Personen. „Woraus auch sonst?“, würde H. Esser fragen, obwohl er wohl in seinem Fach mit Einwänden rechnen würde. Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht abwegig, den Systemismus auch stellenweise in dem früher berühmten Forschungsüberblick von M. Bloch (1970) zu erahnen, wenn dieser seigneuries oder villae untersucht und – in systemischen Kategorien gedeutet – deren Struktur andeutet.352 (3) In der systemischen Ontologie gibt es, wohl wieder im Unterschied zu mancher System-Theorie, keine System-Umwelt-Interaktion, da die Umwelt eine Menge von Dingen ist. Deren Elemente können mit Komponenten des Systems interagieren, nicht aber die Umwelt mit dem System. Was es gibt, sind also System-System-Aktionen und –Interaktionen (Bunge/Mahner 1997, 2004). Auf die damit im Soziohistorischen verbundene Problematik um dasjenige, was „soziale Kausalität“ genannt wird, kommen wir später zurück (7.4). (4) Die Struktur eines Systems ist eine Menge von Relationen zwischen den Komponenten des jeweiligen Systems. Wenn man die Komponenten eines Systems als Kreise oder Knoten und die Relationen als Pfeile (bonds) und Kanten (non-bonds) darstellt (Abbildung 28353), dann bezeichnet der Ausdruck „Struktur“ eben die Gesamtheit dieser Pfeile und Kanten. Damit ist eine Struktur kein Ding, das Eigenschaften hat. Regelmäßig heißt es z. B., Akteure (Personen) und soziale Strukturen und sogenannte „Institutionen“ seien „fundamentally different kinds of things“ (Fleetwood 2008, 243). Akteure (Menschen) und soziale Systeme sind innerhalb des Rahmens der Systemik Dinge (Systeme). Strukturen und „Institutionen“ (7.6) sind es nicht. Zu Verwirrung führt in der Metaliteratur seit Jahrzehnten, dass mit „die Struktur“ teilweise das gemeint wird, was hier „System“ genannt wird. Zum Beispiel heißt es: „Organisations (…) are structures made up of individual actors“ (Hodgson 2006, 10). Manchmal ist von „structure-as-whole“ bei Autoren die Rede, die im Grunde dasjenige ins Zentrum rücken wollen, was hier „System“ genannt wird (Elder-Vass 2010, 80). Da eine Systemkategorie dort fehlt, muss dann mehrdeutig von „Strukturen“ gesprochen werden, nämlich „structure-aswhole“ und „structure-as-relation“ usw. (siehe auch Lopez/Scott 2000). Genauso verhält es sich mit „Institution“ und mit „Mechanismus“ (Wan 2011a, 145, 7.6).354

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Vor dem folgenden Abschnitt verwendet Bloch den Ausdruck „Institution“, wenn er über das Alter der seigneurie und deren Ursprung im Mittelalter schreibt. Es heißt dann über die seigneuries: „Frankish Gaul appears as a land divided into a very large number of seigneuries, which are usually described as villae, although this expression is already acquiring the meaning of inhabited place. In territorial terms a seigneurie or villa means an estate so organised that a large part of the profits from the soil accrue directly or indirectly to a single master; in human terms it is a group of people subjected to a single superior“ (Bloch 1970, 64). Im Rahmen der Systemik ist das bereits eine Skizze eines Modells eines Systems. Immerhin schreibt Bloch stellenweise auch von „the seigneurial system“ (ebd. 76 f.) Blochs fortwährende und parallele Verwendung von „System“ und „Institution“ kann hier nicht untersucht werden. Seltener fällt der Ausdruck „soziale Struktur“. Vor dem Hintergrund des Systemismus erblickt man auch im Kapitel mit der Überschrift „Struktur der Dörfer“ von R. Mandrou (1998, 82 ff.), der ebenfalls dem Annales-Kontext entstammt, CESModelle. Nicht gänzlich zufällig werden – aus systemischer Perspektive – die Strukturen von solchen Systemen, die zumeist als „formale Organisationen“ bezeichnet werden, völlig abstrakt in Form von Organigrammen dargestellt, z. B. im Fall des Bundesministeriums des Inneren in einem Buch mit dem Titel „Das politische System der Bundesrepublik Deutschland“; Rudzio 2006, 262. Häufig ist auch von „institutional structure“ (Hodgson 1989, 62) und „institutionellen Strukturen“ (Greshoff 2015, 68)“ die Rede, z. B. auch in der Anatomie (3.1.3, Hölkeskamp 2011, X f.). In aller Regel ist es so,

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Gänzlich aufarbeiten können wir diese Terminologie hier natürlich nicht: „Social structure is one of the most central concepts in sociology“ (Porpora 1989, 19). Andererseits gilt bedauerlicherweise wohl auch: „Writing on social structure has been scattered, piecemeal, and not particularly cumulative. Strangely, sociologists have been reticent in making their analyses of social structure more explicit“ (Crother 2002, 35). Das scheint auch für Geschichtswissenschaftler zu gelten. Auch emergente und resultierende Eigenschaften werden teilweise „Struktur“ genannt und, wie ich fürchte, auch Aggregate und Gruppen. Was Sozialwissenschaftler, darunter Geschichtswissenschaftler, mit „Struktur“, zum Beispiel mit „Interaktionsstruktur“ oder „Opportunitätsstruktur“, „Sozialstruktur“ oder „soziale Struktur“ meinen, ist regelmäßig wohl nur im Einzelfall zu klären. Eine philosophische Aufklärung dieser Terminologie ist mir nicht bekannt, obwohl sie gerade auch in der Geschichtstheorie und geschichtswissenschaftlicher Forschung endemisch ist.355 Ich werde gleich einen kleinen Exkurs wagen. (5) In Rahmen des Systemismus sind Strukturen also weder Dinge noch Systeme (komplexe Dinge). Die Behandlung von Strukturen, als ob sie Dinge wären, ist im systemischen Rahmen ein Fall von Verdinglichung oder Reifizierung, der besonders im Determinationsund/oder Kausalitätskontext relevant ist (7.4). Unter „Verdinglichung“ wird hier jeder Fall verstanden, in dem jemand „Eigenschaften, Relationen, Prozesse oder Ideen behandelt, als wären sie Dinge“ (Bunge 2003b, 247). Strukturen sind im Systemismus Eigenschaften von Systemen. Reifizierung von einer falschen Sorte droht sehr schnell genau dann, wenn Strukturen als „Entitäten“ bezeichnet werden: „Structures (as emergent entities) are not only irreducible to people, they pre-exist them“ (Archer 1995, 71). Was Archer genau mit „Strukturen“ und ihrer Prä-Existenz meint, soll hier nicht Thema sein, zumal dies vielleicht nicht ganz klar ist. Es sollte aber klar sein, dass ihre Behauptung im Rahmen der systemischen Ontologie nicht zutreffen kann oder unklar ist, was auch am Fehlen einer klaren Systemkategorie liegen könnte. Strukturen in diesem Sinne können nicht ohne ihre Relata existieren. Wenn Strukturen, d. h. an dieser Stelle Mengen von Relationen zwischen Dingen, erstmal verdinglicht sind, dann liegt natürlich der im Kritischen Realismus verbreitete Gedanke, Strukturen verursachten irgendetwas, nahe oder wird zumindest plausibler. Bevor wir diese Frage später angehen, halten wir fest: Strukturen von Systemen sind im Systemismus Eigenschaften, keine Dinge, wenn auch Eigenschaften von herausragender Bedeutung: „The structure of a system is its key emergent property“ (Bunge 1996, 21). Wir können nun ergänzen, dass es sich bei der Struktur eines Systems um eine globale emergente Eigenschaft handelt. Das heißt der Definition von „emergente Eigenschaft“ gemäß, dass die Gesamtheit der Relationen zwischen den Komponenten des Systems keine Eigenschaft einer der Komponenten ist, sondern eine des Systems.356 Dass die Struktur eines Systems x einen fundamentalen Unterschied im Vergleich mit einer anderen Struktur eines Systems y ausmacht oder ausmachen kann, lässt sich daran einsichtig machen, dass dieselbe Menge von Dingen/Systemen, die in unterschiedlichen Relationen miteinander stehen oder in diese eintreten, unterschiedliche Systeme konstituieren können. Auf der sozialen Ebene ist der Fall möglich, dass 11 Personen morgens eine Anwaltskanzlei, mittags eine Fußballmannschaft und abends ein Swingerklub sind. Weniger eingän-

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dass hiermit die mentalen Gehalte von Personen, die sozialen Relationen und Interaktionen mit anderen zugrunde liegen, begrifflich zusammengefasst werden. In der Geschichtstheorie ist nach wie vor Lloyd 1993 die erste Anlaufstelle. Will man ontologisch die Existenz sozialer Systeme bestreiten, dann liegt es nahe, diese Annahme zu bestreiten und zu sagen, es existierten einzig und allein die jeweiligen Relationen zwischen zwei Komponenten, wobei man dann aufhören muss, von Komponenten zu sprechen.

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gig ist ein potenzielles Beispiel aus der „Anatomie“, nämlich der Fall (Shepherd 1988), in dem Landbesitzer sich dazu entscheiden, ihr Land nicht selbst zu managen und zu bewirtschaften, sondern es zu verleihen. Hier ändert sich neben der Struktur des Systems auch dessen Komposition, z. B. kann es sein, dass dessen Komponenten plötzlich nicht mehr Personen (z. B. Arbeiter), sondern Sozialsysteme sind (z. B. Familien von Landleihern). Der Soziologe J. Mackert (2006, 123) schreibt demgemäß aus systemischer Perspektive ganz richtig, dass der „weitest reichende qualitative Wandel (…) die Veränderung der Struktur eines Systems“ ist, wobei es im Fall sozialer Systeme eben so ist, dass Personen in einem Zeitraum zumeist gleichzeitig Komponenten ganz unterschiedlicher sozialer Systeme sind (z. B. von unterschiedlichen familiae im Mittelalter; vgl. Linck 1979), was die Angelegenheit hier wohl auch teilweise komplexer macht als in anderen Wissenschaften von Systemen (was hier allerdings Spekulation ist). Einige weitere Beispiele könnten den Punkt vorläufig nach Hause bringen: Structure (organization, architecture) is what distinguishes a system from a collection, such as the set of its constituent. Structure is what distinguishes a living cell from the collection of its molecules; a body from its disjecta membra; a working machine from its parts; a labor union from a sector of the working class; or a political party from a part of the electorate (Bunge 2004b, 372 f.; vgl. Bunge 2008, 39). Die Struktur eines Systems ist die emergente „Schlüsseleigenschaft“, weil sie den Ganzheitsoder Systemcharakter, d. h. die Integration des Systems ausmacht. So lautet zumindest die realistische Hypothese in dieser Ontologie. Die Struktur konstituiert den Ganzheitscharakter der Systeme. Die terminologische Konfusion in den Sozialwissenschaften zeigt sich auch daran, dass ein strenger ontologischer Individualist (siehe auch Abbildung 26, S. 377, 7.3) diese Relationen eventuell genauso wenig kennen darf wie die daraus konstituierten Systeme, obwohl wohl die wenigsten methodologischen Individualisten solche Relationen, solche Strukturen und solche Systeme ablehnen. Was sie ablehnen, ist ein strenger „Struktur“-Determinismus und holistische Erklärungen, wobei der Determinismus im Rahmen der Systemik ohnehin zweifelhaft ist, weil es zu sozialen Relationen und damit zu Strukturen letztlich nur kommt, wenn die Akteure irgendetwas machen und interagieren. Aus der systemischen Sicht sind diese Individualisten dann natürlich weder Individualisten noch Holisten, sondern Systemisten. Es sei aber darauf hingewiesen, dass der heikle Punkt, der sozusagen den philosophischen Streit bei sonst gleichen Annahmen ausmacht oder ausmachen kann, gerade und einzig und allein dieser Ganzheitscharakter ist. Halten wir als Zwischenfazit fest: Die logische Abfolge der begrifflichen Komponenten des ontologischen CES-Modells ist klar und zunächst völlig einsichtig. Man nehme zuerst die Komponenten, die zum System s gehören, nämlich C(s). Man nehme dann alle Komponenten, die nicht zum System gehören, nämlich E(s). Man füge die Gesamtheit der bindenden und nicht-bindenden Relationen hinzu, nämlich die totale Struktur des Systems, nämlich S(s). Nehmen wir räumliche Relationen als Beispiel, dann ist klar, dass im Grunde das gesamte Universum zu einem Zeitpunkt zur Umgebung (oder Umwelt) des Systems gehört, und dass es von der Spezifikation der Ebene des Systems und epistemischen Interessen abhängt, mit welchen Komponenten der Umwelt das System oder dessen Komponenten in interessierenden Relationen stehen. Wenn man einmal ein Innen eines Systems, also C(s), und ein Außen, also E(s), unterschieden hat, liegt es nah, zu stipulieren, dass auch Folgendes gilt: „Every concrete system, except for the universe as a whole, has a boundary“ (Bunge 1992a, 217). Die Grenze eines System wird nun im Systemismus als die Untermenge der Komponenten des Systems bestimmt, die direkte Verbindungen oder Verknüpfungen („links“, „bonds“)

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mit Komponenten der Umgebung haben, d. h., ohne dass andere Dinge zwischen die Komponente der Grenze des Systems und eine jeweilige Komponente der Nachbarschaft des Systems treten. Die Nachbarschaft (oder direkte Umgebung) eines Systems ist die Menge an Komponenten der Umwelt, mit denen Komponenten der Grenze, die (natürlich) Komponenten des Systems sind, direkt verbunden sind oder interagieren (Bunge 1992a). Damit kann das methodologische Problem der Bestimmung von Systemgrenzen folgendermaßen eingezäunt werden: „The problem of drawing the boundary of a system is not one of drawing: It consists in identifying the system components that are directly coupled to environmental items“ (Bunge 1992a, 219). Das heißt, wo keine geometrischen oder räumlichen Grenzen existieren, kann man diese nicht als Linie in einem Modell des Systems „malen“, sondern muss die direkten Verbindungen und Interaktionen zwischen Grenz-Komponenten des Systems und Komponenten der Umwelt (d. i. die Nachbarschaft des Systems) in den Blick nehmen. Bunge nennt als Beispiele für Sozialsystemgrenzen Folgendes: [T]he components of the sales department of a business firm constitute what may be called its sales boundary, whereas the people in charge of publicity constitute the publicity boundary of the firm. On the other hand the employees whose roles do not involve any direct dealings with individuals or organizations outside the firm are the latter’s interior components (Bunge 1992a, 218). Hier muss kurz bemerkt werden, dass letztere „interior components“ nicht jene Komponten C(s) eines Systems sind, sondern jene Komponenten, die nicht zur Systemgrenze gehören. Ein handliches und vielleicht kontra-„intuitives“ Beispiel für Grenzen aus der Mediävistik dürften Gesandte als eine Grenze von mittelalterlichen Höfen (Systemen) in einem übergeordneten internationalen politischen System sein, z. B. die Gesandten am Hof von Sigismund von Luxemburg, die dieser durch Europa schickte (Kintzinger 2000; zum „Internationalen System“ Bunge 1977b). Ähnliches dürfte für das „Roman interstate system“ gelten (Eckstein 2006). Wie auch immer, dies lädt wieder zu Fallstudien ein. Der Fall ist auch denkbar, in dem alle Komponenten eines Systems zu einem Zeitpunkt zur Systemgrenze gehören, das System hohl ist (Bunge 1992a), also keine inneren Komponenten hat. Man denke an zwei Fußballmannschaften innerhalb des Rechtecks während der 90 Minuten, die ein Spiel gesetzmäßig dauert. Warum ist das alles aber nicht bloß ontologisch interessant, sondern auch forschungspraktisch bzw. methodologisch? Wenn es im Rahmen von epistemischen oder methodologischen Fragen heißt, man könne ein x verstehen, indem man es in „external relations“ einordnet (J. R. Martin 1970; siehe auch Kapitel 5) oder, was dasselbe heißen soll, die Relationen von x mit anderen y aufzuzeigen, dann muss man erläutern, was „extern“ bedeutet, was x und was y jeweils ist und welches die Relationen sind. Im Bereich des Sozialen ist die Rede von externen und internen Relationen bloße Metaphorik, wenn diese Relationen räumlich verstanden werden, aber nichts weiter dazu gesagt wird, was „intern“ und „extern“ eigentlich im Verhältnis wozu heißen soll. Dieser Begriff einer Systemgrenze, der auch methodologische Fragen der Bestimmung aufwirft, ist also auch bezüglich des Hauptziels von (Geschichts-) Wissenschaftlern relevant, nämlich Verstehen, wenn man unter „Verstehen“ etwas wie in Kapitel 5.5 versteht. Dass die These, jedes System habe eine Grenze, nicht trivial ist, wie zunächst (7.6) nichts an einer solchen Ontologie trivial ist, ließe sich in Anwendung auf vormoderne Staaten illustrieren. Schließlich diskutierten Mediävisten und Frühneuzeitler mal das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Grenzen bezüglich der Frage, ob sie Staaten erforschen, und sie verneinten das Vorhandensein von Grenzen. Im Sinne klarer räumlicher oder territorialer Grenzen mit Zaun und Schlagbaum ist die These wohl falsch, dass vormoderne Sozialsysteme

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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oder Politsysteme Grenzen hatten. Im obigen Sinne muss die Verneinung falsch sein, wenn die ontologische These zutrifft. Die Annahme könnte sich entweder als heikel erweisen, wenn es um „Makro“-Systeme geht. Die Annahme ist aber in jedem Fall heuristisch fruchtbar, da sie ganz einfach dazu zwingt, das jeweilige System und mithin die Komponenten überhaupt möglichst exakt zu benennen. Der Soziologe H. Esser (1991, 46; vgl. 200d, 155) behauptete, die Untersuchung der „Logik der Situation“ im Modell sozialwissenschaftlicher Erklärung setzte „die Abgrenzung eines ‚Interaktions-Systems‘ von (typischen) Akteuren von einer ‚Umwelt‘“ voraus. Hier wird also innerhalb einer Sozialtheorie eine ganz ähnliche Sicht der Dinge andeutungsweise vertreten. Genaueres wäre eigens zu prüfen (7.6). Vielleicht ist der Gedanke im Rahmen einer Ontologie seltsam, aber ausgeschlossen scheint nicht, dass die Systemik bestimmte Fragen im Rahmen der Geschichtswissenschaften auch ansatzweise zu klären helfen vermag: Wer den Versuch unternimmt, sich ‚der Frage nach den Außenbeziehungen‘ des spätmittelalterlichen Reichs zu nähern, stößt schon bald auf ungewohnte Schwierigkeiten: Worum soll es genau gehen, und wie läßt sich dies unmißverständlich bezeichnen? Seit einigen Jahren wird hierzu verstärkt gearbeitet, nicht nur in der Mediävistik, auch in der Frühneuzeitforschung. Ein allgemein anerkannter Ansatz, den Gegenstand zu beschreiben und begrifflich zu definieren, steht noch nicht bereit (Kintzinger 2000, 17). Und was für ein Ding ist eigentlich das spätmittelalterliche Reich? Mediävisten rätseln oder forschen darüber seit mehr als einem Jahrhundert. Doch nun wird es erst recht heiß, denn wir nähern uns einem ontologischen Geschichtsbegriff. Damit wir uns die Finger nicht mehr in diesem Kapitel verbrennen, starten wir besser ein neues. Eines der größten ontologischen Probleme scheint nach wie vor zu sein, wie man gleichzeitig die Statik oder synchrone Existenz von irgendetwas und dessen Veränderung und Persistenz denken können soll. Ersteres wird im geschichts- und sozialtheoretischen Kontext regelmäßig mit Ausdrücken wie „System“, „Struktur“ oder auch „Institution“ versucht, Letzteres zumeist mit „Prozess“ oder auch „Geschichte“, beinahe nie mit „Ereignis“. Systematisch zusammengeführt wurde beides bisher im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaftsmetatheorie oder –philosophie scheinbar nicht – außer in der Systemik.

Exkurs: Ein kurzer systemischer Blick auf „Struktur“ Das Klärungspotenzial der systemischen Begriffsarchitektonik wird gerade im Kontext der vielfältigen Rede von „Struktur“ deutlich, denn anhand dieser Architektonik lassen sich einige, wenn nicht perspektivisch alle Strukturbegrifflichkeiten ansatzweise erhellend einordnen. Folgende Verwendungen von „Struktur“ findet man minimal bei jedem kurzen Blick in die Literatur: (1) Eine Struktur ist eine Ganzheit aus miteinander verbundenen (oder in Relationen stehenden) konkreten Entitäten („structure-as-whole“, Elder-Vass 2010). Im Rahmen der Systemik ist dies ein System.

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(2) Eine Struktur ist die Gesamtheit von Relationen zwischen den konkreten Entitäten, die eine Ganzheit bilden („structure-as-relation“, Elder-Vass 2010). Auch in der Systemik heißt dies „Struktur“. (3) Eine Struktur ist die Gesamtheit („System“) von Relationen zwischen sozialen Positionen, nicht zwischen konkreten Personen, wobei diese Positionen und ihre Relationen sozusagen „hinter“ den konkreten Personen im „transcendental realm of being“ (Kaidesoja 2007) situiert sind (Bhaskar 1979, Porpora 1989; siehe dazu Kaidesoja 2007, 2013). Dies gilt im systemischen emergentistischen Materialismus als inexistent. (4) Eine Struktur ist eine Eigenschaft eines Ganzen. (Oder: Eine soziale Struktur ist eine soziale Eigenschaft eines sozialen Ganzen.) Teilweise werden diese Eigenschaften als causal powers aufgefasst (Kritischer Realismus). In der Systemik sind dies resultierende und emergente Eigenschaften und diese werden nicht „Struktur“ genannt. Causal powers existieren im Rahmen der Systemik ferner nicht. (5) Eine Struktur ist die Gesamtheit der dauerhaften Eigenschaften von etwas. Im Rahmen der Systemik ist dies der Zustand eines Systems (7.3.5), soweit er konstant bleibt. (6) Eine Struktur ist die Menge der nomologisch verbundenen globalen (oder emergenten) Eigenschaften eines Systems (so P. M. Blau nach Porpora 1989). Im Rahmen der Systemik ist dieses Verständnis inexistent, obwohl über Gesetzmäßigkeiten zwischen sozialen Eigenschaften teilweise nachgedacht wird (Bunge 1996). Diese Gesetzmäßigkeiten (Regularitäten) oder deren Gesamtheit werden aber nicht „Struktur“ genannt, sondern „Gesetz“ oder „Muster“.357

357

Bei diesen Gesetzmäßigkeiten würde es sich in einer Variante um Verbindungen der Werte von zwei emergenten Eigenschaften eines Systems handeln, des berühmten x in „Für alle x gilt, wenn x F ist, dann ist x auch G“. Wenn sich der Wert der einen Eigenschaft ändert, ändert sich der Wert der anderen Eigenschaft („nomologisch“, „universal“, „typischerweise“, „normalerweise“). Hier kann man die Frage, die an Hempel gerichtet worden ist (Kapitel 6.1) also in einem Fall beantworten, was zu weiterem, aber explizitem, ontologischen Ballast führt. Solche Gesetzmäßigkeiten sind aber offenbar kaum bekannt. Über ein mögliches Beispiel sind wir bereits gestolpert: „1. Zunehmende Größe erzeugt [!?] zu einem abnehmenden Grad strukturelle Differenzierung in Organisationen in verschiedenen Dimensionen. 2. Strukturelle Differenzierung in Organisationen erweitert die administrative Komponente“ (Hedström 2008, 34). Vor dem Hintergrund u. a. der These, dass Wissenschaftler keine philosophischen Kriterien für die Gesetzesartigkeit von Aussagen brauchen, soweit die regelmäßigen Zusammenhänge mit plausiblen Hypothesen modellierbar sind, verwendet M. Bunge den Ausdruck „Gesetz“ recht permissiv, teilweise mit der Bedeutung „objektives Muster“. Das erlaubt auch historisch-beschränkte Gesetzmäßigkeiten (und begrenzt wahre Gesetzesaussagen), von der Physik aufwärts, wobei die Entstehung dieser Gesetzmäßigkeiten auch als historisch erklärbar gilt; siehe z. B. Bunge (2009b [1959], 1967a/b, 1996, 1998). Auch hier ergeben sich Probleme wie Möglichkeiten wie andernorts (Kapitel 6.1, 8.2).

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

417

(7) Eine Struktur ist eine Menge („System“) von Regeln, Normen, Bräuchen, Mentalitäten (passim) oder Erwartungen (Greshoff 2011a/b/c, 2008b) oder eine Menge von „rules and ressources“ (Lloyd 1986). Diese, mit der Ausnahme von manchen Ressourcen, „Strukturen“ genannten mentalen Gehalte stecken im Rahmen der Systemik in den bindenden Relationen zwischen konkreten Personen, letztlich natürlich in deren Köpfen. Als abstrakte Gegenstände, Gebilde oder „Systeme“ gelten sie als inexistent. (8) „Struktur“ oder „soziale Struktur“ wird jede Regelmäßigkeit im Sozialen genannt, z. B. Demi-Regs (6.1), Regelmäßigkeiten aufgrund von Regelbefolgung (etc.) oder statistische Korrelationen. Ein Beispiel ist auch die „Modell“ genannte Regelmäßigkeit, die sich bei Salle (2006) findet (8.1). (9) „Struktur“ wird alles genannt, was irgendwie von Dauer ist (ohne dass dies als Eigenschaft von etwas aufgefasst werden muss). H. Esser schreibt ähnlich wie unter (9): „Die stabilen oder wiederkehrenden Merkmale von Gesellschaften seien ganz allgemein Strukturen genannt“ (Esser 1996, 363). Der Geschichtstheoretiker T. Schieder schrieb bereits: Vielmehr wollen wir vorerst noch fragen, worin sich Geschichte und Soziologie eigentlich einig sind, wenn sie von Strukturen sprechen. Doch offenbar darin, daß Strukturen als ein Element relativer Stabilität im sozialen Geschehen und in der Geschichte aufgefaßt werden müssen und in einer engen Beziehung zu der Dauer stehen, ja in gewissen Grenzen die Dauer repräsentieren gegenüber dem raschen Wechsel, wie er sich in den Ereignissen darstellt (T. Schieder 1968, 169; Hervorhebung dp; siehe zu dieser Hervorhebung auch Kapitel 4.2). Vor dem Hintergrund der Systemik ist dieses Verständnis, obwohl verbreitet, doch recht unspezifisch, denn z. B. die (i) Komposition eines Systems, (ii) emergente wie (iii) resultierende Eigenschaften (oder ihre Werte), (iv) die Struktur eines Systems, wie auch eventuell (v) das kontinuierliche Prozessieren eines Mechanismus (7.3.6) wären in diesem Sinne als „Strukturen“ zu bezeichnen. Irgendwann wird dann alles „Struktur“ genannt und man versteht nur noch wenig, wenn über Strukturen geschrieben wird. So ist es ja auch. Zu dieser Breite der Verwendung hieß es mal in anderem Kontext, „the use of the term ‚structure‘ to denote so many distinct aspects of the social world creates a situation close to chaos“ (Nash 1999, 451). Viele weitere und auch genauer zu analysierende Verwendungen von „Struktur“ wird man locker zusammentragen können, wenn man die geschichts- und sozialtheoretische Literatur wie auch Forschungsberichte daraufhin befragte (8.2), z. B in der Mini-„Anatomie“ Rilinger, Millar, Sewell sowie Topolski (3.1.3, 3.1.4, 3.1.5, 3.1.5) und Adams (1997).358 Aber selbst diese kleine Liste kann vor dem Hintergrund der ausgebreiteten und noch auszubreiten-

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Zum Beispiel unterscheidet Sanderson (1995, 54) „Ideological superstructure“, „Social structure“ und „Material infrastructure“. Walter (1994, 65) unterscheidet „soziale Strukturen“, „ökonomische Strukturen“, „historisch-politische Strukturen“ und eine „mentale Strukturebene“ neben den Gegenständen der „demgraphischen Strukturgeschichte“. Kulturgeschichtswissenschaftliche Schulen verfügen wieder über andere Strukturbegriffe; siehe z. B. auch Sewell 2005, der einen „naive objectivism of social history“ kritisiert, nämlich „the notion that social structures were ontologically prior to thought and action“ (Sewell 2005, 50).

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

den Kategorientafel als Klärungsfolie dienen. Manchmal reicht es, in der Liste oben „Struktur“ durch „Institution“ zu ersetzen, um auch diesbezüglich die Bäume im Wald zu sehen.

7.3.5

Zustände, Ereignisse, Prozesse und Geschichten von Systemen Daß die Dinge sich verändern, ist unbestreitbar. Ebenso, daß sie beginnen und aufhören zu existieren (Tegtmeier 1992, 69). L’historien (…) n’est pas autre chose qu’un homme qui se rend compte que les choses changent et qui cherche pourquoi elles changent (Henri Pirenne, ohne Angabe zitiert in Halkin 1982, 59). Not the history of England, but the Cambridge History of England, was held to be the province of the philosopher (Fain 1970, 15).

Die hier von Tegtmeier geäußerte und vom Historiker Henri Pirenne vorausgesetzte metaphysische These, die gar im Common Sense verbreitet sein sollte, kann in unserem Rahmen insofern als genuin systemistische Idee gelten, als der Systemismus die wohl einzige explizite Ding- oder System-Ontologie im Bereich des Soziohistorischen ist und die meisten Ontologien in diesem Feld gar keine Dinge/Systeme kennen und daher auch prima facie (siehe 2.1) keine Geschichte Englands und Ähnliches, die Fain als Material für seinen Witz diente.359 Man könnte nun wie folgend überleiten: Wie kann in einer Ding/System-Ontologie Veränderung (oder „Wandel“; Howell/Prevenier 2004, 149), d. h. auch die Entstehung und der Untergang von Dingen/Systemen, genauer aufgefasst werden? Gerade der Umstand, dass Ding/System hier die grundlegende Kategorie ist, ist sicherlich für die größten (intuitiven) Annäherungsschwierigkeiten mit dieser Ontologie des Sozialen verantwortlich. Da wir nun die Grenzen eines Systems abgesteckt haben, also eine ontologische Vorstellung davon haben, was dazugehört und was nicht, können wir auf dessen Zustand zu sprechen kommen. Der Zustand eines Systems zu einem Zeitpunkt besteht in der Gesamtheit der Eigenschaften des Systems zum jeweiligen Zeitpunkt, d. h. der individuellen Eigenschaften oder der Werte aller Eigenschaften des Systems zum jeweiligen Zeitpunkt. Ferner gilt nun beinahe schon selbstverständlich: „[A]lle Zustände sind Zustände von Dingen: Es gibt keine Zustände an sich“ (Bunge/Mahner 2004, 61). Wie auch in anderen Ontologien wird in der systemischen Ontologie zwischen intrinsischen und relationalen Eigenschaften360, zwischen primären und sekundären Eigenschaften, zwischen akzidentellen und essenziellen Eigenschaften, zwischen qualitativen und quantitativen Eigenschaften und zwischen manifesten Eigenschaften und dispositionalen Eigenschaften unterschieden (z. B. Bunge 1977a, 1979a, Bunge/Mahner 1997, 2004).

359

360

Eine weitere ist vermutlich R. Bhaskars sozialphilosophischer Critical Naturalism auf der Basis seines naturphilosophischen Transzendentalen Realismus, was zusammen Critical Realism genannt wird. Die Frage ist hier allerdings, ob und inwiefern die Kategorien der Naturphilosophie in der Sozialontologie noch vorkommen, was beispielsweise an der vergleichsweise größeren Unklarheit der Mechanismuskategorie zu sehen ist; siehe Kaidesoja 2013, 2007; Plenge 2014a. Die folgende systemistische ontologische These ist eventuell so relevant, dass sie in dieser Fußnote unangemessen platziert ist: „We do not assign intrinsic properties a greater ontological weight, or a higher degree of reality, than mutual properties. Thus a mutual property like gravitational interaction (or certain parent-child mutual action) is just as real as an intrinsic property such as composition (whether chemical or social)“ (Bunge 1977a, 99).

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

Abbildung 29

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„Macro- and micro-level propositions: effects of religious doctrine on economic organization” (aus Coleman 1994, 8). Vgl. zur allgemeinen Heuristik Bhaskar 1979a (Abbildung 21), Boudon 1980, Archer 1995 (Abbildung 22), Esser 1996, Frings 2007a, 2008 (Abbildung 23), Hedström 2008, Schmid/Maurer 2010 sowie Topolski (3.1.5; Abbildung 4).

Stellen wir mal wieder eine naive methodologische Frage: Warum sind Eigenschaften von irgendetwas relevant oder warum könnten Eigenschaften relevant sein? Weil Wissenschaftler diese häufiger erforschen und beschreiben wollen. Die in angelsächsischer soziologischer Metatheorie regelmäßig zu lesende Rede, man erforsche, messe oder beschreibe in empirischer Sozialforschung „concepts“, ist ein Kategorienfehler und der erste Schritt in den Idealismus. Wer einen Sack Kartoffeln auf die Waage stellt, will nicht den Begriff der Kartoffel im eigenen Geist untersuchen, sondern den Haufen Kartoffeln (Aggregat) und dessen Eigenschaften. Natürlich ist hier nun (7.3.2) Voraussetzung, dass es im Gegenstandsfeld der Sozialwissenschaften legitim ist, ebenfalls die Eigenschaftskategorie auch dann zu verwenden, wenn keine Individuen (Personen) beschrieben werden. Ontologische Individualisten können dies natürlich letztlich nicht zulassen.361 Klarerweise ist der Zustand eines Systems wohl nie vollständig bekannt. Da es in diesem Kapitel nicht vornehmlich um Erkenntnistheorie geht, ist dies aber sekundär oder, genauer gesagt, irrelevant. Sobald man die These irgendeines ontologischen Realismus vertritt (7.1) und diese weiter dadurch spezifiziert, dass die fundamentale Kategorie die eines Dings oder Systems ist, dann ergibt sich die ontologische Vorstellung eines Zustands als Gesamtheit der Eigenschaften eines Dings oder Systems beinahe von selbst. Metaphysiker würden hier generell wohl sagen, dass Dinge durch ihre in der Gesamtheit einzigartigen Eigenschaften individuiert werden. Die Gesamtheit der Eigenschaften des Dings oder Systems ist – im systemischen Rahmen – dessen Zustand. Dass man die Existenz von Dingen und Systemen bestreiten kann, steht auf einem anderen Blatt und wird hier zugestanden, allerdings muss man dann wohl (alle) Wissenschaft einstellen oder es gibt terminologische oder kategoriale Unklarheiten, die wir nur im Vergleich mit anderen ontologischen Architektoniken z. B. im Bereich der Geschichts- und Sozialwissenschaftsmetatheorien eruieren könnten. Am Rande sei bemerkt, dass im Systemismus die – in aller Regel unexplizierte – verdoppelten „Situationen“-Terminologie (subjektive und objektive Situation, 7.2, Kapitel 6) in 361

Öfter heißt es auch, das Soziale sei begrifflich („conceptual“), was wohl heißen soll, dass im Sozialen Überzeugungen von Personen relevant sind, öfter aber auch mit sozialontologischem Individualismus oder Antirealismus verbunden ist. Um diese Überzeugungen (usw.) von Personen und damit die hypothetische Beschreibung von deren Eigenschaften geht es dann aber eigentlich, wenn von „concepts“ die Rede ist.

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mancher Sozialtheorie schlicht nicht vorkommt, weil sie ontologisch in diesem Rahmen bloß redundant wäre, was noch nicht heißt, dass sie vielleicht in anderen, außerontologischen Kontexten nützlich ist, sobald sie einmal geklärt ist. Bei der „objektiven Situation“ handelt es sich um den Zustand eines sozialen Systems oder bloß den Zustand einer anderen Person jenseits der Person, die „subjektiv“ in einer Situation sich wähnt, also die Komponente eines Systems ist. Bei der „subjektiven Situation“ handelt es sich um eine Untermenge des Zustandes einer Person, nämlich deren mentale Eigenschaften, die womöglich Überzeugungen über das Sozialsystem und dessen Zustand beinhalten, dessen Komponente die jeweilige Person ist (7.3.1), wie beispielsweise teilweise und skizzenhaft in Topolskis Erklärungsmodell (3.1.5). Auch Eigenschaften sind damit immer Eigenschaften von Dingen/Systemen, was im Rahmen von Ontologievergleichen wieder einen Unterschied macht oder machen kann. In diesem Rahmen gibt es keine Eigenschaften von Eigenschaften oder Eigenschaften von Ereignissen (anders z. B. Gerber 2012, 2014). Im Rahmen der Sozialwissenschaften und ihrer Metatheorie ist auch das wieder nicht trivial. Beispielsweise verwirft D. Porpora auf der einen Seite (2015, 98) den Ausdruck „System“, ohne zu explizieren, was hier und dort in den Sozialwissenschaften damit gemeint ist oder gemeint war362, kennt auf der anderen Seite (Porpora 2015, 104) Eigenschaften, die „emergently material“ und „objective, relational property“ genannt werden können, aber dem Schachspiel („chess“) zukommen, also keinem konkreten System, sondern irgendetwas anderem, nämlich einem Abstraktum wie Micky Maus. Dieselbe Reifizierung abstrakter Gegenstände unterläuft S. Fleetwood, der so genannten „Institutionen“ (d. h. hier „rules, conventions, norms, values and customs“) gar die „Eigenschaft“ zuschreibt, zur „Downward Causation“ (Makro→Mikro) fähig zu sein („capacity“). Dabei heißt es von diesen Institutionen erhellenderweise, sie seien „Systeme“ (Fleetwood 2008, 250, 247). Das ist insofern erhellend, als dadurch klar wird, woher die Refizierung von Regeln als „Systemen“ im Groben stammt. Denn wird irgendetwas als Komplex aus irgendwas anderem aufgefasst, das irgendeinen Ganzheitscharakter haben soll, wobei dieser Ganzheitscharakter nicht erläutert wird, dann liegt Verdinglichung auf der Hand, sobald auch die Ontologie der Komponenten des Ganzen nicht geklärt wird, zum Beispiel, ob es sich dabei um konkrete oder abstrakte Entitäten handelt. Hier ist der Punkt, der oben nach dem Durkheim-Zitat angesprochen wurde, dass auch bei der Rede von Emergenz viel von der Bestimmung der „Elemente“ und ihrer „Verbindung“ abhängt. Stellt man dann fest, dass dies im Sozialen konkrete Akteure (Personen) und soziale Systeme sind und sonst nichts, dann ist das zwar weniger spannend, feit aber vor sozialidealistischer Metaphysik, in der Soziales irgendwo jenseits, hinter oder über den Köpfen konkreter Entitäten schwebt. Kürzer gesagt, weder das Schachspiel noch irgendwelche „Regeln, Konventionen, Normen, Werte und Bräuche“ sind im sozial-emergentistischen Materialismus soziale Entitäten oder die im sozialrealistischen Pan-Dispositionalismus bekannten „causal powers“. Wie Kulturgeschichtswissenschaftler und qualitative Sozialforscher („Versteher“) lange wissen, handelt es sich um Fiktionen, die einzig in den Köpfen einzelner Menschen existieren. Eigentlich ist auch klar, dass die protestantische Ethik oder „protestant religious doctrines“ auf nichts und niemanden wirken, selbst wenn Soziologen so etwas Ähnliches manchmal durch Pfeile in „Badewannen“ oder „Booten“ andeuten oder zumindest anzudeuten scheinen. James Coleman (1994, 8) untertitelte sein Makro-Mikro-Makro-Schema mit „effects of religious doctrine on economic organization“ und die Pfeile scheinen somit Kausalität zu bedeuten (Abbildung 29). Sie wissen natürlich, dass dies bloß eine façon de parler ist. Solche Redeweisen, in denen sozial-geteilte Gedankendinge als soziale Phänomene („Strukturen“, „Institutionen“, „Kultur“) oder auch „Makros“ mit Verursachungspotenzial eingeführt 362

Einen seltenen Überblick im philosophischen Kontext bietet der Sozialwissenschaftler A. Pickel 2011.

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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werden, können aber erneut andeuten, dass das behauptete Metaphysikdefizit in den Sozialwissenschaften tatsächlich besteht. Wir kommen darauf zurück. Eigenschaften sind in diesem Rahmen also Eigenschaften von Dingen und ferner sind alle Eigenschaften „positiv“. Ein System hat keine Eigenschaft, die es nicht hat. Anders formuliert: Es gibt keine „negativen“ Eigenschaften. Daniel Plenge hat weder die Eigenschaft, nicht 1,96 groß zu sein, noch hat er die Eigenschaft, nicht Deutscher Meister und nicht Römischer Kaiser zu sein. Warum man das so halten sollte, haben Bunge/Mahner neben vielen anderen bündig formuliert: Kurzum: Es gibt keine negativen Eigenschaften. Wäre dem nicht so, dann hätten alle Gegenstände dieselbe Zahl von Eigenschaften. Zudem müssten wir den Dingen die kuriosesten Eigenschaften zuschreiben, wie etwa dem Planeten Neptun die Eigenschaft, gestern Abend nicht in der Oper gewesen zu sein (Bunge/Mahner 2004, 27). Was als isolierte Behauptung vielleicht keine Erwähnung wert ist, kann jedoch in einem ontologischen Kontext Folgen haben. Im hier vorliegenden metatheoretischen Kontext bestehen diese darin, dass es genauso wenig negative Eigenschaften wie negative Ereignisse oder negative Tatsachen (7.3.7) oder negative Kausalität gibt. Auch sind Adams (1997) Erklärungen wohl kaum kausalen Erklärungen, erklärt sie doch eine Absenz, teilweise auch durch Absenzen, sondern vermutlich handelt es sich am ehesten um Erwartbarkeitserklärungen (6.1). Die Tatsache, „dass Peter nicht schwanger ist“ (Hedström 2008, 32), gibt es in dieser Architektonik ebenso wenig wie die Tatsache, dass manche von keiner Ahnung über tatsächliche Geschichtswissenschaften viel haben. Auch ist klar, dass „die Nicht-Existenz des Sozialismus in den Vereinigten Staaten“ kein „Vorgang“ (so Esser 1996, 65), d. h. kein Prozess ist, denn Prozesse sind Veränderungen von Dingen/Systemen, worauf wir gleich kommen werden. Als methodologische Norm dürfte also plausibel sein, (hypothetisch) Existentes zu untersuchen und durch (hypothetisch) Existentes zu erklären (Bunge 1967a/b). Daran hält sich auch beinahe jeder automatisch.363 Veränderungen sind im Systemismus immer Veränderungen von Dingen, d. h. von Zuständen von Dingen. Ein Fall von Veränderung ist der oben angesprochene Zugewinn einer Eigenschaft. „Emergenz“ ist im Systemismus streng besehen ein Begriff für einen Prozess (7.3.2), in dem ein Ding eine emergente Eigenschaft erwirbt. Die Rede von „prozessualer Emergenz“ ist also eigentlich doppelt gemoppelt. Qualitative Veränderung (= Emergenz) ist der Erwerb von emergenten Eigenschaften (allgemeinen Eigenschaften). Quantitative Veränderung ist die Veränderung in den Werten von Eigenschaften (ob emergent oder resultierend). Stellt man sich die Repräsentation eines Zustands als eine Liste vor, in der man in jeder Spalte, die jeweils für einen Zustand eines Systems zu einem Zeitpunkt steht, die allgemeine Eigenschaft P einerseits und deren individuellen Wert x andererseits angibt, dann lässt sich qualitative Veränderung (Emergenz) so veranschaulichen, dass der Liste in einer Spalte, die einen Zustand zu einem Zeitpunkt repräsentiert, eine neue allgemeine Eigenschaft P (und ihrer individuellen Ausprägung x) in einer Zeile hinzugefügt wird. Im Fall quantitativer Veränderung ändert sich der Wert x der individuellen Eigenschaft P, während die Gesamtmenge, die Zeilen in der Liste, gleich bleibt und diese allgemeine Eigenschaft auch schon im vorhergehenden Moment der Zustandsmenge angehörte.

363

Dass es im Fall von Sozialforschung und Gesellschaftstheorie und besonders in Gesellschaftskritik durchaus interessante Abweichungen von dieser Maxime geben kann oder tatsächlich gibt, soll hier nicht geleugnet werden, müsste aber eigens untersucht werden.

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Zum Beispiel ist in der Tabelle der Übergang des Systems von t1 zu t2 ein Fall von Emergenz, genauso wie der von t2 zu t3. Der Übergang von t3 zu t4 ist ein Fall von Submergenz, der Verlust einer allgemeinen Eigenschaft eines Systems. „Übergang“ ist aber natürlich bloß eine Metapher für „Veränderung“. Tabelle 3 Eine intuitive Repräsentation von Veränderungen. Zustand t1 von Zustand t2 von Zustand t3 von Zustand t4 von System s System s System s System s P1x P1x P1x P2x P2x P2x P3x P3x Ereignisse sind im Systemismus Veränderungen von Zuständen eines Dings oder Systems, seien dies im Gegenstandsbereich der soziohistorischen Wissenschaften Akteure (Menschen) oder soziale Systeme. Das heißt auch, Zustände (sozusagen Nicht-Veränderungen) oder das Sich-in-einem-Zustand-Befinden sind selbst keine Ereignisse. Auch das hat im metatheoretischen Rahmen Konsequenzen: Da in der systemischen Ontologie nur Veränderungen von Dingen Ursachen von Veränderungen in Dingen sind, wobei auch nur Veränderungen von Dingen Wirkungen sein können, sind Zustände keine Ursachen (7.3.8). Ein mögliches Beispiel kann dies zu illustrieren helfen: Der Zustand meines Schreibtisches verursacht nicht, dass sich der Monitor auf dem Tisch nicht bewegt und der Monitor somit in einem Zustand verweilt. Der Zustand des Schreibtischs verursacht auch nicht, dass sich die Zustände von Tasten auf der Tastatur des Netbooks tatsächlich verändern, weil der Tisch sich überhaupt (weitgehend) nicht verändert. Im Rahmen von Bedingungstheorien der Kausalität ist dies zumeist anders (z. B. Mackie 1980, Jakob 2008, Day 2009). Ein Ereignis lässt sich also im Rahmen des Systemismus als zeitlich geordnete Menge oder Abfolge von Zuständen beschreiben, nämlich . Unter gewissen Voraussetzungen kann ein Ereignis unheimlich komplex sein und wird dann „Prozess“ genannt. Ein komplexes Ereignis, d. h. eines, das sich aus zwei oder mehr Ereignissen zusammensetzt, heißt Prozess. Während ein Einzelereignis als geordnetes Paar beschreibbar ist, kann ein komplexes Ereignis oder ein Prozess als eine Reihe von mehr als zwei, vielleicht sogar unendlich vielen Zuständen beschrieben werden, d. h. als Kurve oder Trajektorie in einem Zustandsraum. Ein Prozess z. B. kann entweder als eine Sequenz von Zuständen dargestellt werden oder als Sequenz von Ereignissen (, ) (Bunge/Mahner 2004, 57). Nun stellt sich jedem Philosophen der Geschichtswissenschaften die Frage (siehe 2.1), ob noch die Notwendigkeit besteht, einen Begriff von Geschichte als unverzichtbare Kategorie in die systemische Ontologie einzuführen? Das ist der Fall. Was ist also eine Geschichte? Während sich ein Prozess eines Dings als eine (geordnete) Reihe von Zuständen (oder Ereignissen) des Dings darstellt, ist die Geschichte eines Dings die geordnete Menge all seiner Zustände (oder Ereignisse) von seinem Anfang bis zu seinem Ende (Bunge/Mahner, 2004, 19). Man kann in diesem Rahmen auch nicht völlig illegitimerweise Prozesse „partielle Geschichten“ nennen:

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Whereas a process (or partial history) of a thing is an (ordered) sequence of states of (or, alternatively, events in) a thing, the (total) history of a thing is the ordered set of all its successive states (or events) (Bunge/Mahner 1997, 19; zum Begriff einer Geschichte im Systemismus siehe ferner Bunge 1977a, 1979a, 1996). Einige erste Kommentare sollen im Rahmen einer Philosophie der Geschichtswissenschaft nun folgen: Wir können nun die im Anschluss an das Zitat „Before attempting to describe the history of x, we must have some idea about x“ (Bunge 1996, 142) oben geäußerte, dort ontologisch gemeinte Frage beantworten. Die Frage damals lautete: Was ist mit „x“ und was ist mit „Geschichte“ gemeint? Die Antwort lautet nun: Mit x sind (einfache) Dinge oder (komplexe) Systeme gemeint. Die Geschichte von diesem x lässt sich den Definitionen gemäß bestimmen. Nun drängen sich weitere Bemerkungen und auch Fragen geradezu auf. Zum einen ist diese Bestimmung von Geschichte – bei allen Schwierigkeiten, die man erahnen kann – reichlich nah am Common Sense, obwohl der gesamte Begriffsapparat, je nach akademischer Herkunft des Lesers, teilweise ungewohnt klingen mag und auch tatsächlich klingt, wie allerdings jede Ontologie. Auch der Alltagsmensch redet von Geschichten von Dingen wie Balkonpflanzen und damit mag häufiger annähernd so etwas gemeint sein wie zuvor ausgeführt, falls irgendetwas Spezifisches gemeint ist. Natürlich ist die Rede von Dingen oder Systemen und deren Zuständen in unserem Kontext teilweise „seltsam“, weil hier idealistische Philosophien schon immer dominiert haben und soziale Dinge aufgrund der Spezifika der (sozialen) Relationen zwischen ihren Komponenten im intuitiven Vergleich zu Balkonpflanzen irgendwie „seltsam“ anmuten.364 Eventuell ist er auch problematisch, obwohl Sozialtheoretiker damit weniger Probleme haben als andere. Aber manche beziehungsweise ungezählt viele Geschichtswissenschaftler reden zunächst einmal ganz einfach von der Geschichte des Wasserversorgungssystems Roms (Hainzmann 1975), der Geschichte der Römischen Republik oder der Geschichte des „Roman interstate system“ (Eckstein 2009). Wie Alltagsmenschen reden manche Geschichtswissenschaftler sicherlich auch vom „Zustand der Nation“ (Bunge 1977a, 123) oder der Geschichte von irgendwelchen Akteuren (Individuen, Personen). Die systemistische Geschichtsmetaphysik lässt diese Redeweisen zumindest nicht (von vornherein) illegitim erscheinen und sie steht damit weitgehend allein. Sie klärt sie vielmehr auf und ist auch nicht von vornherein absurd. (Auch in „narrativen“ historischen Darstellungen ist häufiger von Zuständen die Rede als man vielleicht denkt.) Auch Soziologen unterschiedlicher Schulen benutzen den Ausdruck „Systemzustand“ (Schmid 2006a, 146, Greshoff 2011a, 230, Esser 2000a, 339, 361) oder „Zustand“ (Hedström/Swedberg 1996, 1998; Esser 1996, 109) oder reden von „Erklärungen von Zuständen und Entwicklungen sozialer Gebilde“ oder von „Sozialgebildezuständen“ (Greshoff 2011c, 196, 199) bzw. von „Makrozuständen“ (Greshoff 2008b, 422, 435). Die systemistische Sozialmetaphysik ist immerhin, soweit bekannt, die einzige Philosophie der Sozialwissenschaften, die expliziert, was dies heißen könnte. Im systemisch-emergentistischen Soziomaterialismus können wir auch folgende Behauptung wörtlich nehmen: „Werte sind kollektiv geteilte und für verbindlich angesehene Vorstellungen über wünschenswerte Zustände“ (Esser 2001, 312). Wer Werte (Eigenschaften von Personen) realisieren will, muss Zustände von konkreten Systemen verändern, z. B. des Wasserversorgungssystems des antiken Rom. Am Rande sei bemerkt, dass hier überall sogleich mit der Rede von Zuständen die Idee (implizit oder explizit) verbunden ist, dass ein X existiert, wie immer es dann benannt wird, das, erstens, persistiert und, zweitens, Veränderungen unterliegt, drittens von Akteuren reproduziert 364

Philosophen der Biologie haben sicherlich ähnliche Probleme mit „Seltsamkeiten“ ihrer Gegenstände.

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wird und, viertens, Transformationen oder qualitativen Veränderungen unterliegt bzw. unterliegen kann. Ferner kann die Existenz dieser Xe aufhören. Die Frage ist dann immer, welche diese Xe genau sind. Die Systemik hat darauf eine Antwort, die andere zum Beispiel nicht haben (6.3), was weitere Fragen in alle Richtungen aufwerfen kann (7.6). Die geschichtsontologische These ist auch weder innerhalb der Geschichts- und Sozialphilosophie trivial noch anderweitig irrelevant, denn wenn überhaupt im Rahmen der Geschichtsphilosophie der Ausdruck „Geschichte“ fällt, dann ist mit x in „Was ist das x, das eine Geschichte hat?“ (a) eine (undefinierte) Tatsache gemeint (Graham 1983) oder (b) ein (undefiniertes) Ereignis (Mandelbaum 1967, 416; Gerber 2012) oder (c) gar nichts gemeint (passim, 2.1). Und mit Geschichte ist hier (a) eine Abfolge dieser unexplizierten Tatsachen oder Ereignisse gemeint oder aber (b) die Relation zwischen den Ereignissen, die eine Geschichte ausmachen, wird als kausale Beziehung (im kontrafaktischen Sinn) aufgefasst (Gerber 2012, 2014), nicht bloß als zeitliche Abfolge. Oder mit Geschichte ist (c) gar nichts gemeint oder gänzlich Unklares (passim, Kapitel 2.1). Der Fall (c) ist wohl, beinahe unbezweifelbar, der statistische Normalfall auch im Rahmen von geschichtswissenschaftlichen Texten.365 (Mink 1966, 40, sprach beiläufig von der „Geschichte“ eines „Prozesses“.) Einige Konsequenzen dieser Ontologie seien benannt. (1) Im Systemismus hat streng besehen nicht das Heben eines Arms (Ereignis oder Prozess) eine Geschichte, sondern der Arm (System). Nicht der Erste Weltkrieg hat eine Geschichte, sondern die Systeme, deren Prozessieren kolligatorisch (Plenge 2014c, Kapitel 6.4) „Erster Weltkrieg“ genannt wird. Auch hat der Erste Weltkrieg keine Eigenschaften. Ferner hat nicht nur irgendetwas, das mit Kultur, Gesellschaft oder allgemeiner Menschen oder Handlungen zu tun hat eine Geschichte (2.1), sondern jedes Ding oder System hat eine Geschichte (Bunge 1977a, 255). Da die Zustände von konkreten Dingen einzigartig sind und die Gesamtheit der Veränderungen der Zustände eines Dings dessen Geschichte ist, lautet die systemistische Variante von Leibniz‘ Gesetz: „Different things have different histories“ (Bunge 1977a, 256). (2) In den obigen Begriffen von Ereignis, Prozess und Geschichte taucht Kausalität nicht auf. Das heißt, erstens, dass in dieser Ontologie nicht alle Prozesse kausale Prozesse sind. Und zweitens heißt das, dass, wie schon bemerkt, frühere Zustände nicht spätere Zustände verursachen, was z. B. in Mackie-Kausalität und anderen Kausalitätsvorstellungen und einer anderen ontologischen Rahmung herauskommen könnte. Ersteres ist relevant, wenn man unterschiedliche Begriffe sozialer Prozesse unterscheiden will und in diese nicht von vornherein Kausalität hineindefinieren möchte. Letzteres ist im Kontext von Erklärungen relevant, falls 365

Am Rande sei bemerkt, dass die nun erneut (im Anschluss an 2.1) zu vermutende Obskurität dieser philosophischen Behandlung von Geschichte sich eventuell auch dadurch entschuldigen lässt, dass z. B. unter der Rubrik „Historische Grundbegriffe“ im „Fischer Lexikon Geschichte“ (van Dülmen 2003) der Ausdruck „Geschichte“ nicht auftaucht, genauso wenig wie im „Dictionnaire des sciences historiques“ (Burguière 1986), den „Conceptos fundamentales de historia“ (Sánchez de Madariaga 2009) oder im „Lexikon Geschichtswissenschaft“ (Jordan 2002). Auch das „Dictionary of Concepts in History“ ist wenig erhellend (Ritter 1986, 193). Auch das legendäre „Hilfswörterbuch für Historiker“ (Haberkern/Wallach 1972) schweigt diesbezüglich. Von der Historischen Soziologie heißt es ferner, sie habe es „bisher erfolgreich vermieden, sich mit der Frage auseinander zu setzen, was eigentlich ‚Geschichte‘ ausmacht, worin die Einheit von Geschichte besteht, wenn es denn eine solche gibt“ (Schützeichel 2004, 115). Die Einheit einer Geschichte besteht im Systemismus in dem System, dessen Totalität an Veränderungen als „Geschichte“ bezeichnet wird. Die Rede von „temporalen Teilen“ oder „temporalen Ganzheiten“ (6.4) braucht man in diesem Rahmen beispielsweise nicht, weil man über die Kategorien des Systems, von dessen Zustand und wiederum dessen Veränderung verfügt. Alles in allem wird man (überraschenderweise?) sagen müssen: Die Geschichtswissenschaft verfügt über keinen Begriff von Geschichte.

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diese als Kausalerklärungen aufgefasst werden und mit Kausalerklärungen der Anspruch erhoben wird, tatsächliche Kausalbeziehungen zu beschreiben. Sagen wir zur Veranschaulichung hier mal, Marseille, das der Geschichtswissenschaftler Sewell (1985, Kapitel 3.1.5) untersuchte, sei ein soziales System. Dann verursacht dessen Bevölkerungszahl zum Zeitpunkt t1 oder eine Veränderung dieser Eigenschaft zu t1 (Ereignis) nicht den Anstieg der Bevölkerung zu t2, obwohl der Wert der Eigenschaft zu t2 von demjenigen zu t1 (ceteris paribus) abhängt. Sondern dies leisten Personen, die irgendwelche Fortpflanzungstechniken praktizieren. Und vielleicht gilt auch dies, d. h., dass diese Personen diese Veränderungen verursachen, nur cum grano salis, da die Interaktionen oder, pleonastisch ausgedrückt, die kausalen Interaktionen sinnfälligerweise bloß zwischen konkreten Personen stattfinden und nicht zwischen Personen und dem Sozialding Marseille. Dies ist übrigens ein potenzieller Mikro-Makro-Zusammenhang. Das führt zu weiteren, teilweise kontraintuitiven ontologischen Fragen und Antworten, die ich auch später teilweise weiträumig umfahre. (Auch z. B. Landbesitzer, Arbeiter oder Migranten, die Shepherd (1988) behandelt, wirken nicht auf Regionen, deren soziale Eigenschaften („Makro“) sich durch ihre Interaktionen prima facie verändern und deren Veränderung oder kontrastive Verteilung Shepherd erklären möchte.) Wie dem auch sei, die Veränderung der Bevölkerung von Marseille ist ein Prozess im obigen Sinn, da sich hier der Zustand des sozialen Systems Marseille in der Zeit verändert oder, anders gesagt, eine Eigenschaft von Marseille andere Werte annimmt. Dieser Prozess ist aber kein kausaler Prozess. Da sich hier eine Eigenschaft eines sozialen Systems verändert, kann dieser Prozess allerdings auch ein „sozialer Prozess“ genannt werden (Bunge 1979a, 235). Solche Typen von sozialen Prozessen veranschaulichen Geschichts- bzw. Sozialwissenschaftler gerne in Form von Verlaufsdiagrammen (z. B. Sewell 1985, Medick 1996). Auf den (vermuteten) Unterschied zwischen verschiedenen Typen von Prozessen werden wir zu sprechen kommen müssen, wenn es um Mechanismen von, in oder zwischen Systemen gehen wird (7.3.6). Manche Sozialwissenschaftler werden jedoch diesen möglicherweise „schwachen“ Prozessbegriff ablehnen, wenn sie unter „Prozessen“ oder „sozialen Prozessen“ Interaktionen von mindestens zwei Personen verstehen.366 Dafür haben wir im Rahmen der Systemik unten noch Platz und können sozusagen beides abdecken. Mario Bunge selbst scheint mir in dieser Terminologie über die Jahre nicht ganz einheitlich zu verfahren: „Ein human-sozialer Prozess (oder eine Aktivität) ist ein Prozess, in den mindestens zwei interagierende Personen involviert sind“ (Bunge 1995, 41; 1993, 213; 2001b, 108). Bei Esser (2000d, 80) fällt der Ausdruck „interaktiver Prozess“ für das, was in diesem Sinne auch „sozialer Prozess“ genannt wird. In diesem Sinne ist ein Doppelpass (im Fußball; siehe Esser 1991b) ein sozialer Prozess, vermittelt über das „Medium“ des Balls. Hier wird man von kausalen Prozessen zwischen Systemen sprechen können (7.4), nämlich Akteuren (Individuen, Personen oder „Subjekten“).367 Vor 366

367

„Sozialer Prozess (…) ist eine Sammelbezeichnung für alle Gegenstände der Soziologie, die Vorgänge sic! zwischen sozialen Subjekten meinen. Zu den sozialen Prozessen gehören z. B. soziales Handeln, Sozialisation, Akkulturation, sozialer Wandel, soziale Integration, Revolution“ (Endruweit 2014, 372). Man sieht leicht, dass anstelle von „Vorgang“ besser „Interaktion“ oder, aus ontologischer Perspektive, „kausale Relationen“ oder „kausaler Prozess“ stehen müsste, ansonsten verschwimmt ein starker Prozessbegriff mit einem schwachen. Man sollte vermutlich nicht zu flink behaupten, in „der Geschichte“ seien Prozesse im schwachen Sinn selten Gegenstand des Interesses, findet er sich doch ganz beiläufig in unzähligen (sozialgeschichtswissenschaftlichen) Studien: „Dem Prozeß der äußeren Expansion ging ein innerer Verstädterungsprozeß parallel“ (Kriedte 1991, 26). Das relevante System ist hier Krefeld. Tilly (1990a, 690) nennt beiläufig u. a. „complex processes, such as proletarianization and capital formation“. Siehe zur Mini-„Anatomie“ auch Kapitel 8.1. Ein solches Prozessverständnis dürfe auch immer dann zum Tragen kommen, wenn Historiker und andere

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dem Hintergrund der Systemik gelesen finden sich diese zwei Prozesstypen wohl auch bei Shepherd (1988). (3) Da der Zustand eines Systems die Gesamtheit von dessen Eigenschaften ist, der sich zugänglich als Liste repräsentieren ließe, lässt sich auch davon sprechen, dass die Veränderung des Wertes einer Eigenschaft eines Systems ein Ereignis oder Prozess ist (im Unterschied zur Rede von der Veränderung des Gesamtzustands), wie im vorigen Fall von Marseille. Man könnte also auch von „partiellen Geschichten“ in dem Sinne sprechen, dass sich eine Eigenschaft eines Dings verändert, was angebracht ist, wenn zugleich eine Vielzahl von Prozessen in einem System abläuft, was sich dadurch in der Liste repräsentieren ließe, dass zu jedem Zeitpunkt der Veränderung einer Eigenschaft sich die Werte in einer Zeile ändern. Auch so etwas wird manchmal „Geschichte“ genannt (2.1). Zudem ist es eben so, dass Statik (oder Konstanz) in einer Hinsicht, d. h. als Konstanz in einer Eigenschaft, kompatibel ist mit Veränderungen in einer anderen Hinsicht (Eigenschaft), wobei das System (Ding) fortbesteht. Das ist trivialerweise so, denn zum Beispiel macht der Eintritt in ein Kloster noch keinen völlig neuen Menschen, ist aber, gemäß der Ontologie der Systemik, mit dem Erwerb von Eigenschaften verbunden (7.3.2), was ein Fall von Veränderung ist. Ereignisse und Prozesse im Sinn der Systemik können damit auch eine ebenso diffuse Ausdehnung haben wie jene Systeme, deren Veränderungen sie sind. Zum Beispiel kann eine revolutionäre Veränderung der Struktur der Weltökonomie räumlich ganze Kontinente oder den Globus umfassen („Weltsystem“), und der Kauf eines Burgers auf der Weseler Straße in Münster kann theoretisch eine Veränderung (Ereignis) in einem System verursachen, die – oder das – den ganzen Globus umspannt, wenn das betreffende System ein weltweit integriertes und operierendes Wirtschaftsunternehmen ist und sich durch diesen Kauf eine Eigenschaft dieses Systems ändert, nicht nur eine Eigenschaft eines Verkäufers im Drive-In. Letzteres wäre die Konsequenz eines konsequenten ontologischen Individualismus, da in diesem keine sozialen Systeme und somit auch keine sozialen Eigenschaften existieren und ferner auch keine Geschichten jener Systeme. (4) Auch angesichts dieser Prozessbegriffe ist der Begriff einer Geschichte als Gesamtheit aller Veränderungen eines Dings systematisch in dieser Ontologie unentbehrlich. Es ist die umfassendste Kategorie für Veränderungen in dieser Ding-Ontologie. Diese Geschichten beginnen mit der Entstehung (oder Emergenz) des jeweiligen Dings oder Systems und enden mit dessen Untergang (oder der Submergenz), dem Verlust von Eigenschaften (z. B. der Tod). Dies ist offenbar in Ontologien anders, in denen als Antwort auf die Frage „Was ist mit ‚x‘ und was ist mit ‚Geschichte‘ in dem Ausdruck ‚Geschichte von x‘ gemeint?“ für x eine Ereigniskategorie und für „Geschichte“ eine Menge von voneinander abhängenden Ereignissen eingesetzt wird (siehe auch 2.1). Diese Geschichten transzendieren sozusagen die Existenz von Dingen, weshalb es auch möglich ist, dass Ereignisse, die schon nicht mehr existieren, andere, räumlich und zeitlich weit entfernte Ereignisse verursachen können (Gerber 2012), z. B. im Sinne kontrafaktischer Abhängigkeit und per Definition von „Verursachung“ (Kapitel 6.3). Mein Heben meines Arms hier und jetzt kann im Rahmen dieser Ontologien womöglich noch in tausend Jahren etwas verursachen und „Teil“ einer Geschichte sein, die in alle Ewigkeit fortläuft. Im Systemismus endet die Geschichte meines Arms spätestens mit dessen vollständiger Verwesung und sie begann mit seiner Entstehung. Sobald er nicht mehr existiert, verursacht er auch nichts mehr, was insofern scheinbar nicht trivial ist, als dies in der Analyti-

Sozialwissenschaftler von „strukturellen Veränderungen“ sprechen (Altrichter/Bernecker 2004, 321). In der Behandlung der sprichwörtlichen „Großen Männer“ gibt es solche Prozesse freilich – zumindest vordergründig – nicht; siehe z. B. Recker 1990.

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schen Metaphysik der Geschichte als möglich gilt (Gerber 2012, 2014). Gänzlich irrelevant ist es nicht, wie man die Welt an dieser Stelle auffasst.368 (5) Die systemische Geschichtsmetaphysik ist auch deshalb nicht methodologisch irrelevant, weil sie eine ganz einfache Regel aufzustellen erlaubt, die auch zumeist, gerade in den Geschichtswissenschaften, implizit automatisch befolgt wird: Wenn du Veränderungen adäquat erforschen oder darstellen willst, verschaffe dir zunächst Klarheit über das System, dessen Veränderung du beschreiben willst (Bunge/Mahner 2004, 62; Bunge/Mahner 1997, 21). Das heißt: Skizziere zunächst ein CES-Modell des Systems. Falls keine Systeme existieren, dann ist die Regel natürlich hinfällig und damit auch ein Verständnis von „Veränderung“ eigentlich nicht mehr gegeben, weil Veränderung etwas sich Veränderndes voraussetzt. Dann gibt es eben kein x mehr, das sich verändert, sondern Abfolgen von Ante- und Postzedentia von irgendwelchen Xen „da draußen“ oder gar Erscheinungen (im Geist), wie im positivistischen Phänomenalismus. Wird diese Regel nicht ansatzweise befolgt, wird offen bleiben, ob die Rede von Veränderungen nicht buchstäblich in der idealistischen Luft hängt, wie potenziell z. B. in der Rede vom Prozess der Reichsreform in der Spätmittelalter- oder Frühneuzeitforschung, falls kein womöglich komplexes System x angegeben wird, das sich verändert, z. B. das Erste Reich, der Reichstag, einzelne Höfe oder bloß der Geist eines konkreten Königs bzw. Kaisers, z. B. Friedrich III. Zumeist findet man sie jedoch. Bei der Rede von Prozessen wie im Fall der sogenannten „Reichsreform“ im Spätmittelalter oder auch anderen Fällen aus der Geschichtswissenschaft (z. B. „Prozess der Zivilisation“, „Prozess der Sozialdisziplinierung“, „Prozess der Globalisierung“, „Territorialisierung“, „Industrialisierung“), ergibt sich ebenfalls diese unscheinbare methodologische Konsequenz aus der (expliziten) Ontologie. Denn in dieser Ontologie gilt Folgendes: Dabei müssen wir beachten, dass nicht jede beliebige Menge von Zuständen oder Ereignissen einen Prozess ausmacht. Eine beliebige Versammlung von Ereignissen, die in verschiedenen Dingen auftreten, die zudem relativ isoliert voneinander sind, stellt keinen Prozess dar, selbst wenn die Zustände zeitlich geordnet sein sollten (Bunge/Mahner 2004, 57). Das im Rahmen der Ontologie „seltsame“ Problem stellt sich jedem Geschichtswissenschaftler oder Geschichtstheoretiker letztlich auch, der von der „Einheit der Geschichte“ schreibt (2.1). Der heikle Punkt dieser Ontologie sei nicht verschwiegen. Er liegt natürlich gerade in der Annahme von Veränderungen im Sinn der Veränderung von Eigenschaften. Mit der Aufgabe der noch immer kontroversen Annahme von sozialen Eigenschaften wird dieser Begriff von Veränderung und auch Geschichte obsolet. Auch hier gibt es viele Rückfragen und die Notwendigkeit weiterer Ontologievergleiche, die dann mit einem Vergleich mit Forschungspraxis flankiert werden müssten (8.1). 368

Ob und inwiefern diese Vorstellungen vielleicht komplementär sind, kann hier nicht Thema sein. Aber was in jenen Ereignisontologien „Geschichte“ genannt wird, dürfte in der Systemik – allerdings mit anderer Kausalitätsmetaphysik und anderer kategorialer Architektonik im Hintergrund – „kausaler Prozess“ oder „kausaler Mechanismus“ genannt werden. Alles weitere ist dann eine Frage der Individuierung von Systemen, d. h. der Beantwortung der Frage, wann ein kausaler Prozess als systemintern aufgefasst werden kann und wann er zwischen (weitgehend) unabhängigen Systemen abläuft. Ereignisontologien im Rahmen des Soziohistorischen lassen die Frage alleine nicht zu, weil sie keine Systeme kennen. Was hier für Systemontologien ein Problem darstellt, ist dort natürlich keines. Wir treffen hier auch grob auf den Unterschied zwischen „temporal wholes“ und anderen Ganzheiten, auf die Mandelbaum (1977) und anders Glennan in seiner Unterscheidung zwischen „ephemeren Mechanismen“ und „Systemmechanismen“ (2010, 2014) hingewiesen haben.

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Vor dem Hintergrund dieser Ontologie lässt sich aber manches einordnen. Denn da Strukturen hier Eigenschaften von Systemen sind, können sich diese Strukturen von Systemen verändern, womit man die allgegenwärtige Rede von Strukturen und ihrer Veränderung mit dieser Ontologie zu rekonstruieren versuchen kann, zumal dann, wenn explizit oder implizit von Systemen die Rede ist, wie z. B. einer Kirche.369 Die „Einheit“ von Ereignissen, Prozessen und Geschichten wird also in diesem Rahmen sozusagen durch die Systeme hergestellt, in denen sie stattfinden. Das ist im Fall der biotischpsychischen Einheit der Sozialwissenschaften, also Personen, vergleichsweise einfach, da diese räumliche Grenzen haben, aber bei unbeobachtbaren Entitäten wie sozialen Systemen mit unklaren Grenzen und auch unklaren Eigenschafen eine Herausforderung, z. B. Braudels oder Pirennes Mittelmeerwelt, Wallersteins Weltsystem, Wozniaks Quedlinburg (2013), dem HRRDN, dem internationalen System (Kintzinger 2000) oder auch einer frühneuzeitlichen Universität (Füssel 2006). Da diese Grenzen aber durch Interaktionsformen hergestellt werden, verringert sich das Problem durch die genaue Benennung der Komponenten und die Untersuchung von Interaktionsformen, zu deren Verständnis immer zunächst auf das quellenmäßig zugängliche Alltagswissen der Akteure und auf Forscherseite zumeist eine Form von (Alltags-)Psychologie zurückgegriffen wird und wohl zurückgegriffen werden muss. Das ist (selbstverständlich?) der wahre Punkt aller sich „hermeneutisch“, „interpretativ“ oder „verstehend“ nennenden Philosophie und Sozial(meta)theorie des 20. Jahrhunderts oder, was Geschichtswissenschaftler häufiger rezipieren, der „Doppelten Hermeneutik“ (Giddens 1997 1984). Glücklicherweise werden Personen in Quellen zumal wohl allzu häufig einzig als Komponenten sozialer Gebilde selbst dann beschrieben, wenn über ihr innerstes Individuelles nichts bekannt ist, also als Konsul, Bischof oder Bürgermeister. Aus diesem Grund können viele Geschichtswissenschaftler teilweise überhaupt etwas über Sozialsysteme herausfinden, nämlich deren Komposition und teilweise ihre Struktur. Die Bedingung, das System zu benennen oder gar dessen Grenzen exakt zu benennen, ist also keineswegs trivial. Das Gegenteil ist in vielerlei Praxis der Fall, wie jeder Geschichtswissenschaftler weiß. Zum Beispiel versuchen Altgeschichtswissenschaftler sich wohl noch immer, also seit mindestens 150 Jahren, an der ohnehin praktisch unmöglichen Vervollständigung allein der Komposition recht kleiner sozialer Systeme im antiken Rom (Prosopographie), nämlich des „Roman political system“ (F. Millar). Allerdings dürfte beinahe klar sein und als selbstverständlich gelten, dass Geschichtswissenschaftler, wie z. B. Füssel (2006), implizit den obigen Begriff einer Systemgrenze anwenden, wenn sie z. B. den Rat einer Stadt von der Universität als „Korporation“ abgrenzen. Dasselbe dürfte für so heterogene Schriften wie Hölkeskamp (2011 1987), Calaresu (2013), Schubert (1995), Adams (1997) und andere gelten. Dass es kognitiv nützlich ist, auch zur Beschreibung oder Erklärung von Veränderungen ein CES-Modell oder die Systemgrenze zu skizzieren, ist in diesem Rahmen klar, wenn man sich eine weitere ontische Quasi-Trivialität ansieht: „A system’s changes result from (i) changes in its components or (ii) interactions among its components or among some of these and environmental items“ (Bunge 1993, 216). Woher auch sonst, könnte man an dieser Stelle unvorsichtigerweise fragen wollen (7.4, 7.5)? (6) Als weiteres Prima-facie-Plus aufseiten der systemischen Ontologie sind aus meiner Sicht drei Punkte zu verbuchen. Wir nennen aber nur einen, da die anderen mit der ohnehin obsoleten „Spekulativen Philosophie der Geschichte“ zu tun haben. Die systemische Ontologie verfügt über einen (auch vergleichsweise) klaren Begriff von der Entstehung qualitativer 369

„Um 1000 verstand man ‚Kirche‘ anders, als die Protagonisten der ‚Kirchenreform‘ sie dann sahen, und auch ihrer Struktur und Organisation nach ist die Kirche seit der Zeit der ‚Reformpäpste‘ zu etwas anderem geworden, als sie es vorher war“ (Keller 2010, 159).

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Neuheit (Emergenz) und von der qualitativen Neuheit selbst (emergente Eigenschaften). In manchen Schulen der Geschichtstheorie und Theorien sozialen Wandels wurde qualitative Neuheit teilweise in Ausdrücke wie „Geschichte“ und „sozialer Wandel“ hineingesteckt (2.1), was sich in Stufenmodellen des „Geschichtsverlaufs“ ausdrücken kann. Mit „Geschichte“ oder „Historischem“ ist dabei regelmäßig begrifflich verbunden, dass es „Sprünge“ der Entwicklung gibt, die so „weit“ sein können, dass gänzlich Neues entsteht. H. Esser spricht beispielsweise bei Fällen der Entstehung von neuen „Verhältnissen“ von einer „historischen Dimension“ derartiger „Prozesse“ (Esser 2000a, 359): „Das, was jetzt vorliegt, ist so noch nie dagewesen“ (ebd.). Im Systemismus heißt dies „absolute Emergenz“ (Fußnote 343, S. 399). Vor diesem Hintergrund verwundert, dass Esser stellenweise dasjenige, was er „Emergenz“ nennt, ablehnt (7.6). Wenn man eine solche Vorstellung „historistisch“ nennen wollte, was man aufgrund der Vieldeutigkeit des Ausdrucks besser unterlässt, dann wäre diese Ontologie also historistisch. Beispiele für solche Sprünge könnten die Entstehung feudaler Sozialsysteme, die Entstehung kapitalistischer Weltökonomien und jeder Fall von politischer oder sozialer Revolution sein, wobei solche Fälle im Systemismus eben so beschrieben werden, dass sich die Struktur (7.3.4) eines konkreten Systems und damit eine emergente Eigenschaft radikal ändert. Soziale Ereignisse gelten im Systemismus als genauso real wie Ereignisse in Personen (anders Little 2010). Der Gegenpart von Emergenz wird im Systemismus, wie bereits gesehen, als „Submergenz“ bezeichnet und meint den Verlust von Eigenschaften bis hin zum Ende der Existenz des Systems. Im Systemismus kann die DDR also tatsächlich existiert haben, genauso wie sie nach bisherigem Stand der Forschung, unter Voraussetzung einer dem Systemismus zumindest ähnlichen Ontologie, auch untergegangen ist. Wenn es keine Sozialsysteme gibt, dann hat es auch die DDR nicht gegeben und auch die BRD existiert nicht. „Bisher war es jedenfalls stets so: Die großen Reiche und Staaten kamen und gingen“ (Esser 2000b, 223). Zumindest scheint diese Vorstellung von vielen Sozial- und Geschichtswissenschaftlern geteilt zu werden. Der Historische Sozialwissenschaftler H.-U. Wehler (1994 [1973], 15) konnte noch von einer Geschichtswissenschaft schreiben, „der die historische Kontinuität zu Recht als Kernbegriff gilt“, was selbstredend eine ontologische These impliziert, die heutige postmoderne Geschichtswissenschaftler teilweise nicht teilen. Wo von „Kontinuität“ die Rede ist, kann aber von etwas Kontinuierendem nicht geschwiegen werden, genauso im Fall der Rede von „Veränderung“.370 Von (impliziten) Ereignisontologien im Rahmen von Geschichts- und Sozialphilosophie ist bisher nicht bekannt, dass sie zu allem Derartigen etwas sagen können, was nicht heißt, dass dies unmöglich ist, sobald sie expliziert sind, aber zunächst für die Systemik sprechen könnte bzw. die Aufnahme der Systemik in dasjenige, was diskutiert wird.371 Vermutlich gründet dies darin, dass dort mindestens die Kategorien System, Struktur und emergente Eigenschaften fehlen, was auch damit verbunden ist, dass sich Veränderung schwer oder überhaupt nicht denken lässt. Es dürfte auch damit verbunden sein, dass diese Ontologien zumindest im Rahmen der Geschichts- und Sozialphilosophie offenbar noch nicht formuliert sind.

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Schon hier ist auch klar, dass sich mit der systemischen Ontologie im Rücken Fragen nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten weitaus differenzierter und vermutlich realistischer stellen lassen als andernorts ohne systematische Ontologie im Hintergrund; siehe zu Kontinuitäts- und Diskontinuitätsfragen auch im Kontext von geschichtswissenschaftlichen Kontroversen Lorenz 1997, 277 ff., wo das Klärungspotenzial der Systemik sofort ersichtlich wird. M. Bunge hat sich in seiner Autobiographie kurz darüber gewundert, dass seine Bücher zur Philosophie der Sozialwissenschaften in sozialwissenschaftlichen Journalen wohlwollend aufgenommen, von Philosophen aber völlig ignoriert worden sind (Bunge 2014b, 312).

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Dies alles kann man auch in dem Ausdruck „dynamizistische Ontologie“ statt obigem „historistisch“ zusammenfassen: Dynamicism (or processualism) holds (…) that stasis is a particular and ephemeral case of process: that every state of a thing is either the initial, intermediary, or final phase of a process. All of the authentic factual sciences, from physics to biology to historiography, center on change, and seek laws of change or at least trends. Hence any science-oriented ontology is bound to be dynamicist (Bunge 2009a, 20 f.). Zumindest dürfte es früher so gewesen sein, dass Geschichtswissenschaftler von der Mikrogeschichtswissenschaft bis zur Weltsystemgeschichtswissenschaft oder „global history“ das so ähnlich gesehen haben – bis sie sich von einigen „Kulturalisten“ haben überzeugen lassen, die Welt existiere nicht, bestehe aus Texten oder sei ein Text. Neben Medick (1996), Topolski (1979 1965) und Hölkeskamp (2011 1987) haben wohl auch Frings (2007a) und andere eine teilweise ähnliche ontologische Vorstellung, wie auch die meisten „historisch“ gesinnten Sozialtheoretiker (Elias 1986 1970, Giddens 1997 1984, Lloyd 1986, 1998, Little 1989, 1991, 2010, Esser Literaturverzeichnis, Wan 2011a/b). Leider ist auch das nicht untersucht und bleibt hier Skizze. Auch den traditionellen Einzigartigkeitsontologien und „narrativen“ Vorstellungen „historischer“ Erklärung kann man vor dem Hintergrund der systemischen Ontologie etwas abgewinnen. Denn nicht nur sind in sogenannten Groß-„Ereignissen“ zahllose verschachtelte Sozialsysteme involviert, sondern bisher sind diese auch nicht in dem Sinne theoriefähig, dass es zu ihrer Erklärung irgendwelche signifikanten „Gesetze“ (Kapitel 6.1) geben würde (Roberts 1996), von denen auch die „Soziologie sozialen Wandels“ keine zu kennen scheint (Boudon 1991), und letztlich natürlich auch völlig kontingente Entscheidungen eine Rolle spielen, was damit verbunden sein kann, dass das „Ganze“ nur quellengesättigt rekonstruiert und „erzählt“ werden kann. Aber selbst dort werden bekanntlich Personen in ihren sozialen Systemen „situiert“ (D. Little) und damit ihr Handlungsspielraum oder die „objektive“ und „subjektive“ „Situation“ eingegrenzt. Praktisch problematisch ist auch hier natürlich, dass die Sozialwissenschaften wohl kaum über allgemeine Modelle über soziale Systeme, ihre Prozesse und Mechanismen oder „Gesetze“ verfügen, wie an allen Ecken und Enden eingestanden wird (siehe in forschungspraktischer Hinsicht auch Frings 2007a). (7) Zu einer weiteren vergleichenden Einordnung und einer Einschätzung des Klärungspotenzials der Systemik im Kontext der Rede von Geschichte (von einem x) konsultiere man Kapitel 2.1 vor dem Hintergrund dieser Skizze. Wir wollen an dieser Stelle nicht weiter der Vermutung nachgehen, dass die Systemik die meisten der (quasi-)ontischen Geschichtsbegriffe integrieren und klären kann. Es sei nur festgehalten, dass die non-reduktionistische, nichtphysikalistische, nämlich emergentistische Systemik es erlaubt, ohne Verluste auf anthropozentrische oder kulturalistische Geschichtsbegriffe und entsprechende Ontologien zu verzichten (2.1), trotz der Rede von Materialismus und z. B. Zuständen von Dingen. Die Besonderheiten von Menschen werden durch die emergenten mentalen Eigenschaften und deren Veränderungen abgedeckt, genauso deren Erwerb und Verlust im Verlauf der (totalen) Geschichte eines Menschen. Die Besonderheiten sozialer Systeme werden durch deren emergente (und resultierende) Eigenschaften abgedeckt. Die Einbettung von Menschen in soziale Systeme ist durch strukturell-emergente Eigenschaften als Aspekt des Zustands eines Menschen-imSozialen abgedeckt. Von der Existenz von Derartigem gehen fast alle Geschichts-, Kulturund Sozialwissenschaftler bei allen Unterschieden aus. Aus unserer Perspektive ist natürlich besonders beachtlich, dass selbst unsere Mini-„Anatomie“ keine Anhaltspunkte für eine Ontologie liefert, die auf eine strikte Trennung zwischen dem Reich dessen, was früher „Natur“

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genannt wurde und dem Reich dessen, was manchmal „Geschichte“ genannt wird, insistiert. Man kann vermutlich beliebig viele weitere Beispiele suchen, die dies weiter stärken. Allerdings muss hier zwingend (2.1) auch Folgendes festgehalten werden, bevor darüber Unklarheiten aufkommen: Fernab der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis der Vorstellungen zueinener gilt, dass eine irgendwie eindeutige oder intuitive Entsprechung keiner der (klareren) Geschichtsbegriffe in den Geschichts- und Sozialwissenschaften findet, wohl weder in ihren Metatheorien noch in der Forschung. Aber da dort durchaus häufiger von Geschichte die Rede ist, klären diese Anmerkungen die Lage ein wenig. Wie auch immer, entsprechende Fragen müssten wieder eigens untersucht werden. Die anderen vagen Geschichtsbegriffe sind demgegenüber wohl schlicht uninteressant (2.1), weil sie nur quasi-ontisch sind. Zu jenen Mechanismen müssen wir jetzt kommen, zumal mit der Beschreibung von Mechanismen in neuerer Sozial(meta)theorie ein Erklärungs- und Verstehensideal vorgestellt wird, obwohl unter „Mechanismus“ auch deshalb jeder etwas anderes versteht (6.3), weil der kategoriale Kontext jeweils anders und zumeist implizit ist (7.6).

7.3.6 Soziale Mechanismen und CESM-Modelle Als ontologisches Zwischenfazit kann man sagen, dass das oben beschriebene, minimale und statische CES-Modell eines beliebigen Systems zu einem Zeitpunkt (C = Compositon, E = Environment, S = Structure) deshalb minimal und statisch ist, weil darin die Geschichte des Systems noch nicht zur Sprache kommt, was der umfassendste Ausdruck dafür ist, dass die Ereignisse oder Prozesse, die an (Makro) oder in dem System (Mikro, 7.3.7) auftreten, noch keine Berücksichtigung gefunden haben. Zumindest Bunge zufolge sind auch die Gesetzmäßigkeiten des Systems hier noch nicht berücksichtigt (Bunge 1979a, 8; Bunge/Mahner 1997, 27), was zumindest im Bereich des Sozialen besonders umstritten ist, da beinahe niemand solche Gesetzmäßigkeiten zu kennen glaubt und recht unklar ist, worum es sich dabei handeln könnte, wenn man keine pragmatische Haltung einnimmt (Kapitel 6.1). Noch mehr weiß man gemäß der systemischen Ontologie von dem System, wenn man die Mechanismen des Systems kennt. So lautet zumindest eine weitere ontologische Hypothese. Man erhält dann ein dynamisches Modell, das auch dazu angetan ist, die Statik (oder Konstanz) wie die Veränderung eines Systems nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären. So lautet zumindest die onto-methodologische Annahme, die nur insofern von den vielfältigen anderen „mechanismus-basierten“ sozialwissenschaftsmetatheoretischen Erklärungsmodellen geteilt wird, als sie dieses Ideal mit ähnlichen Worten beschreiben, allerdings im Sinn des Systemismus nicht explizit über System-, Ereignis-, Prozess-, Eigenschafts- und Strukturkategorien verfügen. Das macht den Unterschied der in ontologischer Hinsicht systematischen Systemik zu anderen solchen mechanismischen Erklärungsvorstellungen im sozial(meta)theoretischen Rahmen aus. Kürzer gesagt, mit den kategorialen Kontexten müssen Relata und Relationen, Explanans und Explanandum zumindest ontologisch recht unklar bleiben (7.6). Wir erhalten also ein CESM-Modell für ein beliebiges System s zu einem Zeitpunkt t oder m(s, t) = . Dabei ist C(s,t) die Menge aller Komponenten von s zum Zeitpunkt t; E(s,t) die Menge der Relationen der Komponenten des Systems mit Systemen, die keine Komponenten von s sind, zum Zeitpunkt t;

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S(s,t) die Menge aller Relationen zwischen den Komponenten C von s zum Zeitpunkt t. M(s,t) eine Untermenge aller Prozesse in s zum Zeitpunkt t (Bunge 1998, 105, 2001b, 112 f., 2003a, 35, 2006a, 126, 2008, 11 ff., 2010a, Bunge/Mahner 2004, 75). Eine sozialtechnologische Pointe des Modells ist, dass eine effektive geplante Veränderung, Reform, Umstrukturierung oder (Neu-)Organisation eines Sozialsystems mindestens die Komponenten eines CES- oder eines CESM-Modells berücksichtigen muss (Bunge 1995, 52, 1998) neben den vermuteten Regularitäten (Bunge 1973b), was Geschichtswissenschaftler allerdings nur dann berührt, wenn sie solche Umstrukturierungen oder „Reformen“ erklären oder das Scheitern der damit verbundenen Ziele erklären wollen.372 Erwähnt sei auch, dass es bereits in A World of Systems folgendermaßen hieß: „Systemism encourages attempts to analyze systems into their composition, environment and structure, as well as to disclose the mechanism of their formation and breakdown“ (Bunge 1979a, 250). Mechanismische Erklärungen nannte Bunge schon weitaus früher „interpretative Erklärungen“, wobei er damals wohl vornehmlich die Physik und dortige Vorstellungen vor Augen hatte: „In interpretive explanation the gross properties of real systems are explained in terms of the hypothesized nature, composition, structure and behavior of its low level constituents“ (Bunge 1967b, 29; 1998b). Von Mechanismen war auch schon beim späteren Hauptsystemisten seit 1959 (Bunge 2009b 1959, vgl. Bunge 1959a, 40) regelmäßig die Rede, zentral in den 60ern (Bunge 1965, 1967a/b, 1968), vor allem im Erklärungskontext. In der Soziologie schrieben besonders früh R. K. Merton, R. Boudon, J. Elster, S. Lindenberg und H. Esser über Mechanismen (Schmid 2006a/b; Elster 1983, 1998) am Schnittpunkt von Sozial(meta)theorie und konkreter Forschung, wie auch bemerkenswerterweise der Geschichtswissenschaftler und Geschichtstheoretiker J. Topolski (1976; Kapitel 3.1.5) vor dem Hintergrund seiner eigenen Forschung und einer „materialistischen“, also Marxianisch angehauchten und mit weiteren Einflüssen angereicherten Ontologie.373 Manchmal werden Einflüsse aus Bunges früheren Schriften auf diese sozial(meta)theoretischen Traditionen erahnbar oder behauptet (Hedström/Swedberg 1996, 1998, Florian 2006). Hier hat diese Methodologie und Ontologie also eine der fruchtbareren metatheoretischen Entwicklungen in den „wissenschaftlichen“, „erklärenden“ oder „analytischen“ Sozialwissenschaften teilweise befeuert. Mittlerweile, also fünfzig Jahre später, ist es eine Standardmeinung in mancher Wissenschaftstheorie, dass wissenschaftliche Erklärungen im Idealfall Mechanismen modellieren sollen (Glennan 2002, Machamer et al. 2000), wobei die Mechanismus-Terminologie manchmal leicht, manchmal stark voneinander abweicht.374 Mittlerweile gibt es eine unübersehbare Fülle an metatheoretischer Literatur in den Sozialwissenschaften, in der auf die eine oder andere Art der Ausdruck „Mechanismus“ verwendet wird und die Idee protegiert wird, dasjenige, was als „Mechanismus“ bezeichnet wird, solle in einer sozialwissenschaftlichen Erklärung beschrieben werden (siehe auch 6.3). Das Problem 372

373 374

Dass das CESM-Modell erstmals in Social Science Under Debate (Bunge 1998) explizit eingeführt wurde, sei für zukünftige Exegeten des weithin ignorierten Systemismus hier nur erwähnt (vgl. Wan 2011a, Plenge 2014a). Ein historischer oder historisch-soziologischer Protagonist der jüngeren Literatur, in der allerdings die Positionen selten genauer und vergleichend zu klären versucht werden, ist Charles Tilly (z. B. 2008). Eine die Disziplinen übergreifende und auch die ältere Literatur einbeziehende und vergleichende Überblicksdarstellung scheint es noch nicht zu geben. Bisher ist auch keine signifikante Adaption von obigen philosophischen Ideen, die gewöhnlich eher in biowissenschaftlichen Kontexten zu verorten sind, in einem geschichts- und sozial(meta)wissenschaftlichen Kontext zu verzeichnen; siehe auch Norkus 2005, 2007, Schmid im Literaturverzeichnis. Der Import durch die Analytische Soziologie ist eher unglücklich; 7.6.

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stellt sich dort wiederum wie folgt dar: „Anyone familiar with the discussion on social mechanisms would readily agree that two of its most salient features are widespread confusion in defining the concept and the lack of rigor in employing it“ (Cardona 2013, 2; vgl. Greshoff 2015). Häufig besteht noch nicht einmal Klarheit bezüglich der Frage, ob mit „Mechanismus“ nun irgendetwas Ontisches gemeint ist, dessen Existenz stipuliert wird, oder ob mit „Mechanismus“ Modelle gemeint sind (siehe z. B. Hedström/Swedberg 1996, 1998a/b), deren Referenten unklar sind und deren (hypothetische) Existenz in instrumentalistischer Haltung auch nicht unterstellt werden soll. Die weithin geteilte Feststellung eines Durcheinanders (Greshoff 2015) scheint wiederum darin begründet zu sein, dass jeder Autor einen implizit oder explizit anderen ontologischen und/oder sozialtheoretischen Begriffsrahmen um den Ausdruck „Mechanismus“ herum spannt, sodass nie klar ist, ob unterschiedliche Autoren grob dasselbe meinen, wenn sie im Sozialwissenschaftskontext von „Mechanismen“ oder „sozialen Mechanismen“ schreiben (7.6). Daher ist in der Breite der Debatte auch schwierig verstehbar, worum es genau geht. Es ist auch nicht ganz leicht zu klären, was überhaupt von sozialen Mechanismen hervorgebracht werden soll, was also – so die Vorstellung – das „soziales Phänomen“ Genannte ist, das letztlich das Explanandum sein soll (Plenge 2014a). Die bisherige Kategorientafel habe ich auch deshalb bis hierhin recht breit diskutiert und das sozial(meta)theoretische Vokabular darin zu situieren versucht (7.6). Da im Systemismus dieser Begriffsrahmen weitgehend klar ist, kann er auch hier dazu dienen, wenigstens als Orientierungsrahmen zu dienen. In diesem Rahmen ist entsprechend auch weit eher erkennbar, was zu kritisieren ist, als andernorts (z. B. Plenge 2014a), weil der Kontext klarer ist. Gerade an dieser Stelle ist auch die systemische Sicht der Dinge eher in den Grundzügen klar als in den Details. Auch ihre Verwendung oder Spiegelung in sozialwissenschaftlicher Praxis ist nicht klar, was aber insofern nicht weiter tragisch ist, als sich mehr oder weniger alle sozial(meta)theoretischen Mechanisten darin einig sind, dass die Sozialwissenschaften auch keine oder kaum Mechanismen kennen (Pickel 2007). Das scheint zumindest der Stand der hier rezipierten Metaliteratur zu sein. Was ist im Rahmen des CESM-Modells eines jeden beliebigen Systems unter dem Mechanismus eines Systems oder den Mechanismen eines Systems nun genauer zu verstehen? An dieser Stelle sei die methodologische Seite der ontologischen Medaille direkt hervorgehoben: Scientists have always known that to explain the behaviour of a system is to exhibit or conjecture the way it works, that is, its mechanism(s) (Bunge 2006a, 142). To explain X is to propose the mechanism(s) that give(s) rise to (or else maintains or destroys) x (Bunge 2003, 23; bezogen auf die Sozialwissenschaften siehe Bunge 2010a, 377). The first step in trying to understand some fact is to describe it. The second consists in subsuming the particular described under some universal, or general pattern. Finally, in a third step we may unveil the mechanism or modus operandi of the fact to be understood (Bunge/Mahner 2001, 82; Bunge 1964, 1967a/b). 375

375

Siehe ferner zur Frühphase dieser Mechanismus-Literatur neben Bunge 2009b 1959, 1965, 1967a/b, 1981, 1983a/b auch durchaus teilweise ähnlich Harre 1970, 1972, Bhaskar 1978a, 1979, Elster 1983 und wiederum ähnlich Glennan 2002, Glennan 2010.

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Nur am Rande sei bemerkt, dass wir hier sozusagen eine der möglichen methodologischen oder hermeneutischen Stufenleitern (Kapitel 5.5, 4.1) treffen, auf die wir später kurz zurückkommen (8.1). In anderen Worten, Erklärungen sind auch im systemischen Ansatz Beschreibungen, aber nicht jede Beschreibung ist eine Erklärung. Wir haben es hier also mit etwas zu tun, das ich ein „methodologisches“ Erklärungsverständnis genannt habe, das natürlich ontologische Voraussetzungen hat. Subsumtive allgemeine Beschreibungen sind in gewissem Sinne hier keine Erklärungen oder, besser, keine methodologisch idealen Erklärungen. Das dürfte auch daran liegen, dass die Welt hier nicht als sozusagen „flache“ Ansammlung von „Phänomenen“, „Ereignissen“ oder „Tatsachen“ aufgefasst wird, sondern als „geschichtetes“ System aus Systemen (7.1). Wenn man ein x (wissenschaftlich) verstehen möchte, muss man dessen Mechanismus beschreiben oder in irgendeiner Weise ein Modell des Mechanismus oder, anders gesagt, des Systems, in dem der Mechanismus abläuft, hypothetisieren. Klar ist, dass zu den Präsuppositionen dieser und ähnlicher Methodologien die Existenz von Systemen, Systemeigenschaften und –ereignissen und Mechanismen gehört. In Kontexten, in denen man über jene Kategorien nicht verfügt, kann man diese Methodologien nicht formulieren (Kapitel 6).376 Bevor wir uns den Mechanismen weiter nähern, sollten wir zwei korrespondierende Postulate festhalten, da man sie ja gerade im Fall des Sozialen bestreiten kann. Erstens, „all concrete systems are endowed with one or more mechanisms that drive or block their transformations“ (Bunge 1999, 24). Das impliziert, dass auch alle sozialen Systeme über mindestens einen sozialen Mechanismus verfügen. Ferner heißt es von sozialen Systemen: „Alle sozialen Systeme haben eine spezifische Funktion (…)“ (Bunge 1995, 43; 1993, 215; 2001b). Dies sind – wir halten das erneut sicherheitshalber fest – ontologische, also hyperallgemeine Annahmen. Wie aus dem CESM-Modell bereits ersichtlich, ist ein Mechanismus eines Systems ein Prozess eines Systems. Halten wir das in noch etwas klarerer Formulierung fest, da uns dies später die Formulierung von Fragen danach erlaubt, was diese Mechanismen als Prozesse (7.3.5) besonders auszeichnet: „Mechanisms (….) happen to be processes in material complex things, not in their individual constituents“ (Bunge 2004a, 183). Der analoge Fall bezogen auf die soziale Ebene: „Social mechanisms reside neither in persons nor in their environment – they are a part of the processes that unfold in or among social systems” (Bunge 1997, 448). Wann etwas ein Mechanismus in einem System oder zwischen zwei Systemen ist, führt zu Fragen der Individuierung von (Teil-)Systemen. Mechanismen sind also keine komplexen Dinge, d. h. Systeme, sondern Prozesse. Terminologisch wird dies manchmal miteinander vermischt (Plenge 2014a, Glennan 2002), was die Nützlichkeit des CESM-Modells andeutet. An dieser Stelle sollte man aus drei oder vier Gründen eine Trivialität festhalten, die leicht übersehen wird, u. a., weil auch der Ausdruck „Mechanismus“ – wie auch „Kausalität“ oder „Gesetz“ oder „mechanistische Erklärung“ – reduktionistische, teilweise biologistische oder physikalistische Befürchtungen heraufbeschwört (siehe teilweise Norkus 2005, 2007). Hier sei bloß festgehalten, dass der Seinspyramide entsprechend in der Systemik Typen von Mechanismen relativ zu den Typen von Systemen und entsprechend relativ zu den Typen der Komponenten jener Systeme bestimmt werden. Anti-Reduktionistische oder anti„materialistische“ Reflexe sind also zumindest unbegründet. Das war der erste Grund. Der 376

Es fällt also auf, dass eine Covering-Law-Erklärung, auch gerade unter pragmatischer Verwendung von Generalisierungen oder „Gesetzen“, die gegenüber der deduktiv-nomologischen Variante abgeschwächt werden (6.1), damit noch nicht ohne Weiteres als eine Erklärung, gar als eine wissenschaftliche Erklärung und als Ideal gilt. Siehe pluralistischer oder pragmatischer Bunge 1967a/b, 1983b, Kapitel 7. D. h., es wird auch dort eingestanden, dass kontextuell weniger reicht.

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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zweite Grund ist, dass wiederum Systemdenken innerhalb der Sozialwissenschaften so etwas abgesprochen wird, d. h. die Analyse eines Ganzen in dessen Teile und die Erklärung des Ganzen durch Hypothesen über die Komponenten und ihre Interaktionen. Der dritte Grund ist, dass hier etwas angesprochen wird, was in den Sozialwissenschaften offensichtlich nicht selbstverständlich ist, was man, viertens, daran sieht, dass sich die Mechanisten unterschiedlichster Herkunft wenigstens hierin einigermaßen einig sind und die Konsequenz aus der Trivialität einfordern. Die Trivialität besteht darin, dass Sozialwissenschaften in dieser (normativen) Sicht, die hinter dem Ausdruck „(sozialer) Mechanismus“ manchmal zu verschwinden droht, primär Interaktionen zwischen Personen und die resultierenden und emergierenden „unintendierten“ oder „perversen“ Resultate untersuchen sollen und z. B. nicht singuläre Handlungen, die Phänomenologie der „Lebenswelt“, Korrelationen zwischen irgendwelchen in Umfragen theoriefrei erhobenen Variablen (z. B. Bunge 2001b), über „soziale“ oder „historische“ Gesetze mit unklaren Referenten spekulieren oder undefinierte „historische Ereignisse“ „erzählen“ sollen. Das ist sozusagen der innerhalb dieses metatheoretischen Spektrums eher unumstrittene Hintergrund der These, Mechanismen befänden sich nicht in Personen, sondern seien Prozesse in Sozialsystemen. Wenn man mindestens ein Auge zudrückt, terminologische Unklarheiten und Anschlussprobleme wie Kausalität oder „Struktur-vs-Handlung“ (7.4) neben kategorialen Differenzen wie auch der Labelitis (Holismus etc.) außer Acht lässt, teilen diese Minimalsicht auf sogenannte „Mechanismen“ und sozial-mechanismische Erklärungen beinahe alle jüngeren sozialwissenschaftlichen „Mechanisten“, zumindest im Groben (7.6). Die Unterschiede liegen vornehmlich wohl in unterschiedlichen Rahmenontologien, unterschiedlichen Vorstellungen zur Beschreibung oder Modellierung von Mechanismen und unterschiedlichen substanziell-theoretische Annahmen, die sich jeweils in jeder einzelnen Mechanismusschule unterscheiden (siehe auch 7.5). Anders als auch in Teilen der neueren Wissenschaftstheorie sind Mechanismen im Systemismus also weder Systeme noch „Entitäten“. Sie sind zwar Prozesse, aber nicht jeder Prozess ist ein Mechanismus (Bunge 1999, 24; 1997a, 416). Wenn es also von einem beliebigen System  heißt, neben der Komposition, Umwelt und Struktur zeichne es sich durch „M() = Mechanism or peculiar process“ aus (Bunge 2012a, 39; vgl. 2004a, 188: „characteristic process“), oder wenn es heißt, ein Mechanismus sei „whatever process makes a complex thing work“ (2003/b, 175), was auch in die Metapher „tick“ (Bunge 2004a, 2001b, 113) gekleidet wird, dann muss auch im Rahmen des systemischen Ansatzes und dessen Ontologie noch genauer gesagt werden, worin der Unterschied zwischen Mechanismen und anderen Prozessen besteht, zumal die einen Prozesse ex hypothesi dazu herangezogen werden können, die anderen zu erklären oder zu verstehen, da sie diese „am Laufen halten“ oder ihren „normalen Gang“ bestimmen (Bunge 2003b, 146 ) bzw. das System prozessieren lassen (vgl. besonders Bunge 1997, 415).377 Dass diese Mechanismen als Prozesse aufgefasst werden, deren Beschreibungen Erklärungen von etwas anderem erlauben, darf im Rahmen einer realistischen Ontologie aber natürlich nicht dazu führen, dass ontisch-epistemische Zwitterkategorien gebildet werden (wie teilweise im Fall von „Emergenz“, 7.3.2), sodass alles „Mechanismus“ genannt wird, was in irgendeinem Kontext als Erklärer dient, denn dann wird das kategoriale Mobiliar der Welt abhängig von Menschen. Genauso sollte man ja wohl kaum all das, was in Erklärungen ir377

Dass dies keine einfache und intuitive Angelegenheit ist, kann man anhand des Umstands vermuten, dass der Hauptbeiträger hierzu hieran seit 1942 feilt (Bunge 1997, 458) und die Wörter von Machamer et al. (2000) aufgreifend eingestanden hat, dass es keine wirklich völlig zufriedenstellende Auffassung von Mechanismen in den Wissenschaften gibt, geschweige denn in den Sozialwissenschaften (Bunge 2004a, 183; vgl. Schmid 2006a).

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gendwie genannt wird, allein aus diesem Grund eine Ursache nennen (6.3), denn dann ist die Rede von kausalen Erklärungen recht witzlos und letztlich werden die Analysen methodologischer Begriffe zirkulär. In eine solche Richtung heißt es aber zum Beispiel: „Presumably, an omniscient being would not need the concept of a mechanism, because to him all boxes would be translucent“ (Bunge 1999, 24). Mit „Box“ ist hier eine epistemische Blackbox gemeint, in der sozusagen versteckt ist, was ein Forscher zu einem Zeitpunkt, an dem er etwas nicht versteht oder keine Erklärung hat, noch nicht kennt. Wenn mit „Mechanismus“ bloß etwas gemeint wäre, was man noch nicht weiß, dann ist der ontische Status von Mechanismen gefährdet.378 In der sozialwissenschaftlichen Literatur werden reale Mechanismen regelmäßig nicht von Modellen von etwas unterschieden, sodass manchmal nicht klar ist, ob sich hinter dem Ausdruck „Mechanismus“ etwas – aus ontologischer oder sozialtheoretischer Perspektive – hochgradig Spannendes verbirgt oder bloß eine leicht aufgeblasene Beschreibung von etwas anderem, aber keinen existenten und kategorial strikt zu unterscheidenden Mechanismen. Die schnell ontologisierte Rede von „Boxes“, d. h. die Ersetzung einer epistemischen Kategorie durch eine latente Systemvorstellung („Box“), verdeckt andernorts schnell, dass es in dortigen sozialtheoretischen Erwägungen keine Idee von Systemen als (hypothetisch) real-existierenden Entitäten gibt, die man insofern öffnen kann, als man sie in ihre Teile zerlegt, nach den Komponenten, der Struktur der Komponenten und ihren Mechanismen fragt, neben einer Umwelt (7.6). An dieser Stelle ist in der neueren Literatur zu Mechanismen zumeist von Kausalitätsphilosophen erhobene Kritik zu verorten, die grob besagt, dass „Mechanismus“ bloß „Kausalkette“ meint und der kritische und zu erörternde Begriff entsprechend einzig und allein derjenige der Kausalität ist, was dann in aller Regel dazu zu führen scheint, dass über Systeme, ihre Komponenten, Strukturen und Prozesse nicht mehr geredet werden muss, was in geschichtsphilosophischen Vorstellungen zu Schlangenmodellen (Kapitel 6.3) führen kann und in mancher Sozialforschung wohl zur Annahme von Kausalität zwischen irgendwelchen ontologisch ungeklärten „Variablen“. Es ist eine Wiederholung wert: In anderen Ontologien gibt es keine Systeme oder auch Mechanismen, die man untersuchen könnte. Andernorts werden von Bunge der Mechanismus oder werden die Mechanismen eines konkreten Systems wie folgt charakterisiert. Die Liste soll gewisse Unklarheiten andeuten: (M1) A mechanism is a set of processes in a system, such that they bring about or prevent some change – either the emergence of a property or another process – in the system as a whole (Bunge 2003a, 20; 2010a, 379). (M2) … M() the mechanisms, or characteristic processes, that make  what it is and the peculiar ways it changes (Bunge 2006a, 126, Hervorhebung dp). (M3) In particular, M() is a snapshot of the processes that go on in the system in question (Bunge 2006a, 126). (M4) [A (lawful) mechanism] is the process – whether causal, random, or mixed – that makes the system work the way it does (Bunge 2006a, 140). (M5) Mechanismus = Prozess oder Prozesse, die ein System als solches erhalten (Bunge 2012, 30).

378

Der Fehler findet sich bei Schönwandt 2002, 91.

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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(M6) A mechanism is a process that constructs a system or keeps it going: a process that performs a specific function required for its persistence (Bunge 2009a, 19).379 (M7) M(s) = Mechanismus = Menge an Prozessen die dem System s erlauben, seine spezifischen Funktionen zu erfüllen (Bunge 2008, 52). Dies lässt nun zunächst an die obigen Bemerkungen anschließen, dass es im Systemismus zwei Typen von Prozessen gibt, soweit meine Lektürehypothesen zutreffen. Denn Mechanismen (= Prozesse) haben insofern etwas Relationales, als sie Prozesse für andere Prozesse sind (M1, M2, M5, tendenziell M6). Die Signifikanz der Unterscheidung zwischen bloßen Prozessen und ihren Mechanismen, die in M3 unterschlagen wird, ist im Rahmen unserer Problematik klar, wenn gilt, was oben gesagt wurde, dass es verschiedene Typen von sozialen Prozessen gibt. Das Bevölkerungswachstum, das Wirtschaftswachstum gemessen mit irgendeinem Indikator, die Zunahme der sozialen Ungleichheit, die Entstehung sozialer Segregation, die Verbreitung des schweren Pfluges im Frühmittelalter (L. White 1968), Urbanisierung, Industrialisierung, Inflation (Bunge 1997, 427) und das Wachstum der Wolle an Spätmittelalterlichen Schafen oder das Wachstum eines Kindes sind in diesem Rahmen auch (soziale) Prozesse in oder an (sozialen) Systemen, aber keine Mechanismen. Diese Prozesse halten nichts am Laufen, machen nichts „ticken“ oder funktionieren, bringen nichts hervor. Man ist vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund der weiteren kategorialen Rahmung dann an dieser Stelle gezwungen, zwischen Prozessen im „schwachen“ Sinn der zeitlich geordneten Abfolge der Werte einer Eigenschaft (Prozesse2) und Prozessen in einem „stärkeren“ Sinn zu unterscheiden (Prozesse1). Dasselbe wird auch oft dadurch ausgedrückt, dass von „underlying mechanism(s)“ die Rede ist (Bunge 1997, 425). In M2 ist davon die Rede, dass ein Mechanismus ein System zu dem macht, was es ist, z. B. zu einer Demokratie. Hier ist die Vorstellung also auch, dass ein Mechanismus eines Systems eine emergente Eigenschaft konstituiert, was dynamisch betrachtet die permanente Reproduktion des Wertes der generischen Eigenschaft durch die Komponenten ist. In M5 und M6 werden jene Prozesse „Mechanismen“ genannt, die zum Erhalt des Systems beitragen, was teilweise mit der Idee verbunden wird, dass die „Mechanismen“ genannten Prozesse die spezifische Funktion des Systems erfüllen. Kontrovers wird es sicherlich aus unterschiedlichen onto-methodologischen Gründen, wenn bestimmtes nicht „Mechanismus“ genannt wird, worauf manche manchmal in Erklärungen zurückgreifen, denn dann handelt es sich dabei entweder um gar keine Erklärungen, keine wissenschaftlichen Erklärungen oder keine idealen wissenschaftlichen Erklärungen. Die Problematik betrifft jede Onto-Methodologie oder jedes onto-methodologische Erklärungsverständnis spätestens seit Hempel (Kapitel 4.2, Kapitel 6): No doubt, the production and understanding of speech are mental phenomena; but there is nothing to be lost, and much to be gained, in explaining mental phenomena as brain processes. Moreover, there is no genuine explanation without mechanism, and no mechanism without matter (Bunge 1984, 121). Im Fall der Mechanismen für geistige Prozesse oder „the mechanisms underlying mental phenomena“ (Bunge 2010c, 240) sind diese Mechanismen dann in dieser Sicht Neuromechanismen. Das erinnert daran, dass ontologische Thesen methodologische Kehrseiten haben und 379

„… el mecanismo de un sistema es la colección de procesos que lo mantienen en marcha“ (Bunge, 2008, 54).

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umgekehrt, was in diesem Rahmen aber immerhin explizit ist. Solche Neuromechanismen interessieren zwar auch Sozialwissenschaftler, nämlich social cognitive neuroscientists, aber (noch) eher selten viele Sozialwissenschaftler (obwohl sich auch das wohl zunehmend ändert). Das heißt ganz einfach, in vielen Fällen werden diese Neuromechanismen geblackboxt und man bezieht sich in Handlungserklärungen mit einigermaßen klarem Hypothesenhintergrund auf kognitive Prozesse und gerade keine Mechanismen. Ich habe schon darüber spekuliert, dass das auch reicht (6.2). Ein Ideal zu formulieren bedeutet ja nicht, dass alles andere nicht zählt, zumal es auf die spezifischen Erfordernisse einer Disziplin ankommt, in denen etwas erklärt und verstanden werden soll. Das galt schon für die Covering-Law-Modelle von Hempel (1942, 1965). Auch andere alltagspsychologische Generalisierungen oder „Gesetze“ wie *Wenn eine Person feststellt, dass sie eine internalisierte und als richtig empfundene Norm verletzt hat, dann fühlt sie sich schlecht* (inspiriert von Esser 2000d, 113), können in Subsumtionserklärungen „im logisch systematischen Sinn“ (Hempel) verwendet werden, ohne dass man die (psychischen und recht lockeren) Regel- oder Gesetzmäßigkeiten zu „Mechanismen“ erklären muss (wie manchmal J. Elster 1998, 2007), die Regelmäßigkeiten anderweitig ontologisch auflädt oder die Neuromechanismen in jeder Erklärung zu kennen verlangen müsste. Kontextuell scheinen manche Regularitäten manchmal für Erklärungen zu reichen. Das ist letztlich ja auch die Pragmatik hinter dem zuvor angedeuteten Stufenmodell wissenschaftlichen Verstehens im Rahmen der systemischen Methodologie.380 Auf mentale Prozesse müssen wir hier am Rande eingehen, da mentale Prozesse oder auch Neuromechanismen natürlich keine sozialen Mechanismen sind, da Mechanismen in diesem Rahmen Prozesse in Systemen und nicht in ihren Komponenten sind. Ferner sind soziale Mechanismen Prozesse in sozialen Systemen und nicht in individuellen Akteuren oder deren Komponenten, z. B. Gehirnen. Ontologisch ist dies bereits eine kategoriale Bestimmung, die über die vermutete Gemeinsamkeit, dass (soziale) Mechanismen etwas mit (sozialen) Interaktionen zu tun haben, hinausweist, denn erstens muss hier die Existenz sozialer Systeme vorausgesetzt werden und zweitens ist nicht jeder soziale Prozess auch innerhalb eines Sozialsystems in diesem Rahmen ein Mechanismus. Wir können hier nun annehmen, dass soziale-Prozesse1 Mechanismen für soziale Prozesse2 (oder auch Ereignisse, 7.3.5) sind. Dass Mechanismen immer als Mechanismen für etwas aufzufassen sind, wird auch in der weiteren jüngeren Mechanismusliteratur, so weit ich sehe, weitgehend so gesehen, obwohl es dort häufig heißt, Mechanismen seien Mechanismen für ein „Verhalten“ (Glennan 2002) oder ein „Phänomen“ (z. B. Machamer et al. 2000). Im systemischen Rahmen wird allerdings an der traditionellen Verwendung von „Phänomen“ im Sinne von etwas wie „Erscheinung im Geist“ festgehalten. Vor diesem Hintergrund ist „soziales Phänomen“ ein Widerspruch in sich oder zu unklar (7.3.2), als dass man mit dem Ausdruck ontische Explananda von Geschichts- und/oder Sozialwissenschaften bezeichnen sollte (7.6).381 Im Rahmen des Systemismus gibt es Mechanismen für Zustände oder Zustandserhaltung im Zeitverlauf („stasis“; M5) und Veränderung im Sinne von Emergenz (qualitativer Veränderung) oder „bloßer“ quantitativer Veränderung (M4?, M3), aber auch Mechanismen für den 380

381

Auch im Common Sense sind viele Prima-facie-Erklärungen Subsumtionserklärungen, wobei Singuläres unter häufig äußerst dubiose Generalsierungen (oder „Erfahrungsregeln“; M. Weber) des „ist immer so“ subsumiert werden (in denen von Systemen, Mechanismen oder Kausalitäten auch häufiger nichts bekannt ist). Ich gehe hier davon aus, dass man zur Erläuterung dessen, was „Phänomen“ heißt, wieder auf eher traditionelle Kategorien wie „Eigenschaft“, „Ereignis“ oder „Prozess“ zurückgreifen muss, obwohl diese Kategorien scheinbar teilweise außer Mode kommen, oder dass sich die Unterschiede im weiten Feld der Philosophie letztlich als terminologisch erweisen.

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Untergang von Systemen (M9, unten). Letzeres scheint natürlich seltsam oder inkohärent, da Mechanismen oben gerade als solche Prozesse bestimmt worden sind, die ein System erhalten. Aber mit der Rede von Mechanismen ist keine Uhrwerktheorie des Sozialen intendiert, die auch besagen würde, dass die Uhr und ihr Werk immer gleich bleiben (7.3.5): (M8) Ich schlage vor, einen sozialen Mechanismus zu definieren als Prozess, der notwendig ist für die Entstehung, Bewahrung, Reform oder den Niedergang eines sozialen Systems, wobei System alles meinen kann von einer Familie oder Gang über einen Konzern bis hin zum Staat (Bunge 2010a, 375). Die Vielzahl der leicht unterschiedlichen Bestimmungen von „Mechanismus“ und „sozialer Mechanismus“ im Rahmen der Literatur zur Systemik sollte andeuten, dass (mir) nicht alles klar ist. Das Kernproblem ist in meiner Lesart die genauere Bestimmung der unterschiedlichen Prozesse, in der metaphorischen Redeweise der „schwachen“ und der „starken“, in methodologischer Redeweise der explanatorischen und jenen, die erklärt werden.382 Dies ist insofern ein weiter Begriff eines sozialen Mechanismus, als in der lockeren Annäherung alle systemrelevanten Prozesse Mechanismen sind. Was heißt „systemrelevant“ genauer? Es ist auch davon die Rede, Mechanismen erfüllten die „spezifische Funktion“ des Systems (M6, M7). Dass soziale Mechanismen Prozesse sind, die in oder zwischen Sozialsystemen stattfinden und nicht in ihren Komponenten, ist eigentlich irgendwie klar, wenn von sozialen Prozessen die Rede ist und man die Vorstellung „schwacher“ Prozesskategorien zunächst außen vor lässt. Das ist wieder nur die Bemerkung wert, da in der sozial(meta)theoretischen Literatur zu sozialen Mechanismen, wie M. Schmid (2006a, 28) bemerkt hat, öfters gar nicht zwischen sozialen und individuellen Mechanismen oder sozialen und psychischen Mechanismen unterschieden wird: „So ebnet beispielsweise die Aufsatzsammlung, die Hedström und Swedberg 1998b zusammengestellt haben, diesen Unterschied geradezu systematisch ein.“ Die metatheoretische Folge ist, dass soziale Mechanismen auch 382

Dies sieht man auch anhand von (M9): Definition 1 If  denotes a system of kind , then (1) the totality of processes (or functions) in  over the period T is () = The ordered sequence of states of  over T; (2) the essential mechanism (or specific function) of  over the period T, that is, M() =s(s)  (s), is the totality of processes that occur exclusively in  and its conspecifics during T. Definition 2

A social mechanism is a mechanism of a social system or part of it. (Bunge 2006a, 131).

Wir wissen schon (7.3.5), was unter (1) hier unter anderer Bezeichnung verbucht ist, nämlich die Geschichte des Systems in der Zeitperiode. Die Menge der Prozesse, die „essentielle Mechanismen“ genannt werden, wird dadurch bestimmt, dass sie einzig in dem bestimmten Typ von System in einem Zeitraum auftreten. Das wirft Fragen auf nach der Bedeutung von „Funktion“. Ferner wirft es eigentlich die Frage auf, ob es auch inessentielle Mechanismen gibt. Drittens würde dies im Rahmen der Übertragung auf soziale Mechanismen die Frage aufwerfen, ob es auch inessentielle soziale Mechanismen gibt. Ferner ist nicht klar, ob der Mechanismusbegriff hier wirklich einheitlich für alle Realitätsebenen ist, weil die spezifischen Funktionen von sozialen Systemen (auch oder ausschließlich) als sogenannte „Teleofunktionen“ bestimmt werden (siehe M10 im Text), die es in der Natur nicht gibt, das heißt, jemand hat das Prozessieren des Mechanismus intendiert. Nach meiner Lesart gibt es hier vieleicht interne Puzzles, die wir hier übergehen, weil sie dem Autor auch nicht gänzlich klar sind. In dieser Definition scheint auch, soweit ich sehe, nicht abgedeckt zu sein, dass die Prozesse, die „essentielle Mechanismen“ genannt werden, weil sie spezifische Funktionen erfüllen, andere Prozesse, die bloß „Funktionen“ genannt werden, hervorbringen. Darauf kommen wir gleich.

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vermeintlich in Gehirnen von Personen zu finden sind, was bloß Verwirrung stiftet und im Rahmen der systemischen Begriffsarchitektonik ausgeschlossen wird. Trivialerweise findet ein Fußballspiel nicht in dem Kopf eines Teilnehmers statt und auch nicht in den Köpfen aller Teilnehmer. Dasselbe gilt für alle sozialen Prozesse und Mechanismen wie die Produktion in einer Fabrik oder das Unterrichten in einer Schule oder die Verteilung der Post durch die Post. Dies sind Prima-facie-Beispiele auch für solche Prozesse, welche die spezifische Funktion des Systems erfüllen. Was ist also mit „Funktion“ und „spezifischer Funktion“ eines Prozesses eines Systems gemeint? Schließlich soll die Erfüllung einer spezifischen Funktion Mechanismen von anderen Prozessen unterscheiden. Zu Funktionen heißt es stellenweise knapp: (Spezifische Funktion) Die spezifische Funktion einer Komponente a von einem konkreten System ist die Sammlung an Prozessen, die nur in a und seinesgleichen auftreten können (Bunge 1995, 34). Der Ausdruck „Funktion“ scheint in den Sozialwissenschaften genauso vielfältig verwendet zu werden wie der Ausdruck „Struktur“. Bei „Funktion“ handelt es sich im Rahmen der Systemik zunächst, soweit ich sehe, wie im Fall von Tatsache (7.3.7) bloß um eine QuasiKategorie, die bestimmte Beschreibungen erlaubt. Zum Beispiel lässt sich dann begrifflich zwischen der Funktion, also demjenigen, was ein System macht oder hervorbringt (Prozess2), und dem, wie das System dies hervorbringt (Prozess1), unterscheiden. Das lässt Fälle funktionaler Äquivalenzen beschreiben, die umfassen, dass das Was („was ein System macht“) von unterschiedlichen Wie hervorgebracht werden kann („wie ein System es macht“), dass also einem ähnlichen Prozess eines Systems oder unterschiedlicher Systeme unterschiedliche Typen von Prozessen (Mechanismen) zugrunde liegen. Das Was kann dann auch durchaus bekannt sein, wohingegen das Wie hinter einer epistemischen Blackbox verborgen ist, „hinter den Schirmen“ (Bunge 2012a) stattfindet, also zum Beispiel auch jenseits des irgendwie direkt Beobachtbaren liegt. Genauer heißt es: (Funktionale Äquivalenz) Two systems are functionally equivalent if, and only if, their functions2 are the same, i. e., iff they have roughly the same outputs regardless of their differences in inputs or in mechanisms (Bunge/Mahner 2001, 83; zu dem Index bei „function2“ siehe unten). Das heißt, das Was wird an dieser Stelle „Funktion des Systems“ genannt und dieses Was ist zugleich der Output des Systems. Hier haben wir auch wieder latent unsere zwei Typen von Prozessen, die ich meine, im Systemismus ausmachen zu können, also obige Prozesse1 und Prozesse2. Denn der im Zitat angesprochene Output eines Systems wird als Abfolge von Werten von Systemeigenschaften als Teil der Zustandsveränderung vorgestellt werden müssen.383 Bunge schreibt über funktionale Äquivalenz und Mechanismen folgendermaßen und verweist auf die Benennung von Mechanismen als „Funktionen“: 383

An dieser Stelle sei ergänzt, dass es sich bei den Inputs und Outputs um eine Teilmenge dessen handelt, was in anderer Terminologie oben die externe Struktur eines Systems genannt wurde (Bunge 2001c), denn diese umfasst die Menge der Verbindungen und Interaktionen mit der Umwelt (oder, genauer, der Nachbarschaft) des Systems, also auch jene, die Komponenten der Umwelt mit Komponenten des Systems haben (Input) und umgekehrt (Output).

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Sometimes mechanisms are called ‚functions‘. This conflation is not advisable when one and the same task can be performed by different mechanisms – the case of functional equivalence. For example, some quadrupeds can advance by walking, crawling, or swimming; documents can be reproduced by printing presses, mimeographs, and photocopiers; markets can be conquered by force, dumping, free-trade agreements, or even honest competition; and certain goods can be sold in markets, retail stores, department stores, or through the internet. Because the function-mechanism relation is one-to-many, we should keep the two concepts distinct while relating them (Bunge 2006a, 133). Dass reine Output-Prozess-Beschreibungen oder Input-Output-Beschreibungen unbefriedigend sind, ist vor dem Hintergrund der Systemontologie sofort klar und damit auch, warum manche Covering-Law-Erklärungen oder irgendwie aufgefasste Kausalerklärungen, die z. B. auf Punktereignisse rekurrieren, in Wissenschaftskontexten unbefriedigend sein können. Alle rein funktionalen oder „phänomenalen“ Beschreibungen („Was passiert?“) werden auch Blackbox-Modelle genannt (Abbildung 30), von denen in der Soziologie nun regelmäßig und auf unterschiedliche Art die Rede ist (Elster 1983, Hedström/Swedberg 1998;), weil Blackbox-Modelle eben nicht enthalten, wie der beschriebene Prozess oder auch bloß ein punktuelles „historisches“ Ereignis (Schützeichel 2004) zustande kommt (Bunge 1964, 1967a, 1967b, 1967c). Sie beschreiben bloß, was passiert, indem entweder das interne Systemgeschehen in phänomenalen generellen Modellen außen vor bleibt, oder die Interaktionen zwischen den beteiligen Systemen in singulären Beschreibungen („Erzählungen“) nicht rekonstruiert werden, wie im Fall der Erklärung eines „historischen“ Ereignisses durch den Urknall. 384 Die Rede davon, etwas sei die „Funktion“ von einem System oder einem Prozess kann dann suggerieren, man habe etwas oder viel verstanden bzw. erklärt, was aber gerade in mechanismischen Erklärungsauffassungen geleugnet wird, denn man weiß nicht, was „hinter den Schirmen“ (Bunge 2012a) oder unter der „Haube“ (Elster 1983; Dray 1957) vor sich geht und diese Funktion oder diesen Prozess erfüllt oder hervorbringt. Anders gesagt: Man weiß nicht, warum passiert, was passiert.385

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385

In den vermeintlichen Gesetzeshypothesen soziologischer Herkunft, wie etwa derjenigen von P. M. Blau (6.1), ist nichts darüber zu erfahren, was für das Verhalten des Sozialsystems verantwortlich ist. Deshalb halten sozialtheoretische Kritiker entsprechende Subsumtionserklärungen entweder für non-explanatorisch oder für schlechte Erklärungen. Beispielsweise wurde an Skocpols Subsumtionsmodell kritisiert, dass dieses weder „kausal“ noch sonst irgendwie erkläre, sondern in diesem Buch die Erklärungen eigentlich in den „narrativen“ Beschreibungen einzelner Revolutionsverläufe bestehen. Natürlich vermutetet man hinter Black-Boxes keine Mechanismen, zum Beispiel auch (kausale) Mechanismen der Hervorbringung von etwas, wenn man in der Ontologie keine komplexen Systeme und deren Mechanismen kennt oder z. B. Regularitätsmetaphysiker der Kausalität ist, also von Hervorbringung schweigen muss.

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Abbildung 30

„A black box theory regards its referent as a black box devoid of structure. Its overall behaviour is accounted for by peripheral variables I and O eventually linked by auxiliary (intervening) variables M” (aus Bunge 1967a, 509) „M“ steht für Mechanismus und wird in einem Black-Box-Modell nicht thematisiert. Die Box ist hier ontologisch ein System, dessen Inputs und Outputs zu dessen Umwelt gehören. Wie man beinahe sieht: Blackboxmodelle sind nicht gänzlich ohne kausale Reichweite. Übertragen auf soziale „Badewannen“, die man durch vertikales Absenken der Box ansatzweise erhält, stellt sich aber die Frage: Was ist mit „I“ gemeint, was mit „M“ und was mit „O“, die jeweils als „sozial“ zu qualifizieren sind. Und sind die Is Ursachen?

Das Was kann man auch ausdrücken mit der Antwort auf Fragen wie „Was ist die Funktion von x?“ oder „Was macht x?“, wohingegen das Wie ausgedrückt werden kann mit „Wie funktioniert x genau?“ oder einfach „How does it work?“ (Bunge 1997, 417, 2004a/b) oder „Was ist der Mechanismus m für Funktion f des Systems x?“. Die „gundlegende Idee“ hinter Vorstellungen von mechanismischer Erklärung ist auch beschämend einfach, nämlich „dass wir wissen müssen, wie etwas funktioniert, nicht nur, wie es sich verhält“ (Bunge 2010a, 377), wobei jenes „x verhält sich“ eben manchmal durch „die Funktion von x“ ausgedrückt wird und der Bezug auf Mechanismen des „Verhaltens“ (Prozesses) durch „das Funktionieren von x“ („functioning“). Dass derartige Terminologien zu Verwirrung führen müssen, scheint klar, könnte man doch so etwas Ähnliches fragen wie „Wie funktioniert die Funktion?“. The disclosure of a mechanism starts by analyzing the system in question, that is, by showing (or conjecturing) its composition, structure (relations among the parts), and connections with the environment. It proceeds by showing (or hypothesizing) what the system components do (specific function) and how they do it (specific mechanism) (Bunge 1997, 417). Das CES-Modell eines Systems (C = Composition, E = Environment, S = Structure) kann auch dazu dienen, verschiedene Begriffe von Funktion genauer auseinanderzuhalten. Bunge/Mahner (2001) unterscheiden im Fall der Biologie fünf Funktionsbegriffe und im Fall der Sozialwissenschaften fügen sie diesen einen sechsten hinzu: (i) Funktion1: Die internen Prozesse (oder Aktivitäten) eines Systems. (ii) Funktion2: Die externen Prozesse (oder Aktivitäten) oder Rollen („roles“) eines Subsystems eines Systems (siehe Bunge/Mahner 2001, 77). Da es häufig und in diesem Fall so ist, dass Funktion1 und Funktion2 voneinander abhängen, und es ferner so ist, dass interne Prozesse (Funktion1) überhaupt nur interessieren, wenn sie „eine Rolle spielen“ in einem größeren Ganzen – wovon zuvor auch im Mechanismusbegriff die Rede war –, fassen die Autoren dies in einen dritten Begriff einer Funktion zusammen: (iii) Funktion3: Die internen Prozesse (oder Aktivitäten) der Subsysteme eines Systems sowie die externen Prozesse (oder Aktivitäten) des Systems zusammengenommen (also Funktion1

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Abbildung 31

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„Relations among the five concepts of function (function1-5) in biology. The figure can be read from left to right (“is needed to define”), or else from right to left (“implies”)(aus Bunge und Mahner 2001, 79).

plus Funktion2) ergeben die „Totale Aktivität“ (Bunge/Mahner 2001, 79) des Systems oder, wie es andernorts hieß, die „Totalität an Prozessen“ des Systems (Bunge 2006a, 131). Da es sich bei Letzterem letztlich um dasjenige handelt, was oben bereits als Geschichte des Systems bezeichnet worden ist, ist diese Vorstellung von Funktionen3 nicht jene, die klären hilft, was als Mechanismen in der Systemik aufgefasst wird.386 In den Begriffen Funktion1 bis Funktion3 spielt noch keine Rolle, ob diese Prozesse wertvoll oder nützlich für ein System oder dessen Subsysteme sind, also ob diese Systeme oder ihre Prozesse in irgendeiner Hinsicht eine positive oder negative Rolle einnehmen, also eine „Funktion“ in einem weiteren Sinn haben. Eine Funktion4 wird eine Funktion3 genannt, die für das System, z. B. einen Organismus, nützlich ist. Das Pumpgeräusch des Herzens ist eine Funktion2 und damit ein Teil von Funktion3, aber keine Funktion4, d. h. nicht wertvoll für das Gesamtsystem, den Organismus. „Mechanismus“ hat im Rahmen der Definitionen der obigen Liste, in denen gesagt wird, dass sie zum Erhalt des Systems beitragen, also auch eine Konnotation im Sinne von Funktion4. Welcher dieser fünf Begriffe einer Funktion ist nun aber im Rahmen der Mechanismusproblematik der einschlägige? Das Problem funktionaler Äquivalenz reitet begrifflich auf der Rasierklinge, welche die Unterscheidung zwischen Funktion1 (Wie?) und Funktion2 (Was?) ist. Für das Verständnis von beispielsweise Definition M9 (Fußnote 382, S. 439) ist also entscheidend, welcher Begriff von Funktion dort gemeint ist: „There is an asymmetry between function2 and mechanism (function1): one and the same function2 can often be implemented by different mechanisms (function1).“ (Bunge/Mahner 2001, 90) Nur interne Prozesse (Prozesse1) werden also „Mechanismen“ genannt, wobei Probleme der Bestimmung eines Mechanismus aufgrund von Individuierungsproblemen von Systemen auftreten können. Eine letzte Verwendung von „Funktion“ müssen wir noch zur Kenntnis nehmen, zumal sie unsere bisherige Differenzierung wieder leicht erschüttern wird. Die Verwendung von Funktion im Sinne von „Telos“ ist in jedem Fall unangebracht, in dem kein absichtsvolles Verhalten oder Handeln in Relation steht zu den Funktionen1 bis zu den Funktionen5, d. h. wenn keine Person die Prozesse geplant und tatsächlich angestoßen hat. Bunge/Mahner nen386

Beispiele für die interne Prozesse oder eine Funktion1 des Herzens („Wie?“) ist rhythmische Kontraktion und die Produktion von Pumpgeräuschen. Ein externen Prozess oder eine Funktion 2 oder die Rolle dieses Subsystems („Was?“) ist das Pumpen von Blut in andere Subsysteme (Bunge/Mahner 2001, 77). Als soziale Beispiele für Funktion1 (interne Prozesse) werden „manufacturing, work, coordination in a firm or in an orchestra, election in a polity or a club, teaching at a school, and playing in a soccer team“ genannt (Bunge/Mahner 2001, 79). Als soziale Beispiele für Funktion2 (externe Prozesse) werden „trade, marketing, foreign relations, spying, broadcasting, and advertising“ genannt (Bunge/Mahner 2001, 79).

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nen diesen sechsten Funktionsbegriff „Teleofunktion“. Alle fünf obigen Funktionen können demnach als „Teleofunktionen“ bezeichnet werden, wenn Personen diese Prozesse intendiert oder geplant haben, und dies ist vornehmlich nur in Sozialwissenschaften relevant. Mit der Rede von Funktion und allen obigen Funktionsbegriffen ist also nicht verbunden, sozialen Systemen oder einer Gesellschaft Ziele zuzuschreiben, aus naheliegenden Erwägungen. Damit haben wir für unsere Zwecke das Begriffstableau im Umfeld von Funktion abgedeckt (Abbildung 31). Wir müssen nur noch festhalten, dass ein essentieller sozialer Mechanismus (und die spezifische Funktion), im Unterschied zu anderen essentiellen Mechanismen außerhalb des Sozialen im Fall des Sozialen über den Begriff der Teleofunktion definiert wird, was im Rahmen der Systemik sehr unvermittelt in Anschluss an M9 (Fußnote 304) im Rahmen einer weiteren Bestimmung geschieht und zu Verwirrungen führt. (M10) In the case of social systems an essential mechanism is a process that brings about the desired changes, or else prevents the undesirable ones (Bunge 2006a, 131). Halten wir fest: Essentielle soziale Mechanismen sind gemäß M10 (und M9) als Funktionen1 („bring about“, „Wie?“) für Funktionen2 („changes“, „Was?“) und darüber hinaus explizit als Teleofunktionen bestimmt („desired/undesired“). Das ist insofern wenig überraschend, als soziale Systeme nur entstehen und bestehen, weil Menschen irgendwelche Ziele verfolgen, seien es auch unterschiedliche. Und gemäß der philosophischen Stipulation, dass jedes soziale System über einen Mechanismus verfügt, der eine (spezifische) Funktion erfüllt, was zum Erhalt des Systems (im Rahmen einer Umwelt) beiträgt, wird bei jeder Entstehung eines sozialen Systems von den beteiligten Personen ein Mechanismus in Gang gesetzt. (Essentielle und inessentielle soziale Mechanismen - Annäherung) Ein inessentieller sozialer Mechanismus (Funktion1) ist jeder (soziale) Prozess1 (Funktion1) innerhalb eines (sozialen) Systems. Ein essentieller sozialer Mechanismus ist ein sozialer Prozess1 (Funktion1), der eine erwünschte Veränderung (Prozess2 oder Funktion2) hervorbringt oder eine unerwünschte Veränderung verhindert (Teleofunktion), d. h. diese Prozesse erfüllen Teleofunktionen. Nicht ganz klar ist, ob die Annahme darüber hinaus notwendig ist, dass nur ein Prozess 1 „sozialer Mechanismus“ genannt werden soll, der ausschließlich in der Menge der in einem Zeitraum existierenden typengleichen Systeme abläuft, der also eine spezifische Funktion für den Systemtyp erfüllt, gemäß der Bestimmung von „spezifische Funktion“, die in den nichtsozialen Fällen verwendet wird. Das Problem ist hier das Verhältnis der Bestimmung von „essentiell“ im Fall des Sozialen über Teleofunktion, obwohl im allgemeinen Fall „essentiell“ ohne Bezug auf Teleofunktionen bestimmt wird (M9, Fußnote 382, S. 439).387

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Das würde die Frage aufwerfen, ob und inwiefern es klare Fälle von Typen von Systemen (wie „schools“) mit entsprechenden Typen von Mechanismen („teaching“) und „spezifischen Funktionen“ in einem anderen Sinn als dem der Teleofunktion gibt, und zwar gemäß ontologischer These in jedem sozialen System, vom Kaffeekränzchen bis zur Weltgesellschaft, nicht nur in formalen Organisationen. Man kann hier sicherlich annehmen, dass die Vermutung der Existenz von spezifischen Funktionen (a) fruchtbar ist und (b) häufig auch in Geschichtswissenschaften ganz automatisch verwendet wird, denn auch sie verpflichtet dazu, jene Systeme (und damit die relevanten Personen und ihre Rollen) möglichst exakt zu

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Dass der Begriff eines (sozialen) Mechanismus nicht eindeutig ist, wird auch an einem anderen Punkt deutlich. Denn gemäß mancher Passagen in früheren Texten und letztlich eindeutig in späteren (Bunge 2010a) gibt es keine inessentiellen Mechanismen, wie ich zuvor stipuliert habe: Every knower needs to distinguish between essential and inessential processes in a system: those that make the system what it is, and those that can be stopped without changing the nature of the system. Only the former qualify as mechanisms (Bunge 1999, 21 f.). Wenn die spezifischen Funktionen von sozialen Systemen nur und ausschließlich auf der Basis von Teleofunktionen bestimmt werden können und letztlich nichts anderes sind als intendierte oder designte interne Prozesse von sozialen Systemen, dann gibt es zumindest kein großes Problem, denn dann ist der interne Prozess, der die „Natur“ des Systems ausmacht, derjenige, den sich jemand ausgedacht hat. Falls dies nicht der Fall ist, müsste man die Bedingung hinzufügen, dass es sich um spezifische Funktionen relativ zum Systemtyp handelt, ferner spezifische Funktionen, die zum Systemerhalt beitragen oder dessen „Natur“ ausmachen. Wenn man versucht, sich den bisherigen Durchgang vor Augen zu führen, dann ist auch der positive Beitrag von sozialen Mechanismen zum Systemerhalt noch nicht begrifflich situiert, zumal er als begriffliche Komponente in der Bestimmung von „Mechanismus“ oben teilweise ausgeschlossen wird. Das ist teilweise eine durchaus verwirrende Terminologie. Das Problem der exakteren Bestimmung der Kategorie eines Mechanismus ist aber offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir auf interne Prozesse eigentlich schon gestoßen sind, als wir die Struktur eines sozialen Systems betrachtet haben. Denn hierzu gehören bereits einseitige Wirkungen von Komponenten auf andere und wechselseitige Interaktionen. Wenn einem das reicht, dann braucht es keine Mechanismuskategorie. Ein Problem ist hier auch unter Umständen, dass in CES-Modellen, die, wie wir gesehen haben, für Zeitpunkte bestimmt sind, interne Prozesse bereits dann, aber auch nur dann, enthalten sind, wenn sie für Zeiträume oder die gesamte Geschichte des Systems bestimmt werden, die aber ja in philosophischen CES-Modellen, die als „minimal“ bezeichnet werden, noch außen vor gelassen worden sind. Warum finden wir dort schon Prozesse und warum kann das ein Problem darstellen? Weil interne Prozesse, andere Probleme um „soziale Kausalität“ (7.4) hier beiseitegelassen, kausale Interaktionen zwischen den Komponenten sind, was man im Bereich von sozialen Systemen eben „soziale Prozesse“ zumeist nennt oder nennen kann. Nicht alle diese sozialen Prozesse, so wollen wir vermuten, tragen jedoch zu externen Prozessen bei, z. B. einem Output einer Firma in einen Markt, helfen bei der Erfüllung einer spezifischen Funktion des Systems oder tragen zu dessen Erhalt oder Transformation bei. Man denke an das Tratschen über die letzte Weihnachtsfeier auf dem Flur. Insofern ist klar, dass innerhalb einer Systemontologie mehr gesagt werden muss als dass ein Mechanismus die Interaktion von Personen ist, denn das ist zu unspezifisch, wie auch im Rahmen der obigen Bestimmung von „inessentieller sozialer Mechanismus“. Dass auch der systemische Begriff eines Mechanismus nicht ganz eindeutig bestimmt ist, wenn man die Texte der 90er und 00er Jahre in einen Topf wirft, wird nun recht deutlich, wenn meine Lektüre nicht völlig fehlgeht und der Leser vergleichend die Bestimmungen M1 bis M10 abschreitet. Ein Problem ist sicherlich auch hier, dass die Beispiele aus dem Sozialen benennen, welche diese Funktion erfüllen. Bei der Untersuchung formaler Organisationen wird man dies vermutlich ganz automatisch machen.

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skizzenhaft bleiben müssen, wie in wohl der gesamten sozialwissenschaftlichen Mechanismusliteratur (vgl. zuletzt Greshoff 2015), weil mechanismische Hypothesen in den Sozialwissenschaften offenbar nicht so leicht verfügbar sind.388 Hier ist der nächste Punkt, an dem die weitere Konsultation sozialwissenschaftlicher Forschung der einzige Weg zu Klärung ist. Diese Problematik verweist darauf zurück, dass auch eine solche Mechanismuskategorie nicht ohne Weiteres ein unkontroverses onto-methodologisches Erklärungsverständnis ergibt, obwohl die Grundidee klar und einleuchtend ist und ferner in allen anderen Vorstellungen mechanistischer Erklärung, zumindest in der allgemeinen Wissenschaftstheorie, geteilt zu werden scheint.389 Am Ende bleibt die Grundvorstellung, dass soziale Mechanismen soziale Prozesse in sozialen Systemen (und nicht Personen) sind, etwas anderes (soziale Eigenschaften, soziale Ereignisse, soziale Prozesse, soziale Geschichten) hervorbringen, ferner teilweise, dass sie spezifisch zum Erhalt des Systems beitragen. Fragen bleiben oder treten auf, was ein Zeichen für Relevanz und Fruchtbarkeit sein kann. Im Rahmen der Sozial(meta)theorie oder Methodologie bleibt hier noch immer die Frage, wie soziale Mechanismen modelliert werden müssen, welche theoretischen Annahmen dabei eine Rolle spielen und ob dabei Annahmen über die beteiligten Akteure berücksichtigt werden müssen. Rezipienten dieser systemistischen Vorstellung in den Sozialwissenschaften sehen nach meinem Eindruck manchmal das Problem, dass dazu wenig zu erfahren ist und es manchem Rezipienten so scheint, als könne man im Rahmen der Systemik auf Annahmen über Akteure verzichten.390 Allerdings erfährt man in mancher mechanismus-orientierten Soziologie ebenfalls wenig oder weitaus weniger und ein Systemist könnte darin eine Aufgabe für die Sozialwissenschaften und nicht die Philosophie erblicken. Betrachtet man es aus ontologischer Perspektive, ist klar, dass es hier zunächst nur ein „einerseits … andererseits“ gibt. Einerseits sind soziale Mechanismen natürlich letztlich nichts anderes als Interaktionen von Akteuren (Personen) innerhalb von sozialen Systemen 388

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Generische Beispiele für Mechanismen sind Arbeit und Verwaltung in Unternehmen (Bunge 2008), Produktion und Handel (ökonomisch), Wählen und Mobilisieren (politisch), Lernen und Lehren in Schulen (Bunge 1997a), Kooperation und Wettstreit (Bunge 2003a, 21), „communication, mutual help, work, trade, legal and moral coercion, and violence“ (Bunge 2003a, 142), „parenting or publishing, education or publication, work or trade, class struggle or bargaining, war or peacekeeping, research or peer review“ (Bunge 2004a, 182), Streiks (Bunge 2010a, 375), „academic tenure as a mechanism for securing academic freedom“ (Bunge 1999, 19), „[d]emocracy is a social mechanism for resolving the problem of societal decisionmaking“ (Bunge 2006a, 122), „racial discrimination“ (2006a, 132), „censorship”, „innovation”, „collusion”, „censorship”, „political participation”, „militarization” (Bunge 1997, 449), „imitation, division of labor, mutual help, and class struggle” (Bunge 2001b, 136), „realization of benefit, conditioning, imitation, teaching, and coercion” (Bunge 1996, 137). „Military aggression, protracted dictatorship, and terrorism (both state initiated and group-sponsored) are by far the most destructive, divisive, and irrational, and therefore also the most barbaric and immoral, of all political mechanisms” (Bunge 2004a, 185 f.). „Likewise the modi-operandi in formal organizations, such as schools, business firms, or government departments, are social mechanisms” (Bunge 1999, 18). Natürlich darf man fragen, ob auch diese Beispiele Wünsche vielleicht offen lassen (Greshoff 2015). Das Problem ist aber ganz einfach, mehr über spezifische soziale Prozesse zu sagen, als dass es sich dabei um Interaktionen zwischen Personen handelt oder Abfolgen von individuellem sozialem Handeln. Das Problem besteht letztlich also auch andernorts, letztlich überall (z. B. Tilly 2008 und 7.6). An dieser Stelle wäre ein Vergleich mit den Mechanismusvorstellungen in anderen Bereichen der Philosophie eventuell fruchtbar, wobei die Schwierigkeit darin bestehen könnte, dass dort Mechanismen teilweise als komplexe Entitäten aufgefasst werden und man in dortigem Rahmen aus systemischer Perspektive fragen müsste: Was ist ein Mechanismus in einem Mechanismus? Im Rahmen von Bunges Logik mechanismischer Erklärung bleibt es bei deren deduktivem Charakter; siehe z. B. Bunge 1995, 1996, 1997, 2004a. Der Unterschied zu Hempels DN-Modell ist der geforderte Gehalt der Erklärung, das heißt die Beschreibung von internen Mechanismen im Unterschied zu den – letztlich unklar bleibenden, Kapitel 6.1 – „Phänomenen“, „Ereignissen“, „Tatsachen“ und ihren Abfolgen.

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oder zwischen unterschiedlichen sozialen Systemen. So besehen wird man wohl über diese Akteure in Erklärungsmodellen etwas erfahren müssen. Auf der anderen Seite sind sie Prozesse, die immer jenseits einzelner Akteure liegen, und das wirft die Frage auf, wie viel man von Akteuren erfahren muss und was man eigentlich darüber hinaus über Soziales erfahren muss. Das sind die alten Fragen geschichts- und sozialwissenschaftlicher Metatheorie.391 Minimal betrachtet ist dann die Kategorie eines (sozialen) Mechanismus nicht völlig redundant, soweit man diese Prozessklasse von sozialen Interaktionen (Prozessen1), die innerhalb der Grenzen eines Systems stattfinden, überhaupt erstmal von diffusen Prozessvorstellungen unterscheidet, und von diesen Prozessen noch jene zu unterscheiden versucht, die auch noch essentiell sind und/oder eine spezifische Funktion erfüllen und das System erhalten oder zu dem machen, was es ist oder auch aus der Perspektive von Teilnehmern sein soll (Teleofunktion). Es heißt z. B. einmal verwirrend kurz: „… mechanism, namely social interaction“ (Bunge/Mahner 2001, 89). Letztere Mechanismuskategorie wäre offensichtlich, in dieser Kürze, redundant. Da wir hier Ontologie betreiben, sollte noch kurz, gerade im Kontext von Metatheorie der Geschichtswissenschaften, festgehalten werden, dass wohl keine solche Ontologie mehr als ein äußerst dürres Gerippe liefern kann, wenn es darum geht, einzukreisen, was als (wissenschaftliche) Erklärung oder (wissenschaftliches) Verstehen gelten kann. Eine begriffliche Bestimmung von zum Beispiel Interaktionen als Wechselwirkungen sagt einem jenseits naiver Kausalismen nichts dazu, wie soziales Handeln oder soziales Interagieren überhaupt oder theoretisch beschrieben werden kann und soll. Genauso wenig sagt einem eine Bestimmung von „sozialer Mechanismus“ von philosophischer Seite, wie genau die Hypothesen oder Hypothesengebäude aussehen, die letztlich Erklärungen und Verstehen ermöglichen. Ich fürchte, dass in Geschichts- und Sozial(meta)theorie von Ontologien teilweise so etwas erwartet wird, weil es dort teilweise auch nicht um dasjenige geht, was Ontologen wohl „kategoriale Ontologie“ nennen, sondern um „Ontologie“ im Sinn von so etwas wie „Ontologie (oder Hermeneutik) des Subjekts“ (also so etwas wie philosophische Psychologie). Ich komme auf diese Problematik zurück, wenn es um die Ontomethodologie der notorischen Makro-MikroMakro-Problematik geht. Kategoriale Ontologie kann in einem methodologischen Kontext Unklarheiten vermeiden und Probleme formulieren helfen, mehr aber natürlich nicht. Anders gesagt: Eine Vorstellung von mechanismischen Erklärungen liefert keine mechanismischen Hypothesen, genauso wie ein Covering-Law-Modell der Erklärung jene Gesetze nicht nicht liefert. Kommen wir damit nun kurz zu einem weiteren in Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie zu findenden Kampfbegriff, nämlich dem der Tatsache, der interessanterweise in der Sozialtheorie eher inexistent ist.

7.3.7 Tatsachen und Tatsachenaussagen „Bevor untersucht wird, welche Methode sich zum Studium der soziologischen Tatbestände eignet, ist es von Wichtigkeit zu wissen, was denn das für Tatbestände sind, die man mit diesem Namen belegt“ (Durkheim 1976 1895, 105). Vorausgesetzt ist dabei ein allgemeiner 391

Bei Habermas hieß es mal, der „historische Zusammenhang geht nicht in dem auf, was die Menschen wechselseitig intendieren“ (Habermas 1982, 134). In Übertragung handelt es sich um die Problematik des sogenannten Mikro-Makro-Übergangs. Aus der Sicht konkreter Akteure oder auch Gruppen solcher Akteure kann es sich um „Prozesse außerhalb ihrer effektiven Kontrolle“ (Wehler 1994 [1973], 55) handeln, auf die sie dann reagieren, wie z. B. die ostelbischen Junker im Kaisereich, auf die hier Wehler verweist.

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Begriff von Tatsachen, sobald soziale Tatsachen von anderen Tatsachen abgegrenzt werden sollen. Zudem droht bei der Rede von „soziologischen“ (vgl. auch Esser 1996, 20) im Unterschied zu „sozialen“ Tatsachen eine Verwechslung von Erkenntnis, Aussagen oder Hypothesen einerseits und ihrem Gegenstand andererseits. Auch wenn davon die Rede ist, „historische Sachverhalte“ sollten erklärt werden (Frings 2008), muss irgendwann geklärt werden, worum es sich dabei handelt, zumal das Risiko einer solchen Verwechslung offenbar in der Rede von historischen Tatsachen besonder groß ist, was das Ergebnis einer jeden groben Sichtung der Tradition sein muss.392Einige Beispiele zeigen dies schnell: „Die quellenkritisch ermittelten Tatsachen der Vergangenheit sind faktisch; das, was an ihnen spezifisch historisch ist, ist fiktional“ (Rüsen 2004, 23). Mink (1966, 41) schrieb beispielsweise: „a physical fact is just as concrete and particular as an historical fact“. Pape (2006, 137) schreibt: „Die historischen Fakten sind nicht gegeben, Fakten und Interpretationen sind vielmehr gleichermaßen theoretische Konstrukte.“ Mit „historisch“ meinen manche eben schlicht und ergreifend dasselbe wie „real“ oder „vormals existent“, andere so etwas wie „hypothetisch“, „wahr“, „auf eine bestimmte Art gerechtfertigt“ oder auch „fiktiv“. Neben dieser Möglichkeit zur Verwechslung oder Konfundierung von Ontischem und Epistemischem ist bis heute ungeklärt, was eine soziale oder auch „historische“ Tatsache ist und welche Tatsachen Geschichts- und Sozialwissenschaften tatsächlich untersuchen, falls sie überhaupt etwas untersuchen, das „Tatsache“ genannt zu werden verdient. Daher meinen viele mit „Tatsache“, „sozialer Tatsache“ oder auch „historischer Tatsache“ jeweils etwas (völlig) anderes. Vielleicht liegt das daran, dass Pelz (1974, ix) recht hatte und noch immer weitestgehend hat: „The question ‚What is a sociological, psychological, historical or economic fact?‘ remains wide open for those who dare ask it at all. The social sciences have so far not answered but evaded it.“393 392

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Ursprünglich schmückte dieses Kapitel eingangs folgende einschlägige Liste an Belegen für die anhaltende terminologische Konfusion: „Nous avons déjà dit que l’histoire se fait avec des documents et que les documents sont les traces des faits passés (Langlois/Seignobos 1900, 43). Le document, c’est le point de départ; le fait passé, c’est le point d’arrivée (Langlois/Seignobos 1900, 44). „Die überlieferten Nachrichten und Daten nennen wir im Verhältnis zu den Tatsachen Zeugnisse (Bernheim 1908, 325). „La finalidad de la crítica de sinceridad y de exactitud es el establecimiento de los hechos“ (Cardoso 1982, 146). „Le fonti forniscono informazioni rispetto ai fatti del passato (avvenimenti, processi, azioni umane ecc.): in altri termini, la base „fattografica“ del racconto storico“ (Topolski 1996, 42). „The belief in a hard core of historical facts existing objectively and independently of the interpretation of the historian is a preposterous fallacy, but one which it is very hard to eradicate“ (Carr 1962, 10). „My first answer therefore to the question, What is history?, is that it is a continuous process of interaction between the historian and his facts, an unending dialogue between the present and the past” (Carr 1962, 35). „Un fait n’est rien d’autre que le résultat d’un raisonnement à partir de traces suivant les règles de la critique“ (Prost 2010, 70). „Dans tous les cas, l’historien effectue un travail sur les traces pour reconstituer les faits“ (Prost 2010, 70). „Tous les faits passés ont d’abord été des faits présents: entre les uns et les autres, aucune différence de nature“ (Prost 2010, 67). „… there are also historians who still need to learn that facts only take shape under the aegis of paradigms, presuppositions, theories, and the like. There are even historians who might benefit from writing on the blackboard twenty times, “facts are just low-level interpretative entities unlikely for the moment to be contested” (Haskell 1990, 141). „Als ‚T.‘ bezeichnet man das Postulat einer als wahr angenommenen Aussage über Vergangenheit“ (Brendecke 2002, 282). „Dass es in diesem Buch weniger von Daten und „Fakten“ wimmelt als von Ursachen und Wirkungen, hat freilich in erster Linie mit der Überzeugung zu tun, dass es vor allem diese Zusammenhänge sind, die Beschäftigung mit Geschichte Farbe und Faszination verleihen“ (Nonn 2007, 10). „Historische Fakten sind Dinge, die in der Geschichte geschehen sind und die als solche anhand der überlieferten Spuren überprüft werden können. Ob Historiker bisher den Akt der Überprüfung unternommen haben oder nicht, ist für die Faktizität selbst ohne Belang: die Fakten existieren vollkommen unabhängig von den Historikern“ (Evans 1999, 79). „I want to suggest that if we want to get to the bottom of what historians at work actually do, we do best to forget the ridiculously simplistic phrase ‚the facts‘“ (Marwick 2001, 152). Die bekannten Soziologischen Stichworte (Boudon/Bourricaud 1992) enthalten beispielsweise ebenso wenig einen Eintrag zu „(soziale) Tatsache/Sachverhalt“ wie auch die Hundert Grundbegriffe (Farzin/Jordan

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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Eine vergleichende und aktuelle Aufarbeitung der einschlägigen Fragen steht auch hier im Rahmen der Geschichtsphilosophie noch aus und wird hier selbstredend weder geboten noch angestrebt. Sie wäre gleichwohl nötig, um den Historikern dadurch einen Dienst zu erweisen, dass die Unwägbarkeiten der vielen philosophischen Optionen übersichtlich dargestellt werden, was Scheindifferenzen vorbeugte. (Meine eigene Verwirrung ist in Plenge 2014b verewigt.) Manchmal wird mit dem Wort „Tatsache“/„historische Tatsache“ weder, wie zuvor bereits angedeutet, auf etwas Ontisches noch auf einen wahren oder als wahr eingestuften Satz angespielt, sondern auf den Status oder Grad der Rechtfertigung einer Hypothese (Nowell-Smith 1982, Tucker 2004a, 14) oder auch disziplinenspezifische Arten und Weisen der Rechtfertigung, was in Unterscheidungen von z. B. soziologischen, ökonomischen und historischen Tatsachen einmal durchschien (Goldstein 1976, Kapitel 3). In solchen Rahmungen heißt es dann auch „facts exist nowhere and nowhen“ (Nowell-Smith 1982, 322). Wir können nun kurz festhalten, was im systemischen Ansatz unter „Tatsachen“, „Sachverhalten“ und „Fakten“ verstanden wird, was an dieser Stelle alles dasselbe bedeuten soll. Zunächst ist festzuhalten, dass eine Tatsache keine eigene ontologische Kategorie jenseits derer darstellt, die bereits benannt wurden. Als „Tatsachen“ werden Zustände von Systemen und die Veränderung von Zuständen von Systemen, also das Haben von Eigenschaften und deren Veränderung oder Zugewinn bezeichnet (z. B. Bunge 2010c, 8). Dies ist die ontische (oder quasi-ontische) Redeweise von Tatsachen. In diesem Sinne existieren Tatsachen ganz einfach, unabhängig davon, ob sie von irgendwem untersucht oder beschrieben werden. Und der Ausdruck „Tatsache“ ist streng genommen immer durch den direkten Bezug auf Eigenschaften von Systemen oder auf Ereignisse und Prozesse in Systemen ersetzbar, seien diese individuell oder sozial. Das ist damit gemeint, dass „Tatsache“ keine eigenständige ontologische Kategorie ist. (Wir haben es hier also mit einer bloß quasi-ontischen Kategorie in meiner Terminologie zu tun, wie oftmals im Fall von „Geschichte“; vgl. Kapitel 2.1.) Geschichtswissenschaftler verwenden wie Alltagsmenschen eine ontische oder quasi-ontische Tatsachenkategorie, wenn sie beispielsweise von „vollendeten Tatsachen“ schreiben (z. B. Recker 1990, 10, 21). Eine nützliche Unterscheidung ist in diesem begrifflichen Segment diejenige zwischen Mikro-Tatsachen und Makro-Tatsachen: „A macrofact is a fact occurring in the system as a whole. A microfact is a fact occuring in, or to394, some or all of the parts of the system at the given level“ (Bunge/Mahner 1997, 35; Bunge 1997). Entsprechend sind Makroeigenschaften Eigenschaften von Systemen und Makrotatsachen deren Besitz oder Veränderung. Mikroeigenschaften sind Eigenschaften von Subsystemen von Systemen und Mikrotatsachen deren Besitz oder Veränderung. Bunge (2006a, 16) unterscheidet entsprechend zwischen „statischen Tatsachen“ und „kinematischen“ Tatsachen. Soziale Tatsachen sind in diesem Rahmen Zustände von sozialen Systemen und ihre Veränderungen (Ereignisse, Prozesse, Geschichten). Dazu muss man natürlich die Existenz sozialer Systeme und ihrer Eigenschaften akzeptieren, wie dies z. B. auch der Soziologe M. Schmid tut, aber wohl ohne von Systemen unbedingt reden zu wollen, wie scheinbar sehr viele Sozialwissenschaftler (z. B. auch C. Tilly): „Es gibt (in der Tat) zumeist als ‚emergent‘ bezeichnete ‚soziale Tatsachen‘, die die Akteure bei der Organisation ihres Handelns nicht

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2008), das Wörterbuch der Soziologie (Endruweit et al. 2014) und die Grundbegriffe der Soziologie (Schäfers/Kopp 2010). Das ist aus systemistischer Sicht auch plausibel, weil der Tatsachenbegriff hier ontolologisch redundant ist, worauf wir gleich kommen. Das soll bedeuten, dass auch (kausale) Relationen bzw. ihr Bestehen oder Entstehen als Tatsachen aufgefasst werden. Es ist also auch eine Tatsache, dass z. B. Person a einer Person b etwas mitgeteilt hat, was sich so beschreiben lässt, dass „mit“ („to“) Person b etwas passiert ist, durch eine Veränderung (Tatsache) in Person a.

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ignorieren können und die insofern ihre Handlungsplanung und –durchführung ‚kanalisieren‘ oder ‚prägen‘“ (Schmid 2011a, 218). Weiter gelten für soziale Tatsachen die Erläuterungen zu sozialen Eigenschaften (7.3.2). Wie aus den letzten Absätzen ersichtlich ist, muss man diesem Verständnis von „Tatsache“ zufolge ontologische Kategorien explizit voraussetzen. In demjenigen, das manchmal „semantische“ Auffassung der Tatsache genannt wurde, heißt es schlicht, eine Tatsache sei das, was einen Satz wahr macht (z. B. Patzig 1977), was immer es sein mag. Vor dem Hintergrund von Geschichts- und Sozial(meta)theorie stellt sich dann aber eventuell die Frage, was immer das sein mag, das einen Satz wahr macht, denn gerade da liegt ja die allererste Problematik. Obwohl in der Soziologie und natürlich auch geschichtstheoretischen Schulen („Mikrogeschichte“) viel von Mikro und Makro die Rede ist und von Mikro- und Makro-Phänomenen und Makro–Tatsachen oder auch von der „Faktizität der Gesellschaft“ (Esser 1996, 404), wird selten erläutert, was mit „Mikro“ und „Makro“ genauer gemeint ist und es kursieren vielfältige Verwendungsweisen: „‚Mikro‘ bzw. ‚Makro‘ haben sich in der Soziologie zu Passepartout-Begriffen entwickelt, unter denen höchst disparate Phänomene subsumiert werden“, so die Soziologin B. Heintz (2004, 2). Der Soziologe R. Greshoff (2008, 134) schreibt der Makro-Mikro-Terminologie die Verantwortung für „immer wieder schiefe Diskussionen“ zu. Zum Beispiel wird „sozialer Sachverhalt“ auch mal vollständig ontologisch aufgefasst (und z. B. mit „Emergenz“ verbunden), mal vollständig epistemisch aufgefasst (Esser 2000a, 14).395 Da gilt, „almost everything social is made rather than found“ (Bunge 2006a, 135), sind einige soziale Tatsachen eine Teilmenge dessen, was man „artifizielle Tatsachen“ im Unterschied zu rein natürlichen Tatsachen nennen könnte, so wie die Errichtung (oder Emergenz), fortdauernde Existenz und womöglich Reform („Umstrukturierung“) einer Kita um die Ecke oder einer Universität, wobei es sich jeweils um „soziale Artefakte“ (Bunge 2009, 27) handelt, die geplant und designt werden, um bestimmte Funktionen zu erfüllen.396 Etwas ganz anderes sind Tatsachenaussagen, also Aussagen, die irgendetwas oder eben ontische Tatsachen (Sachverhalte, Fakten) beschreiben oder, besser, hypothetisch beschreiben. Die Unterscheidung wird verschiedentlich nicht durchgehalten (z. B. Howell/Prevenier 2004, 186 ff.). Hier bietet sich dieselbe Unterscheidung an wie im Fall von „Gesetzen“ (Kapitel 6.1), denn auch im Fall von Tatsachen oder Fakten werden gewöhnlich sowohl die ontischen Tatsachen als auch Tatsachenaussagen ganz einfach „Tatsachen“ oder „Fakten“ genannt. Die meisten Verwirrungen über den Tatsachenbegriff bzw. Tatsachenbegriffe, welche die Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie mindestens seit Beard (1934, 1935) und 395

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Zu den Problemen, die Greshoff vor Augen hat, gehört auch das folgende, das vor dem Hintergrund der systemischen Ontologie kaum besteht. H. Esser (1996, 112) schreibt beispielsweise davon, „die Akteure und deren Handeln (bilden) die Mikro-Ebene und die sozialen Gebilde die (erklärende wie zu erklärende) Makro-Ebene“. Das hat wohl in der Soziologischen Theorie zu der Frage geführt, ob diese Mikros, die eine „Ebene“ bilden, bei Esser als unsoziale Handlungsatome aufgefasst sind und etwas Soziales etwas davon (gänzlich) Unterschiedliches ist (vgl. Greshoff 2006, 2008a/b), zumal es ja auf einer anderen „Ebene“ liege. Dazu ist aus systemischer Perspektive zweierlei zu sagen, nämlich, erstens, dass Akteure im Systemismus keine (nicht-existenten) Ebenen bilden. Sie bilden konkrete Systeme (oder auch Aggregate), und dass, zweitens, zu den Mikro-Tatsachen (oder Eigenschaften) auch solche Eigenschaften gehören, die Personen bloß haben, weil sie Komponenten eines Sozialsystems sind (strukturell-emergente Eigenschaften, 7.3.2), sodass Akteure beinahe nie „isoliert“ oder „atomisiert“ sind und außerhalb von Sozialsystemen (ex hypothesi) als das, was sie sind, beinahe nie existieren (vgl. Greshoff 2011a). „A human social system is (i) natural or spontaneous if and only if it is self-organized (i. e. if it emerges spontaneously by reproduction, accretion or self-assembly); (ii) artificial or formal, or an organization, if and only if it is other-organized, i. e. set up and maintained according to explicit goals, plans and rules (Bunge 1993, 212).

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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Becker (1932, 1955) auszeichnen, ließen sich in einem ersten Schritt dadurch beheben, dass man, wie der Geschichtstheoretiker Topolski (1976, 220 ff., 454 ff.) bereits (ungehört) vorschlug, ontische „historische“ Tatsachen oder ontische Fakten von „historioriographischen“ oder geschichtswissenschaftlichen Tatsachenaussagen und Faktenaussagen unterscheidet. Letztere sind natürlich Hypothesen und sie müssen dementsprechend gerechtfertigt werden, sie sind besser oder schlechter bestätigt und sie können wahr oder falsch sein, ferner haben sie eine Bedeutung. Tatsachen im ontischen Sinn können dies alles nicht sein oder haben. Man sollte aus dieser Perspektive besser nicht schreiben: „Historische Tatsachen beziehen sich auf gesellschaftliche Erscheinungen der Vergangenheit“ (Wächter 1986, 89), da sich ontische Tatsachen auf gar nichts beziehen, sondern Tatsachenhypothesen. Wie dem auch sei, zunächst einmal muss man sich in der Metatheorie ganz einfach entscheiden, wie man redet. C. Lorenz beispielsweise meint mit „Fakten“ so etwas wie (wahre) Hypothesen oder dasjenige, „was in einer wahren Behauptung festgestellt wird“. Was in der Systemik mit ontischer Zunge „Tatsache“ oder auch „Fakt“ genannt wird, nennt Lorenz – allerdings ohne systematische Ontologie im Hintergrund – „Sachverhalt“ (Lorenz 1997, 21 f.). Andere nennen das Ontische „event“ und kennen dann „facts“, die diesbezüglich wahr sind und sich verändern können („change“), selbst wenn jene „events“ und ihre „properties“ ein für allemal ontisch sind, wie sie sind, sobald sie einmal geschehen sind, was andere wiederum zu bestreiten bereit sind (Bunzl 1997, Kapitel 2; vgl. Gerber 2012, 2014, jeweils im Rekurs auf und/oder in Kritik an A. Danto). Hier ist auch teilweise die Rede davon, die Vergangenheit würde sich verändern, was im Rahmen der Systemik eine besonders schlecht geformte metaphysische Aussage ist. Substanzielle und terminologische Varianten gibt es auch in diesem Feld der Rede von „Fakten“ oder „Tatsachen“ sicherlich viele (siehe auch Nowell-Smith 1982). Anschlussprobleme der Relation zwischen Tatsachenaussagen und ontischen Tatsachen (im obigen Sinn) führen dann auch in die Sprachphilosophie und damit über die Grenzen dieses Ontologiekapitels sowie dieser Klärungsskizze hinaus. Wie viele Anschlussprobleme es gibt, zumal solche mit einer Nähe zur Praxis, ist in der Geschichtsphilosophie eigentlich noch gar nicht absehbar. Es wurde aus ähnlichen Gründen auch darauf verwiesen, dass der Verweis auf „die Tatsachen“ an sich in geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen nutzlos ist, weil die Tatsachen oder, besser, Tatsachenhypothesen ja gerade selbst Gegenstand des Konflikts sein können, was auch durch die Behauptung ausgedrückt wird, sie seien immer „Interpretationen“ (Lorenz 1997, 29). Im Fall der skizzierten altgeschichtswissenschaftlichen Kontroversen (3.1.3, 3.1.4) ist ja bereits umstritten, ob es z. B. eine Tatsache war, dass jene Faktionen zu jeweiligen Zeitpunkten existiert haben, ob also eine Hypothese diesbezüglich als begründet und darüber hinaus als wahr gelten kann. Erschwerend scheint hinzuzukommen, dass die unterschiedlichen Glaubensgründe der Kontrahenten nicht gänzlich klar sind. Was hilft, ist daher nicht der Hinweis auf „die Tatsachen“, sondern der Hinweis auf Tatsachenhypothesen und die (falliblen) Gründe, die dafür sprechen, sie für wahr zu halten. Mehr ist kaum möglich, also z. B. Gewissheit über die Wahrheit einer Hypothese (vgl. auch McCullagh 2004, 25). Darüber hinaus ist dann im jeweiligen Forschungskontext immer noch offen, inwiefern jene Tatsachenhypothesen (oder irgendwie strukturierte Mengen von singulären und generellen Hypothesen) darüber hinaus interessant oder bezogen auf was sie genau relevant sind, was zuallererst von der spezifischen Frage und weiteren theoretischen Annahmen abhängen dürfte. All dies setzt allerdings ontologischen Realismus und die Unterscheidung von Realität und ihrer hypothetischen Rekonstruktion voraus (7.1). Im Zeitalter der „alternative facts“, der „post-vérité“ oder der „postfaktischen Gesellschaft“, deren philosophische (und akademische) Wurzeln noch größtenteils der Aufarbeitung harren, ist dies keineswegs selbstverständlich. Folgende Satzschemata sind, vor dem Hintergrund der systemischen Ontologie, Beispiele für Tatsachenaussagen:

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(i) Ding x existiert. Ding x hat existiert. (ii) Ding x hat die Eigenschaft P. Ding x hatte die Eigenschaft P. (iii) Ding x ist von der Art A. Ding x war von der Art A. (iv) Ding x befindet sich im Zustand z. Ding x befand sich im Zustand z. (v) Ding x durchläuft eine Veränderung e. Ding x durchlief eine Veränderung e. (vi) Ding x durchläuft eine Veränderung e aufgrund einer Veränderung f in Ding y. Ding x durchlief eine Veränderung e aufgrund einer Veränderung f in Ding y. (Mit Änderungen adaptiert von Bunge/Mahner 2004, 89. 397) Man könnte den Satzschemata jeweils ein „Es ist eine Tatsache, dass …“ voranstellen. Die Tatsache besteht, wenn die Tatsachenaussage (im Sinne von Korrespondenztheorien) wahr ist und die Tatsachenaussage ist wahr, wenn die Tatsache besteht. Eigentlich ist die erste Formulierung missverständlich oder subjektivistisch (idealistisch), besser gesagt, vor dem Hintergrund von ontologischem Realismus ist sie falsch. Denn eine Tatsache (im obigen, ontischen Sinn) besteht auch, wenn niemand eine Aussage gebildet hat, die diese Tatsache beschreiben soll. Ontische Tatsachen sind im Systemismus damit auch sprachunabhängig, im Unterschied zu Tatsachenaussagen und ihrer Wahrheit/Falschheit. Ambige Formulierungen wie folgende, die recht verbreitet sind, sind daher eigentlich zu vermeiden, indem eben geklärt wird, was mit „fact“ gemeint ist: „It should be added (…) that ‚facts‘ do not speak for themselves, and (…) they are infused with the concepts and theories of the observer“ (Hodgson 1989, 22398). 397

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Am Rande sei ferner bemerkt, dass kaum jemand in der Geschichtsphilosophie zu finden ist, der sich dazu äußert, was er mit „Tatsache“ oder „Fakt“ grob meint. Ausnahmen sind z. B. Topolski 1976, Patzig 1977, Nowell-Smith 1982, Bevir 1994, Lorenz 1997, Jakob 2008, Kistenfeger 2011, neben Golstein 1976 und Bunzl 1997. Walter 2006, 14: „Fakten sind nur Fakten in einem bestimmten begrifflichen Rahmen.“ Eigentlich muss man versuchen, viererlei mindestens auseinanderzuhalten, wie dieses Zitat und die geschichtstheoretische Tradition (z. B. Dumoulin 1986) nahelegt, in der dies gewöhnlich eher nicht geschieht: (i) ontische Tatsachen; die Frage ist hier: Was ist eine ontische Tatsache?; (ii) die Bedeutungen von (Tatsachen-)Aussagen: Worin besteht die Bedeutung einer Aussage?; (iii) die Überprüfung (oder Begründung) von Tatsachenhypothesen bzw. epistemische Fragen: Wie stellt man die Wahrheit/Falschheit einer Hypothese fest? Gibt es so etwas wie den Grad der Rechtfertigung einer Hypothese und wie stellt man den fest?; und (iv) die Rolle von „Theorie“ (Ansätzen), Begriffsrahmen oder einfach Sprache in Beobachtung, Beschreibung und Erklärung: Inwiefern beeinflusst das System von Hintergrundüberzeugungen eines Forschers dessen Hypothesenformulierung und -wahl? In welchen Hinsichten ist dies relevant? Ist dies ausschließlich negativ relevant, z. B. objektivitätsgefährdend? Bevir (1994, 333) schreibt, die Notwendigkeit der begrifflichen Klärung weiter illustrierend: „A fact is a proposition members of a community accept as true. Facts typically are observations embodying categories based on the recognition of similarities and differences between particular cases. But not all observations embodying categories will count as facts. […] Observations embodying categories count as facts only if they are exemplary, that is, if we cannot reasonably expect to have a better opportunity to judge the correctness of the classification. […] Historical interpretations explain facts by postulating significant relationships, connections, and similarities between them. They try to account for the facts being as they are by bringing out relevant parallels, overlaps, and distinctions. The important point is: a fact acquires a particular character as a result of its relationship to other facts which provide it with a definite context. Here interpretations reveal the particular character of facts by uncovering their relationships to other facts, by presenting a fact in terms of other facts that locate it in time and space, and suitably define the preconditions of its unfolding. Of course, as interpretations reveal the particular character of a fact, they often partially define the way we regard the fact. Interpretations do not just reveal the character of facts, they also create the character of facts, and, what is more, they guide our decisions as to what constitutes a fact. Because there are no pure observations, facts do not hold out their particular character to such observations. Rather, we partly construct the particular character of facts through the interpretations which we incorporate in our observations”. Sind Fakten nun (gerechtfertigte, aber möglicherweise falsche) Sätze, mentale Prozesse in Gehirnen („ob-

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Man könnte auch „Ding x ist ein Teil von Ding y“, „Ding y hat Ding x als Komponente“, „Ding x verfügte über Mechanismus m“ oder „Ding x erfüllt als Teil von Ding y die Funktion f“ oder „Ding x steht mit Ding y in einer Relation R“ hinzufügen, nur fällt dies schon unter Punkt (ii) in der Liste, also die Eigenschaftsschublade. (Quellen sind auch Dinge mit Eigenschaften und sie verändern sich, nachdem sie entstanden sind.) Natürlich sind auch Aussagen wie „Person x äußert seine Überzeugung y“, „Person x interpretiert Ding y als etwas, das die Eigenschaft P hat“ und „Person x versteht die Äußerung von Person y“ in der Liste unterzubringen (z. B. Bunge 1984a), handelt es sich doch – so die Hypothese – um (emergente) mentale Ereignisse/Prozesse (z. B. Bunge 1984b, Bunge/Ardila 1990, Bunge 2010c). Auch die Aussage „Person x hat die Überzeugung, dass p“ ist unproblematisch, solange man die Existenz von Überzeugungen nicht bestreitet, was sogenannte „Physikalisten“ oder „eliminative Materialisten“ wohl tun (Bunge 2010c).399 Wie schon im Rahmen der Diskussion von Zuständen angedeutet, sind auch Tatsachen positiv und ferner singulär. Vor dem Hintergrund ist es auch misslich und irreführend, wenn in der Soziologie oder Sozial(meta)theorie regelmäßig nicht zwischen „Regeln“, „Regelmäßigkeiten“ und Aussagen, die (a) normative Regeln, (b) das Wissen der Regel oder der Glaube an die „(soziale) Geltung“ einer Regel und solchen, die (c) Regelmäßigkeiten im Handeln oder Interagieren von Personen oder im Prozessieren von Sozialsystemen zum Gegenstand haben, unterschieden wird. Einzig und allein Fälle von (b) sind im Systemismus klare Fälle von Tatsachenaussagen, denn hier werden Personen Eigenschaften/Ereignisse zugeschrieben. An dieser Stelle lohnt noch immer eine Unterscheidung von unterschiedlichen Aussagetypen, z. B. singulär vs. generell vs. normativ (z. B. Schurz 2004, 2008, Bunge 1967a). Nun betreten wir ein bereits bekanntes philosophisches Minenfeld (6.3).

7.3.8 Kausalität (im Rahmen der Systemik) Die Geschichtswissenschaft ist die Wissenschaft, welche die zeitlich und räumlich bestimmten Tatsachen der Entwicklung der Menschen in ihren (singulären wie typischen und kollektiven) Betätigungen als soziale Wesen im Zusammenhang psycho-physischer Kausalität erforscht und darstellt. Fußnote: Ich muss noch bemerken: der Ausdruck ‚Kausalität‘ ist nicht im Sinne mechanischer Kausalität gemeint (…) (Bernheim 1908, 9; Fußnote 2). Obwohl die Metaphysik der Kausalität hier außerhalb unseres Gesichtskreises liegt, erfordert die Verwendung von Kausalbeziehungen als Werkzeug historischer Erkenntnis zweifellos eine kritische Beurteilung (Bloch 2002 1949, 214).

Wir müssen uns nun kurz an die Gesamtproblematik im Kausalitätskontext (Kapitel 6.3) erinnern und festhalten, dass wir hier die ontische Teilproblematik im Rahmen der Systemik beackern. Die Frage ist (Problem 1): Was ist die Kausalrelation und was sind die Relata? Die Frage ist weder, wie erkennen wir Kausalrelationen (Problem 3), noch ist die Frage, was eine gute Erklärung oder Kausalerklärung in einem Kontext ist (Problem 4), z. B. in den Geschichtswissenschaften. Insbesondere ist die Frage nicht, was in einer stipulierten Alltags-

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servations“), Komponenten von Überzeugungssystemen oder etwas Ontisches außerhalb von Gehirnen in Raum und Zeit, das in Relationen mit anderem steht? Ob für sogenannte konventionelle Tatsachen wie „Im sozialen System s gilt, dass x Eigenschaft P hat“, eine eigene Sparte aufgemacht werden muss, ob diese bereits in strukturell-emergenten Eigenschaften enthalten sind oder als bloße Resultanten oder Verteilungen von individuellen Überzeugungen einzuordnen sind, kann man hier offen lassen.

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sprache Kausalaussagen bedeuten (Problem 2). Es ist auch nicht die Frage, was „die Historiker“ oder „die Sozialwissenschaftler“ mit Kausalität meinen, zumal diese offenkundig keine Sprache teilen und sich über Kausalität oder „Kausalität“ im Normalfall – wie ich hier ausnahmsweise etwas herausfordernd formulieren will (vgl. Porpora 2008) – kaum Gedanken machen. Ferner können wir davon auch eigentlich nichts wissen, weil Philosophen dies nicht untersucht haben, gerade auch im Fall der Geschichtswissenschaften, und wir das hier natürlich auch nicht leisten können. Es ist auch noch nicht die Frage, was Kausalität im Sozialen oder „Historischen“ vielleicht genauer ist. Darauf kommen wir erst im nächsten Kapitel unter der Voraussetzung dieses Kapitels, weil wir dazu eine Vorstellung von Kausalität im kategorialen System der Systemik benötigen. Einige Kommentare, die diese soziale Frage betreffen, lassen sich gleichwohl nicht vermeiden, damit wir die (durchaus in Teilen zweifelhafte400) Relevanz von Kausalitätsfragen für die Geschichts- und Sozialwissenschaften nicht aus den Augen verlieren. Der Unterschied zu anderen Kausalitätsvorstellungen ist gar nicht in erster Linie kausalitätsphilosophisch, sondern sozial- oder geschichtsontologisch, denn hier gibt es überhaupt einen (expliziten) kategorialen Rahmen (Relata) für die Einbettung der Kausalitätsvorstellung (Relation), wobei die Kausalitätsvorstellung dann auch fundamental anders ist. Wir kommen dann später auf die bereits gestreiften (6.1, 6.3, 6.4) Makro-Mikro-Probleme und Fragen nach den Relationen von zum Beispiel Strukturen und Akteuren erneut zurück, genauso wie auf die Erklärungsproblematik. Wir steigen hier also erneut mit Blochs obiger Frage nach der „Metaphysik der Kausalität“ ein und kommen im Anschluss auf Fragen zurück, die mit der Frage nach „Kausalbeziehungen als Werkzeug“ der Erkenntnis cum grano salis zu tun haben. Das ergibt nämlich dann eine weitere, über das Vorangegangene etwas hinausgehende Einschätzung der Kausalitätsproblematik in einem erweiterten Kontext, den alle Geschichtswissenschaftler kennen. Die Relevanz von philosophischen Kausalitätsvorstellungen wird dann nebenbei in diesem thematischen Kontext erneut eingeschätzt. Wenn man so will, dann arbeitet das Vorangegangene vornehmlich auf die Behandlung jener in den Geschichts- und Sozial(meta)theorien allgegenwärtigen Problematik hin, wobei der Unterschied darin besteht, dass die Kausalitätsfrage explizit gestellt wird, d. h. die Relata werden genauso möglichst explizit behandelt wie die Relation. Wir wissen schon, dass dies selten geschieht (6.1, 6.3). Bisher haben wir, bis auf eine Ausnahme, vornehmlich potentielle Relata gesammelt. Hier ist auch kein Vergleich von Kausalitätsvorstellungen aus der Philosophie Thema, obwohl der wohl nötig wäre (Kapitel 6.3). Dazu kann ich bloß sagen, dass die Alternativen mich in keinem Fall bisher überzeugen, was in diesem Kapitel aber auch egal ist, weil im Rahmen des Systemismus nun eine andere Vorstellung zentral ist. Daher sind auch Vergleiche an dieser Stelle eigentlich irrelevant, weil sie ohnehin zunächst nur zur Erkenntnis führen, dass man sich einig ist, dass man sich uneinig ist, und ferner keine Möglichkeiten zu existieren scheinen, etwaige Diskrepanzen aufzulösen. Auch deshalb hilft nur weiter, philosophische Kausalitätsvorstellungen in sozial(meta)theoretischen Annahmen und Ansätzen wie auch konkreter Forschung zu situieren. Was sind also die Relata in Kausalrelationen im Rahmen des Systemismus? Da das Universum im Systemismus aus Dingen besteht, kann nicht verwundern, dass Dinge an dieser Stelle der ontologischen Architektonik eine Rolle spielen. „Only material things can act on one another“ (Bunge 2004b, 374). Das heißt auch, dass idealistisch aufgefasste Ideen, Begriffe, Verfassungen – in den verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Bedeutungen –, 400

P. Veyne (1996 1975, 128) behauptete z. B., in Texten über Geschichtswissenschaft sei häufiger die Rede von Kausalität als in Texten in der Geschichtswissenschaft.

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Rechtsinstitutionen oder Regelsysteme nichts verursachen. Man sollte also nicht schreiben, die Mischverfassung Roms habe den Aufstieg Roms verursacht, zumindest nicht so lange nicht klar ist, was mit „Verfassung“ und „Verursachung“ gemeint ist. „Institutionalisten“ reden allerdings (zumindest in der Metatheorie) häufiger so. Auch ist die Rede von „Institutionen als normativ wirksame Regelsysteme“ (Schmid 2006a, 160) oder von Institutionen und den „Folgen ihrer Wirkung“ (Esser 2000d, 340), die in den Sozialwissenschaften häufig zu finden ist, so lange unproblematisch, als man nicht meint, diese Regelsysteme wirkten wirklich und es gäbe „Folgen bestimmter Institutionen“ (Schmid/Maurer 2010, 27) in dem Sinne, dass hier eine soziale Entität auf irgendetwas anderes wirkt. Dass Schmid das nicht meint, ist sicher.401 Dass andere das nicht meinen, ist unsicher (7.6). Was hier wirkt, sind natürlich konkrete Personen. Allerdings sollte eine Ontologie natürlich minimal dazu beitragen, „metaphysically ill-formed statements“ (Bunge/Mahner 1997) zu vermeiden, zumindest dort, wo dies ceteris paribus auch offensichtlich ist. Mit „causal agents“ (Bunge 1997, 422) sind im Systemismus also immer Dinge, darunter Systeme, gemeint. Das ist im britischen Social Realism beispielsweise offenkundig anders (Plenge 2014a) wie auch in anderen Ontologien, die weder Dinge noch „agents“ kennen (Plenge 2014c), die aber eventuell „powers“ ohne Dinge, „Bedingungen“ oder „Faktoren“ ohne jegliche Systeme oder auch sogenannte „Ereignisse“ als primitive Kategorien und Relata der Kausalität kennen oder scheinbar zu kennen glauben, denn explizit ist in aller Regel wenig zu erfahren (Kapitel 6.3, 6.1). Da im Rahmen der Systemik auch im Sozialen von der Existenz von etwas ausgegangen wird, das „Ding“ genannt wird, kommen zumindest an dieser Stelle der Darstellung auch im Systemismus prinzipiell Sozialsysteme als Dinge infrage, die kausale Akteure sind („causal agents“), denn, wie wir gesehen haben, sind auch Sozialsysteme in dieser Ontologie Dinge. Dennoch sind Dinge im Systemismus streng besehen nicht die Relata der Kausalrelation, obwohl (einseitige) Aktionen („actions“) und (wechselseitige) Interaktionen („interactions“) für Dinge definiert sind (Bunge 1977a). Auch Eigenschaften jedweder Art verursachen im systemischen Rahmen nichts, auch wenn sie (gesetzmäßig oder statistisch) interdependent sein können (Bunge/Mahner 2004), wie in Aussagen wie „Ein Organismus mit diesen und jenen Neuronensystemen hat (immer) Bewusstsein“ oder „Eine Gesellschaft mit diesen und jenen Subsystemen ist eine Demokratie“. 402 Wie schon zuvor angedeutet wurde, sind die Relata, die in Kausalrelationen stehen, auch im Systemismus Ereignisse. Wie ist dies mit der obigen Aussage verträglich, dass nur (materielle) Dinge etwas verursachen können? Oben (7.3.5) wurden Ereignisse definiert als Veränderungen in Zuständen von Dingen. Anders gesagt heißt dies einfach: Mit einem Ding kommt immer ein Zustand und manchmal ein Ereignis. Ereignisse sind Veränderungen. Veränderungen sind Veränderungen von Dingen und auch die Relata jeder Kausalrelation (Bunge 2009b 1959), da Kausalität in diesem ontologischen Rahmen etwas mit Veränderung(en) in beiden 401

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„Unter ‚Institutionen“ sind keine ‚Sachen‘ (bzw. materiale ‚constraints‘) zu verstehen, sondern wechselwirksame Erwartungen darüber, was andere, in gleicher Weise funktionierende Akteure tun werden, verbunden mit höchst graduell abgestuften Sicherheiten darüber, ob sich die beteiligten Akteure auf ihre Erwartungen verlassen können“ (Schmid 2009, 138). Siehe zu „Institutionen“ auch 7.6. Bunge selbst ist manchmal inkonsequent in dieser Hinsicht: „Note that actions and the corresponding connections have been defined for things not for properties. The latter can be interdependent but not interacting. That is, the common phrase ‚Properties P and Q interact should be understood either as „Properties P and Q (of a given thing) are interdependent“, or „Things with property P interact with things with property Q“ (Bunge 1979a, 8 f.). „By contrast, the statement ‚In every society inequality generates conflict’ asserts a causal (not logical) relation between two properties of a society: namely, inequality and conflict“ (Bunge 1996, 19). Siehe zur Problematik auch 7.4.

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Relata zu tun hat. Kurz gesagt: Keine Veränderung, keine Verursachung. Kein Ding, keine Veränderung und auch keine Verursachung.403 Die Kausalrelation wird im Systemismus nun zunächst allgemein als bindende Relation (7.3.3) und spezieller als Produktions- oder Hervorbringungsrelation verstanden. Also eigentlich so – wir dürfen wohl auch darüber spekulieren – wie dies im Common Sense auch der Fall ist. Kausalität ist die Hervorbringung oder Produktion einer Veränderung in einem Ding durch eine Veränderung in einem anderen Ding. Beides wird in den meisten Kausalitätsphilosophien wohl abgelehnt (siehe Hüttemann 2013): Die Kausalrelation betrifft Ereignisse, d. h. nur Veränderungen können kausal miteinander verknüpft sein. Wenn wir sagen, ein Ding x sei die Ursache dafür, dass ein anderes Ding y ein z tut, meinen wir, dass ein bestimmtes Ereignis in x eine Zustandsveränderung z in y hervorbringt. Verursachung ist eine Form des Werdens, nicht des Seins (Bunge/Mahner 2004, 95; Hervorhebung dp). Jede Wirkung wird von ihrer Ursache hervorgebracht (produziert). Mit anderen Worten: Verursachung ist eine bindende Relation, eine Verknüpfung und zudem eine Form der Ereignisgenerierung (Bunge/Mahner 2004, 96). Im Vergleich zu anderen Auffassungen heißt dies (6.3), dass die Kausalrelation nicht bloß die (strikt) regelmäßige Abfolge von Ursache (Vorhergeher) und Wirkung (Nachfolger; Hume, Popper, Hempel etc.), nicht bloß die „Bedingung“ der Wirkung durch die Ursache(n) (NeoMackieaner und statistische Kausaltheorien) oder die Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache (Kontrafaktiker) ist. Dass die Kausalrelation eine Relation zwischen Ereignissen ist, heißt beispielsweise, dass nicht – wie es gewöhnlich in der Tagesschau heißt – die Bombe im Flugzeug dessen Außenwand zerstört hat, sondern die Explosion der Bombe oder, was dasselbe heißt, die explodierende Bombe. Für Wissenschaftler trivial ist natürlich auch, dass, bevor davon gesprochen werden kann, dass etwas passiert oder dass ein Etwas etwas macht oder verursacht, das Ding identifiziert werden muss, das etwas macht oder nicht macht, wenn sich etwas verändert oder ein sich veränderndes Ding etwas verursacht. In Gründe-versus-Ursachen-Diskursen glaubt man manchmal, auf jene Systeme/Dinge genauso verzichten zu können wie in philosophischen Thesen über Kausalität im Sozialen, Verursachung durch Soziales oder „soziale Kausalität“ (7.4, 7.5). 403

Das sehen andere Kausalitätsschulen anders. Zum Beispiel der Neo-Mackieaner Jakob (2008), der auch dasjenige, was er „Zustand“ nennt, als Kausalrelatum in einer Bedingungstheorie zulässt. Im Rahmen dieser Ontologien bleibt dann aber z. B. offen, was überhaupt sich in diesem Zustand befindet (und was „Zustand“ meint), sodass man die Frage z. B. gar nicht stellen muss, ob so etwas im Sozialen existiert, die man vor dem Hintergrund der systemischen Kategorientafel kritisch stellen darf (7.3.5). Hinter der Rede von „Bedingungen“, „Faktoren“ und „Ereignissen“ bleibt der kategoriale sozialontologische Rahmen der Kausalitätsontologie unbestimmt.403 Wie gesehen (Kapitel 6), ist dies verbreitet so und es wird verbreiteter von Zuständen geredet, als man vielleicht zunächst glaubt; siehe z. B. Pape 2006. Auch in einer jüngeren Geschichtsdidaktik ist die Rede davon, „Geschichtskarten“ würden Darstellungen von „historischen Zuständen“ sein und es ist die Rede vom „Entwicklungszusammenhang sozialer Zustände und Veränderungen“ (Baumgärtner 2015, 183, 238). Der Systemist fragt immer: Wovon ist der Zustand ein Zustand? Genauso fragt er: Woran ereignet sich das Ereignis? Oder er fragt: Was prozessiert oder wovon ist der Mechanismus ein Mechanismus? Er kann auch fragen: Wovon ist die emergente Eigenschaft eine Eigenschaft? Eine legitime Vermutung ist, dass man beinahe immer, wenn man eine dieser Fragen stellt, auf etwas Ähnliches wie die systemische Kategorienarchitektonik kommt. Aber die Überprüfung dieser Vermutung obläge der vergleichenden Ontologie, die es wohl in unserem Themenfeld nicht gibt (7.1).

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Das ermöglicht dann vermutlich andere „kausal“ genannte Relationen als im Rahmen der Systemik. Es muss nun natürlich noch gesagt werden, was unter der ominösen Kausalrelation („the secret connection“) als Produktions- und Hervorbringungsrelation in diesem Rahmen zu verstehen ist. Die naturalistische oder szientistische Ausrichtung dieser Metaphysik ist nun damit verbunden, dass hierzu die Physik herangezogen wird. „Every effect is somehow produced (generated) by its causes. In other words, causation is a mode of energy transfer“ (Bunge 2009b 1959, XXIV). Aus diesem Grund wird diese Familie von Kausalitätstheorien manchmal auch „Transferenztheorie“ genannt: Event C in thing A causes event E in thing B if and only if the occurrence of C generates an energy transfer from A to B resulting in the occurrence of E (Bunge 2006a, 91). Haben wir zwei Dinge x und y, dann kann es sich dabei auch um zwei Subsysteme eines Systems z handeln. Es kann sich bei x und y natürlich auch um Personen handeln, obwohl eine Gleichsetzung von Personen mit Dingen in Rechtskontexten und der Moral zunächst seltsam klingt. Hier ist der Kontext jedoch ein anderer. Die Rede von Dingen und Systemen hat nicht das Geringste damit zu tun, beispielsweise das Leiden von Menschen nicht zur Kenntnis nehmen, dessen Produktion nicht erklären und letztlich nicht abstellen zu wollen. Es ist eigentlich gerade umgekehrt (z. B. Bunge 2012b). Eine Bestimmung dieses Kausalitätsbegriffs, in der die Geschichtskategorie verwendet wird, müssen wir im Rahmen einer Philosophie der Geschichtswissenschaft noch zur Kenntnis nehmen: Zur Analyse des Verursachungsbegriffs betrachten wir zwei verschiedene Dinge oder zwei verschiedene Teile eines Dings, die wir x und y nennen. Die Geschichte dieser beiden Dinge während eines bestimmten Zeitraums bezeichnen wir jeweils mit g(x) und g(y). Der Ausdruck g(y│x) bezeichnet dann die Geschichte von y in Abhängigkeit von x. Wir können dann sagen, x wirkt auf y genau dann ein, wenn g(y) ≠ g(y│x), d. h. wenn x Zustandsänderungen in y herbeiführt (…) (Bunge/Mahner 2004, 245; Bunge 2009b 1959, XXV). In dieser begrifflichen Analyse fehlt der explizite ontologische Verweis auf Energietransfer in der Rede von der Herbeiführung einer Veränderung, der vorausgesetzt ist, weil ex hypothesi ohne Energietransfer keine Veränderung in einem Ding y durch Ding x hervorgebracht, d. h. verursacht werden kann. Spontane Veränderungen in Dingen ohne „Anstoß“ von außen sind damit nicht ausgeschlossen, also etwas, das „Spontaneität“ oder „Selbstdetermination“ genannt wird (Bunge 2009b 1959, 1981), die im Soziohistorischen nicht unüblich ist, da hier Akteure (Personen, Subjekte, Menschen) wirken. „Geschichte“ ist hier natürlich eine Prozesskategorie und ohne Hinzufügung des Energietransfers nähert sich diese begriffliche Bestimmung offensichtlich einer kontrafaktischen Analyse an, denn gesagt wird auch, dass die Geschichte (7.3.5) von Ding y anders gewesen wäre, wenn eine Veränderung von x nicht stattgefunden hätte. Damit würde dann aber rein gar nichts mehr über die ontische Relation gesagt, die „Kausalität“ oder „Verursachung“ genannt wird, sondern es wird bloß um sie her-

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um geschrieben. Was man dann wieder (nur) hat, ist ein (eventuell fallibles oder uneindeutiges) Kriterium für etwas, von dem man nicht weiß, was es wenigstens ungefähr ist.404 Dass es Vorbehalte gegen diese und ähnliche Vorstellungen von Kausalität gibt, ist klar, mindestens seit Bernheim (1908, 9) behauptete, seiner Auffassung nach gehe es in der Geschichtswissenschaft um „psycho-physische Kausalität“, was er allerdings nur damit erläuterte, es gehe nicht um „mechanische Kausalität“. Die (rein ontologische) Problematik war damit allerdings bereits ganz gut bezeichnet (7.5). Der Geschichtsphilosoph und „Empirist“ M. G. Murphey (2009) hält diese Idee für derart absurd, dass er sie gar nicht behandelt. Der Geschichtstheoretiker und „Materialist“ Topolski (1976) erwähnte sie – wobei nicht ganz klar ist, ob er sich positiv bekennt oder nicht – in einer Fußnote als einen „materialistischen“ Begriff kurz405. Der Historische Soziologe C. Tilly (2002, XI , 2005, 6) kokettierte verschiedentlich mit der Idee. Man sieht Vorbehalte und Schwierigkeiten auch daran, dass (kritische) Anknüpfer an systemistische Ideen diesen Aspekt des Systemismus gänzlich oder weitgehend unterschlagen (Kaidesoja 2013, Wan 2011a/b). Auch Autoren, die sogenannte „negative Kausalität“ oder Kausalität durch Absenzen in ihren Ontologien haben wollen, müssen offenkundig Kausalität anders verstehen und damit, aus systemistischer Sicht, missverstehen, d. h., sie bezeichnen eine nicht-kausale Relation oder eine Nicht-Relation als Verursachungsbeziehung. Hier streifen wir aber die metaphilosophischen Probleme von Kausalitätsphilosophie, die wir hier nicht lösen werden.406 Zunächst wollen wir aber die in die Architektonik des Systemismus eingebaute Ontologie der Kausalität in den Begriff eines Mechanismus einpflanzen, denn das hilft uns für das nächste Kapitel, da wir dann keine elaborierte Vorstellung dessen haben müssen, was Energie ist oder „Energie“ meint, wozu wir noch zügig und gründlich Physik studieren müssten.407 Ich überlasse dies den Naturwissenschaftlern: 404

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In kontrafaktischen Kausalitätsvorstellungen verursacht auch das Erklingen des Tracks B1 (Ereignis) auf einer Vinylschallplatte (ceteris paribus, Plattenspieler läuft etc.) das Erklingen des Tracks B2 (Ereignis), wenn man die Nadel am Anfang der Platte herunterlässt, denn es gilt, dass B2 nicht erklungen wäre, wenn B1 nicht erklungen wäre. Solche Beispiele, die man leicht multiplizieren könnte, können am Ende zwar wohl immer wegdefiniert werden, sie zeigen aber, wo der Hase im Pfeffer liegen kann, nämlich darin, dass in ihr über eine Kausalrelation nichts zu erfahren ist und dass die Kategorie eines Systems (oder Dings), z. B. des sound system, unentbehrlich ist. Dass kontrafaktische Spekulation manchmal heuristischen Wert hat, steht auf einem anderen Blatt. „The materialist concept of cause refers to such an action of one material object upon another in which a transfer of energy is involved“ (Topolski 1976, 272, FN 5). Im Fall von Kirbys These, dass „long periods of exclusion from ultra-violet radiation retarded the skeletal development of children working underground and caused them to be shorter than their working-class contemporaries“ (Kirby 1995, 698), liegt aus dieser Sicht keine ontische Kausalität zwischen dem NichtEinfluss von Sonnenlicht und etwas anderem vor, sondern ein Erklärungsmodell, das sowohl kausale als auch non-kausale Anteile (im Hintergrund) hat. Das Ausbleiben von Sonnenlichteinstrahlung auf den Organismus, ein Nicht-Input von außen, verursacht zwar nichts, aber irgendwelche Kausalprozesse im Organismus laufen dann ab, die – so die Hypothese, in der tatsächliche Geschichten mit fiktiven kontrastiert werden – nicht abgelaufen wären, wenn es jenen Input gegeben hätte. Diese Stelle gibt mir die Gelegenheit festzuhalten, dass ich mich an dieser Stelle völlig auf die Expertise von Physikern bzw. Physikerphilosophen verlasse, die behaupten, die (äußerliche) Verursachung sei nur möglich durch Energietransfer, die mithin auch verstehen, was hier genauer mit „Energie“ gemeint ist. Ich setzte also bezogen auf die Prima-facie-Plausibilität dieser Kausalitätstheorien auch voraus, dass M. Bunge, der Professor für Theoretische Physik war, diesbezüglich zunächst zu vertrauen ist und seit der Publikation seines Kausalitätsbuchs (2009b 1959) im Kontext der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften (siehe Literaturverzeichnis) dort plausiblerweise mit dieser Vorstellung gearbeitet hat. Falls die Physik für diese Kausalitätsontologie spricht, dann spricht wenigstens irgendetwas dafür und es handelt sich nicht bloß um stipulative Definitionen auf der Basis unterschiedlicher formaler Werkzeuge, was von anderen philosophischen Kausalitätsvorstellungen – vielleicht berechtigterweise – vermutet worden ist.

7.3 Systemismus im Detail: Ontologisch, sozialontologisch und methodologisch

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(Kausale Mechanismen) Two types of causal mechanism must be distinguished: Type I, or involving energy transfer, as in manual work and combat; and Type II, or involving a triggering signal, as in giving an order to fire a gun or an employee. In the first case, the quantity of energy being transferred is critical, whereas in the second a small energy transfer may trigger a process involving large energy. Hence, Type I and Type II causation may be called strong and week energy transfer (Bunge 1997a, 419). Die Rede von „Mechanismen“ an dieser Stelle hat damit zu tun, dass Kausalität hier überhaupt als Verbindung zwischen den Relata und als Produktionsrelation verstanden wird und nicht alles „loose and separate“ (Hume) ist. Die Dinge kommen sozusagen durch Kausalität tatsächlich in Kontakt miteinander. Regularitätstheoretiker der verschiedenen Varianten (Psillos 2009) und Kontrafaktiker (vgl. z. B. Esfeld 2007) kennen keinerlei Verbindungen und keine Mechanismen der Hervorbringung. Ein Beispiel für Typ I sind auch die Explosionen der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Dabei dürfte es sich wohl um eines der unkontroversen Beispiele von kausaler Produktion und Hervorbringung handeln. Relativ kurz im Anschluss waren die Geschichten von ca. 100 000 Menschen beendet, was von diesen Explosionen vermutlich hervorgebracht wurde, wie auch die Zerstörung der Städte von diesen Explosionen der Bomben produziert wurde. Beides folgt nicht einfach nur zeitlich (und vielleicht auch regelmäßig bei typengleichen Ereignissen) dem anderen Ereignis nach oder das eine ist nicht bloß kontrafaktisch abhängig von dem anderen. Jedes Beispiel für Kommunikation ist ein Beispiel für Typ II. Im Falle sprachlicher Kommunikation verursacht der Übertrag von sprachlichen „Signalen“ von einer Person x die Zustandsveränderung des Gehirns von Person y und damit auch deren geistige Eigenschaften (cum grano salis „psycho-physische Kausalität“ nach Bernheim), woraufhin andere, wohl weitgehend unbekannte Prozesse einsetzen, die eventuell in einer Handlung münden oder auch nicht. No signal, no information transmission. And signals (…) are chains of events occurring in concrete things: the transmission of information consists in events propagating across space and carrying energy. Remove such real processes and only parapsychological anecdotes remain (Bunge 1977a, 272; vgl. 1997, 31; 2010c, 67). Wenn dem so sein sollte, dann gibt es wohl auch gar keine sozialwissenschaftlich signifikanten kausalen Interaktionen ohne Energietransfer, was wir allerdings den Experten überlassen müssen, ganz abgesehen davon, ob es irgendwo vielleicht andere Prozesse gibt, die nichts mit Energietransfer zu tun haben, aber von Philosophen „kausal“ genannt werden.408 Im Sozialen müsste man dann plausibilisieren, wie dies zu denken ist und warum das fruchtbar ist, indem man z. B. die Fragen aus dem nächsten Kapitel beantwortet (7.4). Dass die transportierte Information in den meisten Fällen interessanter ist als ihr Transporteur, neben dem Kontext und/oder den „extraphysischen“ sozialen Relationen, in denen 408

Wie verfährt man in der Philosophie gewöhnlich mit solchen Gegenbeispielen? Man weist sie zurück, indem man erklärt, es seien keine Beispiele. Ein solches (Pseudo-)Beispiel liefert der Fall, in dem in der Formel 1 beim Start die Ampel ausgeht und daraufhin die Autos losdüsen. Ein weiteres bietet jener Fall, in dem eine Pflanze vertrocknet, nachdem (oder weil) sie nicht gegossen worden ist, oder derjenige, in dem ein Fahnenmast einen Schatten „wirft“. Auch „verursacht“ der Tod eines Ehemannes nicht instantan ein Ereignis, das „Verwitwung der Ehefrau“ genannt werden könnte. (Das letzte Beispiel entstammt Bunzl 1997, 36 f.)

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

kommuniziert wird, zumal natürlich in Erklärungskontexten, ist klar (Bunge 2010c, 67, 136), allerdings ist es auch an dieser Stelle irrelevant. Auch „bestimmte ‚signifikante‘ Zeichen und Symbole in einer Situation“, die „Vorstellungen über Form und Inhalt des erwarteten Handels“, so die sozial-psychologische Hypothese eines Soziologen, „nahezu automatisch“ auslösen sollen (Esser 2000d, 11 f.; vgl. Esser 2006, 359)), müssen zuerst einmal wahrgenommen werden, was auch immer der Träger jener Zeichen und Symbole sein mag (vgl. auch Bunge 2017, 85). Wenn das stimmt, was zuvor im Zitat behauptet wird, dann sind entsprechende Kausalprozesse mit Energietransfer dabei vorausgesetzt, was mit dem Vorliegen von Kausalität dann identisch ist, wenn die These der Transferenztheoretiker stimmt. Vor dem Hintergrund der althergebrachten und teilweise seltsamen Kausalismus-Anti-KausalismusStreitigkeiten (6.3) denke man ferner auch an positive und negative, formelle und informelle Sanktionen als Beispiele für Kausalität im Sozialen (Esser 2000d, 111 ff.) oder andere Trivialfälle und wie diese möglich wären, ohne diese kausalen und damit – so die Hypothese „psycho-physischen“ (E. Bernheim) Links: „Für die externen Sanktionen sorgen – mehr oder weniger zuverlässig – strafende Politessen, keifende Tanten oder ein Bundespräsident, der das Bundesverdienstkreuz verleiht, beispielsweise“ (Esser 2000d, 113). Es muss ja auch nicht daran erinnert werden, dass außerhalb der Akademie Menschen in und außerhalb sozialer Systeme die meiste Zeit damit beschäftigt sind, Dinge zu produzieren, über den Globus oder wenigstens die Ladentheke zu verschieben und dabei „am Ende“ sozial (ungleich) zu verteilen, was durchaus etwas mit physischen Links zu tun zu haben scheint.409 Bei metatheoretischen Debatten um Kausalität sollte man nicht vergessen, Kausalitätsontologie und Kausalerklärungsmethodologie zu trennen und dann die Kosten und den Nutzen abzuschätzen, zum Beispiel im Hinblick auf die Frage, welche Forschungsstrategien in einem Bereich durch eine jeweilige Kausalitätsvorstellung nahe gelegt werden, wenn es schon so ist, dass jene Wissenschaften über kein signifikantes (theoretisches) Kausalwissen verfügen, das man einfach begrifflich analysieren könnte. Das ist für die Geschichts- und Sozialwissenschaften vergleichend noch nicht geschehen und wir werden dies hier auch nicht leisten. Wir werden gleich (7.5) versuchen zu sehen, welche Forschungsstrategien in einem systemistischen Rahmen tendenziell nahe liegen, wenn auf diese Metaphysik dabei zurückgegriffen wird und dabei feststellen, dass diese die Strategie der Strukturindividualisten der Tendenz nach ist und eben nicht, wie teilweise suggeriert wird, das Problem im Vorliegen (Kausalismus) oder Nicht-Vorliegen (Anti-Kausalismus) von Kausalität im Ontischen besteht, sondern in Erklärungen oder erklärenden „Modellen“ (Esser 1996 ff.) oder erklärenden „Theorien“ (Schmid 2006a). 409

Auch bestimmte (Pseudo-)Probleme gibt es in diesem Rahmen nicht, denn Powers-Theoretiker (z. B. ElderVass 2010, 54 ff.) kämpfen mit der Möglichkeit der ontologischen Reduktion oder Elimination von dem, was sie „Kräfte höherer Ebene“ nennen, was heißen würde, dass es jene Kräfte höherer Ebene nicht gibt. Davon betroffen sind dann u. U. auch jene „Kräfte“ von Personen. Wie dem auch immer sei, in diesem Rahmen ist das erstmal sekundär, weil Personen auf jeden Fall etwas verursachen, soweit sie miteinander kommunizieren und man davon ausgehen darf, dass diese Kommunikationen, d. h. einseitige Wirkungen oder Interaktionen, die Zustände des jeweils anderen Systems verändern, z. B. wenn sich ein Politiker „mit der Drohung konfrontiert [sah], dem für den nächsten Tag angesetzten Einmarsch deutscher Truppen stattzugeben oder es auf eine bewaffnete Auseinandersetzung ankommen zu lassen“ (Recker 1990, 24). Das bestreitet aber niemand, bloß hartnäckigste Behavioristen werden zurückhaltend sein. Heureka! Wunderbar! Hurra! „Historischer“ oder „geisteswissenschaftlicher“ oder „hermeneutischer“ Anti-Kausalismus ist wohl falsch, zumindest innerhalb dieses ontologischen Rahmens. Auch Regularitätstheorien haben immer Probleme heraufbeschworen, die man nur unter ihren Voraussetzungen hat. Sie führten und führen regelmäßig zur Vermutung der Inexistenz von Kausalität im Soziohistorischen, da niemand solche Regularitäten kennt. Dass es (schwache) Regularitäten im Soziohistorischen gibt, hat mit Regularitätsmetaphysik der Kausalität zunächst nichts zu tun.

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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Mit dieser Kausalitätstheorie ist auch gerade keinerlei Stimulus-Response-Determinismus verbunden. Menschen oder Personen sind im Systemismus komplexe biopsychische Systeme und nicht Stimulus-Response-Automaten. (Siehe hierzu schon Bunge 2009b 1959 oder 2010c.) Rein äußerliche Determination ist im Fall kausalen Mechanismen vom Typ 1, wenn ein Kind z. B. auf eine Tretmine tritt und zerfetzt wird, was etwas anderes ist als ein Fall vom Typ 2, beispielsweise wenn ein Kommandant ein Kommando an einen anderen Menschen gibt. Hier wird diese Person von außen nur insofern streng determiniert, als sie sich gegen den (gesetzmäßig) entstehenden Gehirnzustand, inklusive der mentalen Eigenschaften, nicht wehren kann, wobei die weiteren Entscheidungen, soweit wir das wissen oder ahnen, davon nicht (in einem strengen Sinn) determiniert sind. Das ist allerdings eine Frage für Neurokognitionswissenschaftler und ihre Philosophie. (Zur Systemik in diesem Kontext siehe Bunge 1984b, Bunge/Ardila 1990, Bunge 2010c) Auch hier ist es so, dass etwas, das eine „sozialoder geschichtswissenschaftliche Erklärung“ in einem aufgeladenen Sinn vielleicht nur genannt zu werden verdient, im Idealfall und bestimmten Fällen vielleicht etwas anderes liefern muss als Kausal- oder Narrationsvokabular. Obwohl natürlich auch dies alles im Umfeld der „reinen“ Kausalitätsproblematik in der Philosophie umstritten ist, interessiert uns hier letztlich die „Wirkung“ dieser Kausalitätsauffassung auf die Problematik der Kausalität im Sozialen im Rahmen des Systemismus, zumal es sich dabei um die eigentlich relevante Problematik im Rahmen der Geschichts- und Sozialwissenschaftsmetatheorie handelt. Hätte man so etwas wie das folgende Kapitel für alle Kausalitätsphilosophien im Rahmen der (Philosophie der) Geschichts- und Sozialwissenschaften und alle geschichts- und sozial(meta)theoretischen Ansätze, dann könnte man zum Vergleich schreiten und sich fragen, welche Vorstellung am Schnittpunkt von Allgemeiner Metaphysik, Sozialwissenschaftsontologie und (sozial-)wissenschaftlichen Ergebnissen am besten abschneidet. Meines Wissens gibt es aber bisher in der Philosophie bezogen auf die Sozialwissenschaften nur ein (klares) Paket, nämlich die Systemik, und ansatzweise den Bhaskarianischen Critical Realism, der allerdings stellenweise und gerade im Kausalitätskontext recht esoterisch, d. h. schwer verstehbar ist (Plenge 2014a, Kaidesoja 2013, Hedström/Ylikoski 2010). Natürlich bräuchten wir auch hier (6.3) Kriterien dafür, was es heißt, dass eine Philosophie besser abschneidet, über die wir hier auch nicht verfügen. Dass es in den Sozialwissenschaftsmetatheorien ungezählte solcher Päckchen gibt, ist klar (7.2). Soweit sie hier grob bekannt sind, kommen wir beiläufig darauf zu sprechen. Es ist aber schon zu erwarten, dass sich vor dem Hintergrund der Systemik so manche Kausalrede als metaphorisch erweist. Wortmagie hilft auch in diesem Fall wohl genauso wenig wie jene „Magie der Worte“ (Esser 1996, 383), die innerhalb der Sozialtheorie kritisiert wird (siehe auch zu „Kolligation“ Kapitel 6.4). Das heißt, sie führt sicherlich nicht zu akzeptablen Kausalerklärungen oder zum Verstehen von irgendetwas.

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus) Den Journalismus gibt es nicht. Ähnlich wie die Wissenschaft ist er sowohl das Feld für konkrete Tätigkeiten als auch soziales System mit eigener Agency – also der Potenz, aus sich selbst heraus wirksam zu sein (Menne 2010, 79). Die Geschichte zeigt uns also eine unendliche Vielfalt der Begegnungen des Menschen mit den von ihm geschaffenen und ihn gleichzeitig prägenden Strukturen (T. Schieder 1968, 179).

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen? Ihre bewußte Einordnung in die Sozialstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse, die gemeinhin mit dem Begriff „Grundherrschaft“ umschrieben werden, zeigt deutlich, welche Wirkungskraft diesen selbst noch in der beginnenden Neuzeit zukam (Mandrou 1998, 200).

Die Hauptfrage lautet nun ungefähr wie folgt: Die im vorhergehenden Kapitel skizzierte Kausalitätsontologie vorausgesetzt und die weiteren ontologischen und sozialontologischen Kategorien aus den vorhergehenden Kapiteln ebenso vorausgesetzt, was verursacht was im Sozialen? Wir wissen schon ansatzweise (Kapitel 6), dass bisher weitgehend Mangelware ist, was wir hier auf der Basis des Systemismus zu diskutieren versuchen, nämlich die Einbettung irgendeiner Kausalitätsontologie in eine wissenschaftsorientierte Sozialontologie, was den Vergleich mit Sozialtheorie und Wissenschaftspraxis erleichterte, wenn nicht überhaupt erst mit fruchtbarem Potenzial ermöglichte. Wir wissen ja schon, dass außerhalb eines solchen Rahmens offenbar so gut wie alles mit allem in Kausalrelationen gestellt werden kann, zumindest per Definition. Wir wissen auch schon ansatzweise, dass eine genuin sozial- oder geschichtsontologische Einbettung philosophischer Kausalitätsideen eigentlich einzig im Critical Realism explizit zu finden ist und dort genauso wie in anderen Realismen problematisch ist (siehe auch Plenge 2014a), weil die dispositionalistische Kausalitätsontologie wenig expliziert wird und alles in allem jenes, was „Soziale Kausalität“ manchmal genannt wird, schwer nachzuvollziehen ist. Allein aufgrund dieses Mangels können (naiv-)kausalistische Erklärungsvorstellungen gerade auch im Bereich der Geschichts- und Sozialwissenschaftsmetatheorie wenig überzeugen. Wir haben unter anderem deshalb ein Ontologiedefizit diagnostiziert und die Konsultation der Systemik geschah nicht nur vor dem Hintergrund der Fragen nach den Gegenständen der Geschichtswissenschaften, sondern auch, um dieses Kapitel vorzubereiten. Denn die Vermutung bleibt, dass man ohne kategorialen Kontext diese Kausalitätsfragen auch nicht in Gedankenspielen fruchtbar diskutieren kann. Dass die Gedankenspiele nicht irrelevant sind, zeigen erneut die eingangs zitierten Autoren aus dem Kontext der Geschichtswissenschaften. Wir haben nun gesehen (7.3.8), dass nur Dinge im systemischen Rahmen etwas verursachen. Nun sind im systemischen Rahmen auch Soziosysteme Dinge, wenn auch von anderer Art als Akteure und z. B. Atombomben. Wenn wir zunächst von dem Fall ausgehen, in dem diese Soziosysteme bloß konkrete Personen als Komponenten haben und wir ferner Sozialsystem-Sozialsystem-Relationen (7.3.3) außen vor lassen, dann ergibt sich zunächst auf der Basis des obigen Kausalitätsverständnisses kaum ein ontologisches Problem bezüglich Kausalität im Sozialen. „Kausalität im Sozialen“ ist dann, wenn dies auch irgendwie realistisch zu verstehen sein soll, ein Ausdruck für „Veränderungen in Personen verursachen Veränderungen in anderen Personen“, „Person x interagiert mit Person y“ oder „Person x wirkt auf Person y“. Ein einschränkender Zusatz wird unten noch folgen und diskutiert werden müssen, denn soziale Systeme sollen sich ja auch verändern können. Dass dies nicht so einfach ist, ist aus dem Kontext der sozialtheoretischen Literatur leidlich bekannt (Makro-Mikro-Makro, Structure-vs.-Agency etc.), denn so einfach möchte es eigentlich niemand haben. Teilweise ist es eher umgekehrt, d. h. die These, dass irgendetwas Transpersonales („Strukturen“, „Ereignisse“) etwas verursacht, gilt an manchen Orten vielleicht als weitaus plausibler als die These, Personen verursachten etwas, was an sozialtheoretischen Kritiken von Strukturdeterminismus seit den 70er Jahren deutlich wird, der dann auch häufig als „metaphysisch“ kritisiert wird (z. B. Boudon 2003, Boudon/Assogba 2004). Die Soziologin M. Archer sprach den sozialwissenschaftlichen Konsens einmal beiläufig aus: „No one wishes to deny that we are influenced by our social environment“ (Archer 1995, 42 f.). Nur haben wir bereits ansatzweise gesehen (Kapitel 6.4), dass selten klar gesagt wird, was mit so etwas wie „soziale Umwelt“ (oder „Kontext“) und „Einfluss“ und ähnlichen Ausdrü-

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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cken (siehe unten) genauer jeweils gemeint ist und wie genauer spezifizierte soziale Relata auf irgendwie plausible Art und Weise in irgendwie spezifizierten, aber realistisch aufgefassten kausalen Relationen stehen können, z. B. mit Akteuren oder auch anderen sozialen Relata. Andernorts heißt es ähnlich wie folgt: Sociology is founded on the belief that our behaviour is causally influenced and in particular that there are social factors that influence our behaviour. (…) Conventionally, the social factors that are held to influence our behaviour are known as social structure, a concept that even today remains implicit in, and indeed essential to, much of the work done in the social sciences (Elder-Vass 2010, 1). Genauso wie in den Sozialwissenschaften wird diese Problematik – wenn auch häufig ohne Verwendung von Kausalvokabular – in mancher Geschichtstheorie so beschrieben, dass etwas, das „Struktur“ genannt wird, mit etwas anderem in Relationen steht. Wir haben schon ansatzweise gesehen, dass notorisch unklar ist, was mit „Struktur“ überhaupt gemeint ist. Wir haben auch ansatzweise gesehen, dass statt „soziale Umwelt“ und „soziale Struktur“ manche an der relevanten ontologischen Stelle „soziale Situation“ einsetzen (Kapitel 6, Frings 2007a/b, 2008) und seit jeher notorisch unklar ist, was damit genauer gemeint ist.410 Andere reden von „Institutionen“. Worin besteht die Problematik sozialer Kausalität eigentlich? Es gibt dabei zwei Hauptprobleme (vgl. Sztompka 1991, 58, vgl. auch G. Albert 2005). Erstens gibt es die Vorstellung, dass Soziales auch anderes Soziales verursachen kann, und zwar natürlich in einem realistischen Sinn (siehe auch erneut 6.1). Das wäre eine Art Makro-Makro-Kausallink. Es gibt ferner die Vorstellung, dass Soziales auf Individuelles wirkt. Das wäre eine Art Makro-MikroKausallink. Eine Variante am Schnittpunkt von beidem ist die Idee, dass Soziales sozusagen durch Individuelles hindurch wieder auf Soziales wirkt. Das wäre ein Makro-Mikro-MakroKausallink (z. B. Little 2010). Die vierte Teil-Problematik liegt in der Vorstellung, dass Individuelles irgendwie Soziales verursacht. Das ist die Problematik, die in der Rede von „perversen Effekten“ oder „unintendierten Handlungsfolgen“ verborgen ist. Das wäre ein MikroMakro-Link, bei dem man sich auch fragen kann, was er inwiefern, wenn überhaupt, mit Kausalität zu tun hat. Hier liegt ein wunderbares Spielfeld für Fragen nach Relata und Relationen (Kapitel 5). Hätten wir ein klares Menü von geschichts- und/oder sozialontologischen Architektoniken, könnten wir diese mit den jeweiligen Vorstellungen über Relationen vergleichen und mit den Ergebnissen von Sozialtheoretikern und Sozialforschern konfrontieren. Natürlich verfügen wir darüber nicht, daher beschränken wir uns auf die Systemik. Vor dem Hintergrund von Kapitel 6 und Kausalitätsvorstellungen, in denen relativ unvermittelt Kausalität jenseits der Köpfe von konkreten Personen im Sozialen zugelassen wird (z. B. naiver Regularitätsmetaphysik), sei ferner festgestellt, dass die Konsequenz der an der Physik orientierten Kausalitätsauffassung im Rahmen der Systemik, die in „Geistes“- oder Sozialwissenschaften kontrovers sein dürfte, zunächst eben ganz einfach ist, dass Personen etwas im Sozialen verursachen und z. B. auch nicht sogenannte (undefinierte) „Ereignisse“, wie vermeintlich der Erste Weltkrieg oder die Schlacht bei Marathon und ihr Ausgang. So etwas ist recht offensichtlich in diesem ontologischen Rahmen unmöglich und der Nutzen einer solchen Redeweise im Erklärungskontext ist genau dann zweifelhaft, wenn man nicht 410

Die einzige mir bekannte überblicksartige soziologische Abhandlung ist Markowitz 1979. Ihr kann man immerhin entnehmen, dass die Situationsterminologie wohl nicht von K. R. Popper stammt („Situationslogik“). Eine philosophische Studie zur Breite der Situationsterminologie ist mir nicht bekannt und auch dieses Werk kann hier nicht im Detail gesichtet werden.

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nur nicht davon ausgeht, dass in solchen Fällen Kausalität vorliegt, selbst wenn entsprechende Aussagen mit einer philosophischen Semantik (z. B. einer kontrafaktischen) (re-)konstruiert werden können, sondern man ferner auch nicht davon ausgeht, dass mit dem (naiven) methodologischen Kausalismus jede Kausalaussage, die grob verstehbar und ansatzweise wahr ist, bereits eine Erklärung liefert. Die unterschiedlichen Redeweisen von „sozialer Kausalität“ könnten genauso zweifelhaft sein. Den obigen Fall der Interaktion zwischen Personen (kurz: soziale Interaktion) nennen (manche) Soziologen vor dem Hintergrund weiterer Annahmen zumeist „soziales Handeln“ und sie setzen dabei physisch vermittelte Kausalverbindungen ganz einfach voraus und blackboxen sie mehr oder weniger explizit (z. B. Esser 1996). Erklärung, ob kausal oder nicht, ist unser Geschäft an dieser Stelle allerdings nicht. Wie ist es also im Fall von Sozialsystemen und ferner Sozialsystemen höherer Ebenen, also solchen, die Sozialsysteme als Subsysteme (Komponenten) haben? Verursachen Sozialsysteme etwas? Damit wechseln wir spätestens vom Thema Kausalität, gestreift in Kapitel 6, das ein Thema der allgemeinen Ontologie ist, zu einer Problematik, die zur Ontologie des Sozialen oder der Sozialwissenschaft gehört, inklusive Geschichtswissenschaften (im Sinn von 2.1). Was heißt hier aber „etwas“ in der vagen Formulierung „Verursachen Soziosysteme (Dinge) etwas“ genauer? Das sollten wir übersetzen, damit wir besser verstehen, worin die Problematik der Kausalität im Sozialen eigentlich genauer besteht, schließlich wird die Problematik unter den Labeln „Soziale Kausalität“ und „Soziale Determination“ oder „Structure vs. Agency“ in aller Regel bloß angedeutet. Es könnte genauer folgendermaßen heißen: Verursachen Sozialsysteme etwas in konkreten Personen? Auch diese Formulierung ist unklar, denn mehrere Fälle sind im Rahmen der systemischen Ontologie möglich, wenn man die unterschiedlichen Kategorien heranzieht. Wir wollen also ein wenig Ordnung schaffen, indem wir die Problematik zumindest ein wenig aufdröseln. Ein Vorteil der skizzierten Ontologie ist, dass sich die Fragen in diesem Rahmen überhaupt recht klar und differenziert stellen lassen, weil der Systemismus ein „Paket“ oder „System“ von Annahmen ist. Die Problematik Kausalität im Sozialen oder Soziale Kausalität stellt sich im systemischen Rahmen also ungefähr wie folgt dar: (i) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x etwas an einer Person y, die zur Komposition K von x gehört, verursacht? (ii) Ist es möglich, dass Eigenschaften eines Sozialsystems x etwas an einer Person y, die zur Komposition K von x gehört, verursachen? (iii) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x etwas in einer Person y, die nicht zur Komposition K von x, sondern zur Komposition K von einem anderen Sozialsystem z gehört, verursacht? (iv) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x etwas in einer Person y, die zur Umwelt (oder der Nachbarschaft; 6.2.4) von x gehört, aber nicht Teil eines anderen Sozialsystems z ist, verursacht? (v) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x etwas in einem anderen Sozialsystem y verursacht? (vi) Ist es möglich, dass ein Supersozialsystem x etwas in einer Komponente aus seiner Komposition K verursacht, wobei alle Komponenten von K selbst Sozialsysteme sind? (vii) Ist es möglich, dass eine soziale Struktur (7.3.4) etwas in Personen oder anderen Soziosystemen verursacht, also, anders gesagt, auf Personen wirkt?

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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In anderen realistischen Ontologien ist die letzte Frage, die zu den zentralsten der Metatheorie gehört, obwohl sie selten explizit gestellt wird, schwer zu beantworten, weil unklar ist, was mit „Struktur“ gemeint ist. Ferner liegt die Spannung gerade darin, dass diese (letztlich unklare) Frage im Rahmen des verbreiteten sozialen und kausalitätstheoretischen PanDispositionalismus und wohl auch außerhalb desselben zumeist bejaht wird. Im Rahmen von philosophischer Kausalitätsliteratur im Kontext der Geschichts- und Sozialwissenschaften kann diese Frage nicht gestellt werden, weil „Struktur“ keine relevante Kategorie ist, obwohl sie in Geschichts- und Sozialtheorie allgegenwärtig ist. Latent findet sie sich sogar in der Mini-„Anatomie“ (z. B. Hölkeskamp 2011 1987, Kintzinger 2000, Frings 2007a). Offensichtlich müssen wir festhalten, dass alle diese Fragen im Rahmen des Systemismus „metaphysically ill-formed“ (Bunge/Mahner 1997) sind, denn es muss immer vollständig heißen (7.3.8): Verursacht eine Veränderung, d. h. ein Ereignis, in Ding x eine Veränderung v in Ding y (7.3.5). Trotzdem belassen wir es im Folgenden bei der kurzen Redeweise und machen die Problematik dann explizit, wenn sie besonders relevant wird. Sozialrealistische PanDispositionalisten können aber z. B. schon schwer verständlich machen, wie die „Kräfte“ („causal powers“) von „Strukturen“ auf Akteure wirken, wobei sich einzig bei den Akteuren eine Veränderung zuträgt (z. B. Elder-Vass 2010), nicht aber bei der Struktur bzw. ihren „causal powers“. Anders gesagt, bei Pan-Dispositionalisten (Kapitel 6.3, Plenge 2014a) wird bereits an dieser Stelle eine völlig andere ontologische Story erzählt und ein Vergleich würde schnell ganze Bücher füllen, d. h. u. a., die Relata der Kausalität sind dort wohl nicht Ereignisse. Nur am Rande sei angemerkt, dass man im Kontext der undurchsichtigen sozialtheoretischen Mechanismus-Debatte teilweise für „Sozialsysteme“ in den obigen Fragen auch „(kausale) Mechanismen“ oder „soziale Mechanismen“ einsetzen könnte, da solche Mechanismen für viele Teilnehmer an dieser Debatte ja gerade explizit oder implizit (7.6) komplexe Objekte, komplexe Totalitäten, organisierte Ganzheiten oder integrierte Strukturen oder Konstellationen sind, also wohl grob, was hier „System“ genannt wird, obwohl das wiederum im Detail nicht klar ist (7.6). Man könnte also die Idee haben, dass auch so aufgefasste kausale Mechanismen oder soziale Mechanismen selbst, sozusagen als Ganzheiten, etwas verursachen. Und derartige Formulierungen sind leicht zu finden. Soziologen mit eher „strukturalistischen“ oder „systemischen“ Neigungen fallen teilweise in diese Redeweise. Wir stellen diese Frage aber nicht, weil im Systemismus Mechanismen Prozesse in Systemen sind. Sie sind keine Systeme (7.3.6). Wir könnten ferner auch in der vagen Terminologie von „Ebenen“ in den Sozialwissenschaften fragen, ob „untere“ Ebenen „obere“ Ebenen oder Mikro-Ebenen Makro-Ebenen verursachen oder auch umgekehrt. Das heißt zunächst, weitere Fragen wären möglich. Da diese Ebenen in dem hier zur Debatte stehenden ontologischen Rahmen nicht existieren, sondern begrifflich sind, stellen wir solche Fragen an dieser Stelle nicht. Da keine Realitätsebenen existieren und diese somit weder etwas determinieren noch verursachen, stellt sich „die Frage, wie diese Ebenen zusammenhängen und welche der beiden d. h. „‚Mikro‘“ und „‚Makro‘“, dp die kausal relevantere ist“ (so die Soziologin B. Heintz 2004, 27), ganz einfach nicht, wie in der Soziologie allerdings häufiger diskutiert wird (z. B. Greshoff 2008, 135, Hedström 2005). Wir teilen also die Präsupposition der Fragestellung auf dem systemischen Boden, auf dem wir hier nun stehen, nicht und können diese Fragen deshalb nicht stellen, genauso wie wir nicht nach den Ursachen des Dritten Weltkriegs fragen können.411 411

Wir könnten auch fragen, was mit „Kultur“ in mancher Geschichts- oder Sozial(meta)theorie gemeint ist und könnten dann fragen, ob so etwas als Verursacher infrage kommt, werden doch Thesen, die so etwas bejahen, immer mal beiläufig formuliert, z. B. von Stone 1979, 9: „Many historians now believe that the

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Starten wir also mit der ersten Frage: (i) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x etwas in einer Person y, die zur Komposition K von x gehört, verursacht? Die Frage allein ist im systemischen Ontologierahmen schon äußerst schwer verstehbar. Sie ist dubios, weil das soziale System oder das Ganze ja nichts anderes ist als die Gesamtheit der miteinander verbundenen Komponenten, nämlich, auf dieser Ebene, Personen. Daher versteht man an dieser Stelle eigentlich die Frage schon kaum. Wie sollte ein Kindergarten als Ganzes auf seine Komponenten wirken oder eine Fußballmannschaft auf die „falsche Neun“? Das Ganze überträgt – setzt man die obige Kausalitätsontologie voraus – keine Energie auf seine Teile, keine Veränderung des Ganzen bewirkt Veränderungen in den Teilen. Glaubt man an diese Möglichkeit, dann haben Vertreter von sozialer Kausalität offensichtlich nicht die Vorstellung, dass eine Veränderung im Ganzen durch einen physischen Link Veränderungen in einer Person verursacht, sondern dass die Eigenschaften des sozialen Systems irgendwie in (kausalen) Relationen mit denen von Personen stehen. Zu einer ähnlichen Variante kommen wir gleich, wollen aber festhalten, dass jene Vertreter von sozialer Kausalität die These so nicht formulieren können, weil in ihren Ontologien keine Systeme existieren. Frage (vi) können wir nun zuvor direkt stellen, da es sich um einen analogen Fall handelt: (vi) Ist es möglich, dass ein Supersozialsystem x etwas in irgendeiner Komponente seiner Komposition K verursacht, wobei alle Komponenten von K selbst Sozialsysteme sind? Die Antwort ist analog zur Antwort auf die erste Frage: Es ist nicht zu sehen, wie dies möglich wäre. Zum Beispiel wirkt eine Gesellschaft nicht auf seine Subsysteme, aus denen sie besteht, soweit die systemische Sozialontologie stimmt (7.3.3). Auch die Europäische Union als Supersozialsystem wirkt nicht auf einzelne Staaten, falls sie sich verändert, indem sie z. B. ein Mitglied hinzugewinnt (oder verliert). Auch ein mittelalterliches Dorf wirkt nicht auf beispielsweise die Bauernhöfe, die dessen Komponenten sind, und Alpers (1995) nachrepublikanisches Finanzsystem wirkt nicht auf den fiscus Caesaris. Zum Beispiel ist im letzten Fall nicht zu sehen, wie z. B. das komplexe System, das vielleicht – ich spekuliere – aus aearium Saturni, aerarium militare und fiscus Caesaris und Provinzialfisci besteht, auf den fiscus Caesaris wirken könnte. Halten wir die These, die wir für plausibel halten, fest: „There is no action of the whole on its parts; rather, there are actions of some components upon others” (Bunge 1979a, 39). Wie sollte ein soziales System durch einen kausalen Link im obigen Sinn (7.3.8) eine Veränderung in einem Subsystem verursachen? Das scheint nicht möglich und in alternativen Kausalitätsphilosophien wäre bezüglich Frage (i) und Frage (vi) zu explizieren, wie dies möglich ist, und warum die Annahme fruchtbar bzw. überhaupt plausibel ist. Nota bene, an diesen Stellen muss man natürlich die Ganzheiten (Systeme) als solche ernst nehmen und darf nicht unter der Hand Akteure ins Spiel bringen, weil dann eine andere Frage zu beantworten ist. Damit kommen wir zügig zur nächsten Frage: culture of the group, and even the will of the individual, are potentially at least as important causal agents [!] of change [!] as the impersonal forces of material output and demographic growth.“ Stone wendete sich hier gegen den (Struktur-)Determinismus von vormaligen Strömungen der „scientific history“. Heute gibt es wohl auch Kulturdeterminismen (siehe z. B. Frings 2008).

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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(ii) Ist es möglich, dass Eigenschaften eines Sozialsystems x etwas in den Personen y, die zur Komposition K von x gehören, verursachen? Der Soziologe R. Greshoff (2011, 230) schreibt zu einer teilweise analogen Frage, in der allerdings von einem „Systemzustand X“ und dessen „kausalem Einfluss“ auf ein „Element X“ des Systems oder „Gebildes“ die Rede ist: „Diese Frage stellt sich insbesondere deshalb, weil ein derartiger Zusammenhang zwar immer wieder abstrakt behauptet, aber kaum einmal an einem Beispiel genauer durchgespielt wird.“ Nicht nur das, auch die ontologische Grundidee wird selten durchgespielt, indem z. B. gesagt wird, was mit „System“, „Zustand“ und „kausalem Einfluss“ gemeint ist, obwohl ein solcher Einfluss der „Umgebung“ oder des „Kontextes“ für Sozialwissenschaften so relevant sein soll. Die Antwort ist auch hier eigentlich klarerweise negativ. Eine solche Verursachung gibt es nicht, zumindest nicht im Rahmen dieser Ontologie. Zunächst handelt es sich bei Eigenschaften oder Zuständen (7.3.5) nicht um Ereignisse und nur Ereignisse (Veränderungen in Eigenschaften von Dingen) verursachen etwas im systemischen Rahmen. Wir könnten nun hier fragen, welche Eigenschaften genauer dies sind, z. B. ob resultierende Eigenschaften oder emergente Eigenschaften des Sozialsystems (7.3.2) oder vielleicht auch resultierende Eigenschaften eines sozialen Aggregats (7.3.1). In anderen ontologischen Kontexten heißt es zum Beispiel, die Alphabetisierungsrate (Archer 1982, 1995) als Kausalkraft verursache irgendetwas oder es heißt, alle (emergenten) sozialen Eigenschaften verursachten etwas, z. B. im Bhaskarianischen Critical Realism und in D. Littles Localism, wobei die Alphabetisierungsrate von Archer „emergent“ genannt wird. Little (2010) behauptet z. B. mit Sozialwissenschaftlern im Hintergrund, das BSP verursache Kindersterblichkeitsraten. Beispiele für emergente soziale Eigenschaften, die häufiger genannt werden, sind demokratisch sein und die Kohäsion des sozialen Systems oder auch soziale Differenzierung, soziale Stratifizierung, soziale Mobilität (vgl. z. B. Bunge 2009a). Andere Prima-facie-Beispiele findet man oben (7.3.2). An solchen Stellen muss man sich immer daran erinnern, dass in diesen anderen realistischen Rahmungen (dispositionalistische) Ontologien vertreten werden, um solche Aussagen und vermeintlich beschriebene Kausalrelationen zu plausibilisieren. D. h., es ist nicht gemeint, dass hinter dem Beschriebenen irgendwo Kausalität zu finden ist, sondern dass die Relata von realen Kausalrelationen beschrieben werden, die tatsächlich aufeinander wirken, zudem in einem produktivistischen Sinn (siehe auch Kapitel 6.3). Dies darf auch nicht gemeint sein, weil dann wird nichts Spannendes mehr behauptet. Aber die Vorstellung, dass solche Eigenschaften oder auch deren Veränderungen (Ereignisse) etwas in Personen verursachen, ist im Rahmen der Systemik erneut kaum verstehbar, weil diese Makro-Eigenschaften oder „Variablen“ (wie demokratisch, Kohäsion, Differenzierung, Stratifizierung) jeweils abhängig sind von den Relationen, insbesondere den Interaktionen, zwischen Personen, die dieses System bilden, dessen Eigenschaften aber gerade etwas in Personen verursachen sollen. Anders gesagt: Sie sind Eigenschaften und, wenn man unvorsichtigerweise will, epiphänomenale oder abhängende Eigenschaften von sozialen Systemen.412 Eine solche Form von Makro-Mikro-Kausalität ist also unmöglich oder sie müsste einmal genauer dargestellt werden, was in dem einzigen existierenden expliziten Versuch des Critical Realism m. E. scheitert, auch weil die Thesen zumeist bloß wiederholt werden. Bisher 412

Vorsicht ist wohl geboten, da mit der Rede von Epiphänomenen anscheinend schnell Dualismen verbunden sein können, z. B. die These, soziale emergente Eigenschaften seien eigenständige Dinge oder auch, sie wirkten als solche zurück auf ihre Träger. Hier ist gemeint, dass sie Eigenschaften von sozialen Systemen sind und damit Eigenschaften der Gesamtheit der Komponenten-in-Struktur. Zur Rede von „Epiphänomenalismus“ in der Metaphysik des Geistes, die diesen Kommentar evoziert hat, siehe Bunge 2010c, 161.

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kann wohl auch in anderen realistischen Ontologien niemand so recht plausibilisieren, wie diese Form von Makro-Mikro-Wirkung im Sozialen funktionieren könnte. In Fällen wie Resultanten wie der Gesamtkaugummikonsumtion oder statistischen Artefakten wie Scheidungsraten als „soziale Phänomene“ sind die Antworten im Rahmen von Kausalitätsfragen ohnehin klar. Letztere werden natürlich nicht verursacht und verursachen nichts, erstere sind bloß Haufen der Resultate menschlichen Handelns und Interagierens. Dies sollte aber wohl für alle sozialen Eigenschaften gelten. Social systems emerge, change, and break down as the components and the bonds (social relations) among them alter. Thus, the features of a social system depend upon the nature, strength, and variability of social relations, which in turn are reducible to social actions (Bunge 1998a, 311). Think, for instance, of (…) the cohesion of a family, the organization (or structure) of a business firm, the stability (or instability) of a government, the equilibrium (or disequilibrium) of a market, the division of labour in a factory or in a society, or the level of development attained by a nation. These global (systemic) properties originate in the interrelations among the constituents of the system concerned (Bunge, 2003a, 12 f.).413 Alles hängt hier von den sozialen Relationen, also sozial-psychischen Relationen und Interaktionen oder, doppelt gemoppelt, kausalen Interaktionen zwischen konkreten Personen ab. Einzig im letzten Satz besteht die Möglichkeit, dass die „interrelations“ zwischen sozialen Systemen als solchen bestehen. Darauf kommen wir noch kurz. Ferner gibt es sicherlich keinen Energietransfer von Eigenschaften von sozialen Systemen oder auch ihren Veränderungen auf Personen, z. B. vom Demokratisch-Sein eines Systems auf einen Demokraten. Kausalität ist im systemischen Rahmen also recht eindeutig auszuschließen, und sie müsste mit anderen Kausalitätsphilosophien mitsamt einem entsprechenden kategorialen sozialontologischen Rahmen begründet werden, was dann Vergleiche ermöglichte. Mir ist nicht bekannt, dass dies in der Philosophie zu finden ist, obwohl z. B. Neo-Mackieaner und andere Bedingungs- oder Abhängigkeitstheoretiker der Kausalität ähnliches behaupten (z. B. Jakob 2008, Day 2008). M. Day nimmt an, dass Monarchie-Sein im Sinn einer Bedingungsdefinition von „Kausalität“, deren Relata nicht ontologisch gefasst werden, wirken kann, d. h. Revolutionen verursacht. Eine Frage könnte auch hier sein (6.1), worauf Monarchie-Sein eigentlich wirkt.414 Wenn man den Gedanken auf den Kausalitätskontext inklusive Kausalerklärungsproblematik überträgt, hat der Institutionenökonom G. M. Hodgson den entscheidenden Gedanken klar formuliert: „Emergence does not give license to neglect the constituent elements of which an entity or structure is composed“ (Hodgson 2000, 75). „Emergenz“ und „emergente Eigenschaft“ muss dann aber im Sinne von 7.3.2 verstanden werden und nicht als ontoepistemischer Zwitterbegriff, in den neben „downward causation“ auch Unerklärbarkeit der globalen Eigenschaften bereits hineindefiniert sind.415 Das heißt in diesem Kontext genauer,

413 414 415

Statt „originate” darf man auch „emerge” lesen. Eine weitere Frage ist, ob dies dann nur per Definition und damit per Konvention gilt oder eine tatsächliche, ontische Kausalrelation erfasst wird. Greshoff (2011a) definiert so etwas wie Downward Causation in „emergente Eigenschaft“ hinein und lehnt diese Eigenschaften dann ab. Elder-Vass (2010) definiert sie hinein und versucht die Vorstellung zu verteidigen, setzt sie aber wohl mit dieser Definition und der Identifizierung von Eigenschaften mit causal powers bereits voraus. G. Albert (2007, 348) definiert sie offenbar in das hinein, was er „starke Emergenz“

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die Rede davon, emergente Eigenschaften seien Eigenschaften von Systemen und nicht von ihren Teilen (Ontologie) legitimiert nicht direkt, das System und die Interaktionen der Systemkomponenten nicht zu untersuchen (Methodologie) und emergente Eigenschaften oder Emergenz nicht zu erklären, falls deren Existenz tatsächlich plausibel ist (7.6). Und eigentlich findet man wohl nur auf der Ebene der Komponenten kausale Relationen, wenn man den Sozialsystemismus voraussetzt. Eigentlich drängt sich beinahe die rhetorische Frage auf: Wo auch sonst? Damit kommen wir zur nächsten Frage bzw. zu den nächsten Fragen. (iii) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x etwas in einer Person y, die nicht zur Komposition K von x, sondern zur Komposition K von einem anderen Sozialsystem z gehört, verursacht? (iv) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x etwas in einer Personen y, die zur Umwelt (oder Nachbarschaft) von x gehört, aber nicht Teil eines anderen Sozialsystems z ist, verursacht? Das wären offenkundig Fälle von so etwas wie Makro-Mikro-Kausalrelationen oder sogenannter „Sozialer Kausalität“, d. h. ein Element einer Makro-Ebene (ein Sozialsystem) wirkt auf ein Element einer Mikro-Ebene (eine Person). Im ersten Fall ist das Element der Mikroebene zugleich eine Komponente eines anderen Sozialsystems, im zweiten Fall ist dies nicht so, oder es ist an dieser Stelle irrelevant. Wir haben die Antworten, die im systemischen Rahmen gegeben werden, bereits zuvor gestreift (7.3.3).

Abbildung 32

Ein System und dessen Struktur.

Hier gilt dasselbe wie zuvor, denn die Vorstellung, wie ein Sozialsystem auf eine Person außerhalb seiner Grenzen (7.3.4) einwirken könnte, ist recht schwierig oder, besser gesagt, in diesem ontologischen Rahmen undenkbar. Es scheitert spätestens daran, dass das Sozialsystem als Ganzheit keinen physischen (Kausal-)Link mit einer solchen Person herstellen kann, es sei denn in dem Fall, in dem z. B. ein Schlägertrupp gleichzeitig auf eine Person einschlägt. Aber auch hier wirkt nicht das System als Ganzes, sondern einzelne Komponenten der Schlägerbande, womöglich koordiniert. Es ist also offenbar so, dass auch ein Kindergarten nicht auf eine Mutter wirkt, wenn diese einen Platz beantragt (iv), sondern eine Kindergärtnerin, die eine Komponente von einem Kindergarten ist, interagiert mit einer Person, die nicht zu dienennt, denn es heißt: „starke Emergenz, d. h. Makrodetermination“, was hier mit „Makrowirkung“ auf Akteure übersetzt werden darf.

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sem Kindergarten gehört. Alle anderen denkbaren Fälle funktionieren nach diesem (trivialen) Muster oder es müsste gezeigt werden, dass dies nicht so ist, z. B. auch weil die Annahme, ein Sozialsystem wirke irgendwie auf irgendetwas, die kontroverse Annahme ist, aber kaum jemand bestreitet, dass Personen aufeinander wirken (miteinander interagieren). Auch im Fall von Frage (iii) ist die Antwort gleich. Die Kausalrelationen bestehen zwischen konkreten Personen als Komponenten von zwei unterschiedlichen Sozialsystemen. Zum Beispiel könnte man den fiktiven Fall, in dem eine Regierung (Sozialsystem) bei einem Rüstungskonzern (Sozialsystem) Panzer bestellt und den bei A. H. Jones (1960) in der Mini„Anatomie“ erwähnten Fall, in dem das römische Heer Uniformen bei zahllosen Gilden bestellt, zu den Sozialsystem-Sozialsystem-Relationen zählen (7.3.3), weil es sich dabei nicht um rein private Interaktionen handelt, die zwischen ansonsten isolierten Personalatomen stattfinden. Selbst wenn man offen lässt, inwiefern genauer Sozialsystem-SozialsystemRelationen als reale Relationen aufzufassen sind, ist gerade bezogen auf Kausalrelationen einsichtig, dass kausale Interaktionen hier zwischen Personen stattfinden und alles andere eine abkürzende façon de parler ist. Auch hier wirkt nicht ein Sozialsystem auf ein anderes, oder es müsste gezeigt werden, wie ein Sozialsystem als Ganzes eine solche Wirkung fertigbringt. Es weiß aber eigentlich jeder, dass ein Sozialsystem als solches das nicht fertigbringt. Damit kommen wir schon zur nächsten Frage, die sehr ähnlich klingt. (v) Ist es möglich, dass ein Sozialsystem x eine Veränderung in einem anderen Sozialsystem y verursacht? Die Frage haben wir eigentlich schon verneint. Wenn ein Sozialsystem schon nicht auf seine Komponenten wirken kann und auch nicht auf die Komponenten anderer Sozialsysteme wirken kann, wie sollte es dann auf andere Sozialsysteme wirken können? Die Autoren derjenigen Schule, die sich nun zumeist Social Realism nennt, führt jedoch eine Art ontologische Zusatzargumentation oder Variante ein, um eine negative Antwort zu vermeiden, obwohl hier die Kategorie eines Sozialsystems nicht verfügbar ist und die Frage daher eigentlich immer eine leicht andere ist. Man könnte jetzt andere Formulierungen wählen, die eine solche Sozialsystem-Sozialsystem-Kausalrelation plausibel erscheinen lassen. Damit sind wir wieder bei Makro-Mikro-Makro-Problemen, welche die individualistische beziehungsweise, besser, struktur-individualistische (Meta-)Soziologie seit Jahrzehnten prägen. Zum Beispiel könnte man behaupten, ein Sozialsystem wirke zwar nicht irgendwie als Ganzheit auf dubiose Weise direkt auf ein anderes Sozialsystem, sondern zwei Sozialsysteme x und y wirkten sozusagen durch ihre Komponenten oder über ihre Komponenten aufeinander ein. Das führt unter anderem auf die Frage danach, was mit einer Formulierung genauer gemeint sein kann, die nicht nur besagte, dass eine Person, die eine Komponente eines Sozialsystems ist, mit einer anderen außerhalb interagiert, sondern dass eine Person als eine Komponente eines Sozialsystems mit etwas anderem, also entweder einer anderen Person oder einem anderen Sozialsystem interagiere. Dieses „interagieren als“ oder auch „wirken als“ würde dann gewissermaßen eine Form von Makro-Mikro-Relation zwischen einem Sozialsystem und seiner Komponente herstellen. Mir ist nur ein Autor bekannt, der eine solche explizite Argumentation versucht hat. Aber eine ähnliche, wenigstens verwandte Idee muss auch dort implizit vorhanden sein, wo beispielsweise unter dem Begriff „Mikrofundierung“ die These vertreten wird, dass causal powers von demjenigen, was „Institution“ oder „Struktur“ genannt wird (Makro), über oder durch Akteure (Mikro) sozusagen hindurchwirken (Little 2007, 2009, 2010, 2011). Einen simplen Kausalnexus à la Sozialsystem x wirkt auf eine seiner Komponenten c (Makro-Mikro) und diese Komponente c wirkt auf eine Komponente k von Sozialsystem y, woraufhin die Komponente k von Sozialsystem y auf Sozialsystem y als Ganzheit sozusagen

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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einwirkt, haben wir auf der einen Seite von Makro-Mikro-Verursachung schon ausgeschlossen, was für die andere Seite, also die Mikro-Makro-Verbindung, ebenso gilt. Auf den letzteren Fall kommen wir erst später kurz zurück. Aber eine Person wirkt immer nur auf andere Personen und nur vermittelt auf Sozialsysteme, nämlich genau dann, wenn sich aufgrund dieser Wirkung oder Interaktion parallel eine Eigenschaft eines Sozialsystems verändert, z. B. beim Burgerkauf in der Burgerschmiede um die Ecke. Ein Sozialsystem als Ganzheit kann aber nicht auf seine Komponenten wirken (MakroMikro) und auch eine Wirkung von den sozialen Eigenschaften eines Sozialsystems auf eine Person wurde ausgeschlossen (Makro-Mikro). Wenn überhaupt, muss also wohl im Rahmen der Systemik eine weitaus kompliziertere Story erzählt werden, um eine solche Wirkung eines Sozialsystems über seine Komponenten auf eine nicht völlig dubiose Weise plausibel machen zu können. Ansonsten ist womöglich die These, ein Sozialsystem wirke auf seine Komponenten oder über seine Komponenten, ganz schnell so seltsam wie die These, der heilige Geist wirke durch den Papst. Mir ist hierzu keine plausible Thesenmenge bekannt.416 Damit kommen wir zu der wohl zentralsten, wenn auch teilweise unterschwelligen, ontologischen Frage mancher Soziologischer Theorie oder Metatheorie der letzten Jahrzehnte: (vi) Verursacht eine soziale Struktur etwas in Personen oder Sozialsystemen? Gerade bei dieser Frage müssen wir in der Formulierung besonders aufpassen. Natürlich setzen wir auch hier die systemische Ontologie (7.3.4) voraus und halten sicherheitshalber fest, dass es auch hier kaum eine Studie zu diesen Prima-facie-Relationen gibt und überhaupt keine, die dieser Frage vergleichend nachgeht. Allerdings erspart uns der Griff zum Systemismus ganz einfach das lange Herumrätseln darüber, was hier mit „Struktur“ oder „soziale Struktur“ gemeint ist. Da im Systemismus soziale Strukturen keine Dinge sind, müssen wir das Problem anders formulieren, nämlich folgendermaßen: Verursacht eine soziale Struktur s eines sozialen Systems x etwas in einer konkreten Person y oder auch einem Sozialsystem z? Letzteres ist natürlich eine andere Frage als die Frage (vi). Auch das ist noch metaphysisch schlecht formuliert, weil die Kategorie des Ereignisses noch nicht berücksichtigt ist. Formulieren wir also sicherheitshalber folgendermaßen und unterscheiden dabei verschiedene Fragen: (vi*) Ist es möglich, dass eine Veränderung einer sozialen Struktur s eines sozialen Systems x eine Veränderung in einer konkreten Person y, die zur Komposition K von x gehört, verursacht?

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In einer Argumentation hat D. Elder-Vass (2010) bezogen auf einen solchen Makro-Mikro-Link innerhalb eines einzigen Sozialsystems die These vertreten, dass eine Komponente eines Sozialsystems („structure-aswhole“), wenn sie im Rahmen der ihr bloß als Komponente zukommenden Handlungsmöglichkeiten („Position“, „Kompetenz“, „Rolle“, wie auch immer) handelt, nicht (bloß) die eigenen causal powers manifestiert, sondern auch diejenigen causal powers, die er dem Ganzen zuschreibt. Das führt zu einer Reihe von Problemen innerhalb dieser Ontologie, die wir hier nicht diskutieren können, z. B. zu der Frage, was dieses Wirken-als genau mit (Makro-Mikro-)Kausalität überhaupt zu tun hat und wie die Wirkung einer solchen social causal power einer Ganzheit „auf“ oder „durch“ die Komponente zu denken ist (6.3). Eine plausible ontologische Story zu Beantwortung der Frage, wie die Relation zwischen solchen causal powers von Strukturen-als-Ganzheiten und causal powers von Akteuren als ihren Teilen zu verstehen ist, ist mir allerdings bisher nicht bekannt. Eine irgendwie geartete naturalistische Story wird an dieser Stelle nicht versucht und kann wohl nicht versucht werden, sondern es wird auf der Basis kontrafaktischer Spekulation argumentiert, d. h. es wird gesagt, der Akteur hätte nicht so gehandelt, wenn er nicht ein Teil gewesen wäre. Die Frage ist nur, was eine solche Argumentation überhaupt mit Kausalität zu tun hat.

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

Eine weitere Frage als Ausdruck eines leicht anderen Problems lautet folgendermaßen: (vi‘) Ist es möglich, dass eine Veränderung einer sozialen Struktur s eines sozialen Systems x eine Veränderung in einer anderen Eigenschaft desselben Systems x verursacht? Die angedeutete, andere Frage packen wir in die folgende Fußnote.417 Die Antwort auf Frage (vi*) und die Frage (vi‘) ist wieder negativ, zumindest im hiesigen Rahmen. Die innere Struktur eines sozialen Systems ist im Systemismus die Gesamtheit der bindenden und nicht-bindenden Relationen zwischen den Komponenten des Systems. Zu dieser inneren Struktur gehören in Gestalt der verbindenden Relationen auch die Interaktionen zwischen den Komponenten des Systems (siehe auch Abbildung 32, S. 469). Es ist also unmöglich, dass eine so aufgefasste Struktur, sozusagen als Ganzheit, (a) auf eine einzige konkrete Person, (b) auch alle Komponenten des Systems oder gar (c) das System als Ganzes, dessen Eigenschaft die Struktur selbst ist, wirkt, also die Veränderung einer anderen Eigenschaft desselben Systems verursacht. Die Gesamtheit der Kausalrelationen zwischen den Komponenten zu einem Zeitpunkt t oder in einem Zeitraum t1-t2 ist eine Teilmenge der totalen Struktur (7.3.4) des Systems und die Kausalrelationen bestehen einzig und allein zwischen den (Veränderungen der) Komponenten. Ferner bringt eine Veränderung einer Struktur weder eine Veränderung in einer Person noch in einer Eigenschaft des Systems als Ganzheit durch Energietransfer von der Struktur auf etwas anderes hervor. Kausalität ist also in diesem Rahmen auszuschließen und die Rede von Strukturkausalität ist innerhalb des Rahmens der Systemik ein klarer Fall von Verdinglichung, also ein solcher Fall, in dem jemand die „Eigenschaften, Relationen, Prozesse, oder Ideen behandelt, als wären sie Dinge“ (Bunge 2003b, 247). Die einzelnen Relationen zwischen jeweils zwei Komponenten konstituieren die Gesamtheit der Relation des Systems, die „Struktur“ genannt wird, und diese Gesamtheit der Relationen wirkt nicht auf die Relata der komplexen Struktur. Dass es ganz so einfach nicht ist, werden wir sehen, wenn wir explizite Äußerungen des Erfinders des Systemismus diskutieren werden müssen, die teilweise anderes nahelegen, was zu neuen Problemen führt. Aber zunächst ist es umgekehrt: Die gesamte Struktur hängt ab von den Beziehungen, in welche die Komponenten (Personen) miteinander eintreten. Dasselbe gilt auch, wenn die Komponenten eines sozialen Systems wiederum soziale Systeme sind, z. B. im Internationalen System der Politikgeschichtswissenschaften, Märkten von Wirtschaftsgeschichtswissenschaftlern, einem „Villikationssystem“418 oder der Fußballbundesliga der Fußballgeschichtswissenschaft (Pyta 2013), was natürlich auf die zuvor angesprochene Problematik zurückführt, ob solche Sozialdinge tatsächlich im strikten Sinne etwas verursachen, was wir eigentlich auch schon verneint haben. Genauer heißt dies, dass auch in diesem Fall die Struktur eines solchen (Makro-)Systems oder Supersozialsystems die Gesamtheit der Relationen des (Super-)Systems ist und als solche auch nichts verursacht. Hier ist die ontologische These einschlägig, dass für jede Sozialsystem-Sozialsystem-Relation eine entsprechende Akteur-Akteur-Relation existieren muss (7.3.3). Das Ergebnis ist also bis hierher wunderbar eindeutig. Kausale Relationen bestehen im Sozialen zwischen Veränderungen (Ereignissen) in konkreten Personen. Nur Personen brin417 418

Eine weitere Frage ist: (vi#) Ist es möglich, dass eine Veränderung der Struktur s eines sozialen Systems x eine Veränderung in einem anderen Sozialsystem z verursacht? Die Antwort findet sich in Fußnote 436. „Unter einer Villikation oder einem Fronhofsverband versteht man in der wissenschaftlichen Terminologie einen wirtschaftlichen Organismus, der sich aus einem Herrenhof und einer Anzahl von grundherrlich abhängigen Bauernhöfen zusammensetzte. Mittelpunkt einer Villikation war der grundherrliche Wirtschaftshof (…)“ (Schulze 1990, 123).

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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gen in Verhalten oder Handlungen, Interaktionen oder „sozialem Handeln“ Veränderungen in anderen Dingen hervor, darunter auch Veränderungen in Sozialsystemen, soweit an deren Existenz wie die ihrer Eigenschaften wirklich geglaubt werden darf (7.3.2). Dies ist der Zusatz, der am Anfang des Kapitels verschwiegen worden ist. Wenn man eine schwächere Formulierung wählen möchte, wozu beinahe alle sozialrealistischen Soziologen und auch Philosophen tendieren (s.u.), dann schreibt man etwa wie folgt: Kausale Beziehungen bestehen letztlich zwischen konkreten Personen. Eine solche Formulierung suggeriert aber, es gäbe im Reich der Kausalität im Sozialen letztlich doch noch etwas anderes, wofür wir bis hierher zumindest keine Anhaltspunkte haben und wofür die mir bekannte philosophische und metageschichts- wie metasozialwissenschaftliche Literatur keinerlei Anhaltspunkte liefert. Wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, dass die Rede von „Kausalität im Sozialen“ an dieser Stelle auf die soziale Ebene der Seinspyramide beschränkt ist, also Interaktionen zwischen mindestens zwei Personen, Sozialsystem-Sozialsystem-Relationen und jene obskuren Makro-Mikro-Relationen. Mit der Problematisierung der letzten beiden ist die Relevanz von Kausalbeziehungen zwischen Natursystemen (physisch, biotisch) oder technischen Systemen auf der einen Seite und Personen (und vermittelt sozialen Systemen) auf der anderen Seite natürlich nicht geleugnet, wie dies in strikten Antikausalismen der Fall wäre. Trivialerweise gibt es Kausalrelationen zwischen Personen und technischen Artefakten, solange überhaupt von der Existenz von Kausalrelationen ausgegangen wird. Manche halten technische Artefakte für so relevant, dass sie diese teilweise zu den Komponenten von Sozialsystemen zählen (Durkheim 1976 1898).419 An der unbefriedigenden Einschränkung „letztlich“ müssen wir an dieser Stelle auch in der Formulierung, Kausalrelationen im Sozialen bestünden „letztlich“ zwischen konkreten Personen, festhalten, da auch im Systemismus, wie in allen sozial-realistischen Sozialtheorien (z. B. Analytische Soziologie, Erklärende Soziologie, Institutionalismus, Critical Realism, Praxeologie), d. h. außerhalb von wohl kaum existenten strengen ontologischen und methodologischen Individualismen (7.1), Personen nicht als völlig autonom gelten, sondern ihr Handeln gilt als „eingeschränkt von x“ und/oder „ermöglicht von x“, wobei mit x zumeist etwas irgendwie Soziales gemeint sein soll. Dies wird dann teilweise mit Kausalität oder sozialer Kausalität in Verbindung gebracht. So heißt es z. B. auch im systemischen Rahmen: „In a systemic perspective, there are impersonal constraints“ (Bunge 1998a, 65; Hervorhebung dp). Völlig unabhängig vom Systemismus schrieb ein Pionier der Institutionenökonomie, der für die Makro-Fundierung (sic!) der Wirtschaftswissenschaften plädierte: In adopting a systems view we are in a sense repeating the age-old counter-proposition to the classical liberal ideology where the individual is regarded as an autonomous and elemental unit that the behaviour of individuals is in part formed by their social and general environment (Hodgson 1989, 16; Hervorhebung dp). Glaubt man jedoch der bisherigen Rekonstruktion der Problematik im Rahmen des Systemismus, dann sind diese Thesen entweder „metaphysically ill-formed“, falls mit „formed“ und „environment“ bei Hodgson eine Kausalrelation zwischen einer Sozialentität und einer Person behauptet wird. Sie müssten also übersetzt werden, um plausibel zu bleiben, wie z. B. offensichtlicherweise im Fall der These, das Bruttosozialprodukt verursache Kindersterblichkeit 419

Ich zähle sie nicht zu den Komponenten von Sozialsystemen, weil technische Artefakte keine sozialen Beziehungen eingehen wie Personen untereinander. Technische Artefakte sind weder Freunde, Vorgesetzte oder Ehepartner von Personen noch kooperieren sie oder befinden sich mit Personen in Konflikten.

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

bzw. Kindersterblichkeitsraten.420 Oder sie sind schlicht falsch und eine solche soziale Kausalität, die über soziale Interaktion im obigen Sinne (7.3.1) hinausgeht, gibt es nicht, wobei das Übersetzungsgebot natürlich für Falschheit spricht, denn ansonsten wäre Übersetzung nicht notwendig. Wie bereits erwähnt: Das wäre nicht weiter tragisch, wäre es nicht so, dass beinahe alle Sozial(meta)theorien, soweit das hier ersichtlich ist, eine solche strukturelle Kausalität, soziale Kausalität oder soziale Determination irgendwie annehmen, gegebenenfalls unter anderen Bezeichnungen und mit völlig unterschiedlichen Relata („Situation“, „Institution“, „Struktur“, „emergente Kraft“ etc.). Darin liegt ja aus sozial(meta)theoretischer Perspektive die Krux des Vorgehens, statt einer generischen Rede von „der Struktur“ oder „der Gesellschaft“ und ihrem „Einfluss“ auf die differenziertere systemische Kategorientafel zurückzugreifen und damit die generische Problematik, die manchmal „soziale Kausalität“ genannt wird, aufzudröseln. Denn dann kommt ggf. vor dem Hintergrund der Problematisierung der Vorstellungen über Relata und Relationen heraus, dass dasjenige, wovon man sicher war, dass es existiert, nicht existiert oder zumindest, dass eine solche Annahme hochproblematisch ist. In beiden Fällen sollte etwas gewonnen sein, wie wir nun ansatzweise sehen werden, denn beispielsweise wird man damit naive Vorstellungen von „Kausal“-Erklärungen auch los, die zumal Geschichtswissenschaftler und Geschichtstheoretiker beinahe nie geteilt haben. Im Kontext der Problematik um soziale Kausalität droht auch innerhalb des ansonsten bewundernswert klaren systemischen Ontologierahmens ein offensichtliches Problem, nämlich die Behauptung von sozialer Kausalität im Sinne von Soziosystem-Person-Kausalität, „Struktur“-Person-Kausalität oder Makro-Mikro-Kausalität im Kontext der systemischen Sozialphilosophie im engeren Sinn (Sozialontologie), obwohl im Rahmen zumindest meiner Lesart des Systemismus so etwas bis hierhin nicht existieren kann, wenn man die allgemeinen metaphysischen Hypothesen (7.1) bezüglich Kausalität hinzuzieht und explizit in der Sozialontologie zu situieren versucht, was Bunge selbst nicht sonderlich explizit macht, soweit ich das unübersehbare Werk übersehe. Auf der Basis letzterer Thesen müsste man wohl behaupten, eine solche Kausalität existiere nicht, obwohl die Rede von „Einschränkung“ oder „sozialer Bedingtheit“ im Rahmen der sozialontologischen Hypothesen eine solche Kausalität ja scheinbar impliziert. Obwohl diese Stellen im Rahmen einer Systemontologie wohl häufiger überlesen werden, weil Systemdenken gemeinhin als „holistisch“ (7.2) gilt, heißt es stellenweise (beinahe) eindeutig: „Any given social fact is ultimately a result of individual actions“ (Bunge 1999, 62). An anderen Stellen ist dies leider noch weniger eindeutig, auf die wir teilweise noch zu sprechen kommen, denn dort ist die Rede von „Makro-Mikro-Kausalität“ (z. B. Bunge 1996) oder „sozialer Kausalität“ (s.u.). Irgendetwas muss also faul sein, zumal sich ganze Generationen von Sozial(meta)theoretikern ja nicht irren können, wenn sie von ähnlichen „Einflüssen“ schreiben. Hier ist wohl einer der Punkte, an denen sich im Systemismus dieselben Probleme ergeben wie in anderen realistischen sozialontologischen Rahmen oder sozialtheoretischen Ansätzen. So heißt es beispielsweise über den Systemismus, der ja eine echte Alternative zu Holismus und Individualismus sein soll: „This is just the view that we shape society and it shapes us. That is, individual action and social environment – or agency and structure – always come together because they generate one another“ (Bunge 1997, 457; Hervorhebung dp; vgl. Bunge 1999, 66, Bunge 2009a, 66 f.). Was heißt aber „formen“ („shape“) genauer? Heißt „shape“ nun doch, dass die Struktur eines Systems oder gar einer Gesellschaft (7.3.3) Handlungen 420

Philosophische Interventionisten scheinen geneigt zu sein, auch an solchen Stellen von Kausalität zu reden oder gar echte Kausalrelationen zwischen den Variablen Bruttosozialprodukt und Sterblichkeitsraten anzunehmen.

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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verursacht („generate“)? Das mussten wir zuvor ausschließen, passt also eigentlich nicht in den weiteren Rahmen dieser Ontologie, zumal auch „soziale Umwelt“ an dieser Stelle eher metaphorisch klingt. Über die systemische Perspektive heißt es auch: „Agency is both constrained and motivated by structure, and in turn the latter is maintained or altered by individual action“ (Bunge 1999, 57; Hervorhebung dp). Heißt das aber etwa auch, dass Handlungen auf Strukturen wirken (Mikro-Makro-Verursachung)? Wie sollte das möglich sein, ist es doch beinahe sichtbar (Abbildung 32, S. 469) unmöglich bzw. nur cum grano salis zu verstehen? Andernorts heißt es ferner: „By virtue of belonging to several social systems, the beliefs, preferences, attitudes, expectations, choices, and actions of every person are socially conditioned as well as innerly motivated“ (Bunge 2001b, 110; Hervorhebung dp; vgl. Bunge 1995, 1993), was auch stellenweise als Ergebnis der Sozialpsychologie ausgewiesen wird. Soll das aber heißen, die bloße Zugehörigkeit zu Sozialsystemen verursache Überzeugungen etc. und letztlich Handlungen? Zumindest dies können wir auf der Basis der Kausalitätstheorie ausschließen. Aber folgende Frage stellt sich: Wie verhält sich das sozial Bedingtsein mit dem innerlich Motiviertsein genauer? Letztere Frage ist diejenige, die sich selbst so nennende Struktur-Individualisten in der Soziologie seit den 1970er Jahren (z. B. Lindenberg 1977, Wippler 1978, Esser 1996, Greshoff 2009) zu stellen scheinen. Es drängt sich bei der Betrachtung der ansonsten glasklaren systemischen Ontologie also die Frage auf, warum an entscheidenden Stellen auf unklare Metaphern zurückgegriffen wird. Das ist vor der dem Hintergrund der seit Jahrzehnten unklaren Lage hinsichtlich dieser Fragen bedauerlich und verwirrend: „Individual events … are largely shaped by social interaction, social context, and social conventions entrenched in tradition“ (Bunge 2003a, 73). Anders gesagt, auch in diesen Äußerungen wird latent mehr behauptet, als dass eine Person auf eine andere Person wirkt, und was genau behauptet wird, ist bedauerlich unklar, weil die Behauptung unter anderem nicht direkt innerhalb der systemischen ontologischen Architektonik situiert wird und damit auch unklar bleibt, was z. B. was genau „sozial bedingt“ oder auch „formt“, was genau die Relata sind und wie diese Relation genauer zu verstehen sein könnte. Es wird nun Zeit für eine Batterie von Beispielen aus den Sozialwissenschaften, denn wir wollen hier ja vermeiden, Philosophie als l’art pour l’art zu betreiben. Wie schon angedeutet, ist dieselbe Schwierigkeit in der Sozialtheorie so verbreitet, dass man das eigentlich gar nicht erwähnen muss. Ein uns bereits bekannter Institutionenökonom schreibt an dieser Stelle von „moulding and forming“ oder „mould and dominate“(Hodgson 1989, 138, 139), „constrain and mold“, „confine and mold“, „affect“ und „interplay“ (Hodgson 2006, 7, 11, 12, 19). Es ist bei Soziologen öfters auch die Rede von „Konstitution“, „wechselseiger Konstitution“ (Giddens 1997 1984, Esser 1996) oder auch „Ko-Konstitution“ (Esser 2000a, 36, 359). Der Soziologe J. Mackert (2006, 111) spricht im Rahmen seiner Rekonstruktion der Metatheorie der Analytischen Soziologie freimütig vom „Einwirken einer Situation auf einen einzelnen Akteur“. In einem Originaltext heißt es an zentraler Stelle „social structures constrain individuals‘ action and cultural environments shape their desires and beliefs“ und „relational structures (…) channel mobility opportunities“ (Hedström/Ylikoski 2010, 59; Hervorhebung dp). An anderer Stelle ist von „beeinflussen“ (Makro → Mikro) und „erzeugen“ (Mikro → Makro) die Rede (Hedström 2008, 162). Der Soziologe M. Schmid (2006, 46; 141, 173) spricht häufiger von „kanalisieren“ oder davon, Handlungen seien „geprägt“ oder „beschränkt“ von „Makrofaktoren“ oder „überindividuellen Faktoren“ (vgl. Schmid/Maurer 2010, 47, Schmid 2009, 137, 2005, 136). Es ist ebenso die Rede von der „handlungsprägenden Wirkung der Handlungssituation“ oder von „Auswirkungen der konkreten sozialen Welt auf das Handeln“ (Schmid/Maurer 2010, 79). Schmid (2010, 52) rekonstruiert auch die Makro-Mikro-Makro-Metaphysik der Analytischen

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

Soziologie so, dass es dort zunächst den Anschein habe, dass „Interaktionsstrukturen ihrerseits Kausalcharakter haben“, was heiße, dass sie, erstens, auf „die Handlungen der einzelnen Akteure zurückwirken“ und ferner, zweitens, von Bedeutung („importance“) seien „bei der Genese von ‚social outcomes‘“. Dass Sozialtheoretiker letzteres „outcome“ nicht übersetzen, womit letztlich ein sozialwissenschaftliches Explanandum bezeichnet wird, fällt auf, deutet es doch Unklarheiten an. Auch Topolski schrieb stellenweise, wie wir gesehen haben (3.1.5), vom Formen der Reaktion von Akteuren durch soziale „Kategorien“ oder „Situationen“. Die ebenso berühmte Soziologin M. Archer (2000a, 471; Hervorhebung dp) behauptete, ein Buch geschrieben zu haben, in dem es darum geht, „how structures shape the situations in which people act; this is how structure is mediated to them“, wobei mit „vermittelt“ andernorts auch terminologisch Kausalität verbunden wird, schließlich sollen hier social causal powers irgendwie zum Einsatz kommen, also „vermittelt“ werden oder auf Akteure wirken. Auch der Historiker A. Frings (2008, 131) schreibt an der relevanten Stelle im Kontext seines Modell einer „narrativen Erklärung“ von der „Vermittlung der sozial- und kulturstrukturellen Makroebene und der individuellen Handlungsebene“. Der Ökonom S. Fleetwood (2008, 244) behauptet, Akteure interagierten nicht nur mit anderen Personen, sondern auch mit „nonagential phenomena“, also demjenigen, was dieser Sozialwissenschaftler „Strukturen und Institutionen“ nennt. An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass auch diese Strukturen und Institutionen als irreduzibel sozial und „extern“ bzw. „unabhängig“ aufgefasst werden (Fleetwood 2008, 243, 253, 256). Bei der Soziologin Renate Mayntz (2005, 219) heißt es im Kausalvokabular, „Strukturen wirken über die Handlungen von Individuen“. Der Soziologe Rainer Greshoff (2015, 73) kritisiert an Mayntz‘ Auffassung, „die Beschaffenheit des strukturellen Arrangements führt nur dann zu bestimmten Effekten, wenn von Akteuren ein Handeln erzeugt wird, das diese Strukturen wirksam macht“, wobei die Betonung dem Original entstammt und im Rahmen dieses Kapitels wohl so gelesen werden mus, dass „Strukturen“ über Akteure wirken, also tatsächlich wirken, wenn auch unter Mitwirkung der Akteure. Der Soziologe Hartmut Esser spricht häufiger an dieser Stelle der vermuteten MakroMikro-Verbindung von „Strukturierung“ (Esser 2000a, 280, 1999, 25), aber auch von „Zusammenspiel“ (Esser 2000a, 260), dem Marxschen „zwanglosen Zwang“ (Esser 2000a, 70), „‚Interpenetration‘“ (Esser 1999, 386) oder davon, die „sozialen Kontexte“, auch „Strukturen“ genannt, würden Handeln „steuern“ (Esser 1996, 420; 1999, 25). Kurz zuvor ist von „der systematischen Wirkung von Strukturen auf soziale Prozesse“ die Rede (Esser 1996, 420). Beim früheren Esser (1991, 44) wird ähnlich die Prima-facie-Wirkung der „sozialen Bedingungen auf das Handeln der Menschen“ in Anführungsstrichen eingekleidet, also als „‚Wirkung‘“ ausgewiesen. Auch hier scheint irgendetwas faul oder ganz einfach unklar zu sein, ansonsten würde man keine Anführungszeichen erwarten. Man könnte vor diesem Hintergrund nun behaupten: Hier sieht man, dass der Systemismus und besonders die Kausalitätsmetaphysik des dortigen Rahmens den Annahmen dieser Geschichts- und/oder Sozialwissenschaftler widerspricht, da diese doch eine Form sozialer Verursachung annahmen, die im Rahmen der Systemik wohl als inexistent gelten muss. Wir kommen darauf – erneut skizzenhaft – zurück. Ich würde antizipierend sagen, manche strukturindividualistische Sozialtheorie lehrt, dass die systemische Sozialontologie mit Vorsicht zu genießen ist, und die Systemik lehrt, dass die strukturindividualistischen Sozialkausalitätsvorstellungen mit Vorsicht zu genießen oder rein metaphorisch sind. Man kommt dann in der These zusammen, dass sozialwissenschaftliche Erklärung und entsprechende Forschungsprogramme zentral sind, was mit der Verwendung von (philosophischem) Kausaljargon der einen (7.3.8) oder anderen (Kapitel 6.3) Art noch nicht viel zu tun hat. Das gilt zumindest, wenn man an methodologischen Erklärungsvorstellungen und deren Ausarbeitung (Kapitel 5.4) festhält, wobei alle Sozial(meta)theorien eine

7.4 Die Problematik „Sozialer Kausalität“ (im Rahmen des Systemismus)

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dem Systemismus durchaus ähnliche kategoriale Ontologie voraussetzen. Die letzten Zeilen ergäben ein anderes Buch, weshalb wir darauf nur später recht kurz zurückkommen (7.6). Wir müssen aber noch festhalten, dass die Systemik im Rahmen der viergliedrigen Kausalitätsproblematik (Kapitel 6.3) für viele nicht das Gewünschte liefert. Die physikorientierte Kausalitätsvorstellung liefert eine Ontologie der Kausalrelation. Diese Kausalitätsontologie liefert zum Beispiel keine Semantik kausaler Alltagsrede, die aber auch eher uninteressant ist. Sie rekonstruiert aber auch nicht direkt die Redeweise von Geschichtswissenschaftlern, was allerdings noch niemand ernsthaft versucht hat. Es ist aber auch prima facie nicht zu sehen, dass ein Experte in Naturwissenschaften diejenigen Kausalhypothesen, die in Geschichtswissenschaften zu finden und ferner ansatzweise ernst zu nehmen sind, sozusagen mikrofundierend rekonstruieren könnte, zumal die Kausalhypothesen auch impliziter Art, die Geschichtswissenschaftler ganz nebenbei immer aufstellen, vermutlich kaum Probleme machen (6.3). Bezogen auf die Festlegung der Bedeutung von Kausalaussagen jenseits einer Analyse der Alltagssprache ist sie letztlich so stipulativ wie alle anderen Kausalitätsdefinitionen, soweit die Anknüpfung an physikalische Theorien nicht für sie spricht. Die Kausalitätstheorie sagt nicht, wie Kausalaussagen begründet werden, was aber vielleicht auch nicht ihre Aufgabe ist. Denn diese Rechtfertigung obliegt gegenstandsspezifischen Modellen und ihrer Überprüfung, die – so ist hier die Voraussetzung – den Theorien anderer Wissenschaften mindestens nicht widersprechen dürfen. Hier liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine Kausalhypothese dann besonders gut gerechtfertigt ist, wenn ein plausibles Modell eines Mechanismus verfügbar ist. Die Kausalitätsontologie sagt nichts darüber, wie genauer wissenschaftliche Erklärungen oder Kausalerklärungen aufzufassen sind. Wie wir ansatzweise gesehen haben, obliegt dies (bezogen auf das Verstehensideal) Mechanismusvorstellungen im Rahmen der systematischen systemischen Onto-Methodologie, wobei im Rahmen der Systemik aufgrund des (offensichtlichen oder scheinbaren) Mangels solcher Modelle über die genauere Ausgestaltung dieser Modelle nichts gesagt werden kann, außer der aus dem Strukturindividualismus (z. B. Lindenberg 1977, Schmid 2006a; siehe auch Frings 2007b) geläufigen These, dass in Modellen von „sozialen Mechanismen“ irgendwie Beschreibungen mit Referenten auf unterschiedlichen Ebenen (Makro, Mikro) durch argumentative Beziehungen (deduktiv) verknüpft werden sollen (Bunge 1995), was der ontologischen Idee korrespondiert, dass Mechanismen etwas hervorbringen. Ob und inwiefern solche Modelle eine kausale Reichweite haben, ist dann sozusagen die ontologische Seite der Bildung von solchen „theoretischen Modellen“421 und Gegenstand der Gedankenspiele dieses und des nächsten Kapitels. Ob Geschichtswissenschaftler immer solche Modelle oder Mechanismen beschreiben müssen, ist eine andere Frage. Natürlich werden wir dies allein aufgrund der Heterogenität der Praxis und der Mini-„Anatomie“ bezweifeln müssen. Wir sind aber mit der ontologischen Betrachtung noch nicht ganz durch. Wir erlauben uns daher noch weitere Gedankenspiele, die uns aus der Ontologie ansatzweise hinaus und den „individualistischen“ Soziologen in die Arme treibt. Das könnte daran liegen, dass die physikorientierte Kausalitätstheorie im Rahmen der Metatheorie der Geschichts- und Sozialwissenschaften immerhin ein altes Problem klärt, wenn nicht löst. Vor ihrem Hintergrund verursachen soziale Systeme (oder gar Gesellschaften) wohl genauso wenig etwas in Personen wie der Geist nicht auf Neuronen oder Neuronensysteme wirkt (und umgekehrt). Wenn zumindest simplizistische Kausalismen im Bereich des Gesellschaft-Individuum-Problems ontologisch ausgeschlossen sind, muss scheinbar eine 421

Unter „theoretischen Modellen“ verstehen Soziologen der Schule der Erklärenden Sozialwissenschaften meines Wissens eine Menge von Hypothesen, aus denen sich ein Explanandum, zumeist ein soziales Explanandum, deduktiv ableiten lässt.

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

völlig andere oder eine komplexere Story erzählt werden. Warum gibt es eigentlich immer noch kein Übersichtswerk zum Gesellschaft-Individuum-Problem?422

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus) Wie kann die Doppelkonstitution historischer Prozesse, die Gleichzeitigkeit von gegebenen und produzierten Verhältnissen, die komplexe wechselseitige Beziehung zwischen umfassenden Strukturen und der Praxis der ‚Subjekte‘, zwischen Lebens-, Produktions- und Herrschaftsverhältnissen und den Erfahrungen und Verhaltensweisen der Betroffenen erfaßt und dargestellt werden? (Medick 1996, 27 f.) Es ist also nicht damit getan, über Ereignisse zu berichten. Ebenso muß nach dem Beziehungsgeflecht gefragt werden, vor dessen Hintergrund sie möglich und in das hinein sie geplant und durchgeführt wurden (Kintzinger 2000, 30). Any student of human behavior balances between treating people as objects of external forces or as motivated actors (Tilly 1990a, 690).

Vor dem Hintergrund unserer Betrachtung des Kausalitätsproblems im Kontext der systemischen Kategorientafeln müssen Formulierungen wie die folgende zu ontologischer Verwirrung führen: Assuming either the Agency → Structure direction of social causation or its dual, Structure → Agency, is false because all individual actions, whether prosocial or antisocial (a) are conditioned and sometimes motivated by irreducibly social circumstances, such as scarcity and social conflict, and, (b) are aimed at changing other people’s behavior or even the entire group structure in some respect or other (Bunge 1997, 445; vgl. 1999, 54; Hervorhebung dp).423 Wenn man an dieser Stelle „bedingen“, „motivieren“ und „soziale Umstände“ in die expliziten Kategorien der systemischen Ontologie übersetzt, scheint herauszukommen, dass eine Wirkung von Strukturen auf Handlungen und Handlungen auf Strukturen strikt besehen unmöglich und diese Redeweise eher metaphorisch ist. Vor dem Hintergrund mancher sozialtheoretischer Äußerungen scheint dies erstmal seltsam oder gar unhaltbar. Das Seltsame an der im Systemismus favorisierten Kausalitätsvorstellung ist offenbar, dass hier weder die Suggestion bleibt, dass Kausalität ohne Umwege Erklärungen ergibt, noch irgendwie „intuitiv“ oder durch Einsetzung von Ausdrücken wie „Struktur“ in Satzschemata mit Kausalvokabular klar wird, dass Strukturen etwas verursachen. Ich glaube, dass der Vorteil dieser Auffassung aber gerade in diesen beiden Punkten liegt und diese ferner damit verbunden sind, dass sich aus der klareren Ontologie der Systemik die Methodologie und Erklärungsstrategie im Groben ergibt, welche die verschiedenen (realistischen) sozialtheoretischen Schulen zu favorisieren scheinen, nämlich akteurnahe Modelle. Zumindest gilt dies, wenn diese Modelle einen recht klaren kausalen Gehalt überhaupt haben sollen. Zu denken geben kann an dieser 422

423

Was käme wohl heraus, wenn man andere Kausalitätsvorstellungen zur Beantwortung der Fragen heranzieht? Ich würde mal spekulieren (6.3), dass häufiger die Fragen, die hier verneint werden, dort –innerhalb eines weiteren und letztlich wohl anderen ontologischen und sozialontologischen Kontextes – bejaht werden. Die Frage ist, was so etwas zeigte, was immerhin zeigt, wie problematisch die Problematik ist. Für weitere Textstellen, die mein Ringen mit der Kausalitätsauffassung auch im Rahmen der Systemik induziert haben, siehe Bunge 2006a, 177; 1998a, 65, 77 f., 139; 1996, 140.

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

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Stelle vielleicht auch, dass man den (revidierbaren) Eindruck haben darf, dass in Äußerungen wie zum Beispiel den gerade eingangs zitierten Historiker nicht gerade zwingend oder in der Mehrheit Kausalvokabular verwenden, aber dennoch die Problematik erneut ausdrücken und als relevant erachten. Weil es keine irgendwie klaren bzw. gar keine „einfachen“ oder „intuitiven“ Wirkungen von Sozialem („Makro“) auf Akteure oder Soziales gibt, z. B. weil soziale Strukturen und soziale Systeme intersubjektiv-kognitive Anteile haben („Positionen“, „Rollen“, „Hierarchien“ etc.) und emergente Eigenschaften von problemlösenden Akteuren „interpretativ“ wahrgenommen werden müssen, um relevant zu sein, müssen akteurnahe Modelle formuliert werden, weil es gar keine Makro-Makro oder irgendwie akteurferne Kausalitäten sozusagen hinter dem Rücken gibt. Ferner kann die Systemik eventuell andere Vorstellungen von Determinationsrelationen inkorporieren, die in anderen philosophischen und sozialtheoretischen Schulen vielleicht zu schnell als Kausalrelationen gedeutet werden, was vielleicht auch dem vergleichsweise unklaren kategorialen Kontext geschuldet ist. Hier könnten „Bedingungs“Relationen, „Gesetze“ oder einfach Regularitäten oder, falls man dies realistisch deuten zu können glaubt, kontrafaktische Abhängigkeiten (7.3.3) eine Rolle spielen, die aber jeweils nicht mit Kausalität identifiziert werden müssen. Wenn man dasjenige dann wählt, was manchmal „kausaler Pluralismus“ genannt wird, dann ist am Ende alles irgendwie und in vielerlei Sinn „kausal“.424 Das kann man vielleicht so sehen, führte aber nur zu genau derselben Frage, die sich vor dem Hintergrund der physikorientierten Kausalitätstheorie stellt, nämlich wann man eine (gute) Erklärung in einem Kontext hat, zudem mit einer interessanten „kausalen Reichweite“ (Bunge 2009b 1959). Hier wiederholte sich eventuell also eine alte Frage, die M. Schmid mal in anderem Kontext gestellt hat (5.4), nämlich wann man kausale Erklärungen in den Sozialwissenschaften von ihrem elliptischen Charakter befreit hat, d. h. für erfolgreich oder adäquat erklärt. Man wird allerdings vor dem Hintergrund des systemischen Ontologiepakets vermuten dürfen, dass jene kausale Reichweite in Erklärungen nur dann gegeben ist, wenn etwas über interagierende Akteure gesagt wird. M. Schmid hat in seiner kritischen Würdigung des Systemismus zudem recht, wenn er darauf verweist, dass hier nicht wie bei anderen Realisten (zuerst Lloyd 1986, vgl. auch Groff 2004, P. Lewis 2000) in der Ontologie der Sozialwissenschaften explizit zwischen unterschiedlichen Formen von Kausalität oder unterschiedlichen ontischen Relationen, die „Kausalität“ genannt werden, unterschieden wird, und dass dies ferner dann auch nicht in einer Ontomethodologie systemischer Erklärung fruchtbar gemacht wird. Es heißt dann z. B. in anderen ontologischen und/oder sozial(meta)theoretischen Rahmungen, es gäbe kausale Produktion durch Akteure auf der einen Seite und zusätzlich noch kausale Bedingungen in Form von etwas anderem auf der anderen Seite (z. B. Greshoff 2011a, Lloyd 1986, 1991). Meine Interpretation ist, dass gerade das im Unklaren-Lassen der einheitlichen nichtpluralistischen Kausalitätsontologie und der darin liegenden Konsequenzen im Systemismus ein Fehler ist, der auch (holistischen) Fehldeutungen des Systemismus Vorschub leistet und vermeidbare Unklarheiten übrig lässt, was zumindest Klärungspotenzial ungenutzt lässt. Letztlich bleibt hier natürlich vieles einer Metaontologie der Geschichts- und Sozialwissenschaften vorbehalten, nämlich Probleme der Hypothesenwahl und deren Begründung im Rahmen von etwas, das „Ontologie“ oder „Metaphysik“ genannt wird. Behauptungen wie „causes are of the micro, as well as of the macro kind“ (Bunge 1996, 145), die Schmid zitiert, sind im Systemismus ontologie-intern problematisch, weil sie so klingen, als würden Makros irgendwie in einem wörtlich zu nehmenden Sinn wirken, so wie ein Akteur recht klarerweise auf einen anderen wirkt, z. B. durch einen Faustschlag. Solche Äußerungen sind problema424

Ein Neo-Aristotelismus findet sich z. B. in Groff 2004.

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tisch, gerade weil dieses Kausalitätsverständnis im Vergleich zu anderen nach meinem Eindruck und im Rahmen der weiteren (Sozial-)Ontologie der Systemik „eine Klärung des (durchweg undeutlichen) Kausalitätsbegriffs“ (Schmid 2006a, 160) liefert, bloß keine, die ohne Theorien oder Modelle in intuitive (Kausal-)Erklärungen sozusagen übersetzt werden kann oder dabei behilflich ist, (häufig vage und theoriefreie sowie) verstreute Kausalaussagen in Geschichts- und Sozialwissenschaften irgendwie „intuitiv“ zu analysieren. Schmid fügt dem Zitat über Makro-Ursachen den Kommentar an: „Damit aber entsteht die Frage, wie man sich deren Verhältnis vorzustellen hat“, also das Verhältnis von sog. Makro-Ursachen und sog. Mikro-Ursachen.425 Aus der Perspektive realistischer Sozialtheorie ergibt sich dabei ein ontologisches Problem: Die Hauptschwierigkeit dürfte darin liegen, die naturwissenschaftliche Ontologie eines durch Energietransfer oder –emission initiierten Effekts auf die Wirkungsweise von sozialen Strukturen und deren Verhältnis zu Akteuren zu übertragen (Schmid 2006a, 161, Fußnote 1102). Das Problem haben aber natürlich auch kausalontologische Dispositionalismen im Rahmen des sozialrealistischen Pan-Dispositionalismus (Critical Realism, Methodological Localism), die Schmid stellenweise favorisiert. Auch Regularitätsmetaphysiker, die seit Humes Tagen keinerlei relevante Regularitäten liefern konnten, um die stipulierte Wirkung von „sozialen Strukturen“ oder irgendeine Wirkung im Soziohistorischen zu beschreiben (Makro-Makro, Makro-Mikro, Mikro-Mikro), stünden vor dem Problem, wenn sie es angingen.426 425

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Man muss auch nicht auf physische Links rekurrieren, um die Vorstellung von Makro-Mikro-Kausalität zu problematisieren. Die Vorstellung von Kausalität als dann unexplizierte Produktion von Veränderung in Dingen durch andere Dinge reicht eigentlich schon aus. Beispielsweise schreibt U. Schimank (2010, 25) zur sogenannten „Logik der Situation“, also dem MakroMikro-Link zwischen „Strukturen“ und Handeln bzw. der Hypothesenbildung über einen solchen Link: „Die ‚Logik der Situation‘ selbst ist nur in geringerem Maße theoretisierbar. Es können keine allgemeinen und dennoch gehaltvollen Gesetzmäßigkeiten darüber formuliert werden, wie spezifische Ausprägungen bestimmter sozialer Strukturen spezifische Ausprägungen des Handelns verursachen.“ Wenn es keine Theorien gibt, dann kann man aber wohl auch – jenseits aller Ontologie der Kausalrelation – nicht wissen, dass hier Verursachung tatsächlich vorliegt (vgl. diesbezüglich Schmid 2006a). Frings (2007b, 39) schreibt: „Zur Definition der Situation gehören plausible Annahmen darüber, wie die Makrowelt auf die individuelle Situationswahrnehmung durch das Individuum und damit auf das individuelle Handeln wirkt.“ Anders formuliert: Die Situation wirkt auf die Situationswahrnehmung des Akteurs. Theoretische Annahmen nennt auch Frings nicht, sondern behauptet (ebd. 40), die „Annahmen über die relevanten Faktoren einer Situation, die auf die subjektive Handlungswahl Einfluss nehmen, sind […] immer nur gegenstandsadäquat zu treffen“. Das Problem kann natürlich sein, dass, wenn keine generellen Annahmen über Makro-Mikro-Links zu Verfügung stehen, die Frage auftritt, ob jene „plausiblen Annahmen“ ad hoc und spekulativ sind, zumal in singulären Fällen, d. h. „situativen“ Erklärungen von singulären Handlungen. So weit ich sehe, ist an der Stelle der sogenannten „Logik der Situation“ immer von Beschreibung die Rede, gerade weil es kein Theorien über diesen Link gibt, weshalb Pfeile in den „Badewannen“ auch nicht für Theorieverwendung, logische Schlüsse, DN-Erklärungen oder mechanismische Erklärungen stehen (wie die Analytische Soziologie behauptet): „Die Logik der Situation beschreibt, wie der historische Kontext auf das Handeln des Akteurs Einfluss nimmt …“ (Frings 2007b, 39). Andernorts ist davon die Rede, es gehe „um eine plausible Rekonstruktion der Situationswahrnehmung der Akteure“ (Frings 2008, 143), was über eine Wirkung einer Situation noch gar nichts enthält oder enthalten muss. (Frings geht, ohne dies zu kommentieren, von „einer mehr oder weniger realitätsadäquaten Situationswahrnehmung“ aus, obwohl er eine „Fehleinschätzung“ für möglich hält; ebd. 143; vgl. Kapitel 6.2.) Wie das Modell der soziologischen Erklärung daher eine „deduktive, logische Überführung“ von Makro über Mikro und dann auch zu Makro gewährleistet (Frings 2007b, 46) und wie eine „narrative Erklärung“ in der Geschichtswissenschaft die „Anforderungen an eine deduktivnomologische Erklärung […] in herausgehobener Weise erfüllt“ (Frings 2008, 130), ist mir nicht klar, weil die in der Badewanne herangezogenen Hypothesen (mir) nicht klar sind (siehe auch unten kurz zum Mikro-

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

Politische Zentralisierung

Verarmung und Entfremdung

Absentismus der Grundherren

Agrikulturelle Stagnation und Schwächung sozialer Verbindungen

Abbildung 33

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Bunges Boudon-Coleman-Diagramm zum Toqueville-Modell (nach Bunge 2001b, 101).

Die (ontologische) Schwierigkeit besteht aber genau dann überhaupt nicht, wenn man die Annahme zugrunde legt, dass die systemismus-interne Prima-facie-Klärung der Kausalrelation wie auch der Rahmenkategorien nahe legt oder gar zeigt, dass es eine solche „Wirkungsweise von sozialen Strukturen“ eben ganz einfach nicht gibt. Es ist auch nicht klar, was verloren geht, wenn man eine solche Wirkungsweise, die scheinbar kaum jemand auch nur (a priori) beschreiben kann, nicht annimmt. In manchen Fällen wird man auf nichts weiter verzichten müssen als auf recht unklare und ontologisch seltsame Kausalerklärungshypothesen.427 Eine mögliche Frage ist im Unterschied zu Schmids Rückfrage an den Systemismus, was von Verursachung noch übrig bleibt, wenn man alle möglichen sozialen Beeinflussungen, Ermöglichungen, „strukturelle Zwänge“ oder „situative Restriktionen“ (Schmid 2011a, 225) nicht naiv kausalistisch auffasst, zumal so lange nicht, wie diese unklar benannt sind. M. Bunge (2001b, 101) schreibt, Toquevilles Erklärungsmodell über die „Roots of the French Revolution“ rekonstruierend, von einer „two-tier causal chain“, die auf der Makroebene mit der politischen Zentralisierung durch Ludwig XIV begonnen habe, wobei das entsprechende Boudon-Coleman-Diagramm Folgendes zeige: „It exhibits some of the consequences that a macrosocial event has on individual lives, changes that in turn have aggregate effects“ (Bunge

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Makro-Link). In Zukunft wäre hilfreich, wenn diese Ableitungen mal beispielhaft – im Rückgriff auf echte Studien – vorgeführt würden, oder gar des öfteren vorgeführt würden. Wie gesagt, plausible Beispiele gibt es kaum. Wenn beispielsweise P. Hedström (2008, 168) fragt, „Wie kann die Handlung durch die Arbeitslosenquote in dessen Bezugsgruppe von Gleichaltrigen beeinflusst werden?“, dann muss man nicht unbedingt eine Kausalitätsontologie ablehnen, die einen solchen Einfluss nicht abbilden kann, sondern kann fragen, warum man überhaupt von Kausalität zwischen einer aggregierten Makro-Absenz (Arbeitslosenquote) und Veränderungen in konkreten Dingen (Handlungen von Personen) sprechen sollte, besteht hier doch offensichtlich keine oder es müsste erläutert werden, wie das wohl gemeint ist. Wenn Hedström anschließend behauptet, es gäbe „gute Gründe anzunehmen, dass die Handlungen der Arbeitsplatzsuche, dp durch die Arbeitslosenrate bei Gleichaltrigen beeinflusst werden“ (Hedström 2008, 177), dann ist die Frage, ob man das wörtlich nehmen soll. Ich bin mir nicht sicher, ob Hedström selbst dies wörtlich nimmt und neuerdings (Hedström/Ylikoski 2010; 7.6) in die Semantik des Interventionismus überführen würde, was im Zweifel den kausal zu nennenden Zusammenhang bloß stipulativ definiert, aber nicht nachweist.

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2001b, 101; Abbildung 33). Ich will dieses Beispiel hier nicht breit diskutieren. Aber auch hier würde sich zeigen, dass im systemischen Rahmen keine soziale Kausalität sui generis übrigbleibt. Im Unterschied zu der letzten Behauptung der Existenz von etwas, das „soziale Kausalität“ genannt wird und andernorts Makro-Mikro-Kausalität (z. B. Bunge 1997), heißt es an anderer Stelle, wie auch bei im Geiste zumindest verwandten Soziologen, folgendermaßen: We explain the whole in terms of its parts, and the latter in terms of their actions in the whole (Bunge 1998a, 311, Hervorhebung dp).428 Erklärung ist eine epistemische Leistung. Und Handlungen eines Teils (Akteur) in einem Ganzen (Sozialsystem) sind natürlich nicht dasselbe wie Wirkungen eines Ganzen auf einen Teil, weshalb zuvor (7.4) die verschiedenen Fragen auch relativ pedantisch auseinandergehalten werden mussten. Das Handeln einer Person („agency“) innerhalb einer Struktur oder, besser, innerhalb eines Systems mit einer Struktur, ist auch nicht dasselbe wie die Wirkung eines Handelns auf eine Struktur oder die Wirkung einer Struktur auf einen Handelnden. Beide Fälle sind oben mit der expliziten und ontologisch gut eingebetteten Strukturkategorie (7.3.4) eigentlich eindeutig ausgeschlossen, weshalb nur schwer, d. h. aus theoriepolitischen Gründen oder terminologischem Entgegenkommen nachvollziehbar ist, dass von Strukturkausalität in Bunges späteren Schriften manchmal die Rede ist, denn alles andere klingt natürlich nach Individualismus (7.2). An dieser Stelle treffen wir erneut (nach Kapitel 7.3.4) auf dasjenige, was im Kontext anderer „historischer“ Erklärungsvorstellungen als „Kontext“ bezeichnet wird und das Problem der Relationen von irgendetwas zu diesem „Kontext“ (Kapitel 6.4). Selbst wenn ein Akteur gleichzeitig auf alle Komponenten eines Sozialsystems mit mehr als zwei Komponenten wirken würde, gehörten auch noch die Relationen zwischen den anderen Komponenten zu dieser Struktur, auf die jener Akteur nicht wirkt (Abbildung 32, S. 469). Und ein Akteur wirkt auch nicht auf die Struktur des Systems, sondern er wirkt auf die anderen Komponenten des Systems, bei denen es sich natürlich im idealtypischen Hauptfall human-sozialer Systeme um Akteure handelt, die für den jeweils Handelnden den „Kontext“, die „Umwelt“ oder die „Situation“ primär darstellen.429 Mit dem üblichen Körnchen Salz kann im Systemismus als selbstverständlich gelten: „Jenseits der Trägerinnen gibt es keine Strukturänderungen“ (Greshoff 2008b, 428). Wobei das eben nur teilweise stimmt, weil die Struktur eines Systems – so lautet die Hypothese – eine systemische (emergente) Eigenschaft des Systems ist und somit gesagt werden muss, dass die Struktur eines Systems (per Definition) etwas „jenseits“ aller einzelner Komponenten in diesem Sinn ist. Die Struktur eines Systems ist aber eben doch nur die Gesamtheit der Re428 429

„[T]he atomistic program of explaining the whole by its parts fails every time the behavior of the part is strongly influenced by its position in the whole“ (Bunge 2010c, 74). Ein gewisses ontologisches Paradox, das wir hier wie angekündigt weiträumig umfahren wollen, kann in der Frage bestehen, wie es denn möglich ist, dass Veränderungen in Eigenschaften von sozialen Systemen verursacht werden, wenn doch immer nur die Komponenten jener Systeme aufeinander wirken. Die Antwort muss lauten, dass das Ganze als Resultat jener Interaktionen Eigenschaften annimmt, was dann als „Emergenz“ oder „Emergenzprozess“ bezeichnet wird, soweit emergente (und nicht resultierende) Eigenschaften dabei herauskommen. Wenn man also fragte, ob soziale Mechanismen etwas verursachen, dann ist die Antwort zum einen „Nein!“, denn in jenen Mechanismen wirken Personen aufeinander, zum anderen „Ja!“, denn diese Mechanismen oder, anders gesagt, das Interagieren von Akteuren bringt vermittelt systemische Eigenschaften oder andere Prozesse (im schwachen Sinn) hervor (siehe im Kontext auch 7.3.6), die keiner von ihnen allein herbringt oder hervorbringen kann.

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

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lationen zwischen allen Komponenten des Systems. Deshalb ist sie nichts „jenseits“ aller „Trägerinnen“ in einem anderen, „dualistischen“ oder „holistischen“ Sinn. Das ist auch insofern trivial, als ein Unternehmen eben nicht im Geschäftsführer sitzt, aber auch nichts jenseits der Gesamtheit der Mitarbeiter in unterschiedlichen Teilsystemen ist.430 Wenn andere Akteure und ex hypothesi die Struktur eines sozialen Systems den „Kontext“, die „Umwelt“ oder die „Situation“ eines Akteurs und dessen Handeln bilden, dann ist dies aber auch keine Wirkung einer Struktur (emergente Eigenschaft) auf einen einzelnen Akteur. Was passiert, ist, dass ein Akteur in einem System mit dem rollen- oder positionenkonformen Handeln zum Beispiel derjenigen Personen rechnen muss, mit denen er in Relationen steht oder mit denen er in Relationen eintritt, die manchmal generisch „sozial“ genannt werden, z. B. Chef und Mitarbeiter, Chefkoch und Beikoch, Papst und Bischof, König und seine familiares (Kintzinger 2000), Patron und Client (Rilinger 1976, Hölkeskamp 2011 1986), Professor und Doktorand. Auf die Struktur trifft ein Akteur in komplexeren Sozialsystemen nie und im kleinsten Sozialsystem, dem Sozialatom aus zwei Akteuren, ist die Struktur das In-Relation-Stehen des einen Akteurs mit dem anderen und nichts anderes, zumindest im Rahmen der systemischen Ontologie. Hier wie andernorts ist das mehrdeutige Thomas Theorem noch immer einschlägig, das auf den Geschichts- oder Sozialwissenschaftler W. I. Thomas zurückgeht. Die häufiger von Individualisten zitiert These lautete: „If men define situations as real they are real in their consequences“ (zitiert in Sztompka 1991, 83). Wir können hier nicht versuchen, zu klären, was unterschiedlichste Situationisten mit „Situation“ meinen. Die Situationisten kennen jedoch – wie bereits erwähnt (7.2) – einen „objektiven“ und einen „subjektiven“ Situationsbegriff, was darauf hindeutet, dass dortige Situationen in der Systemik die Entsprechung in Systemen, den Strukturen sozialer Systeme und – aus der Perspektive eines einzelnen Akteurs betrachtet – den sozialen Relationen finden, in denen er steht oder mit denen er rechnen muss, wenn er mit Personen anderer Sozialsysteme oder anderen Komponenten eines Sozialsystems interagiert. Die Situationisten sind ja zumeist sozialontologische Realisten und daher teilen sie mit der Systemik alle Probleme, die mit diesem Realismus verbunden sind. Die systemische Reproduktion der Thomas-These und ihrer Problematik lautet wie folgt und gilt in den Sozialwissenschaften weitgehend als geteilt: Social relations pass through the heads of people. That is, any given social fact is ultimately a result of individual actions; consequently, it may be ‚perceived‘ or ‚interpreted‘ differently by different individuals, who may then react differently (Bunge 1997, 453). Das Entscheidende gilt wohl nicht nur für soziale Relationen (7.3.3), von denen die sozialpsychischen sogar gänzlich im Kopf bzw. den Köpfen sind, sondern auch den „Einfluss“ von allen denkbaren sozialen Eigenschaften (7.3.2), was wiederum ganz einfach heißt, dass die sogenannte Makro-Mikro-Verbindung in den Köpfen der Akteure passiert, die vor dem Hintergrund ihrer Hypothesenbildung über das sozio-historisch Entstandene – so die realistische These –, also bereits Existentes, praktische Probleme lösen und lösen müssen. Wenn es da heißt: „The consistent individualist overlooks the fact that individual intentions and expectations, hence choices, are largely shaped by social circumstances …“ (Bunge 1997, 440), dann liegt das eigentliche sozialwissenschaftliche und metasozialwissenschaftliche Problem vor dem Hintergrund der sozialsystemischen Ontologie mitsamt der Kausalitätsauffassung nicht 430

„Kritische Realisten“ und „Interpretisten“ diskutierten dies noch recht kürzlich und redeten wohl teilweise aneinander vorbei; siehe King (1999), Archer (2000a).

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

in irgendeiner Ontologie dessen, was „shape“ heißen könnte, sondern in der wissenschaftlichen Modellierung dieses „Einflusses“, der kausalontologisch immer bloß von anderen Personen oder Artefakten stammt, d. h. eine Hypothesenbildung über die „Intentionen und Erwartungen, daher Entscheidungen“ in sozialen Systemen, ihre Bildung vor dem Hintergrund diffuser äußerer („sozialer“) Einflüsse und die Erklärung von jenen Entscheidungen. Dass Strukturen Handlungen „formen“ ist genau dann trivial, wenn man Strukturen im obigen Sinne (7.3.4, 7.3.3) als Eigenschaften fest an Systeme koppelt – und sie nicht latent davon löst – und damit an konkrete Relationen zwischen konkreten Menschen, was überhaupt keinen kausalontologisch interessanten Fall ergibt, insofern natürlich immer nur konkrete Akteure vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen über die Rollen anderer (oder geltender „Regeln“) und eventuell den Zustand ihres Sozialsystems mit diesen anderen interagieren und Überzeugungen über diese Systeme und Strukturen erwerben, was in ihrem Interagieren zur fortwährenden Reproduktion oder Transformation jener Systeme und Strukturen führt. Die sogenannten „sozialen Relationen“ sind ja auf der psychischen Seite in erster Linie (wechselseitige) Erwartungen von Akteuren oder – mit soziologischem Chic ausgedrückt – Erwartungserwartungen (Greshoff 2011a), d. h. Erwartungen, die eine Person über dasjenige hat, was andere Personen von ihm oder anderen erwarten. Es ist daher durchaus in den Systemismus die Sicht des Strukturindividualisten zu integrieren, der von „Verhaltenserwartungen, die wechselseitig verschränkt sind (Struktur)“, schrieb (Lindenberg 1977, 61), was nur wiederholt klar macht, wie seltsam es ist, solchen Strukturen als sozialen Entitäten Verursachungspotenzial zuzuschreiben. Diese, letztlich ja wirklich triviale Sicht ist interessanterweise eine ontologische und sozialtheoretische Konsequenz der materialistischen Ausrichtung der Systemik, die sich auch bei symbolischen Interaktionisten findet, die vermutlich die systemische Terminologie ablehnen würden. Denn diese „materialistische“ Ausrichtung ist nicht nur mit einem Fokus auf Interaktionen verbunden, sondern auch mit der Verortung von sozialen Relationen, mit der Ausnahme von Wirkungen und Interaktionen, in den Gehirnen der Akteure und deren teilweise „intersubjektiv“ („sozial“) geteilten Überzeugungen („Kultur“). Die ebenso trivialen Haupt-Thesen symbolischer Interaktionisten fasst H. Esser (2000d, 192) wie folgt zusammen: „Die Regeln, Normen, Rollen und sozialen Strukturen bestehen so gesehen nicht irgendwie ‚unabhängig‘ von den menschlichen Akteuren, sondern immer nur im Vollzug, Anzeigen, Interpretieren und erneutem Vollzug des Handelns“ (Esser 2000d, 192; vgl. Bunge 1979a). Vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen, „Gründe“, oder „Intentionen“ treffen immer nur konkrete Personen aufeinander, die dabei wechselseitig damit „kalkulieren“ müssen, dass ihr Gegenüber eine intersubjektiv zugeschriebene Rolle oder Position einnimmt, mit der sie in „sozialem“ oder „strategischem“ Handeln „rechnen“ müssen. Insofern und ausschließlich insofern „motivieren“ und „beeinflussen“ Strukturen die Aktivitäten von Akteuren („Agency“), wie es oben im Zitat hieß. Auch von obiger „Ermöglichung“ oder „Einschränkung“ von „Mikro“ durch „Makro“ kann aber eigentlich nur unter der Voraussetzung von irgendwelchen Handlungstheorien sinnvoll gesprochen werden, in denen irgendetwas wie „Ziele“, „Zwecke“, „Wünsche“, „Bewertungen“ und „Erwartungen“ etc. schon vorausgesetzt sind – selbst wenn diese Handlungstheorien vor allem auch in den Geschichtswissenschaften zumeist implizit bleiben oder inexistent sind und ferner darüber hinaus vage, falsch oder gar gehaltlos sind, was zu klären einer vergleichenden Perspektive auf Handlungstheorien obliegt (6.2). Dies wird auch dann relevant, wenn generisch und recht unvermittelt im Systemismus von Einfluss von Makro-Eigenschaften auf Personen die Rede ist: „Collective (or bulk) properties emerge from individual actions and attitudes – which in turn are influenced by the former)“ (Bunge 2009a, 78). Während die ontologische Grundidee gerade auch dann Ge-

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

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meingut ist, wenn man philosophische Kausalitätsprobleme verschweigt, ist weitaus weniger klar, wie die methodologische Pointe theoretisch und praktisch umgesetzt werden muss, die in methodologischen Orientierungshypothesen wie im Thomas Theorem oder der Rede von „Mikrofundierung“ ausgesprochen wird, was wiederum in „Badewannen“ und „Booten“ sinnfällig dargestellt wird. Denn es ist offenbar nicht wirklich klar, welche Theorien zur Umsetzung der Pointe zur Verfügung stehen und wie genau solche Erklärungsmodelle genauer aussehen oder wenigstens aussehen sollen. Bei Topolski (3.1.5) haben wir natürlich auch schon vernommen: The conditions of actions do not influence directly the acting men. People take these conditions into consideration, i. e. the influence of the objective world on men is mediated by human consciousness which is composed of knowledge of the conditions of actions and a system of values (Topolski 1978, 7). In meiner Lesart ist dies die etwas versteckte methodologische oder auch substanzielltheoretische Pointe der systemistischen Sozialontologie. Denn im Vergleich ist klar, dass man diese Akteur- oder Interaktionsmodelle nicht braucht, wenn man beispielsweise auf der Basis von Regularitätsmetaphysik der Kausalität oder kontrafaktischen Kausalitätsvorstellungen (inklusive Interventionismus) überzeugt ist, Kausalitäten zu kennen, die zwischen zwar unexplizierten, aber dennoch als existent unterstellten sozialen Relata oder „Variablen“ bestehen (Kapitel 6.3).431 Die methodologische Konsequenz anderer Kausalitätsvorstellungen im Rahmen ihrer Übertragung auf sozialtheoretische Kontexte ist, dass man Theorien und Modelle über interagierende Akteure nicht benötigt. In anderen Fällen dessen, was man soziale Determination statt „social causation“ nennen könnte, könnte man im Rahmen dieser Ontologie sagen, dass resultierende und emergente (soziale) Eigenschaften von sozialen Systemen zwar Handlungsoptionen und damit Handlungen beziehungsweise Handlungswahlen sowie auch die Resultate von Handlungen bedingen, z. B. auch deren Erfolg. Dies wären Fälle von Makro-Mikro-Determination. Es sind in aller Regel wohl solche Fälle, die Ideen von sozialer Kausalität zugrunde liegen, die in den Thesen der „Einschränkung“ und „Ermöglichung“ von Handlungen durch etwas anderes ausgedrückt werden. Zu denken ist an die schon andeutungsweise zur Sprache gekommenen (7.4) Fälle, in denen Akteure sozusagen als Stellvertreter eines Sozialsystems, also in der (sozialen) Funktion eines Rollenträgers handeln und nicht nur bestimmte Kompetenzen sozusagen ausüben, die ihnen von anderen und sich selbst zugeschrieben werden, sondern auch die Ressourcen des sozialen Systems, dessen Komponente sie sind, nutzen. Solche Ressourcen, die andernorts auch als „Struktur“ bezeichnet zu werden scheinen (Giddens 1997 1984, Lloyd 1986), sind im Zweifelsfall im hiesigen Rahmen bereits emergente Eigenschaften von sozialen Systemen, wenn sie dem Ganzen zugeschrieben werden müssen und nicht einzelnen Personen. Man kann 431

Ein ontologischer Individualist streicht Topolskis objektive Bedingungen, die zwar zur Beeinflussung durch das Denken eines Individuums hindurch müssen, aber nicht bloß in jenem Denken existieren, einfach durch, da er nicht an deren Existenz glaubt. Wir haben schon Topolskis nachfolgend wiederholte Aussage (3.1.5) zur Kenntnis genommen: „The ‚objectivity‘ of conditions means that these conditions are independent of the kind of actions undertaken at present, although they are the results of former human actions. They are only partly intended“ (Topolski 1978, 7; Hervorhebung dp). Dieselbe ontologische Problematik drückt die Soziologin M. Archer mit der These aus, jene Bedingungen existierten vor jenen Handlungen („pre-exist“). Die Leugnung jener Bedingungen führt dann in der Sozialtheorie zur Voluntarismusproblematik im Kontext des ontologischen Individualismus (z. B. Archer 1995, 2000a/b, Bhaskar 1979). Hier ist natürlich auch das Marxsche Bonmot zu situieren, „die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx 1852, 115).

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sich hier beliebige „Beispiele“ konstruieren. Man denke etwa an den Manager eines Unternehmens, der mit dem Kapital des Unternehmens (emergente Eigenschaft) auf Einkaufstour geht oder den geschäftsführenden Direktor, der das Budget des Instituts verpulvert. Hier ist der Punkt, an dem emergente Eigenschaften in einem beinahe trivialen Sinn Handlungen determinieren, soweit man ihre Existenz unterstellen möchte, ohne dass im systemischen Rahmen hier seltsame Kausalannahmen gemacht werden müssten, wenn man in diesen Fällen des Handelns in Strukturen und Systemen die Spezifik dieser Komponenten berücksichtigt wie auch die Spezifik jener sozialen Systeme, die von derjenigen ihrer Komponenten herrührt. Solche sozialen Eigenschaften von Systemen determinieren Handlungen zumindest intuitiv über Handlungsoptionen. In der üblichen Sprache von Sozialrealisten und Strukturindividualisten heißt das, dass sie Akteure „einschränken“ („Restriktionen“) und/oder Handlungen „ermöglichen“ („Opportunitäten“). Ohne diesen „sozialen Kontext“, wie es oben einmal hieß, würde so nicht gehandelt. Jeder Rollenträger oder Positionsinhaber in einer formalen Organisation ist auf eine solche Art und Weise in seinem Handeln determiniert. In einer vom Systemismus nicht überzeugten sozialtheoretischen Tradition heißt es entsprechend wie bei allen sozialontologischen Realisten verschiedener Schulen beispielsweise: „Zur Kennzeichnung von Handlungsmöglichkeiten, sind Struktur- und Verteilungsdaten indessen unentbehrlich“ (Schmid 2005b, 137). Das soll so sein, weil diese „Struktur- und Verteilungsdaten“ – so die Hypothese – Handlungswahlen determinieren und als real existent eingeschätzt werden, z. B. auch, weil sie einzelne Akteure nicht einfach herbei- oder wegdenken können. Zwischen dem Reichen und dem Armen besteht in diesen Vorstellungen genauso ein realer („objektiver“) Unterschied wie zwischen einem reichen und einem armen Sozialsystem. Auch ein sich selbst so nennender „Reduktionist“, „Situationist“ und „Interpretativist“, der von emergenten Eigenschaften (im Sinne der Kritischen Realisten, also emergenten Kausalkräften) nichts wissen will, schreibt ganz ähnlich: „The distribution of wealth is real and not reducible to what any particular individual thinks“ (King 1999, 221). Diese Verteilung ist natürlich das teils intendierte, teils unintendierte Resultat von unzähligen Interaktionen, das im Rahmen der Systemik und auch in erklärenden Soziologien manchmal als emergente Eigenschaft aufgefasst wird. Und sie ist sozusagen synchron natürlich nicht unabhängig von den Überzeugungen oder „Einstellungen“ von allen. Dass (soziale) Gegenstände (Systeme, Strukturen, Eigenschaften, „Institutionen“, „Situationen“ etc.) nicht auf Personen wirken oder diese determinieren wie Bomben auf Personen wirken, sollte fernab aller Unwägbarkeiten aller Ontologien des Sozialen und der Kausalität klar sein und gerade die im Rahmen des Systemismus verwendete Kausalitätsontologie macht das auch klar. Für recht mystische soziale Kausalität besteht auch in aller Regel gar kein Anlass, wie etwa die Wirkung manchmal „soziale Entitäten“ genannter Strukturen, Rollen, Positionen, „Institutionen“, Regeln, die irgendwo im „transcendental realm of being“ außerhalb konkreter Interaktionen existieren sollen (siehe Kaidesoja 2007, 2013, Porpora 1989). Die zitierte Passage, in der von Erklärung die Rede ist, scheint die weitaus weniger metaphorische Formulierung zu sein als diejenige, die Struktur oder das Ganze oder die „Umstände“ wirkten auf die Teile. Die entscheidende Frage ist aber dann: Wie sieht eigentlich eine solche Erklärung des Handelns in einem Ganzen aus, wenn es offenkundig nicht weit führt, einfach naiv kausalistisch zu sagen, die Struktur verursache das Handeln, weil allein schon ontologisch unklar ist, wie das zu denken ist.432 Wenn man an dieser Stelle gelangt ist, dann scheint es auch mehr 432

Ähnlich wenig fruchtbar sind Thesen, die darauf hinauslaufen, Handlungen seien von Gründen oder Intentionen verursacht, soweit das nicht eine ontologische These, sondern eine Handlungstheorie sein soll.

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

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oder weniger völlig egal zu sein, welche philosophische Kausalitätstheorie oder -semantik man verwendet, was vermutlich daran liegt, dass man bei Interaktionen von konkreten Personen auch wirklich bereits zu wissen beanspruchen kann, dass Kausalität vorliegt. Da beinahe niemand individuelle Handlungen erklären oder verstehen will, wäre die Anschlussfrage, wie man sozial-systemische Prozesse oder Geschichten (7.3.5) theoretisch erklärt oder modelliert (durch Hypothesen über welche Mechanismen oder Prozesse), wozu bekanntermaßen weder Handlungstheorien noch Annahmen von „Einflüssen“ von „Kontexten“ auf vereinzelte Individuen ausreichen. Selbst der Ausgang eines Fußballspiels ist bekanntlich durch Handlungstheorien nicht erklärbar. Gibt es noch andere Mittel, um zumindest recht intuitive Vorstellungen von sozialer Determination zu berücksichtigten, wenn nicht gar solche aus echten Studien? Bunge unterschied nicht nur seit Causality (Bunge 2009b 1959, 1981) zwischen verschiedenen Formen von Determination. Was kein simpler, produktiver Kausallink zwischen zwei Dingen und ihren Veränderungen ist, kann also etwas anderes sein. Eigenschaften und Zustände bedingen natürlich Unterschiede in künftigen Zuständen von oder Ereignissen in Dingen. Sie bringen jedoch keine Ereignisse hervor, weshalb wir sie als Determinanten oder Bedingungen betrachten müssen und nicht als Ursachen (Bunge/Mahner 2004, 97). Mit dem Verweis auf Determination durch Zustände oder Eigenschaften lassen sich manche Ideen von Bedingungstheorien der Kausalität (Mackie 1980, Jakob 2008; Day 2009) integrierend einfangen, auch wenn im Systemismus im Unterschied hierzu natürlich an dieser Stelle nicht von Kausalität geredet wird, weil die These ist, dass eine Kausalrelation eben etwas anderes ist und es vor diesem Hintergrund keinerlei Überzeugungskraft hat, weitere Relationen zu erfinden, die etwas anderes sind, sie aber dennoch „Kausalität“ zu nennen, z. B. „kausale Bedingung“ statt „Kausalität/kausale Produktion“, was eventuell zu dem Unterfangen führt, substanzielle theoretische Probleme am Ende durch die Definition von Kausalvokabular lösen zu wollen. Vor diesem Hintergrund gilt dann im Systemismus, Kausalität ist ein Fall von Determination, aber nicht jeder Fall von Determination ist ein Fall von kausaler Determination oder eben Kausalität. Wenn von „Determination“ die Rede ist, dann bietet es sich wieder an, wenigstens grob auseinanderzuhalten, was überhaupt wodurch determiniert wird und worin diese Determinationsbeziehung liegt. Wenn Determination und Kausalität nicht dasselbe sind, dann hat man natürlich noch ein weiteres Problem, denn jene „Determination“ genannten Relationen müssen zusätzlich noch irgendwie expliziert werden. An dieser Stelle können wir nicht mehr machen, als mit intuitiven Beispielen zu hantieren und diese grob einzuordnen, da auch im systemischen Rahmen zumindest bezogen auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften keine vollständige Klarheit zu gewinnen ist. Wir sind auf das Problem bereits zuvor kurz gestoßen (7.3.3). Hier können dann auch andere Kandidaten aus der Kausalitätsliteratur vielleicht herangezogen werden, z. B., wenn man will und dies realistisch deuten zu können glaubt, „kontrafaktische Abhängigkeiten“ als nicht-kausale Determinanten. Auf ein zumindest plausibles Beispiel von non-kausaler Determination von Makro durch Makro sind wir bereits in der „Anatomie“ gestoßen. Die Bevölkerung von Marseille (Sewell 1985) zu einem Zeitpunkt t1, also eine soziale Eigenschaft, determiniert den Raum der Werte, die diese Eigenschaft zu t2 (ceteris paribus) einnehmen kann (den Zustandsraum des Systems), aber sie verursacht weder Geschlechtsverkehr noch Geburten. Im Systemismus, aber auch für eigentlich jeden außerhalb, ist auch folgende Aussage „metaphysisch nicht wohlgeformt“: „Die Erhöhung der Geburtenrate in England zwischen 1840 und 1870 ist die Ursache

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für das Bevölkerungswachstum in diesem Zeitraum“ (Boudon/Bourricaud 1992b, 246). Geburtenraten verursachen genauso wie Scheidungs- und andere Raten überhaupt nichts. Als mathematische Fiktionen, die bloß Resultate menschlicher Interaktionen zusammenfassend beschreiben, bedingen sie natürlich auch noch nicht einmal etwas und sie werden auch nicht verursacht, wie auch stellenweise Medick (1996, 310) schreibt, weil – so die Hypothese – nur Veränderungen von Zuständen von realen Dingen verursacht werden. Bevölkerungsmerkmale als emergente Eigenschaften von Sozialsystemen können jedoch scheinbar schon etwas determinieren, soweit sie wirklich als Eigenschaften existieren.433 In solchen Fällen hängt ein späterer Wert einer sozialen Eigenschaft („Makro“) auch von dem vorherigen Wert derselben Eigenschaft ab, was sich dadurch intuitiv oder an demographischen Modellen zeigen ließe, dass bestimmte Wertbereiche der Eigenschaften ausgeschlossen sind. Obwohl wir das nicht vertiefen können und wir hier erneut spekulieren, würden bestimmte Wertbereiche im Rahmen der systemischen Ontologie zum nomologischen Zustandsraum des entsprechenden Systems gehören und andere nicht. D. h., gegeben den Ausgangszustand, sind bestimmte Geschichtsverläufe (7.3.5) des Systems unmöglich, andere nicht. Was dann am Ende herauskommt, ist durch vielerlei Eigenschaften oder „Bedingungen“ bedingt und von vielerlei Ereignissen und kausalen Interaktionen, hier zwischen Männlein und Weiblein, abhängig. Veränderungen von Bevölkerungsmerkmalen werden aber nicht durch Veränderungen von „Variablen“ wie Nuptialität, Natalität, Mortalität verursacht, obwohl sich mit solchen Variablen wohl vorhersagetaugliche (Ceteris-Paribus-)Modelle bauen lassen, die man im Zweifel – auch aus pragmatischen Erwägungen – in Subsumtionserklärungen verwenden kann, wenn man „Mechanismen“ nicht kennt. Von Erklärung von Makro-Variablen oder Eigenschaften durch andere Makro-Variablen wird man in manchen Fällen von Sozial(geschichts)wissenschaft eventuell sprechen können (Bunge 1995), die dann die logische Form Hempelscher Covering Law-Erklärungen haben und Erwartbarkeitserklärungen im „logisch-systematischen Sinn“ (Hempel) sind. Bedauerlicherweise sind in der Geschichtsphilosophie solche Modelle wohl nicht an prominenter Stelle bekannt, obwohl es sie sicherlich gibt. Nicht nur bestimmte Mackieanische Grundideen, sondern auch bestimmte Vorstellungen von Makro-Makro-Determination oder der Determination von „sozialen Phänomenen“ durch „Strukturen“ auf Seiten von Analytischen Soziologen und anderen lassen sich in diesem Rahmen prima facie rekonstruieren. Auch Analytische Soziologen verwenden recht implizit und locker nebeneinander zwei Kausalitätsvorstellungen. Neben kausalontologischem Dispositionalismus, auf den sie dann rekurrierten, wenn sie vormals für „Individualismus“ und die Wirkung von „Akteuren“ als „Kernentitäten“ argumentierten, rekurrieren sie neuerdings locker auf interventionistische Semantiken, wenn es um Kausalität im Allgemeinen und vermutlich auch die Plausibilisierung des vermuteten „Einflusses“ von demjenigen geht, was sie „Strukturen“ oder „Interaktionsstrukturen“ nennen (Hedström/Swedberg 1996, 1998a, Hedström 2008, Hedström/Ylikoski 2010; siehe dazu auch Greshoff 2010b, Schmid 2010). Obwohl im Rahmen der Systemik nicht zu sehen ist, wie Strukturen wirklich irgendworauf wirken könnten, ist zumindest intuitiv einsichtig und es ließen sich eventuell entsprechende Studien zusammensuchen, dass Strukturen im Sinne des Systemismus einen Unter433

Eine erwähnenswerte metaphysische These ist im Rahmen der Systemik, dass sich die Dinge nicht gegen ihre Eigenschaften verhalten können (Bunge/Mahner 2004), was mit „Prinzip der Gesetzmäßigkeit“ verbunden ist (z. B. Bunge 2009b 1959), das besagt, dass sich alles gesetzmäßig verhält und Wunder auszuschließen sind. Damit ist auch verbunden, dass einzelne Akteure die Eigenschaften der Sozialsysteme, deren Komponenten sie z. B. sind, nicht einfach wegdenken können und dass interagierende Personen bei dem Versuch der Herbeiführung gewünschter sozialer Zustände aufgrund objektiver Determinanten scheitern können. Auf letzteren Gedanken rekurrieren auch Kritische Realisten teilweise in ihrer Argumentation für Verursachung durch Strukturen; siehe Archer 1995.

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

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schied hinsichtlich etwaiger Outputs eines Systems ausmachen, d. h. diesen in gewissem Sinn determinieren (vielleicht auch einfach bloß erklären), ohne ihn zu verursachen. Dieses „Unterschiedausmachen“ lässt sich dadurch intuitiv plausibel machen, dass man eine andere Struktur des Systems im Modell fingiert, d. h. sich die Eigenschaft oder Struktur-„Variable“ anders denkt und darüber spekuliert, was am Ende anderes herauskommt. Analytischen Soziologen schwebt dies im Rahmen von Computersimulationsmodellen vor. Bei einer solchen Modellierung könnte z. B. herauskommen, dass sich ein Sozialsystem x mit der Struktur s im Hinblick auf eine andere Eigenschaft P desselben Systems x (z. B. einem Output) von einem System y mit der Struktur r, das aber ansonsten hinreichend ähnliche Eigenschaften (insbesondere Komponenten) hat, unterscheidet. Vermutlich untersuchen so etwas auch angewandte Sozialwissenschaftler oder Sozialtechnologen, die sich z. B. fragen, ob eine weitere Managementebene die Effizienz eines Unternehmens steigert oder mindert (Bunge 1998a). Analytische Soziologen schreiben z. B.: „The simulation allows the researcher to see how the phenomenon to be explained is generated and how changes in action logics or relational structures are likely to change the social outcome“ (Hedström/Ylikoski 2010, 63). Das hieße eben in den systemischen Kontext übersetzt, man „verändert“ (im fiktiven Modell) eine soziale Eigenschaft, z. B. die „soziale Interaktionsstruktur“ oder „relational structures“ in den Worten Analytischer Soziologen, während man „alles außer der sozialen Interaktionsstruktur auf ihren vorherigen Werten konstant“ hält (Hedström 2008, 140) und dann den Computer die Hypothesenmenge entpacken lässt und schaut, was im Modell hinten rauskommt („outcome“, „social phenomenon“). Bloß heißt das nicht und die Übung zeigt auch nicht, dass Strukturen etwas verursachen, allein schon, weil solche „Interventionen“ weder möglich sind noch irgendwo faktisch umgesetzt werden, sondern Gedanken- bzw. Computerspiele sind. Die Übung zeigt allenfalls, dass soziale, räumliche und zeitliche Relationen (in ihrer Gesamtheit) einen Unterschied in einem System, dessen Prozessen und Resultaten bedingen können, obwohl nichts anderes auf nichts anderes wirkt als die jeweiligen Systemkomponenten aufeinander. Was auch sonst? Was sich dann – bei realistischer Deutung – zu ergeben scheint, sind soziale Regelmäßigkeiten (oder Gesetzmäßigkeiten) als Resultanten komplexer Interaktionsformen (= Strukturen von sozialen Systemen). Soll eine kausalistische Deutung ernst genommen werden, müssten Analytische Soziologen plausibilisieren, was es kausalontologisch, nicht bloß in Gedankenexperimenten und Computersimulationen heißen kann, dass eine „strukturelle Konfiguration selbst einen so dramatischen Einfluss haben kann“ (Hedström 2008, 139) oder dass eine „Gruppenstruktur wahrscheinlich die sozialen Folgen beeinflusst, die die Akteure hervorbringen“ (Hedström 2008, 137). Das ist nicht geschehen, zumal die analytische Soziologie in ihrer Metatheorie weder über einen klaren Begriff sozialer Eigenschaften noch einen von Strukturen, von Systemen oder auch sozialen Mechanismen verfügt (7.6). Die Grundidee ist aber nachvollziehbar, obwohl mir auch hier explizite Beispiele nicht vorliegen. Dass auch soziale Relationen intuitiv einen Unterschied machen, wird an dem Trivialexperiment deutlich, in dem man in einer Fußballmannschaft alles konstant hält, bloß dass man aus 10 von 11 Spielern Trainer werden lässt, also die „Struktur“, „Gruppenstruktur“ oder „relational structure“ verändert. Der Unterschied ist, dass es nicht mehr zum Spiel kommt, weil 11 Trainern die Spieler ausgegangen sind.434 434

Es ist von zweifelhaftem Nutzen, Kausalitätstheorien, wie die der systemischen ähnliche von W. Salmon, damit zu kritisieren, sie seien „ill suited to provide a foundational account of a mechanism-based explanation“ und es sei nicht zu sehen, „how the theory could be applied at all in biological and social sciences“, wie es bei Analytischen Soziologen zu finden ist. Ferner sei gezeigt worden, dass Salmons physikalische Theorie „does not include considerations of explanatory relevance“ (Hedström/Ylikoski 2010, 53). Dahinter steht wohl die Idee, dass eine Kausalitäts-„Theorie“ zeigen könnte und müsse, was eine Erklärung ist und

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

Beantworten wir also die Frage (vi‘) erneut: Ist es möglich, dass eine Veränderung einer sozialen Struktur s eines sozialen Systems x eine Veränderung in einer anderen Eigenschaft desselben Systems x verursacht? Die Antwort lautet: „Nein“, zumindest im Rahmen der systemischen Ontologie. Strukturen sind hier Mengen von Relationen und diese verursachen einfach nichts. Sie machen nichts, bringen nichts hervor, aber kontrastiv machen (i. S. v. „bedingen“) sie eventuell einen Unterschied, wenn Akteure etwas machen, die ja zugleich Träger jener Relationen sind oder in diesen Relationen stehen. Strukturen wirken nicht auf, durch oder in Dingen, weder auf die Dinge, deren Eigenschaften sie sind noch auf andere außerhalb

dass eine „Anwendung“ der „Theorie“ einwandfrei zeigt, wann eine Erklärung vorliegt und wann nicht. Das ist wohl eine These des (naiven) methodologischen Kausalismus, in dem ein Kategorienfehler verborgen ist. (Ontische Kausalität hat mit Epistemischem zunächst nichts zu tun.) Von keiner Kausalitätstheorie ist meines Wissens gezeigt worden, dass sie in den Sozialwissenschaften (erfolgreich) „angewendet“ werden kann, was dies überhaupt heißen könnte und inwiefern dies in irgendeiner Hinsicht fruchtbar ist, ob damit z. B. garantiert ist, dass man auf echte Kausalrelationen stößt. Eine interventionistische Kausalitätsvorstellung wird im Rahmen der jüngeren Analytischen Soziologie auch nicht gewählt, weil sie ontologisch oder sozialtheoretisch verteidigt worden ist und überzeugt, was schwierig ist, da es sich um keine Ontologie handelt und sie auch keine sozialtheoretischen Annahmen enthält. Sie wird recht offensichtlich gewählt, weil eine semantische Explikation von „a verursacht b“ unter Rückgriff auf fiktive und denkbare Interventionen auf „a“ – zumal einem sozialtheoretisch und sozialontologisch unexplizierten „a“ – zur fiktiven Manipulationen an Variablen in Computermodellen passt und Analytische Soziologen eine Modellierung auf der Basis solcher Simulationen favorisieren. Das zeigt jedoch nichts bezogen auf das Vorliegen realer Kausalität zwischen „Variablen“ oder bezogen auf das Wirken von „Strukturen“. Philosophische Kausalitätstheorien bzw. –semantiken setzen voraus, dass in den analysierten Beispielfällen für Kausalaussagen Kausalität vorliegt und die schematisierte definitorische Aussage schon irgendwie etwas über reale Kausalität enthält. Bloß gibt es in den Geschichts- und Sozialwissenschaften keine klaren und unzweifelhaft signifikanten Beispielfälle für Kausalzusammenhänge für solche begrifflichen Analysen. Auch die Analytische Soziologie scheint bisher solche Kausalhypothesen nicht geliefert zu haben. Übertragungen von Kaualitätssemantiken auf der Basis z. B. von Intuitionen über das Vorliegen von sogenannten „Ereignissen“ und kontrafaktischen Abhängigkeiten setzen bloß voraus, was unter Umständen irgendwie gezeigt oder plausibilisiert werden müsste, auch durch eine Klärung der Relata im soziohistorischen Bereich. Beispielsweise zeigt eine interventionistische Lesart von Erfahrungsregeln wie „Mit der Produktionsmenge sinken die Stückkosten“ (nach Weber/Kabst 2009, 36) nichts bezüglich Kausalität zwischen irgendetwas, obwohl die Autoren des Lehrbuchs gar von „Gesetzmäßigkeit“ schreiben und dem Praktiker in der Wirtschaft ein kontrafaktisches Gedankenexperiment plausibel erscheinen kann. Auch theoriepolitisch oder metatheorie-ideologisch ist die Verwendung des Interventionismus im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Individualismus heikel, denn interventionistische Semantik hat keinerlei Probleme mit Annahmen reiner Makrokausalität zwischen „sozialen“ „Variablen“ bzw., besser, einer Als-ob-Redeweise, und mit dem Verzicht auf jeden Bezug auf Akteure, d. h. die „Kernentitäten“ der Analytischen Soziologie, in „kausalen“ Erklärungen. Zur Analytischen Soziologie siehe auch 7.6. Wie dem auch sei, die Komplexität der Kausalitätsproblematik führt auch im Rahmen der Systemik immer mal zu Schwierigkeiten, denn ein Manipulationskriterium ist hier auch bekannt: „Recall that x and y can be said to be causally related if and only if (a) there is a functional relation between x and y, and (b) there is a mechanism whereby the increment or decrement in x is followed by a change in y“ (Bunge 2003a, 144). Wenn man für „x“ und „y“ nun ohne größere Kontextualisierung irgendetwas Soziales einsetzt, dann erhält man schnell die Idee, Soziales würde für sich wirken und es wären nicht interagierende Menschen, die koordiniert oder unkoordiniert, kooperativ oder konfliktiv, intendiert oder unintendiert vor dem Hintergrund ihrer mentalen „Konstruktionsleistungen“ irgendetwas bewirken. Die Vorstellung nannte man früher in der Soziologie oft „Positivismus“. Die Aufgabe von Sozialwissenschaftlern ist aber unabhängig von solchen Kausalitätsrätseln: „Their task is to study the way individuals combine to produce social facts, how these in turn stimulate or inhibit individual agency, and how the various social systems interact“ (Bunge 1992b, 38). Und dem Programm stehen philosophische Interventionismen ohne jede sozial(meta)theoretische Einbettung sicherlich eher im Weg als dass sie förderlich sind. Andere „Individualisten“ befürchten bereits den Einfluss von philosophischem Interventionismus auf die Realisierung ihrer erklärenden Forschungsprogramme (persönliche Erfahrung).

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

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ihrer Grenzen: „Structures (i. e. sets of relations) can have no power over the things they are the structures of“ (Bunge 1984, 127). Auch Fälle wie die Effizienz bzw. kontrastive Steigerung des Outputs von ökonomischen sozialen Systemen aufgrund von Spezialisierung und Arbeitsteilung oder Arbeitsorganisation müssen nicht wie andernorts durch Kräftemetaphysik und soziale Makro-MikroVerursachung philosophisch erklärt werden (Archer 1982, 1995, Elder-Vass 2010), allein schon, weil nicht gesagt werden kann, worauf die stipulierten sozialen Kräfte (z. B. Arbeitsteilung) genau inwiefern „wirken“: Wirken sie z. B. auf alle Komponenten eines Systems, deren Handlungen, die sozialen Prozesse in dem System oder direkt auf den Output? Stellt man die Frage so, stellt man leicht fest, dass wieder bloß Akteure auf organisierte Art und Weise interagieren. Auch hier scheint eine Erklärung in irgendeiner Form von Modellierung mit irgendwelchen spezifischen (allgemeinen) Hypothesen über Akteure und die Systeme, die sie bilden, zu liegen, und nicht in kaum nachvollziehbarer Kausalitätsmetaphorik. Die philosophische Annahme, dass in solchen Fällen auch noch eine „Kraft“ des Ganzen auf, in oder durch die interagierenden Akteure hindurchwirkt, scheint schlicht überflüssig. Wenn man will, dann handelt es sich bei manchen solcher Prima-facie-Determinationsbeziehungen um Regel- oder Gesetzmäßigkeiten oder um soziale kontrastive Demi-Regs (Lawson 1997) wie „Wenn ein soziales System x jene Typen von Komponenten k1 bis kn mit jener Struktur s und jenem Mechanismus m aufweist, dann hat es den Output o“. So ein Gesetzesschema hat natürlich für methodologische Strukturindividualisten und methodologische Individualisten den Nachteil, dass Handlungen bzw. Interaktionen hier hinter der Struktur s des Systems versteckt sind und ggf. nicht weiter thematisiert werden müssen. Im Rahmen der systemischen Ontologie, die ja komplexer ist als hier dargestellt, werden Gesetzmäßigkeiten jedoch nicht, wie ja tendenziell in Regularitätsmetaphysiken der Kausalität, mit Kausalität identifiziert, sondern dies sind unterschiedliche, wenn auch nicht unabhängige Relationen.435 Es lassen sich also wenigstens Fälle vermuten, in denen eine Erklärungsbeziehung (im Hempelschen Sinn) auf ontischen Gesetzmäßigkeiten beruht, die keine Kausalgesetzmäßigkeiten sind, wobei die Erklärungen Subsumtionserklärungen sind. Auch deshalb bin ich nicht ins Hempel-Bashing eingestiegen. Auch hier müsste man Beispiele finden. In obigem spekulativen Schema einer Gesetzesaussage fällt auf, dass in jener Struktur s des Systems die kausalen Interaktionen bereits stecken, aber auch die anderen bindenden Relationen und selbstverständlich auch die nicht-bindenden Relationen, z. B. räumliche. Auch die räumlichen Relationen bedingen in gewissem Sinn etwas, ohne etwas zu verursachen, denn sie bedingen die Zeit, die z. B. bestimmte Produktionsschritte in Fabriken benötigen. Falls es solche Gesetzmäßigkeiten gibt und sie sogar in tatsächlichen Erklärungen verwendet werden, dann hatte – wie in Kapitel 6 gesagt – Hempel nicht ganz unrecht (vgl. auch Bunge 1967a/b, 1997, 2004a/b), genauso wie im Fall von Handlungserklärungen.436 Wenn der Systemismus nun zwar vielleicht keine Vorstellung von „social causation“ beinhaltet, aber letztlich eine Vorstellung von sozialer Determination, der „Motivation“ und 435 436

Kausalität ist eine gesetzmäßige Relation – es gibt keine Wunder –, aber nicht jede gesetzmäßige Relation ist im Rahmen der Systemik eine Kausalrelation. Es ist auch der weitere Fall einfach plausibel, dass (Veränderungen von) Eigenschaften von sozialen Systemen, sollten sie tatsächlich existieren, keine (Veränderungen von) Eigenschaften von anderen sozialen Systemen verursachen, bloß weil sie einen Unterschied (aus)machen (zumindest im Unterschied zu fiktiven Kontrastfällen in Modellen). Es wäre durchaus interessant, von Fällen zu erfahren, in denen in den Sozialwissenschaften vielleicht so etwas behauptet wird, falls es solche Fälle gibt, also dass Veränderungen von Eigenschaften (Ereignisse) in einem Sozialsystem x eine Veränderung in einem Sozialsystem y verursachen und zudem auf eine ontologisch irreduzible Art und Weise. Da wir auch hier Beispiele erfinden müssten, wollen wir dies abkürzend lassen.

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

„Einschränkung“ von Akteuren durch Makros, dann könnte man an ihn den Vorwurf richten, den der Soziologe J. Macker (2006, 122) an Robert K. Merton und R. Boudon gerichtet hat: „Die Frage bleibt offen, wie diese Strukturen genau Eingang in das Handeln sozialer Akteure finden“, was bloß eine Variante der Frage ist, die Schmid in ontologischer Terminologie an Bunge und dessen Kausalitäts(meta)physik richtete. Zunächst bleibt dies offen, weil die Systemontologie mitsamt ihrer Kausalitätsontologie hierfür keine schablonenartige Lösung hat und natürlich auch gar keine Lösung haben darf und auch keine haben kann, denn dann würde sie Wissenschaft ersetzen Wenn soziale Eigenschaften durch die Köpfe von Personen müssen, wenn man überhaupt davon reden will, dass sie „einschränken“ oder „ermöglichen“ oder irgendwie (handlungs)relevant sind, dann müssen sie trivialerweise für Akteure eine Grundlage für praktische Probleme oder „Handlungsprobleme“ (Schmid 2006a, 27) sein, was sich methodologisch in der Verwendung von Akteurstheorien niederschlagen muss. Im Zweifelsfall braucht man gegenstandsadäquate theoretische Modelle, um eine (wissenschaftliche) Erklärung in einem „methodologisch“ (Kapitel 5.4) zu nennenden Sinn zu erhalten, nicht bloß in einem pragmatischen, erotetischen oder naiv-kausalistischen Sinn. Doch gerade diesbezüglich stellt die systemische Ontologie gar kein Hindernis dar, sondern legt das methodologische Problem bzw. die Forschungsrichtung nahe, gerade weil (a) klar ist, dass bloße Kausalverbindungen kaum etwas oder gar nichts erklären437, wodurch sich (b) die Frage aufdrängt, welche Theorien und Modelle es worüber überhaupt in den Geschichts- und Sozialwissenschaften gibt, worauf (c) die Antwort zu sein scheint, dass dies noch immer unklar ist, obwohl klar ist, dass alles, was irgendwie interessant ist, jenseits der Ontologie in sozial- und geschichtswissenschaftlichen Theorien und Modellen liegt. Anders gesagt: Das methodologische Problem im Kontext der umfassenderen Kausalitätsproblematik (6.3), das in der Frage ausgedrückt wird, was in einer Domäne eine Hypothesenmenge zu einer guten Kausalerklärung macht, kann dann zunächst nur dadurch beantwortet werden, dass danach gefragt wird, welche Theorien oder Modelle über die wirkenden Entitäten zur Verfügung stehen, wobei es sich aus dieser Sicht dann um Akteure (Personen, Individuen) handelt oder Akteure-imSystem, weil es keine anderen Verursacher gibt.438 437

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Zur Vorstellung von „explanation as citing the causes of an event – a conception we should not and do not share“, heißt es auch an anderer Stelle in einem Aufsatz zum Problem des Verstehens von Handlungen: „Many explanations in the natural sciences are not causal in nature, but cite geometrical or other structures as unifying patterns for certain events or facts. In addition, calling a connection between two events ‚causal’ is not very informative since we have no explication of causality to hand which is both broad enough to cover most of our normal explanations and also substantial enough to tell us something informative about the cases in question” (Bartelborth/Scholz 2002, 172). Aus ähnlichen Erwägungen bin ich zuvor davon ausgegangen, dass die Kausalitätsfrage auch im Handlungserklärungskontext sekundär ist (6.2), bis es Neuigkeiten aus den Wissenschaften gibt. Dem Leser wird aufgefallen sein, dass wir zuvor manches durch „begrifflichen Pluralismus“ einfacher hätten lösen können (6.3), indem z. B. Makro-Mikro-Verursachungen durch andere Kausalitätsvorstellungen abgedeckt werden, wie dies auch bereits andernorts geschehen ist (Plenge 2014a). Das Problem ist, dass die Etikettierung von etwas als „kausal“ genauso wenig zum Vorliegen einer Kausalrelation führt wie die Etikettierung von Wetterperioden als „Schafskälte“ daraus Schafe macht (siehe auch Davidson 1990). Natürlich kann man auch sagen, dass die Rede von „Determination“ letztlich die Problemlage vielleicht nur verschiebt (und eventuell verkleistert). Aber entweder gibt es eine spezifische ontische Kausalrelation dort draußen oder eben nicht. G. Albert wird vermutlich sagen, dass der Ausweg in eine Unterscheidung von Kausalität und Determination eine Verwässerung oder Trivialisierung bedeutet, weil der Systemismus in seiner Terminologie damit zugleich ein Individualismus wie auch ein Holismus (vermutlich) ist: „Meine Unterscheidung von methodologischem Individualismus und methodologischem Holismus beruhte hier nun auf der Vorstellung, dass wir sinnvollerweise von methodologischem Holismus sprechen, wenn soziale Ganzheiten kausale Kraft ausüben – Makrodetermination oder Makrokausalität –, wir von methodologischem Individualismus sprechen können, wenn nur Individuen kausale Kraft ausüben“ (G. Albert 2007,

7.5 Die Problematik sozialer Determination (im Rahmen des Systemismus)

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Man kann dies auch positiver ausdrücken und damit sozusagen den eventuellen Nutzen dieser Ontologie im Kausalerklärungskontext zusammenfassend ausdrücken: Sobald die Fragen um dasjenige, was „soziale Kausalität“ genannt wird, etwas geklärt und dadurch entschärft sind, sobald also eine gewisse Mystik verflogen ist, wird aus dem metatheoretischen Problem ein wissenschaftliches und das ontologische Problem verschwindet insofern, als es – unabhängig von Kausalitätsdefinitionen – ein theoretisches Problem wird. Die ontologische Problematik liegt dann – in einigen Schulen – der Problemformulierung zugrunde, die manche mit dem Ausdruck „Mikrofundierung“ (Little 1998, 2010) oder „Mikro-Vertiefung“ (Esser 1996, 102) belegen würden. Die ontologischen Annahmen sind dann die Hintergrundannahmen von sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die auch nicht allgemein akzeptiert werden (6.3). Bunge schreibt in seinen Worten über „what may be called biosocial (or biopsychosocial) mechanisms“: These bridge individual and society. They explain what makes people behave as they do in given social circumstances: what their drives, interests, and intentions are; how they cope with social constraints, stresses, and opportunities; how these shape (inhibit, stimulate, or deflect) individual action. (The first question is investigated by psychological social psychology, whereas the second is studied by sociological social psychology.) (Bunge 1997, 444.) In der „Erklärenden Soziologie“ wird an dieser Stelle des Makro-Mikro-Übergangs bzw. der „Verbindung“ von (deskriptiven) „Brückenhypothesen“ gesprochen. Dies soll dort vermutlich auch darauf hindeuten, dass man für diesen Übergang keine Theorien oder „Gesetze“ zu kennen glaubt. Hier ist zum Beispiel ein signifikanter Punkt, an dem gilt, dass der Systemismus ein philosophischer Ansatz ist, keine Globaltheorie, und mithin keine wissenschaftliche Forschung ersetzen will oder kann (7.1). Eigentlich kann dann auch nicht wirklich überraschen, dass sowohl in der systemistischen Philosophie der Sozialwissenschaften wie auch in der Theoretischen Soziologie so wenig von Kausalität die Rede ist, nicht nur in der Geschichtstheorie, in der sie faktisch keinerlei Rolle spielt. Die Kausalitäten im Sozialen sind die „trivialen“ Kausalrelationen zwischen Akteuren (Menschen) und Menschen und technischen Artefakten, kurz Kommunikation, Kampf und Arbeit, neben Gehirn-Leib-Prozessen. Das Problem ist wohl nicht eine irgendwie ontisch seltsame (soziale) Kausalität, sondern (sozialwissenschaftliche) Erklärung und entsprechende Theorien und oder Modelle, zumindest dann, wenn theorieorientierte Erklärungen von Sozialem oder Geschichten gefragt sind. Die meisten Geschichtswissenschaftler streben so etwas aber wohl auch nicht an. Sie haben also auch dieses Problem nicht. Ich habe vormals (Plenge 2014a) M. Bunge (2009b 1959, 181) mit der Behauptung zitiert, „society does not act on a person, but rather through a person“. Ich würde nun behaupten, man sollte besser das „society“ und das „act through“ weglassen, dann nähert man sich den realen Dingen und Zusammenhängen wohl an und das Erklärungsproblem wird klarer, 343). Hier ist also auch das Unterscheidungskriterium zwischen den Ismen rein ontologisch, zudem kausalitätsontologisch (7.2). Albert glaubt an die Wirkung von „kausalen Kräfte[n] von Makrosachverhalten“ (ebd.), also eine Wirkung des Ganzen (genauer: „einer emergenten Makroeigenschaft“; ebd. 345) auf die Teile, die nicht „reduktiv“, dass heißt durch das Wirken der Teile aufeinander erklärt werden kann (ebd.). Siehe aber auch die Differenzierung unterschiedlicher Ismen in Albert 2005. Dort heißt es auch, „Normen, Institutionen und legitime Ordnungen“ wirkten auf Akteure (ebd. 410) aus der Perspektive ders „moderaten methodologischen Holismus“.

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

obwohl dies dann kausalitäts- oder auch determinationsphilosophisch alles unklarer erscheinen lässt, was es aber ja auch ist.

7.6

Der Systemismus im Kontext: Ontologie und Methodologie, eine liaison dangereuse oder eine Verbindung von Selbstverständlichkeiten? The task of historical research is to explain – i.e., to describe the means and causes of – the development of systems (Topolski 1976, 4).

Wohin sind wir nun in unseren philosophischen Streifzügen gelangt? Wir hatten uns eingangs darauf verständigt, im Rahmen dieser Studie nicht von Beginn an Ontologie zu betreiben und damit womöglich etwas an die Geschichtswissenschaften heranzutragen, was ihnen vielleicht fremd ist, z. B. letztlich immer hochkontroverse ontologische Geschichtsbegriffe (2.1, 7.3.5). Wir haben dann ansatzweise gesehen, dass in geschichtswissenschaftlichen Ansätzen (4.1.5) ontologische Ideen zentral oder zu vermuten sind. Auch in der Opposition von Erklärung, Verstehen und Erzählung spielen teilweise ontologische Kategorien eine Rolle, die auf recht seltsame Art und Weise mit methodologischen Ideen und epistemischen Zielen verflochten werden. Allein dabei kommt es zu metatheorieinternen ontologischen Problemen und Klärungsbedarf, weil die verwendeten geschichts- oder sozialontologischen Kategorien selten geklärt werden, z. B. Struktur, Ereignis, Prozess, aber mit unterschiedlichen Ansätzen und Schulen verbunden werden, was vermutlich auch zu metatheoretischen Scheinkonflikten führt. Die Geschichtstheoretikerin M. Fulbrook schrieb: It is very often precisely those historians who ‚have no time for theory‘ gemeint ist Metatheorie, dp who are most committed to some implicit version of methodological individualism or at least to a scepticism towards anything that might be called ‚social causes‘ or, perhaps worse, explanatory ‚factors‘ (Fulbrook 2002a, 125). Was genau die Individualismen, Holismen oder Realismen sind, die sich gegenüberstehen, ist aber in der Geschichtstheorie genauso selten übersichtlich zu erfahren wie in Sozial(meta)theorie, weil jene Kategorien traditionell undeutlich bleiben und sie jeder tendenziell leicht oder gar völlig anders verwendet. Es kann also eigentlich auch nicht als geklärt gelten, was Fulbrook hier und z. B. Topolski (3.1.5) ablehnen, wenn sie Individualismus ablehnen oder was z. B. Frings (2007a/b, 2008, Frings/Marx 2006) befürwortet, wenn er Individualismus positiv gegenüber steht. Nach dem Vorangegangenen fällt auf, dass auch hier beiläufig von „social causes“ die Rede ist, obwohl Kausalitätsproblematiken ansonsten in der Geschichtstheorie kein Thema sind. In dem geborgten Forschungsprogramm zum Verhältnis von Erklärung und Verstehen (Kapitel 5) wurde das Offensichtliche erneut klar, dass ohne ontologische Annahmen bezogen auf Relata und Relationen kein metageschichtswissenschaftlicher Staat zu machen ist, zumal die Pluralisierung dieser Gegenstände und Relationen eventuell eine Art metatheoretischer Vereinheitlichung zu ermöglichen verspricht, weil z. B. mehr Kategorien zur Verfügung stehen. Diese ontologischen Probleme ergeben sich natürlich zunächst aus der Konfrontation von Geschichtswissenschaftspraxis der Mini-„Anatomie“ mit philosophischen Traditionen (Kapitel 3, 4, 5). Die Erklärung-Verstehen-Erzählung-Tradition scheint vor dem Hintergrund von all diesem nicht nur selbstverständlich voll von Ontologie, obwohl es sie in der dortigen philosophischen Methodologie eigentlich streng besehen nicht geben darf, sondern die methodo-

7.6 Der Systemismus im Kontext

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logischen Ideen erweisen sich häufiger als bloße Methodologisierungen von Ontologien, denn einen Praxisbezug gibt es im Normallfall nicht (Kapitel 6). Bei all dem fällt in einer Konfrontation von Geschichtswissenschaftspraxis, Geschichtstheorie und Sozial(meta)theorie auf, dass die Kategorien, die bei sozialwissenschaftsinternen Debatten zentral sind („System“, „Struktur“, „Prozess“, „Mechanismus“) in der Philosophie der Geschichts- und Sozialwissenschaften und gerade auch in Kausalitätsliteratur selten überhaupt vorkommen und entsprechend auch nicht geklärt werden. Auf das kategoriale Chaos in den Metatheorien der Sozialwissenschaften haben wir zuvor immer mal wieder hingedeutet, das allerdings auch mit genau jenen Kategorien zu tun hat, denn jeder versteht darunter etwas anderes. Das alles bildete also den Überzeugungshintergrund für das Problem dieses Kapitels und das Desiderat einer expliziteren und kategorial komplexeren Ontologie, denn viele metatheoretische Probleme und auch potenzielle Missverständnisse haben in den Metatheorien der Sozialwissenschaften wohl mit kategorialer Armut, kategorialer Isolation oder auch kategorialer Unklarheit zu tun. In diesem Kapitel haben wir ansatzweise das letztlich auch bloß skizzierte ontologische System der Systemik mit Sozial(meta)theorie und manchmal der Praxis der Mini-„Anatomie“ konfrontiert. Dabei haben wir auch versucht, traditionell eher unklare Thematiken der Geschichtsphilosophie im Rahmen dieses philosophischen Systems ansatzweise zu behandeln (z. B. Realismen, Tatsachen, Veränderung). Nach all dem Aufwand und der nun skizzierten Systemik könnte man die folgende Frage formulieren: Handelt es sich bei der systemischen Ontologie sozialer Systeme (inklusive den Geschichten jener Systeme) um Selbstverständlichkeiten oder handelt es sich bei der Verbindung von Ontologie und Methodologie um eine prekäre oder eben gefährliche Beziehung? Schließlich steht eine jede solche Ontologie des Sozialen vor einem Begründungsproblem: Zum einen soll mit ihr die kategoriale Struktur des Sozialen realistisch beschrieben werden, zum anderen ist unklar, auf der Basis welcher sozialwissenschaftlichen Ergebnisse diese ontologischen Thesen begründet sind, die teilweise in Kategorien formuliert sind, die je nach akademischer Herkunft vielleicht seltsam klingen (z. B. System, Zustand, Eigenschaft, Mechanismus) und auch innerhalb der Geschichtswissenschaften teilweise nur in bestimmten Schulen beheimatet sind. Das spricht für eine gefährliche Beziehung, denn eventuell nimmt die philosophische Ontologie etwas vorweg, was nur geschichts- und sozialwissenschaftliche Forschung zeigen könnte. Auf der anderen Seite kann man sich fragen, ob es sich nicht bei der kategorialen Architektonik um Selbstverständlichkeiten handelt, denn jenseits von Emergenz und emergenten Eigenschaften, dem damit verbundenen sozialontologischen Realismus und natürlich Kausalität wird kaum irgendetwas Spektakuläres behauptet und es wird auch größtenteils bloß die kategoriale Terminologie verwendet, die man sogar in der Mini-„Anatomie“ wie auch der Geschichts- und Sozial(meta)theorie an allen Ecken und Enden finden kann (z. B. System, Zustand, Mechanismus). Wir haben auch wiederholt gesehen, dass sich im Systemismus, also der „Alternative zu Individualismus und Holismus“ (Bunge 2000a) kaum Thesen finden, die jene, die sich heutzutage „methodologische Individualisten“ nennen, die ich oftmals eher sozialontologische Realisten nennen würde, nicht unterschreiben könnten, genauso wie manche, die sich „Interpretisten“ nennen. Man könnte z. B. rhetorisch fragen, wer die ontische oder methodologische Adäquatheit von CESM-Modellen bezweifeln würde, die in ganz biederer Forschungspraxis schlicht und ergreifend erkennbar ist, zumindest ansatzweise.439

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Die Brillianz der seit 40 Jahren verfügbaren philosophischen Systemik erkennt man nun daran, dass sie im jüngeren „mechanism movement“ wiederholt neu erfunden wird und dies offenbar auch als notwendig erscheint.

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Natürlich kommt man auf die mögliche Relevanz der Systemik nicht sozusagen induktiv durch den Sprung in die heterogene Praxis, sondern vor dem Hintergrund von Problemen der eher „traditionellen“ philosophischen Erklärungstheorie in ihrer Erweiterung in den „wissenschaftlichen“ Sozial(meta)theorien und ihren allseits implizierten philosophischen Grundannahmen, Voraussetzungen und Problemen („philosophical choices“, 2.2), z. B. im Kontext von Kausalität und Kausalerklärung, bei der gleichzeitigen Feststellung der Allgegenwärtigkeit dieser und ähnlicher Kategorien in den Geschichtswissenschaften. Es ist aber natürlich ein gewisses Maß an Stilisierung dabei, wenn man in der Mini-„Anatomie“ startet und dann bei der Systemik landet. Aber gänzlich willkürlich ist der Weg, wie sich erneut ansatzweise zeigen wird (8.1), nicht. Wenn man von der zufällig gewählten Mini-„Anatomie“ ausgeht und die recht schlechte Passung der philosophischen Tradition feststellen muss und ferner deren ontologischen Hintergrund ahnt, ferner bezogen auf nicht ganz totzukriegende Probleme wie Veränderung, Geschichte und Kausalrelationen (Relata plus Relation) keine klare oder keine Antwort erhält, ferner jüngere Sozialtheorie mit Anknüpfungen an die Tradition und deren Problemlage im Hintergrund hat (Stichwort: soziale Mechanismen), dann ergibt sich die Frage nach dem Klärungspotenzial durch diese für manche befremdliche ontologische Architektonik. Probleme haben aber nach unserer Stipulation einen Hintergrund, den man mitsamt den partiellen Lösungen eben kritisieren kann, soweit Hintergrund, Probleme und Lösungen einigermaßen transparent sind. Es wird nun Zeit, die Kurzfassung des Vorangegangenen den Kurzfassungen von Individualismus und Holismus gegenüber zu stellen (7.2). In drei mal drei Thesen lautete der Systemismus in früheren Formulierungen wie folgt: Systemismus Ontologie: (OS1) Eine Gesellschaft ist weder ein bloßes Aggregat von Individuen noch eine supraindividuelle Entität: es ist ein System von wechselseitig verbundenen Individuen. (OS2) Da eine Gesellschaft ein System ist, hat sie systemische oder globale Eigenschaften. Einige dieser Eigenschaften sind resultierend oder reduzierbar und andere sind emergent – sie wurzeln in Individuen und ihrer Interaktion, aber sie charakterisieren nicht diese Individuen. (OS3) Eine Gesellschaft kann nicht auf ihre Mitglieder einwirken, aber die Mitglieder [eines sozialen Systems] können gesondert auf ein einzelnes Individuum einwirken, und das Verhalten von jedem einzelnen Individuum wird nicht allein durch seine genetische Ausstattung determiniert, sondern auch von der Rolle, die es in der Gesellschaft spielt. Die Interaktion zwischen zwei Gesellschaften ist eine Individuum-IndividuumAngelegenheit, wobei jedes Individuum einen definiten Platz in seiner Gesellschaft einnimmt. Und sozialer Wandel (oder soziale Veränderung) ist ein Wandel in der sozialen Struktur einer Gesellschaft – daher ist sozialer Wandel ein Wandel zugleich auf der gesellschaftlichen und auf der individuellen Ebene (Bunge, 1979b, 16 f.; bei den eckigen Klammern ist im Original von Gruppen die Rede, was wir hier terminologisch anpassen).

7.6 Der Systemismus im Kontext

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Bei OS1 handelt es sich um die These des ontologischen Systemismus auf der sozialen Ebene (7.3.1). Bei OS2 handelt es sich natürlich um die These eines Emergentismus bei gleichzeitiger Unterscheidung von resultierenden und emergenten Eigenschaften (7.3.2). Bei OS3 handelt es sich um eine These wider einen naiven sozialrealistischen Kausalismus (7.4, 7.5), denn weder Gesellschaften noch kleinere Sozialsysteme wirken im systemischen Rahmen auf ihre Komponenten, obwohl auch in obiger Äußerung eine Determinationsbeziehung angenommen wird. In OS3 findet sich auch die nicht unscheinbare These, dass es überhaupt sozialen Wandel oder soziale Veränderungen gibt, nämlich Veränderungen von sozialen Systemen (7.3.5). Zunächst einmal räumt die Ontologie das öfters zu vermutende sozial(meta)theoretische Begriffschaos philosophisch sicherlich ein wenig auf, zumal dann, wenn man die gesamte Kategorientafel als Klärungsfolie heranzieht. Der Soziologe P. Sztompka deutete eine Problematik am Schnittpunkt von Ontologie und Sozialtheorie wie folgt an: In modern sociology one may find such fashionable and influential notions as ‚habitus‘ (Bourdieu), ‚historicity‘ (Touraine), ‚figurations‘ (Elias), ‚mobilization‘ (Etzioni), ‚anomie‘ (Merton), ‚duality of structure‘ (Giddens), ‚agency‘ (Archer) – and many others. It is not easy to say what exactly the referents of these concepts are, what kinds of objects are described, because clearly they are neither people nor systems (Sztompka 1991, 23). Für uns sind hier nicht die Bedeutungen jener Ausdrücke und entsprechende „Theorien“ entscheidend, sondern einfach der letzte Satz. Mit der philosophischen Systemik stehen immer nur zwei Referenten bereit, nämlich Akteure und soziale Systeme (neben Aggregaten). In beiden Fällen kann man dann die Kategorientafel abschreiten und sich fragen, ob man versteht, was mit jenen sozialtheoretischen Begriffen gemeint ist. Zunächst könnten Eigenschaften entweder von Personen oder Systemen gemeint sein, also in diesem Rahmen emergente oder resultierende Eigenschaften. Falls dies noch zu unspezifisch ist, kann man sich fragen, ob es mit diesen sozialtheoretischen „Konzepten“ um Strukturen geht, oder man kann sich fragen, ob man ein statisches CES-Modell bauen kann, um zu verstehen, was gemeint ist. Falls Statik nicht ausreicht, kann man sich fragen, ob man dynamische Kategorien heranziehen muss, also Ereignis, Prozess, Geschichte und Mechanismus bezogen auf Personen oder Sozialsysteme. Wenn man nach diesem Test keine grobe Vorstellung der Ontologie dessen hat, was mit jenen und anderen Begrifflichkeiten gemeint ist, sollte man über diese Begriffe und ihren Nutzen eventuell erneut nachdenken, soweit man die Systemik für nicht gänzlich unplausibel hält. Zumindest ist auch das eine methodologische Konsequenz, die sich aus einer expliziten Ontologie ergeben kann, nicht nur die Klärung der Kategorien selbst, die in Geschichts- und Sozialwissenschaften verwendet werden (wie z. B. Struktur). Im Zweifel hilft auch, sich zu fragen, ob man derartige Begriffe in wenn auch vielleicht vages, aber dafür vertrauteres alltagspsychologisches Vokabular und nicht ontologische Kategorien übersetzen kann. Der Kulturgeschichtswissenschaftler J. Martschukat (2000, 6 f.) glaubt an die Existenz von Diskursen und an deren „Wirkmächtigkeit“. Ihm zufolge bestehen „Kausalnetze und Wirkungsgeflechte“ zwischen „Diskurs und Praxis“. Nicht-diskursive Ereignisse seien mithin „diskursiv präpariert“. Andere Geschichtstheoretiker und Geschichtswissenschaftler werden weder an die Existenz von Diskursen noch an deren „Wirkmächtigkeit“ glauben. Weiter ist bemerkenswert, dass Diskurshistoriker manchmal glauben, dass sich Diskurse verändern bzw. eine „Geschichte“ (2.1) haben, was viele metageschichtswissenschaftliche Fragen aufwerfen

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kann.440 Auch im Fall des Sozialgeschichtswissenschaftlers H.-U. Wehler stellen sich Fragen, wenn dieser beispielsweise über „den Zustand des zusehends radikalisierten deutschen Nationalismus“ erzählt (Wehler 2009. 117). Unzählige weitere Beispiele ließen sich recht problemlos zusammentragen. Wie jede (philosophische) Methodologie wohl eine ontologische Kehrseite hat, so hat diese Ontologie auch eine methodologische. Auch hier sieht man wohl schnell, dass viel von dem Pfiff verloren geht, wenn man bloß drei methodologische Globalthesen listet, denn wir konnten zuvor weit mehr andeuten. Systemismus Methodologie: (MS1) Das angemessene Studium der Gesellschaft ist das Studium der sozial relevanten Eigenschaften eines Individuums wie auch die Erforschung der Eigenschaften und der Veränderung der Gesellschaft als ganze. (MS2) Die Erklärung von sozialen Tatsachen muss auf der Basis von Individuen und Systemen genauso wie ihrer Interaktion erfolgen. Individuelles Verhalten ist erklärbar auf der Basis all der Eigenschaften – biotisch, psychisch, und sozial – des Individuums-in-der-Gesellschaft. (MS3) Soziologische Hypothesen und Theorien müssen in Konfrontation mit sozialen und historischen Daten getestet werden. Aber die letzteren werden aus Daten über Individuen und kleine [Systeme] gebildet, da diese allein (teilweise) beobachtbar sind. (Bunge 1979b; vgl. mit leichten Änderungen Bunge 1997, 267f.; „Gruppe“ wurde erneut durch „System“ ersetzt.) Wenn man den methodologischen Zweifel hier mal kurz beiseite lassen will, dann könnte man die These in den Raum stellen, dass diese oder ähnliche Grundannahmen wohl von nicht gerade wenigen Geschichts- und Sozialwissenschaftlern geteilt werden, ob in Sozialgeschichtswissenschaft (vgl. Little 2010), neuerer Politischer Kulturgeschichtswissenschaft (z. B. Frings 2007a) und der Mikro-„Geschichte“ (z. B. Medick 1996). D. Little (2010) behauptete von seinem „methodologischen Lokalismus“, der bis auf kausalitätsmetaphysische Fragen Ähnlichkeiten mit dem Systemismus aufweist (siehe unten), er werde in so gut wie allen aktuelleren sozialgeschichtswissenschaftlichen Studien implizit zugrunde gelegt. Wenn man einige Thesen aus dieser Ontologie wiederholt, dann klingt es außerhalb von Ontologievergleichen und Vergleichen mit Soziologischer Theorie und konkreten Forschungsbemühungen zumeist nach Selbstverständlichkeit (sobald man über das kategoriale System verfügt!), was insofern seltsam ist, als wir dieses Kapitel unter das Label „Ontologie“ oder gar „Metaphysik“ gestellt haben. Viele haben ja den Verdacht, dass hinter so einem Label notwendigerweise Hochkontroverses, Seltsames oder Unverstehbares lauert und lauern muss. Nimmt man eine CESM-Modellvorstellung als Richtschnur, dann stellt sich zunächst die Frage, was man als (Geschichts-)Wissenschaftler anderes machen kann, als nach den Komponenten eines Systems, ihrer Umwelt, den internen Relationen zwischen den Kompo440

Siehe zum Problemfeld auch, durchaus kritisch, Frings/Marx 2006 und in Frings 2008, 146, zitiertes ontologisches Vokabular, z. B. über Diskurse als „autonome Gebilde“ mit einer „Eigengesetzlichkeit“. Kurki (2008, 169 ff.) möchte „ideas, rules and discourses“ eine kausale Rolle zugestehen.

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nenten und ferner Mechanismen oder internen Prozessen zu fragen. Die erste Frage auch bezogen auf individuelle Akteure ist in der Regel immer, in welche sozialen Systeme sie eingebunden sind oder waren. Man könnte auch meinen, dass ein weiterer Vergleich der innerhalb der Sozialwissenschaften im Rahmen von Ansätzen oder „Paradigmen“ kursierenden Ontologien zu der Erkenntnis führt, dass es sich um Selbstverständlichkeiten handelt, die vielleicht kaum noch spannend sind, wenn man die oftmals rein terminologisch scheinenden Unklarheiten ausräumt und das begriffliche Chaos sichtet und lichtet, z. B. Unklarheiten im Kontext der Rede von „Emergenz“. H. Esser hat so etwas auf beeindruckende Art und Weise für die „Erklärenden Gesellschaftswissenschaften“ in der Soziologie auf 3500 Seiten bezogen auf sozialtheoretisches Vokabular und sozialtheoretische Hypothesen versucht (Esser 1996, 1999, 2000a/b/c/d). Dabei hat er neben theoretischen aus meiner Sicht auch philosophische Brücken zu bauen versucht, z. B. zwischen „phänomenologischer“ und „verstehender“ Soziologie und „positivistischer“ und „erklärender“ Soziologie. Vermutlich ist dieses Werk auch ein umfassendes Beispiel dafür, dass Philosophie und Sozialwissenschaft (nach wie vor) keine getrennten Sphären sind (Kapitel 2.2). Aus meiner systemistisch angehauchten Sicht ist Essers Philosophie eine Form von sozialontologischem Realismus, der ferner die anderen Realismen (7.1) teilt und alles in allem dem Systemismus ähnelt, obwohl sich diese (allgemein-ontologische) Realismen manchmal neben (spezifische) Instrumentalismen gesellen (6.2). Wie wir schon teilweise anhand der Labelitis bezogen auf die Abgrenzung von Ansätzen antizipiert haben, kann man sich allgemein fragen, wo genau die ontologischen und methodologischen Unterschiede bestehen, wenn man sich mit den Labels nicht zufrieden gibt. Das Problem ist wie immer, die ontologischen und methodologischen Annahmen der mit unterschiedlichen Labels belegten Ansätze (7.2) sind nicht ohne Weiteres verfügbar. Wenn man aber, wie oben in Ansätzen geschehen, ontologische Grundideen mit dem expliziteren und klareren systemischen Begriffsrahmen zu vergleichen versucht, dann erweisen sich viele ontologische Differenzen als eher terminologisch denn ontologisch. Beinahe alle Sozialwissenschaftler sind sozialontologische Realisten, wobei in vielen Fällen nicht klar wird, bezogen worauf genau man Realist ist, weil zentrale Kategorien wie „Situation“, „Struktur“, „Institution“ und auch „System“ recht unterschiedlich verwendet werden. Dass sie Realisten sind, wird regelmäßig nicht nur daran deutlich, dass ihre Aussagen die Annahme der Existenz jener „Gebilde“ nahelegen, sondern dass sie im Kontext auch von Kausalität und/oder Determination schreiben. Die Rede davon, etwas determiniere etwas anderes, z. B. ein Makro ein Mikro, setzt in aller Regel voraus, dass das Determinierende existiert. Dass die Vorstellungen von substanziellen Theorien im Unterschied zu ontologischen Annahmen andere sind, ist wiederum ein anderer Punkt und davon unabhängig. Zumindest in den Soziologien, in denen ein expliziter methodologischer Erklärungsanspruch aufrechterhalten wird, ist klar, dass etwas Soziales verstanden werden soll, was die Frage aufwirft, worum es sich dabei handelt. Es gilt auch als klar, dass Soziales Individuen irgendwie einschränkt oder Handlungen ermöglicht, was die Frage aufwirft, wie dies zu denken ist. Und es gilt (in Metatheorie) als privilegierte methodologische Maxime, dass Soziales letztlich über Individuelles-im-Kontext erklärt und verstanden werden muss, weil es sich aus so etwas zusammensetzt, und dass Individuelles nur als im Sozialen „situiert“ (D. Little) adäquat verstanden werden kann: „… it is only human beings who make history“ (Topolski 1991, 334). Wer sonst? Die Frage ist dann, was genau „Kontext“ heißt und wie diese Relationen zwischen „Kontext“ („Situation“, „Institution“, „Struktur“, „Geschichte“) und Akteuren aufzufassen sind, welche natürlich auch die Geschichtsphilosophie der letzten einhundert Jahre immer wieder explizit oder implizit beschäftigt hat (Kapitel 6), worüber mir derzeit auch keine Übersichts-

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darstellung bekannt ist. Dabei scheint es bezogen auf diese Relationen neben ontologischen Unklarheiten bei gleichzeitiger Akzeptanz der Grundproblematik keinerlei oder keinerlei weithin geteilte theoretische Lösungen zu geben, sondern eher onto-methodologische Heuristiken, wie z. B. in den „Badewannen“- oder „Boot“-Heuristiken (Bhaskar 1979, Archer 1982, Boudon 1980, Coleman 1994, Esser 1996, Hedström/Swedberg 1998a), die in ihrer genaueren methodologischen und theoretischen Ausgestaltung selbst dort umstritten zu sein scheinen, wo man eigentlich ein geteiltes Programm auf der Basis einer ähnlichen Philosophie verfolgt. Wie wir teilweise zwischen den Zeilen bereits gesehen haben, wird das Kategorienarsenal der Systemik in diesen, in sich wiederum leicht oder gar stark heterogenen Ansätzen ähnlich verwendet, obwohl diese Kategorien nicht in der begrifflichen Systematik des Systemismus vorliegen und teilweise eine andere Terminologie verwendet wird. Hier klärt die Systemik die metatheoretische Lage, indem sie einfach klarer ist als anderes. „Klärung“ muss durchaus nicht heißen, dass alles besser ist, aber es kann heißen, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Kategoriensystem lohnen kann, weil man daran die eigenen Vorstellungen schärfen kann, selbst wenn man die Details oder auch die Grundannahmen nicht teilt. Ist der Systemismus eine echte Alternative? Verbleibt man im Kontext der Individualismus-Holismus-Terminologie, bietet sich die genauere Frage an, ob Systemismus eine Alternative zu Individualismus ist. In einem Interview, in dem Mario Bunge persönlich Mario Bunge befragt, schrieb er folgendermaßen: Mario Bunge, der Interviewte: Soziale Tatsachen, obwohl sie real sind, sind Wirkungen von menschlichen Handlungen und menschliche Wesen fühlen, wünschen, denken und imaginieren. Daher gilt, wer jene subjektiven Erfahrungen nicht in Betracht zieht, kann weder menschliche Handlungen erklären noch, folgerichtig, soziale Tatsachen. Mario Bunge, der Interviewer: Aber das ist präzise genau das, was die Individualisten behaupten, die du seit einiger Zeit kritisierst (Bunge 1997b, 305). Der Geschichtswissenschaftler und Geschichtstheoretiker J. Topolski schrieb bereits: „Sans la reconstruction de ce que nous avons appelé ‚la structure des motivations‘, il est impossible d’expliquer les différents éléments du processus historique“ (Topolski 1975, 138 f.), wobei in Topolskis Ontologie zumeist Systeme, deren Eigenschaften und Mechanismen in dem Ausdruck „historischer Prozess“ zusammengemodelt sind („the process of history“, „historical reality, which is an ontological unity“), weshalb diese Ontologie auch vergleichsweise unklar bleiben musste. Topolski hätte die systemische Klärung wohl begrüßt, was auch das Eingangszitat nahelegen dürfte, und hat sich auf den Weg gemacht, seine Ontologie und Methodologie in theorieorientierte Erklärungen zu überführen, wobei er vor dem Problem stand, geeignete Akteurtheorien zu finden, um seine marxianisch orientierte Makro-Mikro-MakroOntologie und -Methodologie umsetzen zu können. Das Problem scheint geblieben zu sein (Kapitel 6.2, 7.5). Die „philosophischen Wahlen“, die Topolski getroffen hat, dürften denen der Systemik nicht allzu fern stehen. Einer der unter Soziologen berühmtesten sozialtheoretischen Strukturindividualisten schrieb in ähnlichem Zeitraum: „Will man in der Soziologie Mechanismen angeben, dann muß man zwangsläufig auf individuelle Propositionen zurückgreifen“ (Lindenberg 1977, 81), was so lange klar ist, als man unter „Mechanismen“ Prozesse (in sozialen Systemen) versteht und damit letztlich natürlich Interaktionen zwischen konkreten Personen, denn nur in solchen Interaktionen wird irgendetwas Soziales hervorgebracht und nur hier finden sich Kausalrelationen. Das behauptet zumindest die Systemik in meiner Lesart und auch die Geschichtstheoretiker haben sich darauf letztlich schon geeinigt. Aus forschungspraktischen Gründen wird man häufig darauf aber wohl auch verzichten müssen. Ferner sind zumindest isolierte indi-

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vididuelle Handlungen und Entscheidungen, in die es sich „einzufühlen“ lohnen würde, oftmals sekundär oder uninteressant, was aber mit Leugnung der Relevanz von Personen und ihrem mentalen Mobiliar nichts zu tun hat. Die Systemik klärt zumindest in der hier versuchten Darstellung oder Rekonstruktion im Rahmen einer Klärungsskizze jene ontologischen Annahmen, indem die Kategorientafel explizit ist und nicht erraten werden muss. Zumindest die Erklärenden Sozialwissenschaften und die heutzutage – im Vergleich zu manchem Postmodernismus – eventuell eher „traditionell“ zu nennenden Geschichtstheorien setzen die Existenz von Transindividuellem oder „Transintentionalem“ (Greshoff et al. 2003) voraus. Wie genau ein sozialontologischer Realismus oder der beste sozialontologische Realismus aussehen müsste, wenn er denn am Ende durchzuhalten ist, ist aber noch eine offene Frage. Im Rahmen einer Philosophie „der Geschichte“ (2.1) klärt die Systemik auf bisher meines Wissens unvergleichliche Art die Ontologie von Entstehung, Veränderung und Persistenz von sozialen Entitäten, kürzer, die Ontologie der Geschichten sozialer Systeme. Sie klärt methodologische Annahmen im Rahmen von Makro-Mikro- und „Structureversus-Agency“-Problematiken, indem sie immerhin die möglichen Relata solcher Relationen ontologisch klarer benennt, was die einigermaßen klare Formulierung der Problematik erlaubt (7.4). Dies sind auch potenzielle Explananda oder Intelligenda in (theoretisch orientierten) Geschichts- und Sozialwissenschaften. In einem genaueren Vergleich von geschichtstheoretischen und sozialtheoretischen Ansätzen könnte sich auch zeigen, dass die Systemik dabei hilft zu zeigen, dass viele der unterschiedlichen Ansätze keine großen ontologischen Diskrepanzen haben oder zumindest weniger als gedacht. Die Möglichkeit wurde verschiedentlich angedeutet. Hier wäre ein wechselseitiger Austausch zwischen Philosophie, Sozial- und Geschichtstheorie bezogen auf die Vielfalt der sozialen Relationen und Verbindungen nützlich und nötig. Im Grunde wäre dies ein philosophisches Projekt, das ähnliche Versuche auf sozialtheoretischer Seite zur Überwindung der multiplen Paradigmatitis zuarbeitet. Im Zusammenhang mit der physikalischen Kausalitätstheorie klärt sie, dass Kausaljargon und jenseits von sozial- oder geschichtstheoretischen Kontexten vorgenommene Kausalitätsdefinitionen keine substanziellen Erklärungsprobleme lösen und dass Schlangenmodelle der Kausalerklärung oder ähnliches naiv sind, genauso wie Ketten- oder Baummodelle, was Geschichtswissenschaftler schon immer wussten. Sie sind ontologisch und substanzielltheoretisch naiv. Sie lösen keine methodologischen oder substanziellen Probleme, sondern verdecken wohl zumeist die vielleicht echten Probleme.441 Die Badewannen-Heuristiken sind seit einigen Jahrzehnten der gerade in dieser Hinsicht klärungsbedürftige Ersatz. J. Topolski hatte aus dieser Sicht das Problem auch schon ähnlich wie im sogenannten „Thomas Theorem“ benannt:

441

Die These, dass die sogenannten „Kausalketten“ bzw. ihre Beschreibungen an sich wenig oder vielleicht nichts erklären, ist natürlich alt. Die These war bereits einmal, dass nicht die blanken Beschreibungen von Kausal-Ooohmph erklärend sind, sondern die (Gesamtheit der generellen) Hypothesen im Umfeld der Beschreibungen (Bunge 2009b 1959). Das ist zumindest dann plausibel, wenn ein Problem vorliegt, das nicht anders als theoretisch gelöst werden kann, nämlich das einer Makro-Mikro-Makro-Verbindung. Auch hier gilt (Kapitel 5), dass, je nach Kontext, auch nackte Beschreibungen von Verursachungsrelationen ohne irgendein theoretisches Wissen kontextuell erklärend sind und ein gewisses Maß an Verstehen ermöglichen, z. B. im Fall der in der Forschungsliteratur zu findenden Hypothese, Cato, der spätere Censor, sei auf Ratschlag seines Freundes L. Valerius Flaccus nach Rom gegangen (Quellen: Nepos – Nep. 1.1 – und Plutarch – Plut. Cato 3.1). Hier ist die zentrale geschichtswissenschaftliche Frage (vgl. diesbezüglich Tucker 2004b), ob die allzu spärlichen Quelleninformationen über den Kausallink zwischen zwei Personen – wie Geschichtswissenschaftler manchmal schreiben – „historisch“ ist. Mehr Erklärung und Verstehen ist in diesem Fall – so weit die Daten tragen – ohnehin undenkbar, wie ein Blick in die Quellen verraten würde.

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The conditions of human action are mediated ! by the knowledge and value systems of the agent, which alone make it possible for humans to select alternative courses of action from among those allowed by the natural conditions. Thus the same conditions may lead to different responses, depending on the consciousness of the agent (Topolski 1991, 334). Metaphern wie „Vermittlung“ sind aus der hier erarbeiteten Sicht schlicht der Ort, an dem (wissenschaftliche) Theorien metatheoretische Lücken füllen müssen (siehe z. B. in diese Richtung auch Schmid 2006a, Schmid/Mauer 2010, Esser 1996). Da Akteure sozialen Systemen als solchen beinahe nie direkt begegnen, sondern zumeist einzelnen Akteuren, es keine „Ereignisse“ jenseits dieser Akteure und darüber hinaus noch mit Verursachungspotential gibt („Schlangenmodelle“, „Strukturdeterminismus“, „positivistische“ Regularitätsmetaphysiken) und zu den Besonderheiten sozialer Systeme gehört, dass die Komponenten auf der Basis von in ihrer Geschichte (7.3.5) erworbenen oder gebildeten Überzeugungen miteinander interagierend diese Systeme immer neu konstituieren und sich in ihrer sozialsystemischen Umwelt orientieren, wie Kultur- genauso wie Sozialgeschichtswissenschaftler seit Langem zu wissen glauben (auch im Anschluss an Berger/Luckmann oder Giddens und andere), bleibt für ernsthaft „kausal“ genannte Erklärungen wohl nichts anderes übrig, als diese Interaktionen dort zu untersuchen, wo dies möglich ist und dabei auf explizite Annahmen über jene Akteure und ihre Eigenschaften zurückzugreifen. Das ist natürlich bereits eine onto-methodologische und mithin normative Sicht, die auch davon abhängt, welche Kausalitätsvorstellung man in welchem weiteren kategorialen Umfeld (Relation plus Relata) zugrunde legt. Wenn man im Kontext der Erklärungsliteratur seit Hempel (1942), der kein MakroMikro-Makro-Problem kannte, an der Möglichkeit theoretischer oder theorieorientierter Erklärungen zumindest in manchen Kontexten der Geschichtswissenschaften festhält und anerkennt, dass dies in anderen praktisch unmöglich ist und/oder auch nicht angestrebt wird und werden kann, dann stellen sich ganz einfach die Fragen, die man auch im Kontext der ausufernden Ansätze („Theorie“) und Turns („Theorie“) oder Paradigmen („Theorie“) vielleicht stellen sollte, nämlich welche expliziten Theorien (oder Modelle), also letztlich generelle Annahmen, über welche Gegenstände und welche Relationen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften zur Verfügung stehen oder aber gesucht werden müssen, jenseits von bloßen Begriffsrahmen oder Begriffshaufen und Orientierungshypothesen. Der womöglich heikle Punkt dieser Ontologie ist, wie in jeder anderen, ihr Realismus, denn trotz der scheinbar tatsächlich recht prekären Lage hinsichtlich plausibler sozialwissenschaftlicher Theorien und Modelle geht der Systemismus davon aus, dass die Ergebnisse der Sozialwissenschaften das ontologische Gerüst oder Gerippe stützen, das immer sehr dürr sein muss, weil – so die Hypothese – bloß die allgemeinsten Grundzüge des Realen erfasst werden. Wenn man dann das CESM-Modell betrachtet und zunächst davon ausgeht, dass Wissenschaftler nicht viel anders machen können, dann ist eine Frage, die noch bleibt, ob man nun wirklich an die Existenz von Entitäten oder Dingen, die „soziale Systeme“ genannt werden, glauben darf. Wirft man einen kursorischen Blick auf jüngere erklärende Soziologien, dann wird einerseits klar, dass die basale ontologische Architektonik in vielen Fällen sehr gut dem Systemismus entspricht, der diese teilweise antizipiert hat. Wie bereits angedeutet, entspricht H. Essers (1996) Ontologie hinter dem sogenannten Modell der soziologischen Erklärung (MSE, siehe z. B. Greshoff 2006, 2008a/c) in den ontologischen Grundzügen der Systemik und auch in der methodologischen Grundauffassung. Genauere Vergleiche würden hier ontologisches Klärungspotenzial auf der Seite des MSE auf der Basis der Systemik ergeben, theoretisches Klärungspotenzial hinsichtlich tatsächlicher Modellierung von Makro-Mikro- („Brückenhypo-

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thesen“) und Mikro-Makro-Übergängen („Transformationshypothesen“) auf der Seite der Systemik auf der Basis des MSE. Ein Blick auf die Umsetzung der onto-methodologischen Heuristik in konkreter Forschung ist dann auch angebracht. Beispielsweise ist aus systemischer Sicht unklar, warum man „Aggregate“ und „Organisationen“ im Rahmen der Erklärenden Soziologie unter die Oberkategorie „soziale Gebilde“ subsumieren muss, was die ontologischen Unterschiede aus systemischer Sicht verschleiert (Esser 1996). Es ist auch fraglich, warum in der Erklärenden Soziologie ein recht undifferenzierter Begriff von „Struktur“ verwendet wird, der unter Umständen mehr Verwirrung stiftet als Klärung ermöglicht, z. B. wenn es um den „Einfluss“ (etc.) von etwas, das „Struktur“ genannt wird, auf Akteure geht. Die Systemik klärt tendenziell das unklare Verhältnis dieser Erklärenden Soziologie zu Emergenz und emergenten Eigenschaften. Aus systemischer Sicht ist die gleichzeitige Ablehnung von Emergenz oder emergenten Eigenschaften an manchen Stellen bei gleichzeitiger Akzeptanz von Emergenz oder emergenten Eigenschaften an anderen vor dem Hintergrund der systemischen Analyse klar und sogar nachvollziehbar, denn hier wird ein ontologischer Emergenzbegriff gegen einen epistemischen ausgespielt. Letzterer wird abgelehnt, weil Unerklärbarkeit abgelehnt wird, ersterer wird eigentlich akzeptiert, weil Soziales Gegenstand des Modells der soziologischen Erklärung ist und man eine kategoriale Benennung dieses Gegenstandes in metatheoretischen Debatten letztlich benötigt. Mit ersterem Emergenzbegriff ist verbunden, dass emergente Eigenschaften existieren und dieser ist in der Systemik enthalten, letzterer behauptet, emergente Eigenschaften seien auf der Basis von Annahmen über Komponenten von Systemen und ihren Relationen und insbesondere Interaktionen nicht erklärbar, was in der Systemik nicht enthalten ist. Beide Emergenzbegriffe finden sich manchmal – mit der Systemik gelesen – in der Erklärenden Soziologie gar auf einer Seite (Esser 1996, 404). An manchen Stellen entspricht die methodologische Ansicht der systemischen beinahe vollständig, bis auf terminologische Unklarheiten. Denn in der Systemik wird, wie in Esser Modell soziologischer Erklärung (MSE) in manchen Formulierungen, davon ausgegangen, dass Emergentes durch die „generierenden Mechanismen“ (Esser 2006, 356) immer zu erklären versucht werden sollte und ontologisch-holistische Thesen dieser Bemühung um Erklärung (und Verstehen; 5.2) nicht im Weg stehen sollten, weil Erklärung von Emergenz in den Wissenschaften häufig gelungen sind, Esser zufolge auch in den Sozialwissenschaften (Esser 2006, 356).442 Wie ich zuvor und wie M. Bunge auch, geht auch Esser davon aus, dass ontologische Thesen nicht mit theoretischer Erklärung verwechselt werden sollten (Esser 2006, 356), was in den Sozial(meta)theorien wohl nicht selten ist. Der realistische Anspruch der systemischen Ontologie kann auch in diesem Kontext insofern fruchtbar gemacht werden, als der Anspruch des MSE und anderer erklärender Soziologien und Sozialwissenschaftsmetatheorien meines Erachtens ebenso realistisch ist, d. h. zuallererst, ihr Explanandum soll realistisch interpretiert werden, z. B. auch Topolskis Explanandum der Entstehung von Wirtschaftssystemen. Aus der hier eingenommenen, ontologischen Perspektive verpflichtet dies aber zu möglichst exakter kategorialer Differenzierung, weil ansonsten Unklarheiten drohen, z. B. wenn man in einem Atemzug von „makrosozialen Entitäten“, „Systemen“, „Institutionen“ und „Strukturen“ im Kontext von „Makrodetermination“ spricht (Esser 2006, 356; 7.4) Vor diesem Hintergrund und mit der Systemik im Rücken ist misslich, resultierende Eigenschaften nicht von emergenten Eigenschaften zu trennen und auch statistische Artefakte 442

Esser verwendet den Ausdruck „Mechanismus“ über seine gesamte Soziologie hinweg regelmäßig und behauptet ebenfalls im Rahmen der Erklärungsmethodologie (Esser 1996), Erklärungen hätten immer mit der Modellierung von „Mechanismen“ zu tun. Was damit gemeint ist und wo Ähnlichkeiten und Unterschiede bestehen, auch im Vergleich zu anderen Mechanismussoziologien, kann hier nicht geklärt werden (siehe auch dazu Schmid 2006a).

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

wie Scheidungsraten nicht ontologisch davon zu unterscheiden, weil es zum Beispiel schräg ist, letztere als Explananda von Makro-Mikro-Makro-Erklärungen aufzufassen und jene Erklärungen gleichzeitig kausal zu nennen, denn inexistente Scheidungsraten werden auch nicht verursacht und ihre Erklärung dürfte kaum „kausal“ in irgendeinem interessanten Sinn sein, jenseits einer gänzlich instrumentalistischen Verwendung von Kausalvokabular und DNLogik.443 443

Das glaubt Esser aber wohl auch nicht, d. h. die Kausalität liegt bloß zwischen Akteuren; siehe Greshoffs (2011, 209) auf persönlicher Kommunikation beruhenden (dennoch nicht eindeutigen) Bemerkungen. Vielleicht setzt er deshalb manchmal die Rede von Wirkungen an diesen Stellen in Gänsefüßchen; siehe 7.4, vgl. auch Esser 2006, 356. G. Albert trifft nach meiner Lektüre einen ontologischen Punkt: „Wenn Heintz und Greve in Essers Ansatz Makrodetermination lokalisieren, dann erliegen sie meines Erachtens also dessen rhetorischer Erscheinungsform und gehen an dessen theoretischer Substanz vorbei“ (G. Albert 2007, 344, Fußnote 10; vgl. auch die Badewanne in G. Albert 2005, 393). Freilich ist nicht immer klar, was unterschiedliche Autoren unter „Makrodetermination“ verstehen, allein schon, weil sie ihre jeweilige Ontologie der Kausalität (6.3) nicht offen legen. Hier konnte auf so heikle methodologische Fragen, wie sie im Umfeld des in der Soziologie sogenannten „Aggregationsproblems“ auftreten (auch „Problem der Kombination“, „Problem der Transformation“), nicht eingegangen werden. Dabei geht es um die logische Verknüpfung von Annahmen über (interagierende oder interdependente oder auch völlig vereinzelte) Akteure („Mikro“) mit Annahmen über „Makro“„Phänomene“. Aus der Perspektive der am Logischen Empirismus und Kritischen Rationalismus geschulten Erklärenden Soziologie müssen hier irgendwelche der Form nach generellen Sätze die logische Lücke schließen, die zwischen handlungstheoretischen Annahmen und damit gebauten Erklärungen bzw. Explananda (Beschreibungen singulärer individueller Handlungen) und sozialen Explananda oder Intelligenda besteht. Auch deshalb ist von „Mehrebenenerklärungen“ die Rede. Hier ist vermutlich nur zu beachten, dass es sich aus logischer Perspektive zwar bei unterschiedlichen Typen von Explananda, z. B. statistischen „Fakten“, resultierenden und emergenten Eigenschaften, um dasselbe logische Problem handelt, dass die theoretischen Annahmen, die in jenen Wenn-Dann-Sätzen oder komplexeren Modellen ausgedrückt werden, sich aber fundamental unterscheiden können oder auch müssen. So ist hier zumindest zu vermuten und oben wurde darüber bereits spekuliert. Teilweise ist die Problematik wohl auch bloß rein logisch, was daran auffällt, dass diese Mikro-Makro-Lücke durch dasjenige geschlossen werden kann, was die Erklärenden Soziologen „partielle Definitionen“ nennen, was dann auch heißt, dass bei der Schließung der MikroMakro-Lücke keinerlei erklärende Informationen geboten werden, sondern per Definition festgelegt wird, dass, wenn dies oder jenes passiert ist oder der Fall ist, von diesem oder jenen sozialen „Phänomen“ gesprochen werden darf. An solchen Stellen kann man sich das Ontologisieren und Nachdenken über soziale Prozesse hinter der Mikro-Makro-Verbindung wohl sparen, genauso wie bei der Ableitung von Scheidungsraten (oder Sitzverteilungen im Parlament nach formalen Regeln), denn dort gibt es entweder keine sozialen Prozesse oder die müssen schon vor dem rein logischen Schritt mit theoretisch gehaltvollen Annahmen thematisiert worden sein. Zumindest sollte man wohl logische Probleme („Aggregation“) nicht mit Ontischem verwechseln (z. B. Emergenz). An der Stelle, die in den Modell-Heuristiken „Problem der Aggregation“, „Problem der Transformation“ oder „Problem der Kombination“ genannt wird, ist aber aus methodologischer Sicht der ontologische „Sprung“ zu verorten, der mit Emergenz verbunden ist, für den im Rahmen der systemischen Ontologie (soziale) Mechanismen verantwortlich sind, die jene emergenten Eigenschaften hervorbringen. Anders gesagt, auch eine ad hoc-Ontologisierung der „Badewannen“ und ihrer Pfeile, z. B. mit der Rede von Verursachung, ist irreführend, weil sich hinter dem sogenannten Mikro-Makro-Link eigentlich die interessanten Hypothesen über soziale Prozesse (oder Mechanismen) verbergen müssen, weil zuvor ja bloß die Makro-Mikro-Verbindung hergestellt werden muss, woraufhin im Rahmen der Erklärenden Soziologie individuelle (typische) Handlungen erklärt werden. Insbesondere – das wissen wir nun – gibt es bei dieser Verbindung keine naiv-kausalistisch aufzufassende Wirkung von Personen auf ein Makro (weshalb auch dieser Link nicht unproblematisch ist; anders G. Albert 2005). Hier ist auch einer der Orte, an dem nach den theoretischen Annahmen gesucht werden muss, die als erklärend gelten (7.5). Frings (2007b, 43) behauptet freilich, das Problem der „Logik der Aggregation“ könne nicht durch „theoretische Modellierung“ gelöst werden, sondern sei ein „empirisches Problem“. In die Systemik übersetzt würde dies heißen, dass es über soziale Mechanismen (und ferner soziale Interaktionen generell) keine theoretischen Modellierungen gibt oder gar geben kann. Siehe hierzu neben Esser 1996 auch Schmid 2009, Greshoff 2012, 2006b, 2008a und G. Albert 2005. Dass hier non-triviale Probleme lauern, kann man auch daran sehen, dass A. Frings (2007a) in seiner konkreten

7.6 Der Systemismus im Kontext

505

Die kategorial undifferenzierte Beschreibung möglicher oder tatsächlicher Explananda (emergent, resultierend, irgendetwas anderes) ist meinem Eindruck zufolge ein metatheoretisches und letztlich ontologisches Grundproblem in der verstreuten Literatur zu Erklärung und Verstehen in den Sozialwissenschaften (siehe auch Plenge 2014a). Es ist auch hier, wie in der traditionellen philosophischen Erklärung-Verstehen-Erzählung-Literatur (Kapitel 6) oder auch mancher Geschichtstheorie (Kapitel 5, Kapitel 4.2) nicht gänzlich klar, was erklärt und verstanden werden soll. Philosophische, sozial- oder geschichtstheoretische Kategorien wie „Ereignis“, „Struktur“ oder auch „Geschichte“ verschleiern das oftmals nur. Die Systemik klärt auch tendenziell die Prozess- oder Geschichtsontologie der Erklärenden Soziologie, deren kategoriale Unklarheiten teilweise aus ontologisch unbestimmten Hempelschen Vorstellungen zu sogenannten „genetischen Erklärungen“ geerbt werden (Esser 1996). Badewannen-Diagramme, die sich primär auf eine Erklärungsheuristik beziehen, deuten zwar eine grobe Ontologie an (Makroveränderungen), sind aber unklarer als zum Beispiel das CESM-Modell in der Erweiterung um die weiteren Kategorien der ontologischen Architektonik der Systemik. Natürlich besteht hier das große Problem, ontologische Sprache mit sozialtheoretischer Sprache und empirischer Forschung in Harmonie zu bringen. Es wird bestehen bleiben. Im Rahmen der methodologischen Makro-Mikro-Problematik fällt aus der Perspektive der Systemik und der obigen Diskussion von Kausalitätsproblemen auf, dass in der Erklärenden Soziologie dieser Übergang auch nicht durch irgendwie „kausal“ zu nennende Hypothesen hergestellt werden soll, sondern durch Deskriptionen („Brückenhypothesen“) und „Verstehen“, was zu heißen scheint, dass man Beschreibungen von „Objektivem“ oder „objektiven Situationen“ sozusagen in die Antezedentia von (Rational Choice-)Handlungstheorien transformiert, vielleicht teilweise auch völlig ad hoc. Hier wäre zu fragen, ob die Kritik zutrifft (Bunge 1996, 1998, 1999, 2003a), dass das „Verstehen“ oder Sich-in-die-Schuhe-desanderen-Hineinversetzen in RC-Ansätzen genauso problematisch ist wie frühere „hermeneutische“ Empathiethesen. Als „traditionell“ verschriene Geschichtswissenschaftler fragen an dieser Stelle beispielsweise einfach, wie sie (in singulären Fällen) etwas über die „Situationsdefinition“ von Akteuren erfahren können, ohne über Ego-Dokumente zu verfügen, in denen Akteure darüber berichten. Der Makro-Mikro-Modellierer wiederum muss nicht nur in den Kopf der Akteure steigen, sondern er muss auch noch jenen „Einfluss“ modellieren und zu entsprechenden Hypothesen über den „Einfluss“ von „Situationen“ auf Handlungswahlen gelangen. In der Metawissenschaft fragt man nach der Begründung solcher Thesen. Auch hier wird man zur Klärung auf Studien aus der Erklärenden Soziologie zurückgreifen müssen. 444 Aber klar ist, dass hier eine echte Schwierigkeit besteht, was daran deutlich wird, dass auch die ontologische Lage nicht einfach ist und Kausaljargon rein gar nichts zeigt. Auf den ersten Blick ähnelt auch die Metatheorie der Analytischen Soziologie derjenigen des Systemismus (siehe auch Wan 2011b). Zum Beispiel adaptiert die Analytische Soziologie aus der Biophilosophie die Bestimmung von sogenannten Mechanismen (im Systemismus: Systemen) als „Konstellationen“ von Entitäten. Im Rahmen der Systemik handelt es sich bei

444

Forschung mit dem Problem kreativ umgehen musste, weil er in der Erklärenden Soziologie für seinen historischen Fall keine vorgefertigte (formale und theoretische) Lösung finden konnte, worauf hier ebenso wenig eingegangen werden kann. Wir haben schon gesehen, dass dieses Problem der Mikro-MakroVerbindung bei Topolski eigentlich nicht vorkam (3.1.5). Auf dem Flur wird freilich gefunkt, dass man in konkreten Studien nicht versucht, in den Kopf von konkreten Akteuren zu schauen, sondern „objektive“ Daten so behandelt, als hätten die Akteure davon Kenntnis, sodass die Modellierung eines „Einflusses“ und der entsprechenden „Interpretationsleistungen“ von Akteuren („Logik der Situation“) wohl faktisch ausfällt. Ob das Gerücht zutrifft, weiß ich allerdings nicht; siehe jedoch ähnlich Frings 2008, 143.

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der „Konstellation“ um die (interne) Struktur eines Systems und damit die Gesamtheit der (bindenden und nicht-bindenden) Relationen zwischen den Komponenten der „Konstellation“. Vor dem Hintergrund der Systemik fällt auf, dass der Ausdruck „Konstellation“ aus der Biophilosophie in der Analytischen Soziologie nicht erkennbar in einen sozialtheoretischen Kontext übersetzt wird, also gesagt wird, was eine „soziale Konstellation“ ist. Auch allgemein muss man extrapolieren, dass mit „Konstellation“ die Gesamtheit irgendwelcher Relationen in einem „Mechanismus“ gemeint ist, also dasjenige, was im Systemismus als Struktur eines Systems firmiert. Auch hier müsste man also etwas über jene Relationen erfahren. Man erfährt aber so gut wie nichts. Vor diesem Hintergrund der Systemik fällt auch auf, dass die Analytische Soziologie zwar den Ausdruck „soziale Struktur“ häufiger verwendet, aber auch nicht im Allgemeinen expliziert wird, worum es sich dabei grob handelt. Ferner will die Analytische Soziologie sogenannte „soziale Phänomene“ oder „Ergebnisse“ („outcomes“) erklären, verfügt aber über keine klare Kategorie, um diese sozialen Phänomene begrifflich dingfest zu machen, z. B. eine Eigenschaftsontologie, eine Sachverhaltsontologie oder eine Ereignisontologie. Die Systemik verfügt immerhin über all dies im Paket. Auch hier bietet sich wechselseitiges Klärungspotenzial, obwohl die Analytische Soziologie den Systemismus für mit „philosophischem Ballast“ beladen erklärt und die Debatte kurzum beendet hat (Hedström/Ylikoski 2010), obwohl es sie wohl kaum gab. Die Adaption von Philosophien (aus der Biophilosophie) in der Sozial(meta)theorie, ohne sie dann kritisch zu diskutieren, scheint genauso zweifelhaft wie kritikfreie Adaption von postmoderner Phobosophie in mancher Geschichtstheorie. Wie dem auch sei, an verschiedenen Punkten lässt sich vor dem Hintergrund der Systemik fragen, ob die Ontologie oder Sozialtheorie – falls dies in den meisten Fällen nicht doch dasselbe ist – der Analytischen Soziologie dieser wirklich so weit ähnelt, wie die Terminologie und die allgemeine Methodologie zunächst nahe legen. Vor dem Hintergrund der CESMModelle fällt auf, dass in der Analytischen Soziologie die sogenannten „Mechanismen“ als „Konstellationen von Entitäten und Aktivitäten“ aus recht heterogenen Gegenständen zusammengesetzt sein können, z. B. „beliefs“, „desires“ und „opportunities“. Hier existieren Ganzheiten („Mechanismen“), deren Komponenten Wünsche, Überzeugungen und Opportunitäten wohl sein sollen. Viele ontologische Kategorien, die im Systemismus expliziert werden, werden im Rahmen der Analytischen Soziologie unexpliziert verwendet, was insofern nicht schlimm ist, als Sozialwissenschaftler vielleicht nicht auch noch Ontologie betreiben sollen oder müssen, obwohl immer mehr dies scheinbar machen, weil noch immer viel unklar ist. Aber der Systemismus kann hier prinzipiell zunächst begriffliche Klärung verschaffen. Auch die Analytische Soziologie ist in ihrer Metatheorie dem Anspruch nach realistisch. Wie bereits angedeutet, scheint auch sie über keine realistische Kategorie eines sozialen Explanandums zu verfügen, denn es heißt zwar (s. o.), „emergente Eigenschaften“ oder „soziale Phänomene“ sollten erklärt werden. „Emergente Eigenschaft“ wird aber rein epistemisch oder, wenn man will, instrumentalistisch aufgefasst. Vor dem Hintergrund des hier nur am Rande vorgenommenen Vergleichs mit dem pan-dispositionalistischen Sozialrealismus wird erkennbar, woran dies primär liegt. Es liegt zunächst daran, dass die Analytischen Soziologen den pan-dispositionalistischen Realismus, wie er im Critical Realism und auch D. Littles Lokalismus zu finden ist, ablehnen, weil sie der Verbindung oder, besser, Identifizierung von emergenten Eigenschaften mit „social causal powers“ und die recht mystischen Annahmen über Makro-Mikro-Kausalität oder Kausalität zwischen „Ebenen“ im Rahmen ihrer (philosophischen) „Prinzipien“ (Hedström 2008) nicht akzeptieren. Vor dem Hintergrund des Systemismus wird die Feinheit klar, dass emergente Eigenschaften mit „causal powers“ überhaupt nichts zwingend zu tun haben müssen, denn causal powers gibt es in dieser Ontologie letzt-

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lich nicht. Ein Kommentator hat das im Rahmen der seltenen Vergleiche sozialontologisch realistischer Metatheorien bemerkt: „Bunge defines emergent properties not emergent powers. This distinction is obscured by many theorists“ (Nash 1999, 458). Der Unterschied wird aus meiner Sicht verunklart, weil eine irgendwie noch so eben intuitive Vorstellung von „sozialer Kausalität“ in der Sozial(meta)theorie offenbar gerettet werden muss, was zunächst einfacher ist, wenn man die Existenz von (strukturellen) „Kräften“ (causal powers) postuliert, obwohl man (i) über die Art und Weise ihrer Wirkung, (ii) die Manifestationsbedingungen von „social powers“ wie auch (iii) ihre Träger kaum Klares sagen kann. Über die Art und Weise der Wirkung kann man gerade nichts sagen, weil man im selben Atemzug unter Umständen auch sagt, eine „reduktive“ Erklärung der stipulierten Wirkung sei unmöglich, was man auch sagen muss, weil andernfalls die Annahme der „Wirkung“ des „Ganzen“ oder von dessen „Eigenschaft“ auf die „Teile“ überflüssig zu werden droht. In einem solchen Fall kann also prinzipiell auch keine ontologische Story über die Art und Weise der Wirkung von „Makro“ auf „Mikro“ erzählt werden, sondern sie muss schlicht akzeptiert werden, was die Frage noch umso drängender auf die Tagesordnung hebt, ob man diese Wirkung theoretisch plausibel machen kann.445 Der Systemismus erweist sich dann im Vergleich mit pan-dispositionalistischen Sozialrealismen als weitaus weniger mystisch, allein dadurch, dass die Komponenten jener kleineren oder größeren Systeme ontologisch klar benannt werden und ihre klare Benennung in Forschung eingefordert wird. Ferner ist auch klar, was womit genau interagiert, nämlich konkrete Akteure (Personen), und bei allem Weiteren würde ich zuerst nach theoretischen Erklärungen der Makro-Mikro-„Determination“ oder des Makro-Mikro-„Einflusses“ oder der Makro-Mikro-„Einschränkung“ fragen.

445

Aus meiner derzeitigen Sicht (6.3, Plenge 2014a) steht auch eigentlich die Klärung der Frage noch aus, was eigentlich eine solche Kraft oder causal power im Fall des Sozialen genauer sein soll, denn man kann im Pan-Dispositionlismus noch nicht einmal sagen, eine Kraft (oder Disposition) sei dasjenige, was sich unter bestimmten Manifestationsbedingungen zeigt, weil diese Manifestationsbedingungen niemand benennt. Und wenn man sagt, eine Kraft eines Sozialen sei halt die Fähigkeit dazu, eine Wirkung hervorzubringen (in Plenge 2014a), wird bloß immer wieder das vorausgesetzt, was zu plausibilisieren wäre, nämlich dass Soziales über Kräfte verfügt. Dasselbe wird in der Argumentation vorausgesetzt, die (postulierte) Wirkung einer Kraft einer „structure“ spreche für ihre Existenz (z. B. Archer 2000), z. B. auch, weil dieses Postulat etwas (in irgendeinem Sinn, vermutlich einem metaphysischen) „erkläre“, wobei es keine theoretischen Modelle für die Erklärung der Wirkung zu geben scheint. Nachgewiesene Rückwirkung von etwas auf einen Stimulus gilt nicht nur in der Systemik als gutes Realitätskriterium (Bunge 2010c, 71). In entsprechenden Fällen im Social Realism kann aber allein schon nicht gesagt werden, wie man auf eine Ganzheit („structure“) mit vermeintlicher Wirkungsfähigkeit sui generis wirken könnte. In Bhaskars frühen Ideen war die Annahme (zumindest bezogen auf die Naturwissenschaften), dass man das Vorliegen einer emergenten „causal power“ durch die Dekomposition des „Mechanismus“ erklären könne, indem man also zeigt, dass ein Ganzes eine Fähigkeit oder „Kraft“ hat, welche die Teile nicht haben (siehe auch Collier 1994), weil die Teile in einem gewissen Arrangement verknüpft sind. Aber das ist gerade nicht der Fall, der in der Sozial(meta)theorie erkennbar relevant ist (6.3), zumal dieser Fall mit MakroMikro-Wirkung wieder gar nichts zu tun hat. Und in vielen Fällen der Rede von sozialen Kräften und „social causal powers“ (von „Strukturen“ oder „Institutionen“) ist eine solche Dekomposition unmöglich, weil es sich bei den Trägern jener Kräfte oder Powers unter der Hand um abstrakte Gegenstände handelt (siehe unten), die nicht über „Fähigkeiten“, „Kräfte“ oder „Dispositionen“ verfügen und verfügen können, die von irgendwas oder irgendwem getriggert werden oder auf andere Weise wirken könnten.

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Abbildung 34

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„A typology of social mechanisms“(aus Hedström und Ylikoski 2010, 59). Hedström und Ylikoski unterschreiben die Wanne mit „A typology of social mechanisms“. Aber ist der „Action-formation mechanism“ auch sozial? Wirkt Makro auf Mikro?

Die Hintergrundontologie der Analytischen Soziologie mahnt aber dennoch zur methodologischen Skepsis gegenüber der Systemik. Denn erstens zeigt auch diese Sozial(meta)theorie, dass es in den Sozialwissenschaften keinerlei klar geteilten Hypothesenbestand gibt, auch nicht über soziale Systeme, soziale Prozesse oder soziale Mechanismen. (Die einzige herausgehobene Hypothese ist dort die BDO-Handlungstheorie!) Es gibt ja letztlich kaum eine ontologische Einigkeit in irgendeiner basalen Hinsicht, wenn man sich mehr in der Breite umschaut, also nicht nur den eher analytischen oder erklärenden Strömungen. Auch gemäß den „Prinzipien“ der Analytischen Soziologie muss dieser Hypothesenbestand weitgehend erst noch generiert werden. Eine solche Annahme über den Mangel an konkreten Hypothesen über „Soziales“ scheinen alle Erklärenden Sozialwissenschafts(meta)theorien zu teilen. Wenn dem so ist, dann kann oder muss man sich aber, wie bereits angedeutet, im Rahmen von wissenschaftsorientieren philosophischen Überlegungen erstens fragen, inwiefern ontologische Ideengebäude realistisch gedeutet werden können. Und zweitens zeigt sich dann, dass die Analytischen Soziologen gerade auf die Annahme der Existenz von sozialen Systemen zumindest explizit verzichten wollen, reden sie doch eher über (undefinierte) „soziale Phänomene“ und „Mechanismen“, von denen eben nicht klar ist, ob diese Kategorie die Stelle einnehmen kann oder soll, die im Rahmen der Systemik von der Kategorie eines realexistierenden Systems eingenommen wird. Auf die möglichen ontologischen Inkonsistenzen können wir hier nicht eingehen. Denn würden Analytische Soziologen genauer sagen, was sie mit „Konstellation“ (siehe unten) oder „soziale Struktur“ meinen, dann würde vermutlich herauskommen, dass sie mit „Mechanismus“ ansatzweise dasselbe meinen, was im Systemismus als „System“ bezeichnet wird. Dann müssten aber manche der „soziale Phänomene“ genannten Explananda („social outcomes“) als Eigenschaften aufgefasst werden, was scheinbar in der Analytischen Soziologie nicht vorgesehen ist, denn Emergenz wird instrumentalistisch

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gedeutet und ein Ersatz ist nicht in Sicht. Soweit die „sozialen Phänomene“ kategorial unbestimmt sind, muss auch unklar bleiben, was genau die Relata in Makro-Mikro-Verbindungen sind, die bekanntlich in unterschiedlichen Metatheorieströmungen mal „Situation“, mal „Struktur“, mal „emergente Eigenschaft“, „Power“ oder auch „Institution“ genannt werden. Wäre das jedoch so, dann wäre der „philosophische Ballast“ der Systemik einerseits bloß terminologisch und dieselben Annahmen finden sich letztlich auch in der Analytischen Soziologie. Andererseits sind Unterschiede auch groß. In einer jüngeren Definition dessen, was „Mechanismus“ oder „sozialer Mechanismus“ meint, hieß es im Rahmen der Analytischen Soziologie: Ein sozialer Mechanismus ist eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die so organisiert sind, dass sie regelmäßig einen besonderen Ergebnistyp hervorbringen (Hedström 2008, 52-53; vgl. ebd. 25, 42; vgl. Machamer et al. 2000). Hier fällt im Rahmen der Systemik auf, dass – wörtlich genommen – dann auch eine Kaffeemaschine ein sozialer Mechanismus ist. An anderen Stellen fällt auf, dass auch sogenannte „Opportunitäten“, die als dem Akteur extern aufgefasst werden (wie in früheren Texten „Situationen“, Hedström/Swedberg 1998, 23, Kapitel 7.1), mit Wünschen und Überzeugungen solche „Konstellationen“ von „Entitäten“ und damit (soziale?) Mechanismen bilden können sollen (Hedström 2008, 200). Vor dem Hintergrund der (impliziten) Ontologie der Analytischen Soziologie ist wiederum nicht klar, welche Entitäten genauer zu jenen „Mechanismen“ genannten Gegenständen gehören. Nicht gänzlich unverständlich ist die von A. Pickel gegenüber der „Mechanismus“-Metatheorie von Jon Elster wie auch der Analytischen Soziologie geäußerte Kritik, deren soziale Mechanismen seien letztlich psychisch (Pickel 2007), sie laufen nicht in sozialen Systemen ab, sondern in Gehirnen.446 Was worauf wirkt, ist in der Analytischen Soziologie, wie auch sonst überall, letztlich unklar. Von Systemen ist verschiedentlich auch die Rede, obwohl „System“ nicht zur expliziten Kategorienmenge gehört (z. B. Hedström 2008, 16). Beispielsweise ist davon die Rede, „collective dynamics“ sollten verstanden werden und dazu müsste man „the collectivity as a whole“ untersuchen, was aber Folgendes nicht heiße: „but we must not study it as a collective entity“ (Hedström/Ylikoski 2010, 63). An solchen Stellen ist immer die Frage, was der Unterschied zwischen einer „Kollektivität“ und einer „kollektiven Entität“ ist, worauf wir verschiedentlich einzugehen versucht haben (7.3.1). Vermutlich meinen Hedström/Ylikoskis mit „kollektive Entität“ etwas irgendwie jenseits aller Akteure, also eine Form von sozialontologischem Dualismus. Hedström schreibt dann auch kritisch von „autonomer Existenz“ dieser 446

„Roughly speaking, mechanisms are frequently occurring and easily recognizable causal patterns that are triggered under generally unknown conditions or with indeterminate consequences“ (Elster 2007, 36). Elster scheint auch zu glauben, dass Wissen von solchen „causal patterns” in Sprichwörtern aus dem Alltag transportiert werden. Der Eindruck liegt aber nicht alzu fern, dass man von expliziten Kausalrelationen oder gar besonders engmaschigen „Ketten“ beinahe nichts weiß, wenn in diesem Sinn von „Mechanismen“ die Rede ist, sondern eher von schwachen Erfahrungsregeln wie „Mehrere Köche verderben den Brei“. Engmaschige Kausalsequenzen verbinden aber gerade andere mit dem Ausdruck „Mechanismus“ im Kontext sozialwissenschaftlicher Erklärungen (siehe z. B. Greshoff 2015). Auch manche Beispiele in Hedström 2008, dessen Mechanismusbegriff erneut nicht viel oder nichts mit dem Elsterschen gemein hat, erinnern, trotz der dortigen Kritik an Vorstellungen von Covering-Law-Erklärungen (Kapitel 6.1), eher an Covering-LawErklärungen auf der Basis phänomenaler Regularitäten als an „Mechanismen“. Natürlich fällt auch auf, dass sich wenig geändert hat, wenn man im Kontext der Erklärung von Handlungen Belief-Desire-Opportunity„Konfigurationen“ ad hoc zu „Mechanismen“ oder „action-formation-mechanisms“ erklärt, außer dass gegenüber der Hempel-Dray-Kontroverse (6.2) die Ontologie seltsam wird. Hier ist die Rede von mentalen Gesetzen/Gesetzmäßigkeiten wohl weitaus plausibler als „mechanism-talk“ (7.3.6).

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„sozialen Entitäten“ und ihrer „kausalen Kraft“ (Hedström 2008, 108). Hier wird wiederum der Critical Realism kritisiert und damit Annahmen, die im Rahmen der Systemik keine Rolle spielen, die diesbezüglich der Analytischen Soziologie eventuell weit mehr ähnelt als dem Critical Realism. Die Analytische Soziologie redet jedoch trotz der Ablehnung der Annahme von „kollektiven Entitäten“ und emergenten Eigenschaften davon, dasjenige, was sie „Mechanismen“ nennen, würde „Veränderungen“ hervorbringen (Hedström 2008, 42). Die philosophische Preisfrage lautete: Was verändert sich aber dann? Und was ist Veränderung? Eventuell erweist sich hier das Fehlen einer Systemkategorie als ontologischer Mangel. Wenn es die „Mechanismus“ genannten Gegenstände („Konstellationen“) selbst sein sollten, die sich verändern, dann ist „Mechanismus“ in der Analytischen Soziologie dieselbe Kategorie wie „System“ in der Systemik – und die Systemik ist klarer.447 Der Analytischen Soziologie fehlt letztlich trotz der Übernahme der Input-Output-Terminologie in der Ontologie eine klare Kategorie für jene Box, die im Systemismus ein soziales System ist, das z. B. nicht gleichzeitig aus „beliefs“, „desires“ und „opportunities“ bestehen kann (Abbildung 34). Es fehlen auch Kategorien zur Benennung der Outputs: „Auf jeden Fall ist eine Diskussion von Emergenz unter realistischen Vorzeichen etwas völlig anderes als eine solche unter instrumentalistischen Vorzeichen“ (G. Albert 2007, 346). Anderseits lässt sich mit der Analytischen Soziologie an den Systemismus die kritische Frage richten, inwiefern die Annahme der Existenz von Systemen, ihren Eigenschaften und Geschichten notwendig ist. Ferner lässt sich fragen, inwiefern Sozialwissenschaftler, die immerhin eine ähnliche Metatheorie voraussetzen, in konkreter Forschung wirklich Systeme im Sinne des Systemismus untersuchen. M. Bunge behauptet öfters: Sozialwissenschaften untersuchen soziale Systeme. Vor dem Hintergrund der in der Analytischen Soziologie skizzierten Forschungsbeispiele (Hedström 2008) darf man dies in dieser Allgemeinheit auch bezweifeln. Wir kommen im Rahmen des Rekurses auf die Mini-„Anatomie“ darauf zurück. Allerdings kann man dann auch an die Analytische Soziologie die Frage richten, ob ihr eigenes Erklärungsprogramm überhaupt etwas mit dem aus der Biophilosophie übernommenen Mechanismusbegriff zu tun hat. Denn erstens sind die Komponenten jener „Mechanismen“ in der Biophilosophie materielle Objekte und z. B. nicht „Situationen“, „beliefs“ und „desires“, und zweitens wäre zu klären, in welchem Verhältnis die Modellierungstechnik agenten-basierter Modelle mit jener Mechanismusontologie und dem damit verbundenen Erklärungsideal steht. Ein intuitives sozialwissenschaftliches Erklärungsverständnis ist auch mit jenem Mechanismusbegriff wohl nicht zu bekommen, mithin also auch kein Ideal. Wenn z. B. „Konstellation“ und „outcome“ unbestimmt bleiben, dann erfüllt jede Beschreibung der Verspeisung eines Kuchens auf einem Kindergeburtstag bereits jene Mechanismusdefinition. Aber inwiefern damit eine sozialwissenschaftliche (oder in einem aufgeladenen Sinn geschichtswissenschaftliche) Erklärung gelungen ist, dürfte auch in den Augen Analytischer Soziologen dann noch offen sein. Warum? Weil man glauben könnte, dass deren Erklärungsideal etwas mit der Verwendung von handlungstheoretischen Annahmen (BDO-Theorie) und Computersimulationen im Kern zu tun hat, und nicht mit jener Mechanismusdefinition. Auch an solchen Punkten würden letztlich nur klare Beispiele aus echter Forschung nutzen. Es ist immer wieder auffällig, dass es nicht nur für Gesetze (oder explanatorische Gene447

Wenn von Veränderungen und ihrer Verursachung die Rede ist, dann stellt sich im Rahmen der späten Adaption von Interventionsdefinitionen von „Kausalität“ auch die Frage, an welchen „Variablen“ der Forscher in Gedankenexperimenten oder Computermodellen herumschraubt. Da es keine Eigenschaftsontologie, keine Ereignisontologie und keine Ontologie sozialer oder individueller Tatsachen im Rahmen der Philosophie („Prinzipien“) der Analytischen Soziologie gibt, muss dies unklar bleiben, es sei denn, Beispiele legen das eindeutig fest. Diese sind mir bisher nicht bekannt, was nicht heißt, dass sie nicht existieren. Der Systemismus kann auch hier als kritische und vielleicht auch zu kritisierende Kontrastfolie dienen.

7.6 Der Systemismus im Kontext

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ralisierungen), Kausalbeziehungen und Mechanismen kaum (klare) Beispiele in der Metatheorie der Sozialwissenschaften gibt, sondern auch nicht für „Kollektiveigenschaften“, „kollektive Effekte“, „soziale Phänomene“, „Situationen“ oder eben emergente Eigenschaften. Auch hier werden sozialontologische Realisten weiter wühlen müssen, um ihre Ontologie zu plausibilisieren. Dies ist nur die metasozialwissenschaftliche oder philosophische Seite, deren praktische Medaille die weitere Umsetzung der metatheoretischen Annahmen der Erklärenden Sozialwissenschaften in diesen Wissenschaften ist, darunter – zumindest teilweise – auch die Geschichtswissenschaften (z. B. Frings 2007a/b, 2008). Auch die Lage in der weiteren Mechanismusliteratur der jüngeren Sozial(meta)theorie ist unklar. Auch hier ist es so, dass die systemische Vorstellung sozialer Mechanismen aufgrund des klareren kategorialen Kontextes eine Klärung von anderen Vorstellungen verspricht. Im Rahmen der Literatur zu sozialen Mechanismen und mechanismischen Erklärungen ist wiederum auch nicht klar, dass in der weiteren Literatur zu sozialen Mechanismen und entsprechenden Erklärungen Beispiele zu finden sind, die sozusagen klarerweise mit der Systemik harmonieren und damit für diese sprechen. Bisher gibt es aber wohl keine überaus klaren Beispiele für irgendeine Vorstellung von sozialen Mechanismen und sozial-mechanismischen Erklärungen. Eine gewisse ontologische Vorwegnahme von Ergebnissen, die es (noch gar) nicht gibt, scheint aber ein verbreiteter Zug der Literatur zu sein, schließlich geht es zumeist auch um die Fundierung von Forschungsprogrammen. Der Soziologe J. Mackert hat die Lage prägnant beschrieben: Auch gegenwärtig ist das jeweilige Verständnis davon, was Erklärung sei, was als sozialer Mechanismus begriffen und welche Funktion ihm im Erklärungsprozess zugeschrieben wird, abhängig von der jeweils zugrunde liegenden (sozial-)theoretischen Perspektive. Mit anderen Worten: Es ist die jeweilige Sozialtheorie, die über das spezifische Verständnis und die jeweilige Definition von sozialen Mechanismen entscheidet (Mackert 2006, 106, vgl. auch Greshoff 2015). Ob eine bessere und klarere Bestimmung von sozialen Mechanismen als die systemische vorhanden ist, können und müssen wir hier offen lassen. Auch hier würde man das Paket evaluieren müssen. Wer nicht an die Existenz von sozialen Systemen glaubt, kann natürlich nicht sagen, Mechanismen seien Prozesse in sozialen Systemen. Trotz der mit diesem Verständnis verbundenen Problematiken wird man den Eindruck nicht los, dass andernorts in der Sozialwissenschaftsmetatheorie jeweils dasjenige „Mechanismus“ genannt wird, dessen Beschreibung man aus anderen Gründen für erklärend hält – und nicht umgekehrt. Im Rahmen mancher Äußerungen aus sozialwissenschaftlichen Institutionalismen448 fällt mit der Systemik im Rücken auf (7.1), dass diese Institutionen mal (i) von abstrakten Gegen448

Im Unterschied zu den gleich genannten Begriffen von „Institution“ gibt es eine weitere Vielzahl von Verwendungen. Einige seien erwähnt, zumal mir eine (vergleichende) philosophische Aufklärung der nun weit verbreiteten ökonomischen, politikwissenschaftlichen, soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Institutionalismen nicht bekannt ist: „Institutionen sind soziale Regeln mit Geltungsanspruch“ (Esser 2003, 171). „Eine Institution sei – ganz knapp und allgemein gesagt – eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen“ (Esser 2000d, 2). Michael Schmids Sicht haben wir bereits zur Kenntnis genommen: „Unter ‚Institutionen“ sind keine ‚Sachen‘ (bzw. materiale ‚constraints‘) zu verstehen, sondern wechselwirksame Erwartungen darüber, was andere, in gleicher Weise funktionierende Akteure tun werden, verbunden mit höchst graduell abgestuften Sicherheiten darüber, ob sich die beteiligten Akteure auf ihre Erwartungen verlassen können“ (Schmid 2009, 138). Beiläufig schlägt P. Hedström am Ende seines Buchs vor, „‚Institution‘ als eine übliche Handlungsweise oder als eine allgemein gebräuchliche Überzeugung über die angemessene Handlungsweise zu definieren“ (Hedström 2008, 210). Bekannt ist auch eine Verwendung von „Institution“ im Sinn von „soziales System“ oder „formaler Organi-

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

ständen wie Regeln oder Regelsystemen gebildet sein sollen, (ii) einfach nur solche abstrakten Gegenstände sind, mal (iii) aus solchen abstrakten Gegenständen und konkreten Personen zugleich gebildet sein sollen, wobei dann auch davon die Rede ist, jene abstrakten (sozialen) Entitäten würden als irgendwie „verkörpert“ (Little 2010) und/oder zugleich „extern“ (Fleetwood 2008) auf Akteure wirken, wozu jenen seltsamen Entitäten causal powers zugeschrieben werden. Andernorts handelt es sich bei demjenigen, was „Institution“ genannt wird, schlicht um Überzeugungen von Personen. Bei G. Hodgson (2006, 2), einem Pionier der Institutionenökonomie, heißt es, Institutionen seien „the systems of established and relevant social rules that structure social interaction“. An solchen Stellen ist immer offen, wie „Strukturierung“ genau zu verstehen ist (siehe auch Plenge 2014a), die teilweise mit „Downward Causation“ durch Soziales identifiziert wird.449 S. Fleetwood (2008, 246) schreibt: „Institutions are: systems of established rules; put another way, institutions consist of, or are, constituted by, rules“. An diesem Ort ist vor

449

sation“ oder, sicherheitshalber sei dies eingeschränkt, in einem ähnlichen Sinn. In einem Lehrbuch heißt es: „Die Institutionen, denen die Aufgabe der Deckung des Bedarfs an wirtschaftlichen Leistungen einer Gesellschaft (…) zukommt, nennt man (Wirtschafts-)Betriebe“ (Weber/Kabst 2009, 6). Ein Institutionenbegriff, der der obigen Systemkategorie vermutlich entspricht, findet sich auch in einem Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Walter 1994, 67). Bei demselben Autor heißt es in einem späteren Text (Walter 2006, 24) im Rückgriff auf Douglas C. Norths Institutionalismus: „Ausgangspunkt sind die Institutionen, d. h. die formalen Beschränkungen (Verfassungen, Regeln, Gesetze etc.), informellen Normen (also nichtformale Grenzen wie Sitten, Konventionen, Gebräuche, Kodizes) und die Mittel zur Durchsetzung dieser Begrenzung“. Spannend wird es dann natürlich aus ontologischer Perspektive erst recht, wenn davon die Rede ist, solche „Institutionen“ genannten (sozialen) Abstrakta würden evolvieren oder Veränderungen unterliegen, was viele Institutionalisten anzunehmen scheinen. In einer Metatheorie am Schnittpunkt von philosophischem Realismus und Sozial(meta)theorie mit dem Titel „Institutional Realism“ heißt es: „An institution … is a physical aggregate of participants organized in such a way that their behavior, in the aggregate, serves to reproduce the relevant regularity of behavior“ (Grafstein 1992, 16). Die Fachzeitschrift Borussia titelte (Heft 113, Saison 16/17, 23.09.2016, S. 35): „Christian Streich ist eine Freiburger Institution“. Andernorts werden mindestens noch Regelmäßigkeiten, die sich aus Befolgungen von Regeln (etc.) ergeben, also die obigen Institutionen, wiederum „Institutionen“ genannt und nicht obige Regeln (etc.), ähnlich wie zuvor bei Hedström. Eine vorzügliche Satire auf das terminologische Desaster bezüglich „Institution“, das durchaus vergleichbar ist mit demjenigen bezüglich „Struktur“ oder „Situation“ und durch Hinzufügung der Äußerungen von Philosophen noch komplettiert werden müsste, bietet Esser (2000d, 1). Dort heißt es im Anschluss an die Satire: „Die Soziologie ist gewiß nicht arm an zentral wichtigen, aber nach wie vor nicht eindeutig geklärten Konzepten. Der Begriff der Institution gehört auch dazu.“ In der Mini-Anatomie ist mir bisher nicht wirklich klar geworden, was z. B. Adams (1997) unter „Institutionen“ und „institutionalisierten Relationen“ genauer versteht: „These institutions include (but are not limited to) legal, gender, ethnic, age, family, and religious relations (Adams 1997, 553 f.). Die externen metatheoretischen Einflüsse auf geschichtwissenschaftliche Forschung sind – wie immer – auch in diesem Fall vielfältig (z. B. auch in Kintzinger 2000, Füssel 2006). P. Kriedte (1991, 103, 111, 190, 295, 300) nennt einen im Verlagswesen gängigen „Behülfsschein“ ein „Institut“, das Gesellenwandern eine „Institution“, und auch die Ehe, ein Arbeitshaus sowie die „Allgemeine Armenanstalt“ in Krefeld nennt er eine „Institution“. Shepherd (1988, 420) schreibt von „the impact of the two institutions of partible inheritance and split ownership“. Beispiele folgen im nächsten Satz (Hodgson 2006, 2): „Language, money, law, systems of weights and measures, table manners, and firms (and other organizations) are thus all institutions.“ Einfache Fragen, die aus systemischer Perspektive rhetorisch sind, drängen sich auf: Haben Sprachen, Geld, Firmen und Organisationen mit Tischsitten dieselben Typen von Komponenten? Bestehen sie wirklich gleichermaßen aus Regeln? Falls dies eine unangemessene Frage ist: Was meint „System“? Vgl. eine ähnliche heterogene Beispielsammlung zu „Struktur“ in Fußnote 258, S. 319. Wohlgemerkt, diese heterogenen Institutionen/Strukturen können dann unter Umständen in entsprechenden Ansätzen jeweils als Verursacher und Träger von „social powers“ aufgefasst werden und auch Veränderungen unterlaufen. Wie dem auch sei, kein praktizierender Geschichtswissenschaftler dürfte beispielsweise die Verfassung der Weimarer Republik mit der Weimarer Republik oder, wie es manchmal heißt, „Verfassungsrecht“ und „Verfassungsrealität“ (Wehler 1994 [1973], 60) kategorial verwechseln.

7.6 Der Systemismus im Kontext

513

dem Hintergrund der Systemik immer die Frage, ob mit solchen „Systemen von Regeln“ tatsächlich real existierende Entitäten gemeint sein sollen, wovon man dann ausgehen muss, wenn gleichzeitig die These vertreten wird, sie wirkten auf Personen. Vor dem Hintergrund der Systemik ist dies ein Kategorienfehler, welcher der Verwechslung von Banana Joe (fiktiv) mit Bud Spencer (konkret) gleicht, der darüber hinaus mit der These verbunden ist, Banana Joe wirke durch Bud Spencer. D. Little schreibt: The social thus has to do with the behaviorally, cognitively, and materially embodied reality of social institutions. An institution, we might say, is an embodied set of rules, incentives, and opportunities that have the potential of influencing agents‘ choices and behavior. An institution is a complex of socially embodied powers, limitations, and opportunities within which individuals pursue their lives and goals. A property system, a legal system, and a professional baseball league all represent examples of institutions (Little 2010, 59 f.). Da hier mit dieser Rede von Institutionen und ihrem „Potenzial“ gleichzeitig die Auffassung verbunden ist, dass jene Institutionen über „causal powers“ verfügen und auf Personen wirken, kann man die Frage stellen, ob man nicht eine weniger fragwürdige Ontologie erhält, indem man diese Rede von Institutionen durch die systemische Kategorientafel ersetzt. Denn obwohl es immer so klingt, scheint niemand zu glauben, dass abstrakte Regel-„Systeme“ etwas verursachen, weiß man schon nicht, wo man sie suchen soll, wenn man nicht in die Köpfe von konkreten Personen schaut. Wenn diese abstrakten Regel-„Systeme“ als „verkörpert“ vorgestellt werden, ist fraglich, was es heißen kann und wie es möglich ist, dass diese als soziale Entitäten konzipierten Institutionen (mit ihren ureigenen Kausalkräften!) auf, in oder durch Akteure, die sie verkörpern, wirken. Es ist eigentlich recht offenkundig, dass die Idee alleine so unklar ist, dass es vielleicht besser ist, sie als falsch einzustufen. Beispiele für solche Kräfte gibt es keine. Mir drängt sich immer der Eindruck auf, dass hier die Ideenwelt unter der Hand von konkreten Personen gelöst wird, woraufhin diese dann in reifizierter Form jenen Personen wieder gegenüber treten und auf sie wirken, obwohl eigentlich klar zu sein scheint, dass dies nicht gemeint sein soll. Was ist aber dann gemeint? Es ist auch hier recht wahrscheinlich oder gar offenkundig, dass man bei einem Ergebnis wie in den Kapiteln 7.4 und 7.5 landet, wenn man versucht, die Annahmen und Hintergrundannahmen zu klären.450 Wenn man die unklare Institutionenkategorie durch die vergleichsweise klarere Systemkategorie der Systemik ersetzt, dann wird man die Institutionen, die manche Soziologen generisch als Erwartungen (von Akteuren) auffassen, auch in die Kategorie der sozialen Struktur eines Systems begrifflich integrieren können oder müssen. Dann benötigt man wohl auch keine Annahmen mehr darüber, dass jene „Institutionen“ genannten sozialen Abstrakta, die letztlich bloß sozial geteilt sind (7.3.2), als solche etwas verursachen, weil es geradezu offensichtlich ist, dass es nicht so ist, wie Geschichts- und Kultur(meta)theoretiker doch auch seit Jahrzehnten unter dem irreführenden Label „sozialer Konstruktivismus“ lehren. Auch im Vergleich zum Lokalismus ist das Kategorienarrangement der Systemik weitaus klarer. Little unterscheidet teilweise zwischen obigen Institutionen, (sozialen) Strukturen und (sozialen) Formationen, zudem schreibt er auch teilweise eher beiläufig von Systemen (2010, 56-58, 2007, 354 f.). Die obige Kritik zur Vermischung von abstrakten und konkreten Entitä450

Max Weber hat ja schon gesagt, nicht die Konventionalregel des Grußes nehme den Hut vom Kopf. Es wird wenig helfen, zu behaupten, sie wirke im Heben des Hutes durch den Hutträger, in der Form der Manifestation von social causal powers einer Institution. Genau dasselbe gilt von den Regeln der Fifa, den juridischen Gesetzen in einem „system of law“ oder der Studienordnung eines Philosophischen Seminars (oder dem Philosophischen Seminar als „Verkörperung“ jener Ordnung und ihrer „Anreize“).

514

7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

ten beiseite gelassen, handelt es sich im Rahmen der systemischen Ontologie letztlich jeweils um komplexer werdende Sozialsysteme mit unterschiedlichen Komponenten, nämlich Personen, Sozialsystemen und Gesellschaften. Zur kategorialen Verwirrung muss im Rahmen des Lokalismus dann führen, dass neben Institutionen (und Organisationen), Strukturen und Formationen auch kausale Mechanismen als komplexe Gegenstände (oder Entitäten) eingeführt werden, ohne dass zu bestimmen versucht wird, was dann genauer ein sozialer Mechanismus ist, wobei „Mechanismus“ auch eine Mischkategorie aus „Prozess“ und „System“ ist (siehe im Vergleich 7.3.6). Was ein sozialer Mechanismus ist, wird nicht genauer zu bestimmen versucht, denn die Tafel der sozialontologischen Kategorien wird nicht explizit in die Definition von „kausale Mechanismen“ eingesetzt und dann auch im weiteren Kontext der ontologischen Theorie explizit der Frage nachgegangen, wie die allgemein-ontologischen und sozialontologischen Annahmen bezüglich Kausalität („causal realism“ oder, besser gesagt, eine dispositionale Theorie der Kausalität, 6.3) daran verdeutlicht werden können. Es wird also letztlich genau das nicht gemacht, was auch in der Metatheorie der Analytischen Soziologie nicht gemacht wird: A causal mechanism is (i) a particular configuration of conditions and processes that (ii) always or normally leads from one set of conditions to an outcome (iii) through the properties and powers of the events and entities in the domain of concern (Little 2010, 102; 2011, 277). Eine Frage könnte sein: Sind die Entitäten, die im Sozialen Komponenten solcher Mechanismen sind, nur Personen oder zugleich auch Institutionen/Strukturen, zumal Letztere auf Erstere wirken können sollen und Letztere auch zu jenen „outcomes“ beitragen bzw. jene verursachen? Wir haben zuvor versucht, im Rahmen der Systemik explizit das zu thematisieren, was in anderen, durchaus ähnlichen metatheoretischen Angeboten nicht thematisiert wird. Trotz all der bleibenden Probleme gilt offensichtlich: Die Schönheit der Klarheit des begrifflichen Systems der Systemik kann man hier erneut erkennen, denn im Umfeld dieser Definition sind „configuration“, „condition“, „process“, „outcome“ und „event“ – so weit ich sehe (Plenge 2014a/c) – selbst unbestimmt, sowohl allgemein-ontologisch wie dann letztlich auch sozialontologisch. Ich würde dies nun so einschätzen wollen, dass es wechselseitig am Schnittpunkt von Philosophie, Sozial- und Geschichtstheorie Klärungspotenzial und teilweise Klärungsbedarf gibt.451 Eindeutige Lösungen wird man in einem solchen Feld ohnehin solange kaum erwarten können, wie die Sozialwissenschaften, darunter die Geschichtswissenschaften, sich in eine Fülle von Ansätzen, Paradigmen, Schulen oder Turns zergliedern, die es auch schwierig erscheinen lassen, den Bestand an expliziten allgemeinen Hypothesen, Theorien und Modellen oder auch nur Erklärungen abzusehen, der letztlich einzig und allein ontologische Ideen stützen oder auch nur genauer illustrieren könnte. Es herrscht offenbar allein schon keine Einigkeit darüber, was genauer unter „Hypothesen“, „Theorien“ und „Modellen“ (und natürlich „Erklärung“) zu verstehen ist.

451

Letztlich braucht es detaillierte und breite Untersuchungen zu demjenigen, was hier als Zentralvokabular aller Sozialwissenschaften aufgefasst wird, und das am Schnittpunkt von Metatheorie, empirischtheoretischer Forschung und Philosophie situiert ist. D. h. bezogen auf die Vielfalt der Verwendung von „System“, „Struktur“, „Institution“, „Situation“, „Mechanismus“, „Kausalität“ und „Determination“, „Geschichte“, „Relation“ und „Beziehung“, „Tatsache“, „Eigenschaft“ (und „Emergenz“) und (jeweils dazu hinzugefügt) „sozial“. Ähnliches wird manchmal „Theorievergleich“ genannt. Ich würde es „Ontologievergleich“ nennen.

7.6 Der Systemismus im Kontext

515

Je nach Perspektive erscheint die onto-methodologische Systemik also entweder als annähernd selbstverständlich oder als hochgradig metaphysisch aufgeladen und vielleicht unplausibel. Wenn man beispielsweise nur vom CESM-Modell ausgeht, dürfte wenig sonderlich kontrovers sein. Nimmt man Annahmen von emergenten und resultierenden Eigenschaften hinzu, wird es schon komplexer und vielleicht fragwürdiger. Bloß braucht man die Systeme mit ihren Eigenschaften eben vor dem Hintergrund dieser ontologischen Architektonik genau dann, wenn man Veränderungen von etwas denken will, neben der Komplämentärkategorie, nämlich Kontinuität. Und eventuell ist zunächst bei den Vorzügen der Systemik nicht nur zu verbuchen, dass man mit ihr wenigstens den runden Tisch (2.2) zwischen Philosophie, Geschichtswissenschaft und Sozialtheorie bilden kann, weil die Terminologie immerhin geteilt wird, sondern auch auf ihrer Basis historische und/oder soziale Veränderungen denkbar sind, wobei vergleichsweise klar ist, was damit gemeint ist. Auch die früher verbreitete Annahme, Geschichtswissenschaften hätten primär mit der Erforschung von Veränderungen zu tun, wird wohl nicht (mehr) allgemein geteilt. Aber dass es Veränderungen von anderen Entitäten als Personen gibt, setzten immer noch recht viele, wenn nicht die allermeisten Geschichts- und Sozialwissenschaftler voraus. Im Rahmen von Philosophie und Metatheorie sind zugleich die ontologischen und realistischen Annahmem die heiklen Annahmen. Außerhalb von Philosophie und Metatheorie zweifelt allerdings niemand an der Existenz von sozialen Systemen im Sinn der Systemik, z. B. der Deutschen Bank oder vormals der DDR, und es zweifelt auch niemand daran, dass sich real-sozialistische Systeme von real-kapitalistischen unterscheiden. Auch in eher polit-historischen Lehrbüchern oder „Darstellungen“ ist überall von Systemen und Strukturen die Rede und ganz beiläufig heißt es: „Zweifellos gelang in beiden Fällen [Portugal und Spanien im 20. Jh., dp] der Übergang in die Demokratie und deren Stabilisierung“ (Altrichter/Bernecker 2004, 319), bevor vom „demokratischen System“ die Rede ist. Es kann auch sehr wohl so sein, dass man auf den Rahmen der Systemik an vielen Orten der Geschichts- und Sozialwissenschaften verzichten kann, obwohl von Systemen im bemerkenswerten Unterschied zur Philosophie dort überall die Rede ist. „Eine Ontologie für alle“ gibt es wohl nicht oder nur schwerlich, was andernorts für anderes bereits behauptet worden ist (G. Albert 2007). In der Mini-„Anatomie“ und darüber hinaus in den vielen geschichtswissenschaftlichen Ansätzen muss man auch manchmal diesen Eindruck haben. Aber selbst dort, wo die Systemik sich gegebenenfalls bei erneuter und näherer Betrachtung unzutreffend oder ontologisch vielleicht zu aufgeladen erweisen könnte (z. B. Füssel 2006, Rilinger 1976, Hölkeskamp 2011 1986, Kintzinger 2000, Skocpol 1979, Frings 2007a, Huggett 1988, Hainzmann 1975, Alpers 1995, Millar 1984, 1986, Topolski 1994a, Kirby 1995, Sewell 1985, Jones 1960, Medick 1996), werden notorisch Ausdrücke wie „System“, „Mechanismus“, „Struktur“, „Prozess“, „Ereignis“, „Gruppe“, „Aggregat“ oder auch „Institution“ und „Situation“, und nicht zuletzt „Geschichte“, verwendet, und zwar zumeist (bzw. alles in allem: immer) unexpliziert.452 In diesem Rahmen klärt die Systemik einiges. Zudem ist die Nähe der 452

Um z. B. Rilingers (1976) und Füssels (2006) Rede von „Systemen“ aus der Sicht der Systemik zu betrachten, müssten wir diese erst mit Luhmanns „Systemen“ vergleichen, was hier aber nicht möglich ist. Um über Füssels „Mechanismen“ und „Institutionen“ oder „institutionelle Mechanismen“ etwas zu sagen, müssten wir K.-S. Rehbergs Institutionalismus zur Kenntnis nehmen. Der Eindruck der Vielfalt der Verwendung von „System“ in den Sozialwissenschaften ergibt sich auch aus der Soziologie H. Essers und dessen Integrationsversuchen (siehe Literaturverzeichnis). Ob z. B. die Annales mit dem (ontologischen) Label „Holismus“ gut bezeichnet ist (so beiläufig Schöttler 2015, 381), wäre zu untersuchen und scheint zweifelhaft. Bunge (2010c, 128) nennt ihr Schaffen „systemic historiography“. Die Verwendung von Struktur-, Systemund Institutionenbegrifflichkeiten bei Goubert (1956) und Bloch (1970) wäre im Kontext einer systemischen Perspektive auf die Annales vorzunehmen. Auch andere Schulen oder Ansätze wurden bekanntlich manchmal als „holistisch“ kritisiert, obwohl man eher systemistische Grundideen wird vermuten können (z. B. Historische Sozialwissenschaft, Historische Sozialforschung). Die Herkunft von Struktur- und Prozess-

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7 Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme zu klären helfen?

Metatheorien, die in der gesichteten Praxis recht gut erkennbar sind, zur Ontologie und Methodologie der Systemik manchmal gar recht klar ersichtlich (z. B. Rilinger 1976, Hölkeskamp 2011 1986, Topolski 1994a, Frings 2007a, Medick 1996), was eine weitere und genauere Untersuchung des Verhältnisses nahe legt. Wenn man die methodologische Skepsis einmal ausnahmsweise fahren lassen will, dann kann man sagen, dass klarerweise die Systemik die beste philosophische Explikation des verbreiteten Begriffsfeldes der Geschichts- und Sozialwissenschaften ist, wenn auch vielleicht im Rahmen der Philosophie beinahe die einzige und eine kontroverse. Sie ist – übertrieben formuliert – allgegenwärtig. Anders und im Rückgriff auf Vorangegangenes gesagt: Wir wissen zwar nicht, ob der Systemismus den best fit mit einer besten Praxis im Vergleich mit anderen philosophischen Angeboten aufweist, da wir weder ein klares Menü dieser Angebote zur Verfügung haben noch die beste Praxis zu kennen glauben. Es darf aber vielleicht als gesichert gelten, dass es überhaupt irgendeine Passung gibt und gänzliche Irrelevanz nicht droht. Das liegt ganz einfach daran, dass die Gegenstände der Forschung und des Verstehens jenseits von (Groß-)Ereignissen und individuellen Handlungen diskutierbar sind (5.6), was wieder nicht heißt, dass sie vollständig sind. Die Verbindung von Ontologie und Methodologie ist also im Fall der Systemik keineswegs gefährlich und um Selbstverständlichkeiten handelt es sich im Rahmen der Geschichtsund Sozialwissenschaften auch nicht. Vielmehr ist die systemische Ontologie in mehreren Hinsichten fruchtbar einsetzbar. Es könnte gar auch sein, dass diese Ontologie wahrer und relevanter ist als manche „Theorie“ der Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften.453

7.7

Zusammenfassung: Kurze Beantwortung einiger zentraler Fragen

Ich hatte einige Fragen formuliert und sollte nicht vergessen, sie zu beantworten: (Q1) Aus welchen Typen von Entitäten setzt sich das Mobiliar des Sozialen (oder, wenn man will, der „Geschichte“, 2.1) zusammen, falls ein solches existiert? (Q2) Gegeben die Antwort(en) auf Q1: Welche Komponenten dieses Mobiliars verursachen oder determinieren welche anderen inwiefern, falls derartige Relationen zwischen diesem Mobiliar vorkommen? (Q3) Gegeben die Antwort(en) auf Q1: Welche Komponenten dieses Mobiliars stehen mit welchen anderen in welchen Relationen? (Q4) Was soll erklärt und/oder verstanden werden? (Q5) Was soll auf der Basis der Beschreibung welcher Relationen zwischen welchen Relata erklärt und/oder verstanden werden? Die Fragen sollten aber zuvor hinreichend beantwortet worden sein und das Papier droht knapp zu werden, sodass ich sie hier nicht nochmals zusammenfassend wiederholen möchte, zumal ich nun im Rahmen des Rekurses auf die Mini-„Anatomie“ erneut zur Beantwortung schreite und die Systemik dabei noch pluralistischer auslege. Kann eine explizite und wissenschaftsnahe Ontologie Probleme der philosophischen Methodologie zu klären helfen? Im Rahmen der Skizze glaube ich angedeutet zu haben, dass sie am Schnittpunkt von Sozial- und Geschichts(meta)theorie wie auch Philosophie dazu beitragen kann. Das wird nun auch erneut zu zeigen sein.

453

begrifflichkeiten der Historischen Sozialwissenschaft (4.2) lässt sich in Kocka (1986, 70 ff.) weiter nachverfolgen. Vgl. Bunge 1985b, 33: „Algunas teorías metafisicas u ontológicas son más relevantes y verdaderas que ciertas teorías económicas.“

8 Noch einmal Forschung, Verstehen und wissenschaftsorientierte Ontologie: Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“? Wenn man so will, ist das Verhältnis von einer jeden Philosophie zu Geschichts- und Sozialtheorie und Forschungspraxis recht prekär. An dieser Stelle erinnert man sich unweigerlich wieder an L. Minks (1961, 26) Truismus „some philosophers are closer to some historians than they are to other philosophers, and some historians are closer to some philosophers than they are to other historians“. Aber die Lage ist nicht hoffnungslos. Wenn man etwas optimistisch sein will, dann expliziert der Systemismus die Hintergrundontologie der erklärenden Sozialwissenschaften und man könnte eventuell zu zeigen versuchen, dass er dies besser vermag als andere Metatheorien. Da ich mir dies zum Maßstab gesetzt habe (Kapitel 2), müssen wir nun wenigstens kurz zurück zur Geschichtswissenschaft und sehen, ob man hier etwas mit der Systemik anfangen kann. Da wir uns spätestens mit dem Kapitel 6 weit von der Mini-„Anatomie“ entfernt haben und daran auch noch ein Kapitel zur Ontologie angehängt haben, ist die Frage legitim: Wie soll man von der notwendigerweise recht obskuren Ontologie zurück zur geschichtswissenschaftlichen Forschungspraxis jemals gelangen können? Um das wenigstens etwas diskutieren zu können, greifen wir auf das Forschungsprogramm zum geschichtswissenschaftlichen Verstehen und zu geschichtswissenschaftlichen Problemen zurück und auf die These, Geschichtswissenschaft sei recht heterogen. Dies kann gleichzeitig als eine Art Test für eine Philosophie gelten. Denn man kann sicherlich seine Philosophie an den eigenen Vorannahmen überprüfen, was den Vorteil hat, dass die Ergebnisse immer eindeutig und positiv sind (vgl. Bunge 2012a). Oder man kann den Weg zur Sozial(meta)theorie oder Forschungspraxis einschlagen, was notwendig zu weniger eindeutigen und weniger positiven Ergebnissen führt.

8.1

Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“? Annäherung an das Forschungsprogramm auf der Basis der Mini-Anatomie und des Systemismus Il n’y a pas en histoire de mode privilégié d’explication (Idrissi 2005, 127). Moral and scientific ideals alike may be impossible to realize in practice, but they still may guide practice, and give us a standard for assessing performance (Railton 1980, 218).

Wir hatten festgestellt, dass die traditionelle Literatur zu Erklärung-Verstehen-Erzählung nicht sonderlich gut abschneidet, wenn man einfach ohne große Sicherheiten, die letztlich in der Immunisierung der eigenen (ontologischen) Vorstellungen bestehen, in den Pool einer Auswahl geschichtswissenschaftlicher Praxis springt. Dann hatten wir das Forschungsprogramm zur Korrelativität von Erklärungformen und Verstehensformen übernommen. Dazu gehört auch die Annahme, die in der Systemik geteilt wird, dass prinzipiell alles verstanden werden kann, egal, was es ist. Wir hatten in unserem Mini-Modell geschichtswissenschaftlicher Forschung auch stipuliert, dass Geschichtswissenschaftler, wie alle Wissenschaftler, letztlich etwas verstehen wollen. Warum haben wir das gemacht? Weil keine andere Möglichkeit in Sicht ist, eine einigermaßen einheitliche Philosophie der Geschichtswissenschaften anzugehen, die über ein Frage-Antwort-Modell (4.1) hinausgeht. Wenn man so will, ist dies sehr optimistisch und eigentlich wohl nahezu unmöglich. Marc Bloch hatte aber Hoffnung bezogen auf das hoffnungsvolle Wort „Verstehen“, woran ich hier dogmatisch festhalte.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_8

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

Das Ziel eines solchen Projekts, das man genauso „Metageschichtswissenschaft“, „Allgemeine Hermeneutik“ oder „Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaften“ nennen könnte, besteht unter dieser Maßgabe darin, möglichst vieles in eine relativ einheitliche Auffassung skizzenartig zu integrieren. Von der Gemeinsamkeit im Ziel, etwas verstehen zu wollen, sind wir ausgegangen, weil wir angenommen haben, dass Geschichtswissenschaftler forschen und nicht „erzählend“ „Sinn“ stiften. Forschung, die von konkreten Problemen ausgeht, endet idealtypisch in einem kontextuell besseren Verstehen. Zumindest wird man Heerscharen von Wissenschaftlern finden, die dies unterschreiben. Vor dem Hintergrund von Thesen zum Zusammenhang von Erklärung und Verstehen oder von Erklärungs- und Verstehenstypen ist eine Frage, ob zwischen Problem und Verstehen immer etwas geschaltetes ist, das (im dynamischen Sinn) eine „Erklärung“ genannt werden darf. Vor dem Hintergrund der Feststellung, dass Geschichtswissenschaftler trivialerweise irgendwelche Fragen an irgendwelche Gegenstände in irgendwelchen Hinsichten richten, stellt sich die Frage, welche Fragen sie woran richten. Dieser Ansatz zwingt schon direkt zu pragmatischeren Auffassungen, gerade weil es in den Geschichtswissenschaften wohl selten geteilte Auffassungen in der Breite gibt, weder über (signifikante) Probleme noch über Gegenstände, Methoden oder allgemein Modelle oder Theorien zu jenen (Typen von) Gegenständen. Wenn Verstehen darin besteht, Relationen zwischen bestimmten Gegenständen (im neutralen Sinn) zu erfassen, dann kann man versuchen zu fragen, nach welchen Relationen in geschichtswissenschaftlicher Praxis hier und dort gefragt wird. Wir haben anschließend traditionelle Kandidaten für die Relationen problematisierend diskutiert und sind dabei auf die letztlich bekannten Unklarheiten bezogen auf Gesetze, Kausalität und andere Relationen im Kontext von randständigen Narrativismen gestoßen, in denen zeitliche Relationen und sogenannte temporale Ganzheiten angedeuteten werden, wobei auf andere Relationen, die mit unexplizierten Wörtern wie „Kontext“ oder „Struktur“ angedeutet werden, ebenso hingedeutet wird. Ich hatte moniert, dass in aller Regel ontologisch unklar ist, was die Relata und was die Relationen genauer sind. Beispiele aus konkreter Forschung gibt es in der Regel bekanntlich auch nicht. Die Fragen sind einfach, die Antworten schwierig: Was wollen Geschichtswissenschaftler verstehen? Welche Relationen spielen dabei eine Rolle? Welche Fragen spielen explizit oder implizit eine Rolle? Ein Problem aus dem Kontext der Thesen zum Zusammenhang von Erklärung/Erklären und Verstehen ist: In welchen Fällen kann man in welchem Sinn von einer Erklärung sprechen? Kann man hier locker sein und vieles zulassen oder lohnt sich eine restriktive Haltung? Wenn es so ist, dass man grundsätzlich alles verstehen kann und – so lautet die Hypothese (Kapitel 5) – zu allem erklärende Informationen in Forschung erheben kann, dann stehen uns nun folgende Verstehensgegenstände zur Verfügung: Man kann soziale Systeme verstehen. Man kann die Komponenten jener Systeme verstehen, letztlich (7.3.3) Menschen und deren Handeln. Nimmt man das CESM-Modell (7.3.6) als Orientierung, kann man nach den Komponenten eines Systems und damit nach sozialen Teil-Ganzes-Relationen und nach Relationen mit der (relevanten) Umwelt, also anderen Sozialsystemen, d. h. externen Relationen, fragen. Man kann nach den internen Relationen des Systems fragen, bei deren Gesamtheit es sich um die Struktur des Systems handelt. In Gestalt der bindenden sozialen Relation ist dies im Bereich des Soziohistorischen natürlich bereits die Frage nach den Teilen und ihren Relationen, die ein Ganzes ergeben. Und das heißt: Interaktionen zwischen problemlösenden Menschen. Man kann danach fragen, was die spezifische Funktion (oder eine unspezifische Funktion) eines Systems ist und wie jene Funktion erfüllt wird, d. h. was der interne Prozess oder Mechanismus ist. Man kann nach dem Beitrag eines Teils des Systems zum Prozessieren des Ganzen fragen. Vielleicht kürzer: Man kann danach fragen, was ein System war? Man kann fragen:

8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

519

Woraus setzte sich ein System zusammen? Was machte das System oder, vielleicht klarer, die Gesamtheit der Komponenten des Systems? Anders gesagt: Was war die (externe) Funktion des Systems? Man kann fragen, wie Prozesse im „schwachen“ Sinn (in der Zeit) verlaufen, d. h. die Entwicklung der Werte von resultierenden und emergenten Eigenschaften (chronologisch) verfolgen. Man kann fragen, warum es zu diesen Prozessen überhaupt kommt oder warum sie einen spezifischen Verlauf haben, z. B. die Form von „gerichteten“ Verläufen annehmen, d. h. Trends.454 Wenn diese Prozesse untersucht sind, z. B. auch Output-Verläufe von Systemen, kann man nach den internen Prozessen fragen, die jene Outputs hervorbringen. Stellt man die vielleicht klarere oder metaphysisch unmissverständlichere Frage, was die Gesamtheit der Komponenten des Systems machte, dann ist die Frage, wie der Prozess in dem System vonstattengeht („How does ist work?“, Bunge 2004a). Falls es sozialsystemische Relationen gibt, die als „Gesetzmäßigkeiten“ zu bezeichnen sind und zwischen sozialsystemischen Eigenschaften oder Ereignissen/Prozessen bestehen (z. B. Struktur → Makro-Prozess; Wert einer emergenten Eigenschaft P1 → Wert einer anderen emergenten Eigenschaft P2), dann wird man vor dem Hintergrund der systemischen Ontologie jene Gesetzmäßigkeiten für subsumtive und letztlich non-kausale Erklärungen oder Erklärungen mit einer losen „kausalen Reichweite“ auf Akteurebene heranziehen können (nach Hempel 1942, 1965, Bunge 1967a/b). Bekannt sind solche Gesetzmäßigkeiten aber wohl kaum, wobei man sie zur Explikation anderer (non-kausaler) Determinationsformen heranziehen könnte, was allerdings auch noch zu unklar ist. Bei Prozessen im schwachen Sinn der Veränderung von Systemeigenschaften kann man nach dem „Wie?“ und damit genauen zeitlichen Verläufen der Werte der Eigenschaften fragen und nach dem „Warum?“. Bei jenen internen Prozessen oder Prozessen in einem „starken“ Sinn trifft man (natürlich?) auf nichts als Interaktionen zwischen Personen (und Artefakten) und auf die einzig klaren Fälle von Kausalrelationen im Gegenstandsfeld der Geschichts- und Sozialwissenschaften. Wenn hier etwas zu finden ist, das man über „Interaktion“ hinaus als „Mechanismus“ qualifizieren kann, dann ist eine Frage „Wie funktioniert das Sozialsystem genau?“. Wenn es Regelmäßigkeiten oder „Gesetze“ zu beobachten gibt, kann man im Anschluss an die Beantwortung der Frage „Durch welche Regel- oder Gesetzmäßigkeiten zeichnet sich das System (oder der Typ von System) aus?“ fragen „Warum zeichnet sich jenes System (oder der Typ von System) durch jene Regel- oder Gesetzmäßigkeit aus?“ (siehe auch Topolski 1976). Letztere Erklärung kann nichts anderes umfassen als eine Modellierung der Komponenten und der Art der einseitigen und wechselseitigen Wirkung aufeinander. Insofern sind solche Regularitäten „mechanistically explainable“ (Glennan 2002). Im Fall der internen wie auch der externen Struktur kann man nach der räumlichen Anordnung der Komponenten fragen, wobei selbstverständlich, sobald die „Dynamik“ des Systems ins Spiel kommt, nach den zeitlichen Abläufen auch der internen Prozesse, d. h. der Wirkungen von Komponenten auf andere oder auch deren Rückwirkungen auf einzelne Komponenten gefragt werden kann, d. h. Interaktionen. Es kann also, auch haarklein oder „historisch“, nach dem Wie des exakten Verlaufs gefragt werden, selbst dann, wenn man über weitere Annahmen über z. B. Handlungsgründe, wie es häufig in den Geschichtswissenschaften der Fall ist, nicht verfügt. Nicht vergessen werden darf an dieser Stelle, dass im Rahmen des emergentistischen Sozialmaterialismus und dessen „Dynamizismus“ davon ausgegangen 454

Wenn es sich bei den Trends um Abfolgen von genuinen Eigenschaften (und nicht statistischen Artefakten wie Scheidungsraten oder Durchschnittspreise für Perioden von 10 Jahren; Hitzbleck 1971, Abbildung 7, S. 115) handelt, dann sind jene Trends Prozesse oder, wenn man will, partielle Geschichten des jeweiligen Systems; siehe z. B. Bunge 1988.

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

wird, dass jene Systeme mit ihren Strukturen zuerst einmal entstanden sein müssen, bevor man sie als solche verstehen kann. Man wird also danach fragen können, warum das System existiert hat oder entstanden ist. Da diese Entstehung mit dem Zusammenkommen von Menschen zu tun hat, wird man über diese dabei ein Wort verlieren müssen, soweit dies möglich ist. Wenn es nicht um Supersozialsysteme geht und die konkreten Komponenten und deren Eigenschaften und Ereignisse/Prozesse zugleich geblackboxt werden oder wenig bis nichts darüber bekannt ist – wie wohl häufiger in den Geschichtswissenschaften –, dann hat man es mit handelnd interagierenden Akteuren und deren (sich veränderndem) furniture of mind zu tun, bei internen Relationen der Sozialsysteme genauso wie bei externen Relationen. Wir wollen hier mit dem methodologischen Individualismus davon ausgehen, dass dieses Handeln als Lösen praktischer Probleme (Kapitel 5.1; siehe z. B. auch Schmid 2011b) aufzufassen ist und auf der Basis von Handlungstheorien prinzipiell erklärt werden kann (Kapitel 6.2). Anders gesagt, ohne implizite oder explizite Akteurtheorien kann man über soziale Relationen und soziale Strukturen letztlich nichts oder kaum etwas sagen, weil diese Relationen oder Strukturen ja in der mentalen „sozialen“ Bezugnahme und darauf aufgebautem „sozialen“ Handeln letztlich konstituiert sind. Das ist der Kern Wahrheit in Individualismus, Hermeneutik oder „Interpretativismus“ in der Tradition der Sozialwissenschaften, der bleibt. Wenn es um das Handeln dieser Akteure geht, das in den Geschichts- und Sozialwissenschaften letztlich immer als in den einen oder anderen sozialsystemischen „Kontext“ (System) „eingebettet“ gilt, dann kann man nach den Abhängigkeiten konkreten Handelns von diesem „Kontext“ fragen, also nach den ontologisch (manchmal) ominösen, letztlich aber unspektakulären Makro-Mikro-Relationen.455 Das sollte nichts anderes heißen, als dass die Akteure sich an ihrer sozialsystemischen Umwelt irgendwie orientieren müssen, so wie König/Kaiser Sigismund im Kontext des Alten Reichs und des internationalen Systems im Spätmittelalter (Kintzingers 2000). Das wird wohl häufiger nicht theorieorientiert modelliert, weil Geschichtswissenschaftler über diejenigen Theorien auch nicht verfügen, über die andere Sozialwissenschaftler nicht verfügen. Zudem stehen sie (6.2) natürlich auch vor teilweise unüberwindbaren Problemen, relevante Daten überhaupt erheben zu können. Welche (generellen) Annahmen genau dabei hier und dort eine Rolle spielen, ist – mit Hempel 1942 oder auch Esser 1996 – noch immer eine Frage wert. Soweit Akteure im Spiel sind, die mit irgendwem oder irgendetwas kommunikativ (oder anders) interagieren oder irgendwen oder irgendetwas wahrnehmen, ist Kausalität im Spiel, ansonsten nicht. Das gilt auch, wenn diese Kommunikation vermittelt ist, wie im Falle von Salle (2006), die voraussetzen muss, dass typische Paare in der DDR von der „Familienpolitik“ irgendwie Kenntnis genommen haben, was sie aus ihren Daten hypothetisch annimmt, 455

Hier eine beiläufige Andeutung eines Makro-Mikro-Makro-Zusammenhangs aus der Geschichtswissenschaft (Kriedte 1991, 176 f.): „Nach einer treffenden Formulierung von Alphons Thun stellte die hausindustrielle Produktionsform ‚die Arbeit der Meister in der Regel unter keine andere Kontrolle als unter die des Hungers‘. Man wird hinzufügen dürfen, daß das nicht nur für die Arbeit als solche galt, sondern auch für die Haushaltsstruktur [System, dp] und die Beschäftigung von Gesellen und Gehilfinnen; letztere war freilich darüber hinaus von Rahmenbedingungen abhängig [Makro, die Umwelt des Systems, z. B. der Konjunktur, dem Verlag usw., die „soziale Situation“, dp], die sich dem Einfluß der Webermeister entzogen. Für die Seidenwebermeister hieß das, daß sie ausgehend von der jeweils gegebenen kernfamilialen Struktur ihres Haushalts versuchen mußten [praktisches Problem, „subjektive Situation“, dp], für diesen eine Überlebensstrategie zu entwickeln; sie hatten zu entscheiden, ob sie ihn möglicherweise durch die Hereinnahme von Verwandten oder Kostgängern vergrößern oder ob sie es bei der Erweiterung seines Umfeldes durch die Beschäftigung von aushäusigen Arbeitskräften belassen wollten [zwei Formen von Systemveränderungen, dp]. In einer Familienwirtschaft, die sich auf eine ‚Wirtschaft der Notbehelfe‘ (Olwen H. Hufton) zubewegte, fiel dem Haushalt eine wichtige Rolle zu“.

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weil sich dort, wie sie es nennt, die fortschreitende „Emergenz“ einer „Kategorie von Personen“ oder auch ein „Modell“ zeige, das heißt in diesem Fall die Zunahme der Menge von Personen, die einem bestimmten Interaktionsmuster folgen, nämlich: „1) Konkubinat; 2) erste Geburt außerhalb der Ehe; 3) Heirat/Ehe; 4) zweites Kind“ (Salles 2006, 141). Natürlich kennt Salle diese konkreten Kausalprozesse nicht (Ding x wirkt auf Ding y wirkt auf Ding z usw.), über die Personen von der „Familienpolitik“ der DDR-Regierung erfahren haben, und sie kennt auch nicht die Entscheidungsprozesse der (typischen) Personen, ferner spekuliert sie nicht über Makro-Mikro-„Einflüsse“ („Logik der Situation“). Aus der Sicht von Handlungsphilosophie und „individualistischer“ Sozialtheorie fragt sie auch eher nicht sonderlich klar nach alledem, obwohl der Leser implizit ein handlungstheoretisches oder entscheidungstheoretisches Modell eigentlich unterstellen muss, weil unterstellt wird, dass die Akteure ihre Erwartungen über bestimmte Vorteile an den Informationen über die Familienpolitik ausrichteten („Makro“ → „Mikro“), z. B. dass sie mit dem obigen vierstufigen Handlungsmuster am besten wegkommen, weil beispielsweise Alleinerziehende vor der Heirat für das erste Kind ein Jahr bezahlten Elternurlaub erwarten konnten, dasselbe aber auch für das zweite Kind erwarten konnten, allerdings dann nur innerhalb der Ehe und unter der Annahme der zukünftigen Existenz bestimmter Sozialsysteme. Hier ergibt sich ein metatheoretisches und häufiger zu findendes Paradox (6.2), nämlich dass Salle keine Entscheidungen- oder Handlungen explizit erklärt, ihr Text aber eventuell auf der Basis nicht formulierter Erklärungen (in Argumentform mit versteckten allgemeinen Prämissen; vgl. zu unvollständige Erklärungen Hempel 1942, 1965) erklärt, weil jeder Leser und die Autorin selbst wohl auch, mehr unterstellt als bloß einen kausalen Input durch Informationstransmission in die Gehirne der Komponenten von Paarbeziehungen. Obwohl hier aus metageschichtsphilosophischen Erwägungen die Beispielstudien als solche zunächst akzeptiert werden, wird man im Kontext der Debatten in Soziologischer Theorie fragen dürfen, warum es häufiger so zu sein scheint, dass solche unterschwellig und manchmal geradezu offensichtlich vorhandene implizite Modellbildung nicht gänzlich explizit gemacht wird. Vielleicht liegt es (neben den bekannten Quellen- und Indikatorenproblemen) daran, dass es sich in manchen Bereichen der Geschichts- und Sozialwissenschaften nicht schickt, über (konkrete) Akteure zu reden. Das ist hier aber Spekulation. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass zu einer nicht vollständig spekulativen Beantwortung solcher Fragen andere Typen von Daten berücksichtigt werden müssten. Natürlich kann man auch Aggregate untersuchen und hier CES-Modelle skizzieren und dadurch diese Aggregate besser verstehen. Auch der Münsteraner Trödelmarkt an der Promenade hat als solcher Komponenten, aber weder eine bindende Struktur noch einen Mechanismus, sondern die Trödler trödeln unabhängig voneinander, nämlich nebeneinander. Gruppen kann man als inexistente Entitäten nicht im realistischen Sinn untersuchen und wohl auch nicht verstehen, sondern bloß Typen von Elementen, deren hypothetische Ähnlichkeiten Kirby (1995) z. B. dazu heranzieht, um Erklärungshypothesen über als relevant erachtete Unterschiede aufzustellen. Eventuell versteht Kirby nach der Forschung besser, dass idealtypische Grubenarbeiterkinder in nicht-bindenden Ähnlichkeitsrelationen (GrößenunterschiedeI) mit anderen idealtypischen Gesellschaftsmitgliedern zur damaligen Zeit standen und warum das so ist, wobei eine Erklärungshypothese biotisch-mechanismisch ist („sunlight deprivation“), die andere sozial-interaktiv oder gar sozial-mechanismisch („occupational selection“). Letzteres nennen manche bereits einen sozialen Mechanismus (Little 2010). Man kann aber auch vermuten, dass solche Ähnlichkeiten, die in enorm vielen Fällen auch ohne Suche zu finden sind, kein genuines Verstehen ermöglichen, obwohl hier und andernorts solche (bloßen) Ähn-

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lichkeiten erfasst werden.456 Beiläufig haben wir bereits (5.1) zur Kenntnis genommen, dass P. Kirby (2003, 18 f.) ebenso beiläufig von „a quantitative understanding of the child labour force“ spricht, was heißen dürfte, dass eine (fiktive) soziale Gruppe (7.3.1) in soziale Subgruppen zergliedert wird. Da es sich um einen fiktiven Gegenstand handelt, kann man sich allein schon fragen, ob hier wirklich genuines Verstehen erreicht wird, da es hier z. B. auch keine Teile gibt, weil es kein Ganzes gibt. (Siehe im Kontext auch Fußnote 468, S. 538.) Dass nicht gänzlich klar ist, was man hier als Gegenstand des Verstehens und als Verstehen ermöglichende Relation auffassen muss, liegt wohl erstens daran, dass es um konkrete Systeme (Personen und Gruben) nicht geht, und die das Problem ausdrückende Frage (implizit) kontrastiv ist: Warum ist dieser Typ von Akteur („Gruppe“) signifikant kleiner als der andere Typ von Akteur („Gruppe“)? Klarerweise geht es nicht um irgendeine konkrete Person oder eine konkrete Grube, sondern einen Typ, einen letztlich fiktiven Gegenstand, der aber so realistisch („objektiv“) gefasst werden soll, dass (abstrakte) Hypothesen über einzelne (unkonkrete, nicht benannte) Personen und „Ursachen ihrer Statur“ annäherungsweise möglich sind. Um Typen von Ursachen geht es hier expliziter in biotischen Angelegenheiten und teilweise in sozial-interaktiven Angelegenheiten.457 Ähnliche Probleme der metageschichtswissenschaftlichen Deutung ergeben sich in anderen sozialgeschichtswissenschaftlichen Studien, z. B. bei Chamoux/Dauphin (1969), die Sozialsysteme nur insofern untersuchen, als ihre Daten nur vor dem Hintergrund der Annahme verstehbar sind, dass auch vormoderne Menschen zum Geschlechtsverkehr tendieren und auf dieser Basis Geburten zustande kommen (oder per Verhütung vermieden werden), damals vor allem innerhalb des Systems der Ehe. Ist der Gegenstand aber ein Aggregat (oder Haufen) von Personen oder Paaren (Population), das Dorf Châtillon-sur-Seine, einzelne Ehepaare, bloß Frauen oder Gruppen von Paaren?

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Manche Geschichtswissenschaftler fragen nach solchen Ähnlichkeiten offenbar, um das abzuschätzen, was dann manchmal die „Signifikanz“ der Ergebnisse genannt wird. Zum Beispiel fragen sie daher nach Ähnlichkeiten (oder Unterschieden) in der Produktivität von Schafen in der späten Frühen Neuzeit im Vergleich zum Spätmittelalter. Streng besehen gibt es keine ontischen Ursachen für Merkmale von Gruppen, obwohl Kirby manchmal Formulierungen wählt, die ähnlich klingen (3.1.8.), und z. B. „occupational selction“ verursacht weder die Körpergröße eines einzelnen Kindes noch jene einer Gruppe, sondern eine entsprechende Hypothese plausibilisiert („erklärt“) quantitative Daten und Kontraste zu anderen Gruppen.

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Abbildung 35

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„Distribution of Amber Beads in early Anglo-Saxon cemeteries (aus Hugget 1985). Ein Beispiel einer Verteilungskarten als Zusammenfassung der Daten.

Die Moral ist jetzt ganz einfach: In der Systemik findet man letztlich – im Vergleich mit der Breite von Geschichts(meta)theorie und teilweise im Unterschied zur Geschichtsphilosophie – kaum Spektakuläres oder spektakulär neue Töne, sondern die Systematik („Struktur“) der Kategorientafel macht die Musik und das Klärungspotenzial. Wir könnten es uns nun natürlich einfach machen. Frage: Untersuchen Geschichtswissenschaftler soziale Systeme? Ja, wenn doch die systemische Ontologie Recht hat und das Soziale aus sozialen Systemen besteht, dann müssen Geschichts- und andere Sozialwissenschaftler doch solche Systeme untersuchen und zu verstehen trachten. Hier sind wir eigentlich wieder bei der Frage nach der Ge-

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fährlichkeit oder Trivialität einer solchen Ontologie. Erstens zwingt uns die methodologische Skepsis, die auch gegenüber jeder Philosophie gelten muss, diese Sicht für verfrüht zu halten. Zweitens zwingen die Heterogenitätsthesen im Kontext der Geschichtswissenschaften (2.3) dazu, diese Sicht für verfrüht zu halten. Drittens zwingt der Umstand zu Zurückhaltung, dass auch M. Bunge beispielsweise im Anschluss an die generische These, Sozialwissenschaftler untersuchten soziale Systeme, immer recht schnell diejenigen listen muss, die dies nicht tun. Viertens kennen wir „die Geschichte“ an dieser Stelle nicht im Ansatz, das heißt genauer, die Geschichtswissenschaften und dortige Forschungspraxis. Fünftens können die letzten drei Beispiele aus der Mini-„Anatomie“ schon als Belege dafür dienen, dass die Sache nicht so klar ist, obwohl in allen Fällen zumindest dann der systemische „Kontext“ jeweils immer schon mitgedacht ist, wenn man die Brille der Systemik aufsetzt. Die DDR-Bürger interagieren innerhalb der DDR, die Grubenarbeiter und ihre Kinder werden von Gruben (respektive konkreten Personen mit entsprechender „Rolle“) ausgewählt und eingestellt („occupational selection“). Eine qualitative Studie, die auf der Basis jene Frage stellt, die Chamoux/Dauphin nicht stellen (Warum?), könnte eventuell auf hypothetische Entscheidungen in einem Kontext rekurrieren, wobei die Wahrscheinlichkeit extrem hoch sein dürfte, dass es dazu keinerlei Daten gibt. Nimmt man aber die gerade angedeutete Verbindung von Systemik und Verstehenslehre hin, dann ist schon klar, dass in allen diesen Studien etwas verstanden wird („statisch“, Kapitel 5.4) oder, von der Forschung her und „dynamisch“ (Kapitel 5.4) betrachtet, etwas besser verstanden wird, nachdem ein Forschungsprozess stattgefunden hat. Das ergibt sich aus der Vogelperspektive genauso wie in einer letztlich noch anzugehenden Strauß- oder Froschperspektive, d. h. einer Zeilenanalyse jener Studien. Ein wenig nonchalante Spekulation beziehungsweise ein etwaiges Hineindeuteln, das auch an dieser Stelle terminologischer Ungenauigkeit geschuldet ist, gönnen wir uns nun an dieser Stelle aber schon, damit das Vereinheitlichungspotenzial nicht in Differenzierung untergeht, bevor wir überhaupt richtig angefangen haben. Das wäre aber bei jeder Konfrontation einer beliebigen Ontologie und auch darauf aufgebauten Ideen zu Erklärung und Verstehen mit einer beliebigen Wissenschaftspraxis notwendig. Die Fragen, mit denen Ontologie mit Wissenschaftspraxis konfrontiert wird, sind nun recht einfach zu formulieren, beispielsweise: (Q1) Untersuchen Geschichtswissenschaftler soziale Systeme? Setzt man die systemische Ontologie voraus, dann stecken in dieser Frage auch die folgenden Fragen: (Q2) Untersuchen Geschichtswissenschaftler Eigenschaften sozialer Systeme? (Q3) Untersuchen Geschichtswissenschaftler die Komposition und Struktur sozialer Systeme? (Q4) Untersuchen Geschichtswissenschaftler Ereignisse, Prozesse oder Geschichten sozialer Systeme? (Q5) Untersuchen Geschichtswissenschaftler Mechanismen von Ereignissen, Prozessen und Geschichten sozialer Systeme? Die Einschränkung auf soziale Systeme ist nicht zwingend, zumal Geschichtswissenschaftler neben Personen auch Kartoffeln, Schafe, Weizenfelder oder Bakterien in Kuhmilch untersuchen oder, anders gesagt, darüber Hypothesen aufstellen, und vieles mehr, z. B. technische Systeme (McNeill 1948, Stone 2003, Bloch 1970, Atkins 1992, Pressac 1994). Wenn man also etwa fragt wie „Untersuchen Geschichtswissenschaftler x x = ontische Kategorie?“, dann wird man dennoch zunächst schreiben müssen, manche scheinen so etwas zu machen, andere vielleicht nicht. Je nachdem, was man einsetzt, stimmt es natürlich im Vagen immer. William McNeill (1949) zum Beispiel untersucht wohl keine Sozialsysteme, sondern eine hypothetisch angenommene prozessierende Kartoffelpflanze. Hier stimmt sogar die stipulative These (Kistenfeger 2011), die Geschichte erzähle (immer) Veränderung, wobei es sich bei der Veränderung wohl nicht um die eigentlich angedachte „historische“ handelt und um eine Erzählung wohl auch nur, wenn man „Erzählung“ irgendwie entsprechend definiert.

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Auch sollte man an dieser Stelle immer die epistemische Ausgangslage der jeweiligen Forschung im Blick behalten und nicht von vornherein ontologische Thesen gegen epistemische ausspielen.458 Denn es ist zweifellos so, dass McNeill (1949) auch nichts über genauere Prozesse oder Mechanismen der Einführung der Kartoffel nach Irland weiß und danach auch nicht fragt. Denn er kann zunächst einzig darauf hoffen, den Namen desjenigen zu erfahren, der – wie auch immer – jene Kartoffel nach Irland brachte. Hier läge die Krönung dieser Forschung, d. h. die definitive Lösung des Problems. Andere kennen so etwas Ähnliches wie Mechanismen von Systemen ansatzweise aber schon, ohne irgendwelche detaillierteren Vorstellungen von diesen Mechanismen zu haben oder auch zu brauchen. Wenn man so möchte, dann skizziert auch M. Calaresu (2013) die typischen Prozesse oder Mechanismen in unterschiedlichen Sozialsystemen („networks“) oder zwischen diesen, die (Speise-)Eis in sozialer Regelmäßigkeit nach Neapel brachten, obwohl es ihr primär darum überhaupt nicht geht. „Skizzierung“ heißt hier, dass man nicht mehr hypothetisch weiß, als dass unbekannte interagierende Menschen regelmäßig etwas (kausal) produziert und (kausal) verteilt haben. Bezogen auf Calaresus Forschungslinie, das angedeutete (3.1.9) „Paradigma“ und ein mögliches Ziel dieser Forschungslinie wird man an dieser Stelle auch fragen können, worum es genau geht, wenn das Verstehensziel folgendermaßen beschrieben wird: „The history ? of icecream consumption, like that of coffee drinking, must feature significantly in our understanding ? of the story ? of ‚living the Enlightenment‘ in Europe“ (Calaresu 2013, 78; siehe erneut 2.1). Huggett (1988) nennt denjenigen Prozess oder, besser, die Prozesse, die die Verteilung von Artefakten, die er zuvor auch im Raum kartographisch lokalisiert, hypothetisch erklären sollen, teilweise „Mechanismen“, nämlich letztlich „gift exchange at leadership level and the activities of itinerant traders“ (Huggett 1988, 94). Mehr als die vermutete Existenz solcher Prozesse zur „Erklärung“ oder „Interpretation“ (Huggett 1988, 76 ff., 89f.) der Datenlage, nämlich der Verteilung und Häufigkeit von Artefakten in Ausgrabungsstätten (siehe Abbildung 35), ist wohl gar nicht möglich. Denn Huggett steht vor dem fundamentalen Problem, einzig auf der Basis von Verteilungen von Artefakten im Raum und die Häufigkeiten jener Artefakte Hypothesen über jene Interaktionsformen aufzustellen, natürlich vor dem Hintergrund seines weiteren Hintergrundwissens. Da in solchen und anderen Fällen zweifelhaft ist, ob über spezifische Prozesse oder Funktionen, die Systeme erhielten oder zu dem machten, was sie waren (7.3.6), Hypothesen aufgestellt werden, könnte es angemessener sein, statt von „Mechanismen“ in solchen Fällen von Prozessen zu sprechen, von denen man letztlich nicht mehr vermuten kann als ihre vormalige Existenz. Wie wir gesehen haben, skizzierte Topolski Modelle von etwas, das er „Mechanismen“ nannte, wobei hier vermutlich das Agieren und Interagieren von Personen in der sozialsystemischen Umwelt generisch „Mechanismus“ genannt wird, wie auch häufig andernorts in der neueren sozialtheoretischen Mechanismusliteratur (Hedström/Swedberg 1998b, Demeuleneare 2011, Manicas 2006, Greshoff 2015). Etwas anderes als solche Interaktionen sind natürlich soziale Mechanismen am Ende nicht, auch dann nicht, wenn sie weiter qualifiziert werden.

458

So hat A. Tucker (2014) generisch die Relevanz von demjenigen, was er „Mechanismus“ nennt, gegenüber beispielsweise S. Glennans Ideen zu historischen Erklärungen rundweg auf der Basis epistemischer Thesen abgelehnt, also auf der Basis der These, dass Geschichtswissenschaftler von so etwas generell nichts wissen (können).

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Abbildung 36

„Schematische Darstellung einer stadtrömischen Wasserleitung und der angeschlossenen Versorgungsbereiche“ (aus Hainzmann 1975, 32).

Klarere Fälle der Untersuchung von Systemen bietet Hainzmann (1975) mit dem wohl nicht zufällig so benannten „Wasserversorgungssystem“. Er versucht, dieses technische Wasserversorgungssystem Roms insofern besser zu verstehen, als er Erkenntnisse darüber zu gewinnen versucht, woraus es bestand, welche dessen Komponenten waren und inwiefern sie (z. B. architektonisch) verbunden waren. Dabei spielen räumliche Relationen und Teil-GanzesRelationen eine Rolle, wobei Hainzmann naheliegenderweise seine Erkenntnisse auch in schematischer Darstellung abgebildet hat (Abbildung 36459), vermutlich, weil die Relationen so auch besser repräsentiert werden können als sprachlich oder „narrativ“. Teilweise rekonstruiert er manchmal die (typische) Funktion bestimmter Komponenten des Systems, d. h. was sie leisten, z. B. Wasserfilterung, und wie das funktioniert hat, also den Mechanismus (7.3.6). Hier spielen auch Regel- oder Gesetzmäßigkeiten eine Hintergrundrolle, vermutlich ähnlich wie in Hempels (1942, 1965) Vorstellungen von „unvollständigen Erklärungen“ oder Erklä459

Modellhafte Darstellungen von Krematorienöfen finden sich in Pressac 1994.

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rungsargumenten, obwohl auch hier keine singuläre Tatsache erklärt werden soll, sondern immer allgemeine Modelle gebaut („erzählt“) werden. Ein Hempelianer darf natürlich, soweit es nicht bloß um statische CES-Modelle geht, sondern um Prozesse, schon darauf verweisen, dass Zeichnungen oder „Schemata“ an sich diese Prozesse kaum (im Ideal) erklären, sondern die (allgemeinen) Hypothesen, die im Hintergrund stehen oder stehen sollen, nämlich Hypothesen über die Teile von Systemen oder die Art und Weise des Interagierens oder, allgemeiner formuliert, ihrer Verbindung, vielleicht auch bloß ihr regelmäßiges „Verhalten“, also Prozesse im schwachen Sinn. Aber häufiger reicht Geschichtswissenschaftlern zur Erreichung des angestrebten Grades von Verstehen weniger. Letztlich stehen die Pfeilchen in solchen Schemata – nicht im Fall von Hainzmann - für Wenn-Dann-Sätze (6.1), soweit Prozesse Gegenstand sind. Wir haben schon vermutet, dass relativ eindeutige Fälle von Gesetzmäßigkeiten, zu deren Plausibilisierung neben systematischen Beobachtungsdaten auch Mechanismusskizzen manchmal zählen, d. h. skizzenhafte Modelle des Zustandekommens der systemischen Regelmäßigkeit, gerade dann zu vermuten oder recht explizit zu finden sind, wenn es um technische oder biotische Zusammenhänge geht (Atkins 1992, Kirby 1995, Stone 2003), also dort, wo man nicht nur über recht stabile (biotische oder technische) Systeme verfügt, sondern auch Wissen über gesetzmäßige Prozesse in den Komponenten und zwischen diesen, z. B. InputOutput-Regelmäßigkeiten. Um solche hypothetischen Input-Output-Relationen geht es explizit Stone in seinem Versuch, die vornehmlich rein klimatologische Erklärung des Trends des Sinkens von Schafswollerträgen im englischen Spätmittelalter zu ersetzen, zu verbessern oder in ihrer Adäquatheit einzuschränken. Stone (2003) glaubt in Abgrenzung von Stephenson (1988), dass spätmittelalterliche Bauern nicht dem Klima ausgeliefert waren und Klimaveränderungen die Trends in Wollerträgen erklären. Er verfügt beispielsweise über Quellen, die Daten über die Futtermengen aufzustellen erlauben. „Futtermenge“ heißt hier auch „die gefütterte Menge“, und diese kann prinzipiell natürlich von Entscheidungen von Akteuren abhängen, wenn die Ressourcen verfügbar sind. Unter der Voraussetzung der Annahme eines generellen Zusammenhangs zwischen Futtermengen und Wollwachstum (und weiteren, davon unabhängigen Annahmen), versucht er zu plausibilisieren, dass der Trend nicht nur vom Klima, sondern auch den gefütterten Mengen abhing. Die generelle, nicht nur auf das Schaf Susi bezogene Hypothese ist zugleich kausal, setzt die Existenz eines Mechanismus (und entsprechender Systeme) und eine Regel- oder Gesetzmäßigkeit voraus, gerade weil es trivialerweise nicht nur um Susi geht, sondern typengleiche biotische Systeme in einem umfassenderen Bio- und Sozialsystem (Mensch/Handlung → Fütterung/Input → Schaf oder Herde Black Box → Wollwachstum). Das fundamentale „inverse Problem“ im Kontext von Handlungserklärungen besteht für den Geschichtsforscher darin, z. B. auf der Basis von Daten über solche Trends in Futtermengen Hypothesen darüber zu bilden, dass auf der Basis irgendwelcher Gedankengänge (Typen von) Personen überhaupt Entscheidungen getroffen haben, wobei diese Annahme die Beobachtung der Trends mit erklären soll. Wenn man so will, dann besteht das „inverse Problem“ für den philosophischen Interpreten darin, die handlungstheoretische Prämisse zu erraten, die im Spiel ist, wenn es auch bei Stone heißt, das Handeln oder die Entscheidung sei „in their interests“ (Stone 2003, 22) oder „a rational response to changing economic conditions“ (Stone 2003, 8). Dass Stone mit einer handlungstheoretischen Annahme über das Entscheiden von Menschen operiert, wird man ihm zweifellos unterstellen dürfen. Wenn man nun wieder so will, dann entdeckt man bei Stone auf der ersten Stufe der Hypothesenbildung die Plausibilisierung der Annahme der Existenz irgendeines „rationalen“ oder auf „Gründen“ basierenden Handelns, über das man womöglich – zumal auch in anderen Forschungskontexten und hier in individuellen Fällen – wenig oder nichts weiß, die zweite Stufe bestünde in der theoretischen Erklä-

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rung eines solchen Handelns. Da die zweite Stufe für den Leser unklar bleibt, da unter anderem die handlungstheoretische Hypothese oder die „Selektionsregel“ unausgesprochen bleibt, kann man hier sicherlich – wie teilweise bei Salle oder beiläufig bei Atkins 1992, 210 – von versteckten Erklärungsskizzen im Sinne Hempels (1942, 1965) sprechen (siehe und vergleiche auch Stone 1997), obwohl wiederum kaum datierbare singuläre Handlungen erklärt werden und die zweite Stufe nicht im Zentrum des Interesses steht und stehen muss, da das primäre Ziel darin besteht, einen alternativen (und besseren) Erklärungsansatz zu plausibilisieren, wozu das Erklimmen der ersten Stufe auszureichen scheint. Da in diese Akteurmodelle auch Annahmen über die sozio-ökonomische Umwelt von Grundherrschaften einfließen, vor deren Hintergrund die mittelalterlichen Akteure entschieden, findet man auch hier MakroMikro-Makro-Verbindungen. Ähnliche Beobachtungen lassen sich bei Shepherd (1988) anstellen.460 Im Fall des Verstehens mancher Aspekte des technischen Wasserversorgungssystems scheint es auch eine Art „System“ (Bunge), eine Präzedenz oder „Stufenfolge“ (Scholz) von Fragen zu geben. Denn zunächst muss verstanden werden, was das Ding macht. Je nach Datenlage kann der Geschichtswissenschaftler etwas über den (typischen) Prozess (oder Mechanismus) erfahren, durch den die Funktion (regelmäßig) erfüllt wird, also, in der berühmten Metaphorik, die „Block Box“ (Bunge 1965, 1967a/b, 1968) epistemisch öffnen. 461 Dazu muss er zunächst verstanden haben, woraus das System besteht, denn ansonsten scheinen Fragen nach (internen) Prozessen fruchtlos. Wenn es um die Frage geht „Wie sich die stadtrömische Wasserleitung bis in die Spätantike hinein über vier Stufen gewaltig erweitert hat“ (Hainzmann 1975, 1 f.), dann kann man vor dem Hintergrund der Systemik unterstellen, dass die Antworten auf diese Fragen (Erklärungen) eine kausale Reichweite haben, weil sie darin bestehen, dass in der Regel ein Kaiser den Auftrag dazu kommunizierte, was aus Quellen erschlossen werden kann. Bei diesen Quellen und entsprechenden Daten kann es sich bekanntlich um nichts mehr als die Nennung des Stifters und der Stiftung auf einer Inschrift handeln, auf deren Basis über die weiteren Prozesse oder Mechanismen des Baus oder gar mentale Prozesse nichts erfahren werden kann, soweit keine anderweitigen Quellen vorliegen. Für diese kausalen Erklärungen braucht es keine Gesetzesannahmen, statistische Relationen oder detaillierte Mechanismen, soweit jene Ursachen nicht irgendwie sonderbar sind und dem alltäglichen Hintergrundwissen oder dem in den Disziplinen geteilten „historischen“ Annahmen über das epochal Übliche widersprechen. Ein komparativ besseres Verstehen wird man jedoch trotzdem unterstellen dürfen. Hier ist der Punkt, an dem man im Unterschied zur vagen Rede von Ganzheiten, z. B. im Rahmen von Kolligation oder „Diskursen“ (Kapitel 6.4), im Bereich von technischen Systemen eine klarere Vorstellung hat, was das Ganze überhaupt ist. Der Gewinn ist nicht zu unterschätzen. Dasselbe gilt natürlich von den sozialen Systemen, z. B. Füssels (2006) Universitäten oder dem Hof von Sigismund von Luxemburg (Kintzinger 2000) genau dann, wenn man weiß, welche Rollen Personen in jenen Systemen einnehmen, was natürlich mit generischen Hintergrundannahmen über das Handeln von Menschen bereits verbunden ist, die im Forschungskontext für typische Akteure als plausibel gelten können: „some assumptions about 460

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In diesen Fällen handelt es sich zudem zumeist um „how possible“ Erklärungen (oder potentielle Erklärungen) im epistemischen Sinn, das heißt es geht um – gegeben die Datenlage – plausible Modelle für zumeist generelle (typenähnliche) Fälle. Es geht, da es sich um eine Form von Modellbildung handelt, nicht um die sozusagen faktische Erklärung in einem singulären Fall, sozusagen das „wie es eigentlich gewesen“, obwohl Wahrheitsnähe angestrebt wird. (Mit „how possible“-Erklärung ist hier nicht die ontologische Verwendung gemeint, in der How-possible-Erklärungen oftmals von Why-necessary-Erklärungen abgegrenzt werden.) Zum Verstehen von Artefakten siehe auch Scholz 2002.

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actors must always be made“ (Hernes 1998, 82), selbst dann, wenn sie völlig implizit bleiben. Eine legitime Frage ist dann, welche das genauer sind und welche in welchen Grenzen stimmen (6.2).462 Auf die Trivialität, dass die Grenzziehung von Systemen (z. B. städtischen Räten und universitären Korporationen) mit Interaktionsformen und damit Handeln zu tun hat, haben wir schon hingewiesen (7.3.4). Aber innerhalb der systemischen und damit relationalistischen Ontologie ist damit bereits etwas verstanden, obwohl man daraus keinen großen Popanz machen muss, wenn dies recht klar ist. Denn durch die Bestimmung der jeweiligen externen Struktur (oder Umwelt) der zwei Systeme versteht man deren (soziale) Grenzen besser wie auch ihre Verbindung. Wenn man das systemistische Verständnis von sozialen Strukturen zugrunde legt, das diese eben selbstverständlich über die Vorstellung von sozialen Relationen immer an konkrete Personen und ihr Denken und Wollen bindet, dann ist klar, dass Geschichtswissenschaftler genauso häufig soziale Strukturen untersuchen, wie sie in metatheoretischen Kontexten den Ausdruck „soziale Struktur“ verwenden, denn es geht zwar selten um isolierte Personen oder Helden, dafür aber häufiger um sozial verbundene Personen, wie Klienten und Patrone nach mancher Ansicht in der Römischen Republik. Zudem geht es ebenso häufig „bloß“ um Typen solcher Relationen und nicht um konkrete Menschen. F. Millar (1984, 1986) ging es in der Kontroverse um ein Verständnis des „Römischen Politischen Systems“, wobei der Gegenstand teilweise nicht nur von Millar auch als „Verfassung“ bezeichnet wird. Dabei geht es global betrachtet, vor dem Hintergrund der systemischen Ontologie, um den mehr oder weniger demokratischen Charakter des Ganzen, also eine global-emergente Eigenschaft. Millar geht es aber nicht bloß um die „kolligatorische“ (Kapitel 6.4) Verwendung des Ausdrucks „Demokratie“, die Hölkeskamp (2011 1986) und andere für unangemessen halten, sondern um ein „Modell“ des römischen politischen Systems. Er fragt mit der Systemik im Rücken betrachtet *Was war dieses Politische System?“ oder *Welche Eigenschaft hatte es?*. Millar spricht von der Republik „as a system having significant democratic features“ (Millar 1986, 5). Vielleicht wird man nicht sagen wollen, dass Millar bereits etwas verstanden hat, wenn er eine (wahre) Behauptung über diese Eigenschaft aufstellt. Denn vor dem Hintergrund der Systemik ist dies bloß eine Tatsachenbehauptung, genauso wie vor dem Hintergrund unserer geborgten „Allgemeinen Hermeneutik“ (Scholz 2001, 2015a/b, 2016b). Eine legitime Frage ist hier, was Millar unter einem „Modell“ versteht und was dieses Modell modelliert. Das sagt er – so weit ich sehe – nicht. Dass hier nicht unbedingt klar sein muss, worum es geht, sieht man vor dem Hintergrund der Systemik unter Umständen daran, dass Millar z. B. von einer Phase schreibt, in der gelte „the constitution worked smoothly“ (Millar 1984, 1 f.). Was ist aber eine solche „constitution“ („Verfassung“)? Ist dies ein abstrakter Gegenstand oder ein konkretes System? Man würde besser verstehen, was Millar genau verstanden hat, wenn man unterstellt, dass er ein soziales System verstehen will und dazu die Strukturen der Komponenten und kausale Prozesse zwischen diesen skizziert, natürlich idealtypisch auf der Basis von in Quellen zu findenden Beispielen und dem in der Disziplin zumindest teilweise geteilten Hintergrundwissen. Millar redet, wie gesehen (Kapitel 3.1.4), von „social structures“, aber nur in der Kritik an den Faktionentheoretikern, deren Thesen er widerlegen will. Auch in diesem Rahmen scheint eher nicht geklärt worden zu sein, was genau mit „social structure“ gemeint ist, obwohl es teilweise so scheint, als sei die These der Existenz von sozialen Strukturen kontrovers. Im Rahmen der Systemik zählen aber auch Interaktionen zur Struktur und Interaktionen (Prozesse) wie

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Deshalb habe ich auch versucht, auf die Tradition der Handlungsgeschichtsphilosophie zurückzugreifen. Ob die Annahmen falsch oder zu vage sind, ist sicherlich im Rahmen von Geschichts(meta)theorie als sekundär gegenüber der Frage anzusehen, ob überhaupt bekannt ist, wie die Annahme lautet.

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das Abhalten von Wahlen sind ggf. bereits als Mechanismen aufzufassen, die das System zu dem machten, „was es ist“. Wie dem auch sei, gerade hier sieht man wieder, dass Ontologie ohne konkretere Hypothesen nicht weit führt, denn die hier aufscheinende Möglichkeit von Konkurrenzhypothesen über den demokratischen oder aristokratischen Charakter führt zuerst zu der Frage, welche (Mikro-)Eigenschaften gegeben sein müssen, damit man dem Ganzen überhaupt eine emergente Eigenschaft zuschreiben darf. Wenn man den Gegenstand hier als politisches System auffasst, dann besteht aber das Verstehen nicht in der Beschreibung der globalen Eigenschaft, sondern der Dekomposition des Systems in Komponenten, Strukturen und Prozesse (Mechanismen), wenn man die Ontologie der Systemik voraussetzt. Die Konkurrenzhypothesen sind jedoch letztlich Konkurrenzhypothesen über die Struktur dieses politischen Systems, der „stable groups“ (Millar 1986, 15) oder Faktionen und natürlich Interaktionsformen und soziale Abhängigkeiten („bonds“), z. B. Klientelbeziehungen oder etwas anderes. Nicht abwegig ist die These, dass es um die spezifischen internen Prozesse in diesem „politischen System“ auch geht. Die Systemik hilft also hier tendenziell, die Problematik zu klären und Scheinoppositionen zu offenbaren. Denn manchmal hat man den Eindruck, es ginge Millar um die verneinende Antwort auf die Frage „Struktur: Ja oder nein?“, obwohl es den Kontrahenten scheinbar um unterschiedliche Auffassung der Struktur des komplexen Systems ging, das sie „Römische Republik“ nennen. Die Systemik zeigt auch, wie hochkomplex diese Problematik nicht nur aufgrund der kapriziösen Datenlage ist, wie schwierig diese geschichtswissenschaftlichen Probleme letztlich sind und wie ingeniös teilweise die partiellen Lösungen, wobei alle Beteiligten wider den Nonsens über sich als allwissend aufspielende „Erzähler“ eingestehen, dass die Lösungen partiell sind. Falls unter sozialen Revolutionen per Definition die Veränderung von sozialen Strukturen verstanden wird, dann sollte es auch minimal so sein, dass zum Beispiel nicht irgendwelche Makro-„Faktoren“ solche Revolutionen hervorbringen oder eben „verursachen“, sondern onto-methodologisch (und damit normativ) naheliegender ist es, das Interagieren derjenigen Personen zu untersuchen, die in jenen Relationen stehen, die als Gesamtheit die Struktur eines Systems konstituieren. Welche Thesen nun genau in Skocpol (1979) die relevanten sind, scheint in der metatheoretischen Literatur wohl noch umstritten, denn Kritiker der makro„kausalen“ Erklärung behaupten teilweise, die eigentlich Erklärung liege in der dichten Beschreibung der „Narration“ der Einzelfälle, nicht in Thesen über makro-kausale „Bedingungen“ vor dem Hintergrund einer Makro-Komparatistik. Darum soll es uns hier nicht gehen, aber vor dem Hintergrund der Systemik ist man skeptisch bezogen auf jede makro-„kausale“ Erklärung, zumal recht simple.463 Vor dem Hintergrund unserer knappen Überlegungen zu demjenigen, was „Kolligation“ genannt wird (6.4.), können wir aber festhalten, dass es vor dem Hintergrund der Systemik gegenstandsadäquate oder wahre Beschreibungen solche Makro-Ereignisse (Revolutionen) geben kann, weil es solche Ereignisse gibt. Eventuell oder gar sicherlich sind Fragen wie „Worauf lief es hinaus?“ in solchen Kontexten auch viel sinnvoller

463

Bei sozialen Revolutionen handelt es sich, sollte es so etwas geben (was z. B. Little 2010 zu bestreiten scheint), um sozial-systemische Ereignisse, die Veränderung oder Erlangung von emergenten Eigenschaften, d. h. die revolutionäre Veränderung einer Struktur eines Systems (oder gar die Transformation in ein System von anderem Typ). Hier ist der Vorteil der Systemik, dass man nicht unexpliziert von „Groß“„Ereignissen“ erzählen muss, sondern immerhin eine grobe ontologische Vorstellung davon hat, worin so ein „Groß“-Ereignis (oder ein Prozess) besteht, was methodologische Konsequenzen hat oder haben kann, die dann diskutabel sind bzw. unter anderem Namen ohnehin diskutiert werden (z. B. Sewell 2005, Manicas 2006).

8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

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als „Was waren die Ursachen?“. Eine andere Formulierung wäre „Wie und warum emergierte ein soziales System mit einer solchen Struktur?“. Ähnlich wie bei Hainzmann (1975) ist es teilweise im Fall des sozialen Artefakts, das Alpers (1995) auf der Basis des Wirklichen („Quellen“) untersucht. Er versucht herauszufinden oder zu verstehen, was sozusagen der fiscus Caesaris gemacht hat, was dessen spezifische Funktion im Rahmen dessen war, was er „das nachrepublikanische Finanzsystem“ nennt. Die Erfahrung lehrt, dass in jedem Fall eigentlich gefragt werden muss, was ein jeweiliger Autor mit „System“ meint. Aber die Frage nach der Funktion des fiscus Caesaris ist die Frage nach einem spezifischen Prozess (Mechanismus), nämlich die (regelmäßige) Eintreibung und Verwaltung von Privatgeldern des Kaisers, im Unterschied zu den Provinzialfisci, dem aerarium Saturni oder dem aearium militare. Hier würde auch nicht an dem Vorliegen von Kausalität im Hintergrund gezweifelt. Debatten um ontologische und methodologische Kausalismen und Anti-Kausalismen müssen Geschichtswissenschaftlern wohl immer arg seltsam vorgekommen sein. Hier ist auch erneut der Punkt, an dem zutrifft, was viele der „hermeneutischen“ Schulen der Geschichts- und Sozialtheorie immer gesagt haben, nämlich dass man einen ersten bzw. den einzigen Zugriff auf jene sozialsystemischen Funktionen über Hypothesen über „lokale“ (D. Little) Handlungs- und Interaktionskontexte hat, denn obwohl soziale Prozesse nach Meinung vieler Sozialwissenschaftler nicht unbedingt ablaufen, wie irgendwer es intendiert, laufen sie doch bloß ab, weil viele Menschen irgendetwas intendieren (oder wollen). Systemistisch ausgedrückt: Soziale Mechanismen erfüllen Teleofunktionen. Allerdings kann Alpers z. B. nicht insofern den fiscus Caesaris verstehen, als er auf der Basis von detaillierten Daten den Verlauf der Werte einer emergenten Eigenschaft (Prozess), dem Kassenstand des fiscus, besser verstehen könnte, also durch Inputs und Outputs. Hier wären zunächst die relevanten Relationen zeitlich, d. h. der Verlauf der Werte der Eigenschaft, der in anderen Fällen sinnfällig als Verlaufsdiagramm dargestellt wird, ist zu eruieren und wäre ggf. durch Veränderungen in Inputs und Outputs mit kausaler Reichweite zu erklären. Hier gibt es immer zwei prima facie Verstehen ermöglichende Fragen und entsprechende Relationen: Wie verlief der Prozess (im schwachen Sinn) genau? Wie wurde der Prozess hervorgebracht? Die hypothetische Beschreibung der zeitlichen Abfolge der Werte einer Eigenschaft eines Systems, wobei es sich im Rahmen der Systemik um (non-kausale) Prozesse handelt, ist vor dem Hintergrund unserer vorherigen Überlegungen (Kapitel 5) bereits eine Form von Verstehen und die Ermöglichung des Stellens von weiteren Fragen. Letzteres gilt in diesem Kontext ja auch als Indikator für das Vorliegen von Verstehen. Die Beantwortung der Frage „Wie war der Prozessverlauf?“ oder Ähnliches ist die Voraussetzung für das Stellen von spezifischeren (kontrastiven) Fragen nach dem „Warum?“ einer Veränderung oder auch eines als signifikant angesehenen Trends, z. B. einer Bevölkerungsexplosion zu einem Zeitpunkt. Bei der Bevölkerung von Marseille (Sewell 1985, Abbildung 2, S. 92), Laichingen (Medick 1996, Abbildung 37) oder Quedlinburg (Wozniak 2013) handelt es sich bereits – so die Hypothese – um emergente Eigenschaften und bei den Veränderungen dieser Systeme oder der Eigenschaft um einen Prozess. Was hat man hier (besser) verstanden? Den Verlauf der Werte einer Eigenschaft in der Zeit. Vielleicht ist das nicht spektakulär. Ein Geschichtswissenschaftler muss daran aber unter Umständen Jahre arbeiten und eine Menge (philosophischer) Voraussetzungen machen, z. B. die Existenz eines sozialen Systems voraussetzen. Hier gibt es auch erkennbar ein Stufenmuster relevanter Fragen. Zuerst muss gefragt werden „Was ist passiert?“ oder „Wie verlief der Prozess (genau)?“, bevor „Warum ist es passiert?“ oder „Warum war der Verlauf so und nicht anders?“ gefragt werden kann.

Abbildung 37

„Die Bevölkerung Laichingens 1605-1900“ (aus Medick 1996, nach Seite 303). Im Rahmen der Systemik handelt es sich um eine Repräsentation eines sozialen Prozesses (im schwachen Sinn; 7.3.5).

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8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

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Mit der Brille der Systemik gelesen könnte man an Hölkeskamps (2011 1987) Standardwerk „Entstehung der Nobilität“ interessante metageschichtswissenschaftliche Fragen richten, was den Gegenstand und seine Verstehensbemühungen betrifft: Möchte Hölkeskamp eine (inexistente) Gruppe untersuchen oder die Entstehung (und fortwährende Reproduktion) eines sozialen Systems? Hier ist sicherlich auch ein Punkt, an dem die systemische Ontologie ohne weitere sozialtheoretische Konkretisierung vielleicht zu grob ist, um das entscheiden zu können: Systematizität kommt – so die Hypothese – in Graden vor, und wann die Schwelle zur Existenz eines sozialen Systems eindeutig überschritten ist, ist auf der Basis der Kategorien der systemischen Sozialontologie nicht zu sagen, sondern eine Aufgabe für sozialwissenschaftliche Hypothesenbildung. Hölkeskamp nennt sein Vorhaben auch eine „Strukturanalyse der Formierung der Nobilität“ und sagt, die vorherige Forschung in der Altgeschichtswissenschaft habe zur Aufdeckung der „Struktur der Nobilität“ beigetragen (Hölkeskamp 2011 1987, 10). Da das ontische Vokabular hier wie auch beispielsweise im Fall von Sewell (1985) komplex ist und für sich genommen analysiert werden müsste, kann vor dem Hintergrund der skizzierten Systemik nur gesagt werden, dass die ontologische Grundvorstellung dieser auf den ersten Blick weitgehend zu entsprechen scheint, zumindest in den Grundzügen und soweit ersichtlich: Gegenstand dieser Untersuchungen ist der Prozeß der Genese und Konsolidierung der patrizisch-plebeischen Senatsaristokratie und ihrer Kerngruppe, der Nobilität, in der Phase der Entschärfung des Antagonismus zwischen dem archaischen „Adel“ des Patriziats und der Plebs und des Beginns der Expansion Roms im 4. und früheren 3. Jhdt. Das Ziel dieser Arbeit besteht wesentlich darin, nicht nur die Entstehung dieser besonderen Spielart einer sozialen und politischen Elite und ihres Regimes zu beschreiben, sondern auch die Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Formierungsprozesses herauszuarbeiten. Dazu müssen zum einen die gesellschaftlichen Verhältnisse (also die „Strukturen“ der res publica um 300), das konkrete Handeln der in diesen Verhältnissen agierenden Gruppen und Individuen bzw. die Folgen und Wirkungen dieses Handelns und allgemein die „Ereignisse“ gewissermaßen namhaft gemacht werden, die die Etablierung dieser classe politique und der spezifschen sozialen und institutionellen Voraussetzungen und Grundlagen ihrer Herrschaft in der einen oder anderen Weise beeinflußten; es geht zum anderen auch darum, jeweils Relevanz und Gewicht dieser Faktoren, ihre kausalen, funktional interdependenten oder kontingenten Verknüpfungen in und mit dem Entwicklungsprozeß der neuen Elite und die Rückwirkungen dieses Prozesses auf seine Rahmenbedingungen zu analysieren. Ein solches Unternehmen bedarf einer Begründung, die über eine bloße Verortung in der Forschungsdiskussion hinausgeht. Die folgenden Untersuchungen verstehen sich in mancher Hinsicht als Ergänzung und Erweiterung der bekannten Studien zur Nobilität der römischen Republik (Hölkeskamp 2011 1987, 9).464 Das klingt nach einem komplexen Programm, wovon die anschließende Studie auch Zeugnis ablegt. Wenn aber unter „Nobilität“ bloß die Gesamtheit der Menschen verstanden werden würde, die zum Konsulat gelangt ist, dann wäre die Entstehung dieser Gruppe insofern nicht 464

Man bemerke erneut die Skepsis mancher Geschichtswissenschaftler bezogen auf das Wort „Ereignis“, auch jenseits der Braudelschen Annales. Sie ist recht weit verbreitet und der Ursprung dieser Skepsis dürfte in der Mitte des 20. Jahrhundert liegen. Die Ontologie der Systemik erübrigt natürlich solche kategorialen Oppositionen, soweit man sie für plausibel hält.

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zu erklären, als sie vor dem Hintergrund der systemischen Ontologie gar nicht als Entität existiert hat, deren „Entstehung“ man erklären könnte. Hier müsste man aber das im vorherigen Zitat vorkommende Vokabular studienintern genau klären und die weiteren Annahmen herausarbeiten, bevor man dazu mehr sagen kann. Zudem wäre diese Forschungslinie genauer zu betrachten. Die durchaus komplexen, wenn auch wohl kaum „narrativen“ Studien wie diejenigen von Hölkeskamp (2011 1987) oder Sewell (1985) lassen es wünschenswert erscheinen, dass die Forschungspraxis so klar wäre, wie z. B. in Covering-Law-Modellen oder Schuß-TorKausalmodellen oder „kausaler“ Schlangenmetaphysik vorgestellt, denn dann wäre vieles nicht nur klarer, sondern auch einfacher. Natürlich weiß man nicht, was genau in solchen Studien vor sich geht, bevor man nicht haarklein alle Hypothesen listet, die in solchen Werken vorkommen. Das ist eben nicht immer ganz klar, aber nicht, weil es sich dabei um „Erzählungen“ handelt, sondern weil es sich um akademische Schriften handelt, in denen jene Hypothesen immer zugleich mit ihrer Rechtfertigung und einer Auseinandersetzung mit anderer Forschung aufgestellt werden, was es bekanntlich manchmal unübersichtlich macht, besonders für Laien. Dasselbe gilt z. B. von Blochs Forschungsüberblick zur French Rural History (1970), Frings Schriftpolitik (2007a), Hitzblecks (1971) Ernährungswirtschaft oder eben Sewell (1985), zu dessen Structure and Mobility sich vor dem Hintergrund der Systemik wie auch der hier rezipierten Sozialtheorie fruchtbar danach fragen lässt, was er zum Beispiel mit „understanding nineteenthcentury cities and ninteenthcentury social change“, mit „structure and character of city neighborhoods“, „economic and social structure“, „social structure and social processes“, „economic and occupational structures“, „large-scale changes in the structure of economy and society“ und den zu analysierenden „interrelations“ zwischen „various transformations that occurred“ (Sewell 1985, xiv, 5, 11) meint, zumal es hier im Kern um die Gegenstände des Verstehens und entsprechende Relationen zu gehen scheint. Mit der These, „die Historiker“ untersuchten „historische Ereignisse“ oder Handlungen kommt man hier wie andernorts nicht sehr weit, mit der Systemik kommt man schon weiter. Denn dann fällt auf, dass Sewell wohl mit „movement of individuals into and within the social structure of Marseille“ (Sewell 1985, 9) Doppeltes meint, nämlich die Migration in ein Sozialsystem („social structure“) und zugleich die „Bewegung“ innerhalb von Gruppen, das heißt inexistenten Mengen von Personen mit z. B. ähnlichem „sozialen Status“. Um Genaueres zu sagen, müsste man auch hier zugleich die Forschungslinie und die entsprechenden Traditionen der empirischen Sozialforschung betrachten. Das ist studienintern nicht unwichtig, denn jene „Bewegung“ ist das, was Sewell „soziale Mobilität“ nennt, von der im Titel neben Strukturen die Rede ist.465 Was möchte Sewell verstehen, womit er wohl eine in „urban history“ (2.1) geteilte Annahme ausspricht? Eine Stadt. Und was es für diese Forschungslinie heißt, eine Stadt zu verstehen, wäre eigens zu untersuchen, denn aus Laienperspektive ist dies – auch vor dem Hintergrund unserer philosophischen Annahmen – keine triviale Frage. Dass dies keine triviale Frage ist,

465

Hier schlummern wohl eine Menge ontologischer Probleme, zumal Sewells Hauptthese ist: „Mobility, this book argues, depends on structure“ (Sewell 1985, 11; Hervorhebung dp), womit eine vielleicht seltsame Determinations- oder Verursachungsrelation angedeutet wird, in der, Sewells (2005) neuerer „interpretativer“ Geschichtstheorie zuwider, konkrete Menschen (wohl) keinerlei (direkte) Rolle spielen, die Sewell aber dazu dienen soll, sein Ziel zu erreichen, nämlich „soziale Mobilität“ zu „verstehen“ („understand“). Aus dem Rekonstruktionsversuch der systemischen Ontologie, wie auch der parallel vorgenommenen Sichtung der individualistischen oder strukturindividualistischen Sozial(meta)theorien, ergeben sich nicht nur legitime Rückfragen, sondern auch erste Zweifel, die Sewell später wohl auch befallen haben.

8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

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wird klar, wenn man sich die entsprechenden Fragen vergegenwärtigt, durch die z. B. Sewell seine Problematik ausdrückt.466 Im Fall von J. Topolski (1979 1965, 1994a) geht es schon klarer um die Entstehung („Geburt“) von sozialen Systemen, da Topolski unter Voraussetzung seiner Marxianischen Ontologie oder Sozialtheorie voraussetzt, dass die entstehenden kapitalistischen und gutswirtschaftlichen Sozialsysteme aus miteinander interagierenden und einander gebundenen Personen bestehen. Die Existenz von Sozialsystemen wird insofern unterstellt, als nicht undefinierte „Ereignisse“ oder „Strukturen“, sondern die Entstehung solcher Systeme erklärt werden soll, vermutlich nicht nur in Topolskis Forschung, sondern jener Forschungslinie, die Topolski zufolge unterschiedliche Theorien dazu hervorgebracht hat. Im Fall von Hainzmann (1975) soll teilweise auch die Erweiterung (Ereignis) des Wasserversorgungssystems erklärt werden. Ohne Gegenstand gibt es keine relevanten Erklärungs- und Verstehensbemühungen, weshalb diese Bemerkung nicht gänzlich trivial ist, denn in diesem Fall besteht das Ereignis im Zugewinn von Systemkomponenten. Auch im Fall von Rilinger (1976) geht es im Hintergrund der Fragen um die Wahlleiter- und Faktionenthesen nicht zuletzt um die Frage nach der Existenz von Sozialsystemen. Wenn es dort stellenweise heißt, Ziel sei „einen Zugang zum Verständnis der römischen Verfassung“ zu finden (Rilinger 1976, 153), kann man vor dem Hintergrund des Systemismus kritisch fragen, worum es sich genauer bei jener Verfassung als Verstehensgegenstand überhaupt handelt, zumal sich Spuren eines Holismus oder idealistischen Holismus finden lassen. Heißt es doch, wie wir gesehen haben (3.1.3), jener „Verfassung“ genannte Gegenstand trage bestimmte „Züge“, verändere sich und passe sich „experimentierend veränderten Umständen“ an (Rilinger 1976, 39). Auch Strukturindividualisten in der Sozialtheorie fragen an derartigen Stellen noch immer, wie dasjenige, was hier wohl „Verfassung“ und dort „System“ genannt wird, so etwas fertigbringt (Greshoff 2008d, 2011b; 7.4, 7.5). Vor dem Hintergrund unserer obigen Überlegungen ließe sich nun die Frage neu stellen und vor dem Hintergrund einer Relektüre von „Der Einfluss des Wahlleiters“ fragen, was es für Rilinger genauer heißt, diesen Wahlleiter in das Wahlsystem (oder Strukturen) einzuordnen, worin dessen Handlungsbeschränkungen und -möglichkeiten bestanden, welche theoretischen Annahmen Rilinger zur (expliziten oder impliziten) Modellierung dieser (typischen) Zusammenhänge heranzieht, und wie er in einem zweiten Schritt diese Annahmen zur Analyse spezifischer Ereignisse/Prozesse verwendet. Topolskis (2009) „Activist Concept of the Historical Process“ ist damit verbunden, dass Topolski den europäischen Adel als vor praktischen Problemen stehend auffasst, wobei diese praktischen Probleme sich aus den Überzeugungen, Wertsystemen und Wünschen der Akteure in Abhängigkeit vom historischen Kontext ergeben, d. h. den Sozialsystemen, zu denen diese Adeligen gehören und deren Einkünfte sinken, wie auch den Sozialsystemen in der Umwelt (Märkte). Glaubt man dem Aufbau von Topolskis Überlegungen, dann kann die Emergenz dieser Sozialsysteme auf der Basis von (sicherlich non-kausalen und äußerst seltsamen, daher als „phänomenal“ oder pragmatisch aufzufassenden) Makrosozialgesetzmäßigkeiten in einem ersten Schritt deduktiv-quasinomologisch erklärt werden (Kapitel 3.1.5). Der zweite Schritt wäre die Modellierung von handlungstheoretisch „fundierten“ (so die Strukturindividualisten) sozialen Interaktionsprozessen oder „Mechanismen“ (so Topolski). Topolski war sich bewusster als andere, dass ohne theoretische Vorstellungen und allgemeine Hypothe466

„How did capitalist economic development affect the size and composition of urban occupational groups? How did massive urban population growth change the structure and character of city neighborhoods? Did economic changes transform the status hierarchy of urban society?“ (Sewell 1985, xiv). Hier ist klar, dass immer nach Sozialem gefragt wird. Aber was heißt z. B. „Gruppe”, „Struktur” und „ökonomischer Wandel” genauer? Ist die Statushierarchie eine Eigenschaft einer Stadt oder „urbanen Gesellschaft”? Ist der soziale Status einer Person rein subjektiv (fiktiv), intersubjektiv oder objektiv (oder real)?

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

sen die Entstehung solcher Handlungsprobleme (Verminderung der Einkünfte des Adels → Verminderung des (gefühlten) sozialen Status → Reaktion der Nobilität) nur beschrieben, aber eigentlich nicht theoretisch erklärt werden kann (Hempel 1965, Bunge 1967a/b, Esser 1996). Gerade hier sieht man, dass Kausaljargon zur Ausschmückung der Pfeile von Diagrammen nicht (immer) hinreicht, obwohl es wohl zumeist keine theoretische Grundlage für angedeutete (Makro-Mikro-)Pfeile gibt. Ohne allgemeine Hypothesen über das Denken und Handeln von Menschen in sozialen Kontexten – wenn man will, „biosocial mechanisms“ – oder auf der Basis von „Verstehen (understanding)“ (Kapitel 4.2) ist eben nicht klar, dass überhaupt oder warum eine Verminderung der Einkünfte zu Kummer und Kummer zum Handeln führt. So weit wir sehen, verfügte Topolski selbst kaum über diese allgemeinen Hypothesen und sie sind bis heute nicht ganz klar, wie ein Blick in die Erklärenden Soziologien vermuten lässt, in denen diese Hypothesen zu klären versucht werden.467 Im Fall von Topolski ist schwer zu sagen – so weit wir in der impressionistischen Sichtung der Mini-„Anatomie“ sehen können –, worin die erklärenden oder Verstehen ermöglichenden Zusammenhänge genauer bestehen, wenn man nicht unterstellt, dass sie zumindest in der skizzenhaften Erklärung der Suche der Adeligen nach ökonomischen Handlungsmöglichkeiten auf Märkten in Handlungstheorien liegen, die in diesem Fall nicht ganz klar sind. Man muss zudem unterstellen, dass man die Makro-Mikro-Relation auf der Basis von Topolskis Beschreibungen bereits hinreichend kapiert hat. Hier ist auch eine Stelle, an der klar ist, dass rein erotetische oder rein pragmatische Erklärungsvorstellungen nicht nur nicht zu rekonstruieren helfen, was Topolski vorschwebte, sondern auch keinerlei Kritik- und somit Verbesserungspotential bereitstellen. In gewissem Sinn sind sie also forschungshinderlich, zumindest nicht forschungsförderlich.

467

Theoriemangel können Geschichtswissenschaftler aber prinzipiell in diesen Fällen zumindest teilweise beheben, wenn nämlich quellenmäßig in vielen Fällen dokumentiert wäre, dass die relevanten Personen aufgrund der Verminderung ihrer Einkünfte und Befürchtung von relativem Statusverlust nach neuen Einkunftsquellen suchten und sich typischerweise in Osten und Westen für bestimmte Wirtschaftsformen entschieden und diese durchsetzten, weil sie Überzeugungen über dortige Handlungsmöglichkeiten erworben haben, indem diese Personen dies selbst bezeugen. Mir ist aber nicht klar, ob Topolski über diese Quellen vielleicht doch verfügte oder ob seine Hypothesen weithin theoretisch blieben (3.1.5). Die Makro-MikroVerbindung beschreibt Topolski, auf spezielle Studien verweisend, in der metatheoretischen Reflektion zu seiner Forschung gelegentlich wie folgt: „The special studies are suggesting that the nobles were aiming at the rise of their dwindling income. They urgently needed more income in order to strengthen their social position, weakened as confronted with the growing prosperity of the townspeople and some other group of the society. From their practice they knew (other methods were not radical enough) that it was only an economic activity which could bring expected results. The knowledge about the conditions of actions in the Polish territories contained the conviction about the role of the favorable market situation and cheap manpower assured by the dependent peasants as well as about the effectiveness of starting manorial farms for the rise of income. We see here that the objective conditions „contained“ in the law (sale’s possibilities and serfdom) from the deductive-nomological model found themselves in the rational model as elements of the knowledge about the conditions of actions. Thus the human consciousness assures the links between both models” (Topolski 1978, 14).

8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

Abbildung 38

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Bevölkerung nach Vermögen im 14. Jahrhundert (aus Wozniak 2013, 194).

Im Fall solcher Modellbildung wie im Fall von Topolski, die auch nicht typisch ist für dasjenige, was man in Geschichtswissenschaften findet, haben die Individualisten oder Mikrofundierer eventuell ansatzweise recht, dass der „Kern“ oder „nomologische Kern“ (Schmid 2005a/b, 2006a/b, 2011b) solcher Modelle in Handlungstheorien selbst dann liegt, wenn diese Handlungstheorien – paradox formuliert – unklar und umstritten sind (Frings 2007b, 2008, Kapitel 6.2) und ferner nicht hinreichend sind, weil sie über Soziales wie die Entstehung sozialer Systeme gar keine Aussagen enthalten. Aus generellen Sätzen über Wünsche und Überzeugungen oder Werte und Erwartungen individueller Personen lässt sich die Entstehung des Kapitalismus schlechterdings nicht ableiten. Das war auch ein (legitimer) Grundgedanke hinter mancher narrativistischen Vorstellung des „Das kann man nur historisch erklären“ (Kapitel 6.4). Da Geschichtswissenschaftlern weder für Makro-Mikro-Übergänge noch für MikroMakro-Übergänge (d. h. soziale Prozesse) theoretische Modelle zur Verfügung stehen, muss man in der Praxis entweder Diagramme malen, deren Hintergrundhypothesen dann recht unklar sind, oder Verläufe rekonstruierend und in kontextuell unterschiedlichem Detail „erzählen“ (siehe Frings 2007a zur „Logik der Aggregation“, also Mikro→Makro, bezogen auf ein komplexes, singuläres „historisches“ Explanandum). Wozniak (2013) wiederum untersucht mit Quedlinburg ein soziales System, das aus zwei „Städten“ besteht, nämlich der Altstadt und der Neustadt. Dabei versteht er dieses System prima facie im Rahmen des sozialtopographischen Ansatzes kaum dadurch besser, dass er „historische“ Ereignisse beschreibt, (kausale) Abfolgen erzählt oder Handlungen beschreibt (4.2), sondern vornehmlich dadurch, dass er räumliche Relationen auf der Basis von Steuerbüchern, die gar keine Angaben über räumliche Relationen enthalten, hypothetisch annimmt. Ferner situiert er soziale Gruppen oder Schichten räumlich in diesem System, wobei es sich bei solchen Verteilungen auch bereits um systemische Eigenschaften handeln könnte (Abbildung 38, Abbildung 39).

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

Abbildung 39

Bevölkerung nach Vermögen im 16. Jahrhundert (aus Wozniak 2013, 194).

Zur Tradition der historischen Sozialtopographie heißt es, dies sei „die präzise Darstellung der ‚Verteilung von sozialen Merkmalen im Raum‘ (Wozniak 2013, 53). Die Reichen ballen sich in diesem Gebiet, die Armen dort. Wenn wir zunächst unserem Forschungsprogramm vertrauen, dann hat dieser Geschichtswissenschaftler auch schon etwas verstanden, auch wenn der Verstehensgegenstand vielleicht andere Geschichtswissenschaftler wenig interessiert und in der Philosophie sicherlich nicht als typisch historisch gilt. Hier geht es, soweit man die Systemontologie voraussetzten darf, auch vornehmlich um die „spatial structure (or configuration)“ des Systems. Den Ausdruck „soziale Struktur“ und Ableger wie „Berufs- und Sozialstrukturen“ verwendet Wozniak wenig überraschend selbst, soweit ich sehe jedoch ohne ihn genauer zu erläutern. Hier darf man vermuten, dass diese Redeweise, die wenig oder nichts mit anderen Verwendungen von „Struktur“ zu tun hat (7.3.4), in dieser Forschungslinie innerhalb der Mediävistik wie auch der Soziologie allgemein als bekannt und daher selbstverständlich gilt. Hier kann man weiter schauen, wenn man wissen möchte, was (manche) Geschichtswissenschaftler mit „Struktur“ meinen. Viele dieser Geschichtswissenschaftler würden wohl sagen, nicht das System sei ihr Gegenstand, sondern eben die Struktur. Der Systemist klärt tendenziell: Es geht um eine Eigenschaft („Struktur“) eines sozialen Systems. 468 468

Meine Vermutung ist, da dies auch teilweise in der sogenannten „Sozialstrukturanalyse“ der empirischen Sozialforschung so zu sein scheint, dass mit „Struktur“ hier jeweils die Aufteilung der Komposition (oder Population) des Systems oder Aggregats in Gruppen gemeint ist. (Eine solche Verwendung von „Struktur“ scheint gerade in nun etwas älterer Sozialgeschichtswissenschaft sehr verbreitet zu sein; siehe z. B. Kriedte 1991.) Mit „Sozialstruktur“ ist dann die Aufteilung in Gruppen wie Räte, Ministerialen, Lehnsempfänger, Adelige, Witwen, ledige Frauen und Juden gemeint. Mit „Berufsstruktur“ ist die Aufteilung in Ackermänner, Brauer, Ratshirten, Schäfer, Hirten, Bäcker, Müller, Fleischer, Brandweinbrenner, Winzer, Schmiede, Wollweber, Tuchmacher, Leineweber, Schuster, Gerber, Kürschner, Gewandschneider, Stein- und lehmverarbeitende Handwerker usw. usf. gemeint. Mit „Vermögenstruktur“ ist dann die Einteilung in „Vermögensschichten“ gemeint. (Ähnlich dürfte Goubert 1956, 70, 73, von der „social structure of the peasantry“ schreiben.) Wir haben schon darüber spekuliert, dass es sich auch bei ähnlichen Anteilen- und Verteilungen

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Für die Signifikanz der räumlichen Relationen scheint auch Voraussetzung zu sein, die Existenz eines Systems vorauszusetzen, denn andernfalls wären die räumlichen Relationen innerhalb von Quedlinburg eventuell genauso uninteressant wie die Relationen von Quedlinburg mit – sagen wir mal – einem Baum in Südamerika. Das ist eine Frage, die sich bezüglich der Gegenstände immer stellt. Die Frage ist, ob ein System hypothetisch angenommen werden kann oder nicht. Solange man an potenziellem sozialontologischem Realismus festhält, wird man häufig eine systemistische Ontologie unter der Decke der Texte zu deren Plausibilisierung unterstellen müssen. Hier tun sich natürlich vor dem Hintergrund der Praxis viele Probleme auf. Aber Wozniak muss wohl, wenn er Quedlinburg über zwei Jahrhunderte vergleicht, die Persistenz eines Systems voraussetzen, weil sonst jeder Vergleich eigentlich witzlos ist. Etwas Ähnliches gilt hier in anderen Fällen wie Jones (1960) oder den untersuchten „Trends“ oder „Reihen“ bei Stephenson (1988), Stone (2003), Hitzbleck (1971) oder auch Millar (1984, 1986) und Hölkeskamp (2011 1987). Es geht natürlich letztlich wohl auch noch um mehr, so heißt es z. B.: „Die ermittelten topographischen Wohnverhältnisse ermöglichen es, anhand der Namen die sozialen, kulturellen und ökonomischen Zusammenhänge zu kartieren“. Dem können wir hier nicht nachgehen, zum Beispiel können wir nicht fragen, was hier genauer mit „sozialen, kulturellen und ökonomischen Zusammenhängen“ jeweils gemeint ist und was bei Wozniak und in der Sozialtopographie unter „sozialen Verhältnissen“ verstanden wird. Aber zumindest typische Abfolgen oder „Strukturen“ von Fragen sind grob ersichtlich: Zunächst geht es um räumliche Relationen, um z. B. über „Quartierbildung“ (z. B. von Ratspersonen, Gildenmitgliedern, der Gruppe der Studenten,) etwas herauszufinden. Das ist eine Voraussetzung für tentative, auf der Quellenbasis häufig wohl erneut unmögliche Fragen über das „Wie?“ oder auch ein „Warum?“, z. B. mit der Frage danach, in welchen Phasen sich welche Quartiere gebildet haben. Auch solche Quartiere sind unter Umständen bereits soziale Systeme. Dasselbe gilt für den angestrebten Vergleich der „Verhältnisse“ im 14. Jahrhundert mit jenen im 16. Jahrhundert, in dem letztlich nach einer sozialen Veränderung gefragt wird. Auch die Veränderung der Verteilung dieser Quartiere in Quedlinburg ist ein Prima-facie-Beispiel für einen sozialen Prozess (im schwachen Sinn). In den Geschichtswissenschaften dürfte es häufig so sein, dass der Aufwand der Beantwortung der ersten Frage so groß ist, dass ein anderer Forscher die zweite stellen muss oder sie wird nie gestellt werden, weil es keine Daten dazu gibt. Die Quellen sind hier wiederum bloß Listen von Namen, wobei die weitere Hypothesen über (räumliche) Relationen ermöglichende Hypothese die Hypothese ist, dass die Reihenfolge der Namen in den Steuerregistern „die topographische Anordnung der Haushalte innerhalb der Straßenzüge und Steuerviertel widerspiegeln“. Dies ist der „Schlüssel zum Verständnis der Steuerregister“ (Wozniak 2013, 52), wobei es sich hier auch durchaus um eine tentative Erklärungshypothese über das Zustandekommen des vorliegenden Dings („Quelle“) und dessen Eigenschaften handelt (Kapitel 5.4). D. h. die Erklärung von Eigenschaften der Quelle ist eine hypothetische Basis für alle weiteren Hypothesen über die räumliche Struktur von Quedlinburg. Dies ist ein eingängiges Beispiel dafür, dass es kein sozusagen hypothesenfreies („theoriefreies“) Fundament geschichtswissenschaftlicher Forschung gibt. Es ist schlicht ab(„Vermögensverhältnisse“) um global-emergente Eigenschaften (recht kontraintuitiver Natur) handeln könnte, so kontraintuitiv wie soziale Ungleichheit. Natürlich kann man schon fragen, ob durch die Analyse des Systems in solche Strukturen bloß eine komplexe soziale Eigenschaft (Tatsache) beschrieben oder ein System besser verstanden wird (oder ob man dies vielleicht anti-realistisch deuten soll). Makrowirtschaftsgeschichtswissenschaftler teilen ganze Gesellschaften auch in Gruppen von Sozialsystemen auf, wenn sie von Strukturen reden; vgl. z. B. „Instustriestruktur“, „Strukturwandel“, „Agrarstruktur“, „Wirtschaftsstruktur“ in Steiner 2007. Wir halten sicherheitshalber fest: „Sozialstruktur“ heißt oftmals nicht dasselbe wie „soziale Struktur“.

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surd zu behaupten, das eigentliche Problem sei nicht die Tatsachenfeststellung, sondern die „Erzählung“ der Tatsachen (Ankersmit 1981). Bei räumlichen Verteilungen handelt es sich auch um Tatsachen im systemischen Sinn (7.3.7). Wozniaks Ziel bestand darin, in dem „kleinteiligen und unübersichtlichen Datenfeld“ etwas mehr Übersichtlichkeit zu schaffen (Wozniak 2013, 343). Vor dem Hintergrund der Systemik und dem allgemeinhermeneutischen und aus unserer Sicht zugleich wissenschaftstheoretischen Forschungsprogramm hat er eventuell auch etwas mehr Übersichtlichkeit in seinen Forschungsgegenstand gebracht und diesen etwas besser verstanden als zuvor. Auch im Fall von A. H. M. Jones (1960) geht es bei der Erforschung oder, wie wir vermuten, dem Verstehen der „Cloth Industry“ auf der Basis äußerst prekären Quellenmaterials um vornehmlich räumliche Relationen hinter dem Ausdruck „Organisation“. Andere Determinationsbeziehungen oder konkrete Kausalzusammenhänge sind selten auf der Datenbasis zu erfahren, außer die Abhängigkeit der Produktion von der Verfügbarkeit von Produktionsmaterialien in der Umgebung. Auch hier werden in einem kleinen Aufsatz vielerlei Informationen über Unterschiedliches geboten, was wohl alles in allem als typisch für geschichtswissenschaftliche Studien gelten kann. Entsprechend schwierig ist in jedem Fall die Zuordnung von Forschungsgegenständen zu ontologischen Vorstellungen und das Festnageln von Gegenständer der Bemühungen um Verstehen. Zum Beispiel kann man auch daran zweifeln, dass es sich bei Jones Gegenstand um ein System handelt. Er spricht zwar von der Industrie, ihrer „Organisation“ und „Geschichte“ (Jones 1960, 183 f.), aber dem Laien ist nicht klar, ob zwischen den unterschiedlichen Produktionsstandorten für unterschiedliche Kleidungstypen tatsächlich so enge Verbindungen bestehen (z. B. Produktion, Kauf und Verkauf oder Tausch), um von einer Industrie sprechen zu können. Vor dem Hintergrund des CESM-Modells ist dies aber allemal eine legitime Frage und das erste basale Verstehen auch dieser „Industrie“ besteht in der Dekomposition in ihre Komponenten und ihre Relationen, wobei bloß räumliche Relationen als nicht-bindende Relationen natürlich noch kein Sozialsystem ergeben (7.3.1). Ansonsten bildeten auch ein beliebiger Friseursalon in Münster Mitte und ein anderer beliebiger in Meppen Süd ein System. Jones (1960 183 f.) schreibt zur „Organization der Industrie“, sie sei über Jahrhunderte „ähnlich“ gewesen und habe sich in ihrer „Geschichte“ nur wenig „entwickelt“: „It is on these assumptions that I base my reconstruction“ (Jones 1960, 183 f.). Ein Systemist kann dies so deuten, dass hier die Existenz eines Systems zu den Präsuppositionen der Problematik gehört, die Hypothese daher zwar fallibel, aber nicht weniger wichtig ist, denn hierbei handelt es sich um die Festlegung des Gegenstands der Untersuchung. Hier geht es tendenziell um die „Organisation“ eines Systems aus Systemen, denn nur für Ägypten kann man anderes skizzieren: „It is only in Egypt that we have any intimate knowledge of weavers, what kind of men they were and how they were organized“, nämlich in einer „guild organization“ oder, systemistisch gesagt, in der Struktur einer Gilde. Von einer „industry of such a structure“ spricht Jones auch stellenweise selbst (Jones 1960, 183, 187, 188).469 Mit der Frage „How far was manufacture concentrated in certain districts or towns?“ fragt Jones eventuell bereits nach einer systemischen Eigenschaft (Jones 1960, 184). 469

Die Generalisierungen lauten in dieser Studie ähnlich wie folgt: „How far the poor wove their own clothes we do not know, but the majority seem to have bought their garments“ (Jones 1960, 184). Eine bei Augustinus überlieferte Anekdote zeigt Jones zufolge: „Even a poor man normally bought ready-made clothes“ (Jones 1960, 184). Bei Goubert findet man: „The typical manouvrier owns a few acres, a cottage, and a small garden - for the manouvriers of the Beauvaisis were almost all very small proprietors. The garden yielded hemp, beans, cabbages, and a few apples. Their few acres produced some sacks of maslin (a mixture of wheat and rye): in short, enough to feed a family for a few months or a few weeks a year” (Goubert 1956, 59).

8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

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Der Titel „Organisation der Industrie“ bezieht sich scheinbar, ohne dass Jones dies explizit sagt, auf Produktion und Distribution in und durch die entsprechenden Systeme auf der Ebene des gesamten Kaiserreichs, aber auch bezogen auf die Ebene von Regionen, Städten bzw. Dörfern oder auch einzelne Produktionsstätten (Gilden) bzw. Typen solcher Produktionsstätten. Mit der systemischen Brille kann man dies zumindest nachvollziehen und es überrascht nicht, sondern die Systemik hilft, diese Studie „rational zu rekonstruieren“ – so wird eine Methode der Wissenschaftstheorie genannt – und sie würde helfen, die Ergebnisse übersichtlicher zu präsentieren, indem sie tendenziell dazu beiträgt, die Problematik genauer zu formulieren. Mehr als Impressionen sind an dieser Stelle nicht möglich. Wir haben hier versucht, die These, Verstehen habe etwas mit dem Erfassen von Relationen zu tun, mit den Möglichkeiten zu verbinden, die sich aus der systemischen Ontologie in Konfrontation mit der gesichteten geschichtswissenschaftlichen Praxis ergeben. Das ist auf der einen Seite ein Explizitmachen von ansonsten weitgehend implizit bleibender Ontologie (Kapitel 6). Gleichzeitig ist es ein Versuch, die Plausibilität der gewählten Ontologie in Konfrontation mit (einer) Praxis etwas abzuschätzen und diese Praxis vor dem Hintergrund der geschilderten Problemlage (Kapitel 4.2, Kapitel 5) etwas metatheoretisch zu beschreiben oder zu rekonstruieren. Immerhin zeigt sich dann, dass man etwas mehr mit dieser Kombination von philosophischen Thesen anfangen kann. Immerhin kann man an mehreren Stellen der recht zufällig gewählten Praxisbeispiele behaupten, diese Geschichtswissenschaftler verstehen etwas besser als zuvor, weil sie Relationen oder Typen von Relationen erfassen, die sie interessieren, weshalb wir unsere Tabelle aus Kapitel 4.2 wieder hervorzaubern können470. Tabelle 4 Geschichtswissenschaftler und das Erklären, Verstehen und Erzählen Erklärung/Erklären? Verstehen? Erzählung/Erzählen? A-Q1a: ? A-Q2a: Ja! A-Q3a: Nein! A-Q1b: ? A-Q2b: Ja! A-Q3b: Egal! (6.4) A-Q1c: ? A-Q2c: Durchaus! (5.5) A-Q3c: Egal! (6.4) Man könnte noch immer nach klareren Fällen von Erklärungs- und Verstehenstypen suchen oder die Systemik unter Hinzuziehung anderer philosophischer, geschichts- und sozialtheoretischer Ideengebäude (oder –haufen) dazu ausbauen. Das würde sicherlich noch mehr Ordnung, Übersicht und Klärung verschaffen. Wir erinnern uns, dass wir stipuliert haben, Erklärungs- und Verstehenstypen könnte man dadurch finden, dass man Gegenstände mit den an sie gerichteten Fragen zusammenbindet, wobei vor dem Hintergrund der Annahme, dass Erklärung und Verstehen mit Relationen (Zusammenhängen, Beziehungen, Verknüpfungen etc.) zu tun haben, unterstellt wurde, dass diese Fragen nach Relationen fragen, nicht nur nach sozusagen punktförmigen und isolierten Tatsachen. Dabei wurde auch vor dem Hintergrund des liebevollen Durcheinanders in manchen geschichtswissenschaftlichen Studien in Aussicht gestellt, dass es sich lohnen könnte, nach „Stufen“ (Scholz) oder „Systemen“ (Bunge, S. Nowak) oder anderen Ordnungen (Topolski) in diesen Fragestellungen in typischen Forschungsverläufen zu fragen. Obwohl das wohl möglich und nötig ist, bräuchte es dazu an dieser Stelle mehr Material, gerade weil die ontologische, geschichts- und sozialtheoretische Lage, so wie sie hier bekannt ist, noch immer unübersichtlich ist. Daher sollten wir den Versuch des Verstehens des geschichtswissenschaftlichen Verstehens hier nun beenden und zugestehen, dass 470

Die Fragen diesbezüglich lauteten: (Qna) Wollen Geschichtswissenschaftler erklären, verstehen oder erzählen? (Qnb) Erklären, verstehen oder erzählen Geschichtswissenschaftler? (Q nc) Erklären, verstehen oder erzählen Geschichtswissenschaftler, ohne etwas davon zu ahnen?

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

wir die bleibenden Probleme bereits in vorherigen Kapiteln benannt haben (Kapitel 5, Kapitel 6). Wir haben aber ansatzweise auf der Basis der Systemik in Konfrontation mit der Forschungspraxis der Mini-„Anatomie“ zuvor bereits solche Ordnungen von Fragen skizziert, wobei wir sozusagen die in der Systemik eingebaute Allgemeine Hermeneutik etwas gegen die dort favorisierten methodologischen Normen ausgespielt haben, nämlich mechanismische Erklärungsmodelle (7.3.6). Gerade hier scheint sich die These nachdrücklich zu bewahrheiten, dass Methodologie ohne Ontologie nicht auskommt. Wir erinnern uns: M. Bunge behauptete verschiedentlich, das wissenschaftliche Verstehen erfolge in drei Schritten: 1. Beschreibung der Tatsache; 2. Subsumtion der Tatsache unter eine Generalisierung oder ein Gesetz; 3. Mechanismische Erklärung der Tatsache oder der Regularität. Ersteres wäre eine reine Beschreibung, Zweiteres führte zu schwachen subsumtiven Erklärungen (Black-Box) und Letzteres, so lautet die Hypothese, zu „tiefen“ oder „wissenschaftlichen“ Erklärungen. In der weiteren „mechanismus“-orientierten Sozialtheorie findet man genauso wie in der Sozialsystemik die Badewannen-Heuristiken, die auch auf ähnliche Weise oder etwas komplexer gedeutet werden können. Die Erklärungsmacher und Verstehenermöglicher sind hier Regel- und Gesetzmäßigkeiten und (kausale) Mechanismen in Systemen. Wir haben insofern diese methodologische (normative) Sicht vor dem Hintergrund des Programmes, das uns die gesichtete geschichtswissenschaftliche Praxis aufnötigt, aufgeweicht, als wir die weiteren Relationen im CESM-Modell und die weiteren Kategorien etwas ausgeschlachtet haben. Wie wir nun ansatzweise gesehen haben, lässt sich dann ohne vorweggenommene Normen behaupten, dass Geschichtswissenschaftler der Mini-„Anatomie“ auch dann teilweise bereits etwas besser verstehen, wenn sie nicht über signifikante Regeloder Gesetzmäßigkeiten, keine signifikanten oder spezifischen Kausalhypothesen oder auch kein Wissen von Großereignissen verfügen, die sie im Detail oder grob „erzählen“ könnten. Dabei ist die systemische Ontologie behilflich beziehungsweise unersetzlich. Dass man in der Straußperspektive auf die Mini-„Anatomie“ auch Ansätze für Subsumtions- oder Covering„Law“-Erklärungen, (recht) unproblematische Kausalerklärungen, „mikrofundierende“ oder sozial-mechanismische Modelle und vielleicht gar singuläre Handlungserklärungen auf der Basis tentativer Generalisierungen (oder „Gesetze“) finden oder vermuten kann, haben wir beiläufig hier und dort bereits zur Kenntnis genommen (Kapitel 6). Diese Passagen muss man hier zur Vervollständigung nun hinzunehmen. Auf etwaige Probleme wurde dabei ebenfalls verwiesen. Sie sind seit 1938 (Mandelbaum 1967 1938) letztlich dieselben geblieben. Setzt man voraus, dass die systemische Ontologie nicht völlig falsch ist, dann finden sich die Typen von Erklärung und Verstehen, wohl ähnlich wie in Railtons (1980) Grundidee „ideal explanatorischer Texte“, im Rahmen der minimalen CES- und CESM-Modelle (Composition, Environment, Structure, Mechanismism), die erweitert werden durch Ereignisse/Prozesse und Regel- oder Gesetzmäßigkeiten, wobei die Kategorie einer Struktur weitere Relationen umfasst. Man müsste dann die Gegenstände des Verstehens im Allgemeinen als soziale Systeme und im Besonderen als entsprechende CESM-Kategorien (usw.) auffassen, diese mit Fragen versehen und letztlich in eine Ordnung bringen. Das Projekt verbindet die geborgte Allgemeine Hermeneutik mit dieser allgemeinen Wissenschaftstheorie auf recht natürlich Weise, denn Ansätze dazu gibt es in diesem Rahmen bereits seit geraumer Zeit (Bunge 1959b, 1967a/b, 1983a). Als heuristisch fruchtbar und zugleich inhaltlich problematisch erscheinen nach dem Durchgang sicherlich die Thesen zur Korrelativität von Erklärungstypen und Verstehenstypen. Natürlich kann es noch intuitiv plausibel sein, z. B. im Falle von Subsumtionserklärungen auf der Basis von Generalisierungen, von Mechanismusmodellen oder anderen denkbaren Kausalerklärungsformen von Erklärungstypen im dynamischen und statischen Sinn (Kapitel

8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

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5.4) zu sprechen, denen ein Typ von Verstehen korrespondiert. Wenn es aber auch so ist, dass es nicht unplausible Formen von Verstehen auf der Basis von Erforschung und Beschreibung von zeitlichen, räumlichen oder sozialen Teil-Ganzes-Relationen gibt, dann stellt sich die Frage, ob man hier im dynamischen und statischen Sinn, also dem des Auffindens (oder Erfassens) und des Verfügens von Wissen über solche Relationen vom Finden von oder Verfügen über Erklärung oder erklärende Hypothesen sprechen will, und ob man Beschreibungen dieser Relationen in Forschungsberichten Erklärungen (der Systeme) nennen möchte. Wenn man Scrivens damaliger Hypothese hier folgen wollte, wäre dies wohl so, zumal dann, wenn in Forschungsprozessen durch Informationsgewinnung kognitive „Lücken“ (J. R. Martin) geschlossen werden, sodass etwas besser verstanden wird als zuvor: „Whatever an explanation does, in order to be called an explanation at all it must be capable of making clear something not previously clear, i. e., of increasing or producing understanding of something“ (Scriven 1962, 175), zudem in einem kontextuellen Grad. Manche wollen aber bekanntlich nur im Fall von Argumenten, Modellen und Theorien bzw. ihrer Anwendung von Erklärung sprechen. Andere wollen zudem nur bei der Beantwortung von Warum-Fragen von Erklärungen sprechen oder solchen Antworten, die „kausale“ Antworten sind. Im Fall von singulären Kausalhypothesen („Das Tintenfass liegt auf dem Boden, weil M. Scriven dagegen gestoßen ist.“) hat jedoch in der Breite der Philosophie auch kaum einer Hemmungen, von Erklärung zu sprechen, obwohl zumeist diese keinerlei theoretischen Gehalt haben, sodass es vielleicht willkürlich, wenn auch leicht kontraintuitiv zu sein scheint, im Fall vom Auffinden oder Beschreiben (oder „modellieren“) von räumlichen Relationen von Erklärungen nicht zu sprechen, wenn hier tatsächlich ein System analysiert und verstanden wird. „To explain a thing (…) is to show how it works, and to explain a fact is to show how it came to be“ (Bunge 1996, 137). Warum sollte man ein Ding/System nicht bereits teilweise dadurch erklären und dadurch besser verstanden haben, dass man es in seine Komposition und räumliche Struktur zergliedert, zumal es doch so sein sollte, dass auch die Komposition eines Systems zu dessen Eigenschaften gehört und mithin eine (statische) Tatsache ist? Und warum sollte man einen sozialen Prozess (im schwachen Sinn) nicht bereits besser verstanden und in gewissem Sinn erklärt haben, wenn man mehr weiß von den genauen zeitlichen Relationen der Abfolgen der Werte der Eigenschaften? Klar ist wohl, dass in solchen Fällen von Erklärung und auch Verstehen zu sprechen genau dann besonders obskur wird, wenn kein Ganzes (System) mehr ansatzweise unterstellt werden kann, das irgendwie analysiert wird. Ansonsten bekommt man das Problem, dass man beliebige zeitliche und räumliche Relationen finden kann, deren Beschreibungen dann als Erklärung und Verstehen hervorbringend gelten müssten, soweit vorausgesetzt wird, dass es zeitliches und räumliches Verstehen gibt und ferner Verstehen immer etwas mit Erklärung zu tun hat.471 Das können und müssen wir hier offen lassen und einer weiteren Klärung anheimstellen. Offenbar gibt es in der Rede von Erklärungen oftmals auch eine Asymmetrie (a erklärt b, aber b nicht a), die es im Fall der Erfassung von anderen Relationen und entsprechendem Verstehen nicht gibt. Hat man erfasst, dass Ding a zwei Meter neben Ding b ist, hat man auch erfasst, dass Ding b zwei Meter neben Ding a ist, und vielleicht hat man durch das Erfassen an beiden Dingen etwas verstanden, aber nichts erklärt. Diese Asymmetrie hat manchmal eine ontologische Entsprechung (Kausalität und Determination). Ich hatte mir vorgenommen, in die Tabelle so viele Jas wie möglich einzutragen. Hier ist natürlich das Hauptproblem aus Kapitel 5 anzusiedeln, dass der Zusammenhang von Erklärung und Verstehen dann spannend ist, wenn er zugleich im Rahmen von Forschungsmodel471

Auch hier erweist sich, dass man gegenüber den Kategorienhaufen aus Kapitel 6 durch die Systemik etwas gewinnt.

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

len bzw. - prozessen (dynamisch versus statisch) und auf der Basis von logischen, methodologischen oder onto-methodologischen Erklärungsbegriffen ausbuchstabiert wird, wo er intuitiver scheint, also vor allem im Fall von (theoretischen oder theorieorientierten) kausalen Erklärungen, nomologischen Erklärungen und mechanismischen Erklärungen, zumal hier die Relationen ontologisch spektakulärer klingen als im Fall von räumlichen Relationen (z. B. zwischen den Teilen eines Systems) oder zeitlichen Relationen (z. B. bezüglich der Werte einer Eigenschaft eines Systems). Einfacher vorstellbar ist der Zusammenhang von Erklärung und Verstehen, wenn man „Erklärung“ pragmatisch versteht (Kapitel 5.4) und eine Person x, die erklärt, von einer Person y unterscheidet, die auf der Basis dessen, was Person x sagt, etwas besser versteht als zuvor. Hier hat man auch mit zeitlichen, räumlichen und Teil-GanzesRelationen und vermutlich anderen Relationen gar kein Problem, wenn man hier vielleicht nach korrespondierenden Erklärungs- und Verstehenstypen suchen wollte. Man verpasst allerdings wohl weitgehend das Grundverständnis von „Erklärung“, das zumindest in erfolgreichen Wissenschaften verwendet wird und das auch im Rahmen von Metageschichtswissenschaft relevanter ist. Letztlich ist die Frage, was inwiefern innerhalb einer Disziplin oder (außerhalb) in der Metatheorie nützlich und fruchtbar ist, da man – wie auch Haussmann (1991) zu sagen pflegte – seine Begriffe letztlich definieren kann, wie man will. In den Geschichts- und Sozialwissenschaften gibt es auch diesbezüglich keinerlei Einigkeit. Ich scheue nicht davor zurück, auch angesichts der Heterogenität der Geschichtswissenschaften und der Komplexität der Erklärungs- und Verstehensproblematik die Frage einfach an Geschichtstheoretiker zurückzugeben. Rein pragmatische oder rein erotetische Erklärungsvorstellungen sind insofern nützlich, als sie ohne viel Aufwand erlauben, in Geschichtswissenschaft und PopGeschichtsschreibung Unmengen von Erklärungen zu finden, sodass wir in obiger Tabelle ohne schlechtes Gewissen in der linken Spalte fast überall „Ja!“ eintragen könnten. Aber auch der Zusammenhang zwischen Erklärung und Verstehen wird auf ihrer Basis vielleicht zu sehr didaktisiert. Vielleicht kann man sich hier damit rausreden, im Fall jenes Verstehens auf der Basis der Analyse (oder genaueren Beschreibung) von zeitlichen und räumlichen Relationen, wie im obigen Beispielen, genau davon zu sprechen, nämlich Verstehen durch Analyse in die kontextuell signifikanten Relationen, ohne das Auffinden dieser Relationen (dynamisch), deren Kenntnis (statisch) oder ihre Beschreibung in einem Text („Erzählung“, „Modell“) eine Erklärung zu nennen. Dann müssten wir in obiger Tabelle in der linken Spalte häufiger ein „Nein!“ eintragen. Allerdings nennen offenbar auch neuere Mechanismustheoretiker „Schemata“ oder Diagramme Erklärungen, die nicht unbedingt sonderlich konkreter und mit mehr Kausalhypothesen gespeist sein müssen als die obige Skizze des Wasserversorgungssystems Roms, in dem explizit keinerlei Kausalhypothese enthalten ist, von dem man aber dennoch vielleicht sagen könnte, dass es etwas erklärt oder eine Form von Erklärung ist. Das müssen wir hier weitgehend offen lassen und damit die obige Tabelle im Rahmen der Klärungsskizze unvollständig zurücklassen. Wir hatten in Kapitel 5.2 (neben anderen) Mario Bunge mit dem folgenden Kriterium von Verstehen zur Kenntnis genommen, nämlich dass man eine Tatsache F genau dann versteht, wenn man eine adäquate Erklärung für F hat. Wenn man erweiternd sagt, dass man eine adäquate Erklärung von F hat, wenn man ein adäquates Modell des Systems hat, an dem (Makro) oder in dem (Mikro) F auftritt, dann können wir uns bezogen auf den Zusammenhang von Erklärung und Verstehen an dieser Stelle damit herausreden, dass bezogen auf die Geschichtswissenschaften die Frage noch kaum gestellt worden ist, was ein Modell oder ein erklärendes Modell sein könnte, und dass aus der hier rezipierten Metatheorie hervorgeht, dass dies in allen Sozialwissenschaften eventuell nicht völlig klar ist. Wir stipulieren: Die Beantwortung dieser Frage könnte die Frage nach den Zusammenhängen von Erklärung und Verstehen weiter klären.

8.1 Pluralismus des Verstehens in der Mini-„Anatomie“?

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Wir sollten den Weg aber noch weisen, indem wir zur Allgemeinen Hermeneutik und der forschungsleitenden Idee, die hier nicht gänzlich eingelöst werden kann, zurückkehren, die Verbindung von Verstehen, Relationen und ggf. Erklärung zu klären. Die Hauptthese lautete wie folgt: „Verstehen hat in allen Fällen mit dem Erkennen von Relationen, Verbindungen und Mustern, oder wie ich kurz sagen möchte, mit Zusammenhängen, zu tun“ (Scholz 2016b, 21). O. R. Scholz listete im Rahmen dieser Thesen im Kontext Folgendes: Um nur die wichtigsten zu nennen: Es gibt (a) räumliche Zusammenhänge, (b) zeitliche Zusammenhänge, (c) logische Zusammenhänge (q folgt aus p), (d) mereologische oder Teil-Ganzes-Zusammenhänge (x ist Teil von y), (e) empirische Korrelationen (wenn x auftritt, tritt y auf), (f) gesetzesartige Zusammenhänge (Fälle von x führen gesetzmäßig zu Fällen von y), (g) Kausalzusammenhänge (x ist Ursache von y), (h) Zweck-Mittel-Zusammenhänge (x ist ein Mittel, um y zu erreichen), (i) konventionelle Zusammenhänge (x gilt als y in Kontext C), (j) Zeichenzusammenhänge (x repräsentiert y) (Scholz 2015a, 151; vgl. eine Erweiterung in 2016b, 24 f.). Wir können hier nun damit enden, in Aussicht zu stellen, das Forschungsprogramm aus Kapitel 5 weiter zu verfolgen und aus Theorie und Praxis alle erklärungs- und oder verstehensrelevanten Relationen und etwaige, in der Systemik nicht enthaltene Gegenstände zu sammeln. Eine einigermaßen klare Lage gibt es weder in der Praxis noch in der Metatheorie, daher hilft es auch bis auf Weiteres nicht weiter, eine klarere Lage zu fingieren. Wir können der weiteren „Anatomisierung“ der geschichtswissenschaftlichen Forschung überlassen, andere Gegenstände von Beschreibung, Erklärung und Verstehen zu suchen und zu finden, z. B. auch in der Vielfalt der „Themen“ und „Thematiken“, die alle Jahre wieder in geschichtstheoretischer Literatur als neu vorgestellt werden, sogar jenseits der „Turns“. Geschichtswissenschaftler beschreiben auch Haufen von Überzeugungen („Meaning“) von Typen von Menschen (z. B. die Probleme von Haufen von Menschen mit ihrer Sexualität; Bänzinger 2010), Haufen (oder Typen) von Handlungen oder Praktiken („Todesstrafe“), Haufen von Handlungs- oder Wahrnehmungsdispositionen („Mentalitäten“), Gruppen (7.3.1) von Menschen oder auch vielleicht die früher notorischen „Groß“-Ereignisse und „Strukturen“ und das weite Feld dessen, was „Kultur“ genannt wird. Einige untersuchen individuelle Menschen und was diese dachten („Hitlers Weltanschauung“) oder fühlten oder taten. Manche untersuchen auch sicherlich abstrakte Gegenstände wie Regelsysteme oder „Systeme von Zeichen“, was insofern möglich ist, als Menschen in der Lage sind, die Existenz von so etwas zu fingieren. Sicherlich wollen sie manchmal solche Zeichen in konkreten Verwendungen verstehen. Die Historische Bildkunde wollte genauso wie die Visual History mit Bildern als Quellen arbeiten. Vielleicht müssen diese hierbei solche Bilder verstehen und dazu darüber Hypothesen bilden (3.1.9), auch um weitere Hypothesen über etwas jenseits der Bilder bilden zu können. Ob alles im Rahmen unserer Überlegungen irgendwie abgedeckt werden kann, wäre zu fragen und ist so lange zu bezweifeln, bis es überprüft ist und man eine adäquatere Anatomie auch geschichtswissenschaftlicher Ansätze hat. Die Möglichkeit besteht auch, dass nicht alles abgedeckt werden kann und am Ende auch nicht abgedeckt werden soll, z. B. weil letztlich in

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

manchen Fällen nichts verstanden, sondern bloß (generell) beschrieben wird. Oftmals verdeckt die ungeklärte Rede von Verstehen wohl, dass überhaupt nichts verstanden worden ist. Die keineswegs geringe Herausforderung wird vor unserem Hintergrund immer sein, jene Relationen zu benennen oder zu erläutern, inwiefern ein Gegenstand eine Struktur hat, was im systemischen Rahmen minimal damit verbunden ist, ein abstraktes oder konkretes System mit dessen Komponenten zu benennen. Es ist durchaus auch möglich, dass die Formulierung solcher, recht konkreter Fragestellungen über Relata und Relationen in vielen Bereichen die Forschungspraxis oder auch die Geschichtstheorie schlicht überfordert, weil solche Fragen wie ihre Beantwortung ein Ausmaß an Klarheit erfordern, das dort oftmals nicht bekannt ist, vielleicht auch, weil es die Gegenstände und/oder ihre theoretische Erschließung (noch) nicht zulassen. Unsere Fragen aus Kapitel 5.6 werden also hier keineswegs zur vollständigen Zufriedenheit oder mit dem Anspruch beantwortet, alles abdecken zu können, was man in Geschichtswissenschaften findet. Denn es ist zu erwarten, dass in vielen metatheoretischen Ansätzen und konkreten Studien andere Antworten zu finden sind als diejenigen, die wir hier im Verlauf der Genese und Teillösung der Problematik geben konnten: Dies sind die Fragen, die sich letztlich aus der Spannung der Eingangszitate zu diesem Kapitel ergeben, nämlich dass es in den Geschichts- und Sozialwissenschaften keine privilegierten Erklärungsformen gibt, wir aber dennoch daran festhalten wollten, durchaus kontroverse Ideale nicht vollständig aus dem Blick zu verlieren (siehe Kapitel 5.6). Es ist zwar unscheinbar, aber klare Typen von Relationen wahrheitsnah zu beschreiben, ist bereits ein in den Geschichts- und Sozialwissenschaften oftmals schwer zu erreichendes Ideal, weiß man doch oftmals gar nicht, wozwischen sie bestehen könnten. (Q1) Welche Gegenstände erforschen Geschichtswissenschaftler? (Q2) Welche Fragen stellen Geschichtswissenschaftler zu welchen Gegenständen (vor dem Hintergrund eines wie beschaffenen und inwieweit geteilten Forschungsstands)? (Q3) Welche Relationen spielen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung eine Rolle (und zwischen welchen Relata bestehen sie)? (Q4) Welche Relationen und ihre Beschreibungen sind in welchem Ausmaß und in welchen Grenzen erklärungsrelevant oder verstehenszuträglich? (Q5) Lässt sich irgendeine forschungslogische oder methodologische „Ordnung“, ein „Nexus“ (Nowak) „Systematik“ (Bunge) oder „Stufenfolge“ (Scholz) im Vorgehen erkennen, was ein methodisches Vorgehen eigentlich kennzeichnen sollte? Auch die „philosophischen Wahlen“, die Geschichtswissenschaftler treffen oder die Menge von Wahloptionen, konnten natürlich – wie andernorts auch – letztlich nicht gänzlich transparent gemacht werden, genauso wenig wie eine allgemeine und klare Antwort auf die Frage gefungen werden konnte, was „ein echter Fortschritt im historischen Verstehen“ ist (Evans 1999, 89).472 Auf die Wissenschaftlichkeitsproblematik kommen wir nun zurück, um unseren philosophischen Exkursionen einen Rahmen zu geben und sie anschließend in Versöhnung (2.2) mit zumindest einigen Geschichtswissenschaftlern zu beenden. 472

Aber wir sind der Sache eventuell näher gekommen, da wir nun mehr differenzieren können, wie man in einem Vergleich mit Tillys (1990a, 694) Liste sieht: „1. History’s dominant phenomena are (a) large social

8.2 Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen?

8.2

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Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen? Es giebt mit anderen Worten eine speziell historische Denkart und Arbeitsmethode, welche sich nur durch Fachstudien erlernen und aneignen lässt und welcher derjenige, der lediglich mit den Voraussetzungen einer anderen Disziplin herantritt, ebenso fremd gegenüber steht, wie ein Dilettant in der Naturwissenschaft den exakt naturwissenschaftlichen Methoden. Das ist für den Historiker ebenso unzweifelhaft, wie es von anderen Seiten oft verkannt wird … (Bernheim 1880, 97). Das größte Problem in der Vermittlung des Wissenschaftscharakters von Geschichtswissenschaft besteht wohl im fehlenden innerfachlichen Konsens darüber, worin denn nun genau diese Wissenschaftlichkeit besteht (Frings 2016, 9).

Hier soll nun noch eine mögliche Antwort auf die Frage „Was ist Geschichtswissenschaft?“ gegeben werden, in der unter „Wissenschaft“ eben auch ein soziales Gebilde oder System verstanden wird, ohne allzu kontroverse Annahmen über die wissenschaftliche Methode oder die Methode der Historischen Wissenschaften (2.1) vorauszusetzen. Damit können wir uns zum Schluss auch von einem rein „institutionellen“ Wissenschaftsverständnis verabschieden, das am Ende metageschichtswissenschaftlich recht uninteressant ist. Dass die Frage noch relevant ist, entnehmen wir den beiden Eingangszitaten von Ernst Bernheim und Andreas Frings und der („historischen“) Spannung, die durch ihre gemeinsame Lektüre ensteht. Wir haben am Anfang aus skeptischen und methodischen Gründen weder einen sonderlich expliziten Wissenschaftsbegriff noch einen irgendwie aufgeladenen Begriff von „Geschichte“ in einem methodologischen Sinn verwendet. Ich habe einfach gefragt „Was machen Geschichtswissenschaftler?“, da die Auffassungen darüber weit auseinander liegen. Nun können wir uns, nach einem wenigsten kursorischen Blick auf die Praxis und manche Beiträge zur Geschichtstheorie, zur Frage „Ist Geschichtswissenschaft Wissenschaft?“ durchringen. Der Gegenstand ist zwar noch immer recht unklar, aber nicht völlig unhandhabbar, obwohl wir zu dessen genauer Eingrenzung auch über eine wissenschaftliche Wissenschaftssoziologie der Geschichtswissenschaft oder der Geschichtswissenschaften verfügen müssten, über die wir hier auch nicht verfügen. Um die Frage beantworten zu können, ob Geschichte, Geschichtsschreibung oder Geschichtswissenschaft Wissenschaft ist, muss man zunächst die genauere Formulierung der Frage festlegen und dann auch ein Verständnis von „Wissenschaft“ voraussetzen. Nehmen wir uns also zur Beantwortung der Fragen „Ist Geschichtswissenschaft eine Wissenschaft?“ oder „Ist die Disziplin Geschichtsforschung eine Wissenschaft?“ oder „Ist das epistemische Feld Geschichte eine Wissenschaft?“ das folgende Verständnis von „Wissenschaft“ vor. Ich bediene mich wieder bei dem komplexesten mir bekannten Verständnis, das wir wiederum in der Systemik finden. Dabei berücksichtigen wir folgende Mahnung: „It only goes as far as any definition can go – which is never far“ (Bunge 1991b, 247). Wir kennen diese Einschränkung letztlich bereits aus der Ontologie und ihrer Einordnung in Sozialtheorie und ihre Anwendung auf metageschichtswissenschaftliche Problemlagen. Mario Bunge behauptet, dass jede Wissenschaft als kognitives Feld durch C = (W, S, G, F, D, B, P, K, O, M) charakterisiert werden kann, wobei gilt: (i) W is a system composed of persons who have received a special training, hold strong information relations among them, and initiate or continue a tradition. processes or (b) individual experiences. 2. Historical analysis centers on (a) systematic observation of human action or (b) interpretation of motives and meanings. 3. History and the social sciences are (a) the same enterprise or (b) quite distinct. 4. Historical writing should stress (a) explanation or (b) narrative.” Am Rande sei bemerkt, dass Tilly von der Wahl von „historical philosophies” schreibt (ebd. 709).

548

8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

(ii) S is a society capable of supporting and encouraging (or at least tolerating) W. (iii) The membership of every one of the remaining eight components of C changes, however slowly, as a result of inquiry in the same field and related fields. (iv) The general outlook or philosophical background G consists of (a) an ontology of changing things (rather than, say, one of ghostly or unchanging entities); (b) a realistic (but critical, not naive) epistemology (instead of, say, an idealistic or a conventionalist one), and (c) the ethos of the free search for truth (rather than, say, the ethos of the bound quest for utility or consensus). (v) The formal background F is a collection of up to date logical and mathematical theories (rather than being empty or formed by obsolete formal theories). (vi) The domain or universe of discourse D is composed exclusively of (certified or putatively) real entities (rather than, say, freely floating ideas) past, present or future. (vii) The specific background B is a collection of up to date and reasonably well confirmed (yet not incorrigible) data, hypotheses, and theories obtained in other fields of inquiry relevant to C. (viii) The problematics P consists exclusively of cognitive problems concerning the nature (in particular the laws) of the members of D as well as problems concerning other components of C. (ix) The fund of knowledge K is a collection of up to date and testable (though not final) theories, hypotheses, and data compatible with those in B and obtained by members of W at previous times. (x) The objectives or goals O include discovering or using the laws of the D’s, systematizing (into theories) hypotheses about D’s, and refining methods in M. (xi) The methods in M consist exclusively of scrutable (checkable, analyzable, criticizable) and justifiable (explainable) procedures. (xii) C is a component of a wider cognitive field: i. e., there is at least one other (contiguous) research field such that (a) the general outlooks, formal backgrounds, specific backgrounds, funds of knowledge, objectives, and methodologies of the two fields have non-empty overlaps, and (b) either the domain of one of the fields is included in that of the other, or each member of the domain of one of the fields is a component of a system in the domain of the other. Any cognitive field that fails to satisfy all of the above twelve conditions will be said to be nonscientific. A cognitive field that satisfies approximately all of the above conditions and is presumable evolving towards the goal of full compliance with them may be called a protoscience or emerging science. (Typically protosciences are rich in data and poor in theories.) And any cognitive field that is nonscientific but advertised as scientific, will be said to be pseudoscientific. The difference between science and protoscience is a matter of degree, that between science and pseudoscience is one of kind (Bunge 1988, 594 f.).

8.2 Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen?

Glaubensgemeinschaften

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Totalitäre Ideologien Religionen Politische Ideologien Pseudowissenschaften Pseudotechnologien

Kognitive Disziplinen

Forschungsgemeinschaften

Abbildung 40

Humanities Formalwissenschaften Basale Wissenschaften Angewandte Wissenschaften Technologien

Forschungsgemeinschaften versus Glaubensgemeinschaften (nach einer Unterscheidung von Bunge 2013b 1985, 31).

Ich will mich nun weniger darum kümmern, was der Urheber dieser Analyse zur Geschichtswissenschaft zu sagen hat. Bemerkenswert ist im Kontext der Debatte einzig der Punkt, dass Bunge (1988, 596 f.) davon ausgeht, dass die Geschichtswissenschaft(en) nicht alle diese Bedingungen erfüllen, der Autor nach dem Durchgang durch einige Sozialwissenschaften aber der Auffassung ist, die Geschichtswissenschaft sei die rigoroseste aller Sozialwissenschaften (1985a, 1998, 1999), was angesichts der Fremdbeschreibung durch Geschichtsphilosophen und angesichts der Selbstbeschreibung durch manche Geschichtswissenschaftler doch seltsam und bemerkenswert anmutet, zumal Bunge nicht gerade zu den Philosophen zu zählen ist, die sich wenig mit tatsächlichen Wissenschaften und deren Praxis beschäftigt haben. In einer jüngeren Schrift listet er folgende „mature or ‚hard‘ sciences“: „physics, chemistry, biology, and history“ (Bunge 2010c, 263). Dennoch will ich die folgende Analyse natürlich nicht als letztes Wort ansehen, sondern dafür nutzen, um vor dem Hintergrund des Samples die Problematik anders und dem Programm dieser Metageschichtswissenschaft entsprechend umzudeuten oder etwas zu klären. Schließlich ist in wissenschaftsorientierter Philosophie auch jede philosophische These oder Analyse als fallibel anzusehen, also in erster Linie verbesserungswürdig. Perfekt ist ohnehin nichts (Bunge 1991b, 254). Auch den gerade zitierten Optimismus bezüglich der „Geschichte” teile ich nicht gänzlich. (i) W is a system composed of persons who have received a special training, hold strong information relations among them, and initiate or continue a tradition. (ii) S is a society capable of supporting and encouraging (or at least tolerating) W. Es ist zwar keineswegs offensichtlich, aber nach allem, was man hört, gibt es in unterschiedlichen Gesellschaften weltweit Geschichtswissenschaften in diesem Sinne eines Zusammenhangs interagierender Personen, die eine wissenschaftliche oder geschichtswissenschaftliche Ausbildung erfahren, um einer Disziplin angehören zu dürfen und eine Tradition oder vieler-

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lei Forschungstraditionen fortzuführen.473 Von diesen Geschichtswissenschaften gibt es also vielerlei (2.1). In Zentraleuropa haben sich sogar besonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Verbindungen zwischen den Geschichtswissenschaften ergeben. In manchen Gesellschaften, deren Teilsysteme in systemischem Jargon die Umwelt der jeweiligen Geschichtswissenschaften bilden, werden diese Wissenschaften zum Beispiel finanziell und durch die Gewährung der Freiheit der Forschung gefördert (d. h. durch die Absenz von bestimmten externen Beziehungen). Das ermöglicht den zentralsten Punkt der Liste, der aus dieser Sicht den Wissenschaftlichkeitscharakter besonders ausmacht: (iii) The membership of every one of the remaining eight components of C changes, however slowly, as a result of inquiry in the same field and related fields. Obwohl zur Heterogenität der Geschichtswissenschaften zu gehören scheint, dass generell und mit Bestimmtheit zu allen weiteren Punkten keine klaren Aussagen möglich sind, gilt im Rahmen der gesichteten Mini-„Anatomie“ zumindest, dass die Geschichtswissenschaften Forschungsgemeinschaften („research fields“) und keine Glaubensgemeinschaften („belief fields“; Abbildung 40) sind, was sich daran zeigt, dass sich die Überzeugungen (a) überhaupt relevant zu wandeln scheinen und (b) sie ferner auf der Basis von Forschung und dem Versuch kontrollierter und intersubjektiv nachprüfbarer Hypothesenbildung sich wandeln: History keeps changing as a result of research in history as well as in the other branches of social science, particularly sociology and economics. As a result nobody believes any longer in the possibility of writing the definitive or ultimate history of anything (Bunge 1988, 596). Die dort gehegten Hypothesengebilde wandeln sich nicht, in jedem Fall der hier gesichteten Literatur, ausschließlich oder absehbar in der Mehrzahl aufgrund von Deklaration, persönlichem Geschmack, politischer Ideologie oder der Wandlung von narrativen Geschmäcklen, sondern aufgrund von Forschung. Der ontologische, epistemologische und wissenschaftsethische Überzeugungshintergrund dürfte sich bei genauerer Analyse der verschiedenen Ansätze, „Paradigmen“ oder „Schulen“ als jeweils heterogen erweisen. Im Rahmen der hier gesichteten Mini-„Anatomie“ und unter Voraussetzung der systemischen Ontologie und ihrer Kategorien trifft größtenteils auch Folgendes zu, zumindest soweit wir auf der Basis unserer Daten (siehe Bibliographie) dazu fallible Hypothesen bilden können: (iv) The general outlook or philosophical background G consists of (a) an ontology of changing things (rather than, say, one of ghostly or unchanging entities); (b) a realistic (but critical, not naive) epistemology (instead of, say, an idealistic or a conventionalist one), and (c) the ethos of the free search for truth (rather than, say, the ethos of the bound quest for utility or consensus).

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„The research community must be a system proper, not an isolated individual or an aggregate of isolated researchers“ (Bunge 1983b, 203). In diesem Sinne existieren Geschichtswissenschaften offenbar noch nicht allzu lange (2.1), weshalb man nicht unumwunden „die Geschichtsschreibung“ mit „die Geschichtswissenschaft(en)“ identifizieren sollte.

8.2 Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen?

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Niemand in der Anatomie glaubt erkennbar an die Existenz von Göttern, Geistern und Dämonen, das Schicksal der Nation – wogegen z. B. Hempel 1942 noch argumentieren musste – oder die unausweichlichen „Gesetze“ (oder Zyklen) der „Geschichte“. Einzig manche Geschichtsphilosophen – und eventuell mittlerweile Leute im Weißen Haus - glauben an das Schicksal.474 Auch an Voodoo-Ursachen glauben Geschichtswissenschaftler spätestens seit der Teil-Vereinigung von sozial- und kulturgeschichtswissenschaftlichen Ansätzen idealtypisch wohl kaum noch, und Ontologien, welche diese tendenziell zulassen, haben sie immer skeptisch gesehen. Nach allem, was hier erkennbar ist, sind unsere Geschichtswissenschaftler kritische Realisten in dem Sinn, dass sie dem allgemeinen wissenschaftlichen Vorgehen (Kapitel 5) folgen, ontologische, epistemologische und methodologische Realisten sind und ferner einem Fallibilismus und Meliorismus bezüglich ihrer Erkenntnisse anhängen. Sie glauben nicht, dass die Wahrheit von Hypothesen durch Konsens erreicht wird und Hypothesen allein durch ihre Erfindung verbürgt, also nicht irgendwie überprüft, gerechtfertigt oder getestet und der disziplinären Kritik ausgesetzt werden müssen. Niemand ist im Sample naiver Empirist oder Realist und glaubt noch, wie es Ende des 19. Jahrhunderts mal irgendwo hieß, „die Geschichte“ spreche durch den Geschichtswissenschaftler und nicht der Geschichtswissenschaftler hypothetisch über irgendetwas, z. B. die Geschichten von Systemen. Sie vertreten auch keine idealistische Erkenntnistheorie in dem Sinn (Bunge 2010c, 263), dass sie glauben, Geschichtsschreiber verfügten über spezielle, wenn auch nicht beschreib- oder erklärbare, kognitive Fähigkeiten, die andere Menschen nicht haben, aber Wissen und Verstehen ohne Anstrengung und Methoden zu erlangen gestatten (z. B. vielleicht „Verstehen (understanding)“).475 Auch ist fast nicht zu bestreiten, dass sich gar der ontologische Hintergrund geschichtswissenschaftlicher Forschung in den letzten einhundert Jahren durch theoretische und empirische Forschung gewandelt hat, wobei eventuell D. Little (z. B. 2010) zuzustimmen ist, dass alle Sozialwissenschaften in der metatheoretischen Tendenz sich zu einer Form von „Lokalismus“ in dem Sinne durchgerungen haben, dass im Sozialen letztlich das konkrete Handeln und Interagieren von Personen in ihrem jeweiligen Nahumfeld relevant ist. Ein wenig Theoriepolitik dürfte in der Einschätzung wohl mitschwingen. An irgendeine Form von Makrodeterminismus (in irgendeinem strengen Sinn) und mystische Sozialentitäten glaubt, jenseits undurchsichtiger Reden von „Sinn“ oder auch „Diskursen“ (Frings/Marx 2006) und manchmal „Institutionen“ oder „Verfassungen“ niemand mehr. Bedauerlicherweise ist diese Tendenz zur Gemeinsamkeit auch aufgrund der terminologischen Konfusion und damit einhergehender ontologischer Unklarheit nicht immer klar. Der idealtypische Systemist behauptet natürlich, dass die Systemik diese ontologische Tendenz (bisher) am klarsten abbildet. Christopher Lloyd schrieb über seine kritische Variante eines „critical realism“, bei dem man aus systemischer Sicht besser auf den noch zu unklaren Pan-Dispositionalismus verzichten sollte: „The establishment of this ontology is the out474

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„Today we live within the general condition of postmodernity. We do not have a choice about this. For postmodernity is not an ‚ideology‘ or a position we can choose to subscribe to or not; postmodernity is precisely ? our condition: it is our fate“ (Jenkins 1995, 6). Was machen wir aber dann mit manchen Schulen vor allem der jüngeren Kulturgeschichte, die (zumindest) in ihren Metatheorien einen epistemischen Konstruktivismus-Relativismus (und manchmal vielleicht gar einen ontologischen Konstruktivismus) vertreten, nicht an die Möglichkeit von wahrheitsnahen oder wahren Hypothesen glauben und diese daher eigentlich auch nicht anstreben können und anstreben wollen. Diese Schulen qualifizieren ja diesem Wissenschaftsverständnis zufolge dann nicht als Wissenschaften oder Geschichtswissenschaften. Ich würde vorschlagen, die Metatheorien erstens separat zu untersuchen und dann mit der tatsächlichen Praxis zu kontrastieren. Zweitens wird in diesen Schulen dann auch kein Wissenschaftlichkeitsanspruch mehr erhoben, sodass sich niemand beschweren kann, wenn der Wissenschaftsstatus bestritten wird.

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come of two hundred years of enquiries“ (Lloyd 1993, 49). Vielleicht sollte man der These einmal nachgehen, dass viele der relevanteren Ergebnisse der (meta-)theoretischen Arbeit in den Sozialwissenschaften eigentlich ontologisch sind. (v) The formal background F is a collection of up to date logical and mathematical theories (rather than being empty or formed by obsolete formal theories). (vi) The domain or universe of discourse D is composed exclusively of (certified or putatively) real entities (rather than, say, freely floating ideas) past, present or future. (vii) The specific background B is a collection of up to date and reasonably well confirmed (yet not incorrigible) data, hypotheses, and theories obtained in other fields of inquiry relevant to C. Über den formalen Hintergrund und die formalen und logischen Werkzeuge der unterschiedlichen Geschichtswissenschaften weiß man allein schon deshalb nichts, weil das niemand untersucht hat. M. Bunge (1988, 596) ist der Auffassung, dass Geschichtswissenschaftlern häufiger als andernorts logische Fehler unterlaufen, weil sie (normalerweise) nicht in Formalwissenschaften ausgebildet werden. Wie auch immer es darum stehen mag, in unterschiedlichen Schulen oder Forschungslinien sind formale Methoden nicht nur bekannt, sondern zentral und selbstverständlich (z. B. Historische Demographie oder auch der Historischen Sozialforschung; Ruloff 1985, Schröder 1994). Statistische Verfahren kommen natürlich allein in der Mini-„Anatomie“ immer mal vor und bekanntlich gibt es lange Lehrbücher in quantitativen Verfahren. Bloß lässt sich generell zu diesen Methoden schon deshalb nichts sagen, da Methoden dazu da sind, bestimmte Probleme zu lösen und z. B. quantitative Verfahren nicht immer relevant sind. Zum Beispiel hätten sie C. Ginzburg in seinem Käse (2002) wohl ebenso wenig genützt wie E. Le Roy Ladurie in seinem Montaillou (1989). Es ist allseits bekannt, dass es diesbezüglich die Geschichte auch nicht gibt. Geschichtswissenschaftler sind recht offensichtlich typischerweise Methodenpluralisten in demselben Sinn, in dem alle anderen Wissenschaftler dies sind, d. h. sie eignen sich ohne größere ideologische Hemmungen („qualitativ vs. quantitativ“ etc.) das an, was sie brauchen und eignen sich das nicht an, was sie nicht brauchen, wobei auch das von den zur Verfügung stehenden Daten abhängt. Altgeschichtswissenschaftler wie Schmitthenner (1952) haben andere Probleme zu lösen als Anthropometrische Geschichtswissenschaftler wie Kirby (1995), und bekanntlich ist in der Regel nichts langweiliger und mehr Zeitverschwendung als das Studium von Methoden, die man nicht braucht. Welche Techniken muss ein Geschichtswissenschaftler beherrschen? „Cela dépend“ (Langlois/Seignobos 1900, 36; vgl. Evans 1999, 89). In der Mini-Anatomie besteht das Diskursuniversum, allerdings vor dem Hintergrund der systemischen Ontologie betrachtet, klarerweise aus „real entities (rather than, say, freely floating ideas)“. Auch frei schwebende soziale Entitäten oder „die Geschichte“ (2.1) findet sich dort nicht, im Unterschied sicherlich zu manchen Erzählungen außerhalb der Forschungsliteratur oder an ihrem Rand. Zur Forschungsweise dieser geschichtswissenschaftlichen Disziplinen gehört auch, dass kritisiert wird, wenn es so zu sein scheint, als sei dies nicht so, d. h. wenn es nach frei schwebenden Pseudo-Entitäten zu riechen beginnt (wie etwa obige „Institutionen“ genannten Irgendwasse; 7.6). Das zeigt ansatzweise, dass diese Geschichtswissenschaftler auch implizit philosophieren wie andere Wissenschaftler (2.2, Bunge 2012b). Hölkeskamp kritisiert, soweit ich es verstehe, Tendenzen bei Millar, die „Verfassung“ der Römischen Republik unterschwellig als zeitlose Entität aufzufassen, dem er im systemischen Jargon eine Form von Prozessualismus oder Dynamizismus gegenüberstellt. Das deutet auch an, dass Hölkeskamps kulurgeschichtswissenschaftlich motivierte Kritik völlig kompatibel ist mit der systemischen Metaphysik.

8.2 Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen?

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Auch zum spezifischen Hintergrund der Geschichtswissenschaft lässt sich wenig allgemein sagen. Der Zweck der Bedingung liegt aber darin, dass das (fallible) Wissen einer Disziplin nicht von demjenigen von anderen völlig isoliert ist, sondern mit diesem kohärent ist. Pseudo- oder Nichtwissenschaften zeichnen sich demzufolge dadurch aus, völlig isolierte Hypothesenmengen zu umfassen. Obwohl die Lage darüber hinaus unklar ist, haben einige dieser Studien der Mini-„Anatomie“ einen spezifischen Hintergrund an Hypothesen in anderen Sozial- und Naturwissenschaften, und manchmal wird man eine gewisse Dubiosität der externen Einflüsse nicht gänzlich bestreiten können, z. B. wenn dieser aus dem Schnittpunkt von Philosophie und Kulturtheorie entspringt, was allerdings jeweils eigens zu überprüfen wäre. (viii) The problematics P consists exclusively of cognitive problems concerning the nature (in particular the laws) of the members of D as well as problems concerning other components of C. Im Unterschied zu demjenigen, was Ruloff (1985) „Historismus“ nannte, dessen Ziel „Sinnstiftung“ sei, versuchen die hier gesichteten Fälle beinahe ohne Ausnahme kognitive Probleme zu lösen, allerdings kaum solche, welche die „Gesetze“ der Gegenstände betreffen, es sei denn, man zählt jede erkenn- oder erahnbare Regelmäßigkeit bereits zu jenen „Gesetzen“. Dass allerdings generelle Hypothesen hier und dort auf die eine oder andere Art Verwendung finden, kann kaum bestritten werden, wie wir gesehen haben. Wenn man bloß schreibt, „wissenschaftliche Geschichte“ verwende manchmal oder durchaus häufiger „Regularitäten“ (Bunge 1988, 601), auch aus anderen Wissenschaften, schwinden Einwände jenseits der genannten Probleme und offenen Fragen (6.1). Bunge glaubt (1988, 600), besonders die Annales hätte sozialsystemische Veränderung auf der Basis von Generalisierungen und „Gesetzen“ aus anderen Wissenschaften erklärt.476 Mit „Naturen“ zuvor können auch bloß die Eigenschaften 476

Wie so häufig hielt Bunge den Kopf aus dem Fenster. In Bunge (1988, 599; siehe auch mehr in 1998a, 1985a, 1999, 1995) ist folgende Liste zu finden, die nicht der Annales entstammt. F. Braudel nannte die Thesen über allgemeine Zusammenhänge, die er zu kennen glaubte, „tendenzielle Regeln”, um den Ausdruck „Gesetz” zu vermeiden; vgl. Braudel 1986b [1979], 710, Fußnote 9. „Finally here is a short list, pêlêmêle, of law statements borrowed from social psychology, sociology, economics, and politology, that historians employ more or less systematically in their work. (i) Periods of anarchy are short-lived. (ii) Nomads do not invent anything except in the way of transportation and warfare. (iii) Any society that inhibits its economy, culture, or polity, is bound to decay; and any society that stimulates at the same time its economy, culture, and polity, is bound to advance. (iv) War increases callousness and cruelty. (v) Calamity renders people reckless and superstitious rather than cautious and rational. (vi) Vandalism breaks out whenever a section of the society loses its faith in it. (vii) Religion and superstition thrive on calamity and wither with all round (economic, cultural and political) prosperity. (viii) Misery and oppression breed corruption. (ix) The most effective revolts are those from within. (x) What counts in politics is not so much information as the way people view (interpret, perceive) it. (xi) War inspires technical invention and inhibits scientific discovery. (xii) No freedom is ever gained without fight or the threat of it. (xiii) Manpower shortage favors technical innovation, manpower surplus discourages it. (xiv) Unprofitable lines of business tend to disappear. (xv) Allegiances last as long as they are seen as beneficial by the parties. (xvi) The best soldiers are those fighting for what they believe to be their cause. (xvii) Oppression and exploitation can be increased only so much: whenever exaggerated they breed revolt. (xviii) Partial reforms are ineffectual or short-lived: only global reforms are long lasting. (xix) Success breeds complacency, and complacency decline. (xx) All conquests lead to exhaustion. (xxi) Differences in prices within a given (regional or international) economic system tend to disappear. (xxii) All social innovation is introduced by a new social group. Let this short list of laws suffice to make the point that history, even if it does not seek laws, can use them.“ Die Geschichtstheoretiker Cardoso/Brignoli (1986, 36; vgl. auch Cardoso 1992, 134) zitierten eine Stimme, die behauptet, manche Geschichtswissenschaftler hätten „Gesetze“ gefunden, die jedoch nicht so „unausweichlich“ seien wie physikalische Gesetzmäßigkeiten. Sie nannten sie jedoch auch nicht. C. Seignobos (1887) behauptete vor Windelband (1894) und Hempel (1942) bereits, die Geschichtswissenschaft bzw. ihre

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jener Systeme gemeint sein und CESM-Modelle, was schon eher, aber natürlich in Grenzen, zuzutreffen scheint (8.1). Damit kommen wir zur Bedingung (ix): (ix) The fund of knowledge K is a collection of up to date and testable (though not final) theories, hypotheses, and data compatible with those in B and obtained by members of W at previous times. Nichts spricht im Rahmen der Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ dagegen, dass unsere Geschichtswissenschaftler über „testable (though not final theories, hypotheses, and data compatible with those in B“ verfügen, wobei es nach wie vor so ist, dass der Hypothesenbestand manchmal unklarer ist als vielleicht nötig und gerade generelle Hypothesen, wie Hempel (1942) und andere (Bunge 1967a/b) forderten, expliziter zu verwenden und zu formulieren wären, wenn sie vorhanden sind. Viele Theorien und allgemeine Hypothesen scheint es aber eher nicht zu geben, sondern die Daten überwiegen. Aber Traditionen gibt es natürlich, weshalb man sie mal untersuchen sollte, weil man sonst über die Entwicklung in den Geschichtswissenschaften in der Philosophie auch nichts weiß (Kapitel 4). (x) The objectives or goals O include discovering or using the laws of the D’s, systematizing (into theories) hypotheses about D’s, and refining methods in M.

Texte bestünden aus singulären Propositionen und „Gesetzen“. Wie dem auch sei und bereits vermutet (6.1), für Genaueres diesbezüglich bräuchte man eine signifikante Zahl von Kandidaten aus der Forschung für vergleichende Studien, also minimal einhundertsiebenundachtzig. Häufiger ist also im Rahmen der Systemik auch in solchen Fällen von „Gesetzen“ die Rede, von denen ich nicht mehr behaupten wollte (6.1), als dass sie plausibel und weiter erklärbar sind. Plausible Beispiele müssen dann auch nicht immer so fern liegen, z. B. dass es in einer Armee mit dieser oder jener Kommandostruktur so und so lange dauert, bis dieses oder jenes eintritt. Wenn man Mechanismen so bestimmt, dass diese zum Erhalt eines Systems in einer Umwelt beitragen, dann gibt es auch in solchen Fällen einigermaßen „stabile“ Regelmäßigkeiten (zu vermuten), die auch in Subsumtionserklärungen genutzt werden können. Solange mit der Rede von „Gesetzen“ keine signifikanten Probleme verstellt werden, wird man so reden dürfen (6.1). Ich glaube zuvor nicht verschwiegen zu haben, dass sich die Listen mit plausiblen Generalisierungen oder Demi-Regs oder auch solchen „Gesetzen“, die Hempel (und auch Bunge) in „unvollständigen Erklärungen“ vermuteten, durchaus verlängert werden könnten. „There are literally hundreds of further generalizations of the same kind“, weiter: „both plausible and dubious“ (Bunge 1998a, 29), und ferner äußerst verstreut. In einer Darstellung finden wir beiläufig: (xxiii) „Diese arbeitssparenden Erfindungen wurden zunächst in Nordamerika und Großbritannien eingesetzt, da dort die Arbeitskräfte relativ knapp waren bzw. der gewerbliche Sektor stärker um sie konkurrierte“ (Burhop 2011, 62; vgl. oben Nr. xiii). (xxiv) „Dies verwundert [d. h. das Nicht-Zutreffen der Regel im Fall des Kaiserreiches, dp], denn im Allgemeinen weisen Volkswirtschaften mit hohen Wachstumsraten verhältnismäßig starke Wachstumsschwankungen aus“ (Burhop 2011, 75). (xxv) „Dieser Spitzensteuersatz erschien sowohl dem Zentrum als auch den Nationalliberalen zu hoch – diese Parteien wurden vor allem von Beziehern hoher Kapital- und Arbeitseinkommen gewählt“ (Burhop 2011, 95). (xxvi) „Wenn wohlhabende Bürger ein höherers Gewicht im Gemeinderat haben, dann werden öffentliche Güter, die zunächst von Bürgern mit hohen Einkomen konsumiert werden, mit Hilfe von öffentlichen Geldern finanziert“ (Burhopf 2011, 97). (xvii) „Da innerhalb des CVDI [Centralverband deutscher Industrieller, dp] die schutzzöllnerisch orientierten Branchen am besten organisiert waren, konnten sie ihre entsprechenden Positionen innerhalb des Verbandes durchsetzen“ (Burhop 2011, 112). (xxviii) „Ein möglicherweise positiver Effekt von Zollschutzmauern ist die Entwicklung von jungen Industrien hinter diesen Mauern“ (Burhop 2011, 116). Die „Akteurnähe“ mancher dieser Generalisierungen springt in die Augen (6.1) und das Problem mit Plausibilität ist, dass diese relativ ist, nämlich relativ zu einem Überzeugungssystem zu einem Zeitpunkt – und dieses kann eben äußerst schlecht sein, vor allem auch im Rahmen der Geschichts- und Sozialwissenschaften.

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Hier stehen theoretische Wissenschaften im Fokus mit der entsprechenden Beibehaltung der Rede von Gesetzen an zentralen Stellen. Systematisierungen von Hypothesen zu Theorien sind wohl weder im Sample noch darüber hinaus verbreitet relevant. Die „Historische Sozialforschung“ behauptet oder behauptete, (allgemeine) Theorien bilden und „Grundlagenforschung“ betreiben zu wollen. Falls unsere These richtig ist, wollen die SampleGeschichtswissenschaftler primär etwas besser verstehen als vor der Forschung, was aus meiner Sicht völlig auf der Linie der systemischen Ontologie und Methodologie liegt, pluralistischer zu handhaben ist und damit ein weniger kontroverses Ziel darstellt. Allerdings ist über Theorie- oder Modellbildung in der Breite der geschichtswissenschaftlichen Forschung auch eher wenig bekannt in der Philosophie und die „Theoriebedarfsdebatte“ in der Geschichtstheorie ist wohl versandet, weshalb auch keine Einigkeit darüber besteht, was hier unter einer Theorie zu verstehen ist. Modellbildungsversuche gibt es an verschiedenen Orten (sogar in der „Anatomie“), und dies sind immer Systematisierungen oder Systamtisierungsversuche von Hypothesen. Was sonst?477 (xi) The methods in M consist exclusively of scrutable (checkable, analyzable, criticizable) and justifiable (explainable) procedures. Im Allgemeinen wird gelten müssen, dass über die allgemeineren oder spezifischen Methoden der Geschichtswissenschaften nicht leicht etwas zu erfahren ist und entsprechende Monographien mit „Methoden“ und „Geschichte“ oder „Geschichtswissenschaft“ im Titel selten zu sein scheinen (z. B. Samaran (1967 [1938], Cardoso/Brignoli 1984). Die Fülle der verstreuten Literatur ist von (Geschichts-)Philosophen wohl noch nicht gesichtet worden. Im Rahmen der Mini-„Anatomie“ scheint mir aber kaum etwas zu finden zu sein, für das die Bedingung offensichtlich nicht erfüllt ist. Man darf aber darüber hinaus vermuten, dass dies andernorts nicht so ist. An anderer Stelle (Bunge 1991b, 246) ist unter dieser Bedingung Folgendes gelistet: „in the first place the general scientific method (Background knowledge → Problem→ Solution candidate → Check → Candidate evaluation → Eventual revision of either Solution candidate, Check, or Background knowledge“. In dieser Form, d. h. ohne Festlegung auf eine Rechtfertigungs-, Test- oder Bestätigungstheorie, sind wir auf Ähnliches ganz nebenbei bereits gestoßen. Ferner weiß man über die unübersehbare Fülle von Techniken in den Geschichtswissenschaften in der Philosophie auch wenig, weil noch immer das Dogma der strikten Trennung von Geschichte und Sozialwissenschaft obwaltet, sodass die unzähligen Methodenbücher der empirischen Sozialforschung gar nicht in Betracht kommen, die in manchen geschichtstheoretischen Schulen schlicht zum Kanon gehören, wenn auch nicht in anderen. Viele Studien versteht man (wie der Autor) als Laie schon deshalb nicht vollständig, weil man diese Methoden nicht beherrscht (3.1). Die Bedingung (xii) übergehen wir an dieser Stelle. Wenn man dies auf der Basis der Impressionen aus der Mini-„Anatomie“ so sieht und auch diese Definition mit Fingerspitzen anfasst, dann sind die impressionistisch gesichteten Forschungslinien Wissenschaften oder wissenschaftlich, und nichts spricht dafür, dass es sich mit den geschichtswissenschaftlichen Disziplinen vollständig anders verhält. Wenn man, wie im postmodernen Narrativismus oder narrativistischen Postmodernismus, Forschung konsequent ignoriert und alles allgemein literaturtheoretisch und vulgärwissenschafts- oder wissenssoziologisch einkleistert, ferner teilweise mit dem Weihrauch der unhintergehbaren „His477

Am Rande und in Anknüpfung an 2.3 sei festgehalten, dass Bunge Erklärungen nicht als notwendige Bedingung aufnimmt, da er davon ausgeht, dass auch in der Physik Sub-Wissenschaften mit Theorien zu finden sind, die keine Erklärungen liefern (im dann onto-methodologisch qualifizierten Sinn mechanismischer Erklärungen), aber dennoch als wissenschaftlich gelten. (Ferner wird auch die Wahrheit von Hypothesen nicht gefordert.)

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torizität“ einnebelt, dann ist klar, dass man vor dem Hintergrund teilweise merkwürdiger Annahmen über „Wissenschaft“, „Objektivität“ und „Realismus“ (Plenge 2014b) der völlig über einen Kamm geschorenen „die Geschichte“ Wissenschaftlichkeit, Objektivität und Realismus leicht absprechen kann. Vor dem Hintergrund dieses Samples ist es aber klarerweise so, dass jene durchaus heterogenen Forschungen und wohl auch Ansätze oder Disziplinen eher wissenschaftlich sind als nicht-wissenschaftlich, pseudo-wissenschaftlich oder einfach fiktionalisierende Kunstvereine. Dieser komplexe Begriff von Wissenschaft kann auch dazu dienen, etwas einzugrenzen, in welchen Hinsichten geschichtswissenschaftliche Disziplinen (Geschichtswissenschaften) „irgendwie“ heterogen sind (Kapitel 2.3). Das kann dazu dienen, weitere Probleme für eine künftige und der Disziplin oder den Disziplinen adäquatere Metageschichtswissenschaft zu liefern. Folgende Liste drängt sich minimal auf: (1) Heterogenität hinsichtlich des philosophischen Hintergrunds, im Besonderen (a) der Hintergrundontologie, (b) der Hintergrundepistemologie, (c) der Hintergrundwissenschaftsethik; (2) Heterogenität hinsichtlich des formalen Hintergrunds; (3) Heterogenität hinsichtlich des Diskursuniversums, also der Gegenstände der Forschung, inklusive der als relevant erachteten Relationen; (4) Heterogenität hinsichtlich des spezifischen Hintergrunds, also den Beziehungen zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen, deren Ergebnissen und Methoden; (5) Heterogenität hinsichtlich bestimmter Typen von Problemen bezogen auf die heterogenen Gegenstände; (6) Heterogenität hinsichtlich von Typen von Theorien, Modellen oder Hypothesen (singulär oder generell) und deren „externer Kohärenz“ mit denjenigen anderer Wissenschaften; (7) Heterogenität hinsichtlich der Ziele, zum Beispiel auch hinsichtlich Erklärung, Verstehen, Interpretation, Deutung und Erzählung, Sinnstiftung und Sinnabriss478; (8) Heterogenität hinsichtlich der Standards an die Rechtfertigung von Hypothesen, inklusive der Explizitheit dieser Rechtfertigung (und zuvorderst jener Hypothesen); (9) Heterogenität hinsichtlich der disziplinspezifischen Methoden (Techniken) und der Verwendung von allgemeinen (oder universalen) Methoden; (10) Heterogenität hinsichtlich der Präsentation der Forschung oder der Repräsentation der Gegenstände (z. B. auch in dem Fall, in dem Forschung gar keine Rolle spielt, also in „Erzählungen“ oder „Geschichten“, alles in allem Pseudogeschichtswissenschaft oder „Mythographie“ (Topolski 1976); 2.1).479 478

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Manchmal wird behauptet, bestimmte Gruppen von Historikern würden einen politischen „Standpunkt“ einnehmen; siehe Fulbrook 2002a; vgl. knappe Bemerkungen bei Evans 1999, 241 f., Megill 2007, Haskell 1990. Wie auch immer es darum in der Breite stehen mag (z. B. der „narrativen“ Polithistoriographie zum 20. Jahrhundert), in der hier gesichteten Forschungsliteratur finden sich solche „Standpunkte“ in beinahe allen Fällen kaum oder schlicht nicht, zumal keine Sinnstiftungsbemühungen. Vordermeyer sprach wohl aus, was viele Geschichtswissenschaftler teilen (Vordermeyer 1986, 519): „Ob eine Theorie ‚Sinn‘ stiftet oder nicht, ist keine wissenschaftliche, sondern eine weltanschauliche Angelegenheit“, was immer „Sinn“ hier meint. Siehe zu diesem Wissenschaftsverständnis auch Bunge 1983b, 1991b, 1996a, 2010b, 2013b 1985, 2014a 1980. Bis auf die sozialontologische Rahmung, die allerdings wohl auch kaum jemand bestreiten würde, finden sich ähnliche Auffassungen, unter Abzug der systemischen Metaphysik, auch andernorts; siehe Bartelborth (2012, 73), Schurz (2006, 72-81). Vor dem Hintergrund dieses und ähnlicher Wissenschaftsbegriffe ist es auch weder gänzlich unmöglich noch illegitim, Pseudogeschichtswissenschaft zu diagnostizieren (2.2), schließlich machen das Geschichts-

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Vor diesem Hintergrund wird man eventuell bezogen auf die Heterogenitätsthesen aus Kapitel 2.3 vermuten, dass die Geschichtswissenschaften aufgrund der wohl doch groben Gemeinsamkeit bezogen auf das allgemeine wissenschaftliche Vorgehen als partiell homogen, nicht absolut heterogen gelten können. Wie groß die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind, können wir auf dieser Basis und der Mini-„Anatomie“ jedoch kaum sagen. Teilweise wird es schon so sein, wie in 4.2 hypothetisch angenommen worden ist, dass Vertreter der Neueren Kulturgeschichte sich kaum mit Vertretern quantitativer Historischer Sozialforschung austauschen können, wobei beide mit Vertretern „historistischer“ Politikgeschichtsschreibung wenig anfangen können. Aber natürlich sind Geschichtswissenschaftlern offiziell genauso tolerant bezogen auf dasjenige, was in der Disziplin vor sich geht, wie Philosophen – bis die Bürotür geschlossen wird. Einheitslehrbücher zur Geschichtswissenschaft und dortigen Vorstellungen von Geschichtswissenschaftlichkeit gibt es wohl auch schon lange nicht mehr. Eine weitere, minimale Gemeinsamkeit könnte ein Aspekt bereitstellen, der manchmal „Historische Methode“ (2.1) oder einfach (interne und externe) „Quellenkritik“ genannt wird. Wenn man sich in der Geschichtsphilosophie nicht nur die Mühe macht, analytisch zwischen Geschichtswissenschaften als Sozialsystemen, Geschichtswissenschaften als Forschungstätigkeiten, Wissenschaften als Methoden und Wissenschaften als Produkten bzw. Produktmengen zu unterscheiden (2.1), sondern auch über die Analyse spezifischer Ansätze (Hintergrundwissen, Problematiken, Ziele und Methoden) die obigen Differenzierungen vorzunehmen versuchte, käme man einem adäquateren Bild der Einheitlichkeit und/oder Heterogenität sicherlich näher als mit Pauschalthesen über „die wissenschaftliche Methode“, „die Methode der Historischen Wissenschaften“, „die Historische Methode“ oder auch Pauschalthesen zur (vermeintlichen) Opposition von (Natur-)Wissenschaft und Geistes- oder Kulturwissenschaft, Wissenschaft auf der einen Seite und Geschichte als Kunstform auf der anderen. Was die eigentlich nur noch als Wurmfortsatz der Geisteswissenschaftsdoktrinen fortexistierende Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Geschichte angeht (2.1), hat schon J. Cohen die vernünftige Richtung vorgegeben: To insist that ‚Truth in history is not radically different from scientific truth' (Strong) or that ‚History is an autonomous form of thought with its own principles and its own methods' (Collingwood) is to continue the exaggerations of the nineteenth century controversy on this matter between positivists and neo-Kantians. It is more instructive to examine in detail both the various ways in which historiography resembles some other sciences and also those in which it differs from them (J. Cohen 1952, 174 f.; vgl. zuletzt Kitcher/Immerwahr 2014). Wenn man von Wahrheit schon redet, sollte man von Hypothesen beziehungsweise Typen von Hypothesen und ihrer Rechtfertigung nicht schweigen, ansonsten landet man entweder in der Kirche oder in postmoderner Geschichtsphilosophie. Auch um (universale) Methoden, d. h. hier letztlich Argument- oder Schlussformen oder die „Logik historischer Forschung“ (Fischer), wird man dann nicht herumkommen bei der Beackerung dieser (komplexen) Problematiken. Wie wir gesehen haben (3.1.4), sprach Millar von den „logical and evidential foundations” des Faktionenmodells. (Man darf aber schon auch fragen, warum dies ausgerechnet wissenschaftler auch selbst, z. B. spricht R. J. Evans (1999, 230) von der „Pseudowissenschaftlichkeit der Holocaust-Leugner“ und möchte zwischen „wirklicher Forschung und Pseudoforschung unterscheiden“, was erneut zeigt, dass die Geschichtswissenschaftlichkeitsproblematik (Kapitel 2) nicht vom Tisch ist und nie sein wird.

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Philosophen machen sollen – und nicht Geschichtswissenschaftler als Geschichtstheoretiker höchstselbst.) Bezogen auf die alten Fragen um die „methodologische Einheit der Wissenschaft“, Methodenmonismus oder Methodendualismus und eine womöglich spezifisch „geisteswissenschaftliche“ oder „hermeneutische“ Methode (2.1)480 ist vor dem Hintergrund der Mini„Anatomie“ an dieser Stelle einzig zu sagen, dass von jenen spezifisch geistes- oder kulturwissenschaftlichen Methoden, die Geschichte als Wissenschaft sui generis abzugrenzen erlauben, keine Spur zu finden ist. Die „Methode namens Verstehen“ (Abels 1946, Outhwaite 1986) ist ja bezogen auf Wissenschaftspraxis ein altbackener akademischer Mythos. Alles Weitere obliegt dem Nachweis der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von (allgemeinen) Methoden und (spezifischen) Techniken innerhalb der heterogenen Praxis.481 Zunächst einmal sollte man das Problem ernst nehmen, zu klären, ob das, was unter dem Label „history“ hier läuft, demjenigen ähnelt, in welchem Ausmaß und in welcher Hinsicht, was dort unter „history“ läuft, was auch zu internationalen Vergleichen einlädt. Geschichtsphilosophen unterstellen auch regelmäßig allzu schnell, dass Geschichte oder Geschichtswissenschaft überall gleich ist, ohne dies jemals zu untersuchen (2.3). Allein das NichtVorhandensein einer weltweit integrierten und daher annähernd vereinheitlichten Geschichts(meta)theorie lässt an dieser Ansicht zweifeln. Vor der Beantwortung der Frage nach (internationaler) Ähnlichkeit und Unähnlichkeit erübrigt sich auch jeder Vergleich mit anderen Wissenschaften oder der generischen „Wissenschaft“, denn mindestens eines der Relata des Vergleichs ist dann unklar bestimmt oder arbiträr gewählt. Warum glauben dann doch so viele Geschichtsphilosophen immer wieder, dass Geschichte und Wissenschaft nicht zusammenpassen, wenn doch vor dem Hintergrund der Mini„Anatomie“ nicht viel dagegen spricht? Das Hauptproblem mit der Geschichtsphilosophie ist meines Erachtens ganz einfach das bereits von L. Goldstein (1976) benannte, dass sie sich kaum mit Forschung, fast nicht mit den geschichtswissenschaftlichen Disziplinen befasst, sondern mit der Narrativität von Geschichten. Wenn man so will, ist vieles in der Geschichtsphilosophie einer optischen Täuschung geschuldet, nämlich der Verwechslung von Geschichtswissenschaft und geschichtswissenschaftlicher Forschung mit demjenigen, was ich mal unvorsichtigerweise „Historiographie“ (Plenge 2014b) genannt habe, also „historischen“ Darstellungen, Handbüchern und „Erzählungen“, vor allem also Populärschriften. (Die These ist nicht einfach zu überprüfen, da Historiker selten und selten ausgiebig von Philosophen zitiert werden.) Goldstein unterschied zwischen einer „infrastructure“ (oder Basis) und einer „superstructure“ (oder einem Überbau) der „history“ (oder Geschichtswissenschaft). Der Überbau umfasse „that part of the historical enterprise that is visible to nonhistorian consumers of what historians produce“, d. h. „the literary product of the historian’s work, the final form in which his conclusions are cast (…)“. Die Basis umfasse „that range of intellectual activities whereby the historical past is constituted in historical research (…)“. Auch bei Goldstein ist die These, dass Geschichtsphilosophie Geschichte oder Geschichtsschreibung (Darstellungen, Erzählungen, Handbücher) mit Geschichte oder Geschichtswissenschaft beziehungsweise geschichtswissenschaftlicher Forschung konfundiert oder sich dafür nicht interessiert. Auch A. Tucker (2004a) hat diese Sicht in Kritik an der Geschichtsphilosophie wieder aufgenommen. Entsprechend unterscheidet sich Tuckers forschungsbezogene Philosophie der „Historiographie“ signifikant von textualistischer Philosophie der Geschichte. Paul (2011) entdeckte dann erneut 480 481

Siehe z. B. Hempel 1942, Patzig 1973, Schurz 2004, Scholz 2013a, 2016a. Bunge behauptete im Kontext bereits (1991b, 265 f.) im Sinn der neueren „naturalistischen Hermeneutik“, dass „serious (nonphilosophical) hermeneutics“ die wissenschaftliche Methode anwende.

8.2 Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen?

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das „Performing History“ als neuen Gegenstand der Geschichtsphilosophie. (Wenn jeder immer von vorne anfängt, weil es gar keine Disziplin gibt, hat das den Vorteil, dass jeder etwas Neues erfinden kann.) Auch Goldsteins Bild war allerdings bereits irreführend, denn in gewissem Sinne gibt es die „literarischen Produkte“ gar nicht, in denen die „endgültige Form“ der „Konklusionen“ von Geschichtswissenschaftlern dargestellt werden, die dann nicht-geschichtswissenschaftliche Konsumenten verknuspern. Denn was Geschichtswissenschaftler an geschichtswissenschaftlichen Produkten produzieren, interessiert außergeschichtswissenschaftliche Konsumenten in aller Regel überhaupt nicht. Man muss nur in die Mini-„Anatomie“ schauen, um das grob nachvollziehen zu können. In den „literarischen Produkten“, die andere „Konsumenten“ konsumieren, findet sich all das scheinbar Triviale, das in den Kapitel 4 und 5 gelistet wurde, was sich in den Studien in Kapitel 3 in unterschiedlichen Graden findet, eben weitgehend nicht: Forschungsstand → Probleme → Fragen → Daten/Methoden/Argumentationen/Hypothesen. „Literarische Produkte“ gelten in aller Regel nicht als Forschungsbeiträge und Forschungsbeiträge sehen selten irgendwie literarisch aus. Wenn man diese „literarischen Produkte“ heranzieht und glaubt, viel über Geschichtswissenschaft zu erfahren, dann wird man sich täuschen, denn es wird ja für irgendein Publikum irgendetwas „erzählt“ und keine Forschung dokumentiert oder – wie Medick (1996) schreibt – Forschung dargestellt. Zum Beispiel gilt offenbar: „Stories do not call for time-consuming search for evidence“ (Bunge 2009a, 17; siehe im Kontext auch Pape 2006, Kapitel 3), und sie erfordern auch keine argumentative Darlegung jener Evidenz. Eigentlich lassen sich die teilweise grotesk unterschiedlichen Auffassungen über „Geschichte“ wohl nur so deuten („erklären“), dass die einen eben solche Konsumprodukte oder „Geschichtsschreibung“ heranziehen, die anderen etwas anderes. Vielleicht oder gar sicherlich ist es am Ende doch so, dass auch diesbezüglich die Geschichte/Geschichtswissenschaft weltweit betrachtet zu heterogen ist, sodass vielleicht alles gleich typisch oder untypisch ist. Wenn man in der Geschichtsphilosophie immer recht klar machte, worüber konkret gesprochen wird, wenn von Geschichte die Rede ist, dann könnte man jene Auffassung nicht nur besser einschätzen, sondern auch überprüfen, zum Beispiel indem man die Beispiele angibt, auf die man sich bezieht. Daher wurde hier die hauptsächliche Datenbasis auch am Anfang gelistet und teilweise dargestellt. Das macht die hiesigen Thesen prinzipiell – bei allen eingestandenen Problemen – überprüfbar und allein die Mini-„Anatomie“ legt deutlich nahe, dass viele geschichtsphilosophische Thesen nicht auf der Basis eines ähnlichen Samples gewonnen worden sein können oder aber an einem solchen kaum bestätigt werden können. Wenn man ausschließlich in Handbücher, Darstellungen oder „Geschichtsschreibung“ schaut, dann findet man natürlich „typische“ „historische“ „Erzählungen“ im Sinne mancher Geschichtsphilosophie. Andernorts findet man aber eben doch etwas anderes. Wie der Soziologe R. Boudon am Beispiel vor allem der Soziologie forderte, sollte man vielleicht einfach zunächst (wieder) die Genres auseinanderhalten, um sich einem annähernd adäquaten Bild zu nähern und nicht aneinander vorbei zu reden. Genauso wie R. Boudon versucht, „wissenschaftliche“ Soziologie von „expressiver“, „kameralistischer“ und „kritischer“ Soziologie abzugrenzen – natürlich mit Kriterien, die seine Kontrahenten ablehnen dürften –, kann man im Rahmen der Metageschichtswissenschaft vorschlagen, die Einschätzung von Produkten, die letztlich gar kein Beitrag zur wissenschaftlichen Forschungsliteratur sind und zumeist auch nicht sein sollen, nicht mit Fragen zu belasten, die mit Wissenschaftlichkeits- oder Geschichtswissenschaftlichkeitskriterien zu tun haben. Ob man Geschichte „Wissenschaft“ nennt oder nicht, hängt trivialerweise (2.3) davon ab, was man unter jenem „Geschichte“ genannten Irgendwas vor Augen hat und was man unter „Wissenschaft“ versteht. Zu manchem

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8 Von der Metaphysik zurück zur Mini-„Anatomie“?

aus der Menge dessen (2.1), was manche „Geschichte“ nennen, wird es sich kaum lohnen, entsprechende Fragen zu stellen. Wenn man willkürlich eine Seite in einer willkürlich gewählten „Geschichte“ aufschlägt, die zufällig gerade greifbar ist, dann findet man durchaus typisch „Historisches“. Die Überschrift lautet „The opening of the Floodgates and the Deflected Revolution“: At first, the desire, pent-up for decades, to experience at first hand the glittering materialism of western consumer society was given expression. The visual contrast between the East Germans – in their ubiquitous jeans, black leather or denim jackets and third-rate cars – and their affluent West German relatives was marked. After the initial euphoria, West Germans, and particularly West Berliners, began to resent the crowds, the queues for public transport, the traffic jams in border areas, the overcrowding of shops with people who had come largely only to look, with no more western currency than the West German official ‚welcome money‘ of 100 DM, sufficient to buy little more than a bag of oranges and some small treats for the children. More ominously, the opening of the Wall had destabilizing effects for both the West and East German regimes. Far from the calculated gamble coming off – with freedom to travel ensuring the surivival of a separate, dinstinctive democratic socialist GDR – the opening of the floodgates served to subvert and deflect the ideas and aims of both regime supporters and the intellectual opposition in the GDR. The result was a stampede westwards to which there could be only one solution: unification (Fulbrook 2002b, 269). Geschichtswissenschaftler (im Sinne von 2.1), zumindest manche und eigentlich, zumindest aus meiner Perspektive, eine winzige Minderheit, schreiben eben auch anderes als Forschungsberichte (z. B. Fulbrook 2002b, Gaddis 2005, Mann 1999 [1958], Roberts/Roberts 1991, Topolski 1985) und es ist klar, dass es so sein kann, dass in manchen Ländern und manchen Bereichen, vielleicht gar in „der Geschichte“ in der Breite, es keinen klaren Unterschied zwischen Forschungsberichten und Erzählungen oder bloßer Geschichtsschreibung gibt, aus unterschiedlichen Gründen (zumal nach der unbefristeten Festanstellung des jeweiligen Historikers in einem Historischen Seminar, zumeist als Professor/in; 3.1). Aber Geschichtsschreibung oder Erzählungen sollten tatsächlich für eine Metageschichtswissenschaft sekundär oder irrelevant sein, weil sie mit demjenigen, was in Historischen Seminaren doch größtenteils produziert wird, eventuell wenig oder nichts zu tun haben, sondern als Beiträge zur Geschichtskultur gezählt werden müssen, bei denen es sich um etwas ganz oder signifikant anderes handelt. Auch zum Beispiel Topolskis (1985) „Die Geschichte Polens“ hat mit dessen Forschungsbeiträgen wenig (oder nichts) gemein. Eigentlich sind Erzählungen oder eben Geschichtsschreibungen auch kaum metatheoriefähig, wenn hier unter „Metatheorie“ so etwas wie „Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaften“ verstanden wird. Denn wo es keinen Forschungsstand gibt, keine (wissenschaftlichen) Probleme und (nicht-rhetorische) Fragen, keine expliziten Hypothesen und explizite Begründungsbemühungen, da gibt es aus metageschichtswissenschaftlicher Perspektive eigentlich genauso wenig zu sagen wie zu folgendem Text, der auch recht eindeutig (2.1) eine Geschichte oder eine historische Erzählung (4.2, 6.4) ist. Sie ist eigentlich noch weitaus „historischer“ als obige Passage, denn es geht viel eher um konkrete Personen als zuvor. Damit ist sie eigentlich besonders geeignet für eine geschichtsphilosophische Analyse: The old Lazzarini cobbler’s shop was founded in 1886 in Ascoli Piceno. But it was in the Fifties, when Emidio took over the business from his father, that the legend of Pantofola d’Oro (…) took root. Emidio Lazzarini was a wrestler, but the shoes he wore in

8.2 Ist die Geschichtswissenschaft Wissenschaft und inwiefern ist sie heterogen?

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competition were uncomfortable and unsuitable. A born shoemaker, he made his own wrestling shoes, softer and more comfortable than the ones he was used to wearing. The word soon got around, and many other wrestlers commissioned him to make custom shoes for them as well (P. d’Oro 2015). Wie viel ist dazu zu sagen? Handelt es sich nicht um eine recht typische historische Erzählung, mit Ansätzen von Handlungsverstehen und Covering Laws, die zudem chronologisch oder „historisch“, mit narrativen Sätzen, strukturiert ist, mit sicherlich vorhandenen kausalen Anteilen? Es ist nichts dazu sagen, da es sich um einen Werbetext einer Schuhfabrik handelt. Er teilt aber die Eigenschaft mit idealtypischer Geschichtsschreibung oder „Erzählungen“, nicht metatheoriefähig zu sein, weil er gar keinem genuinen Forschungskontext entstammt, keine Forschung dargestellt oder dokumentiert werden soll, und ferner bloß auf der Basis ästhetischer oder literaturtheoretischer Kriterien und hinsichtlich der Zuträglichkeit zur Lösung praktischer Probleme (z. B. Herstellung von Lesegenuss beim Leser) beurteilt werden kann, also genau so, wie manche der vielen Narrativisten sich das wohl vorstellen. Sogar auf Wahrheit oder Rechtfertigung kommt es nicht an. Das scheinen manche Geschichtswissenschaftler oder gar beinahe alle bezogen auf ihre Texte aber noch immer als inadäquat zu erachten (Frings 2008), in denen etwas anderes zu finden ist. Hier findet man auch die unter manchen Narrativisten implizit verbreiteten Zwei-EbenenModelle der Erkenntnis (Plenge 2014b) teilweise illustiert, die in den Thesen bestehen, dass der typische Historiker in erster Linie „Fakten“ arrangiert (Ebene 2), die zuvor, allerdings bereits zu einer Chronik geordnet, vom Baum der Erkenntnis gefallen sind (Ebene 1: QuasiForschung), was dann zu sogenannten „Auswahlproblemen“ bezogen auf die Menge jener Äpfel führt, oftmals vorgenommen nach Maßgabe einer vagen „Thematik“ („Macht“ im 19. Jahrhundert) oder einem „Interpretationsschema“ („Fortschritt“, „Krise“, „die Deutschen“), die dem Leser in „Erzählungen“ oder literarischen Arrangements (Ebene 2) zur Verknusperung präsentiert werden, und zudem mit der These verbunden werden kann, dass auf Ebene 2 immer und ausschließlich Relationen den „Fakten“ hinzugefügt werden, die entweder auf Ebene 1 oder aber im ontischen Gegenstandsbereich dieser Ebene gar nicht existieren, wie immer man das zu wissen glaubt (vgl. zur Kritik an Letzterem Gerber 2012).482 In Forschungsliteratur und entsprechenden Debatten scheinen „typische“ Erzählungen jedoch nicht oder eher selten vorzukommen oder sonderlich relevant zu sein. Auch das kann man am Beispiel von Forschungsliteratur überprüfen. „Erzählungen“ (6.4) und auch Handbücher aus dem Geschichtswissenschaftskontext verbergen das Entscheidende teilweise völlig oder vereinfachen es, nämlich Forschungsprozesse (vgl. bereits bezogen auf die Wissenschaftsphilosophie im Allgemeinen Bunge 1973a, 5). Erzählungen könnten auch manchmal 482

An Erzählungen ist natürlich auch nichts auszusetzen, so lange sie des jeweiligen Lesers und auch Verfassers Geschmack treffen und vielleicht irgendwen bilden oder das Niveau einer Debatte erhöhen. Ideologische Erzählungen, wie auch geschichtskulturelle Beiträge generell in der hier eingenommenen Perspektive, sind ein Thema für die Ethik der Geschichtsschreibung am Schnittfeld von basaler Geschichtswissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Hier wäre es tatsächlich aufschlussreich, die Rezensionspraxis in Fachzeitschriften zu untersuchen (Day 2008) und zu überprüfen, ob Erzählungen (oder, anders gesagt, sogenannte Darstellungen, Kompilationen oder Synthesen) überhaupt und, wenn ja, signifikant anders evaluiert werden als Forschungsbeiträge. Falls dem nicht so ist, spricht dies vielleicht gegen unsere Trivialerkenntnisse aus Kapitel 4. An dieser Stelle wird unter einer (historischen) Erzählung ganz einfach ein solcher Text verstanden, in dem alles, was in den Kapiteln 4 und 5 behandelt wurde, keine signifikante Rolle spielt. Das heißt auch, dass man dort oftmals nicht findet, was Goldstein (1976, 206) für typisch hielt: „in typical cases historians expect that even colleagues who do not agree with an explanation being proffered can at least unterstand why the explanation was proposed“.

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tatsächlich verbergen, dass es zuvor gar keine geschichtswissenschaftliche Forschung gab, und sie erschweren die Überprüfung der Thesen erheblich, wenn sie nicht unmöglich ist.483 Gute, in den jeweiligen Wissenschaften gebräuchliche Handbücher deuten an, wo die Probleme liegen und welche Schwierigkeiten in ihrer Lösung bestanden haben oder noch bestehen, was die Daten sind und wo die Mängel der Hypothesen liegen (wie die Enzyklopädie Deutscher Geschichte). Hier kann man teilweise Interessantes aus metageschichtswissenschaftlicher Warte erfahren, nämlich warum Geschichtswissenschaftler welche Arten von Problemen auf welcher Datenbasis überhaupt beackern, woher die Probleme stammen und worin sie bestehen, wie sie sich sozusagen entwickeln (Kapitel 4, Kapitel 5). Natürlich können wir das Problem einer jeden Metageschichte oder Metageschichtswissenschaft nicht lösen, dass vielleicht manche Geschichtswissenschaftler oder manche Gruppen, auch besonders im Weltmaßstab, reine Erzählungen oder auch darüber hinaus die offen ideologischen als die eigentliche Geschichte oder Geschichtsschreibung, das „Doing History“ (2.1), ansehen und anderen zurufen mögen: „C’est magnifique, mais ce n’est pas l’histoire“ (McDougall 1986). Es kann auch sein, dass sich etwas Ähnliches wie dasjenige, das R. Martin (1997) „humanistic historical interpretation“ nannte, also die „Interpretation“ der „Bedeutung“ z. B. einer Revolution, als signifikant anders erweist als vieles in der Mini-Anatomie, dass solche „Synthesen“ oder „Interpretationen“ (in Teilen) anders beurteilt werden müssen, dass Kontroversen zwischen unterschiedlichen Historikern hier prinzipiell empirischtheoretisch unauflösbar sind, weil ideologische Anteile größer sind usw., oder dass auch hier – wie überall sonst auch – bloß graduelle Unterschiede erkennbar sind. Auch aus dieser Uneinigkeit über Geschichtswissenschaft, Geschichtsforschung, Geschichtsschreibung oder Geschichte weltweit könnte die Uneinigkeit in der Geschichtsphilosophie resultieren. Aufhorchen lässt uns an dieser Stelle auch erneut Charles Tilly (1990a, 686; 689), der behauptete, dass es in der „Geschichte“ nur eine vage Trennung zwischen „Professionellen und Amateuren“ gebe, „with the skilled synthesizer and storyteller who attracts a large public often comanding respect from the specialist“. Leider ist mir auch keine Übersicht über die philosophischen Auffassungen darüber bekannt, was für in irgendeiner Weise signifikant unterschiedliche Produkte jenseits der dargelegten Auffassungen zu Forschungsberichten Geschichtswissenschaftler produzieren bzw. was für, wenn man denn so will, Typen geschichtswissenschaftlicher Forschungsprojekte es gibt. W. Dray (1993, 44) unterschied z. B. mal zwischen „‚theme‘ and ‚period‘ histories“, wobei thematische Geschichten einen sich durch eine Form von „Einheit“ („unity“) auszeichnenden Gegenstand hätten („single event, movement, or state of affairs“), wohingegen der Gegenstand periodischer Geschichten raumzeitlich festgelegt sei, im Fall von Universalgeschichte im Zweifel „history-as-a-whole“. Obwohl man hier die Vermutung hegen kann, dass (spezifische) Forschungsstände, Probleme und Fragen wenigstens in jenen periodischen Geschichten irrelevant oder sekundär sind, aus der hier eingenommenen Perspektive ist die Gemeinsamkeit der Geschichtswissenschaften in allen Schulen ihre Problemorientierung und das 483

Natürlich verstecken sich hinter „Erzählungen“ (oder Darstellungen) oft ganze Forscherleben von Experten und entsprechende Forschungen, in denen man Datenlagen und Argumente dann prinzipiell nachschlagen kann. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die völlig gehaltlose Rede von „Erzählungen“ oder „historischen Erzählungen“ auch als Legitimation dafür dienen kann, zu verbergen, dass solche Daten und Argumente gar nicht existieren. Im Vergleich zur Forschungsliteratur ist die Dichte von Daten und Argumenten in „Erzählungen“ (oder „Interpretationen“ von sog. „Großereignissen“) bekanntlich als gegen null tendierend einzuschätzen. Gerade da sich Erzählungen oft an eine breitere Leserschaft richten, ist dies heikel, da der Leser letztlich eine Expertise unterstellen muss und in der Regel unterstellen wird, die er eventuell gar nicht beurteilen kann, z. B. auch weil in „Erzählungen“ kein Forschungstand offenbart wird, der dem Leser erste Anhaltspunkte liefert, sondern eben erzählt wird. Auch das ist eine Fragestellung für die Ethik der Geschichtschreibung. Nennen wir sie „Ethik der ‚historischen‘ Expertise“.

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Festhalten an so etwas wie dem allgemein-wissenschaftlichen Vorgehen, wenn man will, der wissenschaftlichen Methode (Kapitel 5). Das ist vielleicht wenig, aber auch nicht nichts, denn unter ihrer Voraussetzung ist es nicht unmöglich, bloße „Erzählungen“ und darüber hinaus auch Pseudo-Geschichtswissenschaft zu diagnostizieren. Man hat auch eine Vorstellung, wann ein Text weder wissenschaftlich noch pseudowissenschaftlich, sondern nichtwissenschaftlich ist, nämlich wenn keine ansatzweise erkennbaren Probleme gefunden und nachvollziehbar gelöst werden sollen, sondern etwas bloß „erzählt“ wird. Wenn in „periodischen Geschichten“ bloß erzählt wird, was der Erzähler für erzählenswert erachtet, dann handelt es sich – aus der hier eingenommen Sicht – nicht um ein Produkt wissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Forschung.484 Ich habe hier einzig das Glück, dass ich „die Geschichte“ gar nicht kenne und dasjenige, was ich hier wenigstens grob gesichtet habe, durchaus anders aussieht als eine bloße oder auch völlig ideologische „Erzählung“ oder „Geschichtsschreibung“. Dass diese Auswahl mithin willkürlich und damit vielleicht auch die Sicht auf die Breite der „Geschichte“ falsch ist, habe ich von Anfang an zugestanden. Ich würde auch hier darauf verweisen, dass etwaige Probleme, die in den letzten Absätzen verborgen sind, an Beispielen zu untersuchen wären, und dass es durchaus so sein kann, dass man am Ende nur mit Bestimmtheit sagen kann: Es gibt sonne und sonne. Letztlich ist die Problematik ganz einfach, dass wir nicht wissen, was ein geschichtswissenschaftliches Problem oder eine geschichtswissenschaftliche Problematik genauer ist (Kapitel 5), was uns Geschichtswissenschaftler (und andere Sozialwissenschaftler) wohl auch kaum sagen können – wohl schon gar nicht einheitlich. In klaren Fällen von demjenigen, das mal „Erzählung“ und mal „Geschichtsschreibung“ und mal anders genannt wird („Geschichte“), gilt dann aber wohl wirklich zweierlei. Erstens gilt dann: „Die Geschichte ist Erzählung“ (Mann 1999, 15). Zweitens gilt dann: „Geschichte ist eine Kunst, und weiter ist sie gar nichts“ (Mann 1979). Aus meiner Sicht heißt es zumindest für eine Geschichtsphilosophie oder Metageschichtswissenschaft bezogen auf die Auswahl ihres Gegenstandes an dieser Stelle (vgl. teilweise Megill 2007, Tucker 2004a): Hic Rhodus, hic salta! Vielleicht sollte man das auch einfach so sehen, weil einfach jeder Geschichten erzählen oder Geschichten schreiben kann, soweit er eine Sprache minimal beherrscht. Vielleicht kann aber nicht jeder einen wissenschaftlichen Beitrag zu Geschichtswissenschaften (2.1) leisten. Ich beispielsweise kann das nicht. Keine Frage, es wird auch Zeit, dass ein Geschichtswissenschaftler als Geschichtstheoretiker mal die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsphilosophie abzuschätzen versucht, falls eine solche Frage überhaupt sinnvoll gestellt werden kann.

484

C. B. McCullagh (2004, 19 f.; vgl. 27) unterschied „two kinds of general interpretations in history”: „Some interpretations are intended to provide a comprehensive account of a historical subject or process; others are designed to point out patterns of interest in the past that are not comprehensive accounts of any subject whatsoever. Interpretations of the latter kind include (i) accounts of just those features of a historical subject which are of moral, or political, or aesthetic interest; (ii) colligatory interpretations, which describe what a number of historical events amounted to; (iii) tragic, comic, and satiric narratives of the past, which show how certain events illustrate classical story forms; and (iv) explanations of historical events that draw attention to causes or conditions of particular interest.”

9 Abschluss: Wohin mit der Geschichtsphilosophie? „A philosophy of x should match x“ (M. Bunge). Wenn x heterogen und vielleicht etwas konfus ist, dann ist es so, dass auch eine Metageschichtswissenschaft, die weniger eindeutig und eher pluralistisch und pragmatisch, diesem x adäquater ist als eine besonders eindeutige, monistische und bestimmter auftretende Philosophie über „die Geschichte“. Wir haben versucht, die Inspiration für diese Klärungsskizze aus den Geschichtswissenschaften selbst, aus der Geschichtstheorie, Philosophie der Geschichte, Philosophie der Sozialwissenschaften, Allgemeiner Wissenschaftstheorie, Allgemeiner Hermeneutik und Soziologischer Theorie oder Sozial(meta)theorie zusammenzusuchen. Was ist dabei herausgekommen? Nichts Eindeutiges, eher skizzenhaft Pluralistisches, Pragmatisches, und immer neue oder zumindest weitere Problematiken. Denn die Zusammenführung unterschiedlicher Metadiskurse, zusätzlich auch noch mit einer konkreten Praxis aus einer der vielen wohl doch zerfaserten Sozialwissenschaften, ist natürlich nahe am Versuch der Quadratur des Kreises. Sie scheint aber notwendig, wenn es so ist, wie Geschichtswissenschaftler immer wieder behaupten, dass die Geschichtsphilosophien oder, besser, geschichtsphilosophische Thesen selten – und noch seltener offensichtlich – auf Geschichtswissenschaften oder geschichtswissenschaftliche Praktiken zutreffen. Sie ist natürlich nur dann notwendig, wenn man an Möglichkeit und Notwendigkeit einer Philosophie der Geschichtswissenschaft(en) festhält. Hier sollte ansatzweise eine Annäherung von Philosophie an dasjenige angestrebt werden, das in Historischen Seminaren doch letztlich betrieben wird. Es sollte ferner versucht werden, die unterschiedlichen Sprachen von Geschichtswissenschaftlern und Philosophen aneinander anzunähern. Auch das führt notwendigerweise zu einem etwas pragmatischen Durchwurschteln. Das wesentliche Bestreben bestand in der Klärung mancher Problematik, nicht in irgendeiner abschließenden und als kanonisch auftretenden Lösung.485 Probleme hat man zwar (Kapitel 5.1) immer nur selbst, aber die Hoffnung besteht, dass der Nachvollzug die Probleme anderer zu klären oder zu vermeiden hilft. Wenn man denn so optimistisch sein will, was man am Ende ja sollte, dann ist eigentlich im Nachhinein doch überraschend, dass man so seltsame Disziplinen wie Allgemeine Hermeneutik, Geschichtstheorie, Sozialtheorie, systemische Metaphysik und ein wenig Allgemeine Wissenschaftstheorie in einem Häuschen platzieren kann, was zur Annäherung der Sprachen wenigstens beiträgt. Leider lassen sich bestimmte Erfahrungen auch nicht kommunizieren, z. B. die Erfahrung des recht konsequenten Sprungs von der Philosophie oder Metatheorie (Plenge 2014a/b/c, Plenge/Kaiser 2014) und den dortigen handgreiflichen Unwägbarkeiten (Kapitel 2) in den Ozean der Praxis mit den dortigen Unwägbarkeiten (Kapitel 3) mit dem Versuch, aufgrund der Vielfalt der Philosophien und Metatheorien einigermaßen von diesem Punkt im Ozean loszuschwimmen (Kapitel 4), weil alles andere letztlich nur zu einer Reproduktion des teilweise und manchmal weitgehend Willkürlichen führen kann.486 Die Erfahrung ist zunächst ein Schock, weil es alles komplizierter und unübersichtlicher macht, letztlich völlig unübersichtlich, wenn man zudem noch zur Geschichtstheorie greift. Genauso lässt sich kaum die Erfahrung kommunizieren, die man macht, wenn man versucht, ontologisches oder sozial(meta)theoretisches Vokabular am Schnittpunkt von Philosophie, Sozial- und Geschichtstheorie zu verstehen und vergleichend aufzuarbeiten (Kapitel 7, Plenge 2014a), was zu der Feststellung führt, dass alle leicht oder gar gänzlich anders reden, Klärungsbemühungen aber 485 486

Das primäre Bestreben bestand natürlich darin, selbst etwas besser zu verstehen (Kapitel 5). Vor geraumer Zeit habe ich das mal genau anders herum gemacht: Metatheorie→Mini-Praxis (Plenge 2009).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Plenge, Geschichtswissenschaften, Sozialontologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04996-4_9

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wohl vielerorts schlicht eingestellt worden sind. Wir wissen nun aber grob, worin die notwendigerweise sich einstellende Konfusion liegt. Sie liegt schlicht und ergreifend darin, dass vielerorts mit „System“, „Mechanismus“, „Struktur“, „Gruppe“, „Netzwerk“, „Institution“ und „Situation“ (usw.) ansatzweise dasselbe gemeint ist, obwohl das nicht klar ist, weil nicht explizit gesagt wird, was gemeint ist, was auch unklar bleiben muss, weil andernorts etwas anderes jeweils damit gemeint ist, was dort aber auch nicht explizit gesagt wird. Das Resulat ist ungeordneter Kategoriensalat. Der Titel dieser Abhandlung ist in einem Teil an C. G. Hempels Lehre von den „Erklärungsskizzen“ angelegt, die wir in diesem Rahmen nicht hinreichend gewürdigt haben. Die zumeist seltsam interpretierte Idee war, dass geschichtswissenschaftliche Erklärungen dadurch verbessert werden könnten, dass mehr Einzelinformationen gesucht und mit weiteren generellen oder theoretischen Prämissen in einen argumentativen Zusammenhang gebracht werden. Hempel nannte dies eine „Schatzsuche“ und präsupponierte metaphysisch, dass es einen solchen Schatz – strikte Gesetzmäßigkeiten zwischen irgendwas – oder viele solcher Schätze in den Geschichts- und Sozialwissenschaften zu finden gibt. Die forschungsleitende Annahme war hier ähnlich, die Existenz einer zumindest unschädlichen, wenn nicht irgendwie positiv relevanten Philosophie der Geschichtswissenschaften oder Metageschichtswissenschaft wurde stipuliert. Wo kann man nach weiterer Klärung suchen, falls man an ihre Notwendigkeit glaubt? Man könnte sich, was Fragen und deren „Logik“ betrifft, jenseits der Klärungsskizze in der Logik der Fragen umschauen. Was Probleme und damit verbundene Überzeugungssysteme anbelangt, kann man sich in Erkenntnistheorie und Kognitionswissenschaft umschauen. Was (Typen von) Hypothesen und ihre Rechtfertigung (Bestätigung, Test, Überprüfung etc.) anbelangt, könnte man sich in Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und Methodologie der Sozialforschung, nicht zuletzt der (äußerst verstreuten) Methodologie der Geschichtsforschung umsehen. Dasselbe gilt für allgemeine Methoden und spezifische Methoden (Techniken) der wissenschaftlichen Disziplinen. Was Erklärung und Verstehen anbelangt, hilft ein Blick in die unübersehbare Fülle von Beiträgen in allen möglichen Disziplinen eventuell weiter, soweit dies nicht die Unübersichtlichkeit unerträglich macht. Die Fülle dessen, was unter „Hermeneutik“ firmiert, wurde hier nicht in den Blick genommen, da eine Vorentscheidung diesbezüglich getroffen wurde, der Nutzen gering zu sein versprach487 und eines jeden Zeit begrenzt ist. Eine nach wie vor lesenswerte nicht-relativistische Metatheorie von Erklärung und Verstehen in den Geschichtswissenschaften findet sich bei J. Topolski (1976) – dem unerschöpflichen Fundus – und kann in Ergänzung und Kritik an Kapitel 8.1 herangezogen werden, genauso wie nach wie vor Haussmann (1991), Forland 2004 (in Anknüpfung an Railton 1980) und z. B. der „Pluralismus“ von van Bouwel/Weber (2008), neben McCullaghs (1998) ebenso pluralistischer Sichtweise und Lorenz‘ (1997) Klärungs-, Anwendungs- und Integrationsbemühungen. Wie bereits angeklungen ist, dürfte man vieles aus der Tradition der Philosophie der Geschichte und der Geschichtstheorie bei einer genaueren Re-Lektüre (als in Kapitel 6 und darüber hinaus geleistet wurde) in unsere „Geschichte“ integrieren können, soweit man die Komparativität von Verstehen voraussetzt und mit der „Dynamik“ der Erklärung in Forschungsprozessen liebäugelt und ringt, die gewöhnlich missachtet wird. Das Forschungsprogramm aus der Allgemeinen Hermeneutik kann – und sollte wohl auch – wie skizziert als Integrationswerkzeug verwendet und im Hinblick auf die Vielfalt der Gegenstände der Ge487

Scholz 2015a, 778: „Today, ‚hermeneutics‘ is frequently used to allude to a loose family of antinaturalist approaches in humanities and social sciences.“ Aus meiner Sicht (Kapitel 2.1, 4.2, 5) ist kaum zu erfahren, was genau diese Familie zusammenhält. Manche sagen, es seien Unklarheiten. Ich glaube ihnen.

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schichts- und Sozialwissenschaften ausgebaut werden, bis alles abgedeckt ist, was man überhaupt verstehen kann. Auch weniger pragmatisch und normativer auftretende Positionen halte ich durchaus für möglich, vielleicht gar für notwendig. Was die Ontologie der Gegenstände der Geschichts- und Sozialwissenschaften anbelangt, sind primär die Soziologischen Theorien oder die Metatheorien aller Sozialwissenschaften einschlägig, darunter die Geschichtstheorie, die wohl schon immer zum Teil Ontologie waren und in Teilen gänzlich sind, neben auch Analytischer Sozialontologie, eventuell gelegentlich Allgemeiner Metaphysik, die normalerweise allerdings Soziales und „Historisches“ nicht (mehr) zu kennen scheint.488 Die Seinspyramiden oder die Kapitel von Überblicksdarstellungen enden dort bekanntlich beinahe immer beim Mentalen, was dafür spricht, dass ontologischer „Sozial“-Individualismus hier wohl häufig vorausgesetzt ist. Nicht nur aufgrund von zeitlicher Beschränkung, sondern auch aufgrund dieses Eindrucks, konnte Allgemeine Metaphysik hier letztlich nicht rezipiert werden. Hier wird man aber z. B. zur Ontologie von Relationen und Eigenschaften fündig werden. Eine Systemontologie, die allerdings, so weit das hier überprüft werden konnte, zumindest terminologisch teilweise weit von der Systemik entfernt ist und daher bei mir Verwirrung gestiftet hat, aber substantiell ähnlich ist (z. B. bezüglich der Unterscheidung von Aggregaten und Systemen), findet sich in Weissman (2000). Am vermuteten Schnittpunkt von Philosophie, Geschichts- und Sozial(meta)theorie und praktischer Forschung trifft man natürlich auf eine Schwierigkeit: Terminologischen Wildwuchs bei substantieller Uneinigkeit und Vermeidung des wechselseitigen Kontakts. Vor allem aber sind die Forschungsergebnisse der relevanten Wissenschaften selbst, primär auch der Geschichtswissenschaften, einschlägig, denn spätestens bei einer Art „Test“ für vielleicht legitime, weil unvermeidbare (2.2) philosophische Spekulation sollten sie ins Spiel kommen. Nur hier wird man auch die (allgemeinen) Hypothesen, Modelle oder Theorien finden, die in geschichts- und sozialwissenschaftlichen Erklärungen letztlich interessant sind und die ferner Makro-Mikro-, Mikro-Mikro- oder Mikro-Makro-Probleme zu lösen helfen, selbst wenn es über diese erwartungsgemäß keinerlei Einigkeit gibt. Die ontologische Diskussion solcher Fragen kann bestenfalls zur Klärung der Problematik beitragen und völlig unplausible Wege zustellen, sie kann aber auch nicht mehr. Sie kann auch zeigen, wie anzudeuten versucht wurde, dass die Unterschiede auch auf ontologischem Boden in den vermeintlich „multiparadigmatischen“ Sozialwissenschaften nicht so groß sind, wie man manchmal zu glauben geneigt ist (5.5), wenn man versucht, die terminologische und ontologische Konfusion wenigstens zu mindern. Insbesondere bleiben soziale Relationen weiter zu klären, wobei hier von philosophischer Seite die Frage vorgängig zu klären ist, wann eine Form von Ontologie zur spekulativen und eventuell forschungshinderlichen Lehnstuhl(sozial)psychologie wird, wobei man aus der an488

Zwischen den zwei Auflagen von W. H. Drays „Philosophy of History“ ist mit der sogenannten „spekulativen Geschichtsphilosophie“ letztlich die Reflexion über die Gegenstände der „History“ weitghend verschwunden. Anders gesagt: Die Kapitel aus Dray 1964 wurde in Dray 1993 nicht ersetzt oder wissenschaftsnah ersetzt, sondern gestrichen, was vielleicht als repräsentativ gelten kann. Mario Bunge kritisierte schon in 1989a den Mangel an Ontologie in der Analytischen Philosophie der Geschichte, z. B. bezogen auf das Wörtchen „Geschichte“. Auch zwischen der sogenannten „Analytischen Sozialontologie“ und der hier vornehmlich rezipierten Tradition der Ontologie, die eher dem Kontext der Sozial(meta)theorie und der Geschichts(meta)theorie entstammt, gibt es bisher fast keinerlei Kontakt. Das dürfte zuerst daran liegen, dass man voneinander gar nichts weiß. Und zweitens dürfte es daran liegen, dass man – prima facie – völlig unterschiedliche Sprachen spricht. Ohne Vergleich wird man auch hier nicht wissen können, wie groß die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten sind, was dann auch damit verbunden ist, dass wechselseitige Klärungspotenziale unausgeschöpft bleiben, soweit sie existieren.

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deren Richtung die Frage stellen darf, ob Alltagspsychologie nicht mehr oder weniger alles ist, was Geschichts- und Sozialwissenschaftler in diesem Bereich benötigen und ohnehin mehr oder weniger bloß haben, worüber der theoretische Jargon manchmal vielleicht bloß hinwegtäuscht. Das kann man aber erst wissen, wenn man Common-Sense-Annahmen mit dem (sich ändernden) Hypothesenbestand von Wissenschaften konfrontiert, z. B. auch im Fall der Erklärung von Handlungen (6.2). Auch im Fall von sozialen „Verbindungen“ oder eben Relationen (7.3.2) ist Unklarheit im Rahmen von Ontologie so lange ohnehin unvermeidlich, wie man keine wissenschaftlichen Annahmen oder Modelle zu deren Ausfüllung oder Illustration verwenden kann, was zumindest an dieser Stelle unmöglich war. Nach denen kann man – wie M. Bunge sicherlich fordern würde – einfach suchen, wie auch im Hinblick auf die Frage, welche Hypothesen oder Modelle in den Sozialwissenschaften über Systeme, Netzwerke, Strukturen, „Institutionen“, Mechanismen, Prozesse, „Situationen“ und Individuen verfügbar sind. Hier noch ein naiver Vorschlag: Zu Fragen bezüglich Veränderung und z. B. Emergenz studiere man die Soziologie des sozialen Wandels und schaue, was dort untersucht werden soll oder gar untersucht wird. Was Strukturen (von Systemen) und ihre Veränderungen oder „Transformationen“ (Critical Realism) anbelangt, untersuche man, was Geschichtswissenschaftler z. B. zum Übergang vom Zarenreich zur Sowjetunion und dann zu einem kapitalistischen System zu sagen haben, was sie zur Genese des „Führerstaats“ durch „Strukturveränderungen“ (Wehler 2009) oder der Entstehung der DDR oder von Territorialstaaten überhaupt (in der frühen Frühen Neuzeit) zu sagen haben, oder man untersuche die Handbücher zur (vergleichenden) „Sozialstrukturanalyse“. Ich bin mir recht sicher, dass die Kategorien der Systemik dabei helfen. „Kausalität“, d. h. der Begriff oder die Begriffe, wird genauso wie auch Kausalität, d. h. die ontische Relation oder die ontischen Relationen, ein Anlass für unendliche Streitpunkte und unlösbare Probleme bleiben, vor allem, sobald der seltene Versuch gemacht wird, die Problematik von Sozialtheorie, welche eine Hauptproblematik der Geschichtstheorie war und wohl ist, aufzunehmen („Struktur“ versus „Handlung“), irgendwelche Relata zu benennen oder irgendwelche Beispiele für irgendetwas in Geschichtswissenschaften zu suchen, vielleicht gar solche aus der heterogenen Breite. Mir ist noch immer rätselhaft, wie man glauben kann, „den Begriff der Kausalität“ in einer Disziplin analysieren und kausale Erklärungen in einer Disziplin aufklären zu können, wenn man weder Forschung noch Metatheorie in jener Disziplin überhaupt zur Kenntnis zu nehmen versucht. Allgemein ist die Frage nach wie vor, ob Kausalität so nützlich ist, weil sie so vage ist, oder ob sie nutzlos ist, weil sie so vage ist. Geschichts- und Sozialwissenschaftler scheinen noch kein endgültiges Urteil gefällt zu haben. Aufgrund der Unklarheit und Komplexität der Problematik wird man von seriösen Kausalaussagen und Kausalerklärungen in den Geschichtswissenschaften verlangen dürfen, dass sie mit einem philosophischen Proviso versehen werden, das ungefähr wie folgt aussieht: Dies ist meine Ontologie (oder Sozialtheorie) der Relata der Kausalrelation, dies ist meine Ontologie der Kausalrelation. Hier hast du meine damit gebaute Hypothese und hier die damit gebauten Glaubensgründe für diese These. Handlungstheorien wird man vornehmlich anhand der Debatten der Handlungswissenschaften und ihrer Ergebnisse wie auch forschungspraktischen Fragen diskutieren müssen, ferner am Schnittpunkt mit jüngerer Handlungsphilosophie, ansonsten wird man weder Neues erfahren noch Altes bestätigen können. Was Realismus-versus-Antirealismus/Relativismus bzw. unterschiedliche Realismen und Anti-Realismen betrifft, kann man ebenfalls Debattenstränge aufnehmen, die in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie seit Jahrzehnten zu finden sind (siehe z. B. Turner 2007), die auch bei weitem elaborierter und weniger holzschnittartig

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sind als die „Fakten-versus-Fiktionen“-Thesen in der Geschichtsphilosophie (z. B. Baghramian 2004). Bei dem allen wird man jedoch mit der Anknüpfung an geschichtswissenschaftliche Praxis und Geschichts(meta)theorie ringen müssen (vgl. im Kern bereits Goldstein 1976). Denn eine Philosophie der Geschichte, deren Gegenstand nicht Geschichtswissenschaft im Sinne einer Disziplin oder, realistischer gefasst, einer unübersichtlichen Menge oder einem (schwach integrierten) System von Disziplinen letztlich ist (2.1), ist strikt besehen wohl überflüssig, da es zu Spezialfragen überall Spezialdisziplinen gibt, die auf den ersten Blick keine Verdoppelung benötigen. Bekanntlich ist Philosophie der Geschichte mittlerweile auch akademisch heimatlos und sie hat keinen akademischen Markt, d. h. auch keine Belehrstuhlungen (vgl. Tucker 2010). Wie auch immer, der Ausblick sollte zumindest nahelegen, dass unser Themen- und Problemkatalog weder ein literarisches noch ein irgendwie aufgeblasen philosophisches Regime (2.3) den Geschichtswissenschaften überstülpt, sondern mit dem „Handwerk“ der „Zunft“ in der „Werkstatt“ (M. Bloch) etwas zu tun hat. Brauchen Geschichtswissenschaftler Geschichtsphilosophie? Eine dogmatische Antwort diesbezüglich ist aufgrund der Heterogenität der Geschichtswissenschaftspraxis und der handgreiflichen Ferne von Geschichtsphilosophie hierzu wohl nicht möglich und man darf skeptisch bleiben. Man könnte auch mit pessimistischer Zunge vermuten, dass Geschichtswissenschaftler so lange keiner Philosophie bedürfen, so lange sie sich nicht von Geschichtsphilosophie, Sozial(meta)theorie und auch Geschichtstheorie in allgemeinen Fragen verunsichern lassen. Denn wir haben hier sehr häufig schlicht Eulen nach Athen getragen, d. h. Thesen oder Begriffe eingeführt, die jenseits der (jüngeren) Metadiskurse in der Praxis und auch der Metatheorie lange anerkannt sind, was hier zu dokumentieren versucht wurde, indem vergleichsweise massiv auf Geschichtstheorie zurückgegriffen worden ist. Keiner der Autoren aus der Mini-„Anatomie“ braucht philosophische Ratgeber. Aber manchmal kann es eventuell doch nützlich sein, Philosophie zur Klärung der eigenen metatheoretischen („philosophischen“) Annahmen heranzuziehen, damit unklare Annahmen nicht demjenigen, worum es gehen soll und dessen Erfolg im Weg stehen (2.2). Finden sich in geschichtswissenschaftlichen Studien und auch geschichtstheoretischen Abhandlungen „philosophisch“ zu nennende Annahmen (2.2)? Es sollte ansatzweise gezeigt worden sein, dass dem so ist. Vielleicht war dies vorher klar. Falls dem so gewesen ist, sollte etwas klarer sein, welche das genauer sein könnten.489 Ein knackiges Modul in der hier anvisierten 489

Nota bene, auch im Rahmen der Besprechung der Realismusthesen in der Übernahme der Systemik (7.1) wurde nicht gezeigt und nicht zu zeigen versucht, dass realistische Thesen richtig sind. Da sich darüber professionelle Philosophen seit den Vorsokratikern nicht einigen können, ist dies auch in der Metageschichtswissenschaft letztlich nicht abschließend zu erwarten. Entscheidend ist für unsere Zwecke nur, dass einigermaßen klar ist, worum es bei diesen Thesen (und ihren Alternativen) grob geht, und dass es nach wie vor nicht unplausibel ist, dass echte Geschichtswissenschaftler in echter Forschung ähnliche realistische Annahmen als zutreffend voraussetzen und diese philosophischen Annahmen relevant und förderlich sind (2.2). Dass Geschichtsphilosophen in aller Regel in den letzten 40 bis 80 Jahren Geschichtswissenschaftlern diese Annahmen haben ausreden wollen, ist bekannt. Aber was genau für welche Form von AntiRealismus/Relativismus (oder „Konstruktivismus“) spricht, darf im Rahmen der Geschichtsphilosophie wohl noch als recht ungeklärt gelten (Plenge 2014b), zumal für einen solchen Anti-Realismus/Relativismus, der etwas mit Geschichtswissenschaften zu tun hat (2.1). Hier könnte man Klärung durch Erkenntnistheoretiker (und Sprachphilosophen) erwarten, die Annahmen von Anti-Realisten/Relativisten in unserem Kontext auch deshalb kritisch prüfen könnten, weil diese manche Geschichtswissenschaftler mal unnötig irritiert und womöglich vom Forschen abgehalten haben. Ich würde viele dieser Fragen auch nicht nur aufschieben wollen, weil Thesen eines geschichtswissenschaftlichen Realismus/Anti-Realismus (in meinem Sinn) nicht wirklich untersucht sind, sondern weil die Probleme auch insofern vielleicht gar nicht gänzlich klar sind, als das Tableau unterschiedlicher sprachphilosophischer, erkenntnistheoretischer und methodologischer Annahmen oder Grundlagen im Bereich der Geschichtsphilosophie nicht übersichtlich offenbart worden ist,

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Metageschichtswissenschaft könnte allerdings immerhin Nachwuchsgeschichtswissenschaftlern so manchen Literaturberg an „Theorie“ ersparen. Und es ist zu hoffen, dass Geschichtswissenschaftler die hier diskutierten „philosophischen“ Probleme nachvollziehen können. Chris B. McCullagh, einer der wenigen Philosophen, der über Dekaden einen Diskurs zwischen Philosophie und Geschichtswissenschaft zu initiieren versucht hat, was damit zu tun haben könnte, dass seine philosophische Dissertation in einem Historischen Seminar ihren Ursprung fand, sagte mal über Historiker, „they really have no idea of the problems I’m discussing“ (McCullagh 2008, 274). Die Annahmen für eine andere und den Geschichtswissenschaften adäquaterer – zunächst einmal: überblickbare – Philosophie oder Metageschichtswissenschaft liegen wohl, trotz der handgreiflichen Unklarheiten der Philosophie „der Geschichte“, verstreut irgendwo zwischen den Disziplinen, sodass man vielleicht den Schatz einfach nur bergen muss (siehe Literaturverzeichnis). Dazu müsste wohl letztlich der von A. Frings (2013) vorgeschlagene runde Tisch von Philosophen, Geschichts- und Sozialtheoretikern gebildet werden, allein schon aus dem Grund oder mit dem Ziel, die Unübersichtlichkeit zu lindern. Das ist auch gerade aufseiten der Geschichtsphilosophie notwendig, denn die Geschichtsphilosophie muss wohl als kulturell weitgehend isoliert gelten, hat sie doch kaum einen Austausch mit anderen, potenziell oder, besser, offensichtlich relevanten Disziplinen, z. B. auch der Geschichtstheorie oder, besser, den vielen Geschichtstheorien. Diese wechselseitige Isolation soll durchaus häufiger sein (Scholz 2013b). Die Absenz eines signifikanten Verhältnisses der jeweils heterogenen Geschichtstheorien und Geschichtsphilosophien ist nur eine Seite der Isolation. Die Lage in der Geschichtsphilosophie hat sich meiner Auffassung zufolge (siehe auch Plenge 2014a/b) seit 1938 kaum verbessert (Mandelbaum 1967 1938), weil Geschichtsphilosophie keine signifikanten und systematischen Anleihen in beispielsweise Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Allgemeiner Wissenschaftstheorie, Allgemeiner Hermeneutik, Methodologie der Sozialforschung oder auch den vielen unterschiedlichen Geschichts- und Sozialtheorien genommen hat, was immerhin weitere Klärung verspricht. Entsprechend gibt es auch keinerlei Tradition (und Paradigmen) der Anknüpfung an entsprechende Disziplinen und einen Stand der Auseinandersetzung. Verschiedentlich ist diese Absenz auch ein Mangel dieser Studie. Alles in allem gibt es nach wie vor keinen Stand der Dinge bezogen auf Erfolge und Misserfolge der Geschichtsphilosophie auch im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Geschichtswissenschaften (2.2), eigentlich gibt es gar keine Disziplin mit dem Namen „Philosophy of History“, sondern vereinzelte und regelmäßig vollständig isolierte Studien. Dass der Weg von der Geschichtsphilosophie ins Historische Seminar nur mit Mühe nicht im Desaster endet, ist eigentlich zu erwarten (2.2), aber am Ende doch überraschend. Der gewonnene Eindruck muss also als hochgradig fallibel gelten. Daher bleibt nichts anderes übrig, als am Ende mit M. Bloch die eigene Unwissenheit über die Breite und Tiefe geschichtswissenschaftlicher Forschung zu bekennen, genauso bezogen auf die Fülle der Sozial(meta)theorien und natürlich der Philosophien. Die geschichtswissenschaftliche Forschung sodass eine Evaluation der Thesen überhaupt möglich wäre. (Es gibt schlicht in der Geschichtsphilosophie rein gar nichts, was als selbstverständlich und geteilt gelten könnte; siehe auch Plenge 2018.) Wie auch immer, nebenbei haben wir auch hier und dort impressionistisches Material für (nicht-naive und partikulare, nicht globale) Antirealismen gesammelt, unter Umständen sogar mehr, als Antirealisten jemals geliefert haben. Dennoch wird hier generell und mit letztlich unvermeidbarer Dogmatik an einem „Wissenschaftsoptimismus“ (Schöttler 2015, 78) festgehalten, an dem zumeist auch praktizierende Geschichtswissenschaftler festgehalten haben und festhalten. Ich vermute, dieser ist auch dabei förderlich, Geschichtswissenschaften zu untersuchen. Die postmodernen Relativisten-Antirealisten tun dies ja auch wohl kaum zufällig gewöhnlich nicht oder kennen das Ergebnis immer schon vorher.

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bietet dann am Ende eben doch Überraschungen und ist geradezu offensichtlich häufig so weit von philosophischen Stereotypen entfernt, wie Geschichtstheoretiker dies vermuten (2.2). Dass Philosophen Geschichtswissenschaftlern diese Überraschungen selten zutrauen, ist eigentlich verwunderlich. M. Bunge stellte mal bezogen auf dasjenige, was er „wissenschaftliche Philosophie“ oder „wissenschaftliches Philosophieren“ nennt, die Norm auf, man sollte sich informieren, bevor man anfängt zu philosophieren (Bunge 1996b 1960, 61). Dem konnte ich hier nur bedingt folgen, da ich mich gleichzeitig über anderes als Geschichtswissenschaften informieren musste. In gewissen Grenzen (Plenge 2014a/b/c), aber doch weitestgehend, spiegelt die Anordnung dieser Kapitel die Genese der Skizze und ist in diesem Sinne explorativ und improvisiert, wenn man berücksichtigt, dass mit der Lektüre der Mini-„Anatomie“ alles auf null gestellt oder zumindest geerdet wurde und auf dieser Basis dann mit natürlich vorweg teilweise bekannter Philosophie gearbeitet werden musste. Daraus ergibt sich die am Anfang angesprochene Problematik, mit der hier gerungen wurde (Kapitel 2). Die Problematik kann man durch jene ergänzen, die darin besteht, die Vielfalt der philosophischen Ideen gleichzeitig nicht allzu grob zu erarbeiten und zusätzlich mit der unübersichtlichen Praxis und anderen Metatheorien ins Gespräch zu bringen. Auch hier sind Vergröberungen oder Verkürzungen letztlich unvermeidlich, so lange sich in der Philosophie der Geschichte keine einigermaßen klaren Debattenlinien ergeben, die einen geteilten Stand tradieren. Wie angekündigt, wurde hier teilweise das scheinbar Triviale (basale Methodologie) mit dem kombiniert, was (auf den ersten Blick) abwegig erscheinen kann (basale Ontologie), wobei das Bindungsglied ungewohnt ist, Geschichtswissenschaftspraxis plus Allgemeine Hermeneutik/Wissenschaftstheorie plus Sozial(meta)theorie. Natürlich wäre es wünschenswert, in jedem Fall, d. h. auch zu den einzelnen Kapiteln, über detaillierte Spezialstudien zu verfügen. Bloß gibt es diese meines Wissens selten mit einem Fokus auf Geschichts- und auch andere Sozialwissenschaften, zumal eine konkrete und auch verbreitete Praxis (z. B. bezogen auf Kapitel 6). Daher ist auch zu erwarten, dass eine erneute Sicht auf philosophische Spezialstudien im einen oder anderen Fall eine im Vergleich eindeutigere Positionierung oder auch eine vollständige Revision gestattet. Thesen aus unterschiedlichen Diskurssträngen wie Wissenschaftsphilosophie, Geschichtstheorie oder Sozial(meta)theorie scheinen einen Metatheoretiker regelmäßig genauso in unterschiedliche Richtungen zu ziehen und ziehen zu müssen wie der zusätzliche Rekurs auf Praxis. Hier wurde nicht mehr und auch nicht weniger versucht, als bei all dem Gezerre einen groben roten Faden zu suchen oder sichtbar zu machen. Die Vorzüge dieser Studie sehe ich trotz aller Nachteile darin, dass sie recht problemlos und in der Nähe zur Geschichtswissenschaft ausbaubar ist, auch weil auf viel philo- und phobosophischen Klimbim verzichtet worden ist. Falls die hier verschiedentlich skizzierten Probleme legitim sind, dann deuten sie wenigstens in Richtungen, in denen eine Philosophie der Geschichtswissenschaften oder eben Metageschichtswissenschaft („philosophy of, in, from, with, and for“ Geschichtswissenschaft; vgl. Bunge 1959a, 5) gesucht oder gar gefunden werden kann, die nicht so fern ist von Historischen Seminaren und ferner den Vorteil hat, dass sie ohne plumpen Normativismus das teilweise Heterogene zu integrieren verspricht. Zudem ist das Skizzierte ja glücklicherweise bekannt, bloß an unterschiedlichen, teilweise unübersichtlichen und äußerst verstreuten Orten. Vielleicht lohnt es, daran zu erinnern.490 490

Letztlich steht alles schon bei J. Topolski (1976), bloß mit zu vermutenden Spuren von hegel-marxistischer Metaphysik. Es steht – bis auf Spuren idealistischer Metaphysik – auch bei Bernheim (1908). Und alles, was spezifischer und vielleicht durchaus interessanter ist, steht verstreut in den methodologischen Abhandlungen, die aus der Auseinandersetzung mit konkreter Forschung zumeist in Zeitschriften zu finden sind – in den Geschichtswissenschaften –, teilweise in der Tradition der verstreuten Literatur zur „Historischen

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Wohin mit dieser Klärungskizze? Zurück ins Historische Seminar, um die gewonnenen Impressionen (Bottom-up) genauso zu überprüfen (Fallibilismus) wie die hier und dort ausgegrabene, kritisierte oder auch verwendete Philosophie (Top-down), auch um beides zu verbessern (Meliorismus), insbesondere zu erweitern und zu spezifizieren, falls nicht doch alles obsolet ist und sich als solches erweist. Insbesondere ist die Klärungsskizze auch skizzenhafter als notwendig, da der Sprung in die Praxis und deren Lektüre in einer Zeit lag, als die Fragen noch gar nicht wenigstens relativ klar waren. Geschichtsforscher wissen, dass dies misslich ist. Ohne eine massive, breite, tiefe und fortdauernde Beschäftigung mit geschichtswissenschaftlicher Praxis und ihrer Heterogenität wird man Geschichtswissenschaftler auch in Zukunft kaum davon überzeugen können, dass man sich in Philosophie „der Geschichte“ überhaupt für ihr Tun und Unterlassen interessiert (vgl. auch Little 2010), also für ihre Disziplin(en). Dies ist die einzig wirklich klare Moral von dieser G’schicht, neben der Gewissheit, dass der Gegenstand klärungsbedürftig bleibt und wohl immer bleiben wird. Wohin mit der Geschichtsphilosophie? Ins Historische Seminar.491

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Methode“ (z. B. Meier/Rüsen 1988), die letztlich aber versandet ist, vermutlich aufgrund von „philosophical choices“. Nach Abschluss der Arbeit hatte ich die Gelegenheit, durch Blicke in weitere Forschungsliteratur (Linck 1979, Mandrou 1998, Kriedte 1991) sowie sogenannte „Lehrbücher“ (z. B. u.a. Altrichter/Bernecker 2004, Kruse 2005, Engehausen 2007, Nonn 2007, Wolfrum/Arendes 2007, Wehler 2009, Liedtke 2010) bzw. „Erzählungen“ damit zu beginnen, einige Impressionen anhand von weiteren zu überprüfen. (Teilweise wurden sie zuvor eingearbeitet.) Dabei zeigt sich grob Folgendes: Letztlich kann alles, insbesondere die Thesen aus Kapitel 6 sowie 8.2 oder auch 4.2, bestätigt werden bzw. gibt es, vorsichtiger formuliert, keinen Anlass für größere Korrekturen. Insbesondere sind explizite Verwendungen von „Ursache“, „Wirkung“ oder „Folge“ oftmals (nicht nur, aber besonders in „Erzählungen“) nur dadurch sinnvoll zu interpretieren und aus ihrer unbestimmten Metaphorik zu entkleiden, indem man den ontischen Gehalt eliminiert und z. B. „Ursache“ durch „Erklärung“ ersetzt, was dann die Frage verschiebt. Anders herum: Sinnvoll ist von Kausalität oftmals eher genau dort die Rede, wo dieses Vokabular gerade nicht verwendet wird, und die Rede von „Ursachen“ ist oftmals nichts weiter als eine rhetorische Figur. Mittlerweile konnte ich ferner feststellen, dass ich, ohne es zu wissen, in meiner teilweise skeptischen oder zurückhaltenden Bearbeitung der Kausalitätsproblematik eine Sicht teilweise oder weitgehend reproduziert habe, die Michael Schmid (Manuskript) entwickelt hat und weiter entwickelt, der u. a. klar ausspricht, dass sich die philosophischen Auffassungen offen widersprechen und seiner Meinung nach so gut wie keinen Nutzen für eine „Erklärende Sozialwissenschaft“ versprechen. Er glaubt (mittlerweile), dass Thesen über soziale Kausalität weitgehend kognitiv gehaltlos sind bzw. auf nichts Reales verweisen - und dass die Problematik letztlich zum Verzweifeln einlädt, soweit man an einem realistischen (oder ontischen) Kausaulitätsbegriff festhält. Für die Geschichtswissenschaft hatte schon E. Jäckel (1986, 127) den Stand, der bis heute gleich geblieben ist, beiläufig zusammengefasst und im Vorhinein metatheoretisch meine soeben geäußerte Mutmaßung bestätigt, die im Kern besagt, dass viele Historiker – ohne es zu wissen – mit „Ursache“ etwas Epistemisches (und in anderen Fällen nichts) meinen: „Das Dilemma liegt im Begriff der historischen Ursache. Nicht nur fehlt es an einer entsprechenden Kausalitätstheorie. Die Historiker haben sich, obwohl sie ständig von Gründen und Ursachen reden, erstaunlich wenig darum gekümmert. Es ist auch zweifelhaft, ob die Frage nach Ursachen dem historischen Gegenstand überhaupt angemessen ist. […] Ursachen sind nichts anderes als gedankliche Konstruktionen, die der Historiker benutzt, um das von ihm entworfene Bild [sic!] der Vergangenheit verständlich zu machen. Sie können daher definiert werden als Umstände, die genannt werden müssen, damit ein Vorgang [sic!] verständlich wird. Erklären soll demnach heißen die Umstände nennen, ohne die der Vorgang nicht gedacht werden kann.“ Ich würde nur, bevor man anfängt, nach so etwas zu suchen, hinzufügen wollen, dass wir nicht wissen, was „Kausalitätstheorie“ für „historische Ursachen“ auch nur meinen könnte, sodass wir leider noch nicht einmal ausschließen können, dass es so etwas zu entdecken gibt, was ich im Vorangegangenen jedoch unausgesprochen ausgeschlossen zu haben glaube. Handlungserklärungen sind durchaus Ausnahmen in geschichtswissenschaftlichen Texten bzw., erstens, vornehmlich überhaupt in klassischen polithistorischen

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Kontexten der Moderne zu finden (wo man sie auch von philosophischer Seite durchaus studieren könnte, wenn man wollte; Recker 1990, Hildebrand 2003), oder, zweitens, versteckt im Rahmen von Makro-MikroHeuristiken zu vermuten, obwohl der Hypothesenhintergrund (auch) dort, wie vermutet, zumeist gänzlich offen bleibt, sodass man immer daran zweifeln darf, dass überhaupt eine Erklärung gegeben ist. Der altgediente Geschichtstheoretiker W. Heil (2011, 19), der vom Geschichtsunterricht wie von der Geschichtswissenschaft die Behandlung der „inneren Sachverhalte“ oder der (subjektiven) „Wirklichkeit“ einfordert, schreibt erfrischend offen und vielleicht kontrovers (vgl. jedoch Kapitel 4.2, 6.2): „Aber die Geschichtswissenschaft hat noch kein Instrumentarium entwickelt, um diese ‚inneren Sachverhalte‘ wissenschaftlich hinreichend erfassen zu können“. Etwas später heißt es (ebd. 23): „Es ist immer noch ungeklärt, was als spezifischer Gegenstand der Geschichtswissenschaft und damit des Geschichtsunterrichts gelten soll.“ Eine der ersten grundlegenden Erkenntnisse für Schüler soll sein (ebd. 33): „Geschichte macht den Menschen zu dem, was er ist“. Siehe dazu abschließend erneut Kapitel 2.1.

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