Geschichte und Gerechtigkeit: Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches 9783110802771, 3110156474, 9783110156478

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Geschichte und Gerechtigkeit: Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches
 9783110802771, 3110156474, 9783110156478

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J. A. L. J. J. Geijsen Geschichte und Gerechtigkeit

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari • Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Ernst Behler • Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda • Josef Simon

Band 39

1997

Walter de Gruyter • Berlin • New York

Geschichte und Gerechtigkeit Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches

von

J. A. L. J. J. Geijsen

1997 Walter de Gruyter • Berlin • New York

Gedruckt mit Unterstützung der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn

Die Deutsche Bibliothek — ClP-Einheitsaufnahme Geijsen, Jacobus A. L. J. J.: Geschichte und Gerechtigkeit : Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches / von J. A. L. J. J. Geijsen. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 Zugl.: Leiden, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-11-015647-4

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

voor Thérèse, Emanuel en Michael t

MAASS UND MITTE. — Von zwei ganz hohen Dingen: Maass und Mitte, redet man am besten nie. Ginige Wenige kennen ihre Kräfte und Anzeichen aus den Mysterien-Pfaden innerer Erlebnisse und Umkehrungen: sie verehren in ihnen etwas Göttliches und scheuen das laute Wort. Alle Uebrigen hören kaum zu, wenn davon gesprochen wird, und wähnen, es handele sich um Langeweile und Mittelmässigkeit: Jene etwa noch ausgenommen, welche einen anmahnenden Klang aus jenem Reiche einmal vernommen, aber gegen ihn sich die Ohren verstopft haben. Die Erinnerung daran macht sie nun böse und aufgebracht.

Fr. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, 230

Vorwort Vorliegende Studie hat Dezember 1995 der Philosophischen Fakultät der Rijksuniversiteit Leiden (Niederlande) als Dissertation vorgelegen. Für das Interesse und das maieutische Geschick, mit denen mein verehrter Herr Doktorvater, Herr Prof. Dr. Marcel F. Fresco, meine Arbeit über Jahre verfolgt und gefördert hat, möchte ich ihm an dieser Stelle ganz herzlich Dank sagen. Zu danken habe ich des weiteren dem Referenten, Herrn Prof. Dr. Paul J. M. van Tongeren (Katholieke Universiteit Nijmegen), dessen kritische Bemerkungen zu früheren Fassungen mich nicht wenig angeregt haben. Frau Prof. Dr. Ilse N. Bulhof, Herrn Prof. Dr. Th. C. Wouter Oudemans, Herrn Prof. Dr. Cornelis W. M. Verhoeven (Universiteit van Amsterdam), Herrn Dr. Gerard T. M. Visser und insbesondere Herrn Prof. Dr. Volker Gerhardt (Humboldt-Universität zu Berlin) danke ich für ihre freundliche Beurteilung meiner Arbeit. Nach der erfolgreichen Fertigstellung möchte ein jeder Autor, daß seine Arbeit Verbreitung findet. Daß vorliegende Arbeit in der MTNF-Reihe erscheint, macht ihren Autor sehr glücklich, denn es dürfte sich hier um den kürzesten Weg zum Forum der Sachverständigen und zum weiteren Kreis des interessierten Publikums handeln. Dafür, daß sie diesen Weg mir erschlossen hat, sei der Redaktion der Reihe und an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Jörg Salaquarda ganz herzlich gedankt. Die Niederländische Organisation für wissenschaftliche Forschung hat die Drucklegung bezuschußt. Nicht zuletzt danke ich der lieben Lebensgefährtin, die mir stets und noch in schwerster Zeit Zuversicht gewährte — ihr und unseren Söhnen ist dieses Buch gewidmet.

Maastricht, im Mai 1997

Ludwig Geijsen

Inhalt Vorwort

IX

Abkürzungsverzeichnis/Zur Zitation Einleitung

XV 1

Prolegomena Zur Thematik Geschichte und Gerechtigkeit in Nietzsches Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung Einleitung 1. Gerechtigkeit, Geschichte und Leben. Die Frage der Gerechtigkeit in Umrissen 1.1. Zur Zeitlichkeit des Menschen. Allgemeine Darstellung des Problembereiches der Individuation 1.2. Retrospektive und prospektive Gerechtigkeit 1.3. Der überhistorische Gesichtspunkt 1.4. Die drei Thesen Nietzsches 2. Die Gerechtigkeit und die Historie im Dienste des Lebens 2.1. Die monumentale Historie 2.2. Die antiquarische Historie 2.3. Die kritische Historie 3. Die Gerechtigkeit und die historische Wissenschaft 3.1. Die Überwältigung des Lebens durch die wissenschaftliche Historie . . 3.2. Gerechtigkeit und Objektivität (a) Die Gerechtigkeit verlangt die Wahrheit als Weltgericht (b) Zu Nietzsches Verständnis der Objektivität 3.3. Abermals von der Ungerechtigkeit der wissenschaftlichen Historie . . . 4. Vom Spätling zum Erstling 4.1. Die Aufgabe der Geschichte: Der Kreis wird geschlossen 4.2. Die Aufgabe für das Individuum 4.3. Vom Spätling zum Erstling Schluß: Der Mensch als Doppelwesen

19 20 22 26 29 31 33 33 35 36 38 38 39 39 42 46 48 48 50 51 53

XII

Inhaltsverzeichnis

Hauptteil Versuche zu den Einzelfragen, welche uns im Rahmen der Problematik von Geschichte und Gerechtigkeit bei Nietzsche begegneten Einleitung

55

1. Kapitel: Von der Erfahrungsgrundlage, auf die das Werk zurückgeht. Einige Bemerkungen anläßlich des Vorwortes zur 2. UB

61

2. Kapitel: Vom tiefen Auge des Gewissens. Zur Analyse menschlicher Zeitlichkeit Einleitung 69 1. Vom Augenblick als Mahnung des Gewissens 72 2. Von der Zeit als Jetztfolge und vom Mechanismus der Verdrängung . . 81 3. Vom Augenblick der großen Erfahrung 89 4. Von der Selbstgestaltung. Bemerkungen zur Transzendenz 100 Schluß 104 3. Kapitel: Vom Zentrum als dem Gesetz der Mitte. Zu den Begriffen plastische Kraft und Horizont Einleitung 105 1. Zur plastischen Kraft und vom Horizont 107 2. Weiterführende Überlegungen 114 3. Über die Bedeutung des Verlustes. Grundsätzliches zur Frage der Bildung 117 4. Wettkampf und Neid. Zur Frage nach Autonomie und Heteronomie . 123 5. Zum Gesetz der Mitte 130 Schluß 132 4. Kapitel: Einheit und Zweiheit oder Vom Individuum und dem Ganzen. Anmerkungen zur Frage der Individuation anläßlich der Geburt der Tragödie Einleitung 1. Zur Frage der Individuation 2. Überlegungen zum Thema Widerspruch und Erlösung 3. Vom Individuum und dem Ganzen Schluß 5. Kapitel: Vom Tempel des Ruhms. Zu Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie

134 139 146 151 161

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1. Vom großen Augenblick des Selbstseins. Zu Nietzsches Vorrede „ Ueber das Pathos der Wahrheit" 2. Vom zwiespältigen Pathos des Philosophen 3. Zur Genese der Wahrheit. Bemerkungen zu Nietzsches Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" 3.1. Über die Täuschung durch den Hochmut 3.2. Von der Verstellung durch die Konvention 3.3. Über das Gesetz der Empfindung oder Zur Möglichkeit der Erfahrung überhaupt 3.4. Vom Vernünftigen und vom Intuitiven 3.5. Schlußfolgerung zu den Überlegungen über Wahrheit und Lüge . . 4. Zu Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie Schluß

XIII 163 167 178 184 185 188 192 197 200 201 207

6. Kapitel: Von der Selbstsucht der objektiven Persönlichkeit. Zu Nietzsches Exempel einer kritischen Historie Einleitung 1. Von der Kluft zwischen Empfindung und Bildung 2. Von der Konvention und vom großen Stil 3. Vom Gebilde des Staates 4. Von der diachronen Gerechtigkeit Schluß

209 212 218 223 233 241

Schlußbetrachtung: Geschichte und Gerechtigkeit — Rückblick und Aussicht

243

Literaturverzeichnis

255

Sach- und Personenregister

263

Abkürzungen und Zitation Folgende Abkürzungen finden Verwendung: GMD ST DW GG SGT GT ZBA FV PW GS HW WL PhZG UB II (HL) UB III (SE) UB IV

Das griechische Musikdrama Socrates und die Tragoedie Die dionysische Weltanschauung Die Geburt des tragischen Gedankens Sokrates und die griechische Tragoedie Die Geburt der Tragödie Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Ueber das Pathos der Wahrheit Der griechische Staat Homer's Wettkampf Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Vom Nutzen und Nachtheil der Historiefür das Leben Schopenhauer als Erzieher Richard Wagner in Bayreuth

Die Arbeiten Nietzsches werden durchweg nach der Kritischen Studienausgabe (KSA), herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin/New York 1988*), zitiert. (Sonstige Ausgaben werden nur selten verwendet: F. Nietzsche, Jugendschriften, München 1923, Musarion Verlag; und F. Nietzsche, Die Unschuld des Werdens, Stuttgart 1978, Alfred Kröner Verlag.) Die Zitate aus der KSA werden unter Angabe von Kurztitel (Sigle), Seite(n) und Zeile(n) angeführt. Beispielsweise: GT: 29,18-22 heißt: Die Geburt der Tragödie, Seite 29, die Zeilen 18 bis 22. Die übergroße Mehrzahl der Zitate ist dem ersten Band der Kritischen Studienausgabe entnommen. Dieser Band umfaßt ja das Frühwerk, weshalb die Angabe des Bandes in diesen Fällen fehlt. In den andern Fällen verweist die Zahl vor dem Kolon auf den Band (z. B: 6: 316, 1 -321, 6 heißt: Band 6, Seite 316, Zeile 1 bis Seite 321, Zeile 6). Allerdings wird es sich in der Regel um Stellen aus dem frühen Nachlaß (1869-1874) handeln, der im siebten Band der KSA erschlossen ist. In diesen Fällen geschieht die Angabe zuerst unter den von Colli-Montinari verwendeten Siglen, nach einem Semikolon folgt von neuem die Angabe des Bandes, sodann aber die Angabe von Seite(n) und Zeile(n) (z. B.: 7: 30 [8]; 7: 734, 4-12). In den letzteren Fällen handelt es sich meist um einen Ausschnitt aus der betreffenden Aufzeichnung. Die Verweise auf den Kommentarband von Colli-Montinari vermerken nur Band und Seitenzahl (z.B. 14:67). Hervorhebungen, die von mir vorgenommen wurden, sind ausdrücklich als solche verzeichnet. Am sonsten gehören sie dem Originaltext an.

Einleitung Während zumindest die großen Nietzsche-Interpretationen der Nachkriegszeit überwiegend am Spätwerk und an dessen großen Themen, dem Willen zur Macht und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, orientiert waren, ist — wohl im Zuge der Colli-Montinari-Edition — in den beiden letzten Jahrzehnten ein erneutes und noch wachsendes Interesse für das Frühwerk zu verzeichnen. Auch die vorliegende Arbeit befaßt sich mit Nietzsches Frühwerk, und zwar unter einem systematischen Gesichtspunkt: Sie geht der Frage nach, wie Nietzsche in seiner ersten Schaffensperiode das Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit sieht. Die Arbeit bietet eine eingehende Auseinandersetzung mit der Vorstellung, in der Nietzsches diesbezügliche Ansichten gipfeln — gemeint ist seine These vom Menschen als dem Erlöser der Natur. Indem sie das Frühwerk Nietzsches unter diesem systematischen Gesichtspunkt interpretiert, kommt die Studie zu einem überraschenden Ergebnis: Sie zeigt Grundzüge einer Philosophie der Mitte auf.

1. Wenn man die Thematik Geschichte und Gerechtigkeit im Frühwerk Nietzsches erörtert, so rückt zunächst die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fiir das Leben, in den Vordergrund. Doch ist die Auseinandersetzung nicht auf sie beschränkt. Die Dritte Unzeitgemäße, Schopenhauer als Erzieher, und Die Geburt der Tragödie waren zur Klärung mancher Einzelfrage unerläßlich. Weil in systematischer Sicht der Unterschied zwischen von Nietzsche selbst veröffentlichten Arbeiten und nachgelassenen Schriften und Notizen dahinfällt, wurden auch die letzteren gelegentlich herangezogen. Es ist in diesen Fällen aber nur dasjenige berücksichtigt worden, was über die von Nietzsche selbst veröffentlichten frühen Schriften hinaus meinem systematischen Anliegen dienen kann. Angesichts der Fülle des Materials, welche die frühen Aufzeichnungen bieten, schien mir freilich eine rigorose Beschränkung angebracht. Vollständigkeit war nicht beabsichtigt. Von den frühen nachgelassenen Schriften haben vor allem die erste der Fünf Vorreden zu fiinf ungeschriebenen Büchern, Ueber das Pathos der Wahrheit, und der Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne sich als ergiebig erwiesen. Auch die Erörterung der Einflüsse, welche auf Nietzsche gewirkt haben mögen, ist weitestgehend ausgeklammert worden.

2

Geschichte und Gerechtigkeit

Anhand von Nietzsches Frühwerk bemüht die vorliegende Arbeit sich um eine Klärung folgender Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit zu verstehen? Meine Hypothese war, daß das Frühwerk Nietzsches wichtige Ansätze zur Beantwortung dieser Frage bietet—Ansätze, die, sosteilte sich während der Arbeit heraus, in Richtung einer Philosophie der Mitte zeigen. In dieser Studie hoffe ich meine Hypothese und deren Ergebnisse dadurch zu erhärten, daß ich mir eine zwiefache Aufgabe stelle: Erstens möchte ich darlegen, wie Nietzsche seine Ansichten zum Problembereich Geschichte und Gerechtigkeit im Frühwerk gestaltet — wozu ich mich mit seiner These vom Menschen als Erlöser der Natur auseinandersetze. Indem ich die diesbezüglichen Momente zusammentrage, hoffe ich zweitens die Grundzüge einer Philosophie der Mitte ersichtlich machen zu können. Indem ich also der Thematik Geschichte und Gerechtigkeit im Ausgang von Nietzsches Historienschrift1 und im Rahmen seiner ganzen Früharbeit in entschieden systematischer Absicht nachgehe, suche ich die von mir gestellte Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Gerechtigkeit zu beantworten. Nietzsches Vorstellung der Geschichte wurde schon öfter erforscht.2 Innerhalb dieses Rahmens ist auch die Historienschrift bereits mehrfach ausgelegt worden, das Motiv der Gerechtigkeit hat man aber meistens übergangen oder nur am Rande gestreift.3 Die Rolle und die Bedeutung, welche die Gerechtigkeit im Werk Nietzsches 1

2

3

Der Tsrminus verweist durchweg auf die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Vergleiche W. Hegemeister, Friedrich Nietzsches Geschichtsauffassung, ihre Entstehung und ihr Wandel in kulturgeschichtlicher Beleuchtung, Leipzig 1912; K. Reinhardt, .Nietzsche und die Geschichte' (1928) (in: K. Reinhardt, Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, S. 296-309). W. Schlegel, Nietzsches Geschichtsauffassung, Würzburg 1937; H. Heimsoeth, Nietzsches Idee der Geschichte, Tübingen 1938; K. Schlechta, .Nietzsches Verhältnis zur Historie' (in: K. Schlechta, Der Fall Nietzsche, München 19592, S. 44-73) ; J. Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959; I.N. Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969; W. MüllerLauter, ,Das Gegensatzproblem in Nietzsches Geschichtsphilosophie' (in: W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin / New York 1971, S. 34-66); K. Brose, Geschichtsphilosophische Strukturen im Werk Nietzsches, Bern / Frankfurt am Main 1973; H. Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Mittenwald 1982; H.D. Rauh, Im Labyrinth der Geschichte. Die Sinnfrage von der Aufklärung zu Nietzsche, München 1990. Vergleiche K. Hillebrand, .lieber historisches Wissen und historischen Sinn' (1874) (in: K. Hillebrand, Zeiten — Völkei— Menschen, StraBburg 1892, Band 2, Wälsches und Deutsches, S. 300-326); G. Haeuptner, Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche. Versuch einer immanenten Kritik der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung: „ Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", Stuttgart 1936; M. Landmann, .Zum Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben' (in: M. Landmann, Geist und Leben: Varia Nietzscheana, Bonn 1951, S. 105-122); K.-H. Volkmann-Schluck, .Leben und Bewußtsein' (in: K.-H. Volkmann-Schluck, Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches, Frankfurt am Main 1968, S. 9-24); M. Fleischer, .Die Zeitlichkeit des Menschen. Nietzsches Analyse in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' (in:

Einleitung

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einnimmt, ist zwar erörtert worden, aber fast immer ohne eingehende Berücksichtigung der Historienschrift. 4 D a ß es beim frühen Nietzsche zwischen Geschichte und Gerechtigkeit dennoch einen engen Zusammenhang gibt, der überdies keineswegs nur historisch bedeutsam ist, wird sich im Verlauf meiner Arbeit herausstellen. Eine solche Anregung könnte außerdem die Aufklärung und das Verständnis anderer und späterer Werke Nietzsches fördern.

2. Versuchen wir nun den Einstieg, indem ich den mit dem Titel Geschichte und Gerechtigkeit angezeigten Problemkreis erläutere und dann zeige, in welcher Weise das Frühwerk Nietzsches diesem Fragenkomplex entspricht. V o n jeher wurde die menschliche Existenz durch eine Gegensätzlichkeit gezeichnet. D e m Menschen ist immerzu sowohl Glück w i e auch Unglück begegnet. Krieg und Frieden, Wohlfahrt und Armut, Krankheit und Gesundheit — das sind einige der Gegensätze, zwischen denen seine Existenz oszilliert. Das Warum dieser Unbeständigkeit und dieses Herumgetrieben werdens beschäftigt den Menschen von alters her. D e n n während das Glück sich selbst g e n u g ist, führt dessen Verlust zwangsläufig vor die Frage, ob man vielleicht irgendwie d e m Unglück hätte vorbeugen und das Glück hätte beständigen können. Dazu gehört die Überlegung, ob

4

W. Beierwaltes/W. Schräder (Hrsg.), Weltaspekte der Philosophie. Rudolph Berlinger zum 26. Oktober 1972, Amsterdam 1972, S. 67-81); R. Scharff, .Nietzsche and the „Use" of History' (in: Man and World 7 (1974), S. 67-77); D. Jähnig, ,Der Nachteil und der Nutzen der modernen Historie nach Nietzsche' (in: D. Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln 1975, S. 68-111); C. Zuckert, .Nature, History and the Seif; Friedrich Nietzsche's Untimely Considerations' (in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 55-82); J. Salaquarda, .Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 1-45); V. Gerhardt, .Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches zweiter „Unzeitgemäßer Betrachtung'" (in: V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 133-162). Vergleiche E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918', S. 91-102; M. Heidegger, Nietzsche, (2 Bände) Pfullingen 1961", Band 2, S. 314-333; B. Bueb, Nietzsches Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart 1970, S. 36-49; J. Stevens, .Nietzsche and Heidegger on Justice and Truth' (in: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 224-238); Fr. Kaulbach, .Gerechtigkeit und philosophische Erkenntnis' (in: Fr. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln-Graz 1980, S. 186-228); Fr. Kaulbach, ,Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen' (in: R. Berlinger & W. Schräder (Hrsg.), Nietzsche — Kontrovers I (1981), S. 59-76); V. Gerhardt, ,Das „Princip des Gleichgewichts". Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche' (in: V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 98-132); L. P. Thiele, ,Love and Judgement. Nietzsche's Dilemma' (in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 88-108); T. Otsuru, Gerechtigkeit und Dike. Der Denkweg als Selbstkritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung, Würzburg 1992.

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Geschichte und Gerechtigkeit

einem Unrecht widerfahren ist oder ob man sich vielleicht selbst ein Vergehen zuschulden hat kommen lassen, für das man bestraft wird. Dieses und jenes veranlaßt zum Nachdenken über Geschichte und Gerechtigkeit. Allerdings kann man am Wohl und Weh zwei Seiten unterscheiden, deren die eine gewissermaßen exoterischer, die andere vielmehr esoterischer Natur ist. Daß die innerlichen Erfahrungen nicht zwangsläufig den äußeren Umständen entsprechen, macht darauf aufmerksam, daß der Mensch die Möglichkeit hat, den Umständen gegenüber eine Distanz zu wahren. Es steht die innere Haltung im Blick. Die Haltung des Menschen bezieht sich auf das Verhältnis zwischen seinem Selbst und dem oder den Anderen. Aber der Mensch verhält sich auch zu sich selbst. In diesem Selbstverhältnis erfährt er sich auf unterschiedliche Weise. Die Art des Selbstverhältnisses wiederum steht in einem Verhältnis zum Anderen des Selbst. Demnach bezieht der Begriff der Haltung sich auf ein Gefüge dreier Verhältnisse: er gilt der Beziehung zwischen dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zum Anderen. Der Möglichkeit der Distanznahme des Inneren gegenüber dem Äußeren unbeschadet sind für gewöhnlich auch die inneren Erfahrungen durch Vergänglichkeit geprägt. Und für deren Höhepunkt trifft dies ebenfalls zu. Sein Erlöschen hinterläßt eine schmerzliche Leere, weshalb der Mensch sich diesen Verlust zu erklären versucht. Auch hier überlegt er, ob er sich vielleicht eines Vergehens schuldig gemacht hat, doch gilt die Frage diesmal dem Bereich des Inneren. Wir stoßen nämlich auf das grundsätzliche Problem, ob es so etwas wie eine gerechte Haltung gibt, die ihrerseits den Bestand des Glückes (zumindest des inneren) gewährt. Wenn es denn eine solche Möglichkeit geben sollte, so stellt sich des weiteren die Frage, wie diese Möglichkeit zu verstehen ist. Weil ich die Haltung als das Gefüge dreier Verhältnisse, nämlich als die Beziehung zwischen dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zum Anderen, deute, führt die Möglichkeit einer gerechten Haltung uns letzten Endes vor das Problem, wie die Beziehung zwischen dem einzelnen Menschen und dem Ganzen auszulegen ist — welche ist die Stelle des Menschen im Kosmos? Meine Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit sollte in diesem Sinne verstanden werden. In welcher Hinsicht das Frühwerk Nietzsches diesem Problemkreis entspricht, zeigt das Folgende: Wenn man mit der Frage nach Geschichte und Gerechtigkeit an Nietzsches Frühwerk herantritt, so rückt, wie gesagt, die Historienschrift, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie ßir das Leben, ins Thema. Doch scheint die Schrift, ihrem Titel gemäß, zunächst ein meinem Ansatz gegenüber eingeschränktes Ziel zu verfolgen. Das heißt, daß der grundsätzliche Zusammenhang zwischen Nietzsches Vorstellungen von

Einleitung

5

Geschichte und seinen Ansichten zur Gerechtigkeit keineswegs offen zutage liegt. Dieser Umstand und die Tatsache, daß diese Thematik mit Bezug auf das Frühwerk meines Wissens bisher nicht eingehend bearbeitet wurde, erfordern, erst einmal den Nachweis dafür zu erbringen, daß die Thematik Geschichte und Gerechtigkeit innerhalb der Historienschrift eine bedeutsame Rolle spielt. Diese Aufgabe übernehmen die Prolegomena der vorliegenden Arbeit. Es stellt sich heraus, daß Nietzsche in seiner Historienschrift zwei Arten von Gerechtigkeit unterscheidet: eine retrospektive und eine prospektive. Die retrospek-' tive Gerechtigkeit richtet sich naturgemäß nach den gewordenen Verhältnissen, dagegen gilt die prospektive vielmehr einem utopischen Moment. Dieses und jenes führt vor die Frage: Was heißt Gerechtigkeit? Bei der Beantwortung dieser Frage vertritt Nietzsche von vornherein den Standpunkt, daß die Gerechtigkeit nicht der Wahrheit, sondern vielmehr dem Leben gerecht werden soll. Hier kommt nun auch die Geschichte ins Spiel. Geschichte bedeutet für Nietzsche in erster Linie die Bewegung und Bewegtheit des Lebens. Gemeint ist das gegensätzliche und widersprüchliche Gefüge der Natur, insofern es zwischen Lust und Leiden, zwischen Befriedigung und Gier oszilliert. Wir stoßen hier auf den Gegensatz zwischen der Befriedigung des Willens im Selbstsein und seiner Nichtbefriedigung. Die Nichtbefriedigung ist der Zustand, in dem der Wille (das heißt das Leben oder das Ur-Eine) der blinden Gier nach eben diesem Selbstsein überlassen ist. Gegenüber dieser Gier kommt die Befriedigung im Selbstsein einer Erlösung gleich. Das heißt: im Selbstsein findet die Natur zu sich. In seinen Frühwerken, und a fortiori in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, vertritt Nietzsche die Ansicht, der Genius (also das vollendete Individuum) sei Zielpunkt und letzte Absicht der Natur.5 Dennoch handelt es sich nicht um eine der Natur innewohnende Teleologie — denn zwar ist die Natur Nietzsche zufolge auf ein Ziel hin angelegt, doch wird dieses Ziel keineswegs auch zwangsläufig erreicht. Nietzsche meint vielmehr, daß das Leben den gerechten Menschen braucht, um zu seinem Ziel zu gelangen.6 Also gesteht Nietzsche dem Menschen diejenige Stelle zu, an der der Natur erst die Möglichkeit geboten wird, über sich selbst hinauszugehen. Vor diesem Hintergrund kann nun auch der Unterschied der Geschichte gegenüber der Natur erklärt werden. Denn während Natur die Sphäre der Gegensätzlichkeit meint, welche grundsätzlich der Nichtbefriedigung (also der Gier) verhaftet bleibt, bezeichnet Geschichte diejenige Bewegung, die einmal über die Natur hinaus zum Selbstsein führt, das andere Mal aber den Rückfall aus dem Selbstsein in die Zerrissenheit der Natur bedeutet. Aus diesem Hin und Her zeigt erst der Gerechte den

5 6

Vergleiche 7: 10 [1]; 7: 336, 3-4; Zitation und Siglen wurden weiter oben, S. XV, erklärt. Bekanntlich ist der späte Nietzsche radikaler, daß der Grundgedanke aber bewahrt bleibt, zeigen beispielsweise die Notizen 11: 41 [6] und [7],

6

Geschichte und Gerechtigkeit

Weg. Unter diesem Aspekt bedeutet Gerechtigkeit deshalb die höchste Tugendhaftigkeit des Menschen, weil der Gerechte dem innersten Anliegen der Natur gerecht wird. In seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung arbeitet Nietzsche in diesem Sinne die Beziehungen zwischen Geschichte und Gerechtigkeit heraus. Aus deren Darstellung geht hervor, daß das Erkennen dieses Themas für das Verständnis der Schrift unerläßlich sein dürfte. Vielleicht bietet das Thema sogar den Schüssel zum eigentlichen Anliegen dieser Unzeitgemäßen. Jedenfalls aber kann vor dieser Auffassung von Geschichte und Gerechtigkeit erklärt werden, weshalb Nietzsche die Problematik der Bildung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Beim frühen Nietzsche bedeutet Bildung zunächst die damalige Bildungspraxis. Ist dieser Begriff eher negativ gemeint, so stellt Nietzsche ihm einen durchaus positiv gemeinten Kontrahenten gegenüber. In diesem Fall bezeichnet der Begriff der Bildung einmal die Einkehr zum eigenen Selbstsein, also das Sicherarbeiten eines Selbstverhältnisses. Das heißt, daß Bildung den Prozeß bedeutet, in dessen Verlauf der Mensch sich einen gewissen Freiraum gegenüber der herrschenden Konvention erkämpft. Während die Einkehr erstmals die Scheidung zwischen dem Selbst und dem bzw. den Anderen herbeiführt, bezieht der positive Begriff der Bildung nun auch den Prozeß der Integration des oder der Anderen in das Selbst mit ein. Hier wird also das Verhältnis zum Anderen als dem Anderen ausgebaut. Der Bildungsprozeß führt die innere Haltung herbei, welche den Menschen befähigt, sowohl dem Selbstverhältnis als auch dem Verhältnis zum Anderen zu genügen. Das heißt, durch die Bildung ist er erst in der Lage, dem Selbst und dem Anderen gerecht zu werden. Mit der Praxis geht eine Theorie einher, welche erläutert, weshalb auf diese Praxis nicht verzichtet werden kann: Sie klärt über die Bedingungen auf, die erfüllt sein müssen, damit das Selbstsein nicht wieder verlorengeht. Demnach gipfelt der Prozeß der Bildung in jener Haltung, in jener sowohl praktischen als auch theoretischen Erkenntnis, die Nietzsche zufolge das beständige Selbstsein gewährt. Wie bereits angedeutet, hoffe ich darlegen zu können, daß hier die Grundzüge einer Philosophie der Mitte ersichtlich werden. Der Begriff der Mitte bezieht sich erstens auf dasjenige Zentrum, auf das die Sphäre der Gegensätzlichkeit zurückgeht. Des weiteren gilt er der Ganzheit eines Individuums und bezeichnet dann das Gleichgewicht der Gegensätze. Außerdem bedeutet die Mitte ein bestimmtes und zwar gleichgewichtiges Verhältnis zwischen dem Zentrum (dem Herzen der Natur) und dem Individuum. In diesem Verhältnis gibt das Individuum sich weder der Sehnsucht noch der Verhärtung hin. Nehmen wir diese drei Momente zusammen, so bezeichnet der daraus sich ergebende übergeordnete Begriff der Mitte diejenige Haltung des Menschen, die als Weisheit gilt. Sie gewähre nämlich die Ständigkeit des

Einleitung

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Glücks im Sinne des Selbstseins. Das Sicherarbeiten einer solchen Haltung, einer solchen Weisheit ist der eigentümliche Weg und das letztendliche Ziel der Bildung. So zeigt sich, daß der Problemkreis Geschichte und Gerechtigkeit durchaus einer Fragerichtung bei Nietzsche entspricht.

3.

Bevor wir uns nun mit dem weiteren Gang der Untersuchung befassen, sollten wir überlegen, ob unser Verfahren erlaubt ist. Angesichts des betont unsystematischen Charakters von Nietzsches Denken stellt sich die Frage, ob das Werk überhaupt systematisch angegangen werden kann beziehungsweise darf. Freilich ist die Frage mehrdeutig. Denn sie gilt nicht nur denjenigen Ansätzen, die eine Rekonstruktion von Nietzsches Denken beabsichtigen, sondern bezieht sich auch auf die vielen Versuche, anhand von Nietzsches Werk bestimmte Einzelfragen zu erläutern oder gar zu klären. Zuvor wurde dargetan, daß die vorliegende Arbeit Letzteres beabsichtigt. Obwohl die Systemfrage als solche damit ausscheidet, ist dennoch folgende kurze Bemerkung angebracht: Ob man nun versucht, dem ganzen Nietzsche Rechnung zu tragen, oder sich darauf beschränkt, eine gegenüber dem Ganzen als eine eingeschränkte sich ausnehmende Frage zu bearbeiten — in beiden Fällen sollte man zwischen einer historischen Rekonstruktion und einer philosophischen Auseinandersetzung streng unterscheiden. Für eine philosophische Auslegung ist die Antwort auf die Frage, ob Nietzsches Werk geschlossen ist oder aber dem Widerspruch verhaftet bleibt, letztendlich müßig. Gleiches trifft für eine philosophische Aufarbeitung seiner Ansichten auf diesem oder jenem Gebiet zu. Denn wenn es auch stimmen mag, daß Nietzsche sich gelegentlich in Widersprüche verwickelt, so darf eine philosophische Interpretation es niemals bei deren Anzeige bewenden lassen. Vielmehr sind wir gehalten, dadurch, daß wir uns der harten Arbeit des Begriffes unterziehen, zu ihrer Klärung beizutragen. Der Unterschied einer systematisch-philosophischen Interpretation gegenüber einer historischen oder gar historisierenden Rekonstruktion wird von V. Gerhardt zu Recht betont. Zwar meint er, daß es bei Nietzsche keinen dominierenden Gedanken, kein System oder Prinzip gibt, zu dessen Mitteilung der Text dient,7 jedoch vertritt er entschieden die Ansicht, daß die Philosophie auf das systematische Vorgehen (also auf das Herstellen von Zusammenhängen und auf das Zusammenlesen von Zer-

7

V. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992, S. 62.

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streutem, kurz auf das Synthetisieren) nicht verzichten könne — und zwar aus dem einfachen Grund, daß jeder Begriff ursprünglich auf etwas Allgemeines ziele. Der Begriff stellt also schon von selbst einen Vorgriff auf einen prinzipiell erkennbaren Zusammenhang dar. Gerhardt: „Man denkt immer schon systematisch, sofern man nur denkt, auch wenn man die abschließenden Systeme mit guten Gründen verwirft". 8 Dennoch sollte man überlegen, ob dies nicht zu kurz gedacht ist. Denn nach W. Müller-Lauter hat Nietzsche versucht, „den Gegensatz als Konstitutivum der Welt zur Geltung zu bringen". 9 Er meint: „Weil für Nietzsche von vornherein das Ganze der Wirklichkeit durch den .Kampf' von Gegensätzen bestimmt wird, deshalb sieht er sich im Vollzuge seines Philosophierens genötigt, die Gegensätze im einzelnen mit aller Schärfe herauszuarbeiten". 10 Zwar räumt Müller-Lauter ein, Nietzsches Ziel sei die Synthese dessen, was schon durch sein Gegeneinander in eigentümlichen Beziehungen zueinander steht; jedoch breche das, was Nietzsche zu in sich gegliederter Einheit zu bringen suche, immer wieder auseinander. Müller-Lauter: „Die Unvereinbarkeit tritt an die Stelle des Gegeneinander. Je entschiedener er jene zu überwinden trachtet, desto deutlicher tritt sie hervor. Aus seiner Philosophie der Gegensätze erwachsen so die unüberbrückbaren Gegensätze seines Philosophierens." 11 Wie ist die Position von Müller-Lauter zu verstehen? Seiner Meinung nach ist Nietzsche an der Wirklichkeit der Gegensätze gescheitert. Soll das heißen, daß es grundsätzlich möglich ist, eine Synthese herbeizuführen? Vermerken wir zunächst, daß die Widersprüchlichkeit von Nietzsches Denken laut M. Landmann nicht persönlicher Natur ist, sondern vielmehr die Widersprüchlichkeit der modernen Welt ausdrückt. Wenn diese Ansicht zutrifft und Nietzsches Zerrissenheit noch immer unsere Zerrissenheit ist und die Beschäftigung mit seinem Denken somit nicht bloß historische Bedeutung hat,12 so können wir uns nicht damit bescheiden, die Widersprüchlichkeit dieses Denkens auf die Gegensätzlichkeit der Welt13 zurückzuführen, sondern müssen darüber hinaus versuchen, dort zu reüssieren, wo Nietzsche MüllerLauter zufolge gescheitert ist. Das heißt, uns muß an erster Stelle folgende Frage interessieren: Bietet Nietzsches Philosophie der Gegensätze einen Weg, der aus der Zerrissenheit hinausführt oder solches zumindest in Aussicht stellt? — Wenn Müller-

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V. Gerhardt, a.a.O., S. 65. W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin / New York 1971, S. 7. 10 Ebd. " Ebd. 12 W. Müller-Lauter, a.a.O., S. 5 und M. Landmann, Geist und Leben: Varia Nietzscheana, Bonn 1951, S. 97 f. 13 W. Müller-Lauter, a.a.O., S. 7. 9

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Lauter auch der Ansicht ist, Nietzsche sei letztendlich gescheitert, so hat er doch selbst, namentlich in der zweiten Hälfte seines Buches, die Arbeit ein gutes Stück vorangebracht. Im Hinblick auf das hier vorgetragene Anliegen ist vor allem seine Auseinandersetzung mit Nietzsches Vorstellung vom höchsten Menschen, der die Synthese der Gegensätze ins Werk setze, bedeutsam. Während also das Vorgehen Müller-Lauters durchaus den Ansprüchen genügt, die V. Gerhardt mit Bezug auf die philosophische Interpretation artikuliert hat, zeigt seine Arbeit darüber hinaus den Vorzug auf, daß sie über die Rahmenbedingungen für eine philosophische Aufarbeitung der Texte hinausweist und auf die genuine Aufgabe der Philosophie aufmerksam macht. Nach dieser grundsätzlichen Bemerkung zur Eigenart einer philosophischen Auslegung wende ich mich nun der systematischen Interpretation zu. In einem solchen Fall wird die philosophische Interpretation unter einem bestimmten Aspekt vorgenommen. Weil die systematische Frage, mit der man an das Werk herantritt, naturgemäß zunächst über das Interesse des Interpreten aufklärt, fragt man sich noch einmal, ob ein solches Vorgehen überhaupt erlaubt ist. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen aufschlußreich, die B. Bueb im Anhang seiner NietzscheStudie anstellt: „Wenn die vorliegende Arbeit eine systematische Frage an Nietzsches MoralPhilosophie stellt, so ist damit gemeint, daß sie einerseits einer aus dieser Frage an Nietzsche resultierenden inneren Logik und einer eigenen Systematik folgt, daß sie aber andererseits Interpretation sein will und das nur sein kann, wenn diese von außen herangetragene Frage einer Fragerichtung bei Nietzsche entspricht und in ihrer gedanklichen Entwicklung dem Nietzscheschen Denkduktus treu bleibt." Und er fährt fort: „Die Interpretation geht daher zwar ein- und zusammenordnend, umformend, zurechtrückend vor, sie zieht Auseinanderliegendes zusammen, zergliedert Zusammenhänge, hebt Perspektiven hervor und vernachlässigt andere; sie stellt eine Kohärenz der Gedanken Nietzsches her—der Systematik ihrer Fragestellung folgend —, die in dieser Form bei Nietzsche literarisch nicht vorliegt. Aber dieser ganze Prozeß verläuft nicht als willkürliches Schematisieren und Subsumieren unter eine feste, mitgebrachte Ordnung; vielmehr stellt sich die Ordnung und die innere Folgerichtigkeit der Interpretation erst her im Umgang mit Nietzsches Texten." 14 Woraus Bueb schließt: „Durch diese methodische Maxime, die Reflektion in Auseinandersetzung und Übereinstimmung mit Nietzsches Denken von einer prinzipiellen Fragestellung zu entfalten, die eine gewisse Autonomie des Gedankenganges ermöglicht, ist der Interpretation ihre Richtung vorgezeichnet. Sie wird und

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B. Bueb, Nietzsches Kritik der praktischen

Vernunft, Stuttgart 1970, S. 171.

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will sich nicht vornehmen, eine historische Authentizität im Sinne der positiven Geschichtswissenschaft zu erreichen [...]. Ebensowenig wird sie versuchen, innerhalb Nietzsches Werk einen systematischen Zusammenhang herzustellen, der am Ideal herkömmlicher systematischer Entwürfe orientiert ist. Vielmehr will diese Arbeit im Nachvollzug von Nietzsches Denken eine eingeschränkte Frage erhellen, dadurch Einsichten seines Philosophierens im kritischen Durchgang vermitteln und durch den besonderen Aspekt dieser Interpretation bestimmte Zusammenhänge hervortreten lassen, die auch ein Licht auf das Ganze seines Werkes werfen."15 Dieser methodischen Maxime Buebs stimme ich durchaus zu und lege sie meiner Arbeit zugrunde. Letztendlich stellt sie den Versuch dar, zwischen einer richtungslosen Textakribie und einer ungezügelten, faktenmißachtenden Nietzsche-Spekulation die Mitte zu wahren. In dieser Arbeit entscheide ich mich somit für eine systematische Auseinandersetzung. Doch bleibt angesichts derWidersprüchlichkeit Nietzscheschen Denkens die Frage, wie ich hier im einzelnen vorzugehen gedenke. Darauf ist nun folgendes zu antworten: Der späte Nietzsche hat sich dahingehend geäußert, daß der Philosoph als solcher als Herrscher über eine gegenstreitige Vielheit zu verstehen sei.16 Daraufhin hat P. van Tongeren vorgeschlagen, auch den Philosophen Nietzsche, d.h. dessen zunächst oftmals widersprüchlich anmutende Äußerungen, unter diesem Aspekt zu lesen.17 G. Schank wiederum hat sich diesem Ansatz angenommen und vertritt die Ansicht, daß Nietzsches Texte als „dialogische Texte" zu lesen sind. In diesem Zusammenhang verfaßte er folgende These: „Nietzsche ist ein mehrstimmiger Autor, er spricht in mehreren Stimmen. Bei seinen Texten ist jeweils erst zu prüfen, welche Stimme als Textorigo auftritt. Es können auch zwei Stimmen in einem Text sich abwechseln, so daß der Text [... ] dialogisch ist (oder zumindest sein kann). Die Stimmen können im Text offen deklariert sein (Namensnennungen), das muß aber nicht der Fall sein. Auch zwei aufeinander folgende Texte können in dialogischem Verhältnis zueinander stehen."18 In der vorliegenden Untersuchung mache ich mir diese These zu eigen; ich vertrete also die Ansicht, daß auch die Texte des frühen Nietzsche dialogisch strukturiert sind. Dies hat natürlich Konsequenzen für meine Lektüre. Wenn es nach Schank „jeweils erst zu prüfen" gilt, „welche Stimme als Textorigo auftritt",19 so kann das 15

A.a.O., S. 172. Vergleiche 11: 27 [27] und 11: 27 [59], 17 Vergleiche P. van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik. Studie zu „ Jenseits von Gut und Böse", Bonn 1989, S. 222 ff. 18 G. Schank, .Dionysos und Ariadne im Gespräch: Subjektauflösung und Mehrstimmigkeit in Nietzsches Philosophie' (in: Tijdschrift voor Filosofie 53 (1991), S. 489-519), S. 494-495. " A.a.O., S. 494.

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wohl nur heißen, daß im Stimmengewebe jene Melodie isoliert werden muß, die das Pendant zur beabsichtigten Aussage bildet. Wie macht man das? Schank zufolge wird dies durch ein Strukturmerkmal des dialogischen Textes ermöglicht, denn in einem solchen Text seien die Aussagen mit Geltungshinweisen versehen. Und es heißt weiter: „Erst die Wechselwirkung beider Ebenen erschließt das Gemeinte des mehrstimmigen Textes ".20 Demnach wird der eigentliche Sinn der Aussagen Nietzsches, die, wie gesagt, oftmals widersprüchlich anmuten, erst aus ihrem Wechselspiel ersichtlich. Im Hauptteil meiner Untersuchung trage ich diesem Aspekt dergestalt Rechnung, daß ich vielfach versuche, mich dem von Nietzsche Gemeinten über den Vergleich mehrerer Textstellen zu nähern. Bei aller Zustimmung möchte ich jedoch nicht verhehlen, daß sich meine Handhabung der dialogischen Lektüre in einer Hinsicht grundsätzlich von den Vorstellungen Schanks unterscheidet. Denn zwar bin auch ich der Ansicht, daß aus Nietzsches Texten viele Stimmen zu uns sprechen, aber anders als es nicht zuletzt im Zuge der Nietzsche-Interpretation Müller-Lauters gebräuchlich geworden ist, vertrete ich nicht von vornherein den Standpunkt, daß die Stimmen nicht mit einander zu vereinbaren seien. Ich verstehe den dialogischen Aspekt vielmehr im Sinne K. Reinhardts, der schon 1923 daraufhingewiesen hat, daß bei Nietzsche die Tendenzen und Triebe zu reden beginnen, also eine jeweils eigene Stimme bekommen.21 Weil ich mich um eine diskursive Auseinandersetzung bemühe und mit V. Gerhardt einer Meinung bin, daß alles Denken im Grunde systematisch ist, das heißt gar nicht anders sein kann, gehe ich bis auf weiteres von der Hypothese aus, daß die vielen und öfter strittigen Stimmen Nietzsches dennoch ein sinnvolles, mithin begrifflich zu rekonstruierendes Ganzes bilden. Freilich beabsichtige ich nicht, auf diesem Weg zu einer historisch gerechten Rekonstruktion zu gelangen, sondern hoffe vielmehr auf eine Antwort Nietzsches auf meine Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit. Nach diesen methodischen Überlegungen vermittelt das Folgende einen Überblick über den weiteren Gang der Untersuchung.

4. In den Prolegomena versuche ich darzulegen, daß und wie Nietzsche in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung den Bereich Geschichte und Gerechtigkeit 20 21

A.a.O., S. 518. K. Reinhardt, .Nietzsche und die Geschichte' (in: ders., Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, S. 296-309), S. 306.

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thematisiert. Es stellt sich heraus, daß nach Nietzsche einmal der Gerechte das Ziel der Geschichte bildet. Andererseits aber wird das Ziel erst vom Gerechten herbeigeführt. Demnach ist der Gerechte ein Doppelwesen, und zwar in einem mehrfachen Sinne. Er befindet sich sowohl am Ufer als auch im Fluß und ist darüber hinaus Anfang und Ziel alles geschichtlichen Geschehens. Dennoch steht Nietzsche zufolge keineswegs fest, daß das Ziel auch erreicht wird. Denn zunächst ist der Mensch dem reißenden Strom überantwortet, weshalb er der Bildung bedarf. Vor dieser Folie erörtert Nietzsche die Frage: Fördert die Historie, also die historische Bildung, die Tugend der Gerechtigkeit, somit das Heraufkommen des Gerechten und trägt sie auf diesem Wege dazu bei, daß die Geschichte ans Ziel gelangt — oder wirkt sie diesem Ziel vielmehr entgegen? Im Rahmen der Darstellung der Thematik Geschichte und Gerechtigkeit innerhalb von Nietzsches Historienschrift kommen viele Einzelfragen auf, welche zunächst offenbleiben müssen. Im Hauptteil wird der Versuch gemacht, diese Fragen, insofern sie für mein Hauptanliegen (nämlich die Problematik des Verhältnisses zwischen Geschichte und Gerechtigkeit) von Wichtigkeit sind, zu klären. Anläßlich des Vorwortes zur Historienschrift rückt mein erstes Kapitel die Erfahrungsgrundlage von Nietzsches Denken ins Thema. Nach G. Colli geht das Denken Nietzsches auf ein ausgezeichnetes Widerfahren mystischer Natur zurück. Gemeint ist der Augenblick der Individuation, der Selbstwerdung. Sollte diese Ansicht zutreffen, so folgt, daß Nietzsches Unbehagen angesichts der Kultur seiner Zeit nicht nur negativ sein muß, sondern vor dem Hintergrund dieser positiven Erfahrung zu verstehen ist. Anhand verschiedener Textstellen wird belegt, daß tatsächlich eine solche Erfahrung die Voraussetzungen für Nietzsches Philosophieren und für seine Zeitkritik geschaffen haben mag. In der Geburt der Tragödie spricht Nietzsche von einer ästhetischen Erfahrung, in der Historienschrift wird sie als die unhistorische bezeichnet. Im zweiten Kapitel meiner Arbeit setze ich mich mit dem Problem auseinander, ob und wie der Mensch zu der Erfahrung des Selbstseins zurückfinden kann. Ich frage nach der Möglichkeit des Selbstseins. Zuvor wurde ausgeführt, daß der Problemkreis Geschichte und Gerechtigkeit vor den Unterschied zwischen äußerlichen Umständen und inneren Erfahrungen führt. Ich habe darauf hingewiesen, daß die einen mit den anderen nicht zwangsläufig korrespondieren. So näherten wir uns der Problematik der Haltung. Sie betrifft nicht nur das Verhältnis zum Selbst, sondern auch die Beziehung zum Anderen; des weiteren ist die Beziehung zwischen dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zum Anderen zu beachten. Wenn nun Nietzsche der damaligen Bildungspraxis vorwirft, daß ihr die Erfahrungsgrundlage für eine ernstzunehmende

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Bildung fehlt, so können wir uns das dahingehend erklären, daß dem Menschen das Selbstverhältnis fehlt, das heißt, daß es ihm an Selbsterfahrung mangelt. Nietzsche bezeichnet das Selbstverhältnis im ersten Abschnitt seiner Schrift als unhistorische Erfahrung. Allerdings erscheint die Selbsterfahrung dort gewissermaßen in negativer Gestalt. Sie bildet nämlich das Gegenstück zum damaligen Gebildeten, der ausschließlich solche Erfahrungen gelten ließ, welche ihm historisch vermittelt wurden. Nach Nietzsche ist dieser Bildungsphilister zwischen Äußerem und Innerem, zwischen äußerer Form und innerem Chaos zerrissen und muß er deshalb leiden. Jedoch sieht aus dem Mittelpunkt dieses Leidens das tiefe Auge seines Gewissens ihn an und will ihm etwas sagen — aber der Mensch möchte nichts hören und läuft vor dem Augenblick davon. Nietzsche bezeichnet diesen Blick als Erinnerung. Solchermaßen vom Augenblick der Erinnerung gequält, wendet der Mensch sich dem Tier und dem Kinde zu und beneidet sie um die Unmittelbarkeit ihrer Existenz, die ihm als eine paradiesische Ungestörtheit vorkommt. Die ersehnte unhistorische Erfahrung bezieht sich daher einmal auf das narzißtische Ideal desjenigen Menschen, der von seinem Gewissen bedrängt wird — in diesem Sinne also erscheint sie zunächst in negativer Gestalt. Doch gibt es auch eine positive Variante. Gemeint ist die unhistorische Erfahrung als die Erfahrung des Groß-, Ganz- und Freiseins. In dieser positiven Bedeutung erscheint die unhistorische Erfahrung insbesondere in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher. Während die unhistorische Erfahrungsich im ersten Fall auf die subjektive Bewertung der tierischen Existenz als wiederherzustellendes Ideal eines erinnerungslosen Daseins bezieht, so bedeutet sie im zweiten Fall den großen Augenblick der Selbstwerdung. Die Erinnerung, von der zuvor die Rede war, gilt der Möglichkeit dieses erst herbeizuführenden Ideals. Nach Nietzsche wird der Mensch durch den Augenblick seines Gewissens an diese höchste Möglichkeit des Daseins erinnert. Das zweite Kapitel eruiert somit die Möglichkeit des Selbstseins. Dafür befaßt das dritte Kapitel sich mit der Problematik der Beziehung zwischen dem Selbst und dem beziehungsweise den Anderen. Es beschäftigt uns das Verhältnis zum Zentrum und die Beziehung zu den anderen Individuen. Der Begriff des Anderen bedeutet sowohl das Zentrum als ein anderes Individuum oder auch die anderen Individuen. In diesem Zusammenhang sind zwei Begriffe besonders wichtig: die plastische Kraft und der Horizont. Durch sie werden wir auf eine zweite Art der Erinnerung aufmerksam, nämlich auf die Integration. Führt die erste Art der Erinnerung erstmals eine Scheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen herbei, so bezieht die zweite Art, also die Integration, sich auf das Vermögen, nunmehr das Andere in das Selbst zu

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integrieren. Kommt aber der Mensch der plastischen Kraft zu kurz, so muß das Vergessen Beihilfe leisten. Mithin wird in diesem Fall das Andere ausgebannt. Beim gesunden Menschen stehen die plastische Kraft und die Kraft zu vergessen in einem umgekehrten Verhältnis zu einander. Der Horizont bedeutet die Zäsur, welche das bereits Integrierte gegen das bis auf weiteres Ausgesperrte abgrenzt. Darüber hinaus hat der Ausdruck Horizont einen weiteren Sinn, denn er bezeichnet auch das Ziel der Bildung. Vorhin wurde bereits angedeutet, daß zu einer vollendeten Bildung die Integration des Anderen gehört. Das heißt, unter diesem Aspekt betrachtet, gipfelt die Bildung naturgemäß in der Unendlichkeit des Horizonts: Sie führt ins Offene. Es handelt sich um das Ideal einer errungenen Unumschränktheit. Nach Nietzsche geht die unhistorische Erfahrung des Selbstseins auf das Zentrum zurück. Außerdem gewährt es die plastische Kraft (also das zwiefache Vermögen der Integration oder aber der Aussperrung des Anderen), weshalb das Band mit dem Zentrum unbedingt bewahrt werden soll. Doch ist das Band immer gefährdet. Nietzsche glaubt zwei Gefahren erkennen zu können: die der Sehnsucht und die der Verhärtung. Ihm zufolge kann der Mensch diesen beiden Gefahren vorbeugen, und zwar dadurch, daß er den Unterschied zwischen seinem Selbst und dem Anderen beachtet und somit sowohl gegenüber dem Zentrum als auch den anderen Individuen gegenüber die gebührende Distanz wahrt. Das Verhältnis zwischen den beiden sollte weder in eine Indifferenz zusammenfallen noch als Differenz auseinanderklaffen. Es sollte immerzu die Mitte zwischen diesen beiden Extremen gewahrt werden. Nietzsches Ansicht nach gibt es in diesem Punkt zwischen dem griechischen und dem modernen Menschen einen tiefgreifenden Unterschied: Der moderne Mensch sucht das Zentrum in und für sich, weshalb das moderne Genie (also das vollendete Individuum) in der Lage ist, den Zustand der höchsten Befriedigung aus sich allein zu erzeugen. Der Grieche dagegen war auf den Wettkampf angewiesen. Das griechische Genie brauchte das andere Genie, um sich gegenseitig in der Grenze des Maßes zu halten. Anders als das moderne Genie hat der Grieche es nicht vermocht, Ruhm und Glück ohne weiteren Wettkampf zu tragen. Wie gesagt, findet die Erfahrung, die für Nietzsches Denken grundlegend war, sich bereits in seiner Geburt der Tragödie. Dem gerechten Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Ganzen war er schon dort nachgegangen. Das vierte Kapitel ist Nietzsches Vorstellungen zur Problematik der Individuation, sofern sie uns in der Geburt der Tragödie und deren Umkreis begegnen, gewidmet. Im Mittelpunkt steht das eigentümliche Verhältnis zwischen dem Zentrum und dem Individuum. Nach Nietzsche zeigt das Zentrum zwar eine innere Zerrissenheit auf, ist es aber nichtsdestoweniger auf die Ganzheit des Individuums also auf das Selbst angelegt. In diesem Zusammenhang gilt unser Interesse namentlich dem Widerspruch und der Erlösung.

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Nietzsche zufolge ist das Ur-Eine durchweg dem Widerspruch verhaftet und gelangt es nur im Schein zu einer zeitweiligen Erlösung. Die Frage, wie dies im einzelnen zu verstehen sei, ist bekanntlich umstritten. Im Rahmen vorliegender Untersuchung stelle ich mir eine beschränkte Aufgabe: Ich bemühe mich, zur Klärung der Struktur des Widerspruches und zur Erläuterung der von Nietzsche anvisierten Erlösung beizutragen. Vor dem Hintergrund der in den vorangehenden Kapiteln erzielten Ergebnisse erläutern das fünfte und das sechste Kapitel das Verhältnis zwischen Historie und Gerechtigkeit. Es wird die Frage erörtert, inwiefern die Historie der Sache der Individuation dienen und in welcher Hinsicht die Historie sie behindern kann. Zunächst befassen wir uns im fünften Kapitel mit Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie. Der Großteil des Kapitels gilt der Klärung von Nietzsches Konzept des Monumentalen. Anläßlich der ersten AST Fünf Vorreden zufünf ungeschriebenen Büchern, Ueberdas Pathos der Wahrheit, führe ich aus, daß Nietzsches monumentale Historie im Grunde genommen die Vermittlung einer bestimmten und ausgezeichneten Erfahrung beabsichtigt, die er als Erleuchtung bezeichnet. Gemeint ist die unhistorische oder auch ästhetische Erfahrung, die bereits öfter erwähnt wurde. Die Interpretation einiger weniger Nachlaßaufzeichnungen läßt die abgründige Zwiespältigkeiterkennen, welche nach Nietzsche dieser Erfahrung innewohnt. Die gleiche Zwiespältigkeit zeichnet auch das Große aus und haftet noch der monumentalen Historie, die von ihm handelt, an. Anhand des Aufsatzes Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne soll gezeigt werden, daß die erwähnte Erleuchtung (die besonders in Ueber das Pathos der Wahrheit zur Sprache kommt, aber durchaus auch in dem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge eine bedeutsame Rolle spielt) der Einbildungskraft, auf die jede Wahrheit zurückgeht, zugrunde liegen mag. Mithin ist Nietzsche zufolge jede Wahrheit persönlicher Natur und ist jeder Versuch, sie zu verallgemeinern, notwendig verfehlt. Nietzsche stellt die persönliche Wahrheit der Konvention gegenüber. Er versteht die Konvention als Fälschung einer persönlichen Wahrheit. Letztere wird in dem Moment gefälscht, in dem sie Anspruch auf eine Verbindlichkeit erhebt, die über das Persönliche hinausreicht. Letzten Endes also gesteht er nur derjenigenErfahrung, auf der die Einbildungskraft und somit eine jede Wahrheit basiert, eine übergreifende Verbindlichkeit zu. Dies allerdings wiederum mit der Einschränkung, daß dies nur für denjenigen Aspekt dieser Erfahrung zutrifft, der über das rein Persönliche hinauszeigt. Im Blick steht die Erfahrung des Selbstseins als der Erlösung der Natur. Doch befindet der Mensch sich zunächst innerhalb der Konvention. Vor diesem Hintergrund wird das Bemühen um eine ursprüngliche Selbsterfahrung (also um die ästhetische oder auch unhistorische Erfahrung) verständlich, deren Möglichkeit

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namentlich in meinem zweiten Kapitel erörtert wird. In ihrer positiven Gestalt entspricht sie der Erleuchtung, die Nietzsche in der ersten der Fünf Vorreden, Ueber das Pathos der Wahrheit, erwähnt. Um zu dieser Erfahrung zurückfinden zu können, muß der Mensch sich erst einmal von der Konvention lösen. Demnach können die drei Arten der Historie, die Nietzsche unterscheidet, wie folgt verstanden werden: 1. die kritische Historie stellt die Gültigkeit der Konvention in Frage; 2. die monumentale Historie führt zur unhistorischen Selbsterfahrung zurück (oder führt sie erstmals herbei); und 3. die antiquarische Historie sollte im Grunde genommen zum Bestand jener Erfahrung beitragen. Das sechste Kapitel befaßt sich mit Nietzsches Kritik des objektiven Menschen. Ich verstehe sie als eine Strukturanalyse der Selbstsucht. Der Egoismus zeigt zwei Seiten auf. Zum einen betrifft er die einzelnen Individuen; zum anderen geht es um das Ganze, also um die Gemeinschaft der Individuen. Demnach gilt der Egoismus nicht nur dem Selbstverhältnis des Einzelnen, sondern auch der Beziehung dieses einzelnen Selbst zum Anderen, zum Ganzen. Das egoistische Selbstverhältnis zeichnet sich dadurch aus, daß man sich dem Augenblick, also der Aufforderung seitens des Gewissens, verschließt. Man überläßt sich ganz dem oder auch den Anderen. Aus Nietzsches Analysen geht hervor, daß der Egoismus ein Gebilde darstellt, in dem die Unterordnung des Einzelnen mit der Überordnung des Anderen zusammengeht. Zunächst folgen wir Nietzsche in seiner Erörterung über den Gegensatz zwischen Befindlichkeit und Wissen, der einen Riß zwischen Form und Inhalt, zwischen Äußerem und Innerem herbeiführt. Nietzsche prangert die Kluft zwischen Bildungsanspruch und Bildungsawswm an. Laut der Historienschrift macht sich das Verhältnis zwischen Form und Inhalt in der Konvention, das heißt in dem Stil eines Volkes, bemerkbar. Nietzsche führt den damaligen schwachen Stil (die „gleichgültige Convention") auf eine Bequemlichkeitssucht zurück. Auch der Enthusiasmus ist ihm ein Zeichen der Selbstsucht. Sie geht mit einer Unwissenheit um die Bedeutung der Kultur, die auf das Ereignis einer umgreifenden Individuation zielt, zusammen. Vor diesem Hintergrund bemühe ich mich, Nietzsches Kritik an der derzeitigen Historie ersichtlich zu machen. Sodann wende ich mich Nietzsches Auffassung des griechischen Staates zu. Diesen betrachtet er als das Gegenstück zur damaligen Staatsform: Das griechische Gefüge habe sich durch Einklang zwischen Form und Inhalt ausgezeichnet. Nietzsches diesbetreffende Ansichten sollen vor allem anhand des dritten Vortrages aus der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten und der dritten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Dergriechische Staat, eruiert werden. Im Rahmen der Problematik der Individuation setze ich mich mit Nietzsches „darker side" (L.P. Thiele) auseinander. Ich behandle seinen Aristokratismus und analysiere seine

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Rekonstruktion der griechischen Verhältnisse — die angebliche Notwendigkeit des Sklaventums und des Krieges wird kritisch befragt. Indem ich den aus der Selbstsucht sich ergebenden Mechanismus der Verdrängung rekonstruiere, fasse ich im letzten Paragraphen, die gültigen Momente der Nietzscheschen Kritik zusammen — es handelt sich um eine Darlegung der diachronen Gerechtigkeit. Es wird gezeigt, daß das Phänomen der Selbstsucht nach Nietzsche eine Perversion des gesunden Verhältnisses zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen dem Einen und den vielen Individuen, zwischen dem Staat und seinen Bürgern darstellt. Der Staat tritt an die Stelle des eigentlichen Ziels einer jeden Kultur — er tritt an die Stelle einer umgreifenden Individuation. Infolge der diesem Mechanismus der Verdrängung innewohnenden Logik gipfeln diese Verhältnisse letzten Endes in der Verbindlichkeit der Unverbindlichkeit, d.h. in der institutionalisierten Leerstelle eines öffentlichen Maßes. In meiner Schlußbetrachtung versuche ich rückblickend eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse. Sie bietet einmal eine Erörterung des grundsätzlichen Zusammenhangs von ästhetischer Erfahrung, Philosophie und Geschichte. Die Grundzüge einer Philosophie der Mitte, die im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit dem frühen Nietzsche ersichtlich wurden, weiterführend, lege ich schließlich eine Methode vor, die, das Ziel der Bildung, nämlich die Erlösung der Natur im Selbstsein (das heißt im Individuum), herbeizuführen und zu perpetuieren, in Aussicht stellt. —

*

Ehe ich nun diese Einleitung beende, sei mir eine letzte Bemerkung gestattet: Der Leser wird feststellen, daß öfter aufgrund der Interpretation einzelner oder auch aus dem Vergleich mehrerer Textstellen Schlüsse gezogen werden, die zwar möglich, aber nicht unbedingt notwendig sind. Die sich darauf stützenden weiteren Ausführungen und Folgerungen sind selbstredend hypothetischer Natur — weshalb darauf verzichtet wurde, dies in der Folge jedesmal explizit zu verzeichnen. Die eingeführten Leser werden außerdem erkennen, daß, während die Arbeit in mancher Hinsicht zu neuen Ergebnissen kommt, die Polemik auf ein Mindestmaß beschränkt bleibt. Die Erklärung dafür liegt zum einen darin, daß eine Interpretation beabsichtigt ist, und zwar eine systematische. Also zielt diese Studie weder auf eine thematische Rekonstruktion noch auf die Darlegung einer Genese. Ich bemühe mich vielmehr, solche Momente aus dem Frühwerk herauszuschälen, von denen ich mir einen Beitrag zur Klärung unserer Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und

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Gerechtigkeit verspreche. Ein weiterer Grund für die Beschränkung der Polemik liegt in der Überlegung, daß das Ausschöpfen der vielfach sich bietenden Gelegenheit die Darlegung zu sehr verzögert und das Verständnis erschwert hätte. Allerdings kann die Darstellung wegen dieser Bescheidung und infolge jenes Verzichts manchmal apodiktisch wirken. In solchen Fällen sollte der sprachliche Gestus nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei dieser Nietzsche-Lektüre in erster Linie um einen Versuch handelt — und zwar um den Versuch, im Ausgang vom Frühwerk Nietzsches eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit zu finden.

Prolegomena Zur Thematik Geschichte und Gerechtigkeit in Nietzsches

Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung Einleitung Die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fiir das Leben, zählt zu den bekanntesten Texten Nietzsches, und ihre Bewertung und Interpretation zeigen eine demgemäß breite Skala auf. Gelegentlich bemerkt man ein gewisses dédain (Kaufmann, Schlechta), in anderen Fällen ist von einem genialen Text die Rede (Haeuptner). Obwohl die Auslegungen gleichfalls auseinandergehen, sind die Interpreten durchweg der Ansicht, daß der Aufsatz keinen geschlossenen Zusammenhang aufzeigt. Dieses Urteil wird sich im Zuge der nachstehenden Interpretation als zu kurz gegriffen erweisen: Liest man die Schrift aus der von mir angezeigten heuristischen Perspektive, so weist sie in den Hauptzügen durchaus eine erstaunliche Konsistenz auf. Dennoch ist zu beachten, daß ich mich im Folgenden nicht um eine Darstellung der ganzen Schrift bemühe. Vielmehr werde ich mich auf die Erörterung derjenigen Momente beschränken, die für mein systematisches Anliegen bedeutsam sind. Daß das Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit im Rahmen der Historienschrift bislang kaum beachtet worden ist, ist vielleicht darauf zurückzuführen, daß Nietzsche selbst bezeugt hat, er habe die Wichtigkeit der Gerechtigkeit recht „spät" erkannt. In einer Notiz, welche in der zweiten Hälfte des Jahres 1885 aufgezeichnet wurde, heißt es: „ Es geschah spät — ich war schon über die zwanziger Jahre hinaus —, daß ich dahinter kam, was mir eigentlich noch ganz und gar fehlte: nämlich die Gerechtigkeit., Was ist Gerechtigkeit? Und ist sie möglich? Und wenn sie nicht möglich sein sollte, wie wär da das Leben auszuhalten?' — solchermaaßen fragte ich mich unablässig. Es beängstigte mich tief, überall, wo ich bei mir selber nachgrub, nur Leidenschaften, nur Winkel-Perspektiven, nur die Unbedenklichkeit dessen zu finden, dem schon die Vorbedingungen zur Gerechtigkeit fehlen: aber wo war die Besonnenheit? — nämlich Besonnenheit aus umfänglicher Einsicht."

(11: 40 [65]; 11:663, 25-664, 1)

Freilich könnte Nietzsches nähere Bestimmung des „spät" (nämlich: „ich war schon über die zwanziger Jahre hinaus") auch in die andere Richtung zeigen. Doch wurde

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die Stelle nicht zuletzt durch die Nietzsche-Arbeit Heideggers bekannt — der aber hatte nun gerade diese nähere Bestimmung ausgelassen.22 Wie dem auch sei, ich jedenfalls vertrete die Ansicht, daß das Problem schon im Frühwerk und namentlich in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung eine wichtige Rolle spielt. In diesen Prolegomena lege ich dar, wie Nietzsche in der Historienschrift die Gerechtigkeit ins Auge faßt und wie sie mit der Problematik der Geschichte zusammengeht. Der Hauptteil führt einzelne Aspekte dieses Problemkreises näher aus und thematisiert die Bezüge zum sonstigen Frühwerk. Angesichts der angezeigten Sachlage betreffend die Interpretation der Zweiten Unzeitgemäßen scheint es sinnvoll, zunächst einmal schlicht und einfach die konstitutive Rolle, welche die Thematik Geschichte und Gerechtigkeit in diesem Text innehat, aufzuarbeiten — weshalb die kritische Erörterung des Nietzscheschen Ansatzes als auch die Auseinandersetzung mit der Literatur weitgehend bis auf später aufgehoben werden.

1. Gerechtigkeit, Geschichte und Leben Die Frage der Gerechtigkeit in Umrissen Wir wenden uns dem ersten Hauptstück der Historienschrift zu — vom Vorwort zur Historienschrift soll in meinem ersten Kapitel die Rede sein. Innerhalb des ersten Hauptstücks Nietzsches unterscheide ich vier Abschnitte, die alle für mein Anliegen von Interesse sind: Der erste Abschnitt handelt von der Zeitlichkeit des Menschen, der zweite von der plastischen Kraft und vom Horizont, im dritten setzt Nietzsche sich mit der Möglichkeit eines überhistorischen Gesichtspunktes auseinander, und im vierten stellt er drei Thesen über das Verhältnis zwischen Leben und Historie auf. Ich werde diese Themen kurz erörtern, und zwar immer im Hinblick auf die Problematik von Geschichte und Gerechtigkeit. Im Hauptteil werden wir uns dann näher mit ihnen befassen können.

1.1. Zur Zeitlichkeit des Menschen Allgemeine Darstellung des Problembereiches der Individuation An den ersten Seiten seines ersten Kapitels nimmt Nietzsche, im Rahmen eines Vergleichs zwischen Mensch und Tier, eine Analyse der menschlichen Zeitlichkeit 22

M. Heidegger, Nietzsche, Pfüllingen 19614, 2. Bd., S. 331 (s. auch: M. Heidegger, Nietzsches Metaphysik, Frankfurt am Main 1990, S. 79); dazu T. Otsuru, Gerechtigkeit und Dike. Der Denkweg als Selbstkritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung, Würzburg 1992, S. 117-118.

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vor. In meinem zweiten Kapitel werde ich mich eingehend mit dieser Analyse beschäftigen. Hier beschränke ich mich darauf, einen zentralen Satz herauszustellen und zu kommentieren. Anhand dieses Satzes führe ich aus, daß die Frage der Zeitlichkeit mit der Problematik der Individuation einhergeht. In dieser freien Darlegung werden wir erstmals das Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit ins Visier fassen. Im Zuge seiner Erörterung über die Zeitlichkeit des Menschen nennt Nietzsche das Dasein ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen. Er versteht die Existenz als ein ununterbrochenes Gewesensein, als ein nie zu vollendendes Imperfectum.23 Im dritten Kapitel seiner Schrift findet man eine parallele Charakteristik, die sich jetzt aber auf das Leben als Ganzes bezieht: Nietzsche spricht von einer dunklen, treibenden, unersättlich sich selbst begehrenden Macht.24 Mit dieser Kennzeichnung überträgt er seine Vorstellung von der Existenz des Individuums ins Allgemeine. Diese Darlegungen gehen zwar auf den ältesten uns überlieferten Satz der abendländischen Philosophie zurück, sind aber entscheidend von Schopenhauer geprägt worden. Denn nicht nur weist der Vergleich zwischen Mensch und Tier, in dessen Rahmen jene Charakteristik der Existenz begegnet, bestimmte Übereinstimmungen mit einer Stelle Schopenhauers auf, sondern darüber hinaus stellt Nietzsche selbst, in seiner unvollendeten Arbeit Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, zwischen Anaximander und Schopenhauer eine Beziehung her.25 Obwohl zunächst nicht eigens genannt, ist das Thema Geschichte und Gerechtigkeit somit von Anfang an anvisiert. Zur Klärung von Nietzsches Stellungnahme in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung schicke ich einige Bemerkungen anläßlich seiner Anaximander-Interpretation in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen voraus. Nietzsche übersetzt die Anaximander-Stelle wie folgt: „.Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Nothwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit'." (PhZG: 818, 9-13)

Im Anaximander-Fragment werden nach der Interpretation Nietzsches und anderer die Begriffe, die in diesem Zusammenhang vorzüglich interessieren, bereits genannt: Die Notwendigkeit, welche dem Entstehen und Vergehen der seienden Dinge innewohnt, und die Buße für ihre Ungerechtigkeiten, die gemäß der Ordnung der Zeit gerichtet werden.26 Mein Interesse gilt hier weder der vielfältigen Anaximander23 24 25 26

UB II: 249. 26-30. UB II: 269, 20-21. PhZG: 818, 9-24. Vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsche, S. 43, Anmerkung 47. Vergleiche L. G. van der Wal, Hei objectiviteitsbeginsel in de oudste Grieksche ethiek, Groningen

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Philologie noch dem Fragenkomplex,27 der durch Nietzsches Übersetzung und Interpretation hervorgerufen wird. Es ist mir jedoch wichtig, herauszustellen, daß wir hier auf zentrale Themen unserer Studie stoßen: Die seienden Dinge, das sind nach Diels-Kranz die hohen göttlichen Mächte Erde, Meer, Luft und Leuchten, welche gegeneinander wirken. Die Rede von der Buße und von den Ungerechtigkeiten setzt voraus, daß es ein Recht gibt, das zumindest gelegentlich mit Füßen getreten wird. Man läßt sich Ungerechtigkeiten zuschulden kommen, die dann notwendigerweise, gemäß der Ordnung der Zeit, gebüßt werden müssen. Demnach gibt es zwar ein Recht, ein verbindliches Maß, doch sind Verstöße durchaus möglich. Nietzsches Übersetzung führt nicht zu dem Schluß, daß auch das Sich-zuschulden-kommen-Lassen notwendig ist.28 Man trifft also auf eine Differenz zweier Bereiche. Die seienden Dinge sind laut Nietzsche solche, an denen bestimmte Eigenschaften wahrzunehmen sind29 — somit ist auch der Mensch ein Ding. Beschränken wir uns nun auf den Menschen, so geht hervor, daß dieser die Wahl hat: Wird er schuldig, so wird er dem Gericht übergeben und muß sich dessen Notwendigkeit fügen, das heißt gemäß der Ordnung der Zeit vergehen. Aber angenommen, er wird nicht schuldig — wäre er dann nicht dem Gericht überantwortet? Die Antwort auf diese Frage muß zunächst offen bleiben, denn zuerst sollte geklärt werden, was jenes Entstehen bedeutet. Man liest: „.Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen ..."' (PhZG: 818, 9-10).

Aber was heißt Entstehen? Ist dies schon ein Sich-zuschulden-kommen-Lassen? So ist dies wohl kaum gemeint, denn wir werden ja jeweils ins Dasein hineingestoßen. Man hat angeführt, die Ungerechtigkeit müsse sich auf das Verhältnis der der arche entspringenden Gegensätze beziehen.30 Allerdings könnte es auch so sein, daß damit

1934, S. 16-34; D. L. Couprie, De Verordening van de Tijd. Interpretatie en vertaling van het fragment van Anaximander met een appendix over de visualisering van zijn wereldbeeld, Delft 1989, S. 159-163. 27 Es ist zu beachten, daß Nietzsche „didönai... diken" als „BuBe zahlen" übersetzt. Vergleiche dazu T. Otsuru, Gerechtigkeit und Dike. Der Denkweg als Selbstkritik in Heideggers NietzscheAuslegung, Würzburg 1992, S. 155-164. Vergleiche des weiteren G. S. Kirk, J. E. Raven and M. Schofield, The Presocratic Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts, Cambridge 19832, S. 119-120. Dazu Th.C.W. Oudemans/A.P.M.H. Lardinois, Tragic Ambiguity. Anthropology, Philosophy and Sophocles' Antigone, Leiden 1987 (S. 6 f f . , 102, 231) und die Besprechung dieser Arbeit von M. F. Fresco, Antigone und Anthropologie' (in: Mnemosyne, Vol. XLVI1 (1994), S. 289-318), S. 315-316. 28 Seine eigene Auslegung des Satzes geht allerdings in diese Richtung, denn ihm zufolge hat Anaximander alles Werden als eine strafwürdige Emanzipation vom ewigen Sein angesehen, als ein Unrecht, das mit dem Untergang zu büßen ist (PhZG: 819, 5 f.). 29 PhZG: 819. 10. 30 G. S. Kirk, J. E. Raven and M. Schofield, The Presocratic Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts, Cambridge 19832, S. 119.

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weder die physische Geburt noch ein bestimmtes Verhältnis der Gegensätze, sondern vielmehr der Moment einer Autonomie-Erklärung gemeint ist. Dann würde dies alles tatsächlich einen Sinn ergeben. Zusätzlich bietet die Interpretation sich an, derzufolge der Mensch bei seiner Geburt mit einer Aufgabe versehen worden ist, die es zu bewältigen gilt. Er sei beauftragt, ein gerechtes Verhältnis der Gegensätze ins Werk zu setzen. Solchermaßen mit einer Last oder Sorge beladen, kann das Dasein durchaus den Eindruck eines abzubüßenden Weges erwecken, doch macht der Mensch sich erst schuldig, wenn er scheitert. Im Verlauf wird sich herausstellen, daß Nietzsches eigene Vorstellungen tatsächlich in diese letzte Richtung zeigen. Wichtig ist zunächst, daß der Gedanke der Gerechtigkeit auf das Motiv einer Verhältnismäßigkeit, eines Gleichgewichts, zurückgeht. Denn Dike, das Wort, das auch Gerechtigkeit bedeutet31, zeigt wahrscheinlich zuerst auf ein kosmisches Gleichgewicht hin.32 Dabei handelt es sich sowohl um die Beziehung zwischen den Gegensätzen, die aus dem ersten Grund des ganz und gar Unbestimmten hervorgehen, als auch um das Verhältnis zwischen einem solchen Paar und seinem Ursprung. Diese Grundzüge finden sich verschiedenen Orts im Frühwerk wieder. Zu Beginn der Historienschrift erwähnt Nietzsche den Gegensatz zwischen der Kraft zu vergessen und dem Vermögen der Erinnerung. Ihm zufolge ist dieser Gegensatz für alles Lebendige konstitutiv. Allerdings sollten seine beiden Momente sich im Gleichgewicht befinden, denn kaum gerät ihr Verhältnis aus den Fugen, geht auch sofort das Lebendige zugrunde. Man fragt sich, wie solches sich ereignen könne. Oder umgekehrt: Wie kommt es zum Gleichgewicht? Demnach kommt nun die Frage auf, wie der Anfang zu denken sei: als Harmonie oder als Disharmonie? Ein weiteres Problem tut sich hervor: Wie ich bereits angedeutet habe, sollte man zwischen zwei Gegensatzpaaren unterscheiden: zwischen dem gleichsam internen Verhältnis, das das Individuum konstituiert, und der Beziehung, die zwischen dem Individuum und seinem Ursprung waltet. Diese Beziehung ist eher externer Natur. Wie geht nun diese externe Beziehung mit jenem internen Verhältnis zusammen? Letztere Frage steht mit der Frage nach dem Anfang in engstem Zusammenhang. Gibt es eine anfängliche Harmonie des Individuums, so kann man sein internes Gleichgewicht auf den Ursprung zurückführen und schließen, daß die externe Beziehung dem Schema von Ursache und Folge entspricht. Falls es aber am Anfang kein internes Gleichgewicht gibt, so muß es irgendwie errungen werden. Daraus ergibt 31 32

Wie gesagt, übersetzt Nietzsche Anaximanders dike als „Buße". Vergleiche dazu W. Porzig, Aischylos. Die attische Tragödie, Leipzig 1926, S. 110-112. Beachtenswerte Beobachtungen zu diesem Fragenkreis bietet auch M. F. Fresco, .Dynamisch evenwicht in Der Mouws Brahmanconceptie' (in: E. Eweg (red.). Deugdelijk vermaak. Opstellen over literatuuren filosofie in de negentiende eeuw, Amsterdam 1987, S. 20-44), vergleiche insbesondere die S. 26-30: Dike en .sympatheia'.

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sich die Differenz zwischen einem anfänglichen Zustand des Ungleichgewichts und einem den natürlichen Verhältnissen abgerungenen Gleichgewicht. Es ist zumindest fraglich, ob diese interne Beziehung dann noch extern gestützt wird. Es sei denn, die Beziehung zwischen diesem Gleichgewicht und dem anfänglichen Grund ist jene eigentümliche, die sich im Augenblick des internen Gleichgewichts ebenfalls als eine Art Gleichgewicht zwischen dem Individuum und dem Grund einstellt. Solch ein Gleichgewicht kann als An- und Wiedererkennen des Anderen ausgelegt werden. In dem Fall handelt es sich um die wechselseitige Anerkennung von Ursprung und Entsprungenem — um jene Erinnerung, welche als Gipfel der Verinnerlichung, der Augenblick oder auch Liebesblick der Innigkeit ist.33 Weshalb stellt die Innigkeit, wenn sie schon als Möglichkeit gegeben ist, sich nicht von Anfang an ein? Mit dieser Frage betreten wir den Problemkreis der Individuation. Zunächst ist festzuhalten, daß es zur Innigkeit einer Differenz bedarf, und zwar einer externen. Das heißt, daß das Unbestimmte aus sich hinausgehen muß. Sofern es erlaubt ist, das Unbestimmte als das Selbe zu bezeichnen, muß es zum Anderen dieses Selben werden. Dennoch sollte die Möglichkeit eines Gleichnisses der beiden gewährt sein. Man stößt also auf das Problem der Angleichung der nunmehr Verschiedenen, auf die Schwierigkeit der Identität der Differenten. Die Lösung geht im großen und ganzen dahin, daß das Andere des Selben oder Unbestimmten als Bestimmtes ausgelegt wird. Dieses Bestimmte kommt aber in der Hinsicht dem Unbestimmten gleich, daß es bestimmt ist, sich selbst zu bestimmen — es ist also frei. Die Freiheit führt zur Notwendigkeit einer Entscheidung. Denn das solchermaßen Bestimmte mußsich entscheiden, ob es seine Bestimmung antritt oder nicht. Im Falle, daß es seine Bestimmung antritt, sieht es sich mit der Aufgabe der Selbstbefreiung oder Selbstüberwindung konfrontiert. Der Auftrag kommt daher, daß das Bestimmte als das Andere des Unbestimmten — oder des Einen Unendlichen schlechthin — als das Gegeneinander zweier, einander wechselseitig ausschließender, mithin verneinender Unendlichkeiten aufgefaßt wird. Der Mensch ist zunächst mit dieser Gegensätzlichkeit verhaftet, er muß sich aus ihr befreien und sich zur Offenheit emporarbeiten. Er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die Gegensätze miteinander zu vereinbaren.

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Heideggers Bemühungen um das Verhältnis zwischen Ursprung und Seiendem sind vor diesem Hintergrund ersichtlich. Der Brauch meint eine Beziehung der beiden, die zwar korrelativ ist. aber dennoch nicht umgekehrt werden sollte — freilich sind Heideggers Darlegungen alles andere als unumstritten (M. Heidegger, ,Der Spruch des Anaximander' (in: M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1980', S. 317-368)). In diesem Zusammenhang sind dann Schellings Untersuchungen über die menschliche Freiheit überaus wichtig (H. Fuhrmans (Hrsg.). F. W.J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart 1983).

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Die Versöhnung ereignet sich in dem Augenblick, in dem die streitenden Gegensätze zum Gipfel ihrer Feindseligkeit finden und somit in ihrer Mitte einkehren. Im Offenen dieser Mitte gewinnt das Unendlich-Eine seine Gestalt, im wohlgerundeten Individuum schaut es selbst sich an. Dies ist der Augenblick der Heimkehr zu sich. In diesem Moment heißt es: das Unendlich-Eine ist. Allerdings ist das nunmehr ganzheitliche und unbefangene menschliche Individuum an diesem Gipfel gleichfalls der höchsten Gefahr ausgesetzt, denn erst in diesem Augenblick erkennt der Mensch das Problem der vielen Eins. Jene Gefahr und dieses Problem gehen aus dem Umstand hervor, daß man sich zunächst sehr schwertun mag, die jeweils eigene Gipfelerfahrung mit der Existenz anderer Individuen in Einklang zu bringen. Das heißt, die reale Erfahrung eines Unendlichseins wird von der realen Konfrontation mit der ebenfalls je eigenen Endlichkeit durchkreuzt. Das Gleichzeitige dieser strittigen Erfahrungen kommt einer äußersten Zerreißprobe gleich. Derart im argen liegend ist der Mensch versucht, für diesen Schmerz auf den kürzesten Weg Abhilfe zu schaffen. Da es sich um zwei Erfahrungen handelt, deren die eine die andere auszuschließen scheint, bieten folgende Möglichkeiten sich an: Das Individuum kann seine Unendlichkeit leugnen, es kann aber auch die Erfahrung des Endlichseins verdrängen. Daraus gehen vier mögliche Verhältnisse zum anderen Individuum hervor. Das heißt, grundsätzlich können wir vier mögliche Haltungen unterscheiden. Erstens: Man gewährt dem anderen seine Unendlichkeit und zeigt sich ihm sich unterzuordnen bestrebt. Zweitens: Man beharrt auf der eigenen Unendlichkeit und trachtet danach, den anderen sich unterzuordnen. Drittens: Beide Parteien rekurrieren auf ihre jeweilige Endlichkeit und bescheren so einander ein je eigenes Recht. Und viertens: Beide Parteien bestehen auf ihrer jeweiligen Unendlichkeit und führen einen offenen Kampf um die Alleinherrschaft. Diese Haltungen freilich sind alle in der Hinsicht verfehlt, daß entweder das Selbstverhältnis nicht gebührend ernst genommen oder aber das Verhältnis zum anderen nicht genügend berücksichtigt wird — oder daß man gar beide vernachlässigt. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß man immerzu bemüht ist, sich der Differenz zwischen den beiden strittigen Erfahrungen zu entledigen. Es stellt sich die Frage, ob es nicht eine Lösung gibt, die beiden Momenten gerecht wird, die also sowohl der Endlichkeit als auch der Unendlichkeit Rechnung trägt? Mit dieser Frage an Nietzsche beende ich fürs erste diese zugegebenermaßen eklektisch sich ausnehmende Darstellung des Problembereiches der Individuation. Daß das Frühwerk Nietzsches für die angezeigte Schwierigkeit tatsächlich eine Lösung bietet, wird sich erst im Verlauf meiner Arbeit herausstellen. Vorstehende

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Überlegungen zum Fragenbereich der Individuation sollten dazu dienen, den Bezug zwischen dem Problemkreis der menschlichen Zeitlichkeit und meiner Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit vor Augen zu führen. Eine eingehende Untersuchung zu Nietzsches Darstellung der menschlichen Zeitlichkeit anhand der Textvorlage der Historienschrift und im Rahmen des Frühwerks soll im zweiten Kapitel des Hauptteils vorgelegt werden.

1.2. Retrospektive und prospektive Gerechtigkeit Wenden wir uns nun dem Text der Historienschrift zu. In deren erstem Kapitel folgt, nach der Skizze der menschlichen Zeitlichkeit, ein Abschnitt, der der „plastische*: n > Kraft" (251, 4) gewidmet ist, also „jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen" (251, 5-8). Die Frage, wie dies im einzelnen zu verstehen sei, wird uns im dritten Kapitel beschäftigen.34 Stützen wir uns aber fürs erste auf das vorhin Ausgeführte, so ist die plastische Kraft im Felde jener Verhältnisse anzusiedeln, in dem sowohl das Individuum und der Ursprung als auch die verschiedenen Individuen einander entgegenstehen. Unter diesem Aspekt bedeutet die plastische Kraft das Vermögen, die Spannungen zwischen den verschiedenen Beziehungen zu verkraften. Der Begriff verweist auf die Fähigkeit, trotz der Gegensätzlichkeit der verschiedenen Momenten das innere und äußere Gleichgewicht zu wahren. In diesem Rahmen ist erstmals von der Gerechtigkeit die Rede. In erster Linie stuft Nietzsche als ungerecht die Position solcher Personen ein, die aufgrund eigener unmittelbarer Erfahrungen urteilen und handeln und in dem Sinne einen unhistorischen Standpunkt vertreten. Gerecht dagegen heißt er den historisierenden Menschen, der sich in seinem Urteilen und Handeln von seinen Vorgängern führen läßt. Daß Nietzsches Darlegung somit der Perspektive gewordener Verhältnisse entspricht, hat meines Erachtens einen methodisch-pädagogischen Hintergrund: Er versetzt sich erst einmal in die Ausgangslage seiner Leser, wirbt um deren Einverständnis — um ihnen dann andere Ansichten nahezulegen. Nach Nietzsche benötigt alles Leben den Horizont: „ < J > edes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden" (251,28-30). Er spricht diesbezüglich von einem Gesetz (251, 28): Das Wohlergehen eines Lebendigen entscheide sich am Gleichgewicht zwischen dem Vergessen und dem Erinnern. Das Vergessen bedeutet das Vermögen, „während seiner Dauer unhistorisch zu

34

Siehe weiter unten S. 105 ff.

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empfinden" (250, 8-9); das Erinnern verweist auf den „historische < n > Sinnf.]" (250, 31). Beide Vermögen sollten im geeigneten Moment Verwendung finden — weshalb es heißt: „as Unhistorische und das Historische ist gleichermaassenfiir die Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig" (UB II: 252, 8-11).

Gesundheiteines

Aus diesem Gesetz sei ersichtlich, weshalb Ungerechtigkeit und Gesundheit aufs beste mit einander auskommen: „ < D > as historische Wissen und Empfinden eines Menschen kann sehr beschränkt sein, sein Horizont eingeengt wie der eines Alpenthal-Bewohners sein, in jedes Urtheil mag er eine Ungerechtigkeit, in jede Erfahrung den Irrthum legen, mit ihr der Erste zu sein — und trotz aller Ungerechtigkeit und allem Irrthum steht er doch in unüberwindlicher Gesundheit und Rüstigkeit da und erfreut jedes Auge" (252, 12-19).35 Nietzsche stellt diesem Gesunden, aber Ungerechten den bei weitem Gerechteren und Belehrteren gegenüber. Letzterer kränkelt und fällt zusammen, weil „die Linien seines Horizontes immer von Neuem unruhig sich verschieben, weil er sich aus dem viel zarteren Netze seiner Gerechtigkeiten und Wahrheiten nicht wieder zum derben Wollen und Begehren herauswinden kann" (252, 20-24). Demnach ist Nietzsche der Ansicht, daß Ungerechtigkeit und Gesundheit einander durchaus vertragen. Dagegen gewährt ein größeres Maß an Gerechtigkeit keineswegs die Gesundheit, vielmehr stellt diese Tugend eine Gefahr für sie dar. Woraus Nietzsche schließt: „ < W > ir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann" (UB II: 252, 27-32).

Dem unhistorischen Moment kommt somit die Priorität zu. 36 Aber was heißt hier Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit? Bedeutet Gerechtigkeit das richtige Beurteilen eines Sachverhalts, so ist das dargelegte Gesetz wesentlich ungerecht. Der Unfug, im

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36

Müller-Lauter bezieht diese Stelle auf UB II: 282, 9-12, wo es heißt: „Niemand lebt philosophisch, mit jener einfachen Mannestreue, die einen Alten zwang, wo er auch war, was er auch trieb, sich als Stoiker zu gebärden, falls er der Stoa einmal Treue zugesagt hatte", und kommentiert: „ < D > as unanfechtbare Festhalten an einem einmal gewonnenen Standpunkt wird in der Zweiten Unzeitgemäßen [...] als die wahrhaft philosophische Haltung gepriesen" (W. MüllerLauter, Nietzsche, S. 47, vergleiche auch S. 63). Diese Interpretation scheint mir Nietzsche nicht ganz gerecht zu werden. Ich lege den Passus vielmehr dahingehend aus, daß die einmal gemachte Erfahrung des Selbstseins als verbindlich angenommen wird und daß auch die Launen des Glücks es nicht vermögen, diese Verbindlichkeit in Abrede zu stellen. Wir finden hier eine Spannung zwischen der Vorstellung eines Gleichgewichts, also einer Mitte, und der eines Übergewichts einer der beiden Momente der Beziehung. Vergleiche das eigentümliche Verhältnis zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, von dem im vierten Kapitel (S. 134 ff.) die Rede sein wird.

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Sinne ungerechten Urteilens, wird ja belohnt, während die Tugendhaftigkeit, also das gerechte Urteilen, zwar nicht direkt bestraft wird, dem Menschen jedoch nicht Wohlergehen und Glück beschert. Doch müssen wir hier differenzieren. Denn anläßlich der Darlegung eines solchen Moments schließt Nietzsche zwar: „Es ist der ungerechteste Zustand von der Welt, eng, undankbargegen das Vergangene, blind gegen Gefahren, taub gegen Warnungen, ein kleiner lebendiger Wirbel in einem todten Meere von Nacht und Vergessen" (253, 26-30), fügt aber sofort hinzu, daß man diesen Zustand dennoch positiv bewerten solle, weil er „der Geburtsschooss nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr jeder rechten That" (253, 31-32) sei. Und des weiteren: „Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch wissenlos; er vergisst das Meiste, um Eins zu thun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt" (254, 1-4).37 Laut Nietzsche hat der Handelnde nur ein Recht im Blick: „das Recht dessen, was jetzt werden soll." (UB II: 254, 5; vgl. 294, 33-34)

Hier zeigt sich ein anderes Recht. Denn während die Gerechtigkeit als sachgemäßes Urteilen auf die Perspektive des Wissens, auf die Wahrheit des Historischen und Überlieferten sich stützt, geht das Recht, von dem Nietzsche hier spricht, aus der Situation des Handelnden hervor. Demnach ist in letzterem Fall die Perspektive und die Wahrheit des Künftigen gemeint. Aus diesem und jenem ergibt sich ein erster Umriß der Problematik der Gerechtigkeit. In Nietzsches Analyse zeigt das Leben zwei Momente auf: das Unhistorische und das Historische. Es braucht zwar beide, aber sie bilden einen Gegensatz — den Gegensatz von Wissen und Handeln. Nach Nietzsche ist der Handelnde „wissenlos", laut Goethe ist er geradezu „gewissenlos". Soll das heißen, daß Wissen und Handeln einander gegenseitig ausschließen? Meines Erachtens ist hier zu differenzieren, denn dies alles gilt nur hinsichtlich der Vergangenheit. Der Handelnde zeigt eine retrospektive Blindheit, Ungerechtigkeit und Unwissenheit auf. In diesem Sinne heißt es: „Rückwärts blickend fühlt er sich blind" (UB II: 2 5 3 , 1 6 ) . x

Bisher blieb von den Interpreten weitgehend unbeachtet, daß der Handelnde noch ein anderes Moment erkennen läßt: das prospektivische. Prospektivisch ist der Handelnde keineswegs blind und unwissend, sondern vertritt er das „Recht dessen, was jetzt werden soll" (254, 5). Demnach wohnen dem Handelnden die „Instincte der

" Die Goethe-Stelle wurde von Colli-Montinari erschlossen: Maximen und Reflexionen, 241; aus Kunst und Altertum V 1, 1824. 18 Vergleiche UB II: 305, 18, und 7: 29 [31]; 7: 638, 6-7).

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Jugend" (323,13) und die „hellseherische Gabe der Natur" (329, 28-29) inne — er weiß und sieht das Kommende und Künftige.39 Das Problem der Gerechtigkeit betrifft also den Gegensatz zwischen dem retrospektiven und dem prospektiven Urteilen und Beurteilen. Streng genommen sind die beiden für einander blind, unwissend und ungerecht. Mithin handelt es sich bei dieser Frage um das problematische Nebeneinander zweier konkurrierender und strittiger Gestalten der Gerechtigkeit: der prospektiven und der retrospektiven. Freilich bleiben hier noch viele Fragen offen: Was heißt Vergessen und was bedeutet Erinnern? Wie verhalten die plastische Kraft und der Horizont sich zueinander? Wie entscheidet man sich für oder gegen das Retrospektive oder das Prospektive? Gibt es ein diese beschränkten Perspektiven übergreifendes Maß? Auf diese und andere Fragen können wir hier nicht eingehen. Ich werde sie aber im weiteren Verlauf der Arbeit ausführlich erörtern, namentlich im zweiten und dritten Kapitel des Hauptteils.

1.3. Der überhistorische Gesichtspunkt Im dritten Abschnitt seines ersten Kapitels geht Nietzsche der Frage nach, was es bedeutet, „als erkennendes Wesen, sich auf einen überhistorischen Standpunkt zu erheben" (254, 14-15). Er fragt somit, ob das gerade vorgeführte Problem der Gerechtigkeit vielleicht dadurch behoben werden kann, daß ein Standpunkt eingenommen wird, der weder historisch (retrospektiv) noch unhistorisch (prospektiv), sondern «¿»erhistorisch ist. Er meint, daß derjenige, der sich auf ihn stellt, „die Eine Bedingung alles Geschehens" erkennt, nämlich: „jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden" (UB II: 254, 30-31).

(Vorhin habe ich jedoch ausgeführt, daß solches nur für das retrospektive Moment zutrifft.) Aus seiner Sicht urteilt der überhistorische Mensch: „ < D > as Vergangene und das Gegenwärtige ist Eines und dasselbe, nämlich in aller Mannichfaltigkeit typisch gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung." (UB II: 256, 5-9)

Indem er die eine Bedingung alles Handelns ans Tageslicht fördert, erhebt der überhistorische Gesichtspunkt sich über die Bewegung des Lebens, also über das Werden. Dies geschieht in einer bestimmten Art und Weise: Aus einer retrospektiven

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Deshalb stimmt es nur halb, wenn Haeuptner sagt: „Für Nietzsche ist der große handelnde Mensch nicht bloß .gewissenlos' (Goethe), sondern geradezu .wissenlos', er ist .blind'— freilich nicht nur für Vergangenes, sondern auch für .Gefahren' — .undankbar' und .ungerecht'" (a.a.O., S. 105). Vergleiche des weiteren C. Zuckert, .Nature, History and the Self: Friedrich Nietzsche's Untimely Considerations' (in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 55-82). S. 58, 64, 65.

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Perspektive wird von den Inhalten historischer Ereignisse abstrahiert und somit der Impetus eines jeden Geschehnisses hervorgehoben, nämlich das retrospektiv Blinde und Ungerechte des unhistorischen Moments. Und dieser Impetus wird daraufhin auf die Zukunft projektiert. Der überhistorische Standpunkt ist also formell oder abstrakt. Er abstrahiert von den prospektiven Inhalten historischer Ereignisse — weshalb der überhistorische Mensch sagen kann: „Was könnten zehn neue Jahre lehren, was die vergangenen zehn nicht zu lehren vermochten!" (255, 30-32). Demnach kann dem überhistorischen Standpunkt nur eine abstrakte Gerechtigkeit beigelegt werden. Eine solche mischt sich nicht ein, sie bezieht keine Position und kommt mitunter der Gleichgültigkeit gleich.40 Der Gerechte aber soll in konkreten Situationen Entscheidungen treffen. Denn nach Nietzsche kann Gerechtigkeit nur im Spannungsfeld zwischen dem Retrospektiven und dem Prospektiven erzielt werden. Nietzsche nennt dasjenige, was ich als abstrakte Gerechtigkeit bezeichne, „Weisheit" (256,28). Die Weisheit steht über dem Leben. Nietzsche möchte sich aber nicht über das Leben stellen, sondern ihm vielmehr dienen: Er will die Historie zum Zweck des Lebens fördern. Also kehrt er zu seinem Ausgangspunkt zurück: Wie kann die Historie dem Leben dienen? Laut des von ihm aufgestellten Gesetzes geht es jeweils um die Behauptung und Aufrechterhaltung eines Horizonts. 4 ' Den Horizont hatte Nietzsche als ein Gleichgewicht zwischen dem Historischen und dem Unhistorischen aufgefaßt.42 Das Verhältnis zwischen den beiden legt er folgendermaßen auseinander: Zunächst nennt er die beiden Momente: „Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen" (UB II: 252, 34 - 253, 7).

Doch fügt er sofort hinzu: „ < A > ber in einem Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen." (UB II: 253, 7-9)

Mithin stellt sich die Frage nach dem Augenmaß, nach dem Gleichgewicht — oder, mit einer späteren Wendung Nietzsches zu reden, nach Maß und Mitte. 40

41 42

Die hier von Nietzsche angeführte Weisheit des überhistorischen Menschen meint wohl die des völlig verinnerlichten zeitgenössischen Historikers, der nur das Vergebliche des Ringens vergangener Zeiten und Völker wahrhaben will. Dieser Historiker wähnt sich seiner Aufgabe entlassen und dient seinem angeblichen Erlöser, dem Staate, mit völliger Ergebenheit. Vergleiche weiter unten S. 238 ff. UB II: 251. 28. UB II: 251, 24 - 252, 11.

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1.4. Die drei Thesen Nietzsches Am Ende seines ersten Kapitels gestaltet Nietzsche seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Leben und Historie in drei Thesen. Aus ihnen geht hervor, daß es nicht selbstverständlich ist, daß die Historie dem Leben dient. Denn ihr Gewicht könne auch ein Übermaß gewinnen, in welchem Fall das Leben entarte. Es gibt also eine Wechselwirkung zwischen Historie und Leben. Im Zuge einer kräftigen Lebensströmung, eines kraftvollen Nord-Osts, kann die Historie dem Leben dienen; doch verkommen die beiden, sobald der Historie ein Übergewicht beigemessen wird. Somit kann ihre Wechselbeziehung eine positive, aber durchaus auch eine negative Wende nehmen — bekanntlich bezeichnet Nietzsche sie später als aufsteigendes beziehungsweise niedergehendes Leben. Die Thesen sind folgende: „Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt: denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden: vielleicht noch nicht für ihn, den Lebenden. Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit. Die historische Bildung ist vielmehr nur im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung, einer werdenden Cultur zum Beispiel, etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes, also nur dann, wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird und nicht selber herrscht und führt. Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie, in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen. Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in Betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur. Denn bei einem gewissen Uebermaass derselben zerbröckelt und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie" (UB II: 257, 10-35).

In der ersten These greift Nietzsche auf den überhistorischen Gesichtspunkt zurück. Von diesem Standpunkt her erkenne man „den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont" (257, 12-14) eines historischen Phänomens. Zuvor war davon die Rede, daß der überhistorische Standpunkt „die Eine Bedingung alles Geschehens" erkennen lasse, nämlich „jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden" (254,3031). Der „irdisch umdunkeltef.] Horizont" (257, 13-14) eines jeden historischen Phänomens bezieht sich auf „die Eine Bedingung alles Geschehens" (254, 29-30). Doch kann weder der überhistorische noch der historische Blick erkennen, daß das historische Phänomen auch eine Kehrseite hat — nämlich den unhistorischen Moment des Erleuchtetseins (253, 19), auf den „das Recht dessen, was jetzt werden soll"

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Geschichte und Gerechtigkeit

(254,5), zurückgeht. Insofern als jedes historische Phänomen auf einer Erleuchtung basiert, ist es als solches im Grunde genommen zutiefst unhistorisch. Es wurde ausgeführt, daß aus überhistorischer Sicht von den konkreten, prospektiven Inhalten abstrahiert wird. Dennoch stellt sich die Frage, ob das Recht dessen, was jetzt werden soll, aus der Perspektive des überhistorischen Menschen tatsächlich als indifferent sich erweist (eben jenen irdisch umdunkelten Horizont darstellt) oder ob hier nicht vielmehr vom Inhalt her zu differenzieren ist. Muß man also nicht fragen, ob ein bestimmtes historisches Handeln mehr oder grade weniger gerecht war (beziehungsweise ist oder wäre) als ein anderes? Wenn es diese Möglichkeit geben sollte, so hieße dies, daß die „geschichtliche Macht" für den Wissenden nicht unbedingt „machtlos" sein muß. Zwar räumt Nietzsche ein, daß der Lebende durch die „geschichtliche Macht" (257, 15) eines historischen Phänomens affiziert werden kann, aber wie es scheint, scheidet hier, wie im Falle des Erkennenden auch, die Möglichkeit der Abwägung aus. Laut der zweiten These sollte der Mensch dem großen Strom des Lebens gehorchen. Im letzten Kapitel seiner Schrift rückt Nietzsche diese These dahingehend zurecht, daß das Leben von der Philosophie, im Sinne einer Gesundheitslehre des Lebens, überwacht und geführt werden muß.43 Demnach sollte die „historische Bildung" ein zwiefaches herbeiführen: die Kenntnis der universalen Gesetze und das Geschick, sie zum Guten anzuwenden. Die dritte und letzte These spricht nochmals über den Gegensatz zwischen Leben und Wissenschaft. Doch überlegt man, ob es hier nicht vielmehr eine Parallele gibt. Denn falls es zutreffen sollte, daß die überhistorische Perspektive überall das gleiche und selbe wiedererkennt, nämlich jene (retrospektive) „Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden" (254, 30-31), den „ganzen irdisch umdunkelten Horizont" (257, 13-14), so gibt es in dieser Hinsicht keine Unterschiede. Damit ist das überhistorische Wissen un- oder ahistorisch. Insofern jedoch jedes historische Ereignis auf einem Unhistorischen basiert, erscheint das zunächst unhistorische Leben durchaus als eine historische Macht. Und eben in dem Maße als die Historie einer solchen sowohl unhistorischen als auch historischen Macht dient, ist sie selbst historisch bedingt. Erst in dem Moment, wo die Geschichtswissenschaft nicht länger einer solchen Macht untersteht, kann sie ihre Ketten ablegen und als nunmehr „reine Wissenschaft" sich behaupten. Am meisten interessiert uns jedoch, was der Ausdruck Leben bedeutet. Wenn tatsächlich alles historische Handeln im Grunde genommen indifferent ist, weil es auf jene Blindheit und Ungerechtigkeit zurückgeht, so dient die Historie jeweils der Rechtfertigung eines dieser Momente. Das heißt, Historie wäre das Gewand einer

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UB II: 330 ff.

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bestimmten Ideologie oder auch Mythologie, zwischen Leben und Historie gäbe es keine Distanz. Es könnte aber immerhin auch sein, daß das historische Handeln nicht indifferent ist. Nur in dem Fall ist es sinnvoll, zu sagen, daß „der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt" (253, 1-3). Das setzt allerdings voraus, daß der Mensch sich wenigstens teilweise von jenem unhistorischen und erst dadurch im eigentlichen Sinne historischen Moment loslösen kann — daß also zwischen Leben und historischem Wissen eine Distanz möglich ist. Beschränken wir uns hier auf das Vergleichen , so leuchtet ein, daß in einem solchen Fall das „Recht dessen, was jetzt werden soll" (254, 5), gegen das Recht des Bestehenden, des Status quo, abzuwägen ist. Aber wo liegt in dem Fall das verbindliche Maß? Offensichtlich müßte dies überhistorischer Natur sein. Ob der Mensch sich dem Werdenden und Heraufkommenden anschließt oder sich ihm widersetzt, entscheidet sich dann an der Frage, ob sich das Neue im Vergleich zum Alten als eine „mächtige!.] neuef.] Lebensströmung" (257, 21) oder vielmehr als niedergehendes Leben ausnimmt.

2. Die Gerechtigkeit und die Historie im Dienste des Lebens Im vorigen Paragraphen hat sich herausgestellt, daß — nach Nietzsche — der Horizont, der von jedem Lebendigen zu seinem Wohlergehen und Glück gebraucht wird, zwei Momente aufweist. Zwar kommt dem Unhistorischen ein Übergewicht zu, aber dennoch ist wahrhaft menschliches Leben ohne Historie, ohne historischen Sinn, nicht möglich. Im zweiten und dritten Kapitel seiner Betrachtung führt Nietzsche näher aus, in welchen Hinsichten die Historie dem Menschen wichtig ist: „ < S > ie gehört ihm als dem Thätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist eine monumentalische, eineantiquarischeund einekritische Art der Historie zu unterscheiden." (UB II: 258, 6-12)

Ich verfolge Nietzsches Analyse der drei Arten der Historie jetzt im Hinblick auf den Problemkreis der Gerechtigkeit und werde jeweils drei Fragen erörtern: Erstens, in welchem Sinne dient die betreffende Variante dem Leben? Zweitens, inwiefern ist sie gerecht? Und drittens, wie kann sie das Leben gefährden?

2.1. Die monumentale Historie Bei der monumentalen Historie handelt es sich um die Vorstellung der Geschichte als einer Kette großer Taten und Ereignisse. In dieser Gestalt dient die Historie dem

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Leben, weil sie den Einsamen tröstet und ihm zu seinem Bestreben Kräfte verleiht. Die monumentalische Historie zeigt auf, daß das wirklich Große ewig vorhanden ist. Nietzsche: „Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei — das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht." (UB II: 259,12-18)

Die monumentale Historie gleicht einem Staffellauf, in dem die Flamme des wahrhaften Menschen weitergereicht wird. Nietzsche meint, ihr Nutzen gehe dahin, daß der handelnde Mensch ihr entnehmen kann, daß das Große jedenfalls einmal möglich war und deshalb wohl wieder einmal möglich sein wird (260, 25-27) — diese Erkenntnis schütze ihn vor Verzweiflung. Laut Nietzsche setzt die These, daß dasjenige, was sich irgendeinmal als möglich erwiesen hat, wiederum hervortreten könne, voraus, daß man der Pythagoreischen Astrologie beitritt. Er nennt hier erstmals den Gedanken der Ewigen Wiederkehr, freilich wird die Vorstellung vorerst von ihm zurückgewiesen. Er bezieht den Gedanken noch nicht auf das immer Gleiche der ästhetischen Erfahrung — oder des „ästhetischen Zustandes" 44 —, sondern führt ihn auf das immer von neuem Auftreten einer selben kosmologischen Konstellation zurück. Nur in letzterem Falle, so meint er, „dürfte der Mächtige die monumentale Historie in voller ikonischer Wahrhaftigkeit [...] begehren" (261, 23-25). Ohne diese Überzeugung müsse er einräumen, daß die monumentale Historie ihre Aufgabe im Dienste des Lebens nur mit Hilfe eines Kunstgriffes erfüllen könne: „ < I > mmer wird sie die Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der causae die ejfectus monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig, hinzustellen" (261,29-32). Anders gewendet, „wie gewaltsam muss die Individualität des Vergangenen in eine allgemeine Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Uebereinstimmung zerbrochen werden!" (261, 6-9) Demnach zeigt die monumentalische Historie Parallelen und Ähnlichkeiten auf, die es streng genommen gar nicht gibt. Sie möchte eine Wirkung erzielen und verfälscht dazu die Vergangenheit: „ < G > anze grosse Theile derselben werden vergessen, verachtet" (262, 23-24). Mithin müssen wir auf die Frage, ob und inwiefern diese Art der Historie gerecht sei, Folgendes antworten: Sie ist ungerecht, insofern sie ein zumindest unvollständiges, oftmals aber auch unwahres und geradezu falsches Bild der Vergangenheit vermittelt. Es handelt sich also um eine retrospektive Ungerechtigkeit. Andererseits

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Vergleiche G. Wohlfart, .Nietzsche: Der Gedanke der ewigen Wiederkehr und der „ästhetische" Zustand' (in: G. Wohlfart, Der Augenblick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg/München 1982, S. 94-112).

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dient sie damit dem Künftigen, das heißt dem „Recht dessen, was jetzt werden soll." (254, 5) Sie nimmt eine Zukunft vorweg, die qua menschliche Größe den, wohl ins Idealtypische verklärten, Sternstunden der Vergangenheit gleichkommt. Allerdings führt nach Nietzsche diese Art der Historie eine Gegenbewegung herbei. Das Kleine und Niedrige werfe sich hemmend, täuschend, dämpfend, erstikkend in den Weg. Diese Reaktion sei bemüht, sich der Geschichte zu bemächtigen und sich ihrer zur Bekämpfung des Werdenden und Kommenden zu bedienen: „ < S > ie wollen nicht, dass das Grosse entsteht: ihr Mittel ist zu sagen ,seht, das Grosse ist schon da!'" (264,12-14). Demnach wendet diese Variante der monumentalen Historie sich gegen den Impetus des Lebens, gegen das Werdende und Kommende, zeigt also eine prospektive Ungerechtigkeit auf. Ihre Devise ist: „ < L > asst die Todten die Lebendigen begraben." (264, 22)

2.2. Die antiquarische Historie Nietzsche zufolge sorgt die antiquarische Historie für die Wurzel in der Vergangenheit und bewirkt sie somit die Liebe zum Gegenwärtigen. Er fragt: „Wie könnte die Historie dem Leben besser dienen, als dadurch, dass sie auch die minder begünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat und Heimatsitte anknüpft, sesshaft macht [...]?" (266, 17-20). Die antiquarische Historie verleiht das Gefühl, verwurzelt zu sein, „das Glück, sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu wissen, sondern aus einer Vergangenheit als Erbe, Blüthe und Frucht herauszuwachsen und dadurch in seiner Existenz entschuldigt, ja gerechtfertigt zu werden" (266, 33 - 267, 2). Nietzsche bemerkt, daß diese antiquarische Betrachtung des Vergangenen nicht sehr dazu geeignet ist, „die Vergangenheit in reines Wissen aufzulösen" (267, 6-7). Wie im Fall der monumentalischen Historie werde ihr Unrecht getan, wenn „die Historie dem Leben dient und von Lebenstrieben beherrscht wird" (267, 9-10). Die Sicht des antiquarischen Historikers ist ja sehr beschränkt: „ < D > as Allermeiste nimmt er gar nicht wahr, und das Wenige, was er sieht, sieht er viel zu nahe und isolirt; er kann es nicht messen und nimmt deshalb alles als gleich wichtig und deshalb jedes Einzelne als zu wichtig. Dann giebt es für die Dinge der Vergangenheit keine Werthverschiedenheiten und Proportionen, die den Dingen unter einander wahrhaft gerecht würden; sondern immer nur Maasse und Proportionen der Dinge zu dem antiquarisch rückwärts blickenden Einzelnen oder Volke" (267, 19-26). Also dient die antiquarische Historie dem Leben vor allem in unkritischer Manier; wobei Leben hier an erster Stelle das Heutige im Sinne des Altherbekannten meint, anstatt, wie im Fall der monumentalen Historie, das Werdende und Künftige. Sobald

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sie nicht mehr vom „frische < n > Leben der Gegenwart [...] beseelt und begeistert" (268, 9) wird, verkommt sie.45 Von dem Moment an dient sie nur noch dem vergangenen Leben, und zwar so, daß das Heraufkommen neuen und höheren Lebens verhindert wird. Nach Nietzsche müssen das Werdende und der Handelnde zwangsläufig „etwelche Pietäten verletzen" (268, 31); weswegen die antiquarische Historie dazu neige, ihnen feindselig zu begegnen. Mithin ist die antiquarische Historie so oder so 'mprospektivischer Hinsicht ungerecht.

2.3. Die kritische Historie Nach Nietzsche braucht der Mensch neben der monumentalischen und der antiquarischen eine weitere Art der Historie. Um Leben und Handeln zu können, muß er die Kraft haben, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen" (269, 12-13), und, falls nötig, diese Kraft auch anwenden. Wie macht er das? Dadurch, „dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt und endlich verurtheilt" (269, 14-15). Denn mitunter „verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient" (269, 32 270, 3). Daraus geht hervor, daß die kritische Historie, anders als die monumentale und die antiquarische, nicht zur Verklärung des Vergangenen beiträgt, sondern vielmehr auf deren Entmythologisierung hinarbeitet. Sie erkennt in dem Bestehenden und Ehrwürdigen eben jenes unhistorische und retrospektiv ungerechte Moment, auf dem es basiert. In dieser Hinsicht nähert diese Art der Historie sich dem überhistorischen Gesichtspunkt, von dem weiter oben gehandelt wurde. Dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied. Denn die kritische Historie ergreift sozusagen Partei. Sie erkämpft das Recht des Werdenden und Kommenden — mithin „das Recht dessen, was jetzt werden soll" (254, 4). Sie macht dies, indem sie zeigt, daß sowohl das Vergangene als das Gegenwärtige, welche jeweils den Anschein der Berechtigung mit sich führen, ihrerseits auf eine Ungerechtigkeit zurückgehen.

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Getragen vom „frischen Leben der Gegenwart" (269, 9) — oder „im Gefolge einer mächtigen neuen Lebensströmung", also „von einer höheren Kraft beherrscht und geführt" (257, 21-14) — diene diese Art der Historie dem aktuellen Leben. Aber wie tut sie das? Dadurch, daß sie das Wehen des Geistes und das Strömen des Stromes institutionalisiert, um es nachher zu verwalten. Auf diese Art und Weise aber bewirkt sie als nächstliegendes Resultat die Verscheuchung des Geistes und die Kanalisation des mächtigen anfänglichen Stromes zum nutzbringenden Alltag. Im Endeffekt führt das wohl dazu, daß sie dem entflohenen oder verscheuchten Genius nachtrauert. Diesem Zug muß durch Entgegengesetztes vorgebeugt werden.

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Aber gerade indem die kritische Historie für das Werdende eintritt, ist sie hinsichtlich des Vergangenen und Gewordenen ungerecht. Sie stellt ihrerseits eine Gestalt desselben Impetus dar, den sie in bezug auf das Vergangene und Gegenwärtige ans Tageslicht fördert. Daher vermerkt Nietzsche: „Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urtheil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht" (269, 18-21). Das vom Leben verkündete Urteil ist immer ungerecht, „weil e < s > nie aus einem reinen Borne der Erkenntniss geflossen ist" (269,22-23). Nietzsche schließt, daß Leben und Ungerechtigkeit immer miteinander einhergehen — „Es gehört sehr viel Kraft dazu, leben zu können und zu vergessen, inwiefern leben und ungerecht sein Eins ist" (269, 27-28). Also ist das Urteil des Lebens immer ungerecht. Aber, so fügt Nietzsche jetzt hinzu, „in den meisten Fällen würde der Spruch ebenso ausfallen, wenn ihn die Gerechtigkeit selber spräche" (269, 23-25). Welche Gerechtigkeit ist hier gemeint? Es steht eine Instanz im Blick, die weder dem Vergangenen noch dem Heutigen noch dem Künftigen dient, sondern diese Perspektiven, deren eine jede beschränkt ist, vielmehr übersteigt. Zuvor hatte sich herausgestellt, daß die kritische Historie das Vergangene und vor allem das Bestehende auf das unhistorische, also retrospektiv ungerechte Moment seines Hervortretens zurückführt. Wie, so fragt man sich, kann die Kritik meistens mit dem Urteil der Gerechtigkeit als solcher übereinstimmen? Welche Instanz ist hier gemeint und wo ist sie beheimatet? Diese Fragen werde ich erst im Verlauf meiner Arbeit näher erörtern. Soviel sei hier aber schon bemerkt: Die häufige Übereinstimmung beider Urteile findet letztendlich darin ihren Grund, daß der Prozeß der Individuation in der Regel scheitert. Demnach dient die kritische Historie dem Werdenden und Kommenden; wie die monumentalische und antiquarische kann aber auch sie verkommen. Nietzsche zufolge ist diese Art, das Vergangene zu betrachten, nicht ohne Gefahr. Wir sind die Nachkommen früherer Generationen und somit ihrer Fehler und Irrtümer, und es ist uns nicht möglich, uns ganz von diesen Ketten zu lösen. Er bezeichnet die kritische Historie als den Versuch, „sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt" (270, 2122).46 Dieser Versuch ist aus zwei Gründen gefährlich: Weil es schwierig ist, „eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden" (270, 24), und „weil die zweiten Naturen meistens schwächlicher als die ersten sind" (270, 25). Er tröstet die Kämpfenden, die der kritischen Historie nachgehen, mit dem Gedanken, daß jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird (270, 32).

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Diese Formulierung findet sich weiter unten im Text von neuem. Nietzsche fordert den Leser auf: „ < V>ersuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch, dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein .Dazu' vorsetzest" (UB II: 319, 15-17).

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Auch mit Bezug auf diese drei Arten der Historie bleiben zunächst viele Fragen offen. Die Beziehung dieser Dreiteilung zu den zwei bisher ans Licht gebrachten Formen der Gerechtigkeit (der retrospektiven und der prospektiven) ist weitgehend unklar. Und auch das Verhältnis der drei Arten zueinander leuchtet nicht unbedingt ein. Das fünfte Kapitel des Hauptteils meiner Arbeit soll sich näher mit diesen Problemen befassen.

3. Die Gerechtigkeit und die historische Wissenschaft 3.1. Die Überwältigung des Lebens durch die wissenschaftliche Historie Zu Anfang seines vierten Kapitels vermittelt Nietzsche uns einen Überblick über die Dienste, „welche die Historie dem Leben zu leisten vermag" (271,1-2). Es heißt: „ < J > eder Mensch und jedes Volk braucht je nach seinen Zielen, Kräften und Nöthen eine gewisse Kenntniss der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische Historie: aber nicht wie eine Schaar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntniss das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Zweckes" (271, 3-11). Danach konfrontiert er diese Vorstellung, die im vorigen Paragraphen eruiert worden ist, mit der seiner Zeitgenossen. Ihm zufolge ist ihnen die Natürlichkeit der Beziehung zwischen Leben und Geschichteabhandengekommen. Die „Constellation von Leben und Historie" (271,26) habe sich verändert, und zwar „ —durch die Wissenschaft, durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll"

(UB 11:271,32-33). Die Betrachtung der geschichtlichen Ereignisse untersteht nicht mehr dem Leben, das Wissen um die Vergangenheit wird nicht länger von ihm gezügelt. Nein, alle Grenzpfähle sind umgerissen und der erschließende, aber auch umschließende Horizont ist außer Kraft gesetzt worden. Die Historie hat das Leben und das Wissen das Handeln überwältigt. Die Historie im Sinne der „Wissenschaft des universalen Werdens" (272, 7) trage als Wahlspruch: „fiat veritas pereat vita" (272, 9) — die Wahrheit soll werden, und wenn auch das Leben darüber zugrunde geht.47 Den vierten und fünften Abschnitt seiner Schrift widmet Nietzsche den katastrophalen Folgen dieser Überwältigung des Lebens durch die Historie, durch den Gedanken, die Historie müsse wissenschaftlich angegangen werden. Die Folgen 47

Übersetzung von P. Pütz (in: F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, München 1984, S. 355).

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könnten wohl auch kaum weniger als katastrophal sein, denn die Wissenschaft des universalen Werdens widerstreitet ja dem Gesetz des Lebens, demzufolge sich Wohlergehen und Glück alles Lebendigen am Unversehrtsein seines Horizonts entscheiden. Die Gerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt — Nietzsche geht dieser Frage in einem gesonderten Abschnitt nach, im sechsten.

3.2. Gerechtigkeit und Objektivität Die drei Varianten der dem Leben dienlichen Historie sind allesamt als ungerecht anzusehen. Diese Ungerechtigkeit geht auf die ihnen anhaftende Parteilichkeit zurück. Nach Nietzsche nahm die damalige Geschichtswissenschaft für sich in Anspruch, einer solchen Voreingenommenheit enthoben zu sein. Der moderne, wissenschaftliche Mensch behaupte, er sei objektiv, d.h. unparteiisch und deshalb sachgemäß in seinen Urteilen. Dieser Anspruch scheint zunächst unbestreitbar. Dennoch wird seine Berechtigung zum Problem, denn sie wird von Nietzsche mit der Frage nach der Gerechtigkeit als solcher verbunden. Nietzsche thematisiert die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Objektivität und stellt somit die metaphysische Vorstellung der Wahrheit in Frage.

(a) Die Gerechtigkeit verlangt die Wahrheit als Weltgericht Die historische Wissenschaft gibt sich objektiv, mithin als sachgemäß. Sie erhebt den Anspruch, die reinen Fakten darzustellen, und zwar ohne jede Hierarchie. Anders die Historie im Dienste des Lebens; sie retuchiert die Fakten und nimmt eine Auswahl vor. Um entscheiden zu können, ob die Objektivität auf ein im Vergleich zur lebensdienlichen Historie gesteigertes Verlangen nach Gerechtigkeit zurückgeht, erörtert Nietzsche „den Trieb und die Kraft zur Gerechtigkeit" (286, 9-10) und im Zuge deren die Gerechtigkeit als solche. Diese Frage beschäftigt ihn in einem längeren Absatz (286, 8 - 287, 9), in dem er zwischen dem Gerechtigkeits- und dem Wahrheitstrieb differenziert. 48 Wo liegt der Unterschied?

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Zwar könnte man anführen, daß es hier eher um den Unterschied zwischen Wahrheit/Gerechtigkeit einerseits und einer durchaus üblichen Praxis der Wahrheitsfindung andererseits geht (und trifft es auch zu, daß Nietzsche in diesem Absatz zwischen einer gerechten und einer objektiven Wahrheit unterscheidet), doch werden in der Folge gewissermaßen die Vorzeichen gegen einander eingetauscht. Dies deutet darauf hin, daß Nietzsche sich zunächst über den Unterschied zwischen objektiver Wahrheit und gerechter Wahrheit keineswegs im klaren ist. Vielmehr werden die Begriffe Wahrheit, Gerechtigkeit und Objektivität hier einer neuen Eichung unterzogen! Vergleiche das Ergebnis S. 44.

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Erstens bemerkt Nietzsche, daß die Kraft zur Gerechtigkeit rar ist: „ < I > n ihr vereinigen und verbergen sich die höchsten und seltensten Tugenden" (286, 10-11); und des weiteren: „ < D > ie Tugend der Gerechtigkeit ist [...] selten vorhanden, noch seltener erkannt und fast immer auf den Tod gehasst" (287,11-13). Weshalb ist diese Tugend, anders als der Wahrheitstrieb, so selten? Nach Nietzsche übersteigt sie die Kräfte des Menschen und ist sie daher eine unmögliche Tugend, an der der Gerechte sich tragisch verzehrt (286, 28). Denn wie der Wahrheitstrieb zielt der Gerechte auf Wahrheit, „doch nicht nur als kalte folgenlose Erkenntniss, sondern als die ordnende und strafende Richterin, Wahrheit nicht als egoistischen Besitz des Einzelnen, sondern als die heilige Berechtigung, alle Grenzsteine egoistischer Besitzthümer zu verrücken, Wahrheit mit einem Worte als Weltgericht" (UB II: 286, 31 - 287,1).

Dabei schont der Gerechte auch sich selbst nicht: „ < U > nerbittlich gegen sich selbst legt er Gewicht auf Gewicht" (286,14-15). Hier liegt der entscheidende Unterschied zum Wahrheitstrieb. Denn: „Nur insofern der Wahrhafte den unbedingten Willen hat, gerecht zu sein, ist an dem überall so gedankenlos glorificirten Streben nach Wahrheit etwas Grosses" (287, 3-5).

Der Trieb zur Gerechtigkeit ist unbedingt, weil unerbittlich gegen sich selbst. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich sowohl gegenüber der lebensdienlichen Historie als auch von der wissenschaftlichen. Indem ich den Unterschied herausarbeite, hoffe ich Nietzsches Vorstellung der Gerechtigkeit — „Wahrheit [...] als Weltgericht" (287,1) — erläutern zu können. Die wissenschaftliche Historie versteht sich laut Nietzsche als reine, folgenlose Erkenntnis.49 Deren Ideal nach wird auf das Bewerten und Beurteilen geschichtlicher Ereignisse verzichtet und beschränkt man sich auf die reine Anschauung. Beim reinen Anschauen handelt es sich — wenigstens dem Ideal nach — um ein solches Vorstellen, bei dem das Vorzustellende so vorgestellt wird, wie es an ihm selbst ist. Der Betrachter ist völlig passiv und registriert nur. Dieser historische Objektivismus zeigt somit zwei Merkmale auf: Erstens steht die eigene Perspektive nicht zur Diskussion und zweitens wird das Angeschaute weder bewertet noch beurteilt. Alle Fakten wiegen gleich schwer. Dagegen verlangt die Gerechtigkeit die Wahrheit als Weltgericht. Die historischen Daten sollen geradezu gewichtet werden, deren relativer Wert soll festgestellt werden, und darüber hinaus ist auch der eigene Standpunkt in die Überprüfung mit einzubeziehen. Hier stellt sich sofort die Frage des Maßstabs. Ehe wir dieser Frage nachgehen, messe ich zunächst diese Vorstellung der Gerechtigkeit an der der lebensdienlichen Historie. 49

U B II: 2 8 7 , 3 2 .

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Nach Nietzsche nehmen die drei Arten der Historie in retrospektiver Hinsicht jeweils eine Retuchierung des Vergangenen vor: Die monumentale Historie fördert ein überhistorisches Ideal, die antiquarische dient dem Bestehenden, dem Status quo, und die kritische Historie setzt sich für das Werdende und Kommende ein. Demnach handelt es sich in keinem dieser Fälle um eine kalte, folgenlose Erkenntnis. Das unterschiedliche Urteilen und Beurteilen geschieht niemals ohne Vorurteil, denn es geht aus der eigenen historischen Perspektive hervor, ist also durch das jeweils verteidigte oder zu erkämpfende Recht bedingt. Das heißt, daß die Urteile, welche von der lebensdienlichen Historie gesprochen werden, niemals unerbittlich gegen sich selbst sind, wie es von denen des Gerechten heißt.50 Nein, vielmehr sind sie hinsichtlich der eigenen Ungerechtigkeit blind. Daraus kann man schließen, daß die lebensdienliche Historie zwar in der ersten Hinsicht dem Ideal der Wahrheit als Weltgericht gerecht wird, in der zweiten aber hinter ihm zurückbleibt. Aber ist es denn überhaupt möglich, dieser Vorstellung ganz und gar gerecht zu werden, und so ja, wie? Darauf ist zu antworten: Ja, das ist möglich. Um diese Möglichkeit verstehen zu können, müssen wir uns allerdings erst eine klare Vorstellung davon erarbeiten, wie Nietzsche die wechselseitige Beziehung zwischen Leben und Historie sieht. Nietzsche versteht das Leben als eine „dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht" (269, 21). Aus der Unersättlichkeit des Sichbegehrens geht hervor, daß dem Leben eine Zwiespältigkeit innewohnt. Sie macht sich am ehesten am Gegensatz zwischen dem Bestehenden und dem Heraufkommenden bemerkbar. In dem Bestehenden begehrt das Leben diese bestimmte Gestalt seiner selbst. Andererseits strebt es immer wieder über solche Gestalten hinaus — mithin bewegt das Leben sich zwischen den Extremen der Selbstbehauptung und der Selbstüberwindung. Dient die antiquarische Historie dem Bestehenden und Altherbekannten, so fördert die kritische das Heraufkommende und Neue. Diese Arten der Historie dienen somit jeweils einer bestimmten Gestalt des Lebens und sind nicht an der Frage interessiert, ob einer solchen Gestalt überhaupt ein Interesse zukommt — es fehlt ihnen schlechterdings die Distanz zum Gegenstand ihres Bemühens. Anders steht es um die monumentalische Historie. Sie setzt sich für ein überhistorisches Ideal ein, nämlich für das Ideal der höchsten Gestalt des Lebens. Erst hier bekommt die Auseinandersetzung mit der Geschichte, im Sinne des Vergleichens und Bewertens, somit des Urteilens, einen erkennbaren Sinn, denn erst in dieser Auseinandersetzung findet die Wechselwirkung zwischen Leben und Historie statt. Die Wahrheit als Weltgericht bezieht sich auf die Höhen und Tiefen, die in diesem Verhältnis erlangt werden. Soll das heißen, daß Nietzsche an dieser Stelle nun doch einen überhistorischen Standpunkt befürwortet? Meint man mit dem Überhisto-

50

UB II: 286. 14-15.

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rischen das Abstrahieren von den Bedürfnissen der Zeit und von den Forderungen der Gegenwart, so ist diese Frage mit einem Ja zu beantworten. Der Gerechte erhebt sich ja über die Blindheit, die der lebensdienlichen Historie in bezug auf das Aktuelle anhaftet. Da aber eben diese Blindheit den Interessen des Lebens dient und in diesem Sinne notwendig ist, erweist sich die „Wahrheit als Weltgericht" in folgender Hinsicht als eine unmögliche Tugend: Ihr Bestreben widerstreitet dieser Lebensbedingung. Daher Nietzsches Diagnose, daß der Gerechte „sich an einer unmöglichen Tugend tragisch verzehrt" (286, 28-29). Freilich ist es fraglich, ob diese Ansicht auch zutrifft. Denn obwohl es stimmen mag, daß das menschliche Individuum einer solchen Wahrheit nicht gewachsen ist und daß sein Wohlergehen von ihr beeinträchtigt wird, so muß das nicht heißen, daß sie als solche unmöglich ist. Denn auch die Wahrheit als Weltgericht dient dem Leben. Zwar dient sie nicht den Interessen des Status quo und ebensowenig denjenigen des aktuell emporstrebenden Lebens, steht also nicht im Dienst „eines Menschen, eines Volkes, < o d e r > einer Cultur" (257, 31), doch fördert sie das Leben als solches — sie steht diesbezüglich mit der monumentalen Historie in einem Bund. Nietzsche ist also der Ansicht, daß das Leben den Gerechten zu seiner Selbstverwirklichung braucht. Am Ende seines sechsten Abschnitts stellt sich heraus, daß Gerechtigkeit durchaus möglich ist. Allerdings steht nicht Zeiten und Generationen das Richteramt zu, sondern nur hervorragenden Einzelnen — Nietzsche: „ < N > ur Einzelnen und zwar den Seltensten fällt einmal eine so unbequeme Mission zu"

(293, 24-25). Weiter unten heißt es dazu: Curaus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten" (UBII: 293, 34-294,1). Bei dieser „höchsten Kraft" handelt es sich um die ,,bewusste[.] Kraft richten zu dürfen" (287,24), welche auf die unhistorische Erfahrung zurückgeht. Nuraufgrund dieser Erfahrung kennt der Gerechte das „Grosse", und kann er es wiedererkennen. Kurzum: „Gleiches durch Gleiches! Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch nieder" (294, 4-5).

(b) Zu Nietzsches Verständnis der Objektivität Im Rahmen seiner Erläuterung der Gerechtigkeit als solcher geht Nietzsche der Frage nach, ob jene vielgerühmte Stärke des modernen Menschen — gemeint ist dessen Objektivität — aus einem gesteigerten Bedürfnis und Verlangen nach Gerech-

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tigkeit hervorgegangen ist oder vielmehr anderer Herkunft sei.51 Zunächst unterscheidet er zwischen mehreren Kategorien dieses Idealbildes, fragt sich aber dann: „ < S > ollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objectivität eine Illusion mit unterlaufen?" (289,30-31)

Nach Nietzsche deutet diese höchste und idealtypische Form der Objektivität auf jenen Zustand, in dem der Historiker „ein Ereigniss [...] so rein anschaut, dass es auf sein Subject gar keine Wirkung thut" (289, 33-34). Er bezieht diese Vorstellung auf „jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse, mit dem der Maler in einer stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner oder auf bewegter See, sein inneres Bild schaut < und dabei seine Person vergisst > " (290, 1-4). Das heißt: „ < Man verlangt [...] vom Historiker die künstlerische Beschaulichkeit und > das völlige Versunkensein in die Dinge" (290, 4-5).52 Laut Nietzsche ist es jedoch ein Fehlschluß, zu folgern, daß man sich auf diesem Wege dem „empirische < n > Wesen der Dinge" (290, 7) nähere: — „Oder sollten sich in jenen Momenten die Dinge gleichsam durch ihre eigene Thätigkeit auf einem reinen Passivumabzeichnen, abkonterfeien,abphotographiren?" (290,7-10). Ermeint, daß ein solcher Moment vielmehr ein „Compositionsmoment allerhöchster Art" (290,14) ist, der „wohl ein künstlerisch wahres", aber keinesfalls ein „historisch wahres Gemälde" (290, 15) hergibt. Denn in einem solchen Moment äußert sich der „Kunsttrieb" des Menschen, „nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb" (290, 21-22). Woraus Nietzsche schließt: „Objectivität und Gerechtigkeit haben nichts mit einander zu thun" (290, 22-23). Und er fügt noch hinzu: „Es wäre eine Geschichtsschreibung zu denken, die keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wahrheit in sich hat und doch im höchsten Grade auf das Prädicat der Objectivität Anspruch machen dürfte" (290, 23-26). Diese Folgerung überrascht an sich nicht. Zuvor wurde ja schon ersichtlich, daß es zwischen dem Gerechtigkeitstrieb und dem Ideal der Objektivität keine Berührungspunkte gibt. Überraschend ist vielmehr, daß hier gleichsam die Vorzeichen gegen einander eingetauscht werden. Nietzsche versteht die Objektivität als solche jetzt als „jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse" (290, 1-2). Dagegen gilt ihm der Wahrheits- und Gerechtigkeitstrieb als das Urteilen gemäß der „gemeinen empirischen Wahrheit" (290, 25) — also als Objektivität in dem vorhin genannten Sinn. Wie macht sich diese vom Kunsttrieb geführte Objektivität bemerkbar? Nietzsche: „In dieser Weise die Geschichte objectiv denken ist die stille Arbeit des Dra-

51 52

Siehe UB II: 285, 21-28. Betreffs der Textsteilen zwischen schrägen Haken vergleiche 14: 69.

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matikers; nämlich Alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wann sie nicht darinnen sei" (290, 16-20). Der objektive Blick des Historikers legt der Empirie eine Einheit (290, 19) und den Ereignissen eine Notwendigkeit (291, 6-7) zugrunde. Das heißt, der Historiker mißt ihnen eine Gesetzmäßigkeit bei. Nietzsche zufolge dürfen wir aber nicht schließen, ein Gesetz sei das Ziel der historischen Wissenschaft. Der Sinn der Historie liege nicht in dergleichen „allgemeinen Gedanken" (292, 18-19). Nein, „ihr Werth [...] ist < d e r > , ein bekanntes, vielleicht gewöhnliches Thema, eine Alltags-Melodie geistreich zu umschreiben, zu erheben, zum umfassenden Symbol zu steigern und so in dem OriginalThema eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit ahnen zu lassen" (292, 20-24). Dies setzt auf Seiten des Historikers „eine grosse künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüberschweben, ein liebendes Versenktsein in die empirischen Data, ein Weiterdichten an gegebenen Typen" (292, 25-27) voraus. Dazu, so bemerkt er, „gehört allerdings Objectivität, aber als positive Eigenschaft", jedoch sei die von den Historikern behauptete Objektivität oft „nur eine Phrase" (292, 28-29). Demnach unterscheidet Nietzsche zwischen positiver Objektivität und Objektivität als Phrase. Die positive Objektivität bedeutet „jenen künstlerischen Zustand [...], in welchem das Subject schweigt und völlig unbemerkbar wird" (293, 2-3) — etwas weiter oben sprach er von „jene < m > ästhetische < n > Phänomen", von „ j e n e < m > Losgebundensein vom persönlichen Interesse" (290, 1-2). Die Objektivität als Phrase dagegen betrifft den Fall, daß der Historiker und sein Objekt einander „gar nichts angehe " (293, 6-7). In dieser Gestalt gleicht die Objektivität sich der Wahrheit als „,reine < r > , folgenlose < r > ' Erkenntniss" (287, 32) an. Anders die positive Objektivität, sie kommt wohl eher der Wahrheit als Weltgericht gleich. Nietzsche schreibt: „Sucht nicht den Schein der künstlerischen Kraft, die wirklich Objectivität zu nennen ist, sucht nicht den Schein der Gerechtigkeit, wenn ihr nicht zu dem furchtbaren Berufe des Gerechten geweiht seid" (UB II: 293,18-21).

Demnach kann Nietzsches früherer Satz, „Objectivität und Gerechtigkeit haben nichts mit einander zu thun" (290, 22-23), folgendermaßen verstanden werden: Erstens: Objektivität „als positive Eigenschaft" oder „künstlerische Kraft" und Gerechtigkeit als „,reine, folgenlose' Erkenntniss" haben nichts mit einander zu tun. Oder aber zweitens: Objektivität „als Phrase", also jener Zustand, in dem der Historiker und sein Objekt einander „gar nichts angehe < n > ", und Gerechtigkeit („Wahrheit als Weltgericht") haben nichts mit einander zu tun. Die Frage stellt sich allerdings sofort, wie die positive Form der Objektivität und die Wahrheit als Weltgericht sich zueinander verhalten? Geht jene aus dieser oder diese aus jener hervor, oder sind sie gar synonym?

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Nach Nietzsche muß die Person, die „zum furchtbaren Berufe des Gerechten geweiht" (293, 20-21) ist, ein spezifisches Zusammengehen von Passivität und Aktivität aufzeigen. Zwar soll sie völlig passiv bleiben und sich als „unerbittlich gegen sich selbst" (286, 14-15) erweisen, sie ist aber dennoch dazu aufgefordert, die „Wahrheit als Weltgericht" (286, 1) herbeizuführen. Die positive Objektivität, die dafür gefragt sei, verlangt zwar ein „Losgebundensein vom persönlichen Interesse" (290,1-2), nichtsdestoweniger handelt es sich um ein „Compositionsmoment allerhöchster Art" (290,14). Er nimmt sich für Nietzsche geradezu als der „kräftigste und selbstthätigste Zeugungsmoment" (290,12-13) aus. Demnach beantwortet Nietzsche die Frage nach der Beziehung zwischen positiver Objektivität und Gerechtigkeit wie folgt: Positive Objektivität und Gerechtigkeit bezeichnen ein und dasselbe Geschehen, das ein Nebeneinander von Passivität53 und Aktivität54 aufzeigt.55 Nietzsche zufolge bedarf es dazu der Führung durch eine „höheref.] Kraft" (257, 23). Daß Nietzsche dieser Führung große Bedeutung beimißt, geht auch aus dem Anfang des siebten Abschnitts seiner Betrachtung hervor: „Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Consequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können. Die historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie wirklich und in reiner Gesinnung geübt wird, ist deshalb eine schreckliche Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Falle bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten" (UB II: 295, 25-32).

Jener ungebändigte „historische Sinn" (295, 25) und diese „historische Gerechtigkeit" (295, 28-29) deuten m. E. auf die wissenschaftliche Historie, die den wissenschaftlichen und den überhistorischen Standpunkt in sich vereint.56 Ihre „historische Nachrechnung" (296,9) führt dazu, daß die „pietätvolle Illusions-Stimmung, in der Alles, was leben will, allein leben kann, nothwendig zerstiebt" (296, 11-12). Denn sie weist überall den blinden Impetus des Lebens auf. Diese „historische

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Vergleiche: „ < J > e n e s ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse" (290, 1-2), „jene< r > künstlerische!.] Zustand [...], in welchem das Subject schweigt und völlig unbemerkbar wird" (UB II: 293, 2-3). Vergleiche: „ < J e n e r > selbstthätigste Zeugungsmoment" (290, 13), „ < j e n e > alle< r > Grenzsteine" (UB II: 286, 34). Dieses Geschehen zeigt Parallele zur intellektuellen oder intellektualen Anschauung des Idealismus auf — aber auch zum Heideggerschen Ereignis. Meine Folgerung, daß die wissenschaftliche Historie sich aus dem Zusammengehen der historischen mit der überhistorischen Perspektive ergibt, geht einmal auf dasjenige zurück, was S. 29 f. in betreff des überhistorischen Aspekts gesagt wurde, und trägt dann demjenigen Rechnung, was S. 40 f. mit Bezug auf den wissenschaftlichen Gesichtspunkt angeführt wurde. Das „Uebermaass" (279, 9) ist die Folge dieses Zusammengehens und keineswegs die Ursache. Die tiefere Ursache für das Zusammengehen wiederum liegt im Egoismus (vergleiche dazu im folgenden S. 210 f. und S. 233 ff.).

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Gerechtigkeit" muß im Zaum gehalten werden und sollte der „Herrschaft und obersten Führung < des Lebens > " (271,10-11) unterstehen. Dazu heißt es: „Wenn hinter dem historischen Triebe kein Bautrieb wirkt, wenn nicht zerstört und aufgeräumt wird, damit eine bereits in der Hoffnung lebende Zukunft auf dem befreiten Boden ihr Haus baue, wenn die Gerechtigkeit allein waltet, dann wird der schaffende Instinct entkräftet und entmuthigt" (UB II: 295, 32 - 296,4).

Der hier erwähnte „Bautrieb" (296, 1) meint jene „höhere Kraft" (257, 23) einer „mächtigen neuen Lebensströmung" (257,21), der der Historiker unterstehen sollte. Freilich verhält es sich mit der Gerechtigkeit folgendermaßen: Einerseits ist sie als Tugend dem „ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch" (286, 30) zuzurechnen; andererseits handelt es sich bei diesem Exemplar um ein Instrument, das vom Leben, das im Prozeß der Selbstverwirklichung begriffen ist, gebraucht wird. Dies bedeutet, daß der Weg, „den das Grosse zur Unsterblichkeit zu gehen hat", „durch menschliche Gehirne < , > < d > urch die Gehime geängstigter und kurzlebender Thiere" (259,25-27) führt. Von ihnen behauptet Nietzsche, daß sie für gewöhnlich nur eines wollen: „ < L > eben um jeden Preis" (259, 30). Infolge der Zwiespältigkeit, die allem Lebendigen anhaftet, erweist sich aber gerade das als eine komplizierte und labyrinthisch anmutende Sache. Der Mensch nimmt sich noch am ehesten als Spielzeug der gegensätzlichen Triebe aus und gleicht in dieser Hinsicht dem Tier. Nach Nietzsches Auffassung bleibt die übergroße Mehrzahl der menschlichen Individuen in diesem Kreis gefangen. Nur einem Einzelnen gelinge es zuweilen, diesen Bannkreis zu sprengen, „zur allerseltesten < Tugend > der Gerechtigkeit emporzusteigen" (286, 24) und so die Erlösung der Natur herbeizuführen. Diese Vorstellung der Gerechtigkeit als der „höhere < n > Kraft", durch die die lebensdienliche Historie getragen werden muß, nimmt Nietzsches spätere Vorstellung der Gerechtigkeit — Gerechtigkeit als „höchster Repräsentant des Lebens selber" — vorweg.57

3.3. Abermals von der Ungerechtigkeit der wissenschaftlichen Historie Sodann lenkt Nietzsche die Aufmerksamkeit erneut auf die wissenschaftliche Historie. Er nähert sich der von ihr prätendierten Objektivität und der von ihr bean57

Vergleiche dazu folgende Notiz aus dem späten Nachlaß: „[...] Gerechtigkeit als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise aus den Werthschätzungen heraus: höchster Repräsentant des

Lebens selber [...]" (11: 25 -484]; 11: 141, 8-10).

Prolegomena

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spruchten Gerechtigkeit nunmehr aus der Perspektive der auf diesem Wege gewonnenen Einsicht in die Gerechtigkeit als solche. Im siebten Kapitel seiner Untersuchung legt Nietzsche dar, weshalb die „historische" (295,28-29) oder auch „reine Gerechtigkeit" (296, 6) die Verrüttung des Lebens herbeiführt. Ihm zufolge handelt es sich hier um die Vermählung der retrospektiven mit der abstrakten Gerechtigkeit. Die retrospektive Gerechtigkeit gibt sich in der Verehrung vorgeblicher Tatsachen zu erkennen, die abstrakte in der angeblichen Objektivität, die jede Bewertung und etwaiges Auslesen der Daten von vornherein verbietet. Aus der überhistorischen Perspektive gehen ja alle Fakten als Äußerungen einer unhistorischen Macht, also als des immer blinden Impetus des Lebens, hervor. 58 Nietzsche führt aus, daß die Allianz zwischen der retrospektiven und der abstrakten Gerechtigkeit eine fatale ist, weil durch sie das Leben verkommt. Denn die retrospektive, antiquarische Sicht hat sich zwar im Hinblick auf das Werdende und Heraufkommende als ungerecht erwiesen, dient aber, indem sie diese hegt und pflegt, wenigstens der bestehenden Gestalt des Lebens. Gerade diese „pietätvolle IllusionsStimmung" wird von der überhistorischen Perspektive aufgewühlt, denn sie fördert all das Falsche, Rohe, Unmenschliche, Absurde und Gewaltsame (296,10-11), welches den historischen Tatsachen zugrunde liegt, an den Tag. Dadurch wird der unbedingte Glaube an das Vollkommene und Rechte (296, 14-15) vernichtet. Und zwar — und hierin liegt der entscheidende Unterschied zu der Gerechtigkeit, die sich um die „Wahrheit als Weltgericht" (287, 1) bemüht — ohne daß etwas Neues an seine Stelle gesetzt wird. Der historischen Gerechtigkeit fehlt somit der Bau- und Kunsttrieb der wahrhaften Gerechtigkeit. Ihr fehlt das kreative Moment. Infolge dessen ist „ihr Richten [...] immerein Vernichten" (295,31-32). Damit ist nochmals die Gefahr betont, die eine Historie, welche nicht durch eine höhere Kraft oder einen Bautrieb geführt wird und die also nicht der Herrschaft und oberster Führung des (aufsteigenden) Lebens59 untersteht, in bezug auf eben dieses Leben darstellt. Nach Nietzsche fehlt der wissenschaftlichen Historie offensichtlich für das schwere und schwierige Amt einer ordnenden und strafenden Richterin (286, 32) die Kraft. Mithin sei ihr gesteigertes historisches Richterbedürfnis (304, 9) nicht auf die bewußte Kraft, richten zu dürfen, zurückzuführen, sondern vielmehr als Äußerung einer blinden Begierde, Richter zu sein (287, 24-25), zu betrachten. Woher kommt dieses Verlangen, woraus geht es hervor? Mit dem Ursprung dieses Verlangens befaßt Nietzsche sich im achten Abschnitt seiner Betrachtung — vorerst ohne ihm auf den Grund zu kommen. Zwar zeigt er 58 59

Vergleiche hier S. 29 und 31 f. Vergleiche UB II: 271, 10-11.

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verschiedene bedeutsame Momente auf (etwa das der christlichen Tradition und den Einfluß der Philosophie Hegels), erwägt aber selbst die Möglichkeit, daß es sich dabei vielmehr um Begleiterscheinungen oder Folgen als um die eigentliche Ursache handelt. Letztere wird erst im neunten Abschnitt ermittelt. Allerdings wird sie bereits im dritten, sechsten und siebten Abschnitt gestreift, wenn von den vielen „Hülfszeitwörtern des Egoismus" (300, 34 - 301,1) die Rede ist. Demnach liegt der Hegemonie der Historie der menschliche Egoismus zugrunde. Dies trifft zwar zu, aber dennoch, so hoffe ich im folgenden darzulegen, sollten wir dahingehend differenzieren , daß das Richterbedürfnis mit einer tiefen Gleichgültigkeit einhergeht. Es wird noch zu zeigen sein, daß die historischen Richter ständig damit beschäftigt sind, die Möglichkeit eines sinn- und verdienstvollen Pathos zu leugnen — ihrer Ansicht nach muß das Pathos, wo immer es sich auch findet, gerichtet werden. 60

4. Vom Spätling zum Erstling Den neunten Abschnitt widmet Nietzsche dem Ziel der derzeitigen Bildung, das harsch gerügt wird. Nietzsche stellt dem damaligen Ideal der historischen Gerechtigkeit die Historie im Dienste des Lebens als solches gegenüber und tritt für die Wahrheit als Weltgericht ein. Aber ehe ein solches Ideal herbeigeführt werden kann, muß das Leben gesunden, indem es zum Gleichgewicht zwischen dem Historischen und dem Unhistorischen zurückfindet. Kann die Historie dazu einen Beitrag leisten? Mit dieser Frage setzt Nietzsche sich im zehnten und letzten Abschnitt seiner Betrachtung auseinander. Er versucht darzulegen, wie der historische Sinn gezügelt werden könne, und auszuführen, weshalb dies berechtigt sei.

4.1 Die Aufgabe der Geschichte: Der Kreis wird geschlossen Im neunten Abschnitt veranschaulicht Nietzsche seine Analyse am Beispiel der Philosophie E. von Hartmanns und verknüpft damit eine Kritik des Darwinismus. Seine scharfe Kritik an Hartmann ist dahingehend zu verstehen, daß dieser in den von Nietzsche angeführten Stellen zwar die Thematik streift, in der das eigentliche Anliegen der Frühphilosophie Nietzsches liegt — stichwortartig: „De < n > Weinberg des Herrn! D e < n > Prozess! Die Erlösung" 61 —, diese aus Nietzsches Sicht aber ins Parodistische zu verzerren scheint. 62

60 61 62

Vergleiche dazu S. 233 ff. dieser Arbeit. UB II: 315, 23. E. von Hartmann veröffentlichte 1868 seine Philosophie des Unbewussten.

Versuch einer Welt-

Prolegomena

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Nachdem Nietzsche diese Vorstellungen zurückgewiesen hat, wirft er einen Blick in die Zukunft: „Es wird die Zeit sein, in welcher man sich aller Constructionen des Weltprozesses oder auch der Menschheits-Geschichte weislich enthält, eine Zeit, in welcher man überhaupt nicht mehr die Massen betrachtet, sondern wieder die Einzelnen, die eine Art von Brücke über den wüsten Strom des Werdens bilden. Diese setzen nicht et wa einen Prozess fort, sondern leben zeitlos-gleichzeitig, Dank der Geschichte, die ein solches Zusammenwirken zulässt, sie leben als die Genialen-Republik, von der einmal Schopenhauer erzählt; ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort. Die Aufgabe der Geschichte ist es, zwischen ihnen die Mittlerin zu sein und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen. Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren." (UB II: 317,10-26) 6 3

Die Geschichte gestalten nicht die Massen, sondern die Einzelnen, also jene „grossen Kämpfer gegen die Geschichte, das heißt gegen die blinde Macht des Wirklichen" (311, 15-16), von denen Nietzsche am Ende des achten Abschnitts spricht. Sie sind die „eigentlichen historischen Naturen [...], die sich um das ,So ist es' wenig kümmer < n > , um vielmehr mit heiterem Stolze einem ,So soll es sein' zu folgen" (311, 18-20). Das „zu folgen" gibt zu erkennen, daß das „,So soll es sein'" nicht aus einem privaten oder subjektiven Willensakt hervorgeht, sondern vielmehr dem Spruch oder dem Urteil der Gerechtigkeit selber (269, 24-25) entspricht. Jene seltenen Einzelnen leisten ihm Folge und gestalten so die Gerechtigkeit. Die „Aufgabe der Geschichte" besteht darin, zwischen den großen Einzelnen „Mittlerin zu sein" und so „immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen" (317, 22-24). Nach Nietzsche liegt das Ziel der Geschichte nicht in ihrem wie auch immer konzipierten Ende, sondern wird es in den „höchsten Exemplaren < der Menschheit > " (317,25-26) immer wieder von neuem erlangt. Unsere Erörterung des sechsten Abschnittes veranlaßt zu dem Schluß, daß mit diesen „höchsten Exemplaren" die „Gerechten" gemeint sind. Der Gerechte — also derjenige, der „zu dem furchtbaren Berufe des Gerechten geweiht" (293,20-21) worden ist — ist Nietzsche zufolge ja „das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch" (286, 29-30). Hiermit hat Nietzsche nun den Kreis der Geschichte geschlossen: Das Ziel der Geschichte, also der Bewegung und Bewegtheit des Lebens (jener dunklen, trei-

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anschauung. Die Arbeit hat damals außerordentlich viel Widerhall gefunden und hat zeitweilig eine breite Wirkung erzielt — auch in den Niederlanden. Mit der Gestalt E. von Hartmann und Nietzsches Verhältnis zu ihr befassen sich J. Salaquarda. .Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 1-45), S. 30-45 und F. Gerratana. ,Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869-1874)' (in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 391-433). Vgl. UB III: 383, 32 -384, 1; des weiteren PhZG: 802, 3-6.

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Geschichte und Gerechtigkeit

benden, unersättlich sich selbst begehrenden Macht)64 liegt, wie gesagt, in den höchsten Exemplaren, in jenen seltenen Individuen, denen es gelingt, die allerseltenste Tugend der Gerechtigkeit sich zu erarbeiten. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte sollte sich, seiner Meinung nach, auf diese Einzelnen konzentrieren. Aufgabe der Historie sei es, „zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben" (317, 23-24) und dazu beizutragen, daß die Menschen sich von der „blinde < n > Macht des Wirklichen" (311, 16-17) befreien und so die Selbstverwirklichung des Lebens voranbringen. Aber jener Moment sei noch nicht gekommen. Zuerst müsse das Gleichgewicht zwischen Historie und Leben, zwischen dem Historischen und dem Unhistorischen wiederhergestellt werden. Wie soll dies vonstatten gehen?

4.2. Die Aufgabe für das Individuum Nietzsche meint, wozu die Welt da ist, wozu die Menschheit da ist, sollte den Menschen einstweilen nicht kümmern. Die Ausrichtung auf das Ziel sei an anderer Stelle anzusetzen: „ < A > ber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu' vorsetzest, ein hohes und edles .Dazu'" (319,13-18).

Und er fährt fort: „Gehe nur an ihm zu Grunde — ich weiss keinen besseren Lebenszweck, als am Grossen und Unmöglichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen" (319,13-20).

Er verweist hier einmal mehr auf die Tugend der Gerechtigkeit oder auch auf den Gerechten, der „sich an < s > einer unmöglichen Tugend tragisch verzehrt" (286,2829). Nach Nietzsche wirkt die damalige Bildung dem Heraufkommen des Großen entgegen, weil sie gegen das Gesetz des Lebens verstößt; die historische Gerechtigkeit tötet den „schaffende < n > Instinct" (296, 4) und schürt das Heraufkommen einer egoistischen Einstellung, die nur auf die eigenen Interessen ausgerichtet ist und so einer Selbstgerechtigkeit gleichkommt. Für den Fall, daß das Gesetz des Lebens eine weitere Generation hindurch mit Füßen getreten werde, sagt Nietzsche katastrophale Folgen voraus: „ < S > o soll es Niemanden Wunder nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsuchtzu Grunde geht, zuerst nämlich auseinanderfällt und aufhört Volk zu sein: an dessen Stellen dann vielleicht Systeme von Einzelegoismen,

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UB II: 269, 21.

Prolegomena

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Verbrüderungen zum Zweck raubsüchtiger Ausbeutung der Nicht-Brüder und ähnliche Schöpfungen utilitarischer Gemeinheit auf dem Schauplatze der Zukunft auftreten werden" (UB II: 319, 25-32)

— womit er wohl aufs genaueste den eigentümlichen Charakter unserer heutigen Demokratien erfaßt hat. Ihm zufolge wurde diese Tendenz seinerzeit mit Absicht gefördert, damit der Jugendliche auf den kürzesten Weg zum nützlichen Teilnehmer am System des klugen Egoismus heranreife. 65 Nietzsche: „ < M > an decretirt: der Egoismus soll unser Gott sein" (UB II: 321, 27).

Angesichts dieser Lage der Dinge fragt man sich, wie Nietzsche gedenkt, ihr entgegenzutreten. Ist es noch möglich, jene Ausschweifungen des historischen Sinnes, jene übermäßige Lust am Prozeß auf Unkosten des Seins und des Lebens und jenes besinnungslose Verschieben aller Perspektiven umzubeugen?66

4.3. Vom Spätling zum Erstling Im zehnten und letzten Abschnitt seiner Untersuchung versucht Nietzsche zu zeigen, wie der „historische Sinn" gezügelt werden könne. Außerdem führt er aus, weshalb dies legitimiert sei. Er nennt den Grund, auf dem seine Vorstellung, daß das Verhältnis zwischen dem Leben und der Historie auf die schiefe Bahn geraten ist, basiert: „Ich < vertraue > der inspirirenden Macht, die mir anstatt eines Genius das Fahrzeug lenkt, ich vertraue der Jugend, dass sie mich recht geführt habe" (324,3032). Der Satz läßt das Fragment B1 des Parmenides anklingen, erinnert also an die Fahrt hinauf zum Himmeldach, zum Sitz der Göttin Wahrheit, an deren Pforte die Dike wacht.67 Das Gespann der Nietzscheschen Karosse wird von der „Jugend" geführt — der Terminus bedeutet das unhistorische, d. h. das erst im Aufkommen begriffene Leben. Diese Jugend stellt er dem Greis, dem Spätling der Zeiten gegenüber. Nietzsche zufolge ist sie mit der „hellseherische < n > Gabe der Natur" (329, 28-29) beglückt. Dank dieser Gabe erkenne die Jugend die Leiden, an denen das Leben krankt, nämlich das pathologische Phänomen der historischen Krankheit. Vorher habe ich, anläßlich des unhistorischen Momentes, betont, daß sich der Impetus des Lebens zunächst in retrospektiver Hinsicht und überdies bezüglich seines je eigenen Wertes oder Unwertes als blind erweist. Nichtsdestoweniger wird von

65 66 67

UB II: 321, 30. UB II: 319, 1-3. Im vierten Vortrag der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten verweist Nietzsche auf den Phaidros (253 d-e) — siehe ZBA: 730, 18 ff.

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Geschichte und Gerechtigkeit

j enem wissenlosen und gewissenlosen Moment eine Art Wissen bezeugt und zwar ein hellseherisches. Die Folgerung liegt nah, daß dieses hellseherische Wissen sich auf die hier von Nietzsche aufgeführte „hellseherische Gabe der Natur" (329, 28-29) stützt, daß also der Jugendliche dank dieser Gabe der Vorhersehung und von seinen diesbezüglichen Vorstellungen angeregt „das Recht dessen, was jetzt werden soll" (254, 5) erkämpft. In gewissem Sinne trifft dies auch zu. Dennoch sollte man die Differenz zum tatsächlichen Ziel der Geschichte nicht übersehen. Mit dem heilkräftigen Instinkt derselben Natur errate die Jugend „die Wundsäfte und Arzneien gegen die historische Krankheit, gegen das Uebermaass des Historischen" (329, 33-34). Gemeint sind „das Unhistorische und das Ueberhistorische" (330, 2-3), also zum einen die Kraft zu vergessen — zum anderen aber nicht die zur Resignation und Gleichgültigkeit anregende Erkenntnis, die im ersten Abschnitt der Betrachtung genannt wurde, sondern die Erinnerung an wahrhaft Großes. Nietzsche: „Mit dem Worte ,das Unhistorische' bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschliessen; ,überhistorisch' nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion." (UB II: 330,

6-11)68

Er ist allerdings der Ansicht, daß sich infolge dieser Mittel Nebenwirkungen einstellen und daß sie ihrerseits Leiden herbeiführen werden. Denn wegen der Überwältigung des Lebens durch die Historie meint der Mensch, daß der Sinn seiner Existenz in dem liegt, was von E. v. Hartmann als die „, volle[.] Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozess'" (324, 3) auf den Begriff gebracht wurde. Aber eben dieser Sinn geht dem Menschen verloren, wenn er zur Arznei des Vergessens greift. In dem Fall kann der Mensch seine Identität nicht länger auf eine Stelle im Weltprozeß zurückführen, und er sieht sich gezwungen, seine schaffenden Instinkte und die hellseherische Gabe seiner Natur zu bemühen. Doch sind gerade sie infolge der historischen Krankheit arg angegriffen, und der solchermaßen erkrankte Mensch wagt es nicht, sich auf sie zu verlassen. Demnach leidet er an der „ Krankheit der Worte", das heißt, er ist „ohne Vertrauen zu jeder eignen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist" (329, 4-6). Als zweites Mittel gegen die historische Krankheit erwähnt Nietzsche die Erinnerung an wahrhaft Großes. Damit ist dasjenige gemeint, was „zeitlos-gleichzeitig" (317,16) über dem geschichtlichen, vom unbewältigten Pathos beherrschten Raum schwebt und demnach den „öden Zwischenräume < n > der Zeiten" (317, 19) ent68

Vergleiche 7: 29 [8]; 7: 626, 3-10: „[...] Das Wahrste in dieser Welt — die Liebe Religion und die Kunst. Erstere sieht durch alle Verstellungen und Maskeraden hindurch auf den Kern, das leidende Individuum und leidet mit, letztere tröstet, als praktische Liebe, über das Leiden, indem sie von einer anderen Weltordnung erzählt, und diese verachten lehrt. Es sind die drei unlogischen Mächte, die sich als solche bekennen. [...]"

Prolegomena

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rönnen ist. Auch dieses Mittel wird dem Kranken zusetzen. Denn es wird sich herausstellen, daß er keineswegs das Ziel und der Höhepunkt der Geschichte ist, sondern vielmehr ein bedauernswerter Kranker, der erst gesunden und zu seiner „plastische < n > Kraft" (329,25) zurückfinden muß, ehe er die Auseinandersetzung mit dem Geschichtlichen wieder wird verkraften können. Doch woran erkennt man eine solche Gesundung? Nietzsche: „ < D > as gewährleistende Anzeichen ihrer eignen kräftigeren Gesundheit soll gerade dies sein, dass sie, diese Jugend nämlich, selbst keinen Begriff, kein Parteiwort aus den umlaufenden Wort- und Begriffsmünzen der Gegenwart zu Bezeichnung ihres Wesens gebrauchen kann, sondern nur von einer in ihr thätigen kämpfenden, ausscheidenden, zertheilenden Macht69 und von einem immer erhöhten Lebensgefühle in jeder guten Stunde überzeugt wird" (UB II: 331, 25-32).

Erst dann, wenn der Prozeß der Genesung wird vollendet sein, wird es wieder wahrhafte Menschen geben, die imstande sind, „von Neuem Historie zu treiben und sich der Vergangenheit unter der Herrschaft des Lebens [...] zu bedienen" (332, 20)70. Sie werden „Erstlinge" sein. Der gesunde Mensch wird, wie die Jugend, nur von einer in ihm tätigen kämpfenden, ausscheidenden, zerteilenden Macht überzeugt werden. Diese Macht ist das Leben selbst. Aber falls der Mensch sich von ihm führen läßt, so heißt das nicht, daß er damit schon die Tugend der Gerechtigkeit erlangt hätte. Denn das Leben ähnelt einer „dunkle < n > , treibende < n > , unersättlich sich selbst begehrende < n > Macht" (269, 21) und zeigt einen Zwiespalt auf: das Bestehende ist jeweils im Kampf mit dem Heraufkommenden. Die Tugend der Gerechtigkeit wird erst dann praktiziert, wenn der Mensch, der in erster Linie nur eines will, nämlich „leben um jeden Preis" (259, 30), sich in den Dienst des Lebens als solches stellt, das heißt, erst dann, wenn er in der Mitte dieser Zwiespältigkeit einkehrt und so die Versöhnung herbeiführt — nur der Gerechte ist wahrhaft Erstling.

Schlußbetrachtung: Der Mensch als Doppelwesen In diesen Prolegomena habe ich darzulegen versucht, daß und wie Nietzsches Zweite Unzeitgemäße Betrachtung der Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Gerechtigkeit entspricht. Zwar sind wir im Verlauf auf viele Fragen gestoßen, deren Klärung noch ansteht, aber, wie mir scheint, sind Nietzsches diesbezügliche Vorstellungen in den Grundzügen dennoch ersichtlich geworden, weshalb sie der weiteren Untersuchung den Rahmen bieten sollen.

" Vgl. die S. 46, Anm. 57, angeführte Notiz aus dem späten Nachlaß — dazu M. Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 196t 4 , 2. Bd., S. 331. 70 Vergleiche die UB II: 271, 10-11 und 257, 23-24.

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Geschichte und Gerechtigkeit

Wenn ich recht sehe, bildet die Problematik der Gerechtigkeit den Schlüssel zu der Vorstellung, welche Nietzsche von der Beziehung zwischen Mensch und Leben und somit von der Geschichte hat. Aus der Darlegung dieses Verhältnisses geht hervor, daß der Mensch ein Doppelwesen ist. Denn falls es ihm gelingt, sich zur Tugend der Gerechtigkeit emporzuarbeiten, dient er zwar dem Leben, zugleich aber wird das Leben von diesem Menschen überschritten. Mit anderen Worten kann der Mensch dem Leben nur dienen, sofern er vermag, es zu übersteigen, zu transzendieren. Es ist dieses das eigentümliche Verhältnis, welches nach Nietzsche die Geschichtlichkeit des Menschen ausmacht. Denn es befähigt ihn, sowohl die Nähe zum eigenen Ansatzpunkt, also zum Unhistorischen der je eigenen ästhetischen Erfahrung, wie auch die Distanz zu dieser Selbsterfahrung zu wahren. Darüber hinaus ermöglicht es das Sicheinfühlen in die Selbsterfahrungen anderer. Nur dieses doppelte Vermögen macht es dem Menschen möglich, „denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend" (253, 1-2) zu den unterschiedlichsten Perspektiven sich zu verhalten. Auf diese Art und Weise verbindet der Gerechte eine höchste Passivität mit einer höchsten Aktivität. Er genügt dem „Spruch" der „Gerechtigkeit", doch ist er zugleich selbst diese „richtende Gerechtigkeit". Obzwar in dieser Hinsicht vieles im dunkeln blieb, scheint doch soviel klar, daß nach Nietzsche der Nutzen der Historie darin zu sehen ist, daß sie zur Tugend der Gerechtigkeit anregt — ihr Nachteil aber ist, daß sie auch Entgegengesetztes, nämlich den Egoismus und die Gleichgültigkeit, herbeiführen kann. Kurzum, die Historie als die Auseinandersetzung mit dem Geschichtlichen kann dem Leben dienen, tatsächlich aber wird das Leben nur von denjenigen gefördert, welche ihre je eigene und beschränkte Perspektive transzendieren und so „jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht" übersteigen. Im Verlauf dieser einführenden Darstellung der Thematik Geschichte und Gerechtigkeit wurde dieses Paradox mehrfach gestreift.71 Jetzt, nachdem wir Nietzsches Äußerungen zu dieser Problematik nachgegangen sind, sehen wir uns mit folgender zentraler Frage konfrontiert: Ist die Gerechtigkeit eine Tugend, die der Mensch vermag, oder untersteht der Gerechte als solcher vielmehr der Hoheit der Gerechtigkeit? — Oder aber anders: Ermächtigt der Mensch jeweils sich selbst oder wird er ermächtigt? Handelt es sich beim Gerechten um eine höchste, vom Menschen selbst getroffene Entscheidung, oder geht es vielmehr um eine Weihung, die ihm zuteil wird, um einen Ruf, dem er entspricht?

71

Vergleiche hier S. 29, 31, 33, 37, 39, 40 f., 46, 49, 53.

Hauptteil Versuche zu den Einzelfragen, welche uns im Rahmen der Problematik von Geschichte und Gerechtigkeit bei Nietzsche begegneten

Einleitung In den Prolegomena zu dieser Arbeit wurde ausgeführt, daß die Thematik Geschichte und Gerechtigkeit innerhalb von Nietzsches Historienschrift eine bedeutsame Rolle spielt. Liest man die Schrift unter diesem Aspekt, so zeigt sich, daß sie die Beziehung zwischen dem Handel und Wandel der Menschen und dem Walten der Natur, also das Verhältnis zwischen den Teilen (den Individuen) und dem Ganzen in den Mittelpunkt stellt. Die Natur ist Nietzsche ein Leben, das er als eine dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht (269, 20-21) versteht. Infolge seiner Gier nach dem Selbstsein ist das Leben zwischen Selbstbehauptung und Selbstüberwindung zerrissen. Weil der Mensch in erster Linie ein Naturwesen ist, trifft das auch für seine Existenz zu. Dennoch sei es dem Gerechten möglich, diesen Zwiespalt zu übersteigen und so dem innersten Anliegen des Lebens gerecht zu werden. Freilich mußte bisher in vielen Fällen offenbleiben, wie Nietzsches Vorstellungen im einzelnen zu verstehen sind. Im nun folgenden Hauptteil werde ich mich bemühen, diese Fragen zu klären. An dieser Stelle mag es erlaubt sein, ein weiteres Mal zu betonen, daß ich anhand des Frühwerkes Nietzsches das problematische Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit, d.h. die Frage nach der Möglichkeit einer Beständigung des Glücks im Sinne des Selbstseins, zu klären versuche. Ich verfolge also ein systematisches Anliegen und bin nicht um eine historische Authentizität im Sinne der positiven Geschichtswissenschaft bemüht. Mir geht es mit Nietzsche, wie P. Sloterdijk das Verhältnis zu diesem und anderen Klassikern geschildert hat: „Wenn wir uns künftig nur noch um die eigenen Dinge kümmern wollen und angesichts des Vielzuvielen bereit sind zur existentiellen Reduktion und zum Abwerfen der Gewichte, dann entdecken wir inmitten der Restbestände die klassischen Stimmen — hier ein unentbehrlicher Satz, dort eine schöne Passage, ab und zu eine verwandte Seelenregung —und überall verstreut: Fragmente eines Wortschatzes, auf den man nicht verzichten kann, gerade wenn man entschlossen ist, nur noch von eigenen Angelegenheiten zu

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Geschichte und Gerechtigkeit

reden und am Gesumm der Medien, der Institutionen und der entfremdeten Information nicht mehr teilzunehmen."72 Vorder Folie der Frage nach Geschichte und Gerechtigkeit als der Frage nach der Möglichkeit einer Haltung, die dem Menschen ständiges Glück im Sinne des Selbstseins gewährt, überlegt man zunächst, welche Erfahrungen Nietzsches Erörterungen zur Thematik Geschichte und Gerechtigkeit zugrunde liegen. Dieser Frage nimmt das erste Kapitel sich an. Ich vertrete die Ansicht, daß Nietzsches Polemik gegen die derzeitige Herrschaft der Geschichte und der historischen Wissenschaften auf dem Hintergrund einer ausgezeichneten Befindlichkeit zu verstehen ist, die er in der Historienschrift als unhistorische Erfahrung bezeichnet. Daß diese Erfahrung ein Grundthema in Nietzsches frühem Denken ist, zeigt sich, wenn man die sonstigen Früharbeiten berücksichtigt. In der Geburt der Tragödie wird sie als ästhetische Erfahrung bezeichnet; in Schopenhauer als Erzieher spricht Nietzsche vom Gefühl, groß, das heißt frei und ganz sich selbst zu sein. Die erste der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Ueberdas Pathos der Wahrheit, bezeichnet diese Erfahrung als eine Erleuchtung. Freilich war Nietzsche zufolge der damalige Mensch korrumpiert. Das heißt zunächst, daß ihm die unhistorische Erfahrung abhanden gekommen war, daß ihm also das Selbstgefühl kurzerhand fehlte. Wenn dies denn so war beziehungsweise noch ist, so fragt man sich, ob und wie der Mensch zu dieser Erfahrung zurückfinden kann. Im zweiten Kapitel dieses Teils widmen wir uns diesem Problem. Im Mittelpunkt stehen Überlegungen Nietzsches zur Zeitlichkeit des Menschen. In der Historienschrift nehmen Nietzsches diesbezügliche Erörterungen ihren Ausgang von einem Vergleich der menschlichen Existenz mit dem Dasein der Tiere. Diese Gegenüberstellung und die weiteren Folgerungen daraus leuchten zwar nicht unbedingt ein, klären sich aber auf, sobald man die Ausarbeitung dieses selben Vergleichs beachtet, welche Nietzsche im fünften Kapitel seiner Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher, vornimmt. Es stellt sich heraus, daß sich der Mensch einmal in der Hinsicht vom Tier unterscheidet, daß er sich der auch ihm anhaftenden Gier als der Zerrissenheit zwischen gegensätzlichen Trieben befreien kann. Des weiteren wird ersichtlich, daß der Mensch zwar meistens ein Gefangener der Konvention ist, daß er aber durchaus die Möglichkeit hat, deren Ketten sich zu entledigen. Die unhistorische Erfahrung ist eine ausgezeichnete Befindlichkeit, die sich sowohl von der Triebhaftigkeit der Tiere wie auch gegenüber der gebräuchlichen Existenz innerhalb der Konvention grundlegend unterscheidet. Nach Nietzsche wird diese Möglichkeit dem Menschen durch das Gewissen, als den Augenblick der

72

P. Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 15.

Einleitung zum Hauptteil

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Erinnerung an eben diese Möglichkeit, übermittelt — allerdings könne der Mensch diese Möglichkeit auch in Abrede stellen und sie verdrängen. Führt der Augenblick vor die Möglichkeit des Selbstseins, so stellen sich als nächste die Fragen, worauf diese Möglichkeit basiert und wie die tatsächliche Erfahrung des Selbstseins mit der Existenz der anderen oder des Anderen zu vereinbaren ist. Mit diesen Problemen befaßt sich das dritte Kapitel. Ich mache den Versuch, die Begriffe „plastische Kraft" und „Horizont", welche Nietzsche in diesem Zusammenhang vorführt, dadurch zu erklären, daß ich ihre Bezüge zum sonstigen Frühwerk erläutere. Es wird sich herausstellen, daß den beiden Begriffen ein doppelter Sinn innewohnt. Einmal bedeutet die plastische Kraft das Vermögen, die Gültigkeit der Welt (also der Konvention) auszusetzen, in welchem Zusammenhang der Horizont die Möglichkeit der Ausgrenzung meint. Das andere Mal aber erscheint die plastische Kraft als das Vermögen der Integration desjenigen, was erst einmal ausgegrenzt werden mußte, um die unhistorische Selbsterfahrung zu ermöglichen. Parallel dazu verweist der Horizont diesmal auf das Ideal einer errungenen Unumschränktheit, wie es diesbezüglich im Schopenhauer-Aufsatz heißt. Wie ist dieses und jenes zu verstehen? Worauf stützt sich das zwiefache Vermögen der plastischen Kraft? Nach Nietzsche geht dies alles auf ein bestimmtes Verhältnis zum Zentrum zurück — gemeint ist die Stelle, von der, so wird sich herausstellen, sowohl das Anliegen des Selbstseins herrührt, von der aber auch die Gefährdung ausgeht. Aus Nietzsches Ausführungen geht hervor, daß das Zentrum die Möglichkeit des Selbstseins bietet, ferner, daß die tatsächliche Erfahrung des Selbstseins sich auf das Zentrum stützt, aber auch, daß der schmerzliche Verlust des Selbstseins auf die Unmäßigkeit des Zentrums, d.h. auf dessen überschwengliche Liebe als die Zerrissenheit zwischen dem Trieb zum Selbstverzicht und dem Zug zur Selbstbehauptung, kurz zwischen Sehnsucht und Verhärtung, zurückzuführen ist. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang vom Neid seitens des Ursprungs. Der Mensch sehe sich vor die Aufgabe gestellt, zwischen beiden Tendenzen die Mitte zu wahren und so das Band mit dem Zentrum zu gewähren. Im vierten Kapitel mache ich den Versuch, über Nietzsches Vorstellungen bezüglich der inneren Zerrissenheit des Zentrums, das nichtsdestoweniger auf die Ganzheit des Individuums also des Selbst ausgerichtet sei, näher aufzuklären. Dazu setze ich mich mit Nietzsches Vorstellung vom Vorgehen der Individuation, so, wie es in der Geburt der Tragödie dargestellt wird, auseinander. Zu klären ist das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Ur-Einen als dem Ganzen. Mein Interesse gilt namentlich den Begriffen Widerspruch und Erlösung. Nach Nietzsche ist das Ur-

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Geschichte und Gerechtigkeit

Eine durchweg dem Widerspruch verhaftet, nur im Schein gelange es zu einer zeitweiligen Erlösung. Liest man die Geburt der Tragödie unter diesem Aspekt, so zeigt sich, daß das Begriffspaar Dionysisch-Apollinisch, dem in diesem Zusammenhang unser erstes Interesse gelten muß, einen mehrfachen Sinn hat. Es bezieht sich einmal auf die innere Zerrissenheit des Ur-Einen als solches und bezeichnet dann dasjenige Strukturmerkmal, das in der an Kant anknüpfenden romantischen und idealistischen Naturphilosophie als das Gesetz der Polarität (oder auch des Gegensatzes) auf den Begriff gebracht wurde. Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang vom Urwiderspruch innerhalb des Ur-Einen. Der Urwiderspruch bedeutet den Urschmerz für das Ur-Eine. Nach Nietzsche wird es erst von diesem Schmerz erlöst, wenn die gegensätzlichen (d. h. hier polaren) Momente zu einem Gleichgewicht finden. Ein solches Gleichgewicht werde in dem Augenblick erreicht, in dem der aufs höchste gesteigerte Streit in eine Versöhnung umschlägt und die Mitte des Daseins erzielt wird. Dies bedeute die Erlösung des Ur-Einen. Von dem Moment an tritt eine andere Bedeutung des Begriffspaares in den Vordergrund. Ab jetzt bedeutet das Dionysische die vormals im Vordergrund stehende, jetzt aber in den Hintergrund gedrängte Zerrissenheit des Ur-Einen. Dagegen verweist das Apollinische auf das Individuum, das dem anfänglichen Getriebe entronnen ist. Diesem Gegensatz zwischen dem dionysischen (in sich zerrissenen) Ur-Einen und dem apollinischen (in sich ausgeglichenen) Individuum entspricht nun eine weitere Bedeutung des Begriffspaares. Die beiden Momente verweisen nunmehr auf zwei unterschiedliche Tendenzen, die aus dem eigentümlichen Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Zentrum als seinem Ursprung hervorgehen. Ich meine einmal die Gefahr der Verhärtung, die daher stammt, daß das Zentrum das Individuum in Versuchung führt, sich als das Eine schlechthin zu betrachten. Steht hier somit der Trieb zur (übersteigerten) Selbstbehauptung im Blick, so geht es andererseits um die Gefahr des Selbstverzichts, welche durch die Sehnsucht veranlaßt wird. Die Gefahren und Tendenzen werden ersichtlich, sobald man beachtet, daß das Verhältnis zwischen dem nach wie vor in sich zerrissenen Ur-Einen und dem scheinenden Individuum einen Gegensatz impliziert, der wiederum einen neuen Schmerz herbeiführt, nämlich den Schmerz der Differenz. Es ist dieser Schmerz, der den Bemühungen, die Kluft, die sich infolge der Individuation zwischen dem dionysischen Ursprung und dem apollinischen Individuum aufgetan hat, in diese oder in jene Richtung zu schließen, zugrunde liegt. Die genannten Tendenzen sind also als Versuche zu verstehen, die infolge der Individuation aufgetretene Differenz zu entscheiden. Wenn ich richtig sehe, laufen Nietzsches Überlegungen darauf hinaus, daß der Bestand des Individuums, daß also die Beständigung des Selbstseins nur um den Preis erkauft werden kann, daß man diese Differenz austrägt. Der Ertrag ist die Erkenntnis, daß man das Band der Mitte zwischen dem Zentrum und dem Selbst

Einleitung zum Hauptteil

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beständig wahren sollte. Allerdings dürfte für diese Einsicht der einstweilige Verlust des Selbstseins Voraussetzung sein. Damit haben wir zwar in betreff der Problematik der Haltung eine erhebliche Aufklärung erzielt, doch stellt uns nun die Frage sich, ob und wie die Historie der obigen Darlegung entsprechen kann — d.h.: Wir stoßen auf das Problem, wie eine gerechte Historie zu denken ist. Auf dem Hintergrund des Fragenbereichs der Individuation können die drei Arten der Historie, die Nietzsche unterscheidet, wie folgt verstanden werden: Die kritische Historie stellt die Gültigkeit der Konvention in Frage; die monumentale Historie führt zur unhistorischen Selbsterfahrung zurück oder führt sie erstmals herbei — und die antiquarische Historie sollte im Grunde genommen den Bestand jener Erfahrung gewähren. Mein fünftes Kapitel bietet eine eingehende Auseinandersetzung mit Nietzsches Vorstellungen zur monumentalen Historie — es wird sich herausstellen, daß es sich letzten Endes um die Frage nach der Möglichkeit einer verbindlichen Wahrheit handelt. Ich versuche dadurch zur Lösung dieses Problems beizutragen, daß ich mich mit der ersten der Fünf Vorreden zufünf ungeschriebenen Büchern, Ueber das Pathos der Wahrheit, und mit dem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne befasse. Die Erörterung der Texte läßt erkennen, daß erst die unhistorische Erfahrung, welche Nietzsche in seiner Ersten Vorrede als eine Erleuchtung bezeichnet, die Grundlage für eine jede ernstzunehmende Wahrheit schafft. Doch wird sich auch zeigen, daß diese Wahrheit notwendig persönlicher Natur ist. Sobald ihr eine über das Persönliche hinausgehende Verbindlichkeit zugesprochen wird, verkommt sie. Wenn aber eine jede Wahrheit persönlicher Natur ist, dann bedeutet dies erstens eine entschiedene Absage an den herkömmlichen Begriff der Wahrheit als Übereinstimmung und, zweitens, auch eine Zurückweisung der Wahrheit im Sinne einer Konsens. Versteht man die Moral als das Gefüge konventioneller Wahrheiten, also als die Sphäre der Konsens, so leuchtet ein, daß sie nach Nietzsche aus dem Bereich der wirklichen Wahrheit ausscheidet. Dabei ist es letztlich einerlei, ob die Konvention nun auf eine unhistorische Erfahrung zurückgeht oder ob die Erfahrungsgrundlage ihr ganz und gar fehlt. Freilich geht aus Nietzsches Analysen hervor, daß seinerzeit die Erfahrungsgrundlage tatsächlich völlig abhanden gekommen war. Mehr noch, er vertritt die Ansicht, daßdie herrschende Begrifflichkeit und die damalige Bildung es entschieden darauf abgesehen hatten, dem eventuellen Auftreten einer solchen Erfahrung zuvorzukommen und sie zu verhindern. Indem ich mich in meinem sechsten Kapitel mit Nietzsches Vorstellung einer kritischen Historie befasse, versuche ich mich seinen diesbezüglichen Ansichten zu nähern.

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Geschichte und Gerechtigkeit

Bei dieser Kritik handelt es sich in der Hauptsache um eine Strukturanalyse des Egoismus, das heißt der Selbstsucht. Nietzsche zufolge ist der egoistische Mensch ungerecht, und zwar in zweierlei Hinsicht: Er wird weder der Möglichkeit des Selbstseins noch dem Sein der beziehungsweise des Anderen gerecht. Indem ich die gültigen Momente der Nietzscheschen Kritik zusammenfasse, rekonstruiere ich den Mechanismus der Verdrängung, mit deren Hilfe die Selbstsucht sich zu behaupten versucht — ich bemühe mich um eine Darlegung der diachronen Gerechtigkeit: Das Phänomen der Selbstsucht ist nach Nietzsche eine Perversion des gesunden Verhältnisses zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen dem Einen und den vielen Individuen, zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Der Staat tritt an die Stelle des eigentlichen Ziels einer jeden Kultur — er tritt an die Stelle einer umgreifenden Individuation. Infolge der diesem Mechanismus der Verdrängung innewohnenden Logik gipfeln diese Verhältnisse letzten Endes in der Verbindlichkeit der Unverbindlichkeit, d.h. in der institutionalisierten Leerstelle eines öffentlichen Maßes. Aus Nietzsches Analyse wird deutlich, daß diese Leere, welche sich für den gleichgültigen und egoistischen Menschen als Freiheit, für den tugendhaften und gerechten aber als Ödnis ausnimmt, nunmehr als das Ziel der Geschichte vorgeführt wird.

Erstes Kapitel Von der Erfährungsgrundlage, auf die das Werk zurückgeht Einige Bemerkungen anläßlich des Vorwortes zur

Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung

Im Vorwort zur Historienschrift handelt Nietzsche von der Kluft zwischen historischem Erkennen und aktuellem Erfahren, zwischen Wissen und Handeln. Er führt eine Stelle aus einem Brief von Goethe an Schiller an, in der es heißt: „Uebrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben" (245, 1-4)73. Nietzsche stimmt dem zu. „Gewiss" , so schreibt er, „wir brauchen die Historie", aber zu einem ganz bestimmten Zweck: „ < W > ir brauchen sie zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten T h a t . " (UB II: 245, 16-19)

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann zu positiven, aber durchaus auch zu negativen Ergebnissen führen. Angesichts dieser Sachlage faßt Nietzsche folgenden Entschluß: „ N u r soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen" (UB II: 2 4 5 , 1 9 - 2 0 ) .

Jedoch ist zu beachten, daß Nietzsche Leben und Tat keineswegs ohne weiteres als positiv bewertet. Ich betone dies, denn öfter ist gemeint worden, daß er in seiner Historienschrift die Tatkraft schlechthin befürworte. Nehmen wir K. Hillebrand als Beispiel. Obwohl Hillebrand erkennt, „daß ihm im Grunde der ,überhistorische' Mensch, der die Geschichte künstlerisch oder philosophisch (daß heißt als das ewige

73

Brief d.d. 19. Dezember 1798 (vgl. 14: 64). Gerhardt macht darauf aufmerksam, daß Goethe an dieser Stelle nicht die Historie meint, sondern Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (V. Gerhardt, .Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches zweiter „Unzeitgemäßer Betrachtung'" (in: V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 133-162), S. 135-136. Vergleiche auch A. Venturelli, ,Das Klassische als Vollendung des Sentimentalischen. Der junge Nietzsche als Leser des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe' (in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 182-203), S. 182, Anmerkung 1. Femer V. Vivarelli, .Nietzsche, Goethe und der historische Sinn' (in: T. Borsche /F. Gerratana/A. Venturelli,,Centauren-Geburten'. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, S. 276-292).

62

Geschichte und Gerechtigkeit

Einerlei des Willens zum Leben in den verschiedensten Erscheinungsformen) auffaßt, höher steht als der historische oder unhistorische Mensch", ist er der Meinung, Nietzsche w e n d e sich in dieser Schrift „nur an die Handelnden". 7 4 Zwar hat G. Haeuptner diese Lektüre, die unter den Vorzeichen eines Sturm und Dranges steht 75 , zurechtgerückt, 7 6 doch ist er ebenfalls der Ansicht, daß die Zweite gemäße

Unzeit-

„für den handelnden Menschen und auch v o m Standpunkt des handelnden

Menschen aus" geschrieben wurde. 7 7 Haeuptner erkennt einen Zusammenhang mit dem Motiv des Glücks, differenziert aber zu Recht zwischen d e m „Glück als Ziel menschlichen Tuns" und dem Glück „als Stimmung"7*.19

Im Schluß zu meinen

Prolegomena habe ich angedeutet, daß das Glück erst dann Ziel werden kann, wenn das Leben als solches überstiegen worden ist. J. Salaquarda macht darauf aufmerksam, daß die Unzeitgemäßen

Betrachtungen

k e i n e s w e g s nur negativ sind und

daß auch die Historienschrift, wenngleich der spätere Nietzsche ihr kaum noch vorteilhafte Züge abzugewinnen vermochte, durchaus positive M o m e n t e aufweist. 8 0

74

75

76

77

78

n

80

K. Hillebrand, ,Ueber historisches Wissen und historischen Sinn' (1874) (in: K. Hillebrand, Zeiten — Völker — Menschen, Straßburg 1892, 2. Bd., Wälsches und Deutsches, S. 300-326), S. 311. Zu Nietzsches Aufnahme der Lektüre Hillebrands vergleiche Ecce homo (6: 318, 9-31). Des weiteren K. Schlechta, .Nietzsches Verhältnis zur Historie' (in: K. Schlechta, Der Fall Nietzsche, München 19592, S. 44-72) S. 49 ff. Bei Hillebrand heiBt es: „Es ist wieder eine Schar von Stürmern und Drängem im Anzug, wie im Jahre 1770, und Herr Nietzsche ist einer ihrer geistvollsten und muthigsten Häuptlinge; aber — der Herder ist er doch nicht, der dem dunklen Drange der Mitstrebenden Richtung und Ziel wiese: er läBt es fürs erste beim Niederreißen bewenden. Vielleicht soll dieser Sturm und Drang überhaupt seinen Herder nicht haben, wie auch jener der Romantiker ihn nicht fand; denn er ist, was auch Herr Nietzsche, der selber tief drinnen steckt, dagegen sagen mag, ein Sturm und Drang der Verneinung, der Reue, der regrets; er hat seinen Ursprung im Gefühle des verfehlten Weges, den man eingeschlagen: keinem jungen Manne aus den Kreisen, in denen heute das nationale Leben pulsiert, wird es einfallen, sich an diesem Sturm und Drang zu beteiligen; den überläßt er uns Gelehrten, die zu alt sind, umzusatteln, zu jung — und zu ehrlich — sich in dem wesenlosen Getriebe ihrer Sphäre behaglich zu fühlen." (K. Hillebrand, .lieber historisches Wissen und historischen Sinn' (1874) (in: K. Hillebrand, Zeiten — Völker — Menschen, Straßburg 1892, 2. Bd., Wälsches und Deutsches, S. 300-326) S. 303-304). Für I.N. Bulhof ist dies der große Verdienst von Haeuptners Arbeit (I.N. Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969, S. 28). G. Haeuptner, Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche. Versuch einer immanenten Kritik der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung: „ Vom Nutzen und Nachteil der Historieför das Leben", Stuttgart 1936, S. 6 und 12. G. Haeuptner, Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche, S. 15. Vergleiche hier S. 94, Anmerkung 135. Vergleiche I.N. Bulhof, Apollos Wiederkehr, S. 24 ff.; vergleiche des weiteren H. Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Mitten wald 1982, S. 276 ff. Zu den „positiven Thesen" rechnet er u.a. die Unterscheidung von Unhistorischem, Historischem und Überhistorischem, die drei Weisen lebensdienlicher Historie, den Gedanken der Gerechtigkeit und die Einsicht in die historischen Wurzeln des Historismus (J. Salaquarda, .Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984). S. 1-45). S. 16.

1 Von der Erfahrungsgrundlage, auf die das Werk zurückgeht

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Dennoch vertritt auch er den Standpunkt, daß Nietzsches Darlegungen in der Zweiten Unzeitgemäßen überwiegend kritischer Ausrichtung sind. Im Vorwort zur Historienschrift gesteht Nietzsche, daß er selbst an der Historie leidet. Er unterscheidet zwischen dieser Empfindung81 und deren Erfahrung82 und erklärt, er habe auf dem Wege einer „Naturbeschreibung < s > einer Empfindung" (246,16-18) die „Sicherheit und Reife der Erfahrung" (246, 9) herbeizuführen versucht. Zwar ist er sich nicht sicher, sie schon erreicht zu haben, aber jedenfalls habe er einen Versuch in der Richtung gemacht. Salaquarda legt dies so aus, daß Nietzsche bei der Konzeption der Schrift von einem Unbehagen und einer Negation ausgegangen ist und er seine Position erst Schritt für Schritt im Laufe der Arbeit entwickelt hat. Dadurch sei er zu ad-hoc-Differenzierungen gedrängt worden, und daraus habe sich das Problem ergeben, die verschiedenen Differenzierungen miteinander zu vereinbaren und sie alle in die Grundkonzeption einzubauen.83 Das alles mag wenigstens zum Teil zutreffen. Allerdings stellt sich die Frage nach dem Positiven, das Nietzsches Zeitkritik zugrunde liegt. Hinweise in der Richtung gibt es im Frühwerk zur Genüge. So heißt es z. B. bereits in der Vorrede zur Vortragsreihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten: „Nichts anderes will für sich in Anspruch nehmen, als ein stark entzündetes Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen Barbarei, für das, was uns als Barbaren des neunzehnten Jahrhunderts so merkwürdig von den Barbaren anderer Zeiten unterscheidet" (ZBA: 650, 7-12).

" UB II: 246, 3, 7, 12, 17; 247, 2. 82 UB II: 246, 9; 247, 1, 5-6. 83 J. Salaquarda, .Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 1-45), S. 15. Salaquarda rekonstruiert die Entstehung des Textes aufgrund des Nachlasses. Allerdings ist sein Vorgehen nicht ganz unproblematisch. Schwierigkeiten stellen sich schon beim Feststellen des diesbezüglich als relevant zu bezeichnenden Teiles des Nachlasses ein: wo fängt er an, wo hört er auf? Ein naheliegendes Kriterium ist wohl der Zeitraum vor, während und unmittelbar nach dem Erscheinen oder der Fertigstellung der endgültigen Fassung des Textes. Aber auch innerhalb dieser Weichenstellung kann man unterschiedlich zedieren. Zumal man dem von Salaquarda explizit vermerkten Umstand Rechnung tragen muß, daß Nietzsche mehrfach gleichzeitig an verschiedenen oder auch einander berührenden Projekten gearbeitet hat. Salaquarda betrachtet 7: 29 [27] als den Beginn des relevanten Textteiles des Nachlasses. Zwar wird die Historie schon vorher genannt (vergleiche 7: 27 [81]), jene Notizen beziehen sich aber auch auf eine geplante, jedoch nie fertiggestellte UB über das Thema Wahrheit. Mit der gleichen Begründung entscheidet er sich für 7: 29 [160] als dessen Ende, denn nachher stellt die Historie nicht länger das einzige Thema dar. Demnach wird der Umstand, daß Nietzsches hier exklusiv dem Thema der Historie seine Aufmerksamkeit widmet, als Kriterium gehandhabt. Dies leuchtet natürlich ein, aber dennoch sind andere Kriterien nicht von vornherein auszuschließen. Im Gegenteil, so wie ich die UB II verstehe, muß man fragen: Weshalb gerade dasjenige der Historie? Sollte man nicht vielmehr das Leben in den Mittelpunkt stellen? — oder gilt der Aufsatz vielleicht anderem: der Wahrheit, der Gerechtigkeit oder der Objektivität? Also ist das Kriterium Salaquardas zwar praktisch, aber leider zu sehr vereinfachend.

64

Geschichte und Gerechtigkeit

Könnte dies n o c h negativ g e m e i n t sein, s o liest m a n a m Schluß der titellosen ersten Seiten der n a c h g e l a s s e n e n A b h a n d l u n g Die Philosophie

im tragischen

Zeitalter

der

Griechen: „ < D > ie Aufgabe ist das an's Licht zu bringen, was wir immer lieben und verehren müssen und was uns durch keine spätere Erkenntniß geraubt werden kann: der große Mensch." (PhZG: 802, 3-6) U n d in der ersten der Fünf Vorreden Pathos

der Wahrheit,

zu fünf ungeschriebenen

Büchern,

Ueber

das

heißt e s dann in unmißverständlicher Klarheit:

„Ist der Ruhm wirklich nur der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe? — Er ist doch an die seltensten Menschen, als Begierde, angeknüpft und wiederum an die seltensten Momente derselben. Dies sind die Momente der plötzlichen Erleuchtungen, in denen der Mensch seinen Arm befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt, Licht aus sich schöpfend und um sich ausströmend. Da durchdrang ihn die beglückende Gewißheit, daß das, was ihn so in's Fernste hinaus hob und entrückte, also die Höhe dieser einen Empfindung, keiner Nachwelt vorenthalten bleiben dürfe; in der ewigen Nothwendigkeit dieser seltensten Erleuchtungen für alle Kommenden erkennt der Mensch die Nothwendigkeit seines Ruhms; die Menschheit, in alle Zukunft hinein, braucht ihn, und wie jener Moment der Erleuchtung der Auszug und der Inbegriff seines eigenstes Wesens ist, so glaubt er als der Mensch dieses Momentes unsterblich zu sein, während er alles Andere, als Schlacke, Fäulniß, Eitelkeit, Thierheit, oder als Pleonasmus von sich wirft und der Vergänglichkeit preisgiebt." (PW: 755, 4-21) 84 D e m n a c h war d i e Glückserfahrung N i e t z s c h e k e i n e s w e g s f r e m d — o d e r u m es gerade heraus z u sagen: A u c h ich bin der Ansicht, daß N i e t z s c h e s U n b e h a g e n angesichts der Kultur seiner Zeit nicht nur negativer Natur ist, sondern v i e l m e h r aus e i n e m durchaus positiven Erlebnis h e r v o r g e g a n g e n ist. Ich m e i n e j e n e ästhetische Erfahrung o d e r Schau, die s c h o n der Geburt

der Tragödie

zugrunde lag und w o h l

zeitlebens m a ß g e b e n d blieb. 8 5

84

85

Wenige Zeilen weiter unten folgt dann jener Passus bezüglich der monumentalen Historie, der fast unverändert in das zweite Kapitel der Historienschrift eingegangen ist — vergleiche PW: 756, 9 757, 8 mit UB II: 259, 9 - 260, 11 (weiteres dazu in 14: 107 und 110-112); es gibt hier einen Zusammenhang mit der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (WL: 875890). Dies alles soll in meinem fünften Kapitel (S. 167 ff.) eingehend erörtert werden. Vergleiche R. Schmidt, ,Auf der Suche nach dem Humanum. Elemente der frühen Kulturkritik Friedrich Nietzsches' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 129-155); V. Gerhardt, .Von der ästhetischen Rechtfertigung zur Physiologie der Kunst' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 374393); M. Fleischer, .Dionysos als Ding an sich. Der Anfang von Nietzsches Philosophie in der ästhetischen Metaphysik der „Geburt der Tragödie'" (in: Nietzsche-Studien 17 (1987), S. 74-90); P. Nill, ,Die Versuchung der Psyche. Selbstwerdung als schöpferisches Prinzip bei Nietzsche und C.G. Jung' (in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 250-279); E. Heftrich,,Die Geburt der Tragödie: Eine Präfiguration von Nietzsches Philosophie' (in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 103-127); V. Gerhardt, .Selbstbegründung. Nietzsches Moral der Individualität' (in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 28-50). Von der Beziehung zwischen philosophischer Erkenntnis und der ihr je zugrundeliegenden Seinserfahrung handelt mit vorbildlicher Klarheit R. Margreiter, .Nietzsches ontologische Erfahrung'

1 Von der Erfahrungsgrundlage, auf die das Werk zurückgeht

65

Aber woher dann das offensichtliche Unbehagen Nietzsches, woher sein Unglück? Eine Antwort auf diese Frage finden wir in einem Passus aus dem Nachlaß dieser Schaffensperiode. Nietzsche zitiert an gegebener Stelle aus einem Brief Hölderlins an dessen Bruder: „, < D > u wirst durchaus finden, dass jetzt die menschlichen Organisationen, Gemüther, welche die Natur zur Humanität am bestimmtesten gebildet zu haben scheint, dass diese jetzt überall die unglücklicheren sind, eben weil sie seltener sind als sonst in anderen Zeiten und Gegenden. Die Barbaren um uns her zerreissen unsre besten Kräfte, ehe sie zur Bildung kommen können, und nur diefeste tiefe Einsicht dieses Schicksals kann uns retten, dass wir wenigstens nicht in Unwürdigkeit vergehen. Wir müssen das Treffliche aufsuchen, zusammenhalten mit ihm, so viel wir können, uns im Gefühle desselben stärken und heilen und so Kraft gewinnen; das Rohe, Schiefe, Ungestalte nicht nur im Schmerz, sondern als das, was es ist, was seinen Character, seinen eigenthümlichen Mangel ausmacht, zu erkennen "' (7: 29 [106]; 7: 680, 14 - 681, 2; Hervorhebungen von Nietzsche). 86

Beziehen wir diese Nachlaßstelle auf die Historienschrift, so leistet Nietzsche dem von Hölderlin Gesagten dergestalt Folge, daß er einmal eine von ihm als monumental bezeichnete Historie vorschlägt, welche das Treffliche aufzusuchen und mit ihm zusammenzuhalten bemüht ist. Des weiteren erarbeitet er einen überhistorischen Standpunkt, aus dem hervorgeht, daß dem Rohen, Schiefen und Ungestalten der Egoismus und die Gleichgültigkeit zugrunde liegen. Die Lektüre der Zweiten Unzeitgemäßen, die C. Zuckert vorgelegt hat, scheint sich dem anzuschließen.87 Laut Zuckert bildet die Notwendigkeit der menschlichen Selbsterkenntnis das zentrale Thema der Unzeitgemäßen Betrachtungen. In ihrer Studie befaßt sie sich sowohl mit der Historienschrift als auch mit dem SchopenhauerAufsatz: „I intend to show that the ,use' of history Nietzsche describes in the first essay is to gain self-knowledge and that the knowledge of < the > self he seeks with the aid of Schopenhauer becomes possible only on the basis of historical criticism". Im Vorwort zu seiner Historienschrift stellt Nietzsche die seinerzeit herrschende Hegemonie der historischen Wissenschaft in Frage. Allerdings meint er, daß sein Bestreben „unzeitgemäss" (246, 23) ist.88 Dafür hat er zwei Gründe. Erstens wittert er, daß man sein Gefühl, infolge jener Hegemonie erkrankt zu sein, als „eine ganz

86 87

88

(in: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 35-69). Zur Erfahrungsgrundlage Nietzscheschen Denkens vergleiche auch J. Salaquarda, .Der ungeheure Augenblick' (in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 317-338). Brief d.d. 4. Juni 1799. C. Zuckert, .Nature, History and the Self: Friedrich Nietzsche's Untimely Considerations' (in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 55-82), S. 56. Vergleiche dazu den späten Nachlaß: „Wenn ich einstmals das Wort .unzeitgemäß' auf meine Bücher geschrieben habe, wie viel Jugend, Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Worte aus! Heute begreife ich, daß mit dieser Art Klage Begeisterung und Unzufriedenheit ich eben damit zu den Modernsten der Modernen gehörte." (12: 2 [201]; 12: 165, 9-13)

66

Geschichte und Gerechtigkeit

verkehrte, unnatürliche, abscheuliche und schlechterdings unerlaubte Empfindung" (246,11-12) aufnehmen wird. Zweitens beabsichtigt er, „etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit" (246, 23-25) auszulegen. Aus der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher, geht indessen eindeutig hervor, daß Nietzsche die historische Krankheit durch seine unzeitgemäßen Streifzüge zu kurieren versucht, denn dort lesen wir folgendes: „Wenn jeder grosse Mensch auch am liebsten gerade als das ächte Kind seiner Zeit angesehn wird und jedenfalls an allen ihren Gebresten stärker und empfindlicher leidet als alle kleineren Menschen, so ist der Kampf eines solchen Grossen^e^en seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sich selbst. Aber eben nur scheinbar; denn in ihr bekämpft er das, was ihn hindert, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein. Daraus folgt, dass seine Feindschaft im Grunde gerade gegen das gerichtet ist, was zwar an ihm selbst, was aber nicht eigentlich er selbst ist, nämlich gegen das unreine Durch- und Nebeneinander von Unmischbarem und ewig Unvereinbarem, gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitgemässes; und endlich erweist sich das angebliche Kind der Zeit nur als Stiefkind derselben." (UBIII: 362,11-24; außer bei „gegen" und „Stiefkind" wurden die Hervorhebungen von mir vorgenommen).

Dieser Passus liest sich als eine Paraphrase der Hölderlinschen Briefstelle, die soeben angeführt wurde. Nietzsche fügt hinzu: „So strebte Schopenhauer, schon von früher Jugend an, jener falschen, eiteln und unwürdigen Mutter, der Zeit, entgegen, und indem er sie gleichsam aus sich auswies, reinigte und heilte er sein Wesen und fand sich selbst in seiner ihm zugehörigen Gesundheit und Reinheit wieder" (UB III: 362, 24-28).

Zwar ist in diesem ganzen Abschnitt von Schopenhauer und etwaigen anderen großen Menschen die Rede, aber dennoch trifft dies wohl auch auf Nietzsche selbst zu, denn am Schluß des Vorwortes zu seiner Historienschrift gesteht er: „Auch soll [...] nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe" (UB II: 246, 34 - 246, 3).

Dies ist ein weiterer Beleg dafür, daß Nietzsches Kritik nicht nur negativer Natur ist, sondern durchaus von einer, von ihm als verbindlich empfundenen Erfahrung getragen wird. Nietzsche verhehlt nicht, wo und wie er diese Erfahrung gemacht hat, sondern fährt an letzterer Stelle folgendermaßen fort: Auch sollte nicht verschwiegen werden, „dass ich nur sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemässen Erfahrungen komme". (UB II: 247, 36)89

89

Vergleiche folgenden Passus aus dem zweiten Vortrag aus der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten:

1 Von der Erfahrungsgrundlage, auf die das Werk zurückgeht

67

Dank seinem Studium der klassischen Philologie habe er sich eine kritische Distanz zur Gegenwart erarbeiten können. Das heißt nun aber nicht — oder zumindest nicht zwingend —, daß er seine anfängliche oder unhistorische Erfahrung im Zuge des Studiums des Griechischen gemacht habe. Ihm solches unterstellen zu wollen hieße wohl auch, einen Widerspruch herbeiführen. Mit anderen Worten hat das Studium der klassischen Kultur des Altertums wie eine Art Katalysator gewirkt. Es hat ihm bezüglich der zunächst nur gefühlten und erlebten Differenz zwischen seiner eigenen unhistorischen Selbsterfahrung und der ihn umringenden Kulturlandschaft die Augen geöffnet. Dies zu leisten ist nach Nietzsche die Aufgabe der klassischen Philologie, das heißt der Bildung im eigentlichen Sinne, schlechthin: „ < D > enn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss — das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit — zu wirken" (UB II: 247, 7-11).

Nach Nietzsche ist die Wissenschaft der Historie nur insofern berechtigt, als sie sich gegen den waltenden Zeitgeist ausspricht und sich in den Dienst einer künftigen Zeit stellt. Die Wissenschaft soll einer neuen und höheren Lebensform dienen; sie soll bilden, indem sie die anfängliche oder ästhetische Erfahrung herbeiführt und fördert, statt, wie üblich, deren Verkrüpplung zu bewirken. Demnach meint das Wort vom Unzeitgemäßen die Distanz zwischen dem real existierenden und dem idealen (guten) Leben, welches sich dadurch auszeichnet, daß der Mensch sich als groß, frei und als ganz sich selbst erfährt90. Nietzsche fordert die Wissenschaft dazu auf, diese Distanz an den Tag zu bringen, und dann die Kluft dadurch zu schließen, daß sie das Reale auf den Plan des Ideellen erhebt.91

„Sehr geheimnisvoll und schwer zu erfassen ist das Band, welches wirklich zwischen dem innersten deutschen Wesen und dem griechischen Genius sich knüpft. Bevor aber nicht das edelste Bedürfniß des echten deutschen Geistes nach der Hand dieses griechischen Genius, wie nach einer festen Stütze im Strome der Barbarei hascht, bevor aus diesem deutschen Geiste nicht eine verzehrende Sehnsucht nach den Griechen hervorbricht, bevor nicht die mühsam errungene Fernsicht in die griechische Heimat, an der Schiller und Göthe sich erlabten, zur Wallfahrtsstätte der besten und begabtesten Menschen geworden ist, wird das klassische Bildungsziel des Gymnasiums haltlos in der Luft hin- und herflattem" (ZBA: 691, 16-27). Daß die griechische Bildung die maßgebende ist und sein sollte, bewertet er weiter unten im gleichen Vortrag als eine Erleuchtung (ZBA: 700, 24-28; vergleiche die vorhin angeführte Stelle aus der ersten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Ueber das Pathos der Wahrheit: 755, 2-21; s. auch die Dritte Unzeitgemäße Betrachtung, Schopenhauer als Erzieher. 391, 12-27). 90 UB III: 350, 23 - 351, 5; des weiteren UB II: 362, 17-18 und 20. " Die Unstimmigkeiten zwischen dieser Vorstellung Nietzsches und der traditionellen Aufgabenstellung der klassischen Philologie sind von H. Schröter herausgearbeitet worden (H. Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Mittenwald 1982, Erster Teil, insbesondere S. 21-64).

68

Geschichte und Gerechtigkeit

Demnach ergibt die historische Wissenschaft für Nietzsche nur dann einen Sinn, wenn sie die höchste Tugend der Gerechtigkeit fördert.

Vergleiche des weiteren H. Cancik, .„Philologie als Beruf". Zu Formengeschichte, Thema und Tradition der unvollendeten vierten Unzeitgemäßen Friedrich Nietzsches' (in: T. Borsche/F. Gerratana/A. Venturelli, , Centauren-Geburten '. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Berlin/New York 1994, S. 81-96).

Zweites Kapitel Vom tiefen Auge des Gewissens Zur Analyse menschlicher Zeitlichkeit

Einleitung Im vorigen Kapitel wurde angedeutet, daß zwei Momente die Voraussetzung für Nietzsches Werk geschaffen haben: das tiefgreifende Erlebnis einer ursprünglichen Selbsterfahrung und die Differenz zwischen dieser durchaus positiven Erfahrung und der vorherrschenden Tendenz innerhalb der damaligen Kulturlandschaft. Denn nach Nietzsche war seinerzeit der Mensch in der Regel korrumpiert, war ihm das Selbstgefühl abhanden gekommen. Das heißt, daß dem damaligen Menschen schon die Voraussetzung für die notwendige innere Haltung, nämlich das Selbstverhältnis, fehlte. Wenn dies denn so war — vielleicht müssen wir sagen: noch immer so ist —, so überlegt man, ob und, wenn ja, wie der Mensch sich ein solches Selbstverhältnis erarbeiten kann. Indem ich mich mit Nietzsches Ansichten zur Zeitlichkeit des Menschen auseinandersetze, befasse ich mich mit diesen Fragen. Nietzsches Überlegungen zur Zeitlichkeit des Menschen begegnen uns an den ersten Seiten der Historienschrift.92 An dieser Stelle vergleicht er den Menschen mit dem Tier93: Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch seine Erinnerung. Die Analyse ist zwar grundlegend, hat aber gleichwohl viele Mißverständnisse herbeigeführt. Sie gehen daraus hervor, daß Nietzsche das Erinnerungsvermögen auf den ersten Blick als negativ bewertet, weil es dem Unglück des Menschen zugrunde liege. Doch dieser Schein trügt. Vielmehr stoßen wir hier, gleich am Anfang der Historienschrift, auf das Phänomen eines dialogisch strukturierten Textes,94 und zwar in

92

UB II: 248, 1 - 250, 34. " Den Vergleich findet man immer wieder im Werk. Gerhardt bemerkt dazu zwar: „Nietzsche unternimmt in seinen späteren Werken zahlreiche Anläufe, den Menschen als ein Tier mit besonderen Funktionen zu beschreiben, als Tier, das versprechen oder lachen kann, als soziales, pathetisches, interpretierendes oder wahnsinnig gewordenes Tier", berücksichtigt aber nicht den in der Dritten Unzeitgemäßen angestellten Vergleich (s. V. Gerhardt, .Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches zweiter „Unzeitgemäßer Betrachtung'" (in: V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 133-162), S. 138-139). 94

Vergleiche die Einleitung zur vorliegenden Arbeit, S. 10 f.

70

Geschichte und Gerechtigkeit

zweierlei Hinsicht. D e n n nicht nur sind die Aussagen, w e l c h e Nietzsche an diesen Seiten zur Zeitlichkeit des Menschen macht, polyphon gestaltet, sondern darüber hinaus stehen sie in einem dialogischen Verhältnis zum fünften Kapitel der Dritten Unzeitgemäßen

Betrachtung,

Schopenhauer

als Erzieher,

w o Nietzsche von neuem

zwischen Mensch und Tier einen Vergleich anstellt. 95 Haeuptner hat die Beziehung zum Schopenhauer-Aufsatz schon 1 9 3 6 erkannt. D o c h wird sein Verdienst durch die Konsequenzen seiner heuristischen Perspektive erheblich beeinträchtigt. Er glaubt im Frühwerk Nietzsches zwei lebensanschauliche Einstellungen erkennen zu können: eine „pantheistische" und eine dualistische.* 6 D i e hier in Betracht stehenden Seiten der Historienschrift rechnet er den „pantheistischen" Textstellen zu, den ganzen Schopenhauer-Aufsatz aber den dualistischen — die augenfällige Diskrepanz zwischen den beiden Mensch-Tier-Vergleichen aber dürfte damit wohl kaum hinreichend erklärt sein. I . N . Bulhof hat zwar die N ä h e der beiden Schriften betont, doch unterläßt sie es, die Mensch-Tier-Vergleiche einander gegenüberzustellen. 9 7 A u c h Zuckert hat auf die Beziehung zwischen den Schriften aufmerksam gemacht und hat versucht, ihr Rechnung zu tragen. Obwohl sie das M o tiv der Selbsterkenntnis in den Mittelpunkt stellt, wird die hier angezeigte Problematik von ihr nicht bearbeitet. 9 8

95 96

97 98

UB III: 377, 20 - 380, 14. Haeuptner führt dieses und jenes in der Einleitung seiner Arbeit aus (G. Haeuptner, Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche. Versuch einer immanenten Kritik der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung: „ Vom Nutzen und Nachteil der Historie fiir das Leben Stuttgart 1936). Hier einige Ausschnitte: „Bei der pantheistischen Einstellung handelt es sich um eine Konzeption der Einheit und Sinnhaftigkeit alles Lebens. Leben und (geistige) Kultur sind untrennbar miteinander verwachsen, letztere wird gleich einer ,Blume' als organisches Produkt der unbewußt-sittlichen Kräfte des .Instinkts' genommen. [...] Dementsprechend erscheint der Mensch hier als ursprünglich gut, er wird erst verdorben durch die Reflektion ..." (a.a.O., S. 3). „Ganz anders die dualistische Einstellung [...]. Leben und geistige Kultur sind durch eine unüberbrückbare Kluft von einander getrennt, die geistige Kultur entsteht durch radikale Abwendung vom .Leben', dessen Begriff hier [...] durch brutal-egoistische Kräfte bestimmt ist. Wie in der pantheistischen Einstellung werden .Natur' und .Leben' im Grunde gleichgesetzt, aber die Kräfte der .Natur' erscheinen als .nicht gut'." (a.a.O., S. 4) Zwar beabsichtigt Haeuptner Folgendes: „Indem wir diese weltanschaulichen Voreinstellungen aufzeigen, wollen wir das einseitig-dogmatische Verständnis der Nietzscheschen Schrift auflösen, das Echte und Verbindliche in ihr vom Falschen und Trügerischen unterscheiden, und dies auf dem schlichten Weg einer rein sachlich gehaltenen Interpretation" (a.a.O., S. 6-7) — doch bleibt seine Arbeit leider hinter dem gesteckten Ziel zurück. Zu beachten ist, daß bei Haeuptner „Pantheismus" etwa Monismus bedeutet. Dort, wo ich in der Folge den Terminus „pantheistisch" verwende, schließe ich mich der Bedeutung an, welche Haeuptner ihm beimißt. I.N. Bulhof. a.a.O., besonders S. 43-45. C. Zuckert, .Nature, History and the Seif: Friedrich Nietzsche's Untimely Considerations' (in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 55-82). Die Bedeutung des Schopenhauer-Aufsatzes wird von M. Fleischer (1972) übergangen (M. Fleischer, .Die Zeitlichkeit des Menschen. Nietzsches Analyse in seiner zweiten Unzeitgemäßen

2 Vom tiefen Auge. Zur Analyse menschlicher Zeitlichkeit

71

Wie gesagt, ist Nietzsche der Ansicht, daß der Mensch sich namentlich durch die Erinnerung vom Tier unterscheidet. Es wird sich herausstellen, daß Nietzsche in diesem Zusammenhang dem Augenblick große Bedeutung beimißt und ihn geradezu in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt." Jedoch leuchten seine Ausführungen nicht ohne weiteres ein. Die Hypothese G. Schanks, derzufolge Nietzsches Texte dialogisch strukturiert sind, bietet uns die Möglichkeit, die zunächst widersprüchlich anmutenden Äußerungen Nietzsches als eine polyphonisch gestaltete Aussage ersichtlich zu machen. Zumal wenn man sie den diesbetreffenden Passagen, die sich im Schopenhauer-Aufsatz finden, gegenüberstellt. Freilich muß ich mich hier auf eine Darstellung der Hauptzüge beschränken. Erst die Aufarbeitung der beiden Vergleiche zwischen Mensch und Tier, wie ich sie im folgenden versuchen will, läßt erkennen, daß es sich nach Nietzsche beim Augenblick zumindest um drei, vielleicht aber auch um vier Sachverhalte handelt: Erstens geht es um den Augenblick als Mahnung des Gewissens, d.h. um die Erinnerung an die Aufgabe der Individuation. Zweitens bedeutet der Ausdruck den Moment der Verdrängung, welcher der Erfahrung der Zeit als einer Jetztfolge zugrunde liegen dürfte. Der Mensch verwendet diesen Mechanismus, um sich seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich in seinem So- und nicht Anderssein ein ganzheitliches Individuum darstellen zu müssen, zu entledigen. Die Verdrängung und der ihr zugrundeliegende Egoismus gipfeln letzten Endes in der selbstgerechten Vorstellung einer diachronen Gerechtigkeit — deren Darstellung allerdings erst im letzten Paragraphen meines sechsten Kapitels erfolgt. Und drittens geht es um den Augenblick der großen Erfahrung, um die Erfahrung des Ganz- und Freiseins. Nietzsche nennt diese Erfahrung die unhistorische. Bei dieser Erfahrung handelt es sich um eine ausgezeichnete im Bereich des Unmittelbaren, des Waltens der gegensätzlichen Triebe. Sie betrifft den Augenblick, da die Gegensätzlichkeit zu ihrem höchsten kommt und den Zenit ihrer Mitte erreicht — um den Augenblick, in dem ein Individuum ist. Diese Erfahrung gilt Nietzsche nunmehr als Richte. Außerdem könnte es, viertens, sein, daß Nietzsche hier mit dem Begriff des Augenblicks schon die Erfahrung im Sinne einer gesicherten Erkenntnis im Blick hat.

Betrachtung' (in: W. Beierwaltes/W. Schräder (Hrsg.), Weltaspekte der Philosophie. Rudolph Berlinger zum 26. Oktober 1972, Amsterdam 1972, S. 67-81). " Siehe UB II: 248, 1 - 250, 34 (besonders 248, 6, 21 und 23; 249, 4; 250, 10. Vergleiche dazu den Schopenhauer-Aufsatz (UB III:) 378, 20 - 380, 15 (besonders 378, 21-24; 379. 8 und 31; 380, 6-7 und 13). Die Stellen werden im folgenden ausführlich erörtert.

72

Geschichte und Gerechtigkeit 1. Vom Augenblick

als Mahnung

des

Gewissens

Zunächst führe ich e i n i g e längere Stellen aus der Zweiten Unzeitgemäßen

Betrachtung

und der

Dritten

an, die ich dann in der F o l g e zergliedern und näher er-

örtern w e r d e . W i e d e r h o l u n g e n konnten dabei nicht v e r m i e d e n w e r d e n . In b e i d e n Fällen handelt es sich u m M e n s c h - T i e r - V e r g l e i c h e . E s wird sich allerdings herausstellen, daß s i e erhebliche D i f f e r e n z e n a u f z e i g e n . D i e Aufarbeitung der D i f f e r e n z e n fördert das Verständnis der b e i d e n Stellen. S i e läßt erkennen, daß N i e t z s c h e d e n A u g e n b l i c k u . a . als Mahnung

des Gewissens

versteht.

1. Z u A n f a n g d e s ersten Kapitels der Historienschrift heißt es: „Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt — denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte — da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte." (UB II: 248, 117) .oo U n d ein w e n i g weiter unten steht: „So lebt das Thier unhistorisch-, denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bleibt, es weiss sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und

,0

° Müller-Lauter vermerkt, daß Nietzsche hier „bis in einzelne Formulierungen" Schopenhauers Parerga und Paralipomena, § 153 verpflichtet ist (W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, S. 43, Anmerkung 47. Bollnow führt die Stelle auf Leopardi zurück (O. F. Bollnow, .Nietzsche und Leopardi' (in: Zeitschrift für philosophische Forschung 26 (1972), S. 66-69); vergleiche 14: 67, 552, des weiteren 7: 29 [98] (676 ff.) und 7: 30 [2] (725 ff.), die Bollnows These belegen) — mir scheint, daß sowohl das eine wie das andere zutrifft beziehungsweise zutreffen könnte. (Vgl. auch J. Salaquarda. .Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 27, Anmerkung 60). Eine weniger apodiktische Fassung dieser Passage findet sich im Nachlaß: „Wir seufzen [...] über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können: während es uns scheinen will, als ob das Thier glücklich sein müsse, weil es < nicht > überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augenblick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht." (7: 29 [98]; 7: 677, 13-16). Im Vergleich zur Fassung in der II. UB stellt diese einen bedeutend weniger schroffen Gegensatz dar.

2 Vom tiefen Auge. Zur Analyse menschlicher Zeitlichkeit

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erscheint in jedem Momente ganz und gar als das was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich. Der Mensch dagegen stemmt sich gegen die grosse und immer grössere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder und beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal verläugnen kann, und welche er im Umgange mit seines Gleichen gar zu gern verläugnet: um ihren Neid zu wecken. Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verläugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt." (UB II: 249, 5-20)

Aus diesem und jenem scheint Nietzsche zu schließen: „Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück i s t . . . " (UB II: 250, 9-13).

Ganz anders nimmt der Vergleich sich aus, den Nietzsche im fünften Kapitel des Schopenhauer-Aufsatzes zwischen der Existenz des Menschen und dem Dasein der Tiere anstellt: „Die tieferen Menschen haben zu allen Zeiten gerade deshalb Mitleiden mit den Thieren gehabt, weil sie am Leben leiden und doch nicht die Kraft besitzen, den Stachel des Leidens wider sich selbst zu kehren und ihr Dasein metaphysisch zu verstehen; ja es empört im tiefsten Grunde, das sinnlose Leiden zu sehen. Deshalb entstand nicht nur an einer Stelle der Erde die Vermuthung, dass die Seelen schuldbeladner Menschen in diese Thierleiber gesteckt seien, und dass jenes auf den nächsten Blick empörende sinnlose Leiden vor der ewigen Gerechtigkeit sich in lauter Sinn und Bedeutung, nämlich als Strafe und Busse, auflöse. Wahrhaftig, es ist eine schwere Strafe, dergestalt als Thier unter Hunger und Begierde zu leben und doch über dies Leben zu gar keiner Besonnenheit zu kommen; und kein schwereres Loos ist zu ersinnen als das des Raubthiers, welches von der nagendsten Qual durch die Wüste gejagt wird, selten befriedigt und auch dies nur so, dass die Befriedigung zur Pein wird, im zerfleischenden Kampfe mit andern Thieren oder durch ekelhafte Gier und Übersättigung. So blind und toll am Leben zu hängen, um keinen höhern Preis, ferne davon zu wissen, dass und warum man so gestraft wird, sondern gerade nach dieser Strafe wie nach einem Glücke mit der Dummheit einer entsetzlichen Begierde zu lechzen — das heisst Thier sein; und wenn die gesammte Natur sich zum Menschen hindrängt, so giebt sie dadurch zu verstehen, dass er zu ihrer Erlösung vom Fluche des Thierlebens nöthig ist und dass endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch überlege man wohl: wo hört das Tier auf, wo fängt der Mensch an! Jener Mensch, an dem allein der Natur gelegen ist! So lange jemand nach dem Leben wie nach einem Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Thieres hinausgehoben, nur dass er mit mehr Bewusstsein will, was das Thier im blinden Drange sucht. Aber so geht es uns Allen, den grössten Theil des Lebens hindurch: wir kommen für gewöhnlich aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst sind die Thiere, die sinnlos zu leiden scheinen." (UB III: 377, 20 - 378, 20)

Nach einer ersten Lektüre kann der Eindruck bestehen, daß der Gegensatz zwischen den beiden Vergleichen sich wohl kaum überbieten ließe. Denn während es in der Historienschrift heißt, daß der Mensch das Tier seines paradiesischen

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Geschichte und Gerechtigkeit

Glückes wegen beneidet, wird dessen Existenz im Schopenhauer-Aufsatz als ein sinnloses Leiden, das ein tiefes Mitleid hervorruft, dargestellt. Ob der geweckte Eindruck zutrifft oder vielmehr trügt, muß sich herausstellen. Bis auf weiteres gehe ich von der Annahme aus, daß hier kein einfacher Widerspruch vorliegt und daß auch keine unterschiedlichen — das hieße hier: unvereinbaren — lebensanschaulichen Perspektiven im Spiel sind. Lehnen wir also die Lösung Haeuptners (der ja meint, es gebe bei Nietzsche eine „pantheistische" und eine dualistische Perspektive) ab, so stellt sich die Frage nach demjenigen, von dem die beiden Stellen je auf ihre Weise handeln. Nietzsche versteht die menschliche Existenz in beiden Texten als eine Passion, als einen Leidensweg. Doch gibt es auch eine Differenz. Denn der Unterschied zwischen Mensch und Tier, so wie er ihn in der Zweiten Unzeitgemäßen markiert, wird in der Dritten zum einen relativiert, zum anderen aber vertieft. Nietzsche relativiert, wenn er schreibt: „ < W > ir kommen für gewöhnlich aus der Thierheit nicht heraus, wir selbst sind die Thiere, die sinnlos zu leiden scheinen" (378, 20). Kennt der Mensch laut der Historienschrift nur verschwindend kurze Augenblicke der Erlösung, in denen er dem Tier gleich wird, so besteht die Erlösung dem Schopenhauer-Aufsatz zufolge darin, daß der Mensch sich seiner Tierhaftigkeit befreit, indem er sich über seine für gewöhnlich tierische Existenz erhebt. In dieser Hinsicht also wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier vertieft. Angesichts dieser widersprüchlichen Figur überlegt man: Woran leiden wir denn nun? Für Nietzsche ist das wohl oder nicht Vorhandensein von Einsicht in den Sinn der Existenz wesentlich. Seiner Meinung nach stehen Mensch und Tier in einem jeweils anderen Verhältnis dazu.101 Laut des Schopenhauer-Aufsatzes ist das Tier nicht imstande, sich eine solche Einsicht zu erarbeiten; dem Menschen gelinge dies zwar, aber im Durchschnitt nur für vereinzelte Augenblicke. Und dies nicht etwa, weil er nun einmal so beschaffen ist, sondern vielmehr, umgekehrt, weil er diese Einsicht fürchtet und vor ihr flieht. In der Dritten Unzeitgemäßen vertritt Nietzsche also die Ansicht, daß der Mensch meistens bemüht ist, die Einsicht zu verdrängen. Daß dies der Fall ist, geht schon aus dem ersten Kapitel der Schrift hervor: „Im Grunde weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als Unicum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird: er weiss es, aber verbirgt es wie ein böses Gewissen — weshalb? Aus Furcht vordem Nachbar, welcher die Convention fordert und sich selbst mit ihr verhüllt. Aber was ist es, was den Einzelnen zwingt, den Nachbar

101

Sollte man anführen wollen, daB dies zwar für die UB III zutrifft, daß aber in der UB II nicht sosehr das Daß der Einsicht das Problem ist, sondern das Wie, nämlich das Erinnern, so würde ich dem durchaus zustimmen. Nichtsdestoweniger bin ich entschieden der Ansicht, daß die Antwort auf die Frage, wie das Erinnern Nietzsche zufolge im einzelnen zu denken ist, erst aus dem Vergleich der angeführten Textstellen hervorgeht.

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zu fürchten, heerdenmässig zu denken und zu handeln und seiner selbst nicht froh zu sein? Schamhaftigkeit vielleicht bei Einigen und Seltnen. Bei den Allermeisten ist es Bequemlichkeit, Trägheit, kurz < ein > Hang zur Faulheit [...]. < D > ie Menschen sind noch fauler als furchtsam und fürchten gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine unbedingte Ehrlichkeit und Nacktheit aufbürden würde" (UB III: 337, 7-21).

Und weiter unten: „Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint um ihn ein fremdartiger Glanz, der des Ungewöhnlichen. Dies ist den Meisten etwas Unerträgliches: weil sie, wie gesagt, faul sind und weil an jener Einzigkeit eine Kette von Mühen und Lasten hängt. Es ist kein Zweifel, dass für den Ungewöhnlichen, der sich mit dieser Kette beschwert, das Leben fast Alles, was man von ihm in der Jugend ersehnt, Heiterkeit, Sicherheit, Leichtigkeit, Ehre, einbüsst; das Loos der Vereinsamung ist das Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen; die Wüste und die Höhle ist sofort da, er mag leben, wo er will. Nun sehe er zu, dass er sich nicht unterjochen lasse, dass er nicht gedrückt und melancholisch werde" (UB III: 359, 20-32).

Im Schopenhauer-Aufsatz ist Nietzsche somit der Ansicht, daß der Mensch in den meisten Fällen vor sich selbst flieht, weil er die Mühe scheut, welche seine Existenz ihm aufbürdet. Am liebsten würde er ganz und gar von seiner Aufgabe, unter der er leidet, entlassen werden.102 Der Mensch sehne sich nach einer leichteren Existenz, der dieser Stachel des Gewissens fehlt, und beneide deswegen das Tier. Aber wie steht es diesbezüglich um die Historienschrift? Auf den ersten Blick vertritt Nietzsche dort die Ansicht, daß der Mensch das Tier seines paradiesischen Glückes wegen beneidet. Dennoch ist es fraglich, ob dies wirklich seine Ansicht ist. Denn bereits die ersten Sätze lassen durchaus eine Distanz gegenüber der tierischen Existenz erkennen, zumal sie von einem herdenmäßigen Dasein sprechen und so auf einen Aristokratismus heraklitischen Zuschnitts schließen lassen. In Wendungen wie: „ < S > ie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder" (248, 1-4) — also ganz am Anfang! — ist die Ironie nicht zu überhören. Solange man nur die Anfangsseiten der Historienschrift in Betracht zieht, muß freilich offen bleiben, wie diese Distanz mit Nietzsches Äußerung zu vereinbaren ist, daß nur demjenigen, der sich auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangen102

Daß diese Interpretation zutrifft, kann durch folgende Stelle belegt werden: „Wir wissen es Alle in einzelnen Augenblicken, wie die weitläufigsten Anstalten unseres Lebens nur gemacht werden, um vor unserer eigentlichen Aufgabe zu fliehen, wie wir gerne irgendwo unser Haupt verstecken möchten, als ob uns dort unser hundertäugiges Gewissen nicht erhaschen könnte, wie wir unser Herz an den Staat, den Geldgewinn, die Geselligkeit oder die Wissenschaft hastig wegschenken, bloss um es nicht mehr zu besitzen, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser fröhnen, als nöthig wäre um zu leben: weil es nöthiger scheint, nicht zur Besinnung zu kommen. Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen dieser Hast, weil man zufrieden scheinen will und die scharfsichtigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte, allgemein das Bedürfniss nach neuen klingenden Wort-Schellen, mit denen behängt das Leben etwas Lärmend-Festliches bekommen soll" (UB III: 379, 7-23).

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heiten vergessend, niederläßt, Glück widerfahren kann. Denn zunächst scheint hier eindeutig das unhistorische Dasein des Tieres im Blick zu stehen. Daß hier keineswegs ein Widerspruch vorliegt, wird dann ersichtlich, wenn man die vorhin angeführte Stelle aus dem Schopenhauer-Aufsatz hinzunimmt. In dieser Schrift wird auf die Aufgabe derlndividuation aufmerksam gemacht. Nach Nietzsche sollte der Mensch sich dieser Aufgabe stellen, doch sei er meistens bemüht, sie zu verdrängen, vor ihr zu fliehen. Vor diesem Hintergrund erkennt man, daß die immer größere Last des Vergangenen, durch die der Mensch Nietzsche zufolge beschwert wird, auch jene Aufgabe der Individuation bedeuten könnte. Denn es leuchtet durchaus ein, daß der Mensch, der unter der Last, ein einmaliges Dasein gestalten zu müssen, gebückt geht, vom Anblick der weidenden Herde und des spielenden Kindes ergriffen wird. Wortwörtlich heißt es in der Historienschrift: „Deshalb ergreift es ihn . . . " (249, 15)! Trägt man diesem Umstand Rechnung, so sieht man durch die pastorale Inszenierung hindurch und hört aus der nunmehr sentimentalen Floskel die narzißtische Besetzung heraus. Aus dieser Perspektive geht somit hervor, daß es sich beim Glück des Tieres, auf das Nietzsche wenigstens dem Anschein nach am Anfang der Historienschrift ein Loblied singt, im Grunde genommen um folgendes handelt: Das Tier lebt unbeschwert dahin, weil es nicht mit der Last der Individuation versehen worden ist. Freilich heißt das nicht, daß das Unhistorische als schlechthin negativ zu bewerten sei. Nein, es sollte vielmehr zwischen einer subjektiven Bewertung der tierischen Existenz als des wiederherzustellenden Ideals und der eher objektiven Qualität des Unhistorischen unterschieden werden.103 Mithin geht es hier um eine subjektive Bewertung der tierischen Existenz (weiteres dazu im nächsten Paragraphen). Von der eher objektiven Qualität des Unhistorischen wird namentlich im dritten Paragraphen dieses zweiten Kapitels die Rede sein.

2.

Ist man gewillt, die von mir vorgelegte Perspektive in Rechnung zu stellen, so ergeben sich Konsequenzen für die weitere Interpretation. In der Fortführung des zitierten Beginns der Historienschrift (siehe S. 72) begegnet dem Leserein Passus, den ich vorhin ausgelassen hatte und in dem Nietzsche dem Tier den Menschen gegenüberstellt: „ < Der Mensch > wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell

103

Diese Unterscheidung verdanke ich einer Bemerkung P. van Tongerens.

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laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort — und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schooss. Dann sagt der Mensch ,ich erinnere mich" (UB II: 248, 18 - 249, 3) Zunächst wirkt die Stelle eindeutig: Nietzsche führt uns das Phänomen der Erinnerung vor Augen. Doch sollte man überlegen: Wessen erinnert der Mensch sich? Geht es tatsächlich um Erinnerungen im üblichen Sinne, also um Vergangenes, um die Vergegenwärtigung früherer Augenblicke? Oder ist das nur sehr bedingt der Fall und steht vielmehr anderes im Blick? Wie mir scheint, trifft letzteres zu und wird die Stelle erst ins rechte Licht gerückt, wenn wir sie mit der folgenden Passage aus dem Schopenhauer-Aufsatz zusammennehmen: „Jeder kennt den sonderbaren Zustand, wenn sich plötzlich unangenehme Erinnerungen aufdrängen und wir dann durch heftige Gebärden und Laute bemüht sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen: aber die Gebärden und Laute des allgemeinen Lebens lassen errathen, dass wir uns Alle und immerdar in einem solchen Zustande befinden, in Furcht vor der Erinnerung und der Verinnerlichung. Was ist es doch, was uns so häufig anficht, welche Mücke lässt uns nicht schlafen? Es geht geisterhaft um uns zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen diese Geisterstimme nicht hören." (UB III: 379, 23-33) Auch in diesem Textfragment ist vom Augenblick und von der Erinnerung die Rede. Doch läßt die Stelle deutlicher als das vorige Zitat erkennen, was mit dem Augenblick der Erinnerung gemeint ist. Die Erinnerung betrifft jene kurzen Momente der Besinnung, in denen der Mensch sich seiner Aufgabe entsinnt. Bei der „Geisterstimme" (379, 33) handelt es sich um die Verlautbarung unseres hundertäugigen Gewissens (379,11-12). Sie mahnt zur Einkehr — das heißt, daß das Alltägliche des Gewohnten, worin der Mensch ständig vor sich selbst flieht, für einen Augenblick ausgesetzt wird. Vergleiche dazu folgende Stelle aus dem Nachlaß, die sich im Vergleich mit dem gerade angeführten Text der Dritten Unzeitgemäßen durchaus bewährt und überdies meine Interpretation zu bestätigen scheint. Sie spricht vom „tiefen Auge", das den Menschen „aus der Mitte seines Leidens" fragend anblickt: „Jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen nicht hören; wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde — und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit. Der Mensch weicht nach Kräften dem Leiden aus, aber noch mehr dem Sinne des erlittenen Leidens, in immer neuen Zielen sucht er das dahinten-Liegende zu vergessen. Wenn der Arme und Geplagte sich gegen das Schicksal aufbäumt, welches ihn gerade an diese rauheste Küste des Daseins warf, so weicht er dem tiefen A uge aus, das ihn aus der Mitte seines Leidesfragend ansieht: al s ob es sagen wollte: ist es dir nicht leichter gemacht, das Dasein zu begreifen? Selig sind die

m

Vergleiche 7: 26 [10] - 26 [12].

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Geschichte und Gerechtigkeit Armen! — Und wenn die scheinbar Beglückteren thatsächlich von der Unruhe und Flucht vor sich selbst verzehrt werden, um die natürliche böse Beschaffenheit der Dinge, des Staates zum Beispiel oder der Arbeit oder des Eigenthums, durchaus nicht zu sehen — wem könnten sie Neid erregen!" (7: 34 [24]; 7: 799, 20 - 800, 5; Hervorhebung nicht im Original).

Der Augenblick, von dem in den gerade angeführten Stellen die Rede ist, ist ein anderer als der, welcher uns im weiter oben angeführten Satz, mit dem die Historienschrift anfängt, begegnet. Während der Augenblick hier als Mahnung des Gewissens erscheint, spricht Nietzsche dort vom „Pflock des Augenblickes" (248, 6). In dieser letzten Variante bedeutet der Augenblick etwa die Hegemonie oder auch den verbindlichen Reiz des Momentanen. Was bedeutet dieses und jenes nun für die Interpretation der als letzte angeführten Stelle aus der Zweiten Unzeitgemäßen, die vom Augenblick der Erinnerung handelt? Wie ich meine, korrespondiert sie mit den nachher zitierten Stellen und führt auch sie die Erinnerung an die Aufgabe der Individuation vor Augen. Es kommt mir vor, daß diese Interpretation erhärtet wird, wenn wir die Stelle mit dem unmittelbar Nachstehenden zusammenlesen. Hieß es bereits: „ < D > er Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort — und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schooss. Dann sagt der Mensch ,ich erinnere mich' ...",

so fährt Nietzsche fort: „... und beneidet das Thier, welches sofort vergisst und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer erlöschen sieht." (UB II: 248, 21 - 249, 5)

Der Augenblick, von dem hier in bezug auf das Tier die Rede ist, ist deutlich ein anderer als der Augenblick der Erinnerung. Hier ist wiederum die narzißtisch besetzte Wunschvorstellung einer erinnerungslosen Existenz gemeint, die dem „Pflock des Augenblickes" (248, 6) verhaftet bleibt. Aus dem Vergleich der Stellen schließe ich, daß Nietzsche auf der ersten Seite der Zweiten Unzeitgemäßen, diesem Vorübergehenden, das jeweils sofort in Vergessenheit gerät, den immer von neuem wiederkehrenden Augenblick der Verinnerlichung gegenüberstellt. Das heißt also, daß er das Wort Augenblick in zumindest zwiefacher Bedeutung verwendet. Dem ersten Anschein nach bewertet Nietzsche die Existenz des Tieres in der Historienschrift als Glück und charakterisiert er sie als momentanes Aufgehen im Augenblick. Jedenfalls ist die Stelle von den Interpreten immer wieder so ausgelegt worden. Zwar erkennt man, daß diese Unmittelbarkeit allein nicht ausreicht, um eine wahrhaft menschliche Existenz herbeizuführen — denn dies ist von Nietzsche un-

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mißverständlich zu verstehen gegeben worden105 —, aber bisher blieb im Unklaren, wie dieses und jenes zu vereinbaren ist.106 Der Sinn des Vergleichs wird ins rechte Licht gerückt, sobald man darauf achtet, daß das angebliche Glück der Tiere nur aus der Sicht jener Menschen ein Glück ist, die sich ihrer Aufgabe entledigen möchten.

Zum Schluß dieses Paragraphen versuche ich im folgenden kleinen Exkurs ein zwiefaches: Einmal will ich belegen, daß es auch für Nietzsche zwischen der Problematik der menschlichen Haltung, seinem Gewissen gegenüber, und der Frage nach der Mitte einen Zusammenhang gibt — der freilich erst später explizit wurde. Darüber hinaus möchte ich zeigen, wenn dies denn noch nötig sein sollte, daß die herdenmäßige Existenz Nietzsche keineswegs ein Glück bedeutet. Im späten Nachlaß findet sich ein Passus, der sich als ein Kommentar zu den ersten Seiten der Historienschrift ausnimmt.107 Dort heißt es: „ Der Instinkt der Heerde schätzt die Mitte und das Mittlere als das Höchste und Werth vollste ab: die Stelle, auf der die Mehrzahl sich befindet; die Art und Weise, in der sie sich daselbst befindet; damit ist er Gegner aller Rangordnung [...]. In der Mitte hört die Furcht auf; hier ist man mit nichts allein; hier ist wenig Raum für das Mißverständniß; hier giebt es Gleichheit ; hier wird das eigne Sein nicht als Vorwurf empfunden, sondern als das rechte Sein; hier herrscht die Zufriedenheit. Das Mißtrauen gilt den Ausnahmen; Ausnahme sein gilt als Schuld" (12:10 [39]; 12: 474,11-30). 1 0 8

M. Fleischer bezieht diesen Passus auf den Paragraphen 198 von Jenseits von Gut und Böse. Dort geht es um die seit den Vorsokratikern der abendländischen Tradition innewohnende Tendenz, den Streit der Affekte herunterzuspielen, — auch die von Aristoteles befürwortete Mitte (mesötes) sei davon betroffen. Ob dies AristotelesVerständnis Nietzsches zutrifft, möchte ich hier nicht erörtern. Es sollte allerdings beachtet werden, daß es, was die Mitte anbelangt, zwei extreme Varianten gibt: die Gleichgültigkeit und die Feindseligkeit. 105 106

107

108

Vergleiche UB II: 252, 34 - 253, 7. Vergleiche etwa W. Kaufmann. Nietzsche. S. 165-166, J. Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche. Den Haag 1959, S. 34 ff.; I.N. Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969, S. 25 ff.; H. Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches. Mittenwald 1982, S. 276-280. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich der Studie von M. Fleischer, Der,Sinn der Erde' und die Entzauberung des Übermenschen. Eine Auseinandersetzung mit Nietzsche, Darmstadt 1993, S. 30-31. Vergleiche des weiteren 12: 5 [107]; 12: 228, 15-19.

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Im ersten Fall werden die Gegensätze auf ein Mindestmaß reduziert. Die so herbeigeführte Langeweile aber bewirkt letzten Endes das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. Denn sie gipfelt jeweils in dem Zerbrechen jeglicher Beziehung, d.h. in der völligen Desintegration — nicht von ungefähr nennt man diese Befindlichkeit im Niederländischen die, verveling'. Im anderen Fall jedoch werden die Gegensätze auf ein Höchstmaß gesteigert. In diesem Streit, so wissen wir seit Heraklit, und es ist seitdem immer wieder von neuem ausgeführt worden (aus einer langen Tradition verzeichne ich hier nur die Namen Hölderlin, Schelling und Heidegger), finden die Gegensätze erst zu der je eigenen Mitte ein, indem der eine der andere des anderen ist. Dieser Streit gipfelt in der Mitte der Feindseligkeit, d.h. in jener vollendeten Integration, in jenem Höchstmaß der Kraft und des Willens, zu deren bzw. dessen Bezeichnung der Begriff der Innigkeit geprägt worden ist — Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang vom Philosophen als einer gegenstreitigen Vielheit. Letztere Variante der Mitte steht meines Erachtens in der folgenden späten Notiz im Blick: „Überwindung der Affekte? — Nein, wenn es Schwächung und Vernichtung derselben bedeuten soll. Sondern in Dienstnehmen: wozu gehören mag, sie lange zu tyrannisiren (nicht erst als Einzelne, sondern als Gemeinde, Rasse usw.). Endlich giebt man ihnen eine vertrauensvolle Freiheit wieder: sie lieben uns wie gute Diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser Bestes hin will." (12: 1 [122]; 12: 39, 11-17)

Im Frühwerk hat Nietzsche dies am entschiedensten in der fünften der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Homer's Wettkampf, herausgearbeitet.109 Dieses und jenes wurde wohl auch von den großen Gestalten der Tradition anvisiert. Sollte dies zutreffen, so wäre der von Nietzsche gemeinte Sachverhalt seiner Polemik zum Opfer gefallen. Denn offensichtlich verwendet erden Begriff der Mitte in der als erste angeführten Notiz, 12: 10 [39], im Sinne der Gleichgültigkeit.110 Doch bleibt er in der Hinsicht völlig im Recht, daß die Gleichgültigkeit wohl in den meisten Zeiten ein weitverbreitetes Phänomen war und sein wird und daß die großen Gestalten der Vergangenheit öfter dazu benutzt worden sind, einen im Grunde biedermännischen Status quo zu festigen. Zuletzt mag der Passus, insofern er auf den Anfang der Historienschrift zurückbezogen werden darf, belegen, daß die herdenmäßige Existenz Nietzsche zunächst die Abwesenheit aller Individualität, damit das Fehlen eines jeden Widerspruchs und also keineswegs ein begehrenswertes Ideal bedeutet. — Wenden wir uns nun einem anderen Moment des Augenblickes zu.

"" Vergleiche dazu im folgenden S. 123 ff. Daß sich der Begriff bei Nietzsche aber keinesweg darauf beschränkt, geht z.B. aus Menschliches, Allzumenschliches II, 230 (2: 484, 10-20) hervor. Weitere Hinweise finden sich bei G. Visser, Nietzsche & Heidegger. Een confrontatie, Nijmegen 1989, S. 314 u. 334.

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2. Von der Zeit als Jetztfolge und vom Mechanismus der Verdrängung 1. Genau gesehen, führt die Unmittelbarkeit des Tieres dazu, daß es dem Augenblick überantwortet ist. Denn aus der S. 73 zitierten Stelle aus der Dritten Unzeitgemäßen geht hervor, daß das Tier andauernd zwischen Lust und Unlust hin und her getrieben wird. In der Historienschrift wird dieser Umstand einmal aus dem Blickwinkel einer subjektiven Bewertung der tierischen Existenz ins positive umgebeugt. Es wird aber auch darauf hingewiesen, daß dem Tier die Möglichkeit fehlt, sich zu verstellen: „So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bleibt, es weiss sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Momente ganz und gar als das was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich" (UB II: 249, 6-10) 1 ".

In seiner vorzüglichen Paraphrase der ersten Seiten der Schrift fügt Haeuptner hinzu: „Aber auch dem Menschen ist die Unmittelbarkeit — und damit .glücklich zu leben' — möglich (sie ist sogar höchste Möglichkeit und höchste Erfüllung seines Daseins), denn wie könnte er sonst .handeln': Zu allem Handeln gehört .Vergessen'" — korrigiert sich aber, indem er hinzufügt: „So kommt es nach Nietzsche darauf an, das .unhistorische' und das .historische' Empfinden des Menschen in das richtige Verhältnis zu bringen, denn ein bestimmter ,Grad' von beidem ist für den Menschen nötig".112 Wie andere Interpreten vor und nach ihm vermag Haeuptner nicht zu erkennen, daß die besagte Unmittelbarkeit der menschlichen Existenz nach Nietzsche nun gerade nicht über das Vergessen, sondern nur über das Erinnern (d.h. dadurch, daß man sich seiner Aufgabe stellt) herbeigeführt wird. Freilich heißt das nicht, daß das Unhistorische unwichtig wäre. Wir stoßen hier vielmehr auf die Schwierigkeit, daß die unmittelbare Glückserfahrung dem Menschen zwar zuteil werden kann, sich in der Regel aber nicht einstellt, weil die Möglichkeit des Menschen, ganz und gar er selbst zu sein, sowohl von seiner eigenen, wie auch von den kollektiven Erfahrungen, also von den Erinnerungen (im Sinne gemachter Erfahrungen) her, dahin tendiert, ins Abseits gedrängt zu werden. Daraus ergibt sich die zunächst widersprüchlich anmutende, sich bei näherem Hinsehen aber paradox ausnehmende Figur, daß der Mensch sich seine Freiheit erst einmal erarbeiten muß. Er muß sie gleichsam auf dem Feld der je schon gemachten Erfahrungen zurückgewinnen. Faßt man das Feld gemachter Erfahrungen als Dickicht auf, so kommt die

'" Vergleiche auch UB II: 252: 25-27: „... doch in einem gewissen Glücke, wenigstens ohne Ueberdruss und Verstellung lebt ...". 1,2 Haeuptner, a.a.O., S. 11.

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Freiheit einer Lichtung gleich.113 Im Hinblick auf den Menschen bedeutet das Unhistorische die höchstpersönliche und in dem Sinne jeweils einmalige Erfahrung des Selbstseins. Die Erinnerung an die Aufgabe der Individuation ist der erste Schritt in Richtung dieser zutiefst unhistorischen Erfahrung. Wendet man den im vorigen Paragraphen herausgestellten Gegensatz zwischen Mensch und Tier ins positive, dann zeigt sich, daß hier zumindest zwei Auffassungen von Glück vorliegen: erstens das Glück des Tieres oder des Kindes und zweitens das Glück im Sinne einer bewußten und (auch) durch Selbsttätigkeit ins Werk gesetzten Harmonie. Und in der Tat unterscheidet Nietzsche zwischen dem „kleinen Glück" der Tiere und dem „großen" der Menschen.114 Stimmt man meiner bisherigen Auslegung, derzufolge das Phänomen der Erinnerung für Nietzsche mit der Problematik des Gewissens, mithin mit der Frage der Individuation in engstem Zusammenhang steht, zu, so ergeben sich wiederum Konsequenzen für die weitere Interpretation. Denn es besteht nun die Möglichkeit, daß die jetzt zu interpretierenden Stellen aus derZweiten Unzeitgemäßen Betrachtung sich nicht an erster Stelle auf die Erinnerung als Vergegenwärtigung von Früherem und Vergangenem beziehen, sondern vielmehr eine bestimmte Haltung, welche der Mensch seinem Gewissen gegenüber einnimt, vor Augen führen wollen. Wenn es in der Historienschrift vom Menschen heißt: „ E r wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit" (UB II: 2 4 8 , 1 8 - 2 0 ) ,

so kann die Stelle für sich genommen zu Mißverständnissen führen. Berücksichtigt man jedoch das im vorigen Paragraphen Erarbeitete, so geht hervor, daß mit jenem „Vergangenen" einmal die noch immer anstehende Aufgabe gemeint ist, auf die der Mensch als solcher angelegt ist und an die er seitens seines Gewissens immer wieder erinnert wird. Seine Bemühungen, ihr zu entrinnen, sind letztendlich ohne Erfolg.

Das Gewinnen des Offenen dieser Freiheit ähnelt der intellektualen Anschauung Hölderlins. Daß diese Beziehung nicht willkürlich ist, geht aus dem folgenden Zitat, das dem Schopenhauer-Aufsatz, also der UB III, entnommen ist, hervor: „Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich- Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst" (UB III: 382, 23-30).

1,4

Vergleiche auch die vielen entsprechenden Stellen in der Geburt der Tragödie. Ich erwähne nur GT: 28, 28-32; 29, 32-34; 43. 34 - 44, 1. UB II: 250, 2-9. Zur Interpretation der Stelle vergleiche weiter unten S. 90.

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Das Vergangene zeigt aber noch ein anderes Moment auf. Es tritt zutage, wenn Nietzsche sagt: „Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die grosse und immer grössere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal verläugnen kann, und welche er im Umgange mit seines Gleichen gar zu gern verläugnet: um ihren Neid zu wecken." (UB II: 249,10-15)

Macht man sich die oben erarbeitete Perspektive zu eigen, so kann die „grosse und immer grössere Last des Vergangenen" (249,10-11) als jene schon verstrichene Lebensfrist verstanden werden, in der der Mensch versäumt hat, sich seiner Aufgabe zu stellen und seinem Gewissen Folge zu leisten. Schröter meint, der Zielpunkt von Nietzsches Gedankengang enthülle sich erst, „wenn man auf das Allgemeine achtet, das in der Wiedererinnerung eines einzelnen Augenblicks der Vergangenheit aufgeht. Er wird als Vergangener gegenwärtig, so daß mit ihm Unwiederbringlichkeit und Verlust bewußt werden; darum wird die Erinnerung zur Quelle des Schmerzes. Im Sich-Erinnern wird die Vergänglichkeit als solche bewußt." 1 ' 5 Dem ist zuzustimmen. Dennoch verfehlt Schröter meines Erachtens den entscheidenden Punkt: Er übersieht, daß es sich hier um die Erfahrung oder Vergegenwärtigung eines irreversibelen Versäumnisses handelt, daß jener Augenblick der Verlautbarung des Gewissens gleichkommt. Der Mensch wird von dieser Erkenntnis beschwert, und er versucht sie zu verdrängen oder jedenfalls vor seinen Mitmenschen zu verbergen. Im Schopenhauer-Aufsatz sagt Nietzsche: „Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen dieser Hast, weil man zufrieden scheinen will und die scharfsichtigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte" (UB III: 379, 17-20).

Die Parallele zum vorigen Zitat dürfte offensichtlich sein. — Dieses Wissen um die sich anstauenden Versäumnisse ist meines Erachtens ein weiterer Grund, weshalb es in der Historienschrift heißt: „Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verläugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt" (UB II: 249, 15-20).

Daß das Tier und das Kind weder von dem ständig zu verdrängenden Bewußtsein einer Aufgabe bedrängt noch durch die je augenblickliche Vergegenwärtigung deren Versäumnis beschwert werden, mag sich in den Augen des gerade dadurch gequälten Menschen als einen paradiesischen Zustand ausnehmen. Doch handelt es sich hierbei keineswegs um Nietzsches eigene Ansicht, sondern um die Anzeige der subjektiven

115

A.a.O., S. 277-278.

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Zurechtlegung, von der der Mensch sich bedient. Nietzsche selbst hat ja in der anderen Fassung des Vergleichs dargelegt, daß die tierische Existenz keineswegs paradiesischen Charakters ist.116 Hinzuzufügen wäre, daß auch die Existenz des Kindes nicht unbedingt so unbeschwert sein muß, wie es von jenem Standpunkt her den Anschein haben mag. Denn sein Kummer ist so unergründlich tief, wie seine Freuden groß sind. In dieser Hinsicht erweist sich seine Blindheit als ein zweischneidiges Schwert: Das Aufgehen im Moment führt dazu, daß es einem jeden Moment überantwortet ist, so daß die Möglichkeit der Verteidigung ausscheidet. Dennoch ist zu beachten, daß Nietzsches Texte durchaus das Verlangen nach einer natürlichen Existenz erkennen lassen. Einmal geht die Schrift auf seine eigenen Erfahrungen zurück,117 woraus man folgern kann, daß er die bedrängende Last der Aufgabe der Individuation aus erster Hand erfahren hat. Darüber hinaus ist die ersehnte natürliche Existenz die Frucht, welche dem Menschen zuteil wird, alsbald er die Aufgabe bewältigt. Bekanntlich spricht Nietzsche in diesem Zusammenhang von einer „zweiten Natur"!

2.

Nietzsche fährt fort: „Und doch muss ihm sein Spiel gestört werden: nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Dann lernt es das Wort ,es war' zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Ueberdruss an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist — ein nie zu vollendendes Imperfectum. Bringt endlich der Tod das ersehnte Vergessen, so unterschlägt er doch zugleich dabei die Gegenwart und das Dasein und drückt damit das Siegel auf jene Erkenntniss, dass Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen." (UB II: 249, 20-30)" 8

1,6 117 118

Vergleiche hier S. 73. Vergleiche dazu weiter oben S. 66. Nietzsche hat diese Ansicht auch in den Frühschriften nicht immer vertreten, vergleiche dazu Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, wo es heißt: „Wollt ihr einen jungen Menschen auf den rechten Bildungspfad geleiten, so hütet euch wohl, das naive zutrauensvolle, gleichsam persönlich-unmittelbare Verhältnis desselben zur Natur zu stören: zu ihm müssen der Wald und der Fels, der Sturm, der Geier, die einzelne Blume, der Schmetterling, die Wiese, die Bergeshalde in ihren eignen Zungen reden, in ihnen muß er gleichsam sich wie in zahllosen auseinandergeworfnen Reflexen und Spiegelungen, in einem bunten Strudel wechselnder Erscheinungen wiedererkennen; so wird er unbewußt das metaphysische Einssein aller Dinge an dem großen Gleichniß der Natur nachempfinden und zugleich an ihrer ewigen Beharrlichkeit und Nothwendigkeit sich selbst beruhigen." (ZBA: 715, 32 - 716, 10) Nietzsche stellt hier ein ungestörtes Verhältnis zur umringenden Natur an erster Stelle. Diese Ansicht in betreff der Kinderzeit findet man auch andernorts, etwa in Hyperions Athenerbrief

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Es heißt hier, daß die Erinnerung mit der Gegenwärtigkeit des „ ,es war'" (249, 22) ihren Anfang nimmt.119 Aufgrund voriger Schlüsse können wir dies nun so verstehen, daß sie in dem Augenblick beginnt, in dem das Bewußtsein des Sollens aufbricht. Dies geschieht jeweils dann, wenn der Mensch das Ziel seiner Existenz erkennt. In jenem Augenblick fängt die Sanduhr zu laufen, die Frist zu verstreichen an. In dem Moment beginnt die Bedrängnis von seiten der Zeit. Je nachdem, ob und wie das Individuum sich seiner Aufgabe stellt oder ihr sich verweigert, wird seine Existenz im Zeichen des Kampfes und des Leidens oder in dem der Langeweile und der Gleichgültigkeit oder gar in dem des Ekels stehen.

(Hölderlin). Anders als Hölderlin, welcher der Ansicht ist, daß der Mensch früher oder später dann doch das Paradies hinter sich lassen und eine exzentrische Bahn antreten muß, bezeugt sich Nietzsche in der Fortführung dieses Passus der Ansicht, daß es möglich ist, ohne jeden Bruch zum Ziel der Bildung zu gelangen. Zuvor aber führt er vor Augen, wie dies Verhältnis in der üblichen Bildung zerstört wird: „Aber wie vielen jungen Menschen darf es gestattet sein, so nahe und fast persönlich zur Natur gestellt heranzuwachsen! Die Anderen müssen frühzeitig eine andre Wahrheit lernen: wie man die Natur sich unteijocht. Hier ist es mit jener naiven Metaphysik zu Ende: und die Physiologie der Pflanzen und Thiere, die Geologie, die unorganische Chemie zwingt ihre Jünger zu einer ganz veränderten Betrachtung der Natur. Was durch diese neue angezwungene Betrachtungsart verloren gegangen ist, ist nicht etwa eine poetische Phantasmagorie, sondern das instinktive wahre und einzige Verständniß der Natur: an dessen Stelle jetzt ein kluges Berechnen und Überlisten der Natur getreten ist. So ist dem wahrhaft Gebildeten das unschätzbare Gut verliehn, ohne jeden Bruch den beschaulichen Instinkten seiner Kindheit treu bleiben zu können und dadurch zu einer Ruhe, Einheit, zu einem Zusammenklang und Einklang zu kommen, die von einem zum Lebenskampfe Herangezogenen nicht einmal geahnt werden können." (ZBA: 716, 10-26) Wie gesagt, gehen Hölderlins und Nietzsches Ansichten in diesem Punkt auseinander. Die beiden sind sich jedoch darin einig, daß die ungestörte Kindheit nicht unbedingt die Regel ist — Hölderlin stellt den Athenern die Spartaner gegenüber —, mithin sind beide der Ansicht, daß der paradiesische Anfang nicht immer der Fall ist. Das wirft nun auch ein anderes Licht auf den Topos des (Sünden)Falles. Der Crux der Problematik läuft darauf hinaus, daß der Anfang des Bildungsweges öfter erst einmal erarbeitet werden muß. Nach Nietzsche ist die Kunst dazu berufen: Sie bewirkt, daß einem die je anfängliche Selbsterfahrung, d. h. die ästhetische Erfahrung, zuteil wird. Nietzsche bezeugt sich hier der Ansicht, daß der Fall vermieden werden kann. In der im Text zitierten Stelle aus der Historienschrift ist er aber durchaus der Meinung, daß dieses selbstvergessene Spiel gestört werden muß. Hölderlin differenziert in seinem Athenerbrief dahingehend, daß der Verlust des ursprünglichen Verhältnisses zur Natur (aus unserer Sicht würde dies sich als das Erlebnis der ästhetischen Selbsterfahrung herausstellen) zwar notwendig ist, daß er sich aber erst nach dem Erlangen der Reife oder der Vollendung des Kindes ereignen sollte: „ < D > enn jede Kunst und Zucht beginnt zu früh, wo die Natur des Menschen noch nicht reif geworden ist. Vollendete Natur muß in dem Menschenkinde leben, eh' es in die Schule geht, damit das Bild der Kindheit ihm die Rückkehr zeige aus der Schule zu vollendeter Natur" (F. Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, I, 139-40, [Große Stuttgarter Ausgabe, Band 3, S. 78]). 119

Zu dieser Problematik vergleiche im folgenden S. 117 ff. Vergleiche dazu Bulhof, a.a.O., S. 39-42.

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Daß Nietzsche die Existenz des Menschen als „ein nie zu vollendendes Imperfectum" (249, 24-25) charakterisiert, ist nicht ohne weiteres mit seinen im Schopenhauer-Aufsatz vertretenen Ansichten zu vereinbaren. Denn dort spricht er vom wahrhaften Menschen, der die „Erlösung vom Fluche des Thierlebens" (378, 9), ja gar die „Erlösung < der > gesammte < n > Natur" (380,8-9) herbeiführe. Zwar sei der Wahrhafte nicht die Regel, sondern vielmehr die Ausnahme, aber dennoch glaubt Nietzsche, in „jene < n > grossen erlösenden Menschen" (384, 19-20) das Ziel der Menschheit und der Natur überhaupt erkennen zu können.120 Gemeint sind „jene wahrhaften Menschen, jene Nicht-mehr-Thiere, die Philosophen, Künstler, und Heiligen" (380, 15-17)121 — laut des Zarathustras sind sie der „Sinn der Erde". Dies ist aber keine spätere Entwicklung, vielmehr findet man den Gedanken schon in der Historienschrift—etwa dort, wo es heißt: „Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren" (317, 24-26). Demnach bedeutet das Wort vom nie zu vollendenden Imperfectum, daß das Dasein des Menschen nie problemlos wird, auch nicht in seiner höchsten Gestalt. Mehr noch, gerade in seiner höchsten Gestalt haftet ihm eine erdrückende und kaum zu verkraftende Schwere an.122 Inder Historienschrift bezeichnet Nietzsche die Tugend der Gerechtigkeit als eine unmögliche (286, 28) und setzt das Große diesem Unmöglichen gleich (319, 19).123 Dagegen vertritt er im Schopenhauer-Aufsatz die Ansicht, daß das Große durchaus möglich ist — Schopenhauer wird ja als exemplarisches Vorbild vorgeführt. Freilich sei ein solcher großer Mensch größten Gefahren ausgesetzt. Weiter unten, im dritten

120 121

Vergleiche UB III: 383, 34 - 384, 20. Vergleiche den Rahmen, UB III: 378, 20 - 380, 22, wo es heißt: „Aber es giebt Augenblicke, wo wir dies begreifen: [...] wie wir sammt aller Natur uns zum Menschen hindrängen, als zu einem Etwas, das hoch über uns steht. [...] Dies Alles begreifen wir, wie gesagt, dann und wann einmal und wundem uns sehr über alle die schwindelnde Angst und Hast und über den ganzen traumartigen Zustand unseres Lebens, dem vor dem Erwachen zu grauen scheint und das um so lebhafter und unruhiger träumt, je näher es diesem Erwachen ist. Aber wir fühlen zugleich, wie wir zu schwach sind, jene Augenblicke der tiefsten Einkehr lange zu ertragen und wie nicht wir die Menschen sind, nach denen die gesammte Natur sich zu ihrer Erlösung hindrängt: viel schon dass wir überhaupt einmal ein wenig mit dem Kopfe heraustauchen und es merken, in welchen Strom wir tief versenkt sind. Und auch dies gelingt uns nicht mit eigner Kraft, dieses Auftauchen und Wachwerden für einen verschwindenden Augenblick, wir müssen gehoben werden — und wer sind die, welche uns heben? Das sind jene wahrhaften Menschen, jene Nicht-mehr-Thiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen; bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe."

122 123

Vergleiche UB III: 361, 15 ff. Die These der Unmöglichkeit einer solchen Tugend könnte auf 7: 29 [29] zurückgehen.

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Kapitel, werde ich ausführen, daß Nietzsche aufzeigt, wie, ihm zufolge, Schopenhauer „mit Grösse und Würde seinen Beruf als siegreich Vollendeter" (358, 24-25) vollbrachte: Schopenhauer sei es gelungen, die Mitte zwischen der Gefahr der Verhärtung und der der Sehnsucht zu bewahren.124 Somit ist das Große immerhin möglich. Wenn Nietzsche das Dasein dennoch als „ein nie zu vollendendes Imperfectum" (249, 24-25) bezeichnet, dann könnte man daraus schließen, daß er das natürliche oder auch das für gewöhnlich tierhafte Dasein des Menschen im Blick hat. Allerdings ist das nur bedingt der Fall. Denn nach Nietzsche handelt es sich dabei um „ein ununterbrochenes Gewesensein" (249, 28). „Dasein", so die Zweite Unzeitgemäße, ist „ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen" (249, 28-30). 125 Die

124 125

Vergleiche dazu im folgenden S. 122 ff. Dieser letzte Passus ist von Fleischer als Kemsatz ihrer überaus schlüssigen (Re)Konstruktion der hier von Nietzsche vollzogenen Analyse der Zeitlichkeit des Menschen genommen worden. Sie übersieht aber, daß damit nur die eine Seite der Medaille gestreift ist. Das Erinnerungsvermögen wird von ihr — wie von Gerhardt („das Erinnern, jene genuin menschliche Quelle des Unglücks", Gerhardt, a.a.O., S. 153) — als nur negativ genommen und als Quelle alles menschlichen Unglücks ausgelegt. Nietzsche hat die traditionelle Formel immer wieder verwendet. Stambaugh zitiert am Anfang ihrer Studie (a.a.O., S. 1) folgende Stelle aus der dritten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern: „Was in dieser entsetzlichen Constellation der Dinge leben will das heißt leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen ,welt- und erdgemäß' Organ fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als Werden. Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist eins" (GS: 768, 25-32). Sie stellt diesem Passus aber einen anderen aus Also sprach Zarathustra gegenüber, in dem zwar wiederum vom Widerspruch die Rede ist, der Urschmerz sich aber in Urlust gewandelt hat. Dennoch bleibt letzteres Moment in ihrer Interpretation des von mir angeführten Satzes aus der UB II weitgehend unbeachtet. Sie ist der Ansicht, infolge der Struktur des Sichverzehrens, welche der Zeit inhäriere, liege der Schwerpunkt in der Vergangenheit. Sie meint, daß der vorhergehende Moment vom nachkommenden verschlungen wird: „Die Vergangenheit ermöglicht die Zukunft, indem sie den Stoff für das Verzehren konstituiert und so die Zukunft kommen läßt" (a.a.O., S. 31). Zum Verzehren bedarf es aber erst einmal des Gebärens\ Obzwar ihr schon gegenwärtig ist, daß hier ein Problem liegt (das der Herkunft der Zukunft, des nachfolgenden Moments) schließt sie dennoch: „Die Zukunft fließt unhaltbar in die Vergangenheit hin, und die Gegenwart ist nur die willkürliche, bestandslose Grenze zwischen beiden" (a.a.O., S. 31). Diese Analyse führt dann zu der Hypothese, daß es zum einen eine „natürliche" und zum anderen eine „historische" Zeit gibt. Im Gegensatz zur ersteren sei die letztere auf die Zukunft ausgerichtet: „So ergibt sich ein Widerspruch zwischen der in die Vergangenheit hin verschwindenden Zeit des Werdens und der nach der Zukunft als dem Ziel ihrer Entwicklung strebenden Zeit des historischen Daseins." (a.a.O., S. 31) Sie ist mithin der Ansicht, daß der Strom des Lebens im Gegensatz zur Historie rückwärts fließt. Wie oben bereits vermerkt, begegnet auch in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ein Passus, in dem Nietzsche sich der traditionellen Formel anschließt. Anläßlich der Philosophie Heraklits heißt es dort:

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Linie unserer bisherigen Interpretation weiter verfolgend, lege ich diese traditionelle Formel betreffend die Zeit nun so aus, daß sie den Mechanismus der Verdrängung betrifft: Der natürliche Mensch, der in einer gleichsam tierhaften Existenz dahinlebt, wird hin und her getrieben und darüber hinaus andauernd von dem verdrängten Bewußtsein seines Versäumnisses gequält. Denn nicht nur stellt jeder Moment seiner Existenz ein Versagen dar, dessen Gegenwart er zu verdrängen bestrebt ist, sondern obendrein liegt in jedem Augenblick die Gefahr, daß dieser Mechanismus fehlschlägt und daß, demzufolge, das Verdrängte an die Oberfläche gelangt. Deshalb also muß auch ein jeder Augenblick sofort verdrängt werden. Weil nicht nur die Aufgabe der Individuation, sondern auch die Möglichkeit ihrer Vergegenwärtigung verdrängt wird, liegt eine doppelte Verdrängung vor. Dieses immerzu aufs neue Verdrängen des eigentlichen Anliegens ist gemeint, wenn Nietzsche vom Sich-selbst-Verneinen und Verzehren, vom Sich-selbst-Widersprechen des Daseins redet. Wenn ich recht sehe, gibt Nietzsche (dadurch, daß er die Formel innerhalb der narzißtischen Perspektive verwendet) zu bedeuten, daß die herkömmliche Deutung der Zeit als einer Jetztfolge im Grunde genommen jenes Umgehen der je eigenen Aufgabe des Menschen vor Augen führt. Freilich könnte man meinen, durch diese Interpretation werde der Widerspruch in Nietzsches Denken weitgehend reduziert. Doch trifft dies keineswegs zu. Vielmehr spielt der Widerspruch in meiner Lektüre eine geradezu zentrale Rolle! Um dies erläutern zu können, muß ich allerdings dem weiteren Gang der Untersuchung vorgreifen. In den Prolegomena wurde kurz erwähnt, daß das Leben (oder das Ur-Eine) in sich zerstritten ist. Es widerspricht sich selber. In seinen Frühwerken vertritt Nietzsche die Ansicht, daß der vollendete Mensch, das Genie, die Erlösung aus der Zerrissenheit herbeiführt beziehungsweise, daß er dies tun soll. In der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung wird diese Aufgabe dem Gerechten zugedacht. Meine Darlegung der tradionellen Auffassung der Zeit ist nun aufs engste mit der Form der Gerechtigkeit liiert, welche ich als die diachrone bezeichne. Sie soll im

„So wie er die Zeit erkannte, erkannte sie zum Beispiel auch Schopenhauer, als welcher von ihr wiederholt aussagt: daß in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst ebenso schnell wieder vertilgt zu werden, daß Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden sei" (PhZG: 823, 31 - 824, 4). Vergleiche dazu folgende Notiz aus dem späten Nachlaß: „Die neue Welt-Conception. 1) Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen, — sie erhält sich in Beidem ... Sie lebt von sich selber: ihre Excremente sind ihre Nahrung. [...]" (13: 14 [188]; 13: 374, 17-22; vormals WzM 1066).

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letzten Paragraphen des sechsten Kapitels eingehend erörtert werden. Hier genügt es, zu wissen, daß diese Art der Gerechtigkeit, also die diachrone, in einer restlosen Gleichgültigkeit gipfelt. Es geht um diejenige Gleichgültigkeit, welche nicht nur die Möglichkeit des Selbstseins grundsätzlich abstreitet, sondern auch der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem bzw. den Anderen sorgfältig aus dem Weg geht. Die Hege und Pflege der Gleichgültigkeit beabsichtigt, die Aufgabe der Indi viduation restlos zu beseitigen. Auch die Möglichkeit einer Harmonie wird so ausgegrenzt. Das soll nun wiederum nicht heißen, daß der Widerspruch (erst) durch die Bewältigung jener Aufgabe ausgebannt werde. Vielmehr kommt der Widerspruch erst dann zum Tragen. Denn sobald ein Mensch seine Aufgabe bewältigt, indem er sein individuelles Selbstsein, somit die unhistorische Erfahrung, herbeiführt, kommt es zur Auseinandersetzung mit den anderen. Seien sie nun auch Individuen oder noch der Herde verhaftet — in beiden Fällen gibt es Streit. Denn jede Eins steht zunächst zu allem anderen in Widerspruch. Daraus mag jetzt schon hervorgehen, daß das Erlangen der unhistorischen Erfahrung nach Nietzsche keineswegs das Ende des Bildungsweges ist. Vielmehr fängt er erst damit an, weshalb die Bezeichnung .anfängliche Erfahrung' durchaus zutrifft. Der weitere Weg der Bildung besteht darin, zu lernen, diese Erfahrung auch in der Auseinandersetzung mit dem (bzw. den) Anderen zu bewahren. In diesem Zusammenhang wird uns eine weitere Art Erinnerung begegnen, nämlich die der Integration des Anderen im Selbst — doch dazu mehr in meinem dritten Kapitel. Halten wir also zunächst Folgendes fest: Nach unserer bisherigen Auslegung versucht, Nietzsche zufolge, der Mensch über die Verdrängung dasjenige zu erreichen, was dem Tier von Natur aus gegönnt sei: in völliger Vergessenheit dahinzuleben. Aber an unkontrollierten Momenten bricht die Erinnerung an jene Aufgabe dennoch hervor, und für einen Augenblick vergegenwärtigt der Mensch sich die ganze Ödnis seiner bisherigen Existenz, nämlich dann, wenn sein Gewissen ihm zuruft: „, < S > e i d u selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst.'" (UB III: 338, 10-12)

Der nächste Paragraph befaßt sich mit einem dritten Moment des Augenblickes.

3. Vom Augenblick der großen Erfahrung Im dritten Absatz des ersten Kapitels der Historienschrift wendet Nietzsche seinen Blick von neuem dem Tier zu: „Wenn ein Glück, wenn ein Haschen nach neuem Glück in irgend einem Sinne das ist, was den Lebenden im Leben festhält und zum Leben fortdrängt, so hat vielleicht kein Philosoph

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Geschichte und Gerechtigkeit mehr Recht als der Cyniker: denn das Glück des Thieres, als des vollendeten Cynikers, ist der lebendige Beweis für das Recht des Cynismus." (UB II: 249, 31 - 250, 2)

Nur für den von seinen Erinnerungen gequälten Menschen bedeutet das Glück des Tieres ein Glück. Wegen des Fehlens jeglicher Aufgabe kann das Tier niemals einer Versäumnis beziehtet und niemals an diese oder jene erinnert werden — das heißt, daß die Verlautbarung des Gewissens im Augenblick ihm wohl völlig fehlt. Dies als Glück zu bewerten, kommt nach Nietzsche dem Standpunkt eines Zynikers gleich. Sowohl in der Zweiten als auch in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung vertritt Nietzsche die Ansicht, daß sich die Existenz der Tiere zwischen den Extremen der momentan erlebten Lust und Unlust bewegt.126 Allerdings meint er, daß die Unbeständigkeit seines Daseins dem Tier niemals als solche gegenwärtig ist. Dazu heißt es in der Historienschrift: „Das kleinste Glück, wenn es nur ununterbrochen da ist und glücklich macht, ist ohne Vergleich mehr Glück als das grösste, das nur als Episode, gleichsam als Laune, als toller Einfall, zwischen lauter Unlust, Begierde und Entbehren kommt." (UB II: 250, 2-5)

Im übrigen spricht er sich hier nicht sehr deutlich aus: Was bedeutet die Rede vom kleinen und großen Glück? Gibt es so etwas wie eine Skala des Glücks? Oder handelt es sich vielmehr um einen Gegensatz? Etwa um den, der zwischen dem Menschen und dem Tier herrscht? Sollte dieser Gegensatz gemeint sein, so könnte es sich beim kleinen Glück um das Fehlen jeglicher Erinnerung handeln. Denn in dieser Hinsicht sei dem Tier ja ein kontinues Glück gegönnt worden. Aber worauf bezieht sich das große Glück? Gilt es der Erinnerung? — laut der Historienschrift liegt dieses Vermögen doch dem Unglück der Menschen zugrunde? Das ist zwar richtig, zeigt aber zunächst nur an, daß eine Interpretation, welche nur dieser Schrift oder gar nur ihrem ersten Abschnitt Rechnung trägt, sich in Anbetracht des sonstigen Frühwerkes wohl kaum wird behaupten können. Meines Erachtens liegt die Bedeutung der Stelle vielmehr darin, daß Nietzsche hier die namentlich im Schopenhauer-Aufsatz angeführte Möglichkeit streift, daß der Mensch sich seiner Aufgabe stellt und sie bewältigt. Demnach handelt es sich beim großen Glück um das Glück der großen und vollendeten Menschen, also der Heiligen, Künstler und Philosophen. Diese Möglichkeit wird nach Nietzsche vom Zyniker abgelehnt. Aber weshalb weist der Zyniker sie zurück? Der Grund ist wohl der, daß dieses Glück zunächst unbeständig ist127 — das „ ,es war'", von dem zuvor die Rede war, kann durchaus auch in diesem Sinne genommen werden!

126 127

Siehe UB II: 248, 5 und UB III: 377, 30 - 378, 3. Vergleiche UB II: 250, 2-5.

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1.

Unmittelbar anschließend an der zuletzt angeführten Stelle fährt Nietzsche wie folgt fort: „Bei dem kleinsten aber und bei dem grössten Glücke ist es immer Eines, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glücklich macht. Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Thiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten wiederkäuen leben sollte." (UB II: 250, 5-26)

In dieser Passage bekommt Nietzsches Ausführung einen anderen Akzent. Jedoch könnte man auch meinen, daß der Schwerpunkt meiner Darstellung im folgenden verlegt wird. Denn bisher habe ich mit Bedacht eine bestimmte Bedeutung der Erinnerung außer acht gelassen, die nichtsdestoweniger mit im Spiel war — gemeint ist die Erinnerung im naheliegenden Sinne der Gegenwart der individuellen oder auch kollektiven Vergangenheit. Diese Art der Erinnerung kann den Menschen von seinem eigentlichen Auftrag fernhalten, weshalb es sich in diesen Fällen um eine uneigentliche Erinnerung handelt. Sie fördert die Konvention, statt zur Individuation anzuregen. Damit die eigentliche Erinnerung, also die Vergegenwärtigung der Aufgabe, eine Chance bekommt, sich zu erkennen zu geben, muß der Mensch sich der uneigentlichen Erinnerung, also der Konvention, entledigen. Ich versuche meine Ansicht dadurch zu erläutern, daß ich die angeführte Stelle näher erörtere. Dabei ist mein Anliegen Folgendes: Wenn es zutrifft, daß Nietzsche der Erinnerung mehrere Bedeutungen beimißt, so könnte es durchaus sein, daß er auch am Vergessen und an der Vergessenheit mehrere Varianten unterscheidet, welche mit denjenigen der Erinnerung korrespondieren. Allerdings kann dies nur für den Menschen zutreffen, denn das Dasein der Tiere zeigt in der Hinsicht eine weitere Differenz auf, daß eben diese Beziehung fehlt. Das Vergessen des Tieres bedeutet das Fehlen der Erinnerung schlechthin — streng genommen kann das Tier gar nicht erst Vergessen, denn ihm fehlt die Erinnerung. Anders beim Menschen. Dieser kann sich sowohl erinnern als auch vergessen. Er vermag obendrein, sich seiner zu vergessen und sich seiner zu erinnern. Gehen wir der Sache jetzt im einzelnen nach.

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Geschichte und Gerechtigkeit

Insofern es zuweilen, oder gar für gewöhnlich, seiner eigentlichen Aufgabe zuwiderhandelt, wirkt das Erinnerungsvermögen als ein zweischneidiges Messer. Ich bin der Ansicht, daß die in der Historienschrift angesichts dieses Vermögens verbreitete Polemik an erster Stelle dessen pervertierter und somit uneigentlicher Gestalt gilt. Beispielsweise wenn es am Anfang der gerade angeführten Stelle heißt: „Bei dem kleinsten aber und bei dem grössten Glücke ist es immer Eines, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden." (UB II: 250, 5-9)

Meiner Meinung nach führt die Stelle leicht in die Irre. Denn im VergessenKönnen (250, 7) sind mehrere, und zwar grundverschiedene Sachen auf den selben Nenner gebracht worden: das fortwährende Vergessen des Tieres und das VergessenKönnen als ein spezifisch menschliches Vermögen — das, wie ausgeführt wurde, mit dem Erinnern-Können einhergeht.128 An dieser Stelle kommt dem Vergessen-Können nun wiederum eine neue Bedeutung zu. Denn hier geht es um den Akt der Befreiung von der verkehrten Gestalt des zwiefachen Vermögens des Erinnerns und Vergessens. In Hinblick auf den Menschen deckt der Ausdruck Vergessen-Können also zwei völlig entgegengesetzte Bedeutungen. Das Vergessen-Können im letzteren Sinne ist die Bedingung, ohne deren Erfüllung der Mensch nicht imstande ist, sich von neuem seiner eigentlichen Aufgabe zu entsinnen und zu seinem Selbstsein zurückzufinden. Demnach meint dieses Vergessen-Können im Grunde genommen die mit Übergehung alles Nebensächlichen vorgenommene Rückbesinnung auf die wahren Bedürfnisse und Verlangen.129 Nach Nietzsche muß der Mensch einer unverwechselbaren Individualität Gestalt verleihen, und dazu muß er sich des Uniformierenden und Beengenden waltender Konventionen entledigen. Mithin kommt dieses Vergessen dem Treffen einer Entscheidung gleich — unterscheidet sich also grundsätzlich von demjenigen Vergessen, von dem in bezug auf die Existenz des Tieres die Rede war. Dies dürfte auch von Gerhardt gemeint sein, wenn er schreibt: „Mit Blick auf die menschliche Existenz sind ,Leben' und ,Tat' für Nietzsche ein Begriff. Die Tat ist der einzig gültige Ausweis der Persönlichkeit". Und wenig später: „In der Zuspitzung auf die Tat sieht man, was Nietzsche eigentlich unter jenem Leben versteht, das

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Das Erinnern ist hier im strengen Sinne genommen, das heißt als die jeweils augenblickliche Auseinandersetzung mit der in bezug auf die menschliche Existenz wesentliche Aufgabe. Es handelt sich also nicht um Erinnerungen an bestimmte Erlebnisse. Bekanntlich verfügen zumindest einige Tierarten (etwa Hunde und Elephanten) durchaus über Erinnerungen im Sinne gemachter Erfahrungen. Darüber hinaus gibt es manche Arten, deren Individuen sich als lernfähig erweisen. Zwar mag dies behavioristisch ausgelegt werden, aber dennoch bleibt die Frage, ob und inwiefern es in dieser Hinsicht einen wesentlichen Unterschied zum Menschen gibt oder geben kann. Vergleiche dazu die Interpretation Buebs, a.a.O., S. 41-42 und Anmerkung 11 (S. 193). UB II: 333, 17-26 und 333, 27 - 334, 14.

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Geschichte nötig hat: Es ist das im Bewußtsein der Endlichkeit, Entscheidbarkeit und Unwiederholbarkeit vollzogene tätige Leben, das sich nur dann entwickelt und erhält, wenn es seine eigene Kraft entfaltet".130 Mit Recht vermerkt die Arbeit Stambaughs auch die „.positiven' Aspekte" des Unhistorischen.131 Daß es „keineswegs mit einem bloßen Vergessen" zusammenfällt, geht aus der Beschreibung, die Nietzsche etwas weiter unten in bezug auf die unhistorische Erfahrung vornimmt, klar hervor. Dort heißt es: „ < W > as er überhaupt wahrnimmt, das nahm er noch nie so wahr, so fühlbar nah, gefärbt, durchtönt, erleuchtet, als ob er es mit allen Sinnen zugleich ergriffe" (UB II: 253, 1820). 132

Schröter bemerkt dazu: „Der auf solche Weise von etwas ergriffene Mensch erlebt die Überwindung einer Entfremdung. Die durch Konventionen ausgelegte, in Neutralität und Gewohnheit versunkene Welt belebt sich ihm. Sie wird zu seiner eigenen. Er hat erst wirklich Gegenwart. An ein solches Sicherschließen von Wirklichkeit denkt Nietzsche, wenn für ihn noch der engste Gesichtskreis eines Alpentalbewohners mehr Leben verspricht, als die universale Perspektive des historisch Gebildeten".133 Dem stimme ich zu, bemerke aber darüber hinaus, daß Nietzsche hier wohl jene Erleuchtung oder jene ästhetische Erfahrung im Blick hat, die laut der Geburt der Tragödie die einzig mögliche Rechtfertigung der Welt ist.134 Die Interpretation der vorigen Stelle wirkt sich nun auf den unmittelbar nachstehenden Passus aus: „Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zustehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glücklich macht." (UB II: 250, 9-14)

In der Regel wird dieser Satz von den Interpreten auf die als erstrebenswert ausgelegte Vergessenheit, in der das Tier dahinlebe, bezogen.135 Aus dem soeben Aus-

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133 134 135

V. Gerhardt, .Leben und Geschichte', S. 148. Allerdings stellt sich dann die Frage, was er nun eigentlich meint, wenn er, an anderer Stelle, vermerkt, das Erinnerungsvermögen sei die „genuin menschliche Quelle des Unglücks" (a.a.O., S. 153). J. Stambaugh, a.a.O., S. 34, Anmerkung 16. Zum Begriff der Erleuchtung vergleiche Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (ZBA: 700, 24 und 28) und namentlich die erste der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Bächern (PW: 755, 7, 14 und 16) — letztere wurde im vorigen Kapitel im Kontext angeführt (siehe S. 64). Vergleiche außerdem weiter unten S. 167 ff. H. Schröter, a.a.O., S. 292. GT: 47, 26-27; 152, 19-20. Vergleiche wiederum Gerhardt, a.a.O., S. 138-139. Des weiteren Bulhof, a.a.O.. S. 25: im weiteren Verlauf ihrer Arbeit zeigt sie sich allerdings durchaus der Ansicht, daß es eine Beziehung zwischen dem unhistorischen Moment und dem großen Augenblick gibt. Mit Bezug auf die ange-

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Geschichte und Gerechtigkeit

geführten geht jedoch hervor, daß sich eine solche Auslegung angesichts meiner bisherigen Interpretation wohl kaum behaupten kann. D e n n das würde ja heißen, daß mit d e m im Satz genannten Augenblick der M o m e n t einer uneingeschränkten Verdrängung

gemeint wäre. Im Endeffekt käme dieser Moment dem, wenigstens m o -

mentan erlebten, kleinen Glück der Tiere gleich — offensichtlich wäre eine solche Deutung meiner bisherigen Interpretation zuwider, weshalb ich folgende Alternative vorschlage: Vielleicht hat Nietzsche an dieser Stelle nicht das kleine Glück der Tiere im Blick, sondern jenes große Glück, das als Möglichkeit und Aufgabe dem Menschen mitgegeben worden ist. In d e m Fall bezieht das Vergessen aller Vergangenheiten (250, 10) sich auf das Ablegen jener Erinnerungen, jener individuellen oder auch kollektiven Erfahrungen, die den Menschen von seinem eigenen Selbst entfremden und ihm die Einkehr zu sich selbst verbauen. W i e gesagt, kommt dies einer

Entscheidung

führte Stelle heißt es jetzt: „Einen solchen offenen Augenblick, wenn Angst und Begierde wegfallen und Glück erfahren und gegeben wird, nennen wir den grossen Augenblick" (a.a.O., S. 107108). Dies trifft ins Schwarze — aber wie mir scheint, bleiben die Verhältnisse im einzelnen dennoch weitgehend ungeklärt. Mit Recht bemerkt Haeuptner: „Vom Glück als Ziel menschlichen Tuns muß das .Glück' als Stimmung unterschieden werden, das nicht die Intentionalität des Handelns, sondern das Handeln selbst bestimmt." Wenn er aber wie folgt fortfährt: „In der Hauptsache ist hier die Unmittelbarkeit des .Tieres' und .Kindes' von der Unmittelbarkeit des .Menschen' als eines geschichtlichen Wesens zu scheiden" (Haeuptner, a.a.O., S. 15-16), so kann ich ihm nicht folgen. Er meint, Nietzsche sehe die Unmittelbarkeit des Tieres und des Kindes zwar tatsächlich als ein verlorenes Paradies an, aber dennoch handle es sich in erster Linie um ein Stilmittel: „Die Unmittelbarkeit des .Tieres' bedeutet die idealtypische Konstruktion eines erinnerungslosen Daseins, und die des Kindes hat den Sinn natürlichen, animalischen Daseins" (Haeuptner, a.a.O., S. 17). Dagegen käme der Unmittelbarkeit des Menschen „de < r > Sinn einer Oberwindung der Zeithaftigkeit der Existenz (hier .Vergessen' genannt)" zu: „die Unmittelbarkeit wird also für den Menschen zu einer Aufgabe, während das Tier und das Kind einfach in ihr leben" (Haeuptner, a.a.O., S. 18). Im Text habe ich dargelegt, weshalb diese Sicht der Dinge sich angesichts anderer Momente des Frühwerks schwerlich behaupten kann. Ich bin mit Haeuptner einer Meinung, daß „ < m > it dem Aufgehen in der Gegenwart [...] die Echtheit, Ehrlichkeit, das Ganz-Selbst-Sein ", ich wehre mich aber der Ansicht, daß „ < d > iese Art der Echtheit und des Selbstseins" dem Menschen nur in der Form einer „Selbst- und Weltvergessenheit" zugänglich ist (Haeuptner, a.a.O., S. 18). Mithin bestreite ich auch seine Einschätzung, daß fortwährendes Glück nur dem Kind und dem Tier gegönnt ist und daß es das Glück des Menschen nur „als selten mögliche momentane Überwindung der Zeitlichkeit" gibt, daß also der Mensch „nur durch Aufgabe des Selbstbewußtseins ganz und echt er selbst und damit zum Schaffen fähig" wäre (Haeuptner. a.a.O., S. 19). Vergleiche des weiteren W. Müller-Lauter, Nietzsche, S. 45 und 48. Die Interpretation dieses Passus, die J. Stambaugh in ihrer Studie vorlegt, basiert auf einer der zwei konkurrierenden Auffassungen der Zeit, die sich ihrer Ansicht nach bei Nietzsche finden (Stambaugh, a.a.O.. S. 1): auf dem „Werden" als „unersättliche Gier zum Dasein" (a.a.O.. S. 2). In der anderen Auffassung erscheint die Zeit, also das Werden, aber vielmehr als ein „Sichfliehen [Voreinanderfliehen] und Sich-wieder-suchen" der Götter (a.a.O., S. 2). Obgleich sie selbst betont, daß von Anfang an bei Nietzsche beide Perspektiven eher nebeneinander auftreten, als daß eine Entwicklung von der einen zu der anderen aufweisbar wäre, unterläßt sie es, den Passus auch aus der zweiten Perspektive zu lesen — vergleiche Stambaugh. a.a.O., S. 34 ff.

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gleich, mit der der Einzelne die von Nietzsche genannte Schwelle des Augenblicks (250, 9-10) betreten mag. Sollte meine Darlegung zutreffen, so kommt dem Begriff Augenblick hier wiederum eine andere Bedeutung zu, nämlich die der Erfüllung oder Verwirklichung des Menschen höchster Möglichkeit: die der Individuation. Gemeint ist der Augenblick der Harmonie und des Gleichgewichts — also jene Ganzheit, die das Ergebnis der Selbstbeherrschung und das Merkmal der wahrhaften und vollendeten Persönlichkeit ist.136 In dem Fall meint Nietzsche an dieser Stelle weder die zeitlose Gegenwart oder das Gefesseltsein am Pflock des Augenblicks (248, 6), welche laut der Historienschrift die Existenz des Tieres ausmacht, noch dessen Gegenstück, den Augenblick der eigentlichen Erinnerung, an dem der Mensch vom Stachel des Gewissens heimgesucht wird. Nein, mit diesem Betreten der Schwelle des Augenblicks (250,910) erringt der Mensch vielmehr die Freiheit, die zur Verwirklichung der angezeigten höchsten Möglichkeit seiner Existenz notwendig ist. Jene Freiheit stellt also die Schwelle des Übergangs dar. Falls es einem gelingt, seine Individualität zu gestalten, so steht er als „siegreich Vollendeter" (358, 25) auf einsamer Höhe, wie es im Schopenhauer-Aufsatz heißt, dann hat er teil am großen Glück. Nun hat Nietzsche aber zuvor bemerkt, daß,, < d >as kleinste Glück, wenn es nur ununterbrochen da ist und glücklich macht, [...] ohne Vergleich mehr Glück < ist > als das grösste, das nur als Episode, gleichsam als Laune, als toller Einfall, zwischen lauter Unlust, Begierde und Entbehren kommt" (250, 2-5). Aufgrund dieser Erwägung entscheide der Zyniker sich für das kleine Glück der Tiere — aber wie steht es diesbezüglich um das große Glück des Menschen? Gesetzt den Fall, daß hier eine ununterbrochene Teilhabe am Glück möglich ist, so muß dessen Gipfel doch wohl darin bestehen, daß der Mensch die Kontinuität des Glücks gesichert weiß, also darin, daß sie ihm zum Eigentum wird.137 Eine solche Kontinuität kann nur dann gewährleistet 136

1,7

Vergleiche UB II: 251, 26; 285,17-19 und 299, 4; des weiteren 301, 24; 326, 9. Vergleiche auch UB III: 342, 25 - 343, 8 (vergleiche dazu auch UB III: 360, 12-21; 367, 9-11; 367, 27 - 368. 34, und PW: 756. 6-9). Vergleiche 7: 29 [224]; 7: 721. 3-4: „[...] Einen Besitz den Menschen verheissen! Philosophie und Religion ist Sehnsucht nach einem Eigenthum". In der UB II heißt es: „Die Griechen lernten allmählich das Chaos zu organisiren, dadurch dass sie sich, nach der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben Hessen. So ergriffen sie wieder von sich Besitz ..." (UB II: 333, 17-21) Vergleiche dazu die Vorstufe: „Von sich selbst Besitz zu ergreifen, das Chaotische zu organisiren, alle Furcht vor der .Bildung' wegzuwerfen und ehrlich zu sein: Aufforderung zum gnoothi seautön. nicht im grüb-

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sein, wenn der Mensch Einblick in die Gesetzmäßigkeiten hat, denen die Bewegung zwischen Glück und Unglück obliegt. Das heißt nur dann, wenn er die Weisheit oder Erkenntnis innehat, deren Beachtung ein ständiges Glück herbeiführt. In dem Fall ist die Weisheit nicht nur theoretischer Dimension, sondern reicht durchaus auch in den Bereich des Praktischen hinein. Das wiederum heißt, daß sie sich als Gewandheit und Geschick auszuweisen hat. Doch wie kann diese sowohl theoretische als auch praktische Weisheit mit der These vereinbart werden, daß nur durch das Vermögen, „während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden" (250, 8-9), das Glück zum Glücke wird? Wir haben das unhistorische Empfinden als das Ablegen der Konvention, das heißt als die Einkehr zu sich, ausgelegt.138 Falls das Eigentümliche des Glückes nun aber in seiner gewährleisteten Kontinuität liegt, diese jedoch nur von seiten der theoretisch-praktischen Weisheit gewährt wird, so heißt das, daß dieses Empfinden dazu nicht ausreicht. Die Überlegung macht deutlich, daß das Erlebnis, das heißt die unmittelbare und unreflektierte Erfahrung, vielmehr transzendiert werden muß. Im frühen Nachlaß heißt es dazu: „Der Mensch ist nicht aus diesen höchsten Trieben herausgewachsen, sein ganzes Wesen zeigt eine laxere Moral, er springt über sein Wesen mit der reinsten Moral hinaus" (7:29 [4]; 7:622,2-4).

Im übrigen hatte ich schon am Schluß der Prolegomena zu der Notwendigkeit einer transzendierenden Bewegung geschlossen (die Folgerung ging aus dem eigentümlichen Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit und dem Gerechten hervor). Nur in dieser Bewegung des Transzendierens kann das Glück zum Eigentum werden.139 Demnach können wir die angeführte Stelle auch eine Nuance anders auslegen: Die Schwelle des Augenblicks kann als Glücks-Erlebnis gedeutet werden. In dem Fall betrifft der Augenblick denjenigen Moment, in dem der Mensch den Einblick geierischen Sinne, sondern um wirklich zu wissen, was unsre ächten Bedürfnisse sind. Von da aus kühn bei Seite werfen, was fremd ist, und aus sich hinaus wachsen, nicht in ein Ausseruns sich hineinpassen. Zum Organisiren des Chaotischen eignet sich Kunst und Religion: letztere giebt Liebe zu den Menschen, erstere Liebe zum Dasein." (7: 29 [192]; 7: 708, 12-23).

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139

Haeuptner dürfte dies verkannt haben, denn ihm zufolge handelt es sich hier um eine „positivistische Glücksrechnung": „Das summative Denken ist hier deutlich [...], und wie unangemessen es ist, tritt klar hervor bei der Anwendung auf Dinge, deren Wert nicht durch ein größer oder kleiner zu bestimmen ist. Es hat keinen Sinn, da von .mehr' Glück zu reden, wo das Erleben des Glücks eine gewisse Kontinuität oder Erstreckung besitzt, und da von weniger Glück, wo dieses Erleben nur ein augenblickliches ist. Das Glück hängt nicht von der mehr oder minder großen Dauer ab, da den verschiedenen Glückserlebnissen auch eine verschiedene Zeitlichkeit eignet, an die rechnend heranzugehen falsch ist" (Haeuptner, a.a.O., S. 20). Vergleiche dazu die UB III: 338, 10-12 (die Stelle wurde weiter oben (S. 89) in meinem Text angeführt) und 362, 11-24 (die Stelle ist zuvor (S. 66) zitiert worden). Der Begriff „Eigentum" wurde S. 95, Anmerkung 137, belegt.

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winnt, der ihm Souveränität gewährt. Diese Interpretation veranlaßt somit zu der Vermutung, der große Mittag des Zarathustra werde bereits hier vorweggenommen. Beide Interpretationen sind vertretbar — sie sind auch nicht strittig, sondern ergänzen vielmehr einander und klären uns über Nietzsches Anliegen näher auf. Indem er betont, daß diejenigen, die nie die Schwelle des Augenblicks betreten, nie wissen werden, was Glück ist, macht Nietzsche darauf aufmerksam, daß der Mensch sich seine Freiheit erst einmal erarbeiten muß. Diese Freiheit öffnet ihm gleichsam die Pforte zum Glück. Der Mensch sollte an der unhistorischen Erfahrung festhalten, indem er sie, den überlieferten Modellen und Schemata zum Trotz, als Richtlinie und verbindliches Maß betrachtet. Er sollte aber nicht bei ihr stehen bleiben. Vielmehr muß er sie als eine Schwelle überschreiten, denn erst dann kann ihm die Erkenntnis der Gesetze, denen sie obliegt, aufgehen. Daß Nietzsche an dieser Stelle in erster Linie die Wichtigkeit einer unmittelbaren, nicht durch Konventionen korrumpierten Erfahrung betonen möchte, mag dazu geführt haben, daß er die große und wohl kaum zu überschätzende Bedeutsamkeit des Einblickes zunächst außer acht läßt. Daß dies der Fall ist, geht aus dem folgenden Passus hervor, in dem Nietzsche, zum ersten Mal in dieser Schrift, die Möglichkeit eines überhistorischen Gesichtspunktes streift. Allerdings zunächst ohne diesen Terminus zu verwenden, dies geschieht erst zwei Seiten weiter unten140. Obendrein ist der Unterschied zur uneigentlichen Erinnerung noch völlig unklar. Es heißt: „Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum mehr wagen den Finger zu heben." (UB II: 250,14-20) 1 4 '

140 1,11

Siehe UB II: 254, 14-15. Nach Haeuptner schreibt Nietzsche diese Vorstellung Heraklit zu: „Heraklit ist hier — wie immer bei Nietzsche — einseitig (förmlich im Sinne des Protagoras, wie ihn Piaton im Theätet radikalisiert) verstanden: über der Anschauung vom ,F!uß der Dinge' wird die Gedankenmäßigkeit in diesem Werden vergessen, das Werden wird in .Punkte' aufgelöst, so daß nichts Sinnhaftes, das Werden als logos Durchwaltendes bleibt" (Haeuptner, a.a.O., S.26). Doch dürfte Nietzsche am ehesten den Kratylos im Blick gehabt haben. Zumal diese Darstellung nicht unbedingt im Einklang ist mit Nietzsches sonstigem Verständnis der Heraklitischen Lehre — vergleiche dazu die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (PhZG: 822-835) (des weiteren St. A. Nimis/ J. P. Herschbell, .Nietzsche and Heraclitus' (in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 17-38; und U. Hölscher, .Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit' (in: Neue Hefte für Philosophie 15/16 (1979), S. 156-182). Es gibt vier Punkte, die in betreff der hier erörterten Problematik von besonderem Interesse sind: 1. die ästhetische Sicht der Dinge (830, 6; 833, 11-12), 2. die Notwendigkeit und Freiheit des Weltenspiels (831, 15), 3. die Polarität der Gegensätze (825, 2-9), und 4. den Streit als das Walten der ewigen Gerechtigkeit (825, 16-25; 832, 8). Vergleiche dazu auch K. Brose, Geschichtsphilosophische Strukturen im Werk Nietzsches, Bern/Frankfurt am Main 1973, S. 13-14; und H. Schröter, a.a.O., S. 117 f.

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Woraus Nietzsche schließt: „Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Thiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten wiederkäuen leben sollte." (UB II: 250, 20-26)

Aus meiner Sicht bleibt die Beziehung zwischen den beiden Stellen zunächst undeutlich. Lesen wir die erste Stelle unter der zuvor erarbeiteten Perspektive, so spricht sie vom Fall, daß diQ zweite Schicht des Mechanismus der Verdrängung fehlschlägt. In dem Fall gelingt es dem Menschen zwar, das jedem Augenblick erneute Versäumnis zu verdrängen, die Verdrängung dieser Verdrängung mißlingt aber. Daraus ginge dann hervor, daß Nietzsche in der als letzten angeführten Stelle die Notwendigkeit dieser zweiten Instanz der Verdrängung betont: Demnach wäre Handeln nur in solchen Augenblicken möglich, in denen es einem gelingt, sich des Bewußtseins der ständig erneuten Verdrängung des bisher Versäumten zu entledigen.142 Diese Ansicht zeigt zwar eine gewisse innere Folgerichtigkeit auf, geht aber dennoch in der Hinsicht fehl, daß das Telos des Handelns völlig im dunkeln bleibt. Es klärt sich aber einiges auf, wenn man die folgende Passage aus der Dritten Unzeitgemäßen berücksichtigt: „Wer sein Leben nur als einen Punkt versteht in der Entwicklung eines Geschlechtes oder eines Staates oder einer Wissenschaft und also ganz und gar in die Geschichte des Werdens, in die Historie hinein gehören will, hat die Lection, welche ihm das Dasein aufgiebt, nicht verstanden und muss sie andermal lernen. Dieses ewige Werden ist ein lügnerisches Puppenspiel, über welchem der Mensch sich selbst vergisst, die eigentliche Zerstreuung, die das Individuum nach allen Winden auseinanderstreut, das endlose Spiel der Albernheit, welches das grosse Kind der Zeit vor uns und mit uns spielt. Jener Heroismus der Wahrhaftigkeit besteht darin, eines Tages aufzuhören, sein Spielzeug zu sein. Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Verachtung würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen" (UB III: 374, 21 - 375, l ) . m

142

143

Durchweg wird dies tatsächlich in diesem Sinne ausgelegt — vergleiche hier S. 93, Anmerkung 135. Wie schon einmal vermerkt wurde, unterscheidet J. Stambaugh bei Nietzsche zwei Ansichten des Werdens (vergleiche Stambaugh, a.a.O., S. 1 ff.). In seinen frühen Werken nehme aber in erster Linie die Ansicht vom Werden als einer unersättlichen Gier zum Dasein Gestalt an, also die Auffassung des Werdens als „Entstehung der Individuation", als „Hybris gegen das Ur-Eine" (Stambaugh, a.a.O., S. 28). Die hier zitierte Stelle aus der UB III verbindet sie mit der anderen Auffassung des Werdens, wobei sie vermerkt, daß die Charakteristik des Lügnerischen (374, 27) verfehlt sei (a.a.O., S. 29). In diesem Zusammenhang zitiert sie folgenden Passus: „Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Wann hat sich der Frevel, der Abfall in unverbrüchlichen Formen, in heilig geachteten Gesetzen offenbart? Wo die Ungerechtigkeit waltet, da ist Willkür, Unordnung, Regellosigkeit. Widerspruch; wo aber das Gesetz und die Tochter des Zeus, die Dike, allein regiert, wie in

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Der Vergleich dieses Zitats mit den zuvor angeführten Stellen aus der Historienschrift zeigt, daß „die Kraft zu vergessen" (250,15), nicht die Verdrängung zweiter Instanz meint. Der Ausdruck gilt vielmehr der Kraft, mit der der Mensch sich über den Fluß des Werdens erhebt, indem er seine aus der Verdrängung sich ergebende Zerstreuung und die damit einhergehenden uneigentlichen Erinnerungen abstreift und sich seiner eigentlichen und je eigenen Aufgabe stellt. Im übrigen wird diese Interpretation der zuvor angeführten Stelle aus der Zweiten Unzeitgemäßen durch folgende Notiz aus dem frühen Nachlaß bestätigt: „Es ist möglich, dass ein Volk durch Geschichte sich selbst tödtet: etwa wie ein Mensch, der sich dem Schlaf entzieht. Wiederkäuen ist die Sache gewisser Thiere: sich aber durch Wiederkäuen ruiniren scheint hier und da einmal bei dem menschlichen Rindvieh vorzukommen. Wenn alles, was wird, interessant, des Studiums würdig erachtet wird, so fehlt bald für alles, was man thunso//, der Maassstab und das Gefühl, der Mensch wird in der Hauptsache gleichgültig" (7: 29 [32]; 7: 638, 23-30).

Uns interessiert vor allem letzterer Satz. Denn stellen die Vorhergehenden eine Variation der korrespondierenden Stelle in der Zweiten Unzeitgemäßen dar, die Seite 98 angeführt wurde, so fügt jener letzte Satz etwas ganz Wichtiges hinzu, dem, zumindest an der genannten Stelle, in der Historienschrift nicht Rechnung getragen wird: Hier ist vom Maße die Rede. Nietzsche handelt von der unhistorischen Erfahrung als einer maßgebenden. Sie vermittle das Gefühl für dasjenige, was man tun soll — demnach vermittelt die unhistorische Erfahrung dem Menschen seine Aufgabe.144 Nietzsche vermerkt hier auch die Gefahr der Gleichgültigkeit, welche aus dem Fehlen eines verbindlichen Maßes hervorgeht. Wenn Nietzsche fast am Ende des in diesem Paragraphen erörterten Absatzes aus der Zweiten Unzeitgemäßen schließt: „Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu

dieser Welt, wie sollte da die Sphäre der Schuld, der Buße, der Verurtheilung und gleichsam die Richtstätte aller Verdammten sein?" (a.a.O., 28-29; PhZG: 822, 14-22). Würden wir der Annahme zustimmen, daß in dieser Welt tatsächlich die dike in dem Sinne waltet, daß die Möglichkeit des Frevels und der Ungerechtigkeit ausgeschlossen ist, so würde Nietzsches erste Ansicht in betreff des Werdens damit widerlegt sein. Das hieße aber auch, daß alles notwendig geschieht. Es gäbe also keine Freiheit, auch nicht eine der Menschen. In der Folge hoffe ich aber herausstellen zu können, daß es bezüglich der Existenz des Menschen so etwas wie ein Gesetz der Freiheit (Hölderlin) gibt. Der Mensch kann sich selbst in Freiheit entscheiden, ob er sich seiner Aufgabe annimmt oder ob er sich dieser verweigert. Die Folgen dieser Entscheidung sind aber notwendig. Hier ist zunächst wichtig, daß wir Nietzsches Kritik der heraklitischen Position durchaus ernst nehmen. Vergleiche dazu die Notiz im späten Nachlaß, die überschrieben ist mit: „Der deutsche Mystiker". Dort heißt es u. a.: „Die großen Selbst-Bewunderungen und die großen Selbst-Verachtungen und Verkleinerungen gehören zu einander: der Mystiker, der sich bald Gott, bald Wurm fühlt. Was hier fehlt ist das Selbst-Geßhl. [...]" (11: 26 [442]; 11: 268, 14-17)

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leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben" (UB II: 250,26-28), so überzeugt dies nur in der Hinsicht, daß die Möglichkeit des Glückes sich durch die An- oder Abwesenheit jener authentischen Erfahrung der eigenen Existenz entscheidet. Der Mensch ist aufgefordert, sich dieser Möglichkeit zu öffnen. Dazu muß er erst einmal die Herrschaft der waltenden Modelle und Schemata, der überlieferten Bilder vom Menschen und von der Welt aussetzen, wozu es allerdings einer gewissen Kraft, einer gewissen Geistesstärke bedarf. Nietzsche nennt sie die Kraft zu vergessen (250,15). Letztendlich ist es also dieser Mut, der die Möglichkeit des Glücks erschließt. Es hat sich herausgestellt, daß die jeglicher Erinnerung baren Existenz des Tieres wenigstens in diesem Punkte von der des Menschen grundverschieden ist. Die „Kraft zu vergessen" (250, 15), die sich auf den Mut zum Selbstsein bezieht, zeigt mit der tierischen Triebhaftigkeit keinerlei Berührungspunkte auf. Zudem sollte vermerkt werden, daß dem Tier jeglicher Zugang zum ständigen Glück, in dem in Hinblick auf den Menschen anvisierten Sinne, fehlt. Denn nach Nietzsche geht es ja in der Gegenwart auf (249, 6). Es sei dem Tier nicht möglich, seine unmittelbare Erfahrung irgendwie zu übersteigen. Auch in dieser Hinsicht fehlt also jeder Bezugspunkt zur Existenz des Menschen.

4. Von der Selbstgestaltung: Bemerkungen zur Transzendenz Weil wir zuvor auf die Notwendigkeit einer transzendierenden Bewegung gestoßen sind,145 müssen wir uns nun kurz mit dem Begriff der Transzendenz befassen. Zuerst sollte vermerkt werden, daß das Übersteigen oder Transzendieren nie eine Einbahnstraße ist. Schon als Selbstverhältnis eines Individuums weist es, nebst der zunächst augenfälligen Bewegung des Übersteigens des Unmittelbaren, eine andere, umgekehrte Bewegung auf, nämlich die der Rückkehr zur Unmittelbarkeit. Denn die Bewegung des Transzendierens dient der Steigerung des Unmittelbaren. Die Momente der Einsicht oder des Einblickes, auf die vorhin aufmerksam gemacht worden ist (das Theoretische und das Praktische), stellen gleichsam folgende Bewegungen dar: Im Aufstieg zur Theorie gewinnt man den Einblick in das Unmittelbare. In der Rückkehr zu ihm wird das theoretisch Erkannte nunmehr praktiziert, so daß nun im Unmittelbaren ein Sprung, eine Transformation herbeigeführt wird, was — es sei nochmals betont — schließlich den eigentlichen Sinn ausmacht. Halten wir also fest, daß das Transzendieren grundsätzlich als Zweibahnstraße zu denken ist.146 145

Vergleiche weiter oben S. 96 f.

146

Nietzsche prangert die zeitgenössische Wissenschaft wegen des Fehlens einer solchen Wirkung an. Vergleiche dazu 7: 29 [161], wo es heißt:

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Geht uns der Sinn des Transzendierens in bezug auf das Selbstverhältnis des Einzelnen erst dann auf, wenn wir das Transzendieren als eine doppelte Bewegung des hin und her, des hinauf und wieder hinunter — mithin des ti kata tinos — auffassen, so ist bezüglich des Verhältnisses zum Mitmenschen dem zweiten Moment, also dem der Rückkehr, ein womöglich noch größeres Gewicht beizumessen. In diesem Fall ist uns der Weg der Unmittelbarkeit zunächst verlegt. Wir müssen erst über uns hinaus und dann wieder hinab zum anderen. Für die Bezeichnung dieses Sachverhalts ist von Dilthey der Ausdruck des Sicheinfiihlens geprägt worden. Demnach geht die Möglichkeit der Selbsterkenntnis und, um ein weiteres Mal die praktische Seite zu betonen, der Selbst(re)organisation (letztere wird vom späten Nietzsche im Gedanken des synthetischen Menschen erfaßt), mit der Erkenntnis des Mitmenschen einher. Das soll jetzt nicht heißen, der andere sei derselbe als ich, sondern vielmehr, daß er unterschwellig, also im Bereich des Unmittelbaren, die gleiche Konstitution und die gleichen Strukturmerkmale aufweist — eben jenes Spiel der Triebe oder jenen Streit der Gegensätze.147 Die Erkenntnis des anderen setzt nun folgendes voraus: Zuerst muß ich meine eigene Unmittelbarkeit übersteigen, dann muß ich mich in den anderen einfühlen oder mich in ihn hineinversetzen. Ich mache dies aber aufgrund seiner Gebärden, und diese sind wiederum die Chiffren gewisser individuellen oder auch kollektiven Erfahrungen — sie stellen gleichsam die gelebte Erinnerung dar.148 Ich brauche wohl nicht auszuführen, daß das Verständnis demnach zunächst

„[...] < W > a s die Wissenschaft dazu sagt: laissez faire. Es fehlt die dazu gehörige Praxis, die Heilkunst." (7: 29 [161]; 7: 699, 1-3) 147

Daß der Mensch nach Nietzsche ganz Natur ist, mag bekannt sein. Hier sei nur die diesbezüglich unmißverständliche Stelle am Anfang der fünften der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern erwähnt. Dort heißt es: „Wenn man von Humanität redet, so liegt die Vorstellung zu Grunde, es möge das sein, was den Menschen von der Natur abscheidet und auszeichnet. Aber eine solche Abscheidung giebt es in Wirklichkeit nicht: die .natürlichen' Eigenschaften und die eigentlich .menschlich' genannten sind untrennbar verwachsen. Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität, in Regungen Thaten und Werken hervorwachsen kann." (HW: 783, 414)

, 18

'

Nach V. Gerhardt entspricht Nietzsches Vorstellung der von der Erinnerung beschwerten (oder getragenen) Erfahrung der Gegenwart durchaus dem Erlebnis, wie es Dilthey zum Ausgangspunkt der Zeiterfahrung genommen hat. Um dies zu belegen, zitiert er einen Passus aus dessen .Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften' (in: W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, Frankfurt am Main 1970, S. 233-364), S. 237. (V. Gerhardt, a.a.O., S. 159, Anmerkung 8). Vgl. M. van Nierop, .Leven en historiciteit — de hermeneutica van Wilhelm Dilthey' (in: ders., Denken in tweespalt — interpreteren in ambivalente, Delft 1989, S. 36-67) und J. Kamerbeek, .Dilthey versus Nietzsche' (in: J. Kamerbeek, Creatieve wedijver, Amsterdam 1962, S. 57-86).

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über den Hebel gleicher oder analoger Erfahrungen beziehungsweise über die Erinnerungen daran laufen mag.149 Diese Art des Verständnisses freilich bleibt an der Oberfläche, denn sie ist nicht universell und notwendig, sondern vielmehr kontingent. Jene Erfahrungen und Erinnerungen sollten ihrerseits als Chiffren verstanden werden: als individuelle Gestalten universaler Konfigurationen im überall waltenden Spiel der Gegensätze. Erst in dieser zweiten Instanz kann man die Strukturen des Selbst erkennen. Erst dann können die Schranken, die von den Individuen, Sippen, Gemeinschaften, Völkern und Kulturen aufgestellt worden sind, überschritten werden. Sollte es jemandem gelingen, eine solche Erkenntnis des Unmittelbaren und ein solches Bewandertsein in dieser Sphäre zu erlangen, so wäre er tatsächlich imstande, die unterschiedlichsten Zeichen zu lesen, d.h. nachzuempfinden. Ganz in diesem Sinne heißt es in der Historienschrift: „ < S > o erleuchtet sich der überhistorische Denker alle Geschichte der Völker und der Einzelnen von innen heraus, hellseherisch den Ursinn der verschiedenen Hieroglyphen errathend". (UBII: 256,12-15)' 50

Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, drohen dem strebenden Individuum seitens der Historie große Gefahren. Die größte Gefahr droht nicht jenen Menschen, denen jedwede authentische Erfahrung fehlt, die weder die große Erfahrung des Glückes der Harmonie der gegensätzlichen Triebe noch das Unglück ihrer Zerrissenheit kennen, sondern in der mittleren Gleichgültigkeit ihrer gewohnten Alltäglichkeit dahinleben, denn sie sind gleichsam unverletztlich. Nein, die Gefahr droht vielmehr dem jungen Menschen, der noch authentisch fühlt und im gordischen Knoten seiner gegensätzlichen Trieben, im labyrinthischen Hin und Her seiner widersprüchlichen Neigungen nach einer verbindlichen Richte sucht.151 Denn er sollte gerade anhand seiner eige149

150

151

Vergleiche K. Hillebrand, ,Ueber historisches Wissen und historischen Sinn', S. 307-309 und W. Hegemeister, Friedrich Nietzsches Geschichtsauffassung, S. 25-26. Aufgrund analoger Analysen schließen sie, daß die quellenkritische Methode sich erübrige. Damit aber nicht genug, denn wie die Erkenntnis wesentlich auf die Organisation oder Synthese der Gegensätze, also der einander widerstrebenden Triebe, ausgerichtet ist, so geht auch die Erkenntnis des anderen, des Mitmenschen, mit diesem Anspruch einher. Dies Organisieren oder Synthetisieren kommt einem Richten gleich, welches bekanntlich den Doppelsinn des Zurechtbeugens wie auch des Urteilens aufzeigt. Aus dieser Sicht ist es nur folgerichtig, daß, wie Nietzsche dargetan hat, der Gerechte sich um die Wahrheit als Weltgericht bemüht. Diese Lebensphase ist von Nietzsche im fünften Vortrag der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten besonders einprägsam gestaltet worden. An gegebener Stelle fulminiert der alte Philosoph gegen die angebliche Selbständigkeit der Studierenden und bemüht sich, ihre Führungslosigkeit auszumalen. Es heißt: „Ihr müßtet die geheime Sprache verstehen, die dieser verschuldet Unschuldige vor sich selbst führt: dann würdet ihr auch das innere Wesen jener nach außen hin gem zur Schau getragnen Selbstständigkeit verstehen lernen. Keinem der edler ausgerüsteten Jünglinge ist jene rastlose.

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nen Erfahrungen, also aus den erlebten und gelebten Schwankungen des eigenen Gemütes heraus, zur Erkenntnis und auf diesem Wege zur Transformation seines Trieblebens geführt werden. Eine solche Transformation kommt einer Erlösung, daß heißt einer Verwandlung der Leidenschaften in Freudenschaften, gleich.152 Gemessen an diesem Ziel waren die historischen Wissenschaften zu Nietzsches Zeiten auf Abwege geraten. Denn ihm zufolge wurden seinerzeit nur solche Triebe gefördert und kultiviert, von denen man sich einen Nutzen versprach; die anderen wurden abgetötet.153 Man war nicht um die große Synthese bemüht, sondern verfolgte längst ein ganz anderes Ziel: die dem Staat oder auch sonstigen Interessengruppen nutzbringenden Verkrüppelung des unmittelbaren Trieblebens. Es wurde also nicht, wie es geschehen sollte, die Herbeiführung und Beständigung der großen Erfahrung als zu bewältigende Aufgabe in den Mittelpunkt gestellt. Nein, hier wurde unter der Perspektive des Nutzbringenden selektiert. Die Auszubildenden wurden nicht nur ihrer höchsten Möglichkeit, sondern auch der edelsten und uneigennützigsten ihrer anfänglichen Erfahrungen und Triebe beraubt, die egoistischen dagegen wurden geschürt. Hinsichtlich des auf diesem Wege und in diesen Hinsichten verkrüppelten Menschen heißt es bei Nietzsche: „ < E > in Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens" (250, 16-19).

Demnach trifft das Fazit, womit Nietzsche seinen dritten Absatz beendet, wohl zu. Er meint: „s giebt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, undzuletztzu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur" (UB II: 250, 29-35).

ermüdende verwirrende entnervende Bildungsnoth ferne geblieben: für jene Zeit, in der er scheinbar der einzig Freie in einer beambteten und bediensteten Wirklichkeit ist, büßt er jene großartige Illusion der Freiheit durch immer sich erneuernde Qualen und Zweifel. Er fühlt daß er sich selbst nicht führen, sich selbst nicht helfen kann: dann taucht er sich hoffnungsarm in die Welt des Tages und der Tagesarbeit: die trivialste Geschäftigkeit umhüllt ihn, schlaff sinken seine Glieder. Plötzlich wieder rafft er sich auf: noch fühlt er die Kraft nicht erlahmt, die ihn oben zu halten vermag. Stolze und edle Entschlüsse bilden sich und wachsen in ihm. Es erschreckt ihn, in enger kleinlicher Fachmäßigkeit so frühe zu versinken; und nun greift er nach Stützen und Pfeilern, um nicht in jene Bahn gerissen zu werden. Umsonst! ...." (ZBA: 744, 19 -745, 20).

152 153

Daß Nietzsche hier wiederum aus eigener Erfahrung spricht, mag aus den von Schlechta, in seinem Aufsatz ,Der junge Nietzsche und Schopenhauer', angeführten Briefstellen hervorgehen (K. Schlechta, ,Der junge Nietzsche und Schopenhauer' (in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 26 (1939), S. 289-300), S. 289 ff. Vergleiche Also sprach Zarathustra (4: 42 ff.). Vergleiche mein sechstes Kapitel, S. 209, 233 ff.

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Schluß Im Rahmen meiner Untersuchung über das Verhältnis von Geschichte und Gerechtigkeit habe ich mich in diesem zweiten Kapitel um eine Darlegung von Nietzsches Ansichten zur menschlichen Zeitlichkeit bemüht. Mittels einer Aufarbeitung der Mensch-Tier-Vergleiche, die Nietzsche im ersten Kapitel der Historienschrift und im fünften Kapitel des Schopenhauer-Aufsatzes vorlegt, wurde gezeigt, daß dem Augenblick eine mehrfache Bedeutung zukommt. Es gibt einmal den Augenblick als Mahnung des Gewissens, ferner den Augenblick als verschwindend kurzen Moment in einer Jetztfolge, dann den Augenblick der großen unhistorischen Erfahrung und schließlich noch den Augenblick der Erkenntnis. Nietzsche zufolge vermittelt der Augenblick des Gewissens uns die Aufgabe der Individuation. Der Mensch kann sich dieser Aufgabe stellen, kann sich ihr aber auch verweigern. In dem Fall freilich wird er immer von neuem von seiten seines Gewissens bedrängt. Um dieser Bedrängnis zuvorzukommen, bedarf es einer zweistufigen Verdrängung, die, so hatte ich gefolgert, der Auffassung der Zeit als einer Jetztfolge zugrunde liegen mag. Stellt dagegen der Mensch sich der Aufgabe der Individuation und bewältigt er sie, so wird er der unhistorischen Erfahrung des Selbstseins teilhaftig. Allerdings war dieses und jenes erst einmal aus Nietzsches vielfältigen Überlegungen herauszuschälen. Vor dem Hintergrund einer in Konventionen verhärteten Kulturlandschaft, in der, wenigstens Nietzsches Ansicht nach, den Menschen die Möglichkeit genuiner Erfahrungen abhanden gekommen war, betont er mit Recht die Wichtigkeit authentischen Erlebens und Erfahrens — das Vermögen, unhistorisch zu empfinden, meint eben dies. Obzwar es zunächst scheint, daß er ein Loblied auf das Vergessen singt, trifft dies nur in der Hinsicht zu, als der Mensch dazu berufen ist, sich all dessen zu befreien, was ihn seines eigentlichen Selbstseins entfremdet. Nur relativ aufjene entfremdeten Menschen verleiht Nietzsche der tierhaften Existenz den Vorzug — der Vergleich von Mensch und Tier sollte durchweg in diesem Licht gelesen werden, sonst führt er in die Irre. Zwar ist auch der Mensch in erster Linie ein natürliches Wesen und ist als solches den Kräften und Mächten überantwortet, welche die Natur konstituieren, im Unterschied zum Tier aber hat er die Möglichkeit, sich über sie zu erheben, indem er der Triebhaftigkeit Herr wird. Das Erlangen dieses Geschicks geht mit dem Sicherarbeiten des Einblickes in das Walten dieser naturhaften Triebe einher. In diesem Sinne ist der wahrhafte, das heißt höhere, weil sich organisierende Mensch zunächst nur eine Möglichkeit, also eine noch zu bewältigende Aufgabe. Der Mensch erfährt diese Aufgabe meistens als eine drückende Last, die von der Vergangenheit, d.h. von dem Bewußtsein seiner bisherigen Versäumnisse, noch erschwert wird. Daher sein Sehnen nach der wenigstens in dieser Hinsicht ungestörten Existenz der Tiere und des Kindes.

Drittes Kapitel Vom Zentrum als dem Gesetz der Mitte Zu den Begriffen plastische Kraft und Horizont

Einleitung Nietzsche zufolge war das natürliche Verhältnis zwischen dem Historischen und dem Unhistorischen seinerzeit korrumpiert. Die uneigentliche Erinnerung, welche dem Menschen seine eigentliche Aufgabe vergessen macht, hatte die eigentliche Erinnerung, die zur Verinnerlichung und zur Selbstwerdung anregt, überwältigt. Der Vergleich von Mensch und Tier dient dem Ziel, die Augen wiederum der ursprünglichen und unkorrumpierten Erfahrung zu öffnen. Im letzten Abschnitt der Historienschrift heißt es dazu: „ < W > ir sind zum Leben, zum richtigen und einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben" (328, 30-32). Und weiter: „ < D > azu an der Krankheit der Worte leidend und ohne Vertrauen zu jeder eignen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist" (329, 4-6). Dem stellt Nietzsche die „Ehrlichkeit und Keckheit der Empfindung" (323,18), also das am Anfang der Schrift genannte „unhistorisch < e > [...] < E >mpfinden" (250, 9), entgegen. Diese Empfindung kann nur durch die Kraft zu vergessen wiedergewonnen werden. Hatten wir im vorigen Kapitel erörtert, wie Nietzsche den Menschen zu der Erfahrung des Selbstseins zurückzuführen versucht, so widme ich dieses Kapitel den Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Anderen: Wir befassen uns mit der plastischen Kraft und dem Horizont. Im Rahmen der Thematik Geschichte und Gerechtigkeit wurden sie im einführenden Teil kurz erwähnt,154 nun wollen wir uns eingehender mit ihnen befassen. Zunächst wirkt Nietzsches Sicht der Dinge hier ziemlich verworren. Denn diese Begriffe können sowohl Strukturmerkmale einer egoistischen Selbstverschränkung und Selbstbeschränkung bedeuten als auch auf eine weltoffene Eigenständigkeit hinweisen. Nietzsches Darlegungen sind hier öfter zwiespältig. Es läßt sich aber einiges aufklären, wenn man zu der betreffenden Stelle aus dem ersten Kapitel der Historienschrift das siebte und zehnte Kapitel der Schrift, dazu das dritte Kapitel des Schopenhauer-Aufsatzes, darüber hinaus aber auch den Nachlaß heranzieht. Den Notizen 7: 30 [8] und 30 [9] aus der zweiten Hälfte des

154

Vergleiche hierzu S. 26 f.

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Jahres 1873 lege ich in diesem Zusammenhang ein größeres Gewicht bei. Nietzsche spricht dort von der Kardinalkraft und vom Mittelpunkt. Der Mittelpunkt ist das Zentrum, das sich, Nietzsche zufolge, imstande erweist, die Gegensätzlichkeit der Triebe zu bändigen. Das heißt nicht, sie auszutreiben oder gar abzutöten, sondern vielmehr: sie solchermaßen zu organisieren, daß sie das Höchste ihrer Mitte erzielen. Die Vorstellung geht dahin, daß der Mensch sich um so mehr zu dieser Organisation emporarbeitet, als er sich durch jene Wurzelkraft, wie es im zweiten Kapitel des Schopenhauer-Aufsatzes heißt, führen läßt. Es handelt sich um die Macht der Liebe. Diese Liebe ist jedoch ohne Maß — ihrerseits braucht sie den Menschen, um zu ihrer Mitte zu finden. Der erste Paragraph legt dar, daß die plastische Kraft mit einer spezifischen Variante der Kraft zu vergessen zusammenarbeitet. Während das Vergessen die Gültigkeit der Welt (d.h. die waltenden Konventionen) aussetzt und so erst einmal Raum für das Selbstsein schafft, besorgt die plastische Kraft die Integration des Ausgegrenzten. Nietzsche versteht denHorizont als eine Art Grenze zwischen dem Integrierten und dem Ausgegrenzten, dem Erinnerten und dem Vergessenen. Das Maß der plastischen Kraft steht in einem umgekehrten Verhältnis zur Kraft zu vergessen. Das Verhältnis deutet auf eine Skala hin, die zwischen dem auf sich beschränkten Selbst, das sich gegen alles Andere verschließt, und dem unumschränkten Selbst, das alles Andere integriert hat, verläuft. Es geht um Stufen der Selbstüberwindung. Die Skala gipfelt in der Unendlichkeit des Horizonts. Die Frage, wie das Verhältnis von plastischer Kraft, der Kraft zu vergessen und dem Horizont im einzelnen zu verstehen ist, wird erst allmählich in den nachstehenden Paragraphen geklärt. Es folgt eine kurze Auseinandersetzung mit einigen Ausschnitten aus der Sekundärliteratur . Im Mittelpunkt stehen die Fragen, in welchem Grund die plastische Kraft ihre Wurzeln schlägt und welche Ursache ihrer Korrumpierung zugrunde liegt. Die Erörterung der genannten Nachlaßstellen im vierten Paragraphen vorwegnehmend, äußere ich die Vermutung, daß die plastische Kraft im Zentrum verwurzelt ist und daß ihre Korruption auf die Zerreißung des Bandes zu diesem Zentrum zurückzuführen ist. Der dritte Paragraph erörtert Grundsätzliches bezüglich der Bildung, nämlich die Bedeutung des Verlusts. Laut des Schopenhauer-Aufsatzes fängt die Bildung in dem Augenblick an, in dem der Mensch sich seiner Aufgabe stellt. Die Historienschrift aber setzt vielmehr die unkorrumpierte Erfahrung an deren Anfang. Obwohl beide Ansichten im engsten Zusammenhang stehen, kann man diese und jene dennoch nicht ohne weiteres vereinbaren. Die Aufgabe besteht ja darin, frei und ganz sich selbst zu werden, doch setzt dieses Ziel die unkorrumpierte oder unhistorische Erfahrung voraus. Heißt das, daß die Historienschrift dasjenige an den Anfang stellt, was im Schopenhauer-Aufsatz als Aussicht und Ziel erscheint? Nein, denn eine genauere Betrach-

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tung von Nietzsches Überlegungen läßt erkennen, daß er innerhalb der Bildung drei Momente unterscheidet: 1. das Zurückfinden zum Selbstsein (zur unhistorischen Erfahrung), 2. den Prozeß der Integration des Anderen im Selbst, und 3. das Erlangen derjenigen Selbsterkenntnis, die den Bestand des Selbstseins ermöglicht — dies ständige Selbstsein ist das Ziel der Bildung. Jedem dieser Momente geht ein Bruch voran. Der erste Bruch ist die Erinnerung an die Aufgabe der Individuation. Der zweite Bruch betrifft die Vergegenwärtigung der Existenz der Anderen. Und der dritte Bruch bezieht sich auf den Verlust des Selbstseins. Das erste Moment gilt dem Selbstverhältnis des Einzelnen. Das zweite bezieht sich auf das Verhältnis zum bzw. zu den Anderen. Und das dritte Moment betrifft die Beziehung zwischen dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zum Anderen. Die grundsätzliche Erörterung über die Bedeutung des Verlusts für den Prozeß der Bildung führt vor das Problem von Autonomie und Heteronomie, d.h. vor die Beziehung zwischen dem einzelnen Individuum und dem Ganzen. Der Begriff des Ganzen meint hier zweierlei. Erstens steht das Verhältnis des Individuums zu seinem Ursprung oder seiner Herkunft (d.h. zum Zentrum) im Blick, zweitens ist die Beziehung des Einzelnen zu den anderen Individuen gemeint. Nietzsche zufolge war das echte Individuum von jeher aufs höchste gefährdet. Die Gefahr droht dem vollendeten Individuum von seiten des Ursprungs: Dieser sei neidisch und bemühe sich, das geglückte Individuum nunmehr zur Hybris zu verführen und so ins Unglück zu stürzen. Freilich sei man dieser Gefahr unterschiedlich begegnet, und der moderne Genius zeige in dieser Hinsicht gegenüber dem des klassischen Altertums einen tiefgreifenden Unterschied auf. Nach Nietzsche diente die griechische Einrichtung des Wettkampfes dazu, dieser Gefahr vorzubeugen. Demnach war die Eigenständigkeit des griechischen Individuums nur innerhalb dieser Einrichtung gewährt. Anders beim modernen Menschen: Er suche die Eigenständigkeit „in und für sich". Am Beispiel Schopenhauer zeigt Nietzsche auf, daß das moderne Genie es versteht, selbst die Übergewalt des Zentrums zu bändigen. Ich interpretiere das so, daß Schopenhauer es verstand, die Mitte zu bewahren. Diese Mitte betrifft jenes eigentümliche Verhältnis zwischen dem Individuum und seiner Herkunft (also dem Zentrum), in der die Waage zwischen einer absoluten Differenz und einer absoluten Indifferenz gewahrt wird. Die Waage der Mitte bedeutet eine eigentümliche Nähe, aber auch eine Distanz — und der Mensch sollte beiden genügen.

1. Zur plastischen Kraft und vom Horizont In meinem vorigen Kapitel habe ich dargelegt, daß die Kraft zu vergessen einen mehrfachen Sinn aufweist. Im Rahmen der kritischen Arbeit, welche die Zweite

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Unzeitgemäße Betrachtung leisten will, ist dasjenige Vergessen, das die Gültigkeit waltender Bilder der Menschen und der Welt aussetzt, am wichtigsten. Denn das Aussetzen schafft den Übergang, der von der Sphäre des Uneigentlichen oder Kranken zum eigentlichen und gesunden Selbstsein zurückführt. Es schafft erst den Raum für das Selbstsein — in den dann wiederum ein Teil des Anderen oder Vergessenen als Erinnertes integriert werden mag. In diesem Paragraphen hoffe ich zeigen zu können, daß die „plastische Kraft" und der „Horizont", von denen Nietzsche spricht, vor diesem Hintergrund zu verstehen sind.

1. Befassen wir uns zuerst mit der plastischen Kraft. Obwohl sie in der Historienschrift nur an ganz wenigen Stellen explizit erwähnt wird,155 spielt sie in Nietzsches Überlegungen eine überaus wichtige Rolle — die es allerdings erst zu eruieren gilt. Die plastische Kraft bedeutet Nietzsche das Vermögen, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen" (UB 11:251,5-8).

Daß die plastische Kraft aufs engste mit der Kraft zu vergessen verbunden ist, geht aus folgender Stelle hervor: „Um d < en > Grad < vom historischen Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, feststellen zu können > und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht zum Todtengräber des Gegenwärtigen werden soll, müsste man genau wissen, wie gross die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist" (UBII: 251, 1-5).

Der Passus gibt zu erkennen, daß beide Kräfte in einem umgekehrten Verhältnis zu einander stehen: um so weniger der plastischen Kraft, um so mehr muß vergessen werden. Man überlegt, ob es sich hier um ein statisches Faktum handelt oder ob jeder Mensch auf seinem individuellen Lebensweg bestimmte Stadien durchläuft. Im letzteren Fall wäre das gesunde Verhältnis zwischen dem Erinnerten und Vergessenen beziehungsweise zwischen dem Historischen und dem Unhistorischen in jeder Phase ein anderes. Die Antwort auf die Frage ist wichtig, denn sie entscheidet, ob Nietzsches Wort vom Maß der plastischen Kraft eines Individuums, eines Volkes oder einer Kultur deskriptive oder aber vielmehr normative Bedeutung hat. Den Zusammenhang zwischen dem Maß vorhandener plastischer Kraft und der Verhältnismäßigkeit von Erinnertem und Vergessenem stellt Nietzsche so dar:

l5S

UB II: 251: 4; 271, 14; 329, 25.

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„Je stärkere Wurzeln die innerste Natur eines Menschen hat, um so mehr wird er auch von der Vergangenheit sich aneignen oder anzwingen: und dächte man sich die mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen, dass es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde, an derer überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte; alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen." (UB II: 251, 16-24)

Hier macht sich eine weitere Ambivalenz bemerkbar, denn diese mächtigste Natur kann als die egozentrische oder gar egoistische Perspektive eines Willens, der alles Andere sich unterordnet, aufgefaßt werden. Aber man kann sie auch als das Selbst verstehen, das noch in den absonderlichsten und verschlüsseisten Zeichen seinesgleichen zu vernehmen sich imstande erweist. Anscheinend meint Nietzsche an dieser Stelle vor allem ersteres. Denn es heißt: „Das was eine solche Natur nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen; es ist nicht mehr da, der Horizont ist geschlossen und ganz, und nichts vermag daran zu erinnern, dass es noch jenseits desselben Menschen, Leidenschaften, Lehren, Zwecke giebt" (UB II: 251, 24-28).

Freilich würde der Schluß, Nietzsche träte hier für die Hege und Pflege eines blinden Eigenwillens ein, meiner bisherigen Interpretation widersprechen — weshalb ich überlege, ob der Passus vielleicht einen anderen Sinn erkennen läßt. Und tatsächlich ist die Auslegung erlaubt, daß er auf die Zusammenarbeit zwischen der plastischen und der Kraft zu vergessen aufmerksam macht. Es heißt ja: „Das was eine solche Natur nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen" (251, 24-25). Demnach ergänzen die beiden Kräfte einander: Kommt der Mensch der plastischen Kraft zu kurz, so leistet das Vergessen Beihilfe. Beim gesunden Menschen wird in eben dieser Weise das Eintreten einer Erkrankung vorgebeugt. Ob dies nun auf eine stufenweise sich ergebende Entwicklung hinweist, geht, wenigstens an dieser Stelle, aus Nietzsches Text nicht hervor. Nietzsche deutet zwar an, daß es unterschiedliche Maße der plastischen Kraft gibt,156 läßt aber dahingestellt, ob eine Entwicklung möglich ist. Allerdings wurde im einführenden Teil dieser Arbeit erläutert, daß die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung (wenn man sie unter dem Aspekt Geschichte und Gerechtigkeit liest) die Tugend der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Sie gipfelt geradezu in der Vorstellung der menschlichen Freiheit — das heißt hier: in der Möglichkeit, sich der Skala hinaufzuarbeiten. Besteigt der Mensch die Treppe der Selbstüberwindung, so bewältigt er seine Beschränkungen und führt er seine eigentliche, d.h. ganzheitliche Existenz herbei.157 Erarbeitet sich aus der Beschränktheit zur Unumschränktheit empor.158

154 157 158

UB II: 251. 16-19. UB III: 362, 17-18. UB III: 351, 3-4.

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Geschichte und Gerechtigkeit

Zuvor wurde vermerkt, daß der Mensch in eine Welt, d.h. in ein Ganzes vorgegebenen Sinnes und vorgegebener Möglichkeiten, hineingeboren wird. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, daß das Individuum von seiten des schon Bestehenden, also des Status quo, in den Zwang genommen wird. Dank seiner zwiefachen Kraft kann der Mensch dieser Gewalt aus dem Weg gehen oder er kann ihr sich stellen. Dieses Vermögen bietet nun auch die Möglichkeit, daß der Mensch sich als zwar beschränkt, und daher noch nicht ganz er selbst, aber als dennoch gesund erweist.159 Demnach bezieht die zwiefache Kraft sich auf jenes intuitive Handeln, womit wir uns auf manche Dinge und Menschen einlassen, an manchen anderen aber vorübergehen. Sie deutet auf das Gewissen im Sinne eines Instinkts oder auch einer instinktiven Weisheit hin.160 Anscheinend stellt die Intuition eine Art Wissen um das endgültige Ziel unseres Werdeganges dar. Jedenfalls erwecken die intuitiven Entscheidungen keineswegs den Eindruck, willkürlich zu sein. Nicht von ungefähr spricht Nietzsche bezüglich des jungen und gesunden Lebens von einer „hellseherische < n > Gabe der Natur" (329, 28-29). Daraus kann man folgern, daß der Mensch sich der Aufgabe der Individuation stellt, sobald er sich der Führung durch diese Intuition überläßt. Tragen wir jedoch dem im vorigen Kapitel, in bezug auf den mannigfaltigen Charakter des Augenblicks Erarbeiteten Rechnung, so kann dies nur dann zutreffen, wenn der Augenblick, im Sinne der Verlautbarung desschlechten Gewissens, hier fehlt. Und tatsächlich ist dies Nietzsche zufolge der Fall. Er spricht von dem „ruhigen" und „gute < n > Gewissen" (251,16 und 34), das mit jenem gesunden Vermögen einhergeht:

159

160

Vergleiche Bulhof, a.a.O., S. 39: „Man muss zugeben, das Leben ist gesund, wenn Tatsachen und Leben miteinander im Gleichgewicht sind. Doch solange das natürliche Leben selbst die Zufuhr von Tatsachen regelt, ist es noch nicht krank. Man kann folglich nicht sagen, dass es von seiner .historischen Krankheit' genesen ist. Es ist reine Natur — nicht angekränkelt, nicht verfallen. Aber ebensowenig, und darauf kommt es an, ist es genesen, erhoben zum Niveau wahrer Menschlichkeit." Vergleiche dazu die folgende Passage aus der nachgelassenen Schrift Socrates und die Tragoedie: „Der Sokratismus verachtet den Instinkt und damit die Kunst. Er leugnet die Weisheit gerade dort, wo ihr eigenstes Reich ist. In einem einzigen Falle hat Sokrates selbst die Gewalt der instinktiven Weisheit anerkannt, und dies gerade in sehr charakteristischer Weise. Sokrates gewann in besonderen Lagen, wo sein Verstand zweifelhaft wurde, einen festen Anhalt durch eine wunderbar sich äuBernde dämonische Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt, immer ab. Die unbewußte Weisheit erhebt bei diesem ganz abnormen Menschen ihre Stimme, um dem Bewußten hindernd hier und da entgegenzutreten. Auch hier offenbart sich, wie Sokrates wirklich einer verkehrten und auf den Kopf gestellten Welt angehört. Bei allen produktiven Naturen wirkt gerade das Unbewußte schöpferisch und affirmativ, während das Bewußtsein sich kritisch und abmahnend geberdet. Bei ihm wird der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöpfer." (ST: 542, 12-26) Vergleiche dazu die Geburt der Tragödie: 90, 16-30.

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„Es giebt Menschen die diese < plastische > Kraft so wenig besitzen, dass sie an einem einzigen Erlebniss, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse unheilbar verbluten [...]; es giebt auf der anderen Seite solche, denen die wildesten und schauerlichsten Lebensunfälle und selbst Thaten der eigenen Bosheit so wenig anhaben, dass sie es mitten darin oder kurz darauf zu einem leidlichen Wohlbefinden und zu einer Art ruhigen Gewissens bringen." (UBII: 251, 8-16)

Demnach führt das Vertrauen in diese Führung, wie es weiter unten heißt, „ < d > ie Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe That" und nicht zuletzt „das Vertrauen auf das Kommende" (251, 33-34) herbei.

2.

Im Rahmen von Nietzsches Erörterung der plastischen Kraft begegnet nun auch der Horizont. Es heißt: „Und dies ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder überhastig zu zeitigem Untergange dahin." (UB II: 251, 28-33)

Aus dem Satz geht hervor, daß die plastische Kraft den Horizont besorgt; umgekehrt scheint jene Kraft wiederum durch den Horizont gestützt und geschützt zu werden. In dieser Wechselbeziehung ist auch die Kraft zu vergessen mit im Spiel. Der Horizont wird als eine Art Grenze vorgestellt: Er scheidet das eigens Angenommene vom (bis auf weiteres) Negierten, das Integrierte vom Ausgegrenzten — mithin das Erinnerte vom Vergessenen. Insofern es hier eine Entwicklung geben kann, stellt der Horizont eine bestimmte Phase auf deren Skala dar. Demnach ist der Horizont als bestimmtes Maß der Selbstumschränkung, das heißt der Selbstgestaltung, zu verstehen. In diesem Sinne heißt es: „Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe That, das Vertrauen auf das Kommende — alles das hängt, bei dem Einzelnen wie bei dem Volke, davon ab, dass es eine Linie giebt, die das Uebersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet, davon dass man eben so gut zur rechten Zeit zu vergessen weiss, als man sich zur rechten Zeit erinnert, davon dass man mit kräftigem Instincte herausfühlt, wann es nöthig ist, historisch, wann unhistorisch zu empfinden." (UB II: 251, 33 - 252, 7)

Woraus Nietzsche schließt: „as Unhistorische und das Historische sindgleichermaassenfür die Gesundheiteines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig." (UB II: 252, 8-11)

Seinerzeit aber war das Gleichgewicht zwischen dem Unhistorischen und dem Historischen gestört. Im zehnten Kapitel der Historienschrift führt Nietzsche aus, daß

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Geschichte und Gerechtigkeit

das Übermaß der Historie die plastische Kraft des Lebens angegriffen hat.161 Das Übergewicht der Historie vermag es, „die stärksten Instincte der Jugend: Feuer, Trotz, Selbstvergessen und Liebe zu entwurzeln, die Hitze ihres Rechtsgefühles herabzudämpfen, die Begierde langsam auszureifen durch die Gegenbegierde, schnell fertig, schnell nützlich, schnell fruchtbar zu sein, zu unterdrücken oder zurückzudrängen, die Ehrlichkeit und Keckheit der Empfindung zweiflerisch anzukränkeln; ja sie vermag es selbst, die Jugend um ihr schönstes Vorrecht zu betrügen, um ihre Kraft, sich in übervoller Gläubigkeit einen grossen Gedanken einzupflanzen und zu einem noch grösseren aus sich heraus wachsen zu lassen." (UB II: 323,13-22)

Die Folgen sind verheerend, denn der solchermaßen Zugesetzte zieht sich nunmehr „aus der Unendlichkeit des Horizontes auf sich selbst, in den kleinsten egoistischen Bezirk zurück und muss darin verdorren und trocken werden" (UB II: 323, 27-29).

Während Nietzsche im vorigen den Horizont als Grenze verstanden hatte, spricht er hier von seiner Unendlichkeit. Freilich braucht uns das nicht weiter zu wundern, denn für gewöhnlich wird die „Unendlichkeit des Horizontes" (323, 27-28) auf den vorhergehenden Satz, in dem Nietzsche von einem „fortwährende < n > Verschieben der Horizont-Perspektiven" und von der „Beseitigung einer umhüllenden Atmosphäre" (323, 24-26) spricht, zurückgeführt. Dennoch stellt sich die Frage, ob dies ohne weiteres zutrifft. Wäre es nicht auch möglich, daß die „Unendlichkeit des Horizontes" auf das „schönste!.] Vorrecht < der Jugend > " (323, 19-20), also auf „ihre Kraft, sich in übervoller Gläubigkeit einen grossen Gedanken einzupflanzen und zu einem noch grösseren aus sich heraus wachsen zu lassen" (323, 19-22), verweist? Wie mir scheinen will, spricht einiges für diese Auffassung. Es ist ja dieses Vermögen, das durch das Übermaß an Historie entkräftet wird. Und das wiederum könnte erklären, weshalb es anschließend bei Nietzsche heißt: „Erzieht sich dann aus der Unendlichkeit des Horizontes auf sich selbst, in den kleinsten egoistischen Bezirk zurück..." (323, 27-29). Daß diese Interpretation keineswegs willkürlich ist, kann außerdem der Schopenhauer-Aufsatzbelegen. Dort stellt Nietzsche dem Bildungsphilister, das heißt dem historisch Gebildeten, den wahrhaft Gebildeten gegenüber.162 Schopenhauer ist ihm ein solcher „siegreich Vollendeter" (358,25). In ihm glaubt Nietzsche das Ideal einer vollendeten Individualität, einer „errungene < n > Unumschränktheit — die im Grunde schöpferische Selbstumschränkung ist —" (351, 3-4), erkennen zu können. In der Sache kommt die errungene Unumschränkheit einem unendlichen Horizont gleich. Unter diesem Aspekt bedeutet die „Unendlichkeit des Horizontes" (323,27), welche wir in der Historienschrift vorfinden, nicht den von Nietzsche gerügten Pan-

161 162

UB II: 329, 24-26. Vergleiche etwa UB III: 341, 6-18. Dazu die Vierte Vorrede-, 780, 13-14.

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historismus, sondern verweist sie auf den zuvor zitierten Passus, in dem Nietzsche sich die mächtigste und ungeheuerste Natur denkt, für die es „gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde" (251, 20-21), 1 6 3 weil sie alles Andere in sich integriert hat. Wird nun dieses Ideal in Abrede gestellt, so zieht der Mensch sich auf engstem Raum zurück. Der Horizont wird auf das nächste Umfeld oder gar bis auf den einen Punkt eingeschränkt. 164 Dann ergibt sich das Bild, daß sich der Mensch egoistisch-selbstgefällig um seinen eigenen Mittelpunkt dreht, wie es im dritten Kapitel der Historienschrift heißt. 165 Demnach ist das Übel (also der Verlust des Gleichgewichts, das Übermaß an Historie) furchtbar. Dennoch wird es Nietzsche zufolge nur von der Jugend erkannt. Gemeint sind alle diejenigen, denen das tiefe Verlangen nach dem Genius noch nicht verlorengegangen ist. 1 6 6 Nach Nietzsche kennt die Jugend auch den Weg, der zum abhandengekommenen Paradies der Gesundheit zurückführt. Die dazu geeignete Methode zeigt zwei Momente auf, die er im zehnten Kapitel der Historienschrift wie folgt darstellt: „Mit dem Worte ,das Unhistorische' bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschließen; .überhistorisch' nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werdenden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion." (UB II: 330, 6-11)

Hier finden wir von neuem das Wort vom Sicheinschließen, und zwar diesmal in einen begrenzten

Horizont. Es ist allerdings nicht das Rekurrieren auf die Selbst-

gefälligkeit gemeint, sondern es geht vielmehr um das Gewinnen eines realen Ansatzpunktes für die eigentliche Bildung: um die unhistorische Erfahrung des Selbstseins. Nietzsche meint hier also das Vergessen im Sinne des Aussetzens der Gültigkeit der Welt. 1 6 7 Demnach bedeutet der Horizont bei Nietzsche zweierlei: E r bezieht sich einmal auf die Einschränkung,

welche die Voraussetzung für das Selbstseinkönnen schafft

— in welchem Fall der Horizont mit dem Vergessen im Sinne eines Aussetzens der Gültigkeit der Welt im Bunde steht. Das andere Mal aber bezeichnet der Horizont die

163 164

165 166 167

Zur Interpretation dieser Stelle vergleiche oben S. 109. Vergleiche die Bedeutung, welche R. Safranski dem Entzug (oder der Kontraktion) beilegt (R. Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch. Über das Denkbare und das Lebbare. München/Wien 1990, S. 21). Zum Thema vergleiche des weiteren R. Margreiter, .Die Verwindung der Wahrheit und der Entzug des Göttlichen. Zur Rekonstruktion der Gottesbegriffe Nietzsches' (in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 48-68). UB II: 268, 11-12. Vergleiche UB III: 358, 3-4. Vergleiche weiter oben S. 92 und S. 100.

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Geschichte und Gerechtigkeit

Vollendung, die sich in der durch die plastische Kraft herbeigeführten Integration bekundet. Hier bedeutet der Begriff letzten Endes eine errungene Unumschränktheit. Fassen wir zusammen: Die plastische Kraft geht mit der Kraft zu vergessen einher und bedeutet so das zwiefache Vermögen, sich je nach Bedarf offen oder geschlossen zu verhalten. Beim gesunden Menschen ist dies ein instinktives und intuitives Benehmen — das heißt, daß er sich dabei durch eine ihm innewohnende Instanz führen läßt. Auf diesem Weg wird ein Horizont beachtet, in dessen Grenzen der Mensch ungehindert er selbst ist. Bewahrt und beschützt der Horizont das Selbst, so ermöglicht die plastische Kraft zudem dessen Wachstum. Sie fördert dem beabsichtigten Ziel eines Selbst, das das Andere seines Selbst in sich integriert hat und so zu einer einmaligen und wohlgerundeten Individualität geraten ist. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Nach Nietzsche ist der Mensch meist nicht er selbst, für gewöhnlich fehlt das Selbstverhältnis ihm. Erst der „Augen-Blick", also der Blick, mit dem das tiefe Auge des Gewissens ihn prüfend ansieht, schafft die Voraussetzung dafür, daß er zu sich, zu seinem Selbst finden kann. Hört der Mensch auf sein Gewissen, so vermittelt es die Kraft ihm, die Gültigkeit der Welt auszusetzen, d.h. sie zu vergessen. Auf diese Weise wird erstmals ein Horizont bewirkt, in dessen Grenzen er ungehindert er selbst ist. Doch sobald der Mensch zur unhistorischen Erfahrung, also zu seinem Selbst zurückgefunden hat, findet ein Umkehrung statt: Das aktive Vergessen als Ausgrenzen macht jetzt der plastischen Kraft als dem Integrieren des Anderen Platz. Daraus geht hervor, daß Nietzsche das auf sich beschränkte Selbst nicht als letztes Ziel versteht und auch, daß das Gewissen nicht auf die Verlautbarung eines solchen vereinzelten Selbst reduziert werden kann. Daß das Gewissen somit über das einzelne Selbst hinausweist, deckt sich mit Nietzsches Ansicht, daß das Maß der plastischen Kraft durch die Tiefe der Wurzeln bestimmt wird. Damit aber stößt man auf die Fragen nach der Herkunft und nach dem Ziel: Welcher ist der Grund, in dem die plastische Kraft ihre Wurzeln schlägt? Welches ist das Ziel, dem sie dient? — Das Weitere dieses Kapitels dient der Klärung dieser Fragen.

2. Weiterführende Überlegungen Ich versuche den Einstieg, indem ich mich mit einigen wenigen, für meinen Ansatz wichtigen Ausschnitten aus der Literatur befasse. Die Auswahl ergab sich aus der systematischen Perspektive, die meiner Arbeit zugrunde liegt.

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Nach Haeuptner geht die Möglichkeit der von ihm als zweite unterschiedenen Gestalt menschlichen Glücks auf die Natur zurück.1 er Mensch zerreisst das Band, welches ihn mit seinem Ideal verknüpfte; er hört auf, auf diesem oder jenem Gebiete, fruchtbar zu sein, sich fortzupflanzen, er wird im Sinne der Cultur schwächlich oder unnütz. Die Einzigkeit seines Wesens ist zum untheilbaren, unmittheilbaren Atom geworden, zum erkalteten Gestein." (UB III: 360, 12-17)

Hier ist die Gefahr klarer umrissen. Nietzsche meint den Fall, in dem ein Mensch zur Vollendung gelangt ist, daß heißt dem Genius gleich geworden ist, sich dann aber von ihm loslöst, indem er das zwischen ihnen waltende Band zerreißt. Auch hier handelt es sich um das Verlangen, alle Beschränkungen loszuwerden und Alles zu sein. Aber die Art und Weise, zu diesem Ziel zu gelangen, geht in die andere Richtung: Nicht das Selbst wird hingeopfert, sondern all das, was jenes Selbst nicht ist, das Andere dieses Selbst.

GT: 70, 6-10.

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Demnach liegt die zwiefache Gefahr darin, daß einerseits das ungestüme und ungebändigte Verlangen der Sehnsucht, Alles und Eins zu sein, zum Nicht-Sein führt, während andererseits die Verhärtung das Allein-Sein, mithin den Solipsismus herbeizuführen droht. Nietzsche zieht den Schluß: „Und so kann einer an dieser Einzigkeit ebenso wie an der Furcht vor dieser Einzigkeit verderben, an sich selbst und im Aufgeben seiner selbst, an der Sehnsucht und an der Verhärtung: und Leben überhaupt heisst in Gefahr sein." (UB III: 360, 17-21)

Die Sehnsucht stellt sich also als ein zutiefst gegensätzliches und widersprüchliches Verlangen heraus. Wenn wir nun versuchen, die doppelte Gefahr vor dem Hintergrund der Problematik des integrierten Selbst zu verstehen, so geht folgendes hervor: Das Sehnen, das der Sehnsucht eignet, gilt einem restlosen Einssein. Das integrierte Selbst dagegen zeigt eine innere Differenz auf. Denn es hat das Andere zwar integriert, doch als das Andere seiner selbst. Der Erhalt dieser Differenz ist notwendig, weil ohne die Differenz die Integration fehlschlägt. Die Sehnsucht führt das Selbst nun in Versuchung, entweder dem Anderen sich hinzugeben (Altruismus) oder aber das Andere restlos auszugrenzen (Egoismus). Natürlich überlegt man sofort, wie diese Gefahren des näheren zu verstehen sind. Denn daß der seiner selbst frohe Mensch dennoch von der Sehnsucht heimgesucht werden solle, leuchtet ja nicht unbedingt ein. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer Nietzsche zufolge mit diesen Gefahren fertig geworden ist, stellt sich darüber hinaus die Frage nach der Art und Weise, wie er sie denn bewältigt hat. Mit diesen Fragen setzt der nachstehende Paragraph sich auseinander.

4. Wettkampf und Neid Zur Frage nach Autonomie und Heteronomie Im Verlauf dieses Paragraphen hoffe ich zeigen zu können, daß, Nietzsche zufolge, die zuvor angezeigten Gefahren auf die Übergewalt des Zentrums zurückzuführen sind. Wegen dieser Übergewalt sei der Mensch von jeher gefährdet. Nietzsche unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Lösungen für diese Gefährdung, nämlich zwischen der griechischen und der modernen. Die Antwort der Griechen auf die Bedrohung seitens der Götter lag ihm Wettkampf. Dagegen habe Schopenhauer es verstanden, selbst die Mitte zwischen den beiden gegensätzlichen Trieben zu wahren.

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Die griechische Lösung finden wir in der fünften der Fünf Vorreden zu fiinf ungeschriebenen Büchern, Homer's Wettkampf, vorgeführt.191 Wohl auf dem Hintergxundgierigen Lebens Schopenhauerischer Prägung versucht Nietzsche sich dem Phänomen des Wettkampfes über die Kategorie des Neides zu nähern. Sie darf als das Gegenstück zur .christlichen' Auslegung der Liebe, nämlich Liebe als restloser Hingabe (Altruismus), gelten. In dieser Vorrede heißt es: „Der Grieche ist neidisch und empfindet diese Eigenschaft nicht als Makel, sondern als Wirkung einer wohlthätigen Gottheit: welche Kluft des ethischen Urtheils zwischen uns und ihm! Weil er neidisch ist, fühlt er auch, bei jedem Übermaaß von Ehre Reichthum Glanz und Glück, das neidische Auge eines Gottes auf sich ruhen und er fürchtet diesen Neid; in diesem Falle mahnt er ihn an das Vergängliche jedes Menschenlooses, ihm graut vor seinem Glücke und das Beste davon opfernd beugt er sich vor dem göttlichen Neide. Diese Vorstellung entfremdet ihm nicht etwa seine Götter: deren Bedeutung im Gegentheil damit umschrieben ist, daB mit ihnen der Mensch nie den Wettkampf wagen darf, er dessen Seele gegen jedes andre lebende Wesen eifersüchtig erglüht." (HW: 787,17-29)

Der Stelle nach genügt der Grieche dem gegensätzlichen und widersprüchlichen Verlangen dadurch, daß er es gleichsam spaltet: Die Verhärtung, d.h. den totalitären Anspruch, richtet er gegen den Mitmenschen, dagegen widmet er die Sehnsucht, also den Selbstverzicht, seinen Göttern. Doch dieser Schein trügt. Nietzsche zielt vielmehr in der Richtung, daß die Griechen weder der Sehnsucht noch der Verhärtung verfallen konnten, und zwar weil der Wettkampf jenes zutiefst zwiespältige Verlangen zu einer ungeheuren, aber dennoch in Schranken gehaltenen Begierde steigerte. Laut Nietzsche war der ursprüngliche Sinn dieser Einrichtung der eines Stimulanzmittels. Außerdem war der Wettkampf Schutzmittel: „ < M > an beseitigt den überragenden Einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache: ein Gedanke, der der .Exclusivität' des Genius im modernen Sinne feindlich ist, aber voraussetzt, daß, in einer natürlichen Ordnung der Dinge, es immer mehrere Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie — ein zweites Genie." (HW: 789, 5-14)

Nietzsche führt hier ein Gleichgewicht agonaler Kräfte vor Augen. Die Kräfte hielten einander solchermaßen in Schach, daß der Verhärtung vorgebeugt wurde; auch konnten die Griechen sich nicht der Sehnsucht hingeben. Bei der Einrichtung des Wettkampfes handelte es sich somit um ein Ins- Werk-Setzen des Maßes.192

' " Über die Hintergründe, vor denen Nietzsches Beschäftigung mit dem Thema zu verstehen ist, klärt auf E. Vogt, .Nietzsche und der Wettkampf Homers' (in: Antike und Abendland 11 (1962), S. 103-113). Des weiteren H. Schröter, a.a.O., S. 106-122. Eine eingehende Auseinandersetzung mit

dem Thema bietet W. Coolsaet, Autarkeia. Rivaliteit en zelfgenoegzaamheid in de Griekse cultuur, Kampen 1993. " 2 Vergleiche dazu die folgenden Notizen im späten Nachlaß. In 12: 1 [31] steht: „— der Kampf als

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Nietzsche zufolge verfehlt jener Kampf seinen Sinn in dem Moment, da er zur Entscheidung kommt. Denn infolge seines Sieges müsse der Sieger unweigerlich zugrunde gehen. Dies erklärt er sich folgendermaßen: „ < Der > göttliche Neid entzündet sich, wenn er den Menschen ohne jeden Wettkämpfer gegnerlos auf einsamer Ruhmeshöhe erblickt. Nur die Götter hat er jetzt neben sich — und deshalb hat er sie gegen sich. Diese aber verleiten ihn zu einer That der Hybris, und unter ihr bricht er zusammen." (HW: 792, 1-5) 193

Wie ist dies zu verstehen? Meiner Meinung nach sollte man insbesondere das Fehlen des Maßes beachten: Der Sieger steht allein und muß seinen widersprüchlichen Trieben jetzt aus eigener Kraft entgegentreten. Gibt er sich der Verhärtung hin, so mag das als Hybris besonders augenfällig sein; aber Nietzsches psychologisches Gespür hat wohl auch den Herrschaftsanspruch in der Sehnsucht gewittert—die, dies nebenbei vermerkt, im übrigen nicht ganz so griechisch anmutet, sondern eher der Sphäre des christlichen Altruismus oder einer Exaltation wagnerischer Provenienz sich zu nähern scheint. Halten wir Folgendes fest: Nach Nietzsche war das griechische Genie (d.h. der vollendete Mensch) von seiten seiner Götter bedroht. Der Wettkampf habe dem Ziel gedient, die Auseinandersetzung dermaßen zu steigern, daß die Streitenden alle ihre Kräfte bemühen mußten, um sich behaupten zu können und zur Vollendung zu gelangen. Die fortwährende Auseinandersetzung im Kampf habe außerdem der Gefahr der Hybris vorgebeugt. Nietzsche vertritt also entschieden die Ansicht, daß der Grieche auf den Wettkampf nicht hätte verzichten können. Kommen wir jetzt zu der zweiten Lösung für die angezeigte Gefährdung. Anders als die griechischen Genien sei der moderne Genius — sprich Schopenhauer — auf sich gestellt. Er stehe allein, in einsamer Größe. Es stellt sich die grundsätzliche Frage: Muß das moderne Genie nicht zwangsläufig zugrunde gehen? Oder, anders gefragt, wie ist die Möglichkeit des modernen Genius zu verstehen? Wenn das moderne Genie tatsächlich auf sich gestellt ist, so ist es gleichsam selbst der Ort, an dem

Mittel des Gleichgewichts" (12: 1 [31]; 12: 18, 4). In der überaus wichtigen, längeren Notiz 12: 5 [82], die ganz vom Gleichgewicht handelt, heißt es dann: „[...] < D > a s richtige Gleichniß wäre, die Gerechtigkeit auf einer Wage stehen zu machen dergestalt, daß sie die beiden Schalen im Gleichgewicht hält. [...]" (12: 5 [82]; 12: 221, 14-16). Zur Thematik vergleiche V. Gerhardt, ,Das Princip des Gleichgewichts. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche' (in: V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 98-132). Freilich heißt es schon im frühen Nachlaß: „[...] Wunderbarer Prozeß, wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine äixr] anerkennt: wo kommt diese her? Der Wettkampf entfesselt das Individuum: und zugleich bändigt er dasselbe nach ewigen Gesetzen. [...]" (7: 16 [22]; 7: 402, 13-17). Vergleiche 7: 16 [37]: „Viel Ruhm hat bei einem Griechen etwas Gemüthsverwirrendes. / Durch Glück wird der Grieche berauscht und entsittlicht. [...]" (7: 16 [37]; 7: 407, 1-3)

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der Kampf seiner widersprüchlichen Triebe ausgetragen wird — was laut der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung freilich der Fall ist. Demnach muß der Kämpfende aus eigener Kraft zwischen den in ihm streitenden Tendenzen ein Gleichgewicht bewirken. Sollte ihm dies gelingen, so muß er damit rechnen, den Neid der Götter oder des Gottes entzündet zu haben. Das heißt jetzt, daß das moderne Genie, also der vollendete Mensch, an erster Stelle von seiten seines Gottes bedroht wird. — Aber woher dann die Kraft zur Vollendung, zum Gleichgewicht, zur Mitte? Diese Frage können wir anhand einer Stelle aus dem Nachlaß beantworten. Vermerken wir aber zuerst, daß sich schon in einer der frühesten Arbeiten, in dem mit achtzehn Jahren geschriebenen Aufsatz Fatum und Geschichte, eine Stelle findet, wo Nietzsche sich vornimmt, „... aus Naturwissenschaft und Geschichte ein System des Reellen aufzustellen

Weiter unten heißt es: „... das gemeinsame Centrum aller Schwingungen, den unendlich kleinen Kreis zu suchen, ist Aufgabe der Naturwissenschaft; jetzt erkennen wir, da der Mensch zugleich in sich und für sich jenes Centrum sucht, welche einzige Bedeutsamkeit Geschichte und Naturwissenschaft für uns haben müssen""4.195

Hier interessiert uns zunächst seine Einschätzung, daß der Mensch in sich undfiir sich jenes Zentrum sucht. Es mag einleuchten, daß hier der moderne oder auch neuzeitliche Mensch gemeint ist, denn der Unterschied zum Griechen ist nicht zu übersehen. Nach Nietzsche hat der Grieche jenes Zentrum nicht in sich und für sich, sondern vielmehr im Feuer des Wettkampfes gesucht und gefunden. Obendrein hat er damit nicht an erster Stelle sich selbst, sondern dem Wohl des Staates, der Gemeinschaft, das heißt dem öffentlichen Maße, gedient.196 Hatten innerhalb der

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F. Nietzsche, Jugendschriften, München 1922 (Musarion-Ausgabe), S. 60-67, S. 61 und 63. Vergleiche H. Heimsoeth, Nietzsches Idee der Geschichte, Tübingen 1938, S. 9 und ebd., Anmerkung 1. Dazu des weiteren W. Hegemeister, Friedrich Nietzsches Geschichtsauffassung, ihre Entstehung und ihr Wandel in kulturgeschichtlicher Beleuchtung, Leipzig 1912, S. 5-9, und K. Schlechta/A. Anders, Friedrich Nietzsche. Vonden verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart, Bad Cannstatt 1962, S. 63. Vergleiche folgende Notiz aus dem frühen NachlaB 7: 16 [42]: „Alle Neigung, Freundschaft, Liebe zugleich etwas Physiologisches. Wir wissen alle nicht, wie tief und hoch die Physis reicht." (7: 16 [42]; 7: 408, 1-3); dazu aber auch 12: 5 [56] aus dem späten NachlaB: „[...] N.B. Wenn das Centrum des ,Bewußtseins' auch nicht mit dem physiologischen Centrum zusammenfällt, so wäre doch möglich, daß dennoch das physiologische Centrum auch das psychische Centrum ist. / Die Intellektualität des Gefiihls (Lust und Schmerz) d. h. es ist beherrscht von jenem Centrum aus." (12: 5 [56]; 12: 206, 3-8) Vergleiche: „Für die Alten aber war das Ziel der agonalen Erziehung die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z.B. sollte sein Selbst im Wettkampfe soweit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schade bringe" (HW: 789, 2428). Obzwar dies sich gefährlich dem von Nietzsche gerügten Egoismus des neuzeitlichen Staates zu nähern scheint (von dem weiter unten, im sechsten Kapitel, zu handeln sein wird), ist doch et-

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griechischen Verhältnisse die gegensätzlichen Kräfte einander dank ihres gemeinsamen Mittelpunktes in der Gestalt des öffentlichen Wettkampfs die Waage gehalten, so überlegt man nun, wie dies in der Neuzeit vor sich geht. Im frühen Nachlaß heißt es: „Jetzt fehlt das, was alle partiellen Kräfte bindet; und so sehen wir alles feindselig gegen einander und alle edlen Kräfte in gegenseitigem aufreibendem Vernichtungskrieg." (7: 30 [8]; 7: 734, 4-6)197

Und in der nächsten Notiz: „Harmonie < ist > da, wenn alles auf einen Mittelpunct, auf eine Cardinalkraft bezogen ist" (7: 30 [9]; 7: 734, 20-21).198

Worauf bezieht sich der Ausdruck „Mittelpunct" beziehungsweise „Cardinalkraft"? Im Schopenhauer-Aufsatz heißt es, daß die Institution der Kirche über lange Zeit als „Band < der Kräfte > " (367, 31 ; 368, 9) gedient habe, daß diese Rolle zur Zeit aber

197

was grundsätzlich anderes gemeint. Denn im dritten Vortrag aus der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten heißt es aus dem Munde des alten Philosophen: „ < , > Denn gerade von dieser Utilitätsrücksicht ist das antike Staatswesen so fem wie möglich geblieben, die Bildung nur gelten zu lassen, soweit sie ihm direkt nützte und wohl gar die Triebe zu vernichten, die sich nicht sofort zu seinen Absichten verwendbar erwiesen. < ' > " (ZBA: 708, 33 - 709, 3). Und weiter: „ < , > Der tiefsinnige Grieche empfand gerade deshalb gegen den Staat jenes für moderne Menschen fast anstößig-starke Gefühl der Bewunderung und Dankbarkeit, weil er erkannte, daß ohne eine solche Noth- und Schutzanstalt auch kein einziger Keim der Kultur sich entwickeln könne, und daß seine ganze unnachahmliche und für alle Zeiten einzige Kultur gerade unter der sorgsamen Obhut seiner Noth- und Schutzanstalten so üppig emporgewachsen sei < ' > " (ZBA: 709, 3-10). In derDritten Vorrede heißt es dazu: „Das eigentliche Ziel des Staates" ist „die olympische Existenz und immer erneute Zeugung und Vorbereitung des Genius" (GS: 776, 17-18). Vergleiche auch H. Schröter, a.a.O., S. 106-122. Vergleiche weiter unten Anmerkung 199. Dieser Gedanke hält sich bis in den späten Nachlaß durch. Vergleiche 12: 2 [100]: „[...] Ungeheure Gewalten sind entfesselt; aber sich widersprechend / die entfesselten Kräfte sind gegenseitig vernichtend / die entfesselten Kräfte neu zu binden, daß sie sich nicht gegenseitig vernichten und / Augen aufmachen für die wirkliche Vermehrung an Kraft! [...]" (12: 2 [100]; 12: 110, 1-7). Dazu 12: 2 [87]: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie; somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist." (12: 2 [87]; 12: 104, 20-24). Dazu die UB III: 342, 25 - 343, 8. Wie früher schon einmal vermerkt worden ist, vertritt Haeuptner die Ansicht, in der Historienschrift seien zwei verschiedene lebensanschauliche Perspektiven im Spiel: eine „pantheistische" und eine dualistische. Hier tritt aber ans Licht, in welcher Weise beide Tendenzen miteinander verknüpft sind. Deswegen kann ich der von ihm vorgenommenen, strengen Unterscheidung nicht zustimmen. Haeuptner übersieht, daß die Natur oder das Leben (als ein im Strömen und Fließen begriffener Strom) zwar tatsächlich in sich strittig, mithin „dualistisch" ist, aber nicht ohne Bezug zum einen und einigenden Mittelpunkt (der sowohl den Anfang wie auch das Telos des Strömens darstellt) ist und sich in der Hinsicht „pantheistisch" gibt. An der jeweils waltenden Modalität ihrer Beziehung entscheidet sich, ob der Mittelpunkt als solcher wirken oder nicht wirken kann, das heißt, ob der Fluß eine harmonische oder eine in sich zerrissene beziehungsweise disharmonische Gestalt annimmt.

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Geschichte und Gerechtigkeit

mehr und mehr dem Staat zugewiesen beziehungsweise von ihm übernommen werde.199 Auf diesem Wege versuche man, „diesem tiefsten modernen Hange, einzustürzen oder zu explodiren" (367,16-17), zu begegnen. Aber infolge des Fehlens eines wirksamen Zentrums seien die Kräfte dennoch sich selbst überlassen — mithin gehe mit der äußeren Organisation ein inneres Chaos einher. Aufgrund dieser Analyse kommt Nietzsche zu dem Schluß, daß der moderne Mensch der Führung von Seiten des Genius bedarf: Der Mensch braucht einen Erzieher, der ihn zum Mittelpunkt hin- oder auch zurückführt. Im Schopenhauer-Aufsatz heißt es dazu: „Aber wo finden wir überhaupt die harmonische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in Einer Natur, wo bewundern wir Harmonie mehr, als gerade an solchen Menschen, wie Cellini einer war, in denen alles, Erkennen, Begehren, Lieben, Hassen nach einem Mittelpunkte, einer Wurzelkraft hinstrebt und wo gerade durch die zwingende und herrschende Uebergewalt dieses lebendigen Centrums ein harmonisches System von Bewegungen hin und her, auf und nieder gebildet wird?" (UB III: 342, 25-33)

Und auf der nächsten Seite: „Jener erziehende Philosoph, den ich mir träumte, würde wohl nicht nur die Centraikraft entdecken, sondern auch zu verhüten wissen, dass sie gegen die andern Kräfte zerstörend wirke: vielmehrwäredieAufgabeseinerErziehung, wiemich dünkte, den ganzen Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen." (UB III: 343, 2-8)

An erster Stelle gilt es festzuhalten, daß jener erziehende Philosoph die Zentralkraft entdeckt, das heißt in undfür sich entdeckt.200 Die Bedeutung dieser Aussage kann kaum überbewertet werden, denn hier liegt nach Nietzsche der Unterschied

m

Es heißt dort: „Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. Die feindseligen Kräfte wurden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten und durch den starken Druck, welchen sie ausübte, einigermaassen einander assimiliert. Als das Band zerreisst, der Druck nachlässt, empört sich eines wider das andre" (UB III: 367, 28-31). Und weiter unten: „Von da an griff die Scheidung immer weiter um sich. Jetzt wird fast alles auf Erden nur noch durch die gröbsten und bösesten Kräfte bestimmt, durch den Egoismus der Erwerbenden und die militärischen Gewaltherrscher. Der Staat, in den Händen dieser letzteren, macht wohl, ebenso wie der Egoismus der Erwerbenden, den Versuch alles aus sich heraus neu zu organisiren und Band und Druck für alle jene feindseligen Kräfte zu sein: das heisst, er wünscht dass die Menschen mit ihm denselben Götzendienst treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben." (UB III: 368, 3-12; vgl. 7: 29 [206])

200

In dem nachgelassenen Fragment einer erweiterten Form der „Geburt der Tragoedie" heißt es: „[...] Wenn die Befriedigung am träumenden Menschen sich ihm selbst nur dämmernd erschließt, ist der Genius zugleich der höchsten Befriedigung an diesem Zustand fähig; wie er selbst andernseits über diesen Zustand Gewalt hat und ihn aus sich allein erzeugen kann. [...]" (7: 10 [1]; 7: 334, 1-5. Hervorhebung nicht im Original).

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zwischen den Genien des Altertums und dem Genius der modernen Zeit. Erstere hatten nur in der Gemeinschaft Bestand; sie brauchten sie als Schutzschild den Göttern gegenüber. Anders der moderne Genius — er verstehe es, den Gott entblößten Hauptes zu bestehen. Zweitens interessiert uns die Vorstellung von der Übergewalt der Zentralkraft, die ihrerseits in Schranken gehalten werden muß. Der Sache nach geht es hier um den Neid des Gottes, demgegenüber das auf sich gestellte moderne Genie zunächst wehrlos sei. Diese Übergewalt herrscht sowohl in der Gestalt des den Menschen Berückenden als auch in der des ihn Entrückenden, das heißt sowohl in dem zur Verhärtung verführenden Narzißmus als auch in der zum Selbstverzicht verlockenden Sehnsucht. Somit kennt jene Übergewalt des Zentrums zwei Gestalten, welche einander zwar entgegenstehen, sich aber in der Hinsicht gleichkommen, daß sie beide ohne jegliches Maß sind. Wie schafft der moderne, auf sich gestellte Genius es nun, sich gegenüber dieser Gewalt zu behaupten? Die zu diesem Zwecke angeführte Zentralkraft mag zwar zunächst das Gleichgewicht (die Harmonie) der Kräfte bewirken, doch hat sich herausgestellt, daß sie selbst letztlich die von ihr herbeigeführte Harmonie wieder gefährdet.201 Dennoch ist sie, in ihrer Doppelgestalt, nämlich als Grund und unmittelbarer Bedrohung seines Gleichgewichts, dem Menschen näher als alles andere. Daß Schopenhauer Nietzsche zufolge mit jenen Gefahren fertig geworden ist, können wir jetzt so verstehen, daß es ihm gelungen ist, zwischen der Liebe zum eigenen Selbst und der zu diesem Nächsten die Mitte zu wahren. Demnach hat er es fertiggebracht, die Nähe zur Zentralkraft dadurch zu beständigen, daß er die Beziehung zu ihr weder zu einer bloßen Differenz auseinanderklaffen noch in eine bloße Indifferenz zusammenfallen ließ. — Er hat also die gebührende Distanz gewahrt.

201

M. Landmann macht in seiner Studie .Nietzsches Lehre vom Bösen' auf eine Stelle in Nietzsches Genealogie der Moral aufmerksam (siehe M. Landmann, .Nietzsches Lehre vom Bösen' (in: M. Landmann, Geist und Leben: Varia Nietzscheana, Bonn 1951, S. 43-71), S. 43). Dort heiBt es: „In der That gieng mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich [...] mein erstes litterarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung — und was meine damalige .Lösung' des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum Vater des Bösen." (5: 249, 15-21) Anläßlich einer weiteren Stelle aus dem späten Nachlaß (Die Unschuld des Werdens I. 1235 = 11: 26 [390] (vgl. dazu 11: 39 [19]) — in der von einer „wunderliche < n > Dreieinheit: nämlich Gott-Vater. Gott-Sohn und Gott-Teufel" die Rede ist) legt Landmann eine Beziehung zu Böhme und Schelling. Er führt dann den folgenden Böhme-Spruch an: „Die dunkle Hölle und die lichtende Helle hallet aus einem Herzen." (Landmann, a.a.O., S. 50). Dieser Spruch trifft nun tatsächlich aufs genaueste den hier von mir anvisierten Sachverhalt!

130

Geschichte und Gerechtigkeit

Daß Nietzsche Schopenhauer eine solche Fähigkeit zugesteht und daß er ihn als Erzieher vorschlägt, veranlaßt zum Schluß, daß Schopenhauer Nietzsche zufolge über gewisse Kenntnisse verfügt hat, die für eine wahrhafte Bildung unerläßlich sind. Zwar ist nicht eindeutig, ob Nietzsche Schopenhauer über das praktische Geschick hinaus auch den theoretischen Einblick bescheinigt, doch soviel steht fest, daß Schopenhauer Nietzsche zufolge eine ausgezeichnete Erkenntnis erzielt hat. Schopenhauer hat nämlich das Ziel erreicht, das der achtzehnjährige Nietzsche sich stellte, er hat in sich undfiirsich zum Zentrum gefunden. Ich bezeichne dasjenige, was Schopenhauer laut Nietzsche erkannt hat, als das Gesetz der Mitte. Während die griechischen Genien auf den Wettkampf angewiesen waren und somit der Heteronomie verhaftet blieben, verhalf der moderne Genius Schopenhauer sich dadurch zur Autonomie, daß er dieses Gesetz erkannte. Der nachstehende Paragraph bietet einen Überblick über die wichtigsten Momente des Gesetzes der Mitte, sofern sie bisher in Erscheinung getreten sind.

5. Zum Gesetz der Mitte In dieser Studie versuche ich anhand des Frühwerkes Nietzsches das Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit zu klären. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Haltung des Menschen als der Beziehung zwischen dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zum Anderen beziehungsweise zu den anderen. Im vorigen Kapitel hatte ich gezeigt, wie der Mensch Nietzsche zufolge durch sein Gewissen an die Möglichkeit des Selbstseins erinnert wird. In diesem Zusammenhang wurde eine Stelle aus dem frühen Nachlaß angeführt, in der es heißt, daß das „tiefe Auge" den Menschen „aus der Mitte seines Leidens fragend ansieht" (7: 34 [24]; 7: 799, 2830).202 Wie wir sahen, handelt es sich um die Erinnerung als den Augenblick des Gewissens. Die Mitte, von der hier die Rede ist, entspricht dem Innersten des Menschen.201 Durch dessen Augen-Blick wird der Mensch mit der Möglichkeit seines Selbstseins konfrontiert. Bemüht der Mensch sich um die Verwirklichung dieser Möglichkeit, so führt er auf diese Art und Weise erstmals ein Selbstverhältnis herbei.

202 203

Vollständig angeführt S. 77. Im übrigen begegnet der Begriff schon in dem Aufsatz Fatum und Geschichte (1862): „Sich in das Meer des Zweifels hinauszuwagen, ohne Kompass und Führer, ist Thorheit und Verderben für unentwickelte Köpfe; die meisten werden von Stürmen verschlagen, nur sehr wenige entdecken neue Länder. Aus der Mitte des unermesslichen Ideenozeans sehnt man sich dann oft nach dem festen Lande zurück: wie oft überschlich mich nicht bei fruchtlosen Spekulationen die Sehnsucht zur Geschichte und Naturwissenschaft!" (F. Nietzsche, Jugendschriften, München 1922, S.61; Hervorhebung nicht im Original).

3 Vom Zentrum als dem Gesetz der Mitte

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Im vorliegenden Kapitel sind wir dem Zentrum begegnet. Auch hier handelt es sich um eine Mitte, doch verweist der Begriff diesmal auf das Innerste der Natur. Weil der Mensch laut Nietzsche durch und durch Natur ist, könnte es dennoch durchaus sein, daß auch die Mitte des Leidens, welche zuvor erwähnt wurde, im Zentrum der Natur anzusiedeln ist.204 Das Leiden des Menschen sowie der sonstigen Natur geht aus einer unersättlichen Gier hervor. In der Historienschrift spricht Nietzsche diesbezüglich vom Leben als einer dunklen, treibenden, unersättlich sich selbst begehrenden Macht (269, 20-21). Schon im ersten und einführenden Teil wurde angedeutet, daß infolge dieser unersättlichen Begierde alles Seiende einer Zerrissenheit erliegt: Der Trieb zur Selbstbehauptung steht im Widerspruch zum Trieb nach Selbstüberwindung. Der Gegensatz der einander widerstreitenden Trieben begegnet uns im Schopenhauer-Aufsatz als das Gegeneinander von Verhärtung und Sehnsucht. Doch ehe es zu einer Verhärtung oder zur Sehnsucht kommen kann, muß das Selbstsein erlangt sein. Nietzsche denkt sich das Selbstsein als eine Harmonie vieler partieller Kräfte. Auch diese Harmonie ist eine Mitte. Die Harmonie wiederum führt er auf die Wirkung einer Wurzel- oder auch Zentralkraft zurück. Die Zentralkraft vermag es, aus den vielen partiellen Kräften ein harmonisches Ganzes, nämlich einen vielstimmigen Zusammenklang, zu bilden. Bleibt jedoch die Wirkung des Zentrums aus, so verfallen die jetzt feindseligen Kräfte einem gegenseitigen Vernichtungskrieg. Demnach unterscheidet Nietzsche zwischen der Möglichkeit einer inneren Harmonie und der einer inneren Disharmonie. Aus der Perspektive der Historienschrift geht dieses Zentrum in erster Linie aus der Mitte des Leidens hervor und zwar derart, daß das Gewissen den Menschen aus der Zerstreuung zu seinem Selbst zurückführt. Es ist also zunächst eine Beschränkung auf das Wesentliche erforderlich, weshalb wir hier den Begriff des Horizontes als einer Eingrenzung im Eigenen und einer Ausgrenzung des Anderen vorfinden. Weil das aus der Zerstreuung zum Selbstsein Zurückfinden einem Sichsammeln gleichkommt, kann das Vergessen im Sinne eines Aussetzens der Gültigkeit der Welt zuweilen als plastische Kraft erscheinen. Doch liegt deren Schwerpunkt anderswo, nämlich beim Verhältnis zum Anderen, d.h. beim Verhältnis zum Mitmenschen. Denn sie leistet die Integration des Anderen im Selbst. Nach Nietzsche wird das Maß der plastischen Kraft durch die Tiefe ihrer Wurzeln bestimmt. Ich lege das so aus, daß die Frage, wieviele der anderen (oder auch wievieles des Anderen) ein Selbst wahrnimmt und erträgt, sich daran entscheidet, wie tief es im Zentrum schlechthin verwurzelt ist.

204

Dafür spricht nicht nur das sonstige Frühwerk (etwa Die Geburt der Tragödie, mit der wir uns im nachstehenden Kapitel auseinandersetzen werden), sondern auch eine Überlegung des späten Nietzsche: In einer späten Notiz führt er aus, daß es immerhin möglich wäre, daß das physiologische Zentrum auch das psychische Zentrum ist! (12: 5 [56]; 12: 206, 3-8; die Stelle wurde hier S. 126, Anmerkung 195, angeführt).

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Geschichte und Gerechtigkeit

Ob das Zentrum wirken kann oder ob es nicht wirken kann, entscheidet sich nach Nietzsche daran, ob der Mensch dem Band zum Zentrum genügt. Das Band ist dahingehend erklärt worden, daß das Individuum sich zwar dem Zentrum fügen soll, sich aber auch gegen dessen Übergewalt zu wehren hat. Die Übergewalt äußert sich in zwei widersprüchlichen Neigungen, nämlich in der Verhärtung (Selbstsucht) und in der Sehnsucht (Selbstverzicht). Indem das Individuum zwischen diesen beiden Tendenzen die Mitte bewahrt, wahrt es die gebührende Distanz dem Zentrum gegenüber — solches ist, Nietzsche zufolge, Schopenhauer gelungen. Hier finden wir also zwei weitere Bedeutungen der Mitte vor. Denn es stehen sowohl das Gleichgewicht zwischen den gegensätzlichen Trieben als auch das eigentümliche Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Zentrum (also das Band) im Blick. Wenn denn all diese Momente in das Gesetz der Mitte eingegangen sind, so ist es ein Gesetz in einem zwiefachen Sinn: Es bedeutet den Auftrag, welcher der menschlichen Existenz als solcher anhaftet, und es macht ersichtlich, weshalb das Individuum notwendig verlustig geht, wenn es dem Gesetz nicht Rechnung trägt.

Schluß Im Rahmen der Problematik Geschichte und Gerechtigkeit habe ich mich in diesem Kapitel um eine Erläuterung der Begriffe plastische Kraft und Horizont bemüht. Es wurde gezeigt, daß sie sowohl auf das Verhältnis des Menschen zum Zentrum als auch auf die Problematik der Existenz der Anderen Bezug nehmen. Weiter oben wurde erklärt, daß die Kraft zu vergessen aufs engste mit der plastischen Kraft verbunden ist; aufgrund des gerade Ausgeführten ist es uns möglich, auch den Unterschied klarer zu fassen. Die Kraft zu vergessen ist zwielichtig: Sie kann als das Vermögen, sich gegen die Existenz des Anderen zu verschränken, oder aber als das Vermögen, ihm sich hinzugeben, und somit sich selbst zu vergessen, verstanden werden. Die plastische Kraft jedoch erscheint als das Vermögen, dem Widerspruch der Welt, das heißt jenem von der Existenz der Anderen herbeigeführten Schmerz, nicht nur standzuhalten, sondern ihn vielmehr in Einklang und Lust zu verwandeln. Das heißt, sie nimmt sich am ehesten als praktische Nächstenliebe — als Einübung der Vorgabe von Seiten des Genius — aus. Der Begriff des Bruchs oder Falles bezieht sich nicht notwendig auf die Verkehrung des Selbstseins in die Zerrissenheit, denn schon die Erfahrung der bloßen Existenz des Anderen ruft ein Leiden hervor. Dennoch kann die Enttäuschung über den Verlust des paradiesischen Ungestörtseins durchaus dazu verführen, aus Gram und Trotz das Band der Nähe zu zerreißen und sich der Verhärtung oder aber der

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Sehnsucht hinzugeben. Mit einer gesunden plastischen Kraft gesegnet, vermag es der Mensch, die Mitte der beiden Tendenzen zu bewahren und Schmerz in Freude zu verwandeln. Nachdem er zum Selbstsein gefunden hat, sieht der Mensch sich also vor die Aufgabe gestellt, angesichts der Existenz der Anderen, die nach Sartre bekanntlich die Hölle bedeuten, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und die Mitte zwischen der Tendenz zur Verhärtung und der zur Sehnsucht zu wahren, mithin weder dem Solipsismus noch der Masse zu verfallen. Das von Nietzsche öfter erwähnte Ideal der harmonischen und freien Persönlichkeit zielt auf den Menschen, der eben diese Aufgabe bewältigt. Das heißt aber keineswegs, daß damit auch seine Leiden schon aus der Welt geschaffen wären, denn dazu müßte jener Urwiderspruch, der aus der Existenz vieler Individuen hervorgeht und sowohl zur höchsten Gemeinsamkeit als zu den schrecklichsten Grausamkeiten veranlaßt, von allen bewältigt worden sein. Dazu bedarf es einer umgreifenden Individuation. —

Viertes Kapitel Einheit und Zweiheit oder Vom Individuum und dem Ganzen Anmerkungen zur Frage der Individuation anläßlich der Geburt der Tragödie

Einleitung Vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse möchte ich mich in diesem Kapitel mit den Ansichten Nietzsches zur Frage der Individuation befassen, sofern sie in der Geburt der Tragödie und deren Umkreis sich finden. In dieser Schrift vertritt Nietzsche die Ansicht, daß das Dasein nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist — im Blick steht die Erlösung des Ur-Einen im Schein. Diesen Moment der Erlösung vom Urwiderspruch, also den Augenblick des Scheins, näher zu erklären, ist meine Absicht. Davon verspreche ich mir nicht nur eine Vertiefung unserer bisherigen Erkenntnisse hinsichtlich des Gesetzes der Mitte als des Gesetzes, dem das Verhalten des Menschen obliegt, sondern hoffe auch auf eine Verdeutlichung der unhistorischen Erfahrung als der ästhetischen. Denn die Wirkung der Tragödie geht Nietzsche zufolge dahin, daß sie den Menschen zu seinem Selbstsein zurückführt. Und zwar dadurch, daß sie nicht nur das vormals zerrissene Band zwischen dem Individuum und dem Zentrum, sondern auch die Beziehungen zwischen den ehemals vereinzelten Individuen wiederherstellt.205 Demnach führt die Tragödie (und die Kunst überhaupt) das Selbstsein im Sinne eines Ganzseins herbei. Bekanntlich ist Die Geburt der Tragödie unter anderem als Versuch aufgefaßt worden, in Form einer historischen Abhandlung eine Erfahrung höchst persönlicher Art und mystischer Natur zu vermitteln. G. Colli stuft die Arbeit aber nicht nur deswegen als das schwierigste Werk Nietzsches ein, denn dessen Gebrauch weitgehend an Schopenhauer orientierter Terminologie erschwert den Zugang noch einmal, ist sie ja eher dazu geeignet, sein eigentliches Anliegen zu verdecken als zu dessen Aufklärung beizutragen206 — die Beziehungen zu Schopenhauer werden, 205 206

Vergleiche etwa GT: 29, 18-22 und 56, 5-8. Dazu auch GT: 140, 5 - 141, 33. Vergleiche KSA 1, Nachwort, insbesondere S. 901-904. Des weiteren F. Decher, .Nietzsches Metaphysik in der „Geburt der Tragödie" im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers' (in:

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wie sonstige Einflüsse auch, im folgenden außer Betracht bleiben. Colli ist des weiteren der Meinung, es gebe eine Divergenz zwischen dem Wege der literarischen Einweihung und der dem Werke zugrunde liegenden, authentischen Erfahrung. Das alles mag stimmen, wichtiger scheint mir jedoch, daß Nietzsche in dieser Arbeit, dieser Rahmenbedingungen unbeschadet, seinen ersten Versuch macht, das Joch der Metaphysik abzuwerfen. Sein Bemühen ist weitgehend analog zu dem Bestreben Schellings, in einem ursprünglicheren Verhältnis zwischen Mensch und Natur einzukehren. Nietzsches Polemik gilt einem Umstand, der von Schelling als den des umgekehrten Gottes bezeichnet wurde. Im Falle Nietzsches bezieht sich diese Umkehrung auf das Verhältnis zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, aber auch auf die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Ganzen. Er bemüht sich, aufzuzeigen, daß diese gegensätzlichen Triebe im historischen Idealfall des Griechentums ein spezifisches und wohl bis heute einmaliges Gleichgewicht erreicht hatten, und zeigt so auf das Ideal einer Mitte hin.207 Es gelingt ihm aber nicht, dieses Gleich-

207

Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 110-125); M. Fleischer, .Dionysos als Ding an sich. Der Anfang von Nietzsches Philosophieren in der ästhetischen Metaphysik der Geburt der Tragödie' (in: Nietzsche-Studien 17 (1987), S. 74-90). V. Gerhardt, .Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Program einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt' (in: V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 46-71); G. Goedert, .Nietzsche und Schopenhauer' (in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 1-15); H. Hasse, .Das Problem der Erlösung bei Schopenhauer und Nietzsche' (in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 23 (1936), S. 100120); E. Heftrich, ,Die Geburt der Tragödie: Eine Präfiguration von Nietzsches Philosophie' (in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 103-127; K. Schlechta, ,Der junge Nietzsche und Schopenhauer', (in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 26 (1939), S. 289-300); H. Schmid, .Über die Tragweite der Artisten-Metaphysik' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 437-442). Freilich werden die Termini Gleichgewicht und Mitte in diesem Zusammenhang meistens nicht erwähnt. Nietzsche spricht vielmehr von „Paarung" (GT: 25, 22 - 26, 2), von „Versöhnung" (GT: 32, 23-25), von einer „höchste Steigering ihrer Kräfte", welche in einen „Bruderbund" resultiere (GT: 150, 9-13), von einer „strenge wechselseitige Proportion" (GT: 155, 17-19), von einem „Nebeneinander" (DW: 556, 3-4), des weiteren von einer „Versöhnung auf dem Kampfplatze" (DW: 556, 27-28) und davon, daß „Apollo und Dionysos [...] sich vereinigt < haben > " (DW: 571, 6-7). (Die Stellen werden weiter unten zitiert, vergleiche hier S. 139 und S. 139, Anmerkung 216.) Dieses eigentümliche Verhältnis bezeichne ich als Mitte und Gleichgewicht zweier gegensätzlicher Kräfte. Wenn auch selten, so findet man dennoch den Begriff Mitte in der Geburt und deren Umkreis. Einmal bedeutet er inneres Zentrum und erscheint an folgenden Stellen: 60, 15; 148, 23 — freilich aber gibt es dafür sehr viele Varianten (vgl. im folgenden S. 142, Anmerkung 221). Des weiteren bezeichnet er den Gipfel des Daseins (GT: 101, 25). In den nachgelassenen Vorarbeiten zur Geburt begegnet die Mitte uns in der Bedeutung von Gleichgewicht (DW: 567, 28). Sloterdijk betont zu Recht die zentrale Stelle der Gleichgewichtsidee: „Zunächst gilt es zu sehen, was Nietzsche mit höchster Entschiedenheit dekretiert: Apollo und Dionysos halten — nach anfänglichem Hin und Her — einander die Waage und haben uns ausschließlich in ihrem Kompromiß zu interessieren. [...] < U n s > fällt also ein konsequenter Symmetrismus, eine prinzipielle Isosthenie auf, jedoch wird die Gleichgewichtsidee als solche nirgendwo sorgfältig begründet, sondern so heimlich wie energisch gesetzt." (P. Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus. Frankfurt am Main 1986, S. 55)

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Geschichte und Gerechtigkeit

gewicht begrifflich zu rekonstruieren, sondern er erliegt in diesem Bestreben gewissermaßen dem Gegenstand seiner Polemik. Es handelt sich um den theoretischen Menschen und die alexandrinische Kultur. Nach Nietzsche tritt der theoretische Mensch in dem Moment in Erscheinung, in dem der Verstand diejenige Rolle übernimmt, die seines Erachtens nur dem Instinkt zusteht. Für diese Wende, in der der Primat von der unmittelbaren Erfahrung zum kritischen Verstand überwechselt, ist die Gestalt von Sokrates exemplarisch.208 In seinem Bemühen, diese Herrschaft zu brechen und ein vorhergehendes Gleichgewicht zu rekonstruieren, scheint Nietzsche sich zunächst in eine bloße Umkehrung der obwaltenden Verhältnisse zu verrennen: Während er die alexandrinische Hegemonie des Individuums dafür kritisiert, daß sie die Zerrissenheit des Ganzen herbeiführe, geht seine eigene Lösung zunächst dahin, daß das Ganze nur auf Kosten des Individuums als solches Bestand haben könne. Doch ist wohl kaum zu übersehen, daß seine Überlegungen wiederum nicht ohne Doppelsinn sind. Es sind hier zwei Motive zu beachten. Das erste betrifft Nietzsches Polemik mit der seit dem Untergang des tragischen Zeitalters herrschenden Wissenschaft, mit der wissenschaftlichen Philosophie, der er bekanntlich die Weisheit entgegenstellt.209 Das zweite bezieht sich auf die Tatsache, daß die Geburt der Tragödie zwei Thesen erkennen läßt, die auf den ersten Blick einen Widerspruch aufzeigen : Am Anfang und am Ende der Schrift spricht Nietzsche von einer „ Paarung " (26, 1) und von einer „strenge wechselseitige Proportion" (155, 17-19), welche die zunächst gegensätzlichen Triebe in der Tragödie erzielt hätten. Dennoch vertritt er die Ansicht, daß in der Gesamtwirkung das Dionysische wieder das Übergewicht erlangt (139,25). Diese offenkundige Divergenz kann als Indiz dafür dienen, daß die Arbeit in systematischer Hinsicht in einer Dissonanz befangen bleibt. Jedoch sollten wir auch hier nicht vorschnell urteilen, denn die Begriffe Apollinisch und Dionysisch sind keineswegs eindeutig. Ferner ist zu beachten, daß, während die These der strengen Proportionalität der Erkenntnis gilt, die Nietzsches eigentliches Anliegen darstellt, die These des letztendlichen Übergewichts des Dionysischen sich

208

209

Vergleiche GT: 90, 24-28; auch GT: 115, 6-21, wo Nietzsche explizit vom Egoismus (115, 15) spricht. Natürlich stellt sich die Frage, wie die Wende zu erklären ist. Meiner Meinung nach geht sie auf den Frevel zurück, welcher im neunten Kapitel der Geburt erwähnt wird (GT: 70, 6-10). Der Sache nach handelt es sich um die gleiche Verhärtung, welche im dritten Kapitel des Schopenhauer-Aufsatzes erörtert wird (vgl. IIB III: 358, 14). Nietzsche selbst spricht in der Geburt von einer Tendenz des Apollinischen, die gegebenenfalls dazu führen kann, daß das Maß „zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarr < t > " (GT: 70, 26-27). Dem könne nur das Dionysische vorbeugen. (Dazu D. Verweij, Ariadne en Dionysos. Vrouw-metaforen en verlangen in het werk van Nietzsche, Amsterdam 1993, S. 49, Anmerkung 36; zur Gestalt von Sokrates (und deren Rezeption bei Nietzsche) vergleiche M. F. Fresco, Sokrates. Zijn wijsgerige betekenis, Assen 1983.) Vergleiche etwa GT: 118, 26-33.

4 Einheit und Zweiheit

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auf die Art und Weise bezieht, wie diese Erkenntnis, die der Tragödie Nietzsche zufolge inhäriert, dem Rezipienten übermittelt wird. Daß die Erörterungen, die Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie anstellt, öfter nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind, hat schwerwiegende Folgen für das Verständnis der ästhetischen Erfahrung als der ursprünglichen Erfahrung des Selbstseins . Nichtsdestoweniger bin ich der Ansicht, daß Nietzsche den eigentlichen Gehalt dieser Erfahrung klar erfaßt hat. Ihm zufolge besteht die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie ja darin, „dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt" (GT: 56, 5-8).

Lesen wir diese Stelle unter dem zuvor erarbeiteten Aspekt, so geht hervor, daß durch die Wirkung der Tragödie das vormals zerrissene Band mit dem Zentrum (dem Herzen der Natur) wiederhergestellt wird. Weiter oben hieß es bereits: „ Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen." (GT: 29, 1822)21°

Und des weiteren: „Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen all die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder .freche Mode' zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins" (GT: 29, 29-34).

Hier findet man nichts von der Zerrissenheit und von dem Streit, die Nietzsche öfter im Zusammenhang mit dem Dionysischen vorbringt, sondern er spricht vom Evangelium der Weltenharmonie. Freilich sollte man der Tatsache Rechnung tragen, daß der Begriff des Dionysischen wie der des Apollinischen vielschichtig ist. Hier bezieht er sich auf den Umstand, daß der Mensch im dionysischen Ereignis nicht länger Künstler, sondern nunmehr Kunstwerk ist! Nietzsche meint: „ < A > l s Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden" (GT: 30, 8-10; s. auchDW: 555,18-21 undGG: 583, 8-11).

2,0

Vergleiche die Varianten DW: 555, 7-14, GG: 583, 2-3 und 31-34; siehe des weiteren UB III: 382, 23-30 und GS: 768, 11-16. Vergleiche auch Richard Wagner in Bayreuth. Dort artikuliert Nietzsche die Ansicht, daß Wagners Musik „die richtige Empfindung < zurückgibt > , die Feindin aller Convention, aller künstlichen Entfremdung und Unverständlichkeit zwischen Mensch und Mensch < ist > ": „ < D > iese Musik ist Rückkehr zur Natur, während sie zugleich Reinigung und Umwandelung der Natur ist" (UB IV: 456, 12-16).

138

Geschichte und Gerechtigkeit

Das kann doch wohl kaum bedeuten, daß im dionysischen Ereignis das Individuum vernichtet wird, wie es an anderer Stelle heißt.211 Nein, vernichtet wird vielmehr eine Art des Selbstseins, in der das Individuum sich gegen das Andere abgrenzt. Wenn Nietzsche zum einen für den sowohl apollinischen wie auch dionysischen Charakter der Tragödie eintritt, zum anderen aber die dionysische Wirkung hervorhebt, so ist dies vor dem Hintergrund seiner Bemühungen, die Mysterienlehre der Tragödie herauszuschälen, zu verstehen. Die Handlung läßt etwas von dem Gesetz erblicken, das dem Gang der Welt und insbesondere den Geschicken des Individuums, also des Protagonisten, zugrunde liegt. Unter diesem Aspekt führt die dionysische Wirkung nicht nur zu einem Selbstsein zurück, in dem das Selbst mit sich selbst und mit dem (beziehungsweise den) Anderen im Einklang steht, sondern vermittelt sie auch den Einblick in die Ursachen für die Unbeständigkeit des Individuums. Diese Erkenntnis bietet dem Rezipienten nunmehr die Möglichkeit, das Selbstsein, das sich während der ästhetischen Erfahrung einstellt, zu beständigen. Wenn also Nietzsches Ausführungen wie auch die Mehrzahl der von ihm verwendeteten Begriffe mehrdeutig sind, so leuchtet ein, daß die nachstehenden Anmerkungen zu seiner Darstellung des Problembereichs der Individuation durchweg tentativen Charakters sein müssen und weit davon entfernt sind, Anspruch auf historische Gültigkeit zu erheben. Vielmehr handelt es sich um den Versuch, durch das Kommentieren einiger Momente des Textes (welche obendrein zuweilen aus dem Kontext herausgenommen und für sich betrachtet werden), etwas von dem zum Klingen zu bringen, was der Text vielfach nur andeutungsweise erkennen läßt. Das Herausschälen dieser Momente soll meinem systematischen Anliegen, also der Klärung des Verhältnisses zwischen Geschichte und Gerechtigkeit, dienen.

211

Für sich betrachtet ist das Dionysische nach Nietzsche eine künstlerische Macht, die den „Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht" (GT: 30, 25-28). A. Henrichs glaubt in der modernen Dionysos-Rezeption drei Themen erkennen zu können: „loss of self, suffering, and violence" (A. Henrichs, .Loss of Self, Suffering, Violence' (in: Harvard Studies in Classical Philology 88, (1984), S. 205-240), S. 206). Nach Henrichs geht diese Rezeption auf Nietzsches Geburt der Tragödie zurück, die er a.a.O., S. 219-223 erörtert; der Mythos vom leidenden Dionysos (Dionysos Zagreus) sei „the cornerstone of GT" (a.a.O., S. 221, Anmerkung 34). Er meint: „Greek tragedy according to Nietzsche ist the truest art form because the destruction of the tragic hero ist the paradigm of existential suffering. The Zagreus myth ist the archetypal tragic plot, and Zagreus the prototype of each tragic hero, for the following reason. Dionysos Zagreus represents .nature' as the .primal unity' wich ist the ultimate source of all existence, and his dismemberment typifies the division of this primordial oneness into individuals. Nietzsche interprets the rebirth of the god as the end of individuation and as man's fusion with the primal unity." (a.a.O., S. 222). Hinsichtlich der Thematik der GT trifft diese Darstellung ins Schwarze. Dennoch möchte ich entschieden bestreiten, daß Nietzsche das Problem ohne weiteres übernimmt — m.E. trägt er Grundsätzliches zu dessen Klärung bei. Soweit ich sehen kann, ist aber gerade dieser Beitrag Nietzsches bisher nicht gebürend gewürdigt worden.

4 Einheit und Zweiheit

139

1. Zur Frage der Individuation In seiner Erstlingsschrift versucht Nietzsche eine Rekonstruktion der Geheimlehre, die der griechischen Kunstanschauung zugrunde gelegen habe. Er bezeichnet sie als „die Mysterienlehre der Tragödie" (73, 2-3). 212 Sie handelt von der Frage der Individuation, d.h. vom Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen. Am Anfang von Nietzsches Versuch steht seine Unterscheidung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen: „Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt." (GT 25, 2-9) 213

Nach Nietzsche entspringen das Apollinische und das Dionysische zwar beide der Natur,214 aber dennoch glaubt er einen „ungeheuren Gegensatz" (25, 14-15) zwischen ihnen erkennen zu können.215 Sie befinden sich in einem fortwährenden und sich auch steigernden Kampf, und in der attischen Tragödie hat dieser Streit seine bislang höchste Steigerung erzielt: „ < B > eide so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf [vgl. 4 2 , 1 1 ] jenes Gegensatzes zu perpetuiren [...]; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt deshellenischen .Willens', mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen." (GT: 2 5 , 1 7 - 26, 2)216

212

213

214

215

216

Vergleiche des weiteren: „Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unserer Untersuchung, die auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet ist." (GT: 42. 14-17: auch 68. 15-16; 72, 17-18; 109, 28-34). Vergleiche dazu B. von Reibnitz. Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kapitel 1-12), Stuttgart 1992. S. 58-67. Weiter unten heißt es: „Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das Dionysische. als künstlerische Mächtc betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen" (GT: 30. 18-21). Vergleiche dazu B. v. Reibnil/. a.a.O.. S. 91-93. Nietzsche spricht außerdem von „zwei feindseligen Principien" (GT: 42. 2), die die Natur konstituieren (GT: 30. 19-20). Zu dieser Stelle bemerkt B. v. Reibnitz: „Diese Formulierung verweist bereits auf den mystischen Charakter der in Aussicht gestellten ästhetischen Erkenntnis. Der Leser wird zum Zuschauer einer rhetorisch/sprachlich/argumcntativevozierten .Bühnenhandlung': vor seinen. desEpoplen. Blicken vollzieht sich auf der Bühne des Textes der .Wunderakl'. die .Paarung der Kunsttriebe' zur Erzeugung des vollendeten Kunstwerks." (a.a.O.. S. 67). („Epoptcn" ist nach B. von Reibnitz ein spezifisch cleusinischer Terminus, der die Eingeweihten bezeichnet, die das Geheimnis „schauen" durften (a.a.O.. S. 268. Anmerkung 39).) Vergleiche des weiteren:

140

Geschichte und Gerechtigkeit

Nietzsche bemüht sich, uns die Gegensätzlichkeit der Triebe durch einen Vergleich zweier physiologischer Zustände (der des Traumes und der des Rausches) näherzubringen.217 Ich möchte hier einen anderen Weg vorschlagen: In der Folge werde ich versuchen, über eine Darstellung der Problematik von Einheit (mitunter Identität) und Differenz eine Aufklärung zu erzielen. Es wird sich herausstellen, daß wir hier auf ein komplexes Geflecht von Beziehungen stoßen, dem ohne eine Erweiterung der von Nietzsche verwendeten Terminologie nicht beizukommen ist. Versuchen wir nun eine erste Annäherung.

1.

In der Geburt der Tragödie führt Nietzsche die Welt der Erscheinungen auf ein ihr Zugrundeliegendes zurück, das er auf vielerlei Weise bezeichnet. Es ist z.B. die Rede vom Willen, vom Ur-Einen, vom Untergrund, vom Wahrhaft-Seienden, vom

„Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die Umwälzungen dieses Ereignisses sichtbar." (GT: 32, 23-26) so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchste Steigerung ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen Kunstabsichten anerkennen mussten" (GT: 150, 9-13). „Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihrer Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind." (GT: 155, 13-19) (Vergleiche dazu die Problematik von Horizont und plastischer Kraft, der ich in meinem vorigen Kapitel nachgegangen bin. Der als letzte angeführten Stelle nach kommt die „apollinische Verklärungskraft" (GT: 155, 16) der plastischen Kraft gleich, die wiederum dem Maß der Offenheit, also dem Maß der Verwurzelung im Zentrum (in dem Herzen der Natur) korrespondiert. Die „Harmonie" der beiden „feindseligen Principien" muß somit auf einer völligen Offenheit beruhen: auf dem innigen Band zum Zentrum. Daß dies laut der Geburt der Fall ist, geht beispielsweise aus GT: 44, 13-15; 45, 9-14 und 47, 15-18 hervor.) Siehe auch die folgenden Stellen aus den Vorarbeiten zur Geburt. „Dieses Nebeneinander < von Rausch und Besonnenheit > kennzeichnet den Höhepunkt des Hellenenthums: ursprünglich ist nur Apollo ein hellenischer Kunstgott und seine Macht war es, die den aus Asien heranstürmenden Dionysos so weit mäßigte, daß der schönste Bruderbund entstehen konnte." (DW: 556, 3-7) „ < I > ndem endlich die Jahresherrschaft in der delphischen Kulturordnung unter Apollo und Dionysos vertheilt wurde, waren beide Götter gleichsam als Sieger aus ihrem Wettkampfe hervorgegangen: eine Versöhnung auf dem Kampfplatze." (DW: 556, 24-27) 2,7

GT: 26, 3 ff.

4 Einheit und Zweiheit

141

geheimnisvollen und einzigen Grund und vom einen Lebendigen. Darüber hinaus finden sich Ausdrücke wie das Herz der Welt beziehungsweise der Natur, die wahre Realität, das Ursein, die Urheimat und die Urmutter. 218 Im Rahmen dieser Untersuchung entscheiden wir uns zur Bezeichnung dieses Zugrundeliegenden für den Terminus das Ur-Eine. Allerdings bedeutet das Ur-Eine bei Nietzsche durchaus ein vielfaches, denn es zeigt mehrere Momente auf. So spricht er vom Urwiderspruch, vom Urleiden und vom Urschmerz, zeigt also auf eine innere Zerrissenheit des Ur-Einen hin. 2 1 9 Zum Beispiel wenn es heißt: „ < Der Lyriker > ist [...], als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik" (GT: 43, 34 - 44, 2; vgl. 109, 1-22). Und weiter: „ < D > as Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht." (GT: 44, 10-13) Meines Erachtens setzt der Begriff Widerspruch voraus, daß es innerhalb

der

Sphäre des Ur-Einen zwei Momente gibt, welche einander widersprechen. Weil es sich hier um die Auseinandersetzung zweier Momente handelt, liegt es auf der Hand, den Streit zwischen den beiden gegensätzlichen Trieben, d.h. den Kampf zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, zunächst hier anzusiedeln. Dafür spricht

2,8

Vergleiche die folgenden Stellen in GT: „unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen" (27, 21-22); dazu gehört „seine [d.h. des Künstlers] Einheit mit dem innersten Grunde der Welt" (31, 5); des weiteren 47, 15 - 48, 6; „jenen geheimnisvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung wir sind" (38, 23-24); „dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht" (38, 29-32); „fassen wir unser empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen" (39, 5-7); „der innerste Kern der Natur" (39, 10); „die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der .Schein' ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge" (39, 19-21); „Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durch den Schein, sich vollzieht" (39, 29-32) [Dazu gehört: „Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur ein Gesetz, das Individuum d.h. die Einhaltung der Grenze des Individuums, das Maass im hellenischen Sinne" (40. 3-6)]; „Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach sich aus dem Herzen der Natur aus." (41, 10-12) „Herz der Natur" (56, 7); „Ursein" (62, 16-17); „Unheil im Wesen der Dinge" (69. 34); „der Widerspruch im Herzen der Welt" (70, 1-2); „de in den Dingen verborgenen Urwiderspruch" (70, 9); „Urmutter" (108, 34); „Urwesen" (109, 10); „das eine Lebendige" (109, 21); „in die wahre Realität, in's Herz der Welt" (138,32); „Schooss der wahren und einzigen Realität" (141, 14); „Urfreudc im Schoosse des Ur-Einen ahnen zu lassen" (141, 32-33); „Rückkehr zur Urheimat" (141, 33). 2 " Vergleiche Anmerkung 218 und weiter unten S. 144.

142

Geschichte und Gerechtigkeit

auch, daß Nietzsche im ersten Kapitel der Geburt die „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen" (25, 5-6) erwähnt. B. v. Reibnitz betont, daß, während sich Nietzsche für seinen Gebrauch der Duplizität auf Kant beruft (nämlich auf den Streit der Geschlechter), der Begriff im Rahmen der an Kant anknüpfenden romantischen Naturphilosophie (sie nennt namentlich Schelling) die Bedeutung „eine < r > ,Zweiheit' unterschiedlicher, aber komplementär aufeinander bezogener Größen/Kräfte/Einheiten" bekommt, welcher Vorstellung das „Gesetz der Polarität" als allgemeines Weltgesetz zugrundeliegt.220 Außerdem muß es gleichsam eine Stelle geben, an der die Zerrissenheit sich empfindlich wird und als Urschmerz und Urleiden erfahren wird. Diese Ansicht deckt sich mit einer Unterscheidung, die von Nietzsche vorgenommen wird. Er differenziert nämlich zwischen dem Ur-Einen und dessen Innerstem. Letzteres bezeichnet er auch als das Herz oder den Mittelpunkt der Natur.221 Dieses Herz wiederum wird als ein Ich gefaßt. Gemeint ist „die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit" (45, 11-12), welche Nietzsche als „bewegenden Mittelpunkt" (45,9) der erscheinenden Welt verstanden wissen möchte. Die Ichheit als das Innerste des Ur-Einen erleidet den Urwiderspruch. Dem Urschmerz und dem Urleiden stellt Nietzsche die Urlust und die Urfreude entgegen. Er spricht vom „Urlust des Scheines" (44, 13). Bedeutet der Schein die Erlösung des Ur-Einen, so steht er dem Widerspruch gegenüber und kann somit als Harmonie, als Einklang der zunächst widersprüchlichen Momente, ausgelegt wer220

221

A.a.O., S. 58-60. Zu den historischen Voraussetzungen siehe eben dort. Philosophisch Wertvolles findet sich in den diesbezüglichen Ausführungen von J. Stambaugh, a.a.O., S. 1-26. In ständiger Auseinandersetzung mit Heidegger betont J. Sallis, daß Nietzsche schon in seinen frühen Schriften bemüht war, das Maßlose zu denken (J. Sallis, Crossings. Nietzsche and the Space of Tragedy, Chicago/London 1991, vgl. etwa S. 4). Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen fragt er: „how to think this abysmal unity without reducing either the monstrosity of the Opposition or the abysmal crossing in wich an as wich tragedy arises?" (a.a.O., S. 20) Eingehend hat D. Verweij sich mit dem Urwiderspruch, mit dem Dionysischen, mit dem Apollinischen und deren Verhältnis bei Nietzsche befaßt (D. Verweij, Ariadne en Dionysos. Vrouwmetaforen en verlangen in het werk van Nietzsche, Amsterdam 1993). Doch stellt sie Nietzsches Ansicht, daß innerhalb des llr-Einen der Urwiderspruch vorliegt, in Frage (a.a.O., S. 58, 63, 121). Infolge dessen ist ihr der Weg zum Verständnis des Verlangens (dem ihr eigentliches Anliegen gilt) wenigstens was die Geburt der Tragödie anbelangt, verbaut (vgl. a.a.O., S. 118. 221 ff.). Zwar macht sie mehrfach auf Stellen aufmerksam, die in das Herz der Problematik führen (etwa GT: 39, 9 und 135, 28-32; a.a.O., S. 118, 230). Dennoch bleibt, wie mir scheint, der intrinsische Zusammenhang zwischen Urwiderspruch und Verlangen weitgehend im dunkeln. Vergleiche Anmerkung 218. Das Herz als innerster Grund/Kem/Mittelpunkt der/s Natur/Welt/UrEinen/Dinge/Seins begegnet uns in der GT an folgenden Stellen: 31, 5; 39, 10; 41, 12; 44, 11; 45, 9 (das lyrische Ich als „bewegender Mittelpunkt Welt" ist eins mit dem „Urkünstler der Welt" (48, 1)); 51, 27; 56, 7; [nebenbei sei darauf hingewiesen, daß Nietzsche 89, 25 das „Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz" erwähnt]; 103, 29; 124, 22; 135, 2832; 136, 21; 138, 32.

4 Einheit und Zweiheit

143

den. Demnach handelt es sich beim Schein um den Moment des Ganzwerdens, um den Augenblick der Individuation. Allerdings bedarf es dazu des Künstlers: „Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. 222 Der lyrische Genius < dagegen > fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen [...]. [...] < Seine > Bilder [...] < s i n d > nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm" (GT: 44, 28-32 und 45, 7-8).

Woraus Nietzsche schließt, daß der Lyriker „als bewegender Mittelpunkt jener Welt ,ich' sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht." (GT: 45, 9-14) 223

Die Individuation führt nun aber mit sich, daß das Individuierte gegenüber dem Ganzen, aus dem es hervorgegangen ist, eine gewisse Eigenständigkeit bekommt. Nach Nietzsche entspringen die Erscheinungen dem Schoß des Ur-Einen und wollen sie zum einen wieder dorthin, zur Urheimat zurück (140, 14 und 32), möchten sie aber andererseits auf sich beharren und erheben sie sogar den Anspruch, das „eine Weltwesen selbst < z u > sein" (70, 8). Dieses widersprüchliche Begehren in den einzelnen Dingen entspricht dem anfänglichen Widerspruch im Ur-Einen. Nietzsche spricht diesbezüglich vom „Unheil im Wesen der Dinge" (69, 34) und von dem „in den Dingen verborgenen Urwiderspruch" (70, 9). 224 Daraus ergibt sich ein eigentümliches Verhältnis zwischen den Individuen einerseits und dem Ur-Einen andererseits. Denn die Urlust des Scheins geht zwangsläufig mit dem Urleiden der Differenz gegenüber dem Ur-Einen einher. Umgekehrt geht die Urfreude, die durch die Rückkehr zur Urheimat, zum Ur-Einen herbeige-

222

223

224

Vergleiche: „Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Widerspruch und Urschmerz im Herzen des UrEinen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist." (GT: 51, 24-29). Des weiteren: „Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objectität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt." (GT: 106, 1-6)] Vergleiche: „Das ,Ich' des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine .Subjectivität' im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung" (GT: 44, 13-15). Des weiteren: „Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert." (GT: 47, 15-18) Auch der Kampf zwischen Maß und Übermaß (41, 25-28) ist in diesem Sinne auszulegen. Der Unterschied Apollinisch-Dionysisch ist jetzt also ein anderer als der, von dem im ersten Kapitel der Schrift S. 25 gesprochen wurde! Vergleiche dazu die dritte der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, GS: 768, 25-32 — die Stelle wurde weiter oben (S. 87, Anmerkung 125) angeführt.

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führt wird, notwendig mit dem schmerzlichen Verlust der Individualität zusammen. Demnach sind die Existenz der Individuen und die des Ur-Einen als solches nicht mit einander zu vereinbaren. Denn auch hier gibt es einen Widerspruch, und zwar den Widerspruch zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Dieses ist im wesentlichen das Problem, das es im folgenden zu erörtern gilt.

2.

Nietzsche faßt die Ergebnisse seiner Untersuchung, die, wie gesagt, „auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet" (42,15-17) ist, folgendermaßen zusammen: „In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. - " (GT: 72, 34 - 73, 7)

Damit kann diese Schrift den Eindruck erwecken, aus dem Rahmen unserer Darstellung der Thematik Geschichte und Gerechtigkeit herauszufallen. Denn gipfelt die Geschichte laut der Historienschrift jeweils in einem vollendeten Individuum, so wird die Individuation in der Geburt als die Wurzel alles Übels betrachtet. Doch sollten wir hier nicht vorschnell urteilen. Denn diese Ansicht setzt voraus, daß das Ur-Eineganz ist. Nietzsche aber ist entschieden der Ansicht, daß das Ur-Eine in sich zerstritten ist. Es ist ja vom Urwiderspruch die Rede, der den Urschmerz und das Urleiden herbeiführt. Meiner Meinung nach vertritt Nietzsche die Ansicht, daß der (Ur-) Widerspruch nur durch das apollinisch-dionysische Individuum behoben werden kann. Ist der Wille in sich zerstritten, so heißt es dagegen vom Griechen: „In den Griechen wollte der .Wille' sich selbst, in der Verklärung des Genius, anschauen

und weiter: „... um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfinden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre wiedersehn, ohne dass die vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte." (GT: 37, 32 - 38, 2)225.

225

In der Sache wird hier an die Gefahr eines Frevels referiert, die im neunten Kapitel der Schrift erörtert wird (vgl. besonders GT: 70, 6-10).

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Es steht also die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Ursprung im Blick. Freilich ist dieses Verhältnis alles andere als unproblematisch, was ja auch in meinem vorigen Kapitel zutage getreten ist — ich erinnere an den Neid des Gottes (bzw. der Götter) und an die Übergewalt des Zentrums, welche zur Hybris verführen und so den Frevel veranlassen können. Im Rahmen von Nietzsches Interpretation des Prometheus-Mythos heißt es diesbezüglich: „Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie ein Felsblock an die Pforte jeder Cultur." (GT: 69, 15-18)

Zwar könnte man dahingehend argumentieren, daß der Urwiderspruch also nicht innerhalb des Ur-Einen, sondern zwischen dem Ur-Einen und der Sphäre der Individuen waltet und daß die einzige Lösung für den Widerspruch darin besteht, daß das Individuum als solches verlustig geht, doch eine solche Interpretation setzt sich über die Frage nach dem Grund für die Individuation hinweg. Die Frage ist ja: Weshalb gibt es die Individuen? Die Antwort liegt meines Erachtens in der „Daseinsgier" des Ur-Einen.226 Demnach ist das Urleiden im Ur-Einen selbst anzusiedeln und nicht als Folge der Individuation als solcher zu betrachten.227 Daß die Individuation nicht ohne weiteres als Übel anzusehen ist, wird im übrigen schon im zweiten Kapitel der Geburt ersichtlich. Dort heißt es: „In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischerZug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe." (GT: 33, 10-14; Hervorhebung nicht im Original) 228

In meiner systematischen Sicht ist nicht die Individuation als solche das Übel, sondern die Übersteigerung des Individuums zum sich selbst setzenden Subjekt. Zwar tönt der dionysisch-apollinische Genius nach Nietzsche „aus dem Abgrunde des Seins" (44, 13-14), er wird aber durchaus als ein Ich gefaßt — freilich nicht als ein Subjektives, sondern als „die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit" (45,11-12). Dieses Ich ist der „Weltgenius" (45, 26). — Soweit zu Nietzsches Darstellung.

226 227

Etwa GT: 39, 9; 51, 16; 109, 11 und 135, 29-30. Parallelen und Differenzen zu den diesbezüglichen Auffassungen Schopenhauers bleiben in dieser Studie grundsätzlich außer Betracht.

228

Vergleiche dazu auch den Kommentar von B. von Reibnitz (zu GT: 38, 29-31): „Nietzsche macht hier zum ersten Mal ,Leid' und .Widerspruch', d.h. .Zerrissenheit' ausdrücklich zur Bestimmung des Ur-Einen und damit zur metaphysischen Bestimmung" (a.a.O., S. 142-143).

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2. Überlegungen zum Thema Widerspruch und Erlösung Freilich konnte ich in der obigen Darstellung nur die für meine Zwecke wichtigsten Momente hervorheben, mußte also erhebliche Verkürzungen in Kauf nehmen. Es mag aber deutlich geworden sein, um welches Problem es sich hier handelt, nämlich um das des Widerspruchs. Nietzsche erkennt erstens den Urwiderspruch im Ur-Einen, dem außerdem noch die einzelnen Dinge als einer Art Erbsünde verhaftet sind, weshalb, zweitens, auch im Individuum ein Widerspruch sich auftut. Drittens faßt er die Widersprüche zwischen den einzelnen Individuen ins Auge. Und viertens steht das widersprüchliche Verhältnis zwischen dem Individuum als solchem und dem Ganzen im Blick. Dieses Geflecht der Widersprüche läßt erkennen, daß die Erlösung, so wie Nietzsche sie sich in der Geburt denkt, gar keine wirkliche Erlösung ist. Nichtsdestoweniger überlegt man, ob Nietzsches diesbezügliche Ausführungen nicht dennoch Aussicht auf die Möglichkeit einer nunmehr tatsächlichen Befreiung aus dem Labyrinth der Widersprüche bieten. Ich bin der Ansicht, daß dies der Fall ist. Um diese Aussicht herausschälen zu können, muß aber erst eine gewisse Distanz gegenüber Nietzsches Darlegungen gewonnen werden. Dies tue ich, indem ich die Frage nach dem Individuum und dem Ganzen im folgenden mithilfe eines erweiterten begrifflichen Apparats neu gestalte. Wobei ich mich nicht scheuen werde, wenn dies denn zur Klärung des Sachverhalts beiträgt, auch Externes einzubringen. Nietzsche bezeichnet die ewige Natur als das Ur-Eine. Mit Bezug auf den ihr innewohnenden Gegensatz spricht er vom Urwiderspruch. Anscheinend wird die These vom Ur-Einen durch die vom Ur-Widerspruch bestritten. Nach Nietzsche bricht der Gegensatz aber nicht in eine bloße Kluft auseinander, sondern wird er durch das Eine irgendwie zusammengehalten. Es ist dieses Eine, das die Zerrissenheit der Triebe sozusagen am Leibe erfährt. Man sollte also zwischen dem Ur-Einen der Natur und dem Einen als solchem unterscheiden. Nietzsche bezeichnet letzteres als das Herz der Natur. Die Leiden der Natur, welche am Herzen erfahren werden, weisen auf einen weiteren Gegensatz hin, nämlich auf den, der zwischen dem Herzen und dem Leib sich auftut. Mit anderen Worten gibt es, neben der von Nietzsche angeführten Gegensätzlichkeit der Triebe, einen weiteren Gegensatz, der zwischen dem Einen des Herzens und der Zwiefalt der Triebe herrscht. Ich unterscheide also zwei Gegensatz-Paare: das der Gegensätzlichkeit der Triebe (den Leib) und das des Gegensatzes zwischen diesem Leib und dem Herzen der Natur. Vielleicht sollten wir aber gar drei Paare unterscheiden. Bisher habe ich die Gegensätzlichkeit der Triebe als die Macht der Zwei, das heißt der Entzweiung, verstanden, das Herz aber als die Macht des Einen, also des Zusammenhalts, auf-

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gefaßt. Damit ist angezeigt, daß das Herz im Gegensatz zum Leib steht. Weil der Leib die Gegensätzlichkeit der Triebe darstellt, ist man versucht, das Herz als das Eine, dem jede Gegensätzlichkeit fehlt, zu interpretieren. In dem Fall könnte es aber wohl kaum den Schmerz der Zerrissenheit erleiden. Ein solches Herz wäre eine feste Burg — auch ohne Gott. Demnach ist hier eine weitere Differenzierung vorzunehmen. Da ich, um Nietzsches Unterscheidung zwischen dem Herzen der Natur und der Natur als der Zwiefalt der Triebe klarer herauszustellen, den Terminus Leib eingeführt habe, ist es wohl nur folgerichtig, nunmehr auch den Begriff der Seele zu verwenden. Ich verstehe die Seele als die Macht des Einen, des Zusammenhalts. Daraus geht das Paar Leib-Seele hervor. Wir haben jetzt die Möglichkeit, das Herz (der Natur) als den Ort zu erklären, wo dieses Geflecht von Beziehungen beheimatet ist und sich empfindlich wird, mithin sich fühlt. Somit erscheint das Herz als die Mitte von Leib und Seele.229 Das ergibt das Gegensatz-Paar Leib-Seele, wobei der Leib (A) der Seele (B) und die Seele (B) dem Leib (A) widerstreitet. Formallogisch dargestellt, ist ihre Beziehung folgende: (A -> -> B) A (B -> -> A) — wobei der Pfeil allerdings nicht als logische Implikation, sondern vielmehr als Tendenz verstanden werden sollte. Etwa so: A zielt auf nicht-B und B zielt auf nicht-A. Es sollte beachtet werden, daß sowohl A als auch B zunächst nur in ihrer gegenseitigen Negation Bestand haben. Anders gesagt: Der Leib gibt es nur als Negation der Seele, umgekehrt gibt es die Seele nur als Negation des Leibes. Andererseits ist die Negation des Einen jeweils des Anderen Zusammenhalt. Ich interpretiere Leib und Seele also als zwei Extreme, die nur in der Beziehung der Feindseligkeit Bestand haben.230

229

230

Die Entscheidung für diese Termini beruht auf einer zwiefachen Überlegung: Einmal ist das Begriffspaar Apollinisch—Dionysisch dermaßen überfrachtet, daß mir zur Bezeichnung der „zwei feindseligen Principien" (GT: 42, 2) eine Erweiterung der von Nietzsche verwendeten Terminologiewünschenswert erschien; andererseits finden die Begriffe Leib und Seele sich im 13. Abschnitt der Geburt der Tragödie. Dort spricht Nietzsche von der „alte < n > marathonische < n > vierschrötige < n > Tüchtigkeit an Leib und Seele" (GT: 88, 17-18), welche unter Einfluß der sokratischen Tendenz „immer mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle" (GT: 88, 18-20). Darüber hinaus ergibt sich eine Allusion auf eine für die Anthropologie der abendländischen Tradition grundlegende Unterscheidung. Wie gesagt, spricht Nietzsche in der Geburt in bezug auf den Gegensatz zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen von „zwei feindseligen Principien" (GT: 42, 2). In der Vorrede Homer's Wettkampf ist von den „feindseligen Wettkämpfen" (HW: 788, 2) zwischen den Individuen die Rede (vergleiche die weiter oben durchgeführte Erörterung der Nietzscheschen Vorstellung des griechischen Wettkampfes (S. 123 f.). Im Schopenhauer-Aufsatz spricht Nietzsche mehrmals von den feindseligen Kräften (UB III: 367, 28-29; 368, 10 und 383, 24), so auch im frühen Nachlaß (7: 29 [206]; 7: 713, 8 und 7: 30 [8]; 7: 734, 5), allerdings immer im Zusammenhang des Fehlens des Bandes zum Zentrum (vergleiche auch 7: 29 [22]; 7: 634, 6-8 und 7: 29 [23]; 7: 635.1-5). Nietzsche unterscheidet die Feindseligkeit wohl nicht klar genug von der Zerris-

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Freilich könnte man anführen, daß diese Konstellation von Anfang an gemeint war, so daß also die Zwiefalt der Triebe eben jene Zweiheit von Leib und Seele und somit das Gegeneinander von Entzweiung und Zusammenhalt betrifft. In diesem Sinne wäre dann das Herz von Anfang an als Mitte zweier gegensätzlicher Triebe konzipiert. Ich würde einer solchen Argumentation ohne weiteres zustimmen, denn die Struktur der Beziehungen und die ihr möglichen Modalitäten sind mir wichtiger. Grundlegend ist Folgendes: Wir können zwei einander entgegengesetzte Tendenzen unterscheiden: eine, die auf Einheit und Einheitlichkeit, und eine andere, die auf Zwietracht und Zerrissenheit geht. Um jetzt zum nächsten Schritt zu kommen, so ist zu beachten, daß jede der beiden Tendenzen an und für sich zum Nichtsein führt. Denn die Tendenz auf Einheitlichkeit gipfelt naturgemäß im Einen schlechthin, das heißt in dem Einen, dem das Andere fehlt. Dagegen gipfelt die Tendenz auf Zweiheit und Zwietracht in der völligen Zerrissenheit. Zwar zeigen die beiden Tendenzen jeweils in eine andere Richtung, im Fall, daß sie sich selbst überlassen werden, laufen sie aber auf das Gleiche hinaus, nämlich auf das Nichtsein. Diesem Zusammensturz in das nunmehr Indifferente des Nichtseins kann nur durch die Beziehung der Negation zum jeweils Anderen vorgebeugt werden. Freilich sind die Tendenzen auch nicht sich selbst überlassen, vielmehr werden sie durch das bändigende Band zum Zentrum im Zaum gehalten. Dank dieses Bandes sind die gegensätzlichen Tendenzen zur periodischen Pendelbewegung der Natur zusammengeschlossen. Daraus ergibt sich der Herzschlag des Lebens — die Expansion der einen Tendenz geht mit der Kontraktion der anderen einher. Aber sowohl der Expansion als der Kontraktion ist ein Grenze gesetzt: Ist ein bestimmtes Maß der beiden erreicht, so schlägt das Pendel um. In diesem Geflecht der gegenseitigen Negation beziehungsweise in dieser Bewegung von Expansion und Kontraktion fügt sich der eine Gegensatz jeweils bis zu einem gewissen Grade dem anderen. Bei der Bewegung des Pendels handelt es sich um ein fortwährendes und gegenseitig sich abwechselndes Geben und Nehmen. Diese Bewegung der Natur, dieser Herzschlag des Lebens, geht zum einen auf das bändigende Band zum Zentrum zurück, beruht aber zum anderen darauf, daß die Gegensätze es nicht zum Gleichgewicht bringen. Denn falls ein solches Gleichgewicht jemals erzielt wäre, so hätte die Bewegung Halt gemacht. Andererseits leuchtet ein, daß es immer wieder Momente geben muß, in denen die Gegensätze im Gleichgewicht sind. Dies ist jeweils dann der Fall, wenn das Pendel seine Mitte erreicht. Die Mitte dieses Gleichgewichts abergeht sofort wieder verlustig.

senheit und der Zerstreuung. (Zum hier von mir verwendeten Begriff der Feindseligkeit vergleiche M. Heidegger, Hölderlins Hymnen ,Germanien' und ,Der Rhein', Frankfurt am Main 1980 (GA39), S. 245).

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Die anthropologische Idee der Erlösung, welche auchNietzsche vertritt, geht nun im großen und ganzen dahin, daß der Mensch sich in der Hinsicht von der restlichen Natur unterscheide, daß er die Bewegung der gegensätzlichen Triebe in den Griff bekommen kann. Es sei dem Menschen möglich, den Augenblick, in dem das Pendel seine Mitte erzielt, zu beständigen, ihn zu perpetuieren. Allerdings bedarf es dazu einer Verwandlung. Sie läuft darauf hinaus, daß die Bewegung des Pendels gleichsam umgekehrt werden muß, und zwar solchermaßen, daß sie in der Mitte am langsamsten ist, das heißt Halt hält. Dieses Ziel könne dadurch herbeigeführt werden, daß die Gegensätze sich nicht länger bis an eine gewisse Grenze einander fügen, sondern den offenen und direkten Kampf, d.h. den Krieg antreten. Denn in dem Fall hält das Pendel ja in der Mitte an. Man kann den Sachverhalt freilich auch in sanfteren Tönen darstellen. Beispielsweise dadurch, daß man — wie Hölderlin — nicht von einem Krieg, sondern vielmehr von einer aufs höchste gesteigerten Innigkeit der Gegensätze spricht. Die grundlegende Idee bleibt die gleiche. Dieser Idee nach handelt es sich hier um das Erzielen einer beständigen Ganzheit, um denAugenblick einergelungenen Individuation: Die Natur findet zu sich, das Ur-Eine nimmt Gestalt an. In dieser Gestalt fiihlt und schaut das Ur-Eine sich selbst. Als nächstes interessiert uns das Verhältnis zwischen einem solchen Individuum und dem Ganzen oder dem ganz und gar Unbestimmten, aus dem es hervorgeht. Wenn Nietzsche in der Geburt der Tragödie vom Gegensatz zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen spricht, so veranschaulicht er vorzüglich dieses Verhältnis. Das heißt, daß dieses Begriffspaar zumindest dreierlei bedeutet. Es betrifft einmal das Geflecht der gegenseitigen Negation, als welches wir den Urwiderspruch erklärt haben. Des weiteren bezieht das Apollinische sich auf jenes gewissermaßen interne Gleichgewicht, das jedes Individuum als solches auszeichnet, gilt aber auch dem eher externen Gleichgewicht zwischen einem solchen Individuum und seinem Ursprung. Das Dionysische dagegen bedeutet einmal die Bewegtheit des ganz und gar Unbestimmten, das dem Individuum entgegensteht, sich aber auch auf den Moment bezieht, in dem ein solches Individuum unter der Übergewalt des Dionysischen zusammenbricht. Und schließlich haften dem Individuum als solchem zwei einander entgegengesetzte Tendenzen an: die apollinischen Tendenz, die auf die Selbstbehauptung des Individuums seiner Herkunft gegenüber zielt, und die dionysische Tendenz, derzufolge das Individuum dazu neigt, sich in das Ur-Eine zu verlieren. Im vorigen Kapitel habe ich dargetan, daß das Individuum sich nur dadurch behaupten kann, daß es zwischen dieser Sehnsucht und jener Verhärtung das Gleichgewicht bewahrt.231 z

" Im Rahmen eines Vortrags über den niederländischen Schriftsteller S. Vestdijk hat M.F. Fresco die Ansicht vertreten, daß Nietzsche „wel naar een synthese tussen beide principes [het apol-

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Wenn nun Nietzsche die Ansicht vertritt, daß sich die gegensätzlichen Triebe periodisch versöhnen, so hat er an erster Stelle das Verhältnis zwischen dem apollinischen Zug zur Verhärtung und dem dionysischen zum Selbstverzicht des Individuums vor Augen. Es geht hier also um die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Herkunft. Diese Beziehung oszilliert zwischen dem restlosen Selbstverzicht und der völligen Verhärtung des Individuums. In der periodisch auftretenden Versöhnung, von der Nietzsche spricht, sind die Gegensätze nicht erloschen, vielmehr wird das Übermaß der Tendenzen gebändigt. Das heißt, in einer solchen Konstellation ist weder das Individuum noch das Ganze des anderen Herr oder Knecht. In dieser Konstellation sind die beiden Tendenzen im Gleichgewicht: keine ist der anderen Untertan. Stellt ein solches Gleichgewicht sich ein, so bringt dies eine Transformation mit sich, in der der Widerspruch zwischen dem Individuum und dem Ganzen in Einklang sich wandelt. Der Tradition nach ist dies der Augenblick der Fülle: Es waltet die erfüllte Zeit. Freilich braucht das Gleichgewicht nicht unbedingt diese Gestalt anzunehmen — es kann auch eine Gleichgültigkeit herbeigeführt werden. Ist das der Fall, so droht der Schrecken der Langeweile, der leeren Zeit. In dieser Stimmung fehlt der Widerspruch und der Mensch ist Opfer der .verveling', wie es im Niederländischen so schön heißt — der Langeweile, die letzten Endes zur Desintegration führt. Demnach gibt es im Bereich des Verhältnisses zwischen dem Individuum und dem Ganzen zwei grundverschiedene Gleichgewichte: zum einen das der Leere und zum anderen das der Fülle. Dieser Unterschied erklärt sich aus dem Walten oder Nicht-Walten der Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Zentrum der Natur. Das Nichtwalten dieser Beziehungen bedeutet den Tod Gottes. Auch das Verhalten der vielen Individuen zu einander wird durch eine Gegensätzlichkeit geprägt. Denn das Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und dem Zentrum spiegelt sich in der Beziehung dieses Menschen zum anderen Menschen. Mithin entspricht das Verhältnis zum Mitmenschen der Beziehung zum Zentrum. Das bedeutet, daß, falls ein Individuum der Verhärtung verfällt, es nicht nur das Band zum Zentrum, sondern gleichzeitig auch das Band zum Mitmenschen zerreißt. Doch wird das Band auch dann zerrissen, wenn ein Individuum sich der Sehnsucht überläßt. Mit anderen Worten führt der Selbstverzicht gegenüber dem Zentrum notwendig dazu, daß der Einzelne sich seinen Mitmenschen unterordnet. linische en het dionysische] [...] , maar beslist niet in de geest van Aristoteles (de deugd die het midden houdt tussen twee ondeugden)" (M. F. Fresco, .Vestdijk en het prefilosofische bij de Grieken. Over het verleden der religie' (in: Vestdijkkroniek (maart-juni 1992), nr. 7475, S. 79-118), S. 110). Ob die hier von mir anvisierte Mitte der Tugend im Sinne der Lehre des Aristoteles entspricht, möchte ich dahingestellt lassen, daB aber Nietzsches Auffassung den Gedanken einer Tugend der Mitte grundsätzlich erlaubt, macht meine Darstellung ersichtlich.

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Dagegen bedeutet die Verhärtung gegenüber dem Zentrum, daß das Individuum sich den anderen überordnet. Die Art und Weise, wie die Einzelnen sich zum Zentrum und damit zum Mitmenschen verhalten, hat nun Konsequenzen für das Ganze. Daß dies der Fall ist, ist durch das Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen bedingt. Zunächst gilt: Vereinzeln sich die Teile, so differenziert sich das Ganze; vereinheitlicht sich aber das Ganze, so verlieren die Gestalten ihre individuellen Züge. Dieses und jenes kann den Eindruck erwecken, daß das Ganze und die Teile grundsätzlich zu einander im Widerspruch stehen. Doch sollte man auch hier unterscheiden. Denn das wahre Ganze zeigt eine Symmetrie, also ein Gleichgewicht, zwischen dem Ganzen und den einzelnen Individuen auf — in einem solchen Ganzen sind auch die Teile je ein Ganzes. Fehlt aber das Gleichgewicht zwischen Verhärtung und Sehnsucht, mangelt es also an der gebührenden Distanz zum (beziehungsweise zu den) Anderen, so gibt es zwei Möglichkeiten: Vereinzeln sich die Teile, so explodiert das Ganze; vereinheitlichen sich die Teile, so implodiert es. Mithin schließen in diesen beiden Fällen das Ganze und die Individuen einander gegenseitig aus.232 Ich bin der Ansicht, daß erst der Fall eines wahren Ganzen die Erlösung des UrEinen bedeuten würde. Dazu aber bedarf es einer Berücksichtigung des eigentümlichen Bandes zwischen dem Individuum und dem Zentrum: Der Mensch sollte zwischen Verhärtung und Sehnsucht die Mitte wahren. Demnach entscheidet die Frage, ob die Mitte des Gleichgewichts erlangt wird, sich daran, ob die Menschen sich ihrer Aufgabe stellen oder ihr vielmehr aus dem Wege gehen. Aufs Ganze gesehen, entscheidet es sich also durch die Art ihres Zusammenseins, ihrer Gemeinschaft. Nachdem ich anhand einer Erörterung über das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Ganzen eine Erläuterung der Problematik von Urwiderspruch und Erlösung versucht habe, wende ich mich nun wieder den Überlegungen Nietzsches zu.

3. Vom Individuum und dem Ganzen Nach Nietzsche gibt die Maßlosigkeit des Ur-Einen sich in dessen unbändiger Daseinslust und ebenfalls unbändiger Daseinsgier (109,11) zu erkennen. Zwar gehen Lust und Gier immer Hand in Hand, dennoch bilden sie einen Gegensatz: sie stellen jeweils ein Moment des zwiespältigen Wesens des Ur-Einen, d.h. des Willens, dar. 2,2

Siehe GT: 28, 29-32 und UB III. 367, 15-17. Vgl. darüber hinaus die Stellen aus dem frühen Nachlaß, welche S. 154, Anmerkung 234, angefühlt werden.

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Die Gier verweist meines Erachtens auf den Urwiderspruch, der Nietzsche zufolge dem Ur-Einen inhäriert. Dagegen bedeutet die Lust den Moment der Erlösung vom Urwiderspruch im Schein. Doch führt die Erlösung im Individuum unmittelbar ein neues Leiden herbei, und zwar das Leiden der Differenz zwischen dem Individuum und dem Ganzen. Dieser Schmerz wird erst in dem Moment gelindert, da die Individuation rückgängig gemacht wird — also dann, wenn das Individuum untergeht, indem es von neuem in das Ganze aufgeht. Insofern der Untergang des Individuums die Erlösung von dem Schmerz der Differenz bedeutet, veranlaßt auch der Untergang zur Freude. Der Sachverhalt könnte etwa folgendermaßen dargestellt werden: 233 Fig.: Individuum Einklang Urlust

Urleiden der Differenz

Urfreude der Rückkehr

Urschmerz Urwiderspruch Ur-Eine

Wenn denn diese Darstellung Nietzsches dem tatsächlichen Sachverhalt entsprechen sollte, so wäre das Problem freilich unlösbar. Denn die Freude am Selbstsein ginge zwangsläufig mit der Differenz gegenüber dem Ganzen einher, und die Freude am Einssein mit dem Ganzen wäre nur um den Preis des schmerzlichen Verlustes des Selbstseins zu gewinnen. Und in der Tat könnte man dahingehend argumentieren, daß die tragische Erkenntnis, welche Nietzsche seinen Lesern vermitteln will, sich wohl auf diesen unauflösbaren Widerspruch bezieht. Vielleicht aber gibt es dennoch einen Ausweg.

1. Meiner Meinung nach sollten wir beachten, das Gier und Lust des Ur-Einen nach Nietzsche unbändig (109, 10-11) sind. Die Unbändigkeit, die sowohl Gier als auch Lust auszeichnet, verweist auf das Maßlose, das dem Ur-Einen als solchem anhaftet. 233

Außerdem dürfte die Figur einige der „crossings", welche nach J. Sallis den Raum der Tragödie bestimmen, vor Augen führen (J. Sallis, Crossings. Nietzsche and the Space of Tragedy, Chicago/London 1991).

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Befassen wir uns zunächst mit dem Begriff des Maßlosen, mit der Maßlosigkeit. Man sollte klar sehen, daß Lust und Unlust maßlos sind. Zur Klärung ihres Verhältnisses ist das zuvor dargestellte Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen in Rechnung zu ziehen. Sodann unterscheidet man zwischen der Lust des Ganzen und der Lust des Einzelnen (d.h. des einzelnen Ganzen), und obendrein zwischen der Unlust des Ganzen und der Unlust des Einzelnen. Oben habe ich vier oder fünf mögliche Modalitäten dieser Beziehung herausgearbeitet. Die möglichen Verhältnisse zwischen Lust und Unlust können jetzt von ihnen her erläutert werden. Wenden wir uns erst den dissonanten Konfigurationen zu. In diesen Fällen stehen das Ganze und das Individuum (beziehungsweise die Individuen) zueinander im Widerspruch. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste betrifft die Lust des Ganzen und die gleichzeitige Unlust der Teile, die zweite die Unlust des Ganzen und die gleichzeitige Lust der Teile. Die Bewegung des einen Lebendigen, also des Ur-Einen, oszilliert pendelartig zwischen diesen beiden Konfigurationen hin und her. Das eine Mal herrscht die Tendenz zum Ganzen vor, das andere Mal der Hang nach Vereinzelung. In beiden Fällen aber bleibt das Gefüge, welches das Ganze und das Individuum (beziehungsweise die Individuen) als seine Momente aufzeigt, dem Widerspruch verhaftet. In der Pendelbewegung findet zwar eine Verlagerung des Widerspruchs statt, doch wird er niemals aufgehoben. Beide Varianten der asymmetrischen (dissonanten) Konfiguration zeichnen sich durch ihre jeweilige Maßlosigkeit aus. Bezüglich des apollinischen Triebes habe ich weiter oben schon einmal auf eine Passage im neunten Hauptstück der Geburt der Tragödie aufmerksam gemacht. Der dort genannte heroische Drang des Einzelnen, „über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen" (70, 7-8), ist auch dann gemeint, wenn Nietzsche, in der Dionysischen Weltanschauung, von den ewigen Ansprüchen und souveränen Forderungen des Scheins spricht (571,21-22). Mithin neigt das apollinische Individuum dazu, sich souverän zu wähnen und die Stelle des einen Weltwesens einnehmen zu wollen. Umgekehrt zeigt das dionysische Ur-Eine die Tendenz auf, den Individuen keinen Platz zu gewähren, ja sie völlig auszulöschen. Der Sache nach stehen hier die Gefahr der Verhärtung und die der Sehnsucht im Blick, welche Nietzsche im SchopenhauerAufsatz ausführt. Vor diesem Hintergrund kann nun auch Nietzsches These vom letztendlichen Übergewicht des Dionysischen erklärt werden. Denn beim Untergang des Protagonisten handelt es sich um eine Umkehrung der Verhältnisse, die erst durch die Hybris desselben provoziert wird. Es betrifft den Moment, in dem das Pendel nach dem Zustand der gleichzeitigen Lust des Einzelnen und Unlust des Ganzen nach der entgegengesetzten Richtung ausschlägt, so daß nunmehr die Lust des Ganzen mit der Unlust des Individuums zusammengeht. Die Umkehrung bezieht sich auf ein vor-

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hergehendes Verhältnis, in dem infolge der Hybris das Dionysische dem Apollinischen unterworfen war, das heißt, worin das Ganze dem Teil Untertan und Knecht war. Infolge der Umkehrung wechselt das Ganze von seiner Zerrissenheit zur Ganzheit, umgekehrt verliert jetzt der Einzelne seine Ganzheit, d.h. seine Individualität. Diese Interpretation kann die Gleichzeitigkeit von Lust und Unlust, die uns in der Geburt begegnet, einsichtig machen: Nach Nietzsche bewirkt das dionysische Ereignis das Zerbrechen des principium individuationis und gebärt sie die Lust einer wonnevollen Verzückung.234 Die Unlust des Ganzen und die Lust des Einzelnen werden also durch die Unlust des Einzelnen, welche mit der nunmehr erlangten Lust des Ganzen zwangsläufig einhergehe, abgelöst. Es sei noch einmal betont, daß diese Umkehrung durch die Hybris des Einzelnen ausgelöst wird. Dem nächsten Anschein nach liegt hier eine Unmäßigkeit des apollinischen Individuums vor. Allerdings sollten wir auch unsere frühere Folgerung berücksichtigen, derzufolge die Hybris ihrerseits seitens des Zentrums provoziert wird.235 Daraus geht hervor, daß das apollinische Individuum zwar die Erlösung des Ur-Einen bedeutet — daß es in der Folge zu einem Widerspruch zwischen dem Individuum und dem Ganzen kommt, geht aber auf den Neid des Ursprungs zurück. Der Neid wird einsichtig, sobald wir beachten, daß dem Urwiderspruch, den das Ur-Eine erleidet, der Einklang des apollinischen Individuums entgegensteht. Gelingt es dem Zentrum, das Individuum zur Hybris zu verführen, so wird die Mitte des Gleichgewichts gestört, das Pendel geht seinen Gang und führt zwangsläufig den Untergang des Individuums herbei. . Dieser Darstellung nach ist das Gefüge, das das Ganze (d.h. hier: den Ursprung, das Zentrum) und das Individuum (beziehungsweise die Individuen) als seine Momente aufzeigt, zunächst dem Widerspruch verhaftet. Das Ur-Eine irrt samt seiner Geschöpfe umher, nur das Pendel geht unbeirrbar seinen Weg. Erst in dem Moment, in dem das Individuum erkennt, daß es sich gegen die Ansprüche des Zentrums (des

234

235

GT: 28, 29-32. Vgl. des weiteren die Dionysische Weltanschauung: „Im dionysischen Rausche, im ungestümen Durchrasen aller Seelen-Tonleitern bei narkotischen Erregungen oder in der Entfesselung der Frühlingstriebe äußert sich die Natur in ihrer höchsten Kraft: sie schließt die Einzelwesen wieder aneinander und läßt sie sich als eins empfinden; so daß das principium individuationis gleichsam als andauernder Schwächezustand des Willens erscheint. Je verkommener der Wille ist, desto mehr zerbröckelt alles in's Einzelne, je selbstischer willkürlicher das Individuum entwickelt ist, um so schwächer ist der Organismus, dem es dient." (DW: 557, 28 - 558, 2) Und weiter: „In jenen Zuständen bricht daher gleichsam ein sentimentalischer Zug des Willens hervor, ein .Seufzen der Kreatur' nach dem Verlorenen" (558, 3-5; vgl. die parallele Stelle in der Geburt der Tragödie 33, 10-14). In der für Cosima Wagner verfaßten Abschrift dieses Aufsatzes — mit dem Titel Die Geburl des tragischen Gedankens — fügt Nietzsche erläuternd hinzu: „ < E > r kommt zum Bewußtsein seiner Zerrissenheit" (GG: 586, 3-4). Es betrifft also die Lage, in der „ein Volk zerfasert und in schlaffer Spannung mit seinen Einzelnen verbunden" ist, wie es in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen heißt (PhZG: 804, 18-19). Vergleiche dazu die diesbezüglichen Darlegungen in meinem dritten Kapitel, besonders S. 123 ff.

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Ursprungs) wehren muß, ergibt sich die Möglichkeit, der Bewegung des Pendels Einhalt zu gebieten. Erst wenn der Mensch sich dieser Möglichkeit annimmt und sie trotz der Verführungen seitens des Ursprungs durchzusetzen versteht, wird das UrEine erlöst. Dazu muß das Individuum dem Zentrum oder dem Ursprung gegenüber eine gebührende Distanz wahren. Durch diese Distanz werden die Gefahren von apollinischer Verhärtung und dionysischer Sehnsucht gebändigt, so daß sich dank dem bändigenden Band der Distanz zwischen dem Individuum und dem Zentrum erstmals ein Gleichgewicht einstellt. In dem Augenblick, in dem dieses Gleichgewicht erzielt wird, wandelt der Urwiderspruch sich in Einklang, die Gier in Lust. Neben der Bewegung des Pendels gibt es aber noch eine andere, die wohl am ehesten in dem Schwanken zwischen den Stimmungen der Gleichgültigkeit und der Erfüllung, also zwischen dem bis zur Objektivität ausgeblasenen Subjekt des neuzeitlichen Historikers und der anfänglichen ästhetischen Erfahrung, bemerkbar wird. Scheint jene Stimmung dem Tode nahe zu kommen, so sprudelt diese geradezu von Leben. Im ersten Fall hat der Streit der Triebe aufgehört, der Strom des Lebens hat sich zurückgezogen, das Wehen des Pneumas hat sich gelegt — im Verlauf wird sich herausstellen, daß diese Leere, Nietzsche zufolge, namentlich in den Gebilden und Systemen des Egoismus waltet.236 Dagegen zeigt die andere Stimmung eine höchste Steigerung der Gegensätzlichkeit der Triebe auf. Der dionysische Rausch wird aufs höchste gesteigert, aber ebenso der apollinische Traum, und so hält der eine den anderen in Schach. Der eine zügelt die Maßlosigkeit des anderen — das heißt, das Maß wird erst im maßlosen, aufs höchste gesteigerten Streit errungen. Denn auf dem Höhepunkt oder mitten im Sturm dieses Streites stellt sich nach Nietzsche die Meeresstille der sinnlich-ästhetischen Erfahrung des Ganz- und Freiseins ein.

2.

Demnach ist Nietzsches Verständnis der dionysischen Wirkung recht zwiespältig. Die Ursache liegt zunächst darin, daß Nietzsches eigentliches Anliegen durch seine Polemik durchkreuzt wird. Darüber hinaus aber besteht noch ein anderer Grund. Es handelt sich um Nietzsches Interpretation der Herrschaft des Dorisch-Apollinischen, die der Begegnung mit dem Dionysischen vorangegangen sei. Er meint, diese Begegnung sei ein Glücksfall gewesen, weil sie dem Auftreten einer apollinischen Verhärtung vorgebeugt habe.237 Das kann doch wohl nur heißen, daß die Gefahr der 236 117

Vergleiche dazu das sechste Kapitel, S. 209 ff. Nietzsche spricht von „ j e n e < r > majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo" (GT: 32. 17), von seiner zunehmenden Starrheit (GT: 41, 16). Ich führe die Stellen im Kontext an:

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Verhärtung zwar im Verzug war, daß aber die dorisch-apollinische Kultur dieser Gefahr noch nicht erlegen war und ihr anfängliches Gleichgewicht noch nicht verloren hatte. Daraus geht des weiteren hervor, daß infolge des Auftretens des Dionysos-Kults keine Umkehrung stattgefunden hat, sondern daß vielmehr eine Stärkung und Vertiefung des (vormals dorisch-apollinischen) Gleichgewichts herbeigeführt worden ist. In der Dionysischen Weltanschauung wird diese Sicht noch klar formuliert, dagegen ist sie in der Geburt der Tragödie vielmehr verworren. In der Geburt heißt es: „ < D > enn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntnissund des Maasses erinnert. Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See's ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Fluthdes Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische .Wille' das Hellenenthum zu bannen suchte." (GT: 70, 21-32)

Hier wird eine Art periodische Pendelbewegung skizziert, in der bald das Apollinische, bald das Dionysische die Oberhand gewinnt.238 Also kommt es hier keines-

„Es ist die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche < dionysische > Triebe Bahn brachen: jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Cultus" (GT: 32, 16-25) Vergleiche des weiteren: „Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der ersten Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag nämlich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären" (GT: 41, 12-19) 238

Zu den angeführten Stellen vergleiche B. von Reibnitz, a.a.O., S. 106-110 und S. 149-151. Sie erinnert an die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, wo Nietzsche, im Rahmen einer Erörterung über Heraklit, den Gedanken eines periodisch sich ereignenden Weltunterganges streift (s. PhZG: 829, 16-31). Allerdings ist keineswegs sicher, daß der (stoische) Gedanke Heraklit zuzurechnen ist. In Ecce Homo heißt es dazu: „Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs .Sein' — darin muss ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der .ewigen Wiederkunft', das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge — diese Lehre Zarathustra's könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon. —" (KSA 6: 313, 2-12)

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wegs zu einer grundsätzlichen Wandlung. Dagegen erkennt Nietzsche in der Dionysischen Weltanschauung, als Wirkung des Dionysischen, durchaus eine Wandlung, und zwar vom apollinischen Schein zum apollinisch-dionysischen Symbol. Um den Unterschied herausstellen zu können, bedarf es einiger einleitender Überlegungen. Laut der Geburt war das Apollinische zunächst das Maßvolle: Die ursprünglichen und wilden Leidenschaften wurden von ihm in Schach gehalten. In der Dionysischen Weltanschauung vertritt Nietzsche die Ansicht, daß es sich dabei um eine Verschleierung, um eine Art Verdrängung des Übermaßes gehandelt habe: „ < D > ie Grenze, die der Grieche innezuhalten hatte, war die des schönen Scheins. Der innerste Zweck einer auf den Schein und das Maaß hingewendeten Kultur kann ja nur die Verschleierung der Wahrheit sein" (DW: 564, 31-34).239 Da fragt man sich: Was heißt hier Wahrheit? Nietzsche antwortet: „In einer derartig aufgebaute und künstlich geschützte Welt drang nun der ekstatische Ton der Dionysosfeier, in dem das ganze Übermaß der Natur in Lust und Leid und Erkenntniß zugleich sich offenbarte. Alles was bis jetzt als Grenze, als Maaßbestimmung galt, erwies sich hier als künstlicher Schein: das .Übermaß' enthüllte sich als Wahrheit" (DW: 565, 813). 240

Mit dieser Wahrheit ist die basale Erfahrung der zunächst ungebändigten Gegensätzlichkeit der Triebe gemeint. Das Maßlose des dionysischen Rausches, also der zügellosen Leidenschaften, sei erst vom apollinischen Maß gebändigt worden. Aber woher kam das apollinische Maß? Wurde es nicht seinerseits einer vorhergehenden Triebhaftigkeit abgerungen? Und obendrein könnte man fragen: Wenn denn das apollinische Maß wirklich maßvoll war, so drohte doch nicht die Gefahr der Ver-

239

240

Vergleiche dazu U. Hölscher, ,Die Wiedergewinnung des antiken Bodens. Nietzsches Rückgriff auf Heraklit' (in: Neue Hefte für Philosophie 15/16 (1979) S. 156-182), S. 168 und 181; des weiteren J. P. Nimis u. St. A. Herschbell, .Nietzsche and Heraclitus' (in: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 17-38), S. 34. Natürlich handelt es sich hier um ein Isis-Bild — zur Filiation dieses Motivs innerhalb der abendländischen Tradition vgl. M.F. Fresco, Filosofie ert kunst, Assen/Maastricht 1988, S. 43-44. Vergleiche die Fassung dieser Passage in der Geburt der Tragödie: „Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntn i s , bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklange, bedeuten konnte! Die Musen der Künste des .Scheins' verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborenen Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus." (GT: 40, 3 1 - 4 1 , 12)

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Geschichte und Gerechtigkeit

härtung? Demnach neigte das apollinische Maß seinerseits zur Maßlosigkeit — wie bereits vermerkt wurde, spricht Nietzsche auch von den ewigen Ansprüchen und souveränen Forderungen des Scheins.241 Gibt es also einen Widerspruch zwischen dem Maßvollen und dem Maßlosen des Apollinischen? Nietzsches Ansichten sind wohl nicht ganz klar. Vielleicht aber handelt es sich nicht um einen Widerspruch, sondern vielmehr um verschiedene Stufen der Selbsterkenntnis . Für Nietzsche stellen die griechischen Statuen das apollinische Maß dar. Das Maß offenbarte sich im schönen Schein, im Aufglänzen der gestalteten Bilder. Diese Gestalten waren verpflichtendes Gesetz. Sie gaben das Maß vor. Nietzsche: „Der Bilderdienst der apollinischen Kultur, ob diese sich nun im Tempel, in der Statue oder im homerischen Epos äußerte, hatte ihr erhabenes Ziel in der ethischen Forderung des Maaßes, welche der aesthetischen Forderung der Schönheit parallel läuft. Das Maaß als Forderung hingestellt ist nur dann möglich, wo das Maß, die Grenze als erkennbar gilt. Um seine Grenzen einhalten zu können, muß man sie kennen: daher die apollinische Mahnung gnoothi seautön" (DW: 564, 19-26)242.

Aber eben diese Erkenntnis hat Nietzsche zufolge den Griechen des dorisch-apollinischen Zeitalters gefehlt.243 Ihre diesbezüglichen Vorstellungen bewegten sich unter dem gleichen Joch des verpflichtenden Maßes der Schönheit.244 Demnach ist Nietzsche der Ansicht, daß das maßlose Übermaß unter dem Joch der maßvollen Schönheit ins Abseits gedrängt worden und demzufolge fast unkenntlich geworden war. Hierin wird also nunmehr das Maßlose des schönen Maßes ersichtlich: Das schöne Maß war im Begriff, das Maßlose bis zur Unkenntlichkeit zu verdrängen. Nietzsche meint wohl auch, daß infolge dieser Verdrängung die lebendige Erfahrung des Maßes sich zur Vorstellung gewandelt hat. Denn es heißt: „Die Statue als Marmorblock ist ein sehr Wirkliches, das Wirkliche aber der Statue als Traumgestalt ist die lebendige Person Gottes" (DW: 554, 5-7).

Doch im dionysischen Rausch habe der Grieche sich selbst in diese Person verwandelt: „Als Gott fühlt er sich, was sonst in seiner Einbildungskraft nur lebte, jetzt empfindet er es an sich selbst. Was sind ihm jetzt Bilderund Statuen?" (DW: 555, 18-20).

Oder wie es im Aufsatz Das griechische Musikdrama heißt:

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DW: 571, 21-22. Vergleiche auch DW: 556, 4-6 und die Variante in GG: 583, 27-28 — spricht Nietzsche in der ersten Stelle von Apollo als dem hellenischen Kunstgott, in der zweiten nennt er ihn den allein herrschenden Kunstgott. Vergleiche dazu GT: 40, 3-20. Vergleiche B. von Reibnitz, a.a.O., S. 151. Vergleiche DW: 564, 26-32.

4 Einheit und Zweiheit

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„ < W > ährend jener leidenschaftlichen Chorgesänge < ist Dionysos > gewissermaßen das lebende Bild, die lebende Statue des Gottes" (GMD: 527, 22-24)

Mithin ist Nietzsche der Ansicht, dem Apollinischen fehle das Lebendige und Authentische der ästhetischen Erfahrung oder jedenfalls drohe die Gefahr, daß es diese verliere. Eben dieser Gefahr sei durch den heraufkommenden Dionysos-Kult vorgebeugt worden, und dies habe zum einmaligen Gipfel der älteren attischen Tragödie geführt. Was macht nun das Eigentümliche dieses einmaligen Höhepunktes aus? Meines Erachtens sollte man hier differenzieren. Einmal geht es um die Tragödie als solche. Nietzsche erklärt sie als das Ergebnis einer eingehenden und langwierigen Auseinandersetzung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen. Des weiteren steht der Höhepunkt innerhalb einer Tragödie im Blick. In der Geburt heißt es, der Untergang der apollinischen Gestalt sei der Höhepunkt einer jeden wahren Tragödie. Gemeint ist jener Moment des Übergangs, in dem das Apollinische durch das Dionysische abgelöst wird: „In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte." (GT: 139, 24-27).246

Nietzsche zufolge vermittelt die musikalische Tragödie ,,eine[.] Art von Allwissenheit" (140,12). Nach meinem Dafürhalten heißt das, daß sie dem Zuschauer den Einblick in die immer fortwährende Bewegung des Pendels der gegensätzlichen Triebe vermittelt. Allerdings legt Nietzsche den Schwerpunkt nicht bei der Erkenntnis, sondern bei der ästhetischen Erfahrung als der pathetischen (142, 33-44). In der früher abgefaßten Schrift Die dionysische Weltanschauung jedoch erkennt Nietzsche als Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen eine zwiefache Verwandlung: zum einen eine Wandlung des apollinischen Scheins zum apollinisch-dionysischen Symbol und zum anderen eine Transformation der dionysischen Wahrheit zum Symbol. Befassen wir uns zuerst mit der Wandlung des apollinischen Scheines. Dazu sagt Nietzsche: „Wir bemerken also zugleich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen den Schein, der seine ewigen Ansprüche, seine souveränen Forderungen hier aufgeben muß. Durchaus nicht wird mehr der Schein als Schein genossen, sondern als Symbol, als Zeichen der Wahrheit." (DW: 571,20-24)

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Vergleiche GT: 29, 18 - 30, 16; besonders 30, 8-10. Vergleiche GT: 140, 5 - 141, 33.

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Die Stelle interessiert aus zwei Gründen. Erstens deuten die „souveränen Forderungen" seitens des Scheins auf die unverrückbare und unbeirrbare Verbindlichkeit, die mit der ästhetischen Erfahrung, also mit dem ästhetischen Schein, einhergeht. Mithin machen sie auf den dem Schein anhaftenden Zug zur Absolutierung aufmerksam — gemeint ist der aller wohlgerundeten Selbstherrlichkeit innewohnende Zug zum Totalitären. Zweitens wird gezeigt, wie der Gefahr, welche dieser Tendenz inhäriert, begegnet wurde: Nach Nietzsche hat der Grieche des tragischen Zeitalters die Tendenz des Scheins dadurch in Schranken gehalten, daß er ihn, also den Schein, als „Symbol, als Zeichen der Wahrheit" erklärte. Mithin geht es um denZusammenwurf, um das Band zwischen dem jeweils Scheinenden und seinem Ursprung. Sollte dies zutreffen, so neigt der Scheinende dazu, dieses Band zu mißachten. Laut der Dionysischen Weltanschauung ist auch das Dionysische durch das Apollinische verwandelt worden: „Nicht mehr ist jenes Singen und Tanzen instinktiver Naturrausch: nicht mehr ist die dionysisch erregte Chormasse die unbewußt vom Frühlingstrieb gepackte Volksmasse. Die Wahrheit wird jetzt symbolisirt, sie bedient sich des Scheines" (DW: 571,10-13).

Demnach haben Apollo und Dionysos sich auf eine Art und Weise vereinigt, daß der eine durch den anderen verwandelt wurde: „Wie in das apollinische Leben das dionysische Element eingedrungen ist, so ist auch die dionysisch-tragische Kunst nicht mehr .Wahrheit'." (DW: 571, 7-10)

In diesem Sinne heißt es schon weiter oben, fast am Anfang: „Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das dionysische Künstlerthum. Dieses Nebeneinander kennzeichnet den Höhepunktdes Hellenenthums" (DW: 555,34556, 3).

Diese Darstellung des Höhepunktes der Tragödie als das Nebeneinander zweier zunächst gegensätzlicher Triebe kann auf das Verhältnis zwischen dem apollinischen Individuum und dem dionysischen Ganzen übertragen werden. Die innere Mitte der Mysterienlehre, welche den Rezipienten über die Tragödie vermittelt wird, besteht demnach darin, daß die Lust des Einzelnen nicht im Widerspruch zur Lust des Ganzen stehen muß. Es geht hier um die Erkenntnis, daß die Lust des Einzelnen und die des Ganzen sich gegenseitig bedingen. Gleiches gilt für deren Leiden. Dagegen handelt es sich in der Pendelbewegung, der das Ur-Eine zunächst verhaftet ist, vielmehr um das Entweder-Oder vom Individuum und dem Ganzen. Während in diesem Fall das Eine nur auf Kosten des Anderen möglich ist, bedeutet yemzs gleichzeitige Nebeneinander die gleichgewichtige Konfiguration, in der dem Band zwischen dem Individuum und dem Ganzen Rechnung getragen wird.

4 Einheit und Zweiheit

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Ziehen wir das Fazit: Während Nietzsche in seinen Vorstudien zur Geburt die gleichgewichtige Konfiguration im Blick hatte, zeigt die endgültige Fassung in dieser Hinsicht eine Ambivalenz auf. Das aber heißt nicht zwangsläufig, daß er in dieser Schrift dem Entweder-Oder das Wort redet. Es handelt sich wohl eher um den Versuch, den Widerspruch, welcher zwischen einem vollendeten Individuum und einer zerstrittenen Welt herrscht, vor Augen zu führen. —

Schluß Im Rahmen unserer Erörterung über das Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit galt dieses Kapitel einer Auseinandersetzung mit Nietzsches Ansichten zum Problemkreis der Individuation, insofern er sie in seiner Geburt der Tragödie und deren Umkreis dargelegt hat. Nach Nietzsche ist die Natur zwischen zwei gegensätzlichen Momenten zerrissen — das Ur-Eine als der Urgrund der Welt erleidet den Urwiderspruch, der aus dem Gier nach dem Dasein hervorgeht. Die Gier ist zwiespältig: Sie ist sowohl Urbegierde nach dem Schein (also nach Gestalt) als auch rasendes Begehren nach dem Maßlosen, nach dem Ungestalteten. Nietzsche zufolge wirken hier der apollinische und der dionysische Trieb einander entgegen. Jedoch sind sie auch auf einander angewiesen. Denn während der apollinische Zug zur Form treibt, widersetzt die dionysische Tendenz sich dem und gewährt so den Inhalt. Die Form ohne Inhalt ist undenkbar, ebenso der Inhalt ohne Form — ohne den jeweils anderen sind sie ja ohne Halt. Der Widerspruch begegnet uns auch innerhalb des Individuums. Das Individuum möchte einmal auf seiner Gestalt beharren, das andere Mal möchte es über sie hinaus. Letztlich finden wir die gleiche Struktur zwischen dem Ur-Einen und dem Individuum. Einerseits ist das Individuum die Form, die das Ur-Eine als Inhalt hat. Andererseits ist das Ur-Eine der Inhalt, der die Form eines Individuums hat. Hier widerstreiten die dionysische Wahrheit (Inhalt, Ur-Eine) und apollinischer Schein (Form, Individuum) einander. Wir finden hier das Gefüge dreier Verhältnisse vor: 1. das Verhältnis der gegensätzlichen Triebe (das Negative weil schlechthin Ungestaltete), 2. das Verhältnis innerhalb des Individuums (das Positive weil Gestaltete) und 3. das Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem Anderen (d.h. zwischen dem Positiven und dem Negativen). Sehen wir nun einmal durch die Inszenierung, mit deren Hilfe Nietzsche diesen Sachverhalten beizukommen versucht, hindurch, so erkennen wir Folgendes: Während das dritte Verhältnis das Selbstverhältnis als solches vor Augen führt, sind das erste und das zweite Verhältnis als Modi der Selbsterfahrung zu betrachten —

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Geschichte und Gerechtigkeit

nämlich als Urleiden und Urlust, als Zerrissenheit und Einklang. Die Selbsterfahrung oszilliert zwischen diesen beiden Extremen. Vor dem Hintergrund einer in Konventionen erstarrten Welt, der, zumindest seiner Ansicht nach, die Erfahrungsgrundlage völlig abhanden gekommen war, führt Nietzsche anhand einer Darstellung der Tragödie zu dem Kreuz der ursprünglich erfahrenen Lust und Unlust zurück. Sodann versucht er zu zeigen, daß die tragische Wirkung eine zwiefache ist: Einmal führt sie als Werk der Kunst bei den Zuhörern die ästhetische, d.h. die unmittelbare oder auch unhistorische Erfahrung des Ganzund Selbstseins herbei. Darüber hinaus aber vermittelt sie den Einblick in die Gesetze, denen die Erfahrungen von Lust und Unlust, von Einklang und Zerrissenheit unterstehen. Obwohl auch Nietzsche sich scheut, diese Gesetze vor den Augen Nichteingeweihter zu verbreiten, und seine Darlegungen vielleicht gerade deshalb in hohem Maße zwiespältig sind, läßt seine Darstellung vom Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Ganzen auf eine Philosophie der Mitte schließen, deren Grundzüge ich im vorigen vorgeführt habe und im nachstehenden weiter verfolgen werde.

Fünftes Kapitel Vom Tempel des Ruhms Zu Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie

Einleitung In diesem und auch im nächsten Kapitel mache ich den Versuch, das Verhältnis zwischen Historie und Gerechtigkeit näher zu bestimmen. Der Beziehung zwischen den drei Arten der Historie, die von Nietzsche in seiner Historienschrift unterschieden werden, und dem Problemkreis der Gerechtigkeit waren wir schon in unseren Prolegomena kurz nachgegangen,247 doch mußte das Verhältnis dort weitgehend im dunkeln bleiben. Denn zwar wurde zwischen einer retrospektiven und einer prospektiven Gerechtigkeit differenziert, aber eine klare Vorstellung von demjenigen, was Nietzsche mit Gerechtigkeit meint, fehlte uns noch. Mittlerweile aber hat sich herausgestellt, daß die Gerechtigkeit mit Bezug auf den Menschen dessen höchste Tugendhaftigkeit bedeutet.248 Der Mensch erlangt diese Tugend, indem er sich der Aufgabe der Individuation stellt und sie allmählich bewältigt. In dem Augenblick, in dem einem Menschen dies gelingt, wird nach Nietzsche das Ziel der Geschichte erreicht. Freilich wurde auch ersichtlich, daß sich der Mensch in der Regel dieser Aufgabe verweigert — daß er sie meistens zu verdrängen bemüht ist. Wie dies alles im einzelnen zu verstehen ist, habe ich in den bisherigen Kapiteln des Hauptteils zu zeigen versucht. Jetzt können wir daher fragen: inwiefern kann die Historie der Sache der Gerechtigkeit dienen — das heißt, in welcher Weise trägt sie zur Individuation bei? (das ist das Thema dieses fünften Kapitels); und: inwiefern wirkt die Historie der Gerechtigkeit entgegen? — indem sie die Individuation vielmehr im Wege steht (oder gar zu verhindern sucht), als daß sie sie fördert (das Thema des sechsten Kapitels). Im Grunde genommen stehen hier die Individuation und die Konvention einander gegenüber. Unter diesem Aspekt betrachtet, müssen uns in erster Linie die monumentale und die kritische Historie bedeutsam werden. Während nämlich die monumentale Historie der Individuation direkt dient, fördert die kritische sie indirekt, indem sie die Tendenzen aufdeckt, die der Individuation zuwiderlaufen.

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Vergleiche weiter oben S. 33 ff. Vergleiche weiter oben S. 49.

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Indem ich diesen Zusammenhängen nachgehe, setze ich mich in diesem und im nächsten Kapitel mit Nietzsches Vorstellung einer dem Leben dienlichen, das heißt gerechten Historie auseinander. Im Hinblick auf den Sinn und die Bedeutung der drei Arten der Historie haben die Interpreten drei Richtungen verfolgt. Die erste Richtung vertritt die Auffassung, daß Nietzsche eine von den drei Arten favorisiert. Im Prinzip gäbe es hier wiederum drei Möglichkeiten, tatsächlich aber habe ich deren nur zwei vorgefunden — daß er an erster Stelle die antiquarische Historie hätte fördern wollen, lag von vornherein nicht auf der Hand. K. Hillebrand, J. Stambaugh, I.N. Bulhof und in einer gewissen Hinsicht auch G. Haeuptner sind der Ansicht, daß Nietzsche die monumentale Historie bevorzugt.249 Dagegen vertreten K. Brose und E. Kunne-Ibsch die Auffassung, daß er die kritische Historie vorzieht.250 Kommen wir zur zweiten Richtung. Ist Haeuptner der Ansicht, daß Nietzsche die monumentale Historie befürwortet, so gilt dies nur für die dualistische Perspektive. Aus der konkurrierenden „pantheistischen" Sicht gehe hervor, daß es zwischen den drei Arten ein Spannungsverhältnis gibt. Sie würden einander gewissermaßen in Schach halten.251 Eine ähnliche Vorstellung begegnet uns bei D. Jähnig.252 Die dritte Richtung wird nur von W. Kaufmann vertreten: die Dreiteilung sei „ziemlich nebensächlich".253 J. Salaquarda hat versucht, anhand des Nachlasses die Genese dieser Dreiteilung zu rekonstruieren. Er verbindet damit aber keine interpretatorischen Konsequenzen — auf die Probleme, welche seinem Ansatz anhaften, habe ich weiter oben aufmerksam zu machen versucht.254 Bekanntlich widmet M. Heidegger der Nietzscheschen Historienschrift etwa eine Seite von Sein und Zeit.255 Seiner Meinung nach ist die „Dreifachheit der Historie [...] in der Geschichtlichkeit des Daseins vorgezeichnet" (SZ 396).256 Die „eigent249

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Siehe K. Hillebrand, a.a.O., S. 311 und 319; I.N. Bulhof, a.a.O., S. 37-39 und 43-45. J. Stambaugh, a.a.O. 41-42. E. Kunne-Ibsch, Die Stellung Nietzsches in der Entwicklung der modernen Literaturwissenschaft, Assen 1972, S. 35. K. Brose, Geschichtsphilosophische Strukturen im Werk Nietzsches, Bern/Frankfurt am Main 1973, S. 3. Siehe G. Haeuptner, a.a.O., S. 31-75, besonders 67 f. und 158-176, besonders 172 f. D. Jähnig, ,Der Nachteil und der Nutzen der modernen Historie nach Nietzsche' (in: D. Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln 1975, S.'68-111). W. Kaufmann, a.a.O., S. 167-168. J. Salaquarda, .Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung' (in: Nietzsche-Studien 13(1984), S. 1-45). Vergleiche weiter oben S. 63, Anmerkung 83. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979' 5 , S. 396-397. Heidegger führt Nietzsches Dreiteilung also auf die drei Extasen der Zeit zurück. Doch ist es fraglich, ob eine solche, wie auch immer im einzelnen ausgestaltete Zuordnung mit dem Ansatz Nietzsches vereinbart werden kann. Dazu R. Scharff, .Nietzsche and the „Use" of History' (in: Man and World 7 (1974)) S. 67-77), S. 71 ff.; C. Zuckert, .Nature, History and the Seif: Friedrich Nietzsche's Untimely Considerations' (in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 55-82), S. 64, Anm. 26.

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liehe Historie" sei in der „Zeitlichkeit" als der „extatisch-horizontalen Einheit" der drei Extasen, d.h. im „existentialen Seinssinn der Sorge" (SZ 397), verwurzelt. Die Einheit der Zeitlichkeit wiederum werde durch die „Temporalität" gewährt. Heidegger führt die Temporalität in Sein und Zeit nicht weiter aus, in der Vorlesungsreihe Die Grundprobleme der Phänomenologie aber versteht er sie als „Selbstentwurf schlechthin" und in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) als „unausgesprochene Ahnung des Ereignisses".257 Daß vielleicht die Interpretation Heideggers so abwegig nicht ist, geht hervor, sobald man ein Moment in Rechnung stellt, das meiner Meinung nach bisher zu wenig beachtet worden ist. Ich meine den Umstand, daß zumindest Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie im Grunde auf eine Erfahrung verweist, die Nietzsche selbst in Ueber das Pathos der Wahrheit als Erleuchtung bezeichnet hat — er spricht dort von einem Augenblick höchster Welt-Vollendung. Nietzsche hat der monumentalen Historie, die er im zweiten Hauptstück der Historienschrift erörtert, vielerorts im Frühwerk vorgearbeitet. Eine größere Passage des zweiten Abschnitts der Historienschrift (259,9 - 260,11) wurde fast wortwörtlich der ersten der Fünf Vorreden zufünfungeschriebenen Büchern, Ueber das Pathos der Wahrheit (756, 9 - 757, 8), entnommen.258 Diese Vorrede wiederum geht auf eine Vorstufe zurück, diente aber auch dem achten Abschnitt der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen als Vorlage, und außerdem steht sie mit der nachgelassenen Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne in engstem Zusammenhang. 259 Während Nietzsche sich in den erwähnten nachgelassenen

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Siehe M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt am Main 1975 (GA24), S. 436; des weiteren M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt am Main 1989 (GA65), S. 73. Dieser Sachverhalt ist von Colli-Montinari nur rückblickend, also im Kommentar zu den Fünf Vorreden zu fiinf ungeschriebenen Büchern (14: 107), vermerkt worden. Der Hinweis auf ihn fehlt im Kommentar zur Historienschrift (siehe 14: 67). Nach Colli-Montinari findet eine erweiterte Fassung dieser Passage, die den Anfangsseiten (755, 1 - 757, 8) der Vorrede Ueber das Pathos der Wahrheit gleichkommt, sich in einer „druckmanuskriptartige < n > Fassung" ( U 1 8) der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (siehe 14: 108 und 110 ff.). Soweit ich sehen kann, werden diese Bezüge von J. Salaquarda (wie im übrigen von sonstigen Autoren auch), in seiner Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Historienschrift nicht berücksichtigt — vgl. a.a.O., S. 15-30. Freilich hat Salaquarda andernorts sehr wohl auf die Beziehung zwischen Ueber das Pathos der Wahrheit, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und den Unzeitgemäßen Betrachtungen aufmerksam gemacht (J. Salaquarda, .Nietzsche und Lange' (in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S.236-259), S. 238; des weiteren J. Salaquarda, .Das wahre Selbst über dir. Überlegungen zu Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches' (in: E. Biser (Hrsg.), Besieger des Gottes und des Nichts. Nietzsches fortdauernde Provokation, Düsseldorf 1982, S. 24-51), S. 32, Anmerkung 28; und vor allem J. Salaquarda, .Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche', (in: Studi Tedeschi, Vol. XXII (I) (1979), S. 133-160), S. 143). Den Hebel bildet immer Langes „ .Standpunkt des Ideals'", eine genaue Aufarbeitung bleibt jedoch aus.

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Schriften mit dem Problemkreis beschäftigt, welcher programmatisch auf den einen Gegensatz Kunst versus Erkenntnis zurückzuführen ist, kann der Begriff des „Monumentalen" als das Ergebnis seiner diesbezüglichen Überlegungen verstanden werden.260 In diesem Kapitel gilt es, diese Beziehungen, insofern sie für mein Hauptanliegen (nämlich die Problematik von Geschichte und Gerechtigkeit) von Wichtigkeit sind, herauszustellen. Ich werde mich vor allem mit der Schrift Ueber das Pathos der Wahrheit und mit dem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne befassen. Wie schon vermerkt wurde, sind die beiden Schriften aus dem selben Gedankenkreis hervorgegangen, doch wurde die erste zeitlich früher verfaßt.261 Der enge Zusammenhang zwischen den beiden Schriften bekundet sich nicht nur von den Inhalten her. Im Nachlaß findet sich außerdem folgender Entwurf: „Einleitung über Wahrheit und Lüge. 1. Das Pathos der Wahrheit. 2. Die Genesis der Wahrheit. 3. " (7:19 [191])

Und tatsächlich kann Ueber das Pathos der Wahrheit unter dem ersten und Ueber Wahrheit undLüge im aussermoralischen Sinne unter dem zweiten Punkt eingeordnet werden — d.h., der Aufsatz über Wahrheit und Lüge kann als Fortsetzung ACT Ersten Vorrede, die vom Pathos der Wahrheit handelt, verstanden werden. In dem Fall freilich entsprechen die Anfangsseiten des Aufsatzes (WL) noch einmal den letzten Seiten der Vorrede (PW). Im folgenden möchte ich mich um eine dialogische Lektüre, wie ich sie im vorigen schon öfter vorgenommen habe, bemühen. Ich bin nämlich der Ansicht, daß Nietzsche in diesen Schriften mit mehreren Stimmen spricht. Der Einfachheit willen 260

m

Das Heft P I 20 (= KSA 7: 19; 7: 417-520; dazu 14: 26 und 554) wurde schon von dem Herausgeber der Großoktavausgabe (GOA — eigentlich: Nietzsche's Werke, Leipzig/Stuttgart 1894), E. Holzer. als das .Philosophenbuch' bezeichnet (GOA X, S. 499.). H. J. Mette hat diese Bezeichnung in seinem Vorbericht zu der Historisch-kritischen Gesamtausgabe (HKG, Bd 1., S. LXIII f.) übernommen — die Bezeichnung hat sich dann weitgehend durchgesetzt. Auch Schlechta verwendet den Ausdruck in seiner Arbeit zu Nietzsches philosophischen Anfängen (K. Schlechta / A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart, Bad Cannstatt 1962). Dort heißt es: „Eine unvoreingenommene Lektüre dieses handschriftlichen Nachlasses ergibt als Hauptthemen: der Philosoph, die Philosophie, Erkenntnis, Wissenschaft, Wahrheit, Lüge, Kunst" (a.a.O., S, 25). Nach Schlechta drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, „daß die ganze Sammlung auf die Abhandlungen Ueber das Pathos der Wahrheit (1872) und Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) orientiert ist, daß die Aufzeichnungen also als Vorstufen zu diesen Texten zu verstehen sind" (a.a.O., S. 14 f., 20 ff., 37 ff. und 98). Colli-Montinari betrachten als Hauptthemen: den Philosophen, des weiteren die Fragen der Wahrheit und deren Werts, des Kampfes von Kunst und Erkenntnis, des Werts der Lüge und der historischen Entwicklung der griechischen Philosophie (vgl. 14: 544). Welchen Akzent ich setze, macht im folgenden mein Text ersichtlich. Siehe 14: 106 und 113.

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werde ich mich darauf beschränken, drei Stimmen herauszustellen. Die erste spricht von der Unsterblichkeit des Selbstseins, von der auf ewig geltenden Verbindlichkeit des großen Augenblicks — die zweite dagegen betont die Vergänglichkeit alles Seienden sowie auch der Zeiten und Ansichten. Darüber hinaus gibt es eine dritte Stimme, die auf eine Lösung des Konflikts hinarbeitet. Ich hoffe zeigen zu können, daß Nietzsche in erster Linie die Zwiespältigkeit, welche dem seitesten Augenblick der Erleuchtung eignet, vor Augen zu führen bestrebt ist. Die selbe Zwiespältigkeit, die dem großen Augenblick auszeichnet, haftet auch dem großen Menschen und darüber hinaus noch der monumentalen Historie an, welche den Nachfahren die Erinnerung an das Große vermitteln soll. Dadurch, daß ich diesen Hintergründen nachgehe, versuche ich nicht nur Nietzsches Vorstellung vom Monumentalen zu klären, sondern hoffe darüber hinaus, meine bisherigen Darlegungen untermauern zu können: Zu zeigen ist, daß — nach Nietzsches Vorstellungen—die monumentale Historie der Vermittlung des wahrhaft großen, d.h. gerechten Menschen dienen soll. Zuvor aber hoffe ich ersichtlich machen zu können, daß der wahrhaft große Mensch sich dadurch auszeichnet, daß ihm die Erleuchtung widerfahren ist, daß er die Zwiespältigkeit, die seinem Pathos innewohnt, erkannt hat und daß er es versteht, deren Mitte zu wahren. Natürlich mußte ich mich auch hier wieder auf die für mein Anliegen wichtigsten Momente beschränken. Eine Rekonstruktion oder auch Genese war nicht vorgesehen; bei der vorliegenden Studie handelt es sich ja nicht um eine historische, sondern um eine systematische Interpretation von Nietzsches Frühwerk.

1. Vom großen Augenblick des Selbstseins Zu Nietzsches Vorrede „ Ueber das Pathos der Wahrheit" 1. Zu Beginn der Schrift Ueber das Pathos der Wahrheit skizziert Nietzsche das Ereignis einer nunmehr verbindlichen Erfahrung — gemeint ist die unhistorische Erfahrung, welche in meinem zweiten Kapitel erörtert wurde. Zunächst macht Nietzsche auf eine Schopenhauer-Stelle aufmerksam, in der vom Ruhm die Rede ist. Nach Schopenhauer bietet der Ruhm dem Menschen den köstlichsten Bissen seiner Eigenliebe, Nietzsche aber glaubt eine tiefergreifende Problematik erkennen zu können. Er vermerkt, daß der Ruhm an die seltensten Momente des seltensten Menschen angeknüpft ist. Dazu heißt es dann:

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„Dies sind die Momente der plötzlichen Erleuchtungen, in denen der Mensch seinen Arm befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt, Licht aus sich schöpfend und um sich ausströmend. Da durchdrang ihn die beglückende Gewißheit, daß das, was ihn so in's Fernste hinaus hob und entrückte, also die Höhe dieser einen Empfindung, keiner Nachwelt vorenthalten bleiben dürfe; in der ewigen Noth wendigkeit dieser seitesten Erleuchtungen für alle Kommenden erkennt der Mensch die Nothwendigkeit seines Ruhms; die Menschheit, in alle Zukunft hinein, braucht ihn, und wie jener Moment der Erleuchtung der Auszug und der Inbegriff seines eigenstes Wesens ist, so glaubt er als der Mensch dieses Momentes unsterblich zu sein, während er alles Andere, als Schlacke, Fäulniß, Eitelkeit, Thierheit, oder als Pleonasmus von sich wirft und der Vergänglichkeit preisgiebt." (PW: 755, 7-21)

Die Stelle ist von einer kaum zu überbietenden Fülle und Dichte, weshalb es erlaubt sein mag, auf die verschiedenen Momente aufmerksam zu machen. Nietzsche spricht von einer Erleuchtung. Diese ist nicht ausschließlich intellektuellen Charakters, denn es handelt sich um die „Höhe dieser einen Empfindung". Auf eine solche Erfahrung ist der Mensch nicht vorbereitet. Sie ist nicht nur äußerst selten, sondern auch plötzlich, sie entrückt ihn und zwar in das Fernste hinaus. Für diesen Augenblick verwandelt der Mensch sich in eine lichtspendende Quelle, Licht aus sich schöpfend und um sich ausströmend. Die Erfahrung vermittelt ihm die „beglückende Gewißheit, daß [...] die Höhe dieser einen Empfindung, keiner Nachwelt vorenthalten bleiben dürfe". Was damit im Grunde gemeint ist, kann eine von ColliMontinari angeführte Vorstufe ersichtlich machen — dort heißt es: „[...] < die Menschheit, in alle Zukunft hinein, braucht uns > und d.h. sie braucht uns in unsren höchsten Augenblicken — dann nämlich sind wir ganz wir selbst, alles andere ist Schlacke, Morast, Eitelkeit, Vergänglichkeit. [...]" (14: 106-107: 755 16-756 6; Hervorhebung nicht im Original).

Demnach betrifft die „eine Empfindung" den Augenblick des Ganzseins, der Selbstwerdung, den Moment der Individuation. Aus dieser Erfahrung folgert der Erleuchtete die „Nothwendigkeit seines Ruhms". Das heißt, daß diese höchst persönliche Erfahrung, die „Auszug und Inbegriff seines eigenstes Wesens ist", ihm nicht nur eine weitere, über das Persönliche hinausreichende, sondern eine geradezu universale Verbindlichkeit vermittelt. Dieses Setzen hat weltstiftenden Charakter. Es geht um einen solchen Augenblick, in dem „der Mensch seinen Arm befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt". Mithin setzt der Mensch eine Zäsur: Er unterscheidet zwischen Wesen undKontingenz, zwischen Ewigem (oder Unsterblichem) und Vergänglichem. Letzteres wirft er „als Schlacke, Fäulniß, Eitelkeit, Thierheit, oder als Pleonasmus von sich". Er unterscheidet zwischen Verbindlichem und Unverbindlichem und gewissermaßen schon zwischen Recht und Unrecht, nämlich im Sinne des Unterschieds zwischen Fug und Unfug — zwischen Sollen und Sein. Wie kaum eine andere Stelle im Frühwerk gewährt dieser Passus uns den unmittelbaren Einblick in das bewegende Moment, auf das Nietzsches Philosophieren zurückgeht. —

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Doch dann erinnert Nietzsche daran, daß, diesem Empfinden entgegen, dennoch letzten Endes alles vergeht. Es folgt die Stelle, welche, leicht variiert, in das zweite Kapitel der Historienschrift eingegangen ist. Ich zitiere einen Ausschnitt aus der Fassung in Ueberdas Pathos der Wahrheit: „Daß aber ein Augenblick höchster Welt-Vollendung gleichsam ohne Nachwelt und Erben, wie ein flüchtiger Lichtschein verschwände, beleidigt am allerstärksten den sittlichen Menschen. Sein Imperativ vielmehr lautet: das, was einmal da war, um den Begriff .Mensch' schöner fortzupflanzen, daß muß auch ewig vorhanden sein. Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß sie, als Höhenzug, die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden, daß für mich das Größte einer vergangnen Zeit auch groß ist und daß der ahnende Glaube der Ruhmbegierde sich erfülle, das ist der Grundgedanke der Kultur." (PW: 756, 9-16)

Diese Fassung hat den Vorzug, daß sie im ersten Satz explizit vom „Augenblick höchster Welt-Vollendung" (756, 6-7) spricht. Damit verweist sie auf den großen Augenblick des unhistorischen Moments, auf den Moment der Selbstwerdung, der zuvor (S. 89 ff.) erörtert wurde. Daß „der ahnende Glaube der Ruhmbegierde sich erfülle" (756, 14-15), ist nicht nur der Grundgedanke der Kultur. Nein, es ist auch eine ,Aufgabe". Es ist „das Problem der Bildung, bedingt durch die Schwierigkeit der Tradition", wie es in der bereits einmal angeführten Vorstufe heißt. 262 Demnach steht auch die Aufgabe, den Augenblick der Selbstwerdung weiterzuvermitteln, im Blick. Die Fassung, die für den achten Abschnitt der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen vorgesehen war, bestätigt dies. Dort spricht Nietzsche vom „Grundgedanke < n > der Humanität", derdarin besteht, „daßder ahnende Blick der Ruhmbegierde seine Erfüllung schaue".263 Der „ahnende Blick" zielt auf den Augenblick der Erfüllung, d.h. auf den Moment, in dem eine umgreifende Individuation erzielt wird. Es sollte beachtet werden, daß, während in den hier angeführten Fassungen die Zusammenhänge offenkundig sind, dies in der Historienschrift weit weniger der Fall ist. Daß die obige Interpretation zutrifft, geht aus dem nächsten Absatz von Ueberdas Pathos der Wahrheit hervor. Nietzsche schildert die Reaktion derjenigen, die nicht nur vor dem Augenblick des Gewissens fliehen, sondern auch den Grundgedanken der Kultur, nämlich daß das Größte einer vergangenen Zeit auch für uns noch groß ist, und die Ansicht, daß es Aufgabe der Bildung ist, den ahnenden Glauben der Ruhmbegierde zu erfüllen, entschieden abstreiten: „An der Forderung daß das Große ewig sein soll, entzündet sich der furchtbare Kampf der Kultur; denn alles Andere, was noch lebt, ruft Nein! Das Gewöhnte, das Kleine, das Gemeine, alle Winkel der Welt erfüllend, als schwere Erdenluft, die zu athmen wir Alle

262

Siehe 14: 107.

263

Siehe 14: 111 — die Stelle wird hier S. 171, Anmerkung 267 im Kontext angeführt.

170

Geschichte und Gerechtigkeit verdammt sind, um das Großequalmend, wirft sich hemmend, dämpfend erstickend trübend täuschend in den Weg, den das Große zur Unsterblichkeit zu gehen hat." (PW: 756:17-23; vgl. UB II: 259,18-24)

Nietzsche zufolge vermag das Große dennoch seine Wirkung zu tun. Allerdings gerät seine Darstellung an diesem Punkt ein wenig aus den Fugen, denn es werden unterschiedliche Themen vermischt: 1. die Vergänglichkeit jener Augenblicke der Erleuchtung, 2. die Vergänglichkeit, welche auch die Existenz der großen Einzelnen prägt, und 3. die Vergänglichkeit der Erinnerung an das Große. Was den ersten Punkt anbelangt, so scheint dies Nietzsche nicht weiter zu kümmern. Daß das der Fall sein soll, leuchtet aber nicht unbedingt ein: Wenn es schon die Aufgabe der Bildung ist, solche Augenblicke herbeizuführen, so muß ihr weiteres Ziel doch wohl darin liegen, sie zu beständigen — eine Ansicht übrigens, die von Nietzsche an anderer Stelle explizit vertreten wird.264 Damit komme ich zum zweiten Punkt: In betreff der Vergänglichkeit des großen Einzelnen vertritt Nietzsche die Ansicht, daß der große Mensch aus der Gewißheit seiner Unsterblichkeit heraus dem Tod unbeschwerten Herzens ins Auge sieht.265 Weiter unten führt er aber aus, daß die Unsterblichkeit des Großen keineswegs gesichert ist!266 Zum dritten: Daß auch die Möglichkeit, die Erinnerung an das Große könne ausgelöscht werden, ihm Sorge bereitet, macht erst die Historienschrift ersichtlich — gehen wir kurz darauf ein: In der Historienschrift wird die Stelle aus Ueber das Pathos der Wahrheit, die S. 169 angeführt wurde, zum einen verkürzt, zum anderen erweitert: „Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei — das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht." (UB II: 259,12-18)

Wie man sieht, wurden die Sätze, welche vom Augenblick höchster Welt-Vollendung und vom Imperativ des sittlichen Menschen handeln, in dieser Fassung gestrichen. Der Grundgedanke der Kultur, nämlich daß der ahnende Glaube der Ruhmbegierde sich erfülle, ist durch den Glauben an die Humanität abgelöst worden. Dieser Glaube aber — und dies ist den früheren Fassungen gegenüber ein Zusatz — spricht sich in der Forderung einer monumentalischen Historie aus. Auch zu den Widersachern zum Grundgedanken der Kultur und zur Bildungsaufgabe findet sich in der Historienschrift ein zusätzlicher Satz. Denn werden die

264 265 266

Vergleiche weiter oben S. 95, Anmerkung 137. PW: 756, 30 - 757, 8 und UB II: 259, 32 - 260, 11. PW: 759, 20 ff.

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Sätze, welche uns schon in der Ersten Vorrede begegneten, nur leicht variiert („Gerade aber an dieser Forderung, dass das Grosse ewig sein solle, entzündet sich der furchtbarste Kampf. Denn alles Andere, was noch lebt, ruft Nein." (UB II: 259,1821; vgl. PW: 756,17-19)), so heißt es anschließend lapidar: „Das Monumentale soll nicht entstehen — das ist die Gegenlosung." (259,21-22)

Diese Änderungen gehen zum Teil auf die Fassung zurück, die für den achten Abschnitt der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen vorgesehen war.267 Dort ist das „Größte" (PW: 756,14) schon durch das „Höchste" (vgl. UBII: 259,15) abgelöst und der „Grundgedanke der Kultur" (PW: 756, 15-16) bereits von dem „Grundgedanken der Humanität" (vgl. UBII: 239,16-17) ersetzt worden. Die wichtigsten Änderungen, welche die Stelle in der Historienschrift den früheren Fassungen gegenüber aufweist, sind also: 1. daß der Satz, der von dem Augenblick höchster Welt-Vollendung spricht und der auf den großen Augenblick der Erleuchtung verweist, in der Historienschrift fehlt; und 2. daß nunmehr eine monumentale Historie gefordert wird, die die Erinnerung an das Große wachhalten und weitervermitteln soll. Wie mir scheint, wird durch die erste Änderung dem Leser den Blick auf die Erfahrungsgrundlage, auf die Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie zurückgeht, verstellt — zumal der Anfang von Ueber das Pathos der Wahrheit, der vom Augenblick der Erleuchtung handelt, in der Historienschrift ganz und gar fehlt. Infolge dessen leuchtet auch Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie nicht unbedingt ein. Denn es stellt sich nicht nur die Frage, wovon sie im Grunde handelt, sondern auch, wer sie verfassen soll. — Jetzt aber zurück zu Ueber das Pathos der Wahrheit:

2.

In dem Absatz, den es jetzt zu erörtern gilt, wendet Nietzsche sich einer bestimmten Art der „Ruhmsüchtigen" zu: dem Philosophen. Von allen Menschen, denen jemals eine Erleuchtung widerfahren ist, sind die Philosophen sich ihrer selbst am meisten gewiß: 267

Siehe 14: 110 -112. Dort heißt es u.a.: „Daß aber ein Augenblick höchster Welt-Vollendung gleichsam ohne Nachwelt, wie ein flüchtiger Lichtschein, verschwände, beleidigt am allerstärksten den sittlichen Menschen. Vielmehr lautet sein Imperativ: das, was einmal da war, den Begriff Mensch ins Schönere fortzupflanzen, das muß auch ewig vorhanden sein. Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin, sich verbindet, daß für mich das Höchste eines solchen längst vergangenen Momentes noch lebendig hell und groß ist und daß der ahnende Blick der Ruhmbegierde seine Erfüllung schaue, das ist der Grundgedanke der Humanität." Und dann: „An der Forderung, daß das Große ewig sein soll, entzündet sich der furchtbare Kampf der Humanität." (14: 111)

172

Geschichte und Gerechtigkeit

„Ihr Wirken weist sie nicht auf ein .Publikum', auf die Erregung der Massen und den zujauchzenden Beifall der Zeitgenossen hin; einsam die Straße zu ziehn gehört zu ihrem Wesen. Ihre Begabung ist die seltenste und in einem gewissen Betracht unnatürlichste in der Natur, dazu selbst gegen die gleichartigen Begabungen ausschließend und feindselig. Die Mauer ihrer Selbstgenügsamkeit muß von Diamant sein, wenn sie nicht zerstört und zerbrochen werden soll, denn alles ist gegen sie in Bewegung, Mensch und Natur. Ihre Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andere, und doch kann Niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, auf ihr zum Ziele zu kommen, weil er gar nicht weiß, wo er stehen soll, wenn nicht auf den weit ausgebreiteten Fittigen aller Zeiten; denn die Mißachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt in der Art des philosophischen Betrachtens. Er hat die Wahrheit; mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehen können." (PW: 757, 11-28)268 Aber am Beispiel Heraklit legt Nietzsche dar, daß der Selbstgewißheit der Philosophen unbeschadet ihre Lehren sich dennoch als vergänglich herausstellen. Zuerst schildert er die geradezu beispiellose Selbstsicherheit des Heraklit: „Ob es gleich von ihm ,ohne Lachen, ohne Putz und Salbenduft', vielmehr wie mit .schäumendem Munde' verkündigt wird, es muß zu den tausenden Jahren der Zukunft dringen. Denn die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit, obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht ihn sein Ruhm an! .Der Ruhm bei immer fortfließenden Sterblichen! ', wie er höhnisch ausruft. Das ist etwas für Sänger und Dichter, auch für die, die vor ihm als .weise' Männer bekannt geworden sind — diese mögen den köstlichsten Bissen ihrer Eigenliebe hinunterschlucken, für ihn ist diese Speise zu gemein. Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn; seine Eigenliebe ist die Liebe zur Wahrheit — und eben diese Wahrheit sagt ihm, daß ihn die Unsterblichkeit der Menschheit brauche, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit." (PW: 759, 6-19) Sodann folgt, kalt und spröde, die Entgegnung: „Die Wahrheit! Schwärmerischer Wahn eines Gottes! Was geht die Menschen die Wahrheit an! Und was war die Heraklitische .Wahrheit'! Und wo ist sie hin? Ein verflogener Traum, weggewischt aus den Mienen der Menschheit, mit anderen Träumen! — Sie war die Erste nicht!" (PW: 759, 20-25) Nietzsche unterläßt es zunächst, letztere Ansicht zu begründen. Er beschränkt sich auf den Hinweis, daß die Begriffe Weltgeschichte, Wahrheit und Ruhm allesamt als Metapher zu verstehen sind — was damit im einzelnen gemeint ist, geht erst aus dem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen

Sinne (und der Schrift

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen) hervor, mit dem wir uns im folgenden befassen werden. Diese jähe Wende hat m.E. einen zwiefachen Grund.

268

Diese Stelle, wie auch deren Fortsetzung, begegnet uns von neuem in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen — vergleiche PW: 757, 11 - 759, 19 mit PhZG: 883, 19 - 885, 24. Außerdem teilen Colli-Montinari in ihrem Kommentar (14:108) mit. daß Nietzsche in der „druckmanuskriptartige < n > Fassung" (gemeint ist das Heft U I 8) der PhZG auch die ersten Seiten von PW (nämlich PW: 755, 4 -757, 8) verwendet hat. und zwar anschließend an 835, 27 — siehe dazu 14: 110-112.

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Der erste ist, daß es Nietzsche nicht gelingt (oder daß es ihm unmöglich vorkommt), die vielen von den Philosophen vorgetragenen Lehren mit der einen Empfindung zu vereinbaren.269 Daß dies der Fall ist, kann etwa anhand der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen belegt werden. Dort heißt es: „Nun sind philosophische Systeme nur für ihre Gründer ganz war: für alle späteren Philosophen gewöhnlich Ein großer Fehler, für die schwächeren Köpfe eine Summe von Fehlem und Wahrheiten. Als höchstes Ziel jedenfalls aber ein Irrthum, insofern verwerflich." (PhZG: 801, 5-10).

In dieser Schrift vertritt Nietzsche die Ansicht, daß alle philosophischen Lehren als anthropologische Metaphern zu betrachten sind; er bemüht sich, diese Lehren als persönliche Zeugnisse darzulegen: „Ich erzähle die Geschichte jener Philosophen vereinfacht: ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat: es ist ein Anfang, um jene Naturen durch Vergleichung wieder zu gewinnen und nachzuschaffen und die Polyphonie der griechischen Natur endlich einmal wieder erklingen zu lassen: die Aufgabe ist das an's Licht zu bringen, was wir immer lieben und verehren müssen und was uns durch keinen spätere Erkenntniß geraubt werden kann: der große Mensch." (PhZG: 801, 21 - 802, 6). 270

269

Vergleiche dazu das siebte Kapitel der Historienschrift: „Der junge Mensch ist so heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiss er es: in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. In schwermüthiger Gefühllosigkeit lässt er Meinung auf Meinung an sich vorübergehen und begreift das Wort und die Stimmung Hölderlins beim Lesen des Laertius Diogenes über Leben und Lehren der griechischen Philosophen: ,ich habe auch hier wieder erfahren, was mir schon manchmal begegnet ist, dass mir nämlich das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast tragischer aufgefallen ist, als die Schicksale, die man gewöhnlich allein die wirklichen nennt.'" (UB II: 299, 33 -300, 9).

270

Nietzsches Verhältnis zu Diogenes Laertius ist M. Gigante nachgegangen (M. Gigante, .Friedrich Nietzsche und Diogenes Laertius' (in: T. Borsche/F. Gerratana/A. Venturelli, ,Centauren-Geburten '. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Berlin/New York 1994, S. 3-16)). Gigante zeigt, daß Nietzsches Verhältnis zum Autor vom Leben der Philosophen zwiespältig ist: Zwar betrachtet Nietzsche dessen Werk als das eines Diebes, eines unverschämten, dummen und unfähigen Abschreibers, doch ist der Autor Nietzsche auch ein Vorbild, nämlich in seiner Art, anekdotenhaft und nicht systematisch lesbare Kapitel der Geschichte der Philosophie zu schreiben (a.a.O., S. 5 und 15). Allerdings ist dies wohl kaum eine hinreichende Erklärung dafür, daß Nietzsche die zuvor angeführte Stelle aus der Ersten Vorrede hier von neuem verwendet, ihr aber einen ganz anderen Schluß gibt (vergleiche PW: 757, 11 - 759, 19 mit PhZG: 833. 19 - 835, 24). Denn während es in der Ersten Vorrede heißt: „Die Wahrheit! Schwärmerischer Wahn eines Gottes! Was geht die Menschen die Wahrheit an! Und was war die Heraklitische .Wahrheit'! Und wo ist sie hin? Ein verflogener Traum, weggewischt aus den Mienen der Menschheit, mit anderen Träumen! — Sie war die Erste nicht!" (PW: 759, 20-25). so lesen wir in der PhZG:

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Darüber hinaus gibt es einen zweiten Grund, weshalb Nietzsche in Ueber das Pathos der Wahrheit an der Möglichkeit der Wahrheit verzweifelt. Mit Bezug auf jene „stolze Metapher" (759, 27) schiebt er eine kurze Fabel ein — welche zu verfassen, er allerdings nur einem gefühllosen Dämon (759, 26) zutraut: „,In irgend einem abgelegnen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. Es war auch an der Zeit; denn ob sie schon viel erkannt zu haben, sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, daß sie alles falsch erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Thiere, die das Erkennen erfunden hatten.'" (759, 29 - 760, 6) Nach Nietzsche würde eine solche Erkenntnis den Menschen zur Verzweiflung und Vernichtung treiben, denn er käme zwangsläufig zu dem Schluß, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein. 271 Einer solchen Erkenntnis wäre nur ein gefühlloser Dämon gewachsen. 272 Dem Menschen dagegen gezieme der Glaube — der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion.273 Diese Ansicht wird von Nietzsche nur kurz erläutert: „Lebt < d > e r < Mensch> nicht eigentlich durch ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt ihm die Natur nicht das Allermeiste, ja gerade das Allernächste z. B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches .Bewußtsein' hat? In diesem Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg. O der verhängnißvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend." (PW: 760,12-23) Der Passus wird vor allem in der älteren Nietzsche-Literatur immer wieder angeführt. Man glaubt erst hier auf den .eigentlichen' Nietzsche zu stoßen. Jedoch führt die Stelle leicht in die Irre.274 Man sollte Folgendes klar erkennen: Während Nietz-

„Das, was er schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit. muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen" (PhZG: 835, 24-27). Ich kann mir diese Wende nur so erklären, daß Nietzsche (trotz des Anthropomorphismus einer jeden Philosophie) in der Lehre Heraklits dennoch ein die Zeiten überdauerndes Moment erkennt. 271 PW: 760, 8-10. 272 Vergleiche den „ k a l t e < n > Dämon der Erkenntniss" (UB II: 286, 18). 27.1 p\y. 760, 10-12. Diese Begriffe sind dann in die Historienschrift eingegangen — siehe UB II: 296, 12-15. Vergleiche hier S. 205. 2,4 Wie Salaquarda zu Recht betont, ist die Ansicht, daß hier ein Bruch vorliegt, auf Unkenntnis des frühen Nachlasses zurückzuführen (J. Salaquarda, .Nietzsche und Lange' (in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 236-260), S.238-239; J. Salaquarda, ,Das wahre Selbst über dir. Überlegungen zu Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches' (in: E. Biser (Hrsg.), Besieger des Gottes und des

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sehe am Anfang der Vorrede zu jener anfänglichen Erfahrung des Ganz- und Selbstseins zurückfindet, die (nach meinem Dafürhalten) allem Reden vom beständigen Subjekt zugrunde liegt, verzweifelt er an dieser Stelle an die Möglichkeit einer jeden verbindlichen Erkenntnis. Gleichwohl scheint er eine Aussage über den wahren Charakter der Welt zu machen, nämlich daß sie gierig, unersättlich, mörderisch und raubtierhaft sei — nur dem Wesen eines Tigers vergleichbar.275 Die Wahrheit, welche durch die Spalte erkennbar ist, ist aber nicht diejenige, von der die großen Philosophen sprechen. Es handelt sich nicht um jene ausgezeichnete und im Sinne des Höchsten einmalige Erfahrung, die nunmehr angenommen und als universal verbindlich verbreitet wird. Nein, im Blick stehen vielmehr der Urschmerz und das Urleiden, die laut der Geburt der Tragödie mit dem Urwiderspruch als dem unbändigen Gier nach dem Dasein zusammengehen276; gemeint ist die Erkenntnis vom Walten der ungezügelten und ungebändigten Leidenschaften als der nächsten dummen Tatsächlichkeit unserer Existenz, wie es in der Historienschrift heißt.277 Nietzsche stellt also dem philosophischen Schlüsselerlebnis ein anderes entgegen: Der „beglük-

275

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Nichts. Nietzsches fortdauernde Provokation, Düsseldorf 1982, S. 24-51), S. 32, Anmerkung 28 und S. 32-33; vgl. auch J. Salaquarda, .Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie' (in: M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einführung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 27-61) S. 40). So Schlechta: „Merkwürdigerweise nämlich sieht sich Nietzsche bei allem erkenntnistheoretischen Pessimismus doch in der Lage, über den Charakter der wahren Welt eine Aussage zu machen. Die .Natur' ist gierig, unersättlich, mörderisch, raubtierhaft — nur dem Wesen eines Tigers vergleichbar." (K. Schlechta/A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart, Bad Cannstatt 1962, S. 17). Meines Erachtens macht Nietzsche hier vielmehr den Versuch, seine Erfahrung der ersten Natur in ein Bild zu fassen. Vergleiche GT: 135, 28-32: „Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten zerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen?" Vergleiche auch die Stelle aus der Dritten Vorrede, Der griechische Staat, die zuvor (S. 87, Anmerkung 125) schon einmal angeführt wurde: „Was in dieser entsetzlichen Constellation der Dinge leben will das heißt leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen ,welt- und erdgemäß Organ' fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als Werden. Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist eins." (GS: 768. 25-32; dazu die Vorstufe 7: 10 [1]; 7: 340. 25-29) UB II: 311, 7-8; vergleiche dazu GT: das ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen..." (GT: 45, 16-18). J. Salaquarda bemerkt in diesem Zusammenhang: „ < Schopenhauer war> zu der Überzeugung gekommen, daß wir durch die Selbsterfahrung einen unmittelbaren Zugang zu unserem Wesenskem erhalten und somit an einer Stelle wenigstens zum Ding an sich vordringen. Dabei zeige sich dieses als Wille und in Analogie dazu können wir dann das Ding an sich überhaupt als eine Art Wille verstehen. Diese Spekulation hat den jungen Nietzsche eine Zeit lang angezogen, noch in der Geburt der Tragödie spricht er vom ,Ur-Einen' und beschreibt es mit Hilfe von Begriffen, die der Schopenhauerschen Metaphysik entstammen." (J. Salaquarda. .Das wahre Selbst über dir. Überlegungen zu Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches' (in: E. Biser (Hrsg.), Besieger des Gottes und des Nichts. Nietzsches fortdauernde Provokation. Düsseldorf 1982, S. 24-51). S. 31).

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kenden Gewißheit" (755,10) stellt er die „Gleichgültigkeit des Nichtwissens" (760, 22), dem Großen und Einmaligen stellt er das Gemeine und Zerstreute gegenüber.

3. Damit kommen wir jetzt zum letzten Absatz von Ueber das Pathos der Wahrheit: „ .Laßt ihn < gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in seinen Träumen > hängen', ruft die .Weckt ihn auf' ruft der Philosoph, im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer — vielleicht träumt er dann von den ,Ideen' oder von der Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntniß, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur — die Vernichtung. —" (PW: 760, 24-30)

Kunst.

Im Rahmen der ganzen Vorrede ist dieser Absatz, mit dem die kurze Schrift endet, wohl besonders schwer verständlich — jedenfalls ist es mir, auch nach mehrfach wiederholtem Überlegen, zunächst nicht gelungen, ihm einen schlüssigen Sinn abzugewinnen: In den beiden ersten Sätzen des letzten Absatzes werden Kunst und Philosophie einander gegenübergestellt: Dem „Laßt ihn hängen" steht das „Weckt ihn auf", der Kunst steht die Philosophie entgegen. Daß Nietzsche das „Pathos der Wahrheit" (760, 25) der Philosophie zuordnet, heißt m. E., daß es vom „Imperativ " (756, 9) zu unterscheiden ist. Ein weiterer Grund dafür ist, daß anderenfalls der Zusammenhang mit dem vorangehenden Absatz gestört wäre. Dort hieß es zum Schluß: „O der verhängnißvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheitszimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt". Der genitivus exclamationis dürfte zu erkennen geben, daß die Erkenntnis des Philosophen letzten Endes die Vernichtung des Lebens herbeiführt, wie es dann im Schlußsatz des nächsten und letzten Absatzes der Vorrede heißt (760, 29-30). Wahrscheinlich ist, daß die „Kunst" (760, 24) das Werk der großen Künstler und Philosophen (des Heraklit z. B.) bedeutet und daß die Kunst, also die künstlerische Philosophie, die Welt je von neuem schafft, und zwar aus der Perspektive der „einen Empfindung" (755, 12). Wobeidas „Gierige" ausgegrenzt beziehungsweise gebändigt wird. Aber auch in dem Fall muß das hier genannte „Pathos der Wahrheit" etwas anderes bedeuten als dasjenige Pathos, das mit der „einen Empfindung" einhergeht. Denn in diesem Fall steht der künstlerischen Philosophie die unkünstlerische oder auch wissenschaftliche Philosophie gegenüber. Es wäre also die unkünstlerische Philosophie, die durch eine verhängnisvolle Neubegier getrieben wird und so leztendlich die Vernichtung des Lebens herbeiführt. Andererseits leuchtet ein, daß der zweitletzte Satz des letzten Absatzes der Vorrede dem widerspricht. Denn dort heißt es: „Docherselbst < , d.h. der Philosoph, >

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versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer — vielleicht träumt er dann von den .Ideen' oder von der Unsterblichkeit." (760, 25-28) Zunächst ist nicht einzusehen, weshalb diese Art von Philosophie die Vernichtung des Lebens herbeiführen sollte. Sie vermittelt ja keineswegs die Erkenntnis, welche der Fabel jenes gefühllosen Dämons entspräche (759, 29 - 760, 6).278 Würden wir uns aber für die Lösung entscheiden, daß es also zwischen dem „Laßt ihn hängen" und dem „Weckt ihn auf" gar keinen Gegensatz gibt, weil Kunst und (große oder wahre) Philosophie letzten Endes dasselbe wollen, so würde dies meiner Meinung nach dem letzten Satz der Schrift widersprechen. Dort heißt es: „Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntniß, denns/e will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur — die Vernichtung. —" (760, 28-30). Die „Erkenntniß" (760, 29), von der hier die Rede ist, verweist eindeutig auf die verhängnisvolle Neubegier, die im vorletzten Absatz erwähnt wird. Dieses und jenes führt uns zu dem Schluß, daß das „Pathos der Wahrheit" (760, 25) an dieser Stelle die „verhängnißvolle Neubegier" (760, 17) bedeutet.279 Nun könnte man freilich einwenden, daß das ja von vornherein klar sei — denn der Imperativ des sittlichen Menschen (756, 9) wird im Text der Vorrede nirgendwo explizit als Pathos der Wahrheit bezeichnet. Das stimmt natürlich. Aber wie mir scheinen will, bezieht der Titel der Vorrede (Ueber das Pathos der Wahrheit) sich eben auf diesen Imperativ, also auf die Selbstgewißheit, welche die große Philosophen im Hinblick auf ihre Unsterblichkeit hegen. Aber vielleicht sind wir mit diesen Überlegungen dennoch auf dem Holzweg. Nehmen wir vielleicht die Fabel nicht ernst genug? Ist es vielleicht doch Nietzsches Ansicht, daß gerade die großen philosophischen Systeme zur Vernichtung führen? Bedeutet die Erfindung des Erkennens ihm tatsächlich die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte? Es gibt Indizien, welche dies zu bestätigen scheinen. So lesen wir in einer längeren Nachlaßnotiz, die überschrieben ist:,Über die Lüge', die Sätze: „[...] Die Fundamente alles Großen und Lebendigen ruhen auf der Illusion. Das Wahrheitspathos führt zum Untergang. (Da liegt das .Große'.) Vor allem zum Untergang der Kultur.

[...]" (7: 19 [180]; 7: 475, 31 - 476, 3) Was bedeutet das Wort vom Untergang der Kulturl Meiner Meinung nach bezieht es sich auf den ahnenden Glauben der Ruhmbegierde,280 darauf, daß der ahnende

278 279

280

Vergleiche oben S. 174. Wohlbemerkt: an dieser Stelle. Denn in Ueber Wahrheit und Läge im aussermoraüschen Sinne verweist der Ausdruck „Pathos" (875. 18) tatsächlich auf die wahrheitschaffende Begeisterung, welche dem Menschen über die große Erfahrung des Selbstseins vermittelt wird. PW: 756, 14-15.

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Blick der Ruhmbegierde seine Erfüllung schaut,281 auf den Glauben an die Humanität282. Wenn dies zutreffen sollte, so wäre der Mensch gerade im Moment der Erleuchtung, im großen Augenblick der einen Empfindung, das heißt in dem Moment, in dem er ganz und gar er selbst ist, am höchsten gefährdet. Außerdem wäre er nicht nur selbst gefährdet, sondern stellte auch eine Gefahr für seine Mitmenschen dar. Kurz: das Wahrheitspathos würde die Sache der Individuation gefährden?!283 Die Frage, wie diese Gefahr zu verstehen ist, wollen wir im folgenden zu klären versuchen. Dabei kann uns der letzte Absatz von Ueber das Pathos der Wahrheit eine Hilfe sein. Zwar ist er für sich und auch im Rahmen der ganzen Vorrede ziemlich unverständlich, doch wird einiges verdeutlicht, wenn man die nachgelassenen Aufzeichnungen dieser Schaffensperiode heranzieht.

2. Vom zwiespältigen Pathos des Philosophen In der zweiten Hälfte des Jahres 1872 macht Nietzsche sich u. a. Gedanken über die Gestalt des Philosophen. In diesem Zusammenhang finden sich mehrere Titelentwürfe. Einer von ihnen lautet: „Der Philosoph Betrachtungen

über den Kampf von Kunst und

Erkenntniss.1,284

Hier begegnet uns also der Gegensatz, der uns im letzten Absatz von Ueber das Pathos der Wahrheit zu schaffen macht. Nietzsche bezeichnet ihn als Kampf. Dieser Kampf wird in den danach folgenden Notizen erläutert, doch finden sich schon vor diesem Titelentwurf andere Aufzeichnungen, die dem hier aufgestellten Gegensatz thematisch entsprechen. Nietzsches diesbezügliche Überlegungen im einzelnen aufarbeiten zu wollen würde uns entschieden zu weit führen, weshalb ich mich darauf beschränke, den Gegensatz anhand von einigen wenigen, meist dem Titelentwurf nachgeordneten Notizen kurz zu erörtern. 1. Die Notiz 19 [106] sagt uns: „ Kämpfen für eine Wahrheit und kämpfen um d i e Wahrheit ist etwas ganz Verschiedenes." ( 7 : 1 9 [106]; 7: 454; 9-10)

281 282 m 284

Vergleiche 14: 111. UB II: 259, 17. Vergleiche die Vorstufe zu PW, welche Colli-Montinari 14: 107 (756 11-16) anführen. 7: 19 [98]; 7: 452, 14-16.

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Meines Erachtens hat Nietzsche hier einmal den Kampf vor Augen, den der einzelne Philosoph kämpfen muß, um seine Erleuchtung gestalten und durchsetzen zu können. Dies ist der Kampf „für eine Wahrheit". Darüber hinaus hat er den Kampf zwischen mehreren Wahrheiten im Blick. Dagegen wird der Kampf „um die Wahrheit" gewissermaßen auf einem Metaniveau geführt — er ist also von dem Kampf zwischen mehreren Wahrheiten zu unterscheiden. Daß dies der Fall ist, macht die folgende Aufzeichnung ersichtlich. In 19 [43] (also bereits vordem Titelentwurf) heißt es: „[...] Wie kommt es [...], daß ein logisches Wahrheitsbeweisen überhaupt stattfand? Im Kampf von, Wahrheit' und, Wahrheit' suchen sie die Alliance der Reflexion. Alles wirkliche Wahrheitsstreben ist in die Welt gekommen durch den Kampf um eine heilige Überzeugung, durch das nä&og des Kämpfens: sonst hat der Mensch kein Interesse für den logischen Ursprung." (7:19 [43]; 7: 433,12-19)

In 19 [102] finden wir diesen Gedanken noch einmal formuliert: „[...] Im Kampf solcher durch die Kraft lebenden .Wahrheiten' zeigt sich das Bedürfniß, einen andern Weg zu ihnen zu finden. Entweder von dort alles erklärend, oder von den Exempeln, Erscheinungen zu ihr aufsteigend. / Wunderbare Erfindung der Logik [...]" (7: 19 [102]; 7: 453, 3-7).

Wenn ich recht sehe, geht es um den Versuch, den Kampf zwischen den Wahrheiten im voraus zu entscheiden. Daraus erfolgt nach Nietzsche zweierlei: ein „ < a > llmähliches Überwiegen der logischen Kräfte und Beschränkung des Wissensmc£lichen",

aber auch eine „ < f > ortwährende Reaktion der künstlerischen Kräfte und Beschränkung auf das Wissenswürdige (nach der Wirkung beurtheilt)" (7: 19 [102]; 7: 453, 8-12).

Hier stellt sich also die Kunst der Erkenntnis entgegen. Die Reaktion ist nicht gewillt, es bei der Beschränkung auf das Wissensmögliche bewenden zu lassen, und bringt ihrerseits das Moment des Wissenswürdigen ins Spiel. Damit wird der Streit von neuem entfacht. Es zeigt sich nämlich, daß der Kampf „um die Wahrheit" im Grunde ebenfalls ein Kampf „für eine Wahrheit" ist. Dennoch ist dasjenige, worum gekämpft wird, jeweils etwas Grundverschiedenes. Nietzsche versucht dem Unterschied auf vielerlei Weise beizukommen: Er spricht vom Gegensatz zwischen Weisheit und Wissen, zwischen Kunst und Wissen — und zwischen Kunst und Erkenntnis.

2. Nietzsche zufolge wird dieser Kampf im Philosophen selbst ausgetragen. Die Notiz 19 [103] vermerkt:

180

Geschichte und Gerechtigkeit „ Kampf im Philosophen. Sein universaler Trieb zwingt ihn zum schlechten Denken, das ungeheure Pathos der Wahrheit, am Weitblick seines Standpunktes erzeugt, zwingt ihn zur Mittheilung und diese wieder zur Logik. Auf der einen Seite erzeugt sich eine optimistische Metaphysik der Logik — allmählich alles vergiftend und belügend. Die Logik, als Alleinherrscherin, führt zur Lüge: denn sie ist nicht die Alleinherrscherin. Das andre Wahrheitsgefühl stammt aus der Liebe, Beweis der Kraft. Das Aussprechen der beseeligenden Wahrheit aus Liebe: bezieht sich auf Erkenntnisse des Einzelnen, die er nicht mittheilen muß, aber deren überquellende Beseligung ihn zwingt." (7: 19 [103]; 7: 453,13-27)

Nietzsche führt hier zwei „Wahrheitsgefühl < e > " vor Augen: den „universale < n > Trieb" (im selben Satz auch „Pathos der Wahrheit" genannt) und die „beseeligendef.J Wahrheit aus Liebe". In beiden Fällen sieht der Philosoph sich zur Mitteilung genötigt. Insofern es erlaubt ist, die Notiz mit demjenigen zu verbinden, was in Ueber das Pathos der Wahrheit ausgeführt wird, muß man wohl auch sagen, daß der Anlaß in beiden Fällen der gleiche ist — nämlich die Erleuchtung, die eine Selbstwerdung bedeutet.285 Dennoch gibt es nach Nietzsche zwischen den beiden Wahrheitsgefühlen einen tiefgreifenden Unterschied. Worin besteht er? Vielleicht bietet der Ausdruck „universalerTrieb" einen Hinweis. Der universale Trieb, der im zweiten Satz der Notiz angeführt wird, steht m.E. den „Erkenntnisse < n > des Einzelnen" entgegen, von denen Nietzsche im letzten Satz spricht. Aber im Philosophen begegnen uns beide; dort liegen sie mit einander im Kampf. Vielleicht müssen wir schließen, daß es zwar stets die Erleuchtung ist, die den Philosophen zum Mitteilen seiner Erkenntnisse veranlaßt, daß aber dieser Trieb in sich gespalten und daher zwielichtig ist. Im Fall, daß der Philosoph sich dem Trieb nach dem Universalen hingibt, will er herrschen. Angesichts der sonstigen Wahrheiten bemüht ersieh um eine „Logik", die die Alleinherrschaft ihm sichert: Wenn er schon nicht allein ist, möchte er wenigstens urteilen können, was als Wahrheit zu gelten hat beziehungsweise wem die Wahrheit innewohnt. Im anderen Fall dagegen bescheidet der Philosoph sich damit, seine Mitmenschen mit seinen Erkenntnissen zu beschenken . Aus überquellender Beseligung, aus überschwenglicher Liebe teilt er ihnen mit, welches Glück ihm widerfahren ist. Auch er ist ganz und gar der Überzeugung, daß seine Mitmenschen seiner bedürfen, doch kommt es ihm nicht in den Sinn, sie unterwerfen zu wollen. Aber wie mir scheint, haftet auch dieser Liebe etwas zwiespältiges an. Denn der seiner selbst sichere Philosoph dürfte sich der Gefolgschaft seiner Mitmenschen

285

Daß die hier erwähnte „beseeligende Wahrheit" auf die „Höhe dieser einen Empfindung" (PW: 755, 12) verweist, mag einleuchten; wie ich meine, steht auch der „Weitblick seines Standpunktes" (7: 453, 15-16) zu den „weitausgebreiteten Fittigen aller Zeiten" (PW: 757, 23-25) in direktem Bezug.

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ohnehin sicher wähnen. Das heißt, die Beseligung, welche die eine Empfindung ihm vermittelt hat, mag ihm das Auge sosehr blenden, daß er die Existenz anderer Wahrheiten gar nicht erst wahrnimmt. Andererseits ist zu ergänzen, daß der Universaltrieb sich auch ohne das Fundament einer Erleuchtung breitmachen kann — nach meinem Dafürhalten zeigt die für einen jeden auch nur halbwegs künstlerisch veranlagten Menschen geradezu unbegreifliche Popularität der Epistemologie noch heute in der Richtung. Wenn also der Philosoph in sich gespalten ist, so lassen sich zwei extreme Positionen, zwei einander völlig entgegengesetzte mögliche Haltungen unterscheiden: im Philosophen steht dem Künstler der Richter, der Schenkende dem Überwältigenden — kurz: der Kunst die Erkenntnis gegenüber. Sofem die Wahrheit, die vom Philosophen gesetzt wird, als Moralgesetz auftritt, kann sie also unterschiedlich begründet sein — d.h., daß sie Verschiedenes beabsichtigen kann. Dieses und jenes erklärt, weshalb es fast am Anfang der zuvor erörterten Notiz 19 [102] heißt: „[...] Wahrheit als Moralgesetz — zwei Quellen der Moral [...]" (7: 19 [102]; 7: 452, 22)

Nach dem von mir Dargelegten sind die Quellen folgende: die Liebe und der Herrschaftsanspruch .

3. Freilich war die bisherige Aufarbeitung in einer gewissen Hinsicht einseitig. Meine Darlegung mag nämlich den Eindruck erweckt haben, daß die Logik ausschließlich im Streit zwischen mehreren Wahrheiten eine Rolle spielt. Natürlich ist das nicht der Fall. Wenn auch nicht unbedingt im strengen Sinn des Wortes, so bedarf doch eine jede „Mittheilung" einer gewissen Logik — dies trifft auch für die Kunst zu. Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage: Welcher ist der Unterschied zwischen Kunst und Erkenntnis? — gibt es überhaupt einen? Wie mir scheinen will, gibt es nach Nietzsche zwischen den beiden keinen grundsätzlichen Unterschied. Wohl aber machen seine Überlegungen zwei unterschiedliche Haltungen ersichtlich. Aus dereinen Haltung heraus möchte der Philosoph seine Mitmenschen beschenken, aus der anderen heraus möchte er überwältigen, herrschen. Die schenkende Haltung bemüht sich, die große Erfahrung des Selbstseins den anderen zu vermitteln. Die herrschende Haltung dagegen sucht bestenfalls das Vorhandensein dieser Erfahrung zu belegen, und dann zu beweisen, daß sie allem anderen überlegen ist. Meistens aber bescheidet sie sich damit, eine Ordnung, nämlich ihre eigene, übermitteln zu wollen.

182

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Wie eine Spinne arbeitet ein Philosoph dieses Schlags an seinem Netz, in das er die ganze Welt einfangen möchte.286 Das heißt nun wiederum nicht, daß der beschenkende Philosoph keine Ordnung vermitteln wolle. Nur ist seine Ordnung anderer Art. Sie handelt von dem Verhältnis zwischen der einen Empfindung und dem Gang der Welt. Das heißt auch, daß seine Logik anderer Natur ist. Sie beabsichtigt nicht, das eigene Recht zu beweisen, sondern sie möchte eine Erkenntnis vermitteln, nämlich wie man die große Erfahrung gewinnen und beständigen kann. In Form eines metaphorischen Gebildes, das ganz und gar seinen eigenen Erfahrungen entspricht, sucht der Philosoph, den Gang der Welt (und das heißt auch: seine eigenen Geschicke) zu deuten. Während also der schenkende oder künstlerische Philosoph es auf die Vermittlung einer Praxis abgesehen hat, ist der herrschende oder erkennende Philosoph vielmehr bemüht, die anderen in seine Theorie einzufangen. Wenn ich recht sehe, erklärt dies den Unterschied, den Nietzsche in seinen Nachlaßnotizen erwähnt, der aber durchaus auch in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zutage tritt, nämlich der Unterschied zwischen ethischen Anthropomorphismen und logischen. Zu den ethischen Anthropomorphismen rechnet

286

Ich sehe diese Interpretation durch eine Stelle im späten Nachlaß bestätigt, auf die Salaquarda aufmerksam macht (J. Salaquarda, ,Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche', (in: Studi Tedeschi, Vol. XXII (I) (1979), S. 133-160), S. 156-157) und in der sich Nietzsche rückblickend von-neuem mit diesem Problem befaßt: „Als ich jünger war, machte ich mir Sorge darüber, was denn eigentlich ein Philosoph sei: denn ich glaubte an den berühmten Philosophen entgegengesetzte Merkmale wahrzunehmen. Endlich ging mir auf, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen giebt, einmal solche, welche irgend einen großen Thatbestand von Werthschöpfungen, das heißt ehemaligen Werthsetzungen und Werthschöpfungen (logischen oder moralischen), festzuhalten haben, sodann aber solche, welche selber Gesetzgeber von Werthschätzungen sind. [...]" (11: 38 [13]; 11: 611, 21-29) Nietzsche erläutert die beiden Arten, indem er zu der ersten meint: „[...] Die ersteren suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie dieselbe durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen. Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen, die Vergangenheit zu überwältigen, alles Lange, ja die Zeit selbst abzukürzen, eine große und wundervolle Aufgabe. [...]" (11(11: 38 [13]; 11: 611, 29 - 612, 3) Zu der zweiten Art heißt es dann: „[...] Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber, sie sagen: so soll es sein! sie bestimmen erst das Wohin und Wozu des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit der philosophischen Arbeiter, jener Überwältiger der Vergangenheit. Diese zweite Art von Philosophen geräth selten; und in der That ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. [...]" (11: 38 [13]; 11: 612, 3-9) Hier finden wir also die zwei Arten wieder, welche von mir unterschieden wurden. Im übrigen entspricht auch das weitere dieser Notiz ganz dem hier von mir vorgelegten Verständnis vom philosophischen Anliegen Nietzsches.

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er das Gericht des Anaximander, das Gesetz des Heraklit und Empedokles' Vorstellung Liebe und Haß betreffend; zu den logischen zählen das Sein von Parmenides, der nous des Anaxagoras und Pythagoras' Ansicht, alles Seiende sei als Zahl zu betrachten.287 Obwohl der Gegensatz zweifellos ein wenig gewaltsam ist, ist vielleicht doch der Schluß erlaubt, daß die ethischen Anthropomorphismen den künstlerischen, die logischen aber den erkennenden Philosophen zuzuordnen sind. Die Gegenüberstellung kann nicht anders als gewaltsam sein, weil nach Nietzsche in jedem Philosophen die beiden Tendenzen oder Triebe mit einander im Kampf liegen. Mit diesen Darlegungen haben wir in betreff des Gegensatzes zwischen Kunst und Erkenntnis, der uns im letzten Absatz der Ersten Vorrede, Ueber das Pathos der Wahrheit zu schaffen machte, eine gewisse Aufklärung erzielt. Es wurde ersichtlich, daß im Philosophen zwei Tendenzen mit einander im Kampf sind. Im Philosophen tut sich ein Zwiespalt auf—das Pathos der Wahrheit, das ihn auszeichnet, ist von Grund auf zwiespältig: Es kann sowohl die umgreifende Individuation fördern als auch ihr entgegenwirken. Ob es der Sache der Gerechtigkeit dient oder nicht dient, wird demnach nicht zuletzt durch die Haltung des einzelnen Philosophen entschieden.288

287 288

7: 19 11161. M. Djuric hat sich mit dem philosophischen Pathos bei Nietzsche befaßt (M. Djuric, .Das philosophische Pathos' (in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 221-242). In diesem Rahmen erörtert er auch das Pathos der Wahrheit (a.a.O., S. 236-241). Meines Erachtens verfehlen seine diesbezüglichen Ausführungen aber den entscheidenden Punkt. Nach der Mitteilung, daß der Ausdruck in Nietzsches frühem Nachlaß an mehreren Stellen erscheint, heißt es: „Stets mit kritischem Akzent, als Kennzeichen für eine vollkommen unannehmbare Einstellung." (a.a.O., S. 236) Zwar ist Nietzsche immer kritisch, aber er betrachtet das Pathos der Wahrheit weder als eine unannehmbare noch als eine nicht anzunehmende Einstellung. Nein, sein Verhältnis zu ihm ist zwiespältig, so wie das Pathos selbst zwiespältig ist. Djuric meint des weiteren: „[..] < D > ieser Ausdruck paßt so gut zur Philosophie, daß man sich nach einem besseren überhaupt nicht umsehen müßte. Die gesamte bisherige Philosophie war von diesem Pathos wahrhaftig tief durchdrungen, zunächst im Sinne eines freien Suchens, später immer mehr im Sinne eines blindgläubigen Besitzes der Wahrheit, dieses Pathos trifft genau den Geist der traditionellen Philosophie, es drückt genau dasjenige aus, worin die Philosophie seit jeher ihren tiefsten Sinn und ihre Rechtfertigung erblickte." (a.a.O., S. 236-237) Das ist zwar nicht falsch, doch ist die Tendenz eine schiefe. Denn nicht nur die „gesamte bisherige Philosophie", sondern die Philosophie als solche wird, Nietzsche zufolge, von diesem Pathos getragen. Sofern Nietzsche die überlieferte Philosophie kritisiert, gilt seine Kritik ihrem Herrschaftsanspruch — und zwar deswegen, weil er die Individuation (wenigstens die der anderen) hindert und somit der Gerechtigkeit entgegenwirkt, anstatt sie zu fördern. Auch ist das philosophische Pathos Nietzsches keineswegs ein ganz anderes (a.a.O., S. 238 ff.), vielmehr wird der Akzent verlagert: Nietzsche ist sich nämlich darüber im klaren, daß seine Philosophie genauso in Gefahr ist, ihrem eigentlichen Ziel entgegenzuwirken. Der bloße Gedanke, Jünger zu finden, ekelt ihn an. Demnach sollte man in bezug auf das Pathos der Wahrheit fortan den Unterschied zwischen dem Beschenken- und dem Herrschenwollen in Rechnung stellen.

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3. Zur Genese der Wahrheit Bemerkungen zu Nietzsches Schrift „ Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" Wenden wir uns nun dem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (WL) zu. Meine Darlegung zielt darauf, die dialogische Beziehung zwischen der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und der Ersten Vorrede, Ueber das Pathos der Wahrheit, ersichtlich zu machen. Unter diesem Aspekt läßt die Schrift folgende Momente erkennen: Gleich zu Beginn von Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne wird die zentrale Aussage von Ueber das Pathos der Wahrheit, nämlich daß der Erleuchtete sich als das Zentrum der Welt empfindet und daraus die Unsterblichkeit seines Ruhmes folgert, ironisiert. Wohl auf dem Hintergrund der Zwiespältigkeit, die, wie wir sahen, dem Pathos der Wahrheit anhaftet, wird der Hochmut angeprangert. Nach Nietzsche ist der Erleuchtete stets gefährdet, dem Hochmut zu verfallen. Falls dies eintrifft, erliegt der Mensch einer Täuschung seitens seines Intellekts. Der Begriff der Täuschung bedeutet hier nun aber durchaus ein zwiefaches, denn es laufen zwei Motive zusammen: Einmal bietet Nietzsche eine radikale Erkenntniskritik, das andere Mal warnt er vor einer Übersteigerung der Ergebnisse metaphysischer Spekulation.289 Die Erkenntniskritik kommt zum Zuge, wenn Nietzsche die Verstellung durch die Konvention und die Täuschung, welche die Umwandlung primärer Reize in Bilder und dann in Begriffe mit sich führt, zutage fördert. Zwar sieht Nietzsche es als Aufgabe der Philosophie an, erkenntnisleitende und sinnstiftende Ideen zu entwerfen, wie Salaquarda formuliert, sobald aber die aus solchen Spekulationen sich ergebenden Vorstellungen das Wissen um die Gier und die anfängliche Flüssigkeit verdrängen, werden sie zu Illusionen und Traumbildern. Diese Weltbilder wiederum — und dies ist meines Erachtens das entscheidende — wirken nunmehr der Individuation entgegen, anstatt sie zu fördern. Sie führen dazu, daß der Mensch sich als künstlerisch-schaffendes Subjekt vergißt, indem er sich einem bestimmten Weltbild unterordnet. Demnach schüren die Weltbilder die Ungerechtigkeit, anstatt daß sie der Gerechtigkeit, das heißt der Individuation, dienen.

289

Vergleiche dazu J. Salaquarda, ,Das wahre Selbst über dir. Überlegungen zu Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches' (in: E. Biser (Hrsg.), Besieger des Gottes und des Nichts. Nietzsches fortdauernde Provokation, Düsseldorf 1982, S. 24-51), S. 32-33. Salaquarda vermerkt die Doppelaufgabe der Philosophie (Kritizismus und Begriffsdichtung), die Nietzsche von Lange übernommen habe; das Moment der Übersteigerung des Selbst aber wird von ihm (wie von anderen Autoren auch) nicht berücksichtigt.

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Nach J. Salaquarda stellt Nietzsche sich in bezug auf den Menschen als ein künstlerisch-schaffendes Subjekt mit F. A. Lange auf den Standpunkt des Ideals.290 A. Meijers hat dagegen geltend gemacht, daß auch die Ansichten von G. Gerber bezüglich des Kunsttriebes (aus dem die Sprache hervorgehe) zu beachten sind.291 Aus dem außerordentlich aufschlußreichen Artikel von Meijers scheint mir vor allem der Hinweis auf Gerbers Auffassung der lebendigen Sprache als Form der Kunst wichtig zu sein.292 Und zwar weil sie dahingehend verallgemeinert werden kann, daß erst der sprechende, also der auf irgendeine Weise originär sich artikulierende Mensch sich als Individuum empfindlich und erkenntlich wird. Insofern nach Gerber dem Künstler keine besondere Begabung zukommt, sondern vielmehr jeder Mensch ein Künstler ist,293 steht die Möglichkeit der Selbstwerdung einem jeden Menschen offen.294 Vor diesem Hintergrund wird nun auch ersichtlich, weshalb Nietzsches Erkenntniskritik zwei Momente aufzeigen muß. Seine Kritik richtet sich einmal gegen die .konventionellen Wahrheiten', denn sie sind der Möglichkeit der Individuation im Wege. Der Konvention, der die Vielen sich unterordnen, stellt er die Wahrhaftigkeit des Einzelnen gegenüber. Andererseits ist es ihm wichtig, aufzuzeigen, daß die Wahrhaftigkeit keineswegs wahre Erkenntnis vermittelt, sondern im Grunde genommen einen künstlerischen Entwurf des Selbst und seiner Welt in die Wege leitet. Dieses Moment der Erkenntniskritik Nietzsches dient also dazu, der Überheblichkeit des Einzelnen vorzubeugen. Demnach dienen beide Momenten seiner Kritik letztlich der Gerechtigkeit. Dieses und jenes wollen wir jetzt im einzelnen erörtern.

3.1. Über die Täuschung durch den Hochmut In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne nimmt Nietzsche zunächst die Fabel, die uns zuvor, am Ende der Ersten Vorrede, Ueber das Pathos

190

2.1

2.2 2.3 2.4

J. Salaquarda, ,Das wahre Selbst über dir', S. 32. Vergleiche dazu J. Salaquarda, ,Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche', (in: Studi Tedeschi, Vol. XXII (I) (1979), S. 133160), besonders S. 148 ff.; des weiteren J. Salaquarda, .Nietzsche und Lange' (in: NietzscheStudien 7 (1978), S.236-259). A. Meijers, .Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche' (in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 369390). Als erster hatte Ph. Lacoue-Labarthe in seinem Artikel ,Le détour' auf die Bedeutung Gerbers für Nietzsche aufmerksam gemacht (in: Poétique 5 (1971), S. 53-76) (s. a.a.O., S. 56 u. ebd., Anmerkung 8. Siehe a.a.O., S. 376. A. Meijers, a.a.O., S. 376, Anmerkung 28. Weil in dieser Studie die Einflüsse, welche auf Nietzsche gewirkt haben mögen, grundsätzlich außer Betracht bleiben, werden wir diesen Ansatz hier nicht weiter verfolgen.

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der Wahrheit, begegnet war, wieder auf. Allerdings ist sie diesmal um einige Sätze gekürzt: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der .Weltgeschichte': aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestim, und die klugen Thiere mussten sterben. —" (WL: 875, 2-7J295 Nietzsche fügt dem hinzu: „So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben." (WL: 875,8-13) Was damit gemeint ist, geht aus dem Nachstehenden hervor. Wie mir scheint, polemisiert Nietzsche dort von neuem mit demjenigen, was er in Ueber das

Pathos

der Wahrheit ausgeführt hatte, nämlich mit dem Imperativ des sittlichen Menschen (756, 9). In Ueber das Pathos der Wahrheit hieß es: „Jedes Verschwinden und Untergehen sehen wir mit Unzufriedenheit, oft mit Verwunderung als ob wir darin etwas im Grunde Unmögliches erlebten. Ein hoher Baum bricht zu unserem Mißvergnügen zusammen und ein einstürzender Berg quält uns. Jede Sylversternacht läßt uns das Mysterium des Widerspruchs von Sein und Werden empfinden. Daß aber ein Augenblick höchster Welt-Vollendung gleichsam ohne Nachwelt und Erben, wie ein flüchtiger Lichtschein verschwände, beleidigt am allerstärksten den sittlichen Menschen. Sein Imperativ vielmehr lautet: das, was einmal da war, um den Begriff .Mensch' schöner fortzupflanzen, das muß auch ewig vorhanden sein. Daß die großen Momente eine Kette bilden, daß sie, als Höhenzug, die Menschheit durch Jahrtausende hin verbinden, daß für mich das Größte einer vergangnen Zeit auch groß ist und daß der ahnende Glaube der Ruhmbegierde sich erfülle, das ist der Grundgedanke der Kultur." (PW: 756,1-16) Diese Ansicht wurde schon in Ueber das Pathos der Wahrheit grundsätzlich in Frage gestellt, und in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen

Sinne betont Nietz-

sche dies noch einmal. Er behauptet, daß der menschliche Intellekt sich innerhalb des Ganzen der Natur als eine Nichtigkeit ausnimmt: „ < E > s giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten." (WL: 875,13-16) Nietzsche fügt ironisch hinzu: „Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt [schwirrt?] und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt." (WL: 875,16-19). Wonach er sich folgendermaßen erklärt:

295

Vergleiche PW: 759, 29 - 760, 6.

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„Es ist nichts so verwerflich und gering in der Natur, was nicht durch einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt würde; und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen." (WL: 875, 19 - 876, 2)

Im Vergleich zu der Fassung dieser Problematik in der Ersten Vorrede (PW) fällt zunächst auf, daß hier das Erkennen an die Stelle des Empfindens getreten ist. Man überlegt: Was erkennt die Mücke und was erkennt der Philosoph? Es kann sich wohl kaum um etwas anderes handeln, als um die beglückende Gewißheit (PW: 755,10), die, ebenfalls nach Nietzsche, dem Augenblick der Erleuchtung eigen ist. Es ist ja diese Gewißheit, durch die dieses Empfinden und Erkennen sich auszeichnen. Die Interpretation kann durch die Variante, die für den Schluß des achten Abschnitts der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen vorgesehen war, belegt werden. Dort nämlich wird die Stelle aus Ueber das Pathos der Wahrheit folgendermaßen variiert: „Da durchdrang ihn die beglückendste Gewißheit, wie das, was ihn eben so in's Fernste hinaushob und entrückte, also die Höhe und Breite, Helle und Tiefe dieser einen Erkenntniß, keiner Nachwelt vorenthalten bleiben dürfe." (14:111; Hervorhebung nicht im Original)

Also tritt bereits hier die Erkenntnis an Stelle des Empfindens auf. Das Empfinden ist in dem Sinne ein Erkennen, daß eine Erfahrung gemacht wird, und zwar keine geringere als diese: Die Mücke und der Philosoph finden zu sich — zu sich selbst.296 Die ironische Wendung betreffend den „kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens" (875, 20-21) mag sich auf den Topos vom Wehen des Geistes, vom Hauch der Liebe — auf daspneuma beziehen. Nietzsche meint dazu: „Es ist merkwürdig, dass dies der Intellekt zu Stande bringt, er, der doch gerade nur als Hülfsmittel den unglücklichsten delikatesten vergänglichsten Wesen beigegeben ist, um sie eine Minute im Dasein festzuhalten [...]. Jener mit dem Erkennen und Empfinden verbundene Hochmuth, verblendende Nebel über die Augen und Sinne der Menschen legend, täuscht sie also über den Werth des Daseins, dadurch dass er über das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Werthschätzung in sich trägt. Seine allgemeinste Wirkung ist Täuschung — aber auch die einzelsten Wirkungen tragen etwas von gleichem Charakter an sich." (WL: 876, 3-14)

Im zweiten Satz dieses Passus finden wir das Erkennen mit dem Empfinden zusammengestellt. Die beiden Momente schaffen die Voraussetzung für den Hochmut. Der

296

Daß dies gemeint ist, kann wiederum die von Colli-Montinari angeführte Vorstufe zur Ersten Vorrede belegen. Dort hieß es: „ < Die Menschheit, in alle Zukunft hinein, braucht uns > und d.h. sie braucht uns in unsren höchsten Augenblicken — dann nämlich sind wir ganz wir selbst, alles andere ist Schlacke, Morast, Eitelkeit, Vergänglichkeit" (14: 106-107; Hervorhebung nicht im Original).

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wiederum täuscht die Menschen über den Wert des Daseins, und zwar dadurch, daß er „über das Erkennen selbst die schmeichelhafteste Werthschätzung in sich trägt". Wie ist das gemeint? Auf den ersten Blick liegt hier ein Zirkel vor. Denn zum einen geht der Hochmut aus dem Erkennen (und Empfinden) hervor, zum anderen aber wird das Erkennen infolge des Hochmuts überbewertet. Demzufolge werde gleichsam jene Erkenntnis verdorben, weshalb es vom Hochmut heißt: „ Seine allgemeinste Wirkung ist Täuschung — aber auch die einzelsten Wirkungen tragen etwas von gleichem Charakter an sich." (WL: 876,12-14) Freilich ist zu beachten, daß für Nietzsche Täuschung die eigentliche Art einer jeden Erkenntnis ist (der Frage, weshalb dies notwendig der Fall ist, werden wir anschließend nachgehen). Deshalb ist auch die Perspektive, welche durch die eine Empfindung geboten wird, täuschend. An dieser Stelle führt Nietzsche nun aber eine zweite Art von Täuschung ein. Diese geht dahin, daß der jeweils eigenen Perspektive eine übergreifende Verbindlichkeit beigelegt wird. Die erste Täuschung ist die Folge der Perspektivität, die alles Erkennen auszeichnet. Die zweite Täuschung aber geht auf den Hochmut zurück. Es stellt sich die Frage, wie der Hochmut zu verstehen ist. Wie mir scheint, sollten wir das innere Spannungsverhältnis im Philosophen beachten, das zuvor ausgeführt wurde. Der Kampf zwischen dem künstlerischen Zug und der Tendenz auf Erkenntnis wurde als Gegensatz zwischen schenkender Liebe und gewaltsamem Herrschaftsanspruch ausgelegt. Meines Erachtens gibt es im Idealfall der künstlerischen Selbstdarstellung ein Gleichgewicht zwischen zwei gegensätzlichen Momenten. Ich meine das Gleichgewicht zwischen der reinen Erfahrung des Selbstseins und deren reiner Vorstellung. Im Grunde genommen muß das Gleichgewicht sich als die symbolisierte Wahrheit ausnehmen, die uns in der Dionysischen Weltanschauung begegnet und zuvor (S. 159), anläßlich der Geburt der Tragödie, erörtert wurde. Wird die Kunst also dem Gesetz der Mitte gerecht, so wird dagegen durch den Hochmut gegen die Gerechtigkeit verstoßen, denn mit seinem Herrschaftsanspruch setzt das Erkennen sich selbst absolut.

3.2. Von der Verstellung durch die Konvention Mit Bezug auf die konventionelle Verstellung lesen wir in Ueber Wahrheit und Lüge folgendes: „Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung [...]. Im Menschen kommt diese Verstellungskunstauf ihren Gipfel : hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glänze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Her-

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umflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte." (WL: 876, 15-28) 297

Dieser Passus skizziert einen Umstand, der uns in meinem zweiten Kapitel (anläßlich des Schopenhauer-Aufsatzes) als den der Uneigentlichkeit begegnete. Der Wendung vom Leben im erborgten Glanz steht der ehrliche und reine Trieb zur Wahrheit entgegen. Vor dem Hintergrund von Ueber das Pathos der Wahrheit sollten wir hier freilich differenzieren, nämlich zwischen denjenigen, die zwar erleuchtet worden sind, ihr Selbstsein aber nur im Verborgenen zelebrieren, und denjenigen, die nicht erleuchtet wurden und deshalb die Erfahrung einer verbindlichen Richte überhaupt vermissen lassen. Im ersten Fall kann Nietzsche mit Recht vom Maskiertsein und von der verhüllenden Konvention sprechen, im zweiten Fall trifft vielmehr das Wort vom erborgten Glanz zu. Dieser Unterschied führt nun einen weiteren mit sich. Denn der ehrliche und reine Trieb zur Wahrheit mag die Wahrheit jener Gewißheit des Erleuchteten betreffen, doch kann es sich immerhin auch um die Wahrheit der völligen Orientierungslosigkeit, also um die Wahrheit der mit dem Widerstreit der gegensätzlichen Triebe einhergehenden Zerstreuung handeln. Der Augenblick der Erleuchtung wird in Ueber Wahrheit und Lüge zunächst nicht weiter berücksichtigt — wie wir bei der Erörterung der ersten Seiten der Schrift sahen, streitet Nietzsche ihn vielmehr ab.298 Nietzsche führt diesen Punkt, also die Verstellung durch die Konvention, noch weiter aus: „Soweit das Individuum sich gegenüber andern Individuen erhalten will, benutzte es in einem natürlichen Zustande der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: weil aber der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluss bringt aber etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an .Wahrheit' sein soll d.h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die

297

Obwohl der Bezug zwischen PW und WL von Schlechta betont wird, unterläßt er es, ihn herauszuarbeiten. Dies führt nun zu der folgenden Fehlinterpretation: Bei ihm heißt es, der „grundsätzlichen Bedeutungslosigkeit" des menschlichen Intellekts stehe „der merkwürdige , Trieb', das eigenartige ,Pathos' der Wahrheit entgegen. Wie kommt es zu diesem Trieb?" (a.a.O., S. 16). Schlechta antwortet: „Er ist nach Nietzsche in der herdenmäBigen Natur des Menschen begründet"! (a.a.O., S. 16). Demnach übersieht er die grundlegende Differenz zwischen dem Pathos der Wahrheit (dem Imperativ des sittlichen Menschen) und der gleichgültigen Konvention. H.-P. Balmer dagegen sieht zu Recht, daß Nietzsche den „ehrlichen und reinen Trieb zur Wahrheit" (876, 27-28) sehr hoch einschätzt (H.-P. Balmer, Freiheit statt Teleologie. Ein Grundgedanke von Nietzsche, Freiburg/München 1977, S. 47 ff.). Daß aber dem Pathos der Wahrheit, also dem ehrlichen und reinen Trieb zur Wahrheit, eine abgründige Zwiespältigkeit innewohnt, wurde meines Wissens von den Interpreten bisher nicht berücksichtigt.

298

WL: 875, 2 - 876, 14 — vergleiche dazu meine Seiten 185-188.

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Geschichte und Gerechtigkeit Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Contrast von Wahrheit und Lüge" (WL: 877, 17-30).

Zuerst steht hier der nach Nietzsche natürliche Streit zwischen den menschlichen Individuen im Blick. Die Menschen befinden sich miteinander im Streit, doch sind sie auch auf einander angewiesen, und zwar „aus Noth und Langeweile". Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Erörterungen sind die Not und die Langeweile als die Folgen davon zu erklären, daß der Mensch sich der Aufgabe der Individuation verweigert. Die Not geht daraus hervor, daß dem Menschen die verbindliche Richte fehlt, ihm fehlt der Halt — demzufolge ist er zunächst dem Urwiderspruch, d.h. dem Gier und dem Urleiden, überantwortet. Wenn ich recht sehe, tritt die Langeweile erst dann ein, wenn der Mensch sich der sich aus dem Widerstreit der Triebe ergebenden Aufgabe der Individuation entledigt, indem er sich einer Konvention verschreibt. Auch hier liegt ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit vor. Wie aber kommt es zur Konvention? Nach Nietzsche dadurch, daß man sich auf eine gleichmäßig „gültige" und „verbindliche" Bezeichnung der Dinge festlegt—die Frage, wie es überhaupt zu deren Erfindung komme, wird hier noch nicht von ihm gestellt. Erst die Konvention, als „verbindliche" Bezeichnung der Dinge, macht den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge möglich: „ < D > er Lügner gebraucht die gültigen Bezeichnungen, die Worte, um das Unwirkliche als wirklich erscheinen zu machen [...]. Er missbraucht die festen Conventionen durch beliebige Vertauschungen oder gar Umkehrungen der Namen." (WL: 877, 30 - 878, 1)

Insofern als es den anderen Schaden zufügt, ist ein solches Lügen und Betrügen verpönt: „Wenn < d > er < Lügner > dies in eigennütziger und übrigens Schaden bringender Weise thut, so wird ihm die Gesellschaft nicht mehr trauen und ihn dadurch von sich ausschliessen. Die Menschen fliehen dabei das Betrogenwerden nicht so sehr, als das Beschädigtwerden durch Betrug. Sie hassen auch auf dieser Stufe im Grunde nicht die Täuschung, sondern die schlimmen, feindseligen Folgen gewisser Gattungen von Täuschungen. In einem ähnlichen beschränkten Sinne will der Mensch auch nur die Wahrheit. Er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit; gegen die reine folgenlose Erkenntniss ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt." (WL: 878,1-12; vergleiche 7:19 [253])

Es dürfte einleuchten, daß Nietzsche sich hier gewissermaßen an der Oberfläche der Problematik bewegt. Die Stelle handelt vom öffentlichen Verkehr der Mitteilungen, vom Austausch der Meinungen und Ansichten und scheint sich auf die Ebene der wirtschaftlichen Interessen zu beziehen. Dennoch ist es, im Hinblick auf die Frage der Individuation, vielleicht erlaubt, den Passus so zu lesen, daß die Konvention als die herrschende Gestalt der Öffentlichkeit um keinen Preis gefährdet werden darf. Und zwar deshalb, weil die gefestigten Verhältnisse des Status quo dem Menschen den einzig möglichen Halt bieten.

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Bevor ich mich einem weiteren Aspekt zuwende, will ich diesen Gedanken noch ein wenig weiter verfolgen: Einige Seiten weiter unten heißt es in Ueber Wahrheit und Lüge: „Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Gindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische." (WL: 881, 25 - 882, 2)

Demnach entspringt die Vernunft aus der Konvention und die Konvention aus der Not und der Langeweile. Das heißt, daß die Vernunft letzten Endes aus der Bedürftigkeit und zwar aus der Bedürftigkeit der Einzelnen und des Ganzen hervorgeht. Die Bedürftigkeit zeigt m. E. auf das Fehlen eines verbindlichen Maßes hin.299 Wie ist das zu verstehen? Nach Nietzsche ist im Bereich der Schemata, anders als in der Sphäre des Unmittelbaren, eine pyramidale Ordnung möglich. Man fragt sich, auf welcher Grundlage diese Möglichkeit basiert, denn um zu einer solchen Ordnung gelangen zu können, muß ein Ordnungsprinzip vorhanden sein. Doch ist es der von Nietzsche gemeinten Grundlage eigentümlich, daß eben ein solches Prinzip fehlt. Die herdenmäßige, gesellschaftliche Existenz zeichnet sich ja durch die „Gleichgültigkeit ihres Nichtwissens" aus. Dennoch gibt es ein solches Prinzip: das Glück oder Wohlergehen der Mehrzahl und zwar im Sinne der Schadenverhütung. Mit anderen Worten wird in einer solchen Konstellation ein schadensfreier Raum zum verbindlichen Maß hochstilisiert. Der Raum wird durch den Friedensschluß konstituiert, der dem bellum omnium contra omnes ein Ende setzt. Ihm entspricht der vernünftige Mensch, der seine Wahrheitsansprüche auf die öffentliche Konvention reduziert. Wir überlegen, ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gibt. Und in der Tat nimmt die Sache sich ganz anders aus, wenn am Anfang einer solchen gesellschaftlichen Ordnung der Imperativ eines Erleuchteten stünde. In dem Fall ginge das Maß nicht aus dem Prinzip der Schadenverhütung hervor, sondern basierte auf einer maßgeblichen und seitdem als ohne wenn und aber verbindlich gelebten Erfahrung. Ein solches Maß würde als leuchtende Richte in die dunkle Nacht der Gleichgültigkeit des Nichtwissens hineinscheinen, es würde das Zügellose bändigen und das Zerstreute sammeln. Aus der Auseinandersetzung zwischen dem einen bändigenden Maße und dem vielfältig Zerstreuten könnte in der Tat eine pyramidale Ordnung hervorgehen. Die verschiedenen Stufen mögen als Stadien an einer steigenden Skala der

2,9

Siehe WL: 888, 15-21.

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Sammlung, mithin als Seinsstufen, gedacht werden, die erst zum einfachen Selbstsein und dann zur Vollendung des Integrationsprozesses führen. In dieser Variante wäre der Intellekt das Instrument, mit dem jenes wahrhafte .Individuum', nämlich der Erleuchtete, nicht nur den Gipfel seiner Existenz individuell beständigt, sondern darüber hinaus verbindlich und maßgebend ins Werk setzt. Selbstredend sind beide Modelle anthropomorphisch: Beide treten mit einem Imperativ, dem jeweils ein spezifisches Bild des Menschen zugrunde liegt, an das Wirkliche heran. In beiden Fällen ist der Mensch das Maß der Dinge — aber welch ein Unterschied zwischen jenen Bildern! Hier der lebendige große Mensch im seltensten Augenblick der Erleuchtung, dort der Kompromiß des Mittelmäßigen; hier die erfüllte Mitte des Höchsten, dort die Leere des Gleichgültigen! —

3.3. Über das Gesetz der Empfindung oder Zur Möglichkeit der Erfahrung überhaupt Am Ende des Absatzes, der von der Konvention handelt, macht Nietzsche den Übergang zu einem weiteren Aspekt. Er fragt: „Und überdies: wie steht es mit jenen Conventionen der Sprache? Sind sie vielleicht Erzeugnisse der Erkenntniss, des Wahrheitssinnes: decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?" (WL: 878: 13-16)

Dieser Frage geht Nietzsche in seinen nächsten Absätzen nach. Das heißt, er beschäftigt sich von neuem damit, wie die Sprache entsteht. Diesmal geht er das Problem aber nicht über die gesellschaftliche Konvention an, sondern es wird vielmehr die Problematik vertieft. Nietzsche fragt sich, wie es überhaupt zu Wörtern und Begriffen kommt. Im Rahmen vorliegender Untersuchung muß ich mich diesbezüglich kurz fassen. Nietzsche unterscheidet vier Stadien:300 1. den anfänglichen Reiz, der durch das X des Dings an sich herbeigeführt werde (Nietzsche spricht von einem „ Urerlebnis "); 2. das Bild oder die Anschauungsmetapher; 3. den Laut oder das Wort; und 4. den Begriff. Letztlich folgert er: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind,

300

Nach Meijers gehen die Stadien auf die durchaus differenziertere Darstellung von G. Gerber zurück (A. Meijers, a.a.O., S. 377 und 386).

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Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen." (WL: 880, 30 - 881, 4) D i e zweite Hälfte dieser Diagnose bezieht sich auf die Wahrheiten, w e l c h e durch die Konvention übermittelt werden. Hier stehen nicht die originären Metaphern im Blick, sondern die abgenutzten, denen die Aussagekraft verloren gegangen ist. D i e erste Hälfte der Diagnose dagegen ist allgemein gültig, kennzeichnet also das menschliche Erkennen überhaupt. D o c h nach dieser Darlegung — die wir hier nicht im einzelnen verfolgen konnten — ist Nietzsches Ausgangsfrage nach w i e vor ungeklärt: „Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt" (881, 4 - 5 ) . Was treibt den Menschen, auf dem W e g e eines solchen Umwandlungsprozesses Wahrheiten ins Werk zu setzen? Welche Organisation befähigt ihn dazu? 301 Wohlbemerkt: der Trieb zur Wahrheit, nach dessen Herkunft Nietzsche fragt, bezieht sich auf das Pathos der Wahrheit, von d e m er am Anfang von Ueber Wahrheit und Lüge und in der Schrift Ueber das der Wahrheit

Pathos

spricht.

Nietzsche vertritt die Ansicht, daß alles, was den Menschen g e g e n das Tier abhebt, von der Fähigkeit abhängt, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen. 3 0 2 Infolge dessen erzielt der Mensch eine gewisse Eigenständigkeit

den primären Reizen gegenüber: „ < E > r

leidet e s nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden" ( 8 8 1 , 2 1 - 2 3 ) . Aber wie schafft es der Mensch, sich g e g e n die

301

302

Freilich muß ich auch bei der Erörterung dieser Fragen erhebliche Verkürzungen vornehmen. Nietzsches Auseinandersetzung mit Kant können wir hier nicht verfolgen. Ich beschränke mich auf die Mitteilung, daß Nietzsche die Naturgesetze nicht auf die Anschauungsformen, sondern auf die Empfindungsgesetze zurückführt. Er vertritt die Ansicht, daß die Anschauungsformen und Verstandesbegriffe infolge eines Hart- und Starr-Werdens hervorgetreten sind und seitdem die Weichen stellen. J. Salaquarda erläutert den Gedanken wie folgt: „Auch für Nietzsche beginnt alle unsere Erkenntnis mit der Empfindung, mit einem .Nervenreiz', wie er [...] in Über Wahrheit und Lüge schreibt. Und wie Kant geht er davon aus, daß diese Eindrücke durch unser Erkenntnisvermögen geordnet, schematisiert und in einen Zusammenhang gebracht werden. Erkennen ist ein vielschichtiger Übersetzungsvorgang, eine Interpretation und Ausdeutung der zunächst gegebenen Eindrücke. Aber Nietzsche faßt die dabei tätigen Instanzen nicht als .transzendentale Strukturen' auf, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen als solchem unveränderlich innewohnen und dergestalt die Gleichheit und Gewißheit unseres Wissens der Erscheinungswelt garantieren. Vielmehr ist auch unser Erkenntnisvermögen selbst und sind alle seine wichtigen Funktionen geworden: sie haben sich im Lauf eines langen Evolutionsprozesses herausgebildet. Und sie haben sich durchgesetzt und erhalten, nicht weil sie .Wahrheit' garantieren, sondern weil sie sich im Kampf ums Dasein als nützlich erwiesen haben. Mit einem Ausdruck, den Nietzsche von Lange übernommen hat: die Erkenntnisfunktionen gehören zu .unserer Organisation', so wie Klauen zur Organisation des Löwen und das Hakenschlagen zu der der Hasen." (J. Salaquarda, ,Das wahre Selbst über dir', S. 33-34). WL: 881, 25-28.

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Reize, gegen die von ihnen angereizten Eindrücke und Anschauungen zu behaupten? Wie mir scheinen will, bedarf es dazu der plastischen Kraft, denn der Mensch muß sowohl Eindrücke ausgrenzen (vergessen) wie auch andere integrieren (erinnern) können.303 Des weiteren stellt sich die Frage, wie die Eindrücke, also die Anschauungsmetaphern, zu verstehen sind. Auch hier ist der Vergleich mit dem Tier hilfreich. Denn wie wir im vorigen sahen, vertritt Nietzsche in der Historienschrift und namentlich im Schopenhauer-Aufsatz die Ansicht, die Existenz der Tiere bewege sich zwischen Lust und Unlust. Auch der Mensch erfährt zunächst Lust und Unlust — doch liegt die Zäsur zwischen Mensch und Tier darin, daß der Mensch, anders als das Tier, der Unlust vorzubeugen, die Lust aber zu perpetuieren bemüht ist: Nach Nietzsche bindet der Mensch sein Leben an die Vernunft und die Begriffe, um nicht fortgeschwemmt zu werden, um sich selbst nicht zu verlieren (886, 25-27). Wenn Nietzsche die Ansicht vertritt, daß die reizbedingten Eindrücke sich metaphorisch zu Wörtern verdichten — jedem Wort liege ursprünglich ein einmaliges und ganz und gar individualisiertes Urerlebnis zugrunde (WL: 879, 31-32) —, so erinnert dies ganz entschieden an das „lyrische Ich", auf das wir in der Geburt der Tragödie gestoßen sind. Dort heißt es: „Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen" (GT: 44, 30-32).

Freilich ist das nur insofern der Fall, als das Ich sich des Subjektiven, das heißt des ganzen Gewühls subjektiver Leidenschaften und Willensregungen, entledigt hat.304 Sodann sind seine Bilder „nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm" (45, 7-8) — im Blick steht „die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit" (45, 11-12). Doch dazu muß der Mensch, der zunächst gleich wie das Tier dem Treiben der Triebe verhaftet ist, sich erst einmal aus dieser Zerstreuung lösen. Mit anderen Worten geht aus den reizbedingten Eindrücken keineswegs ohne weiteres das Wort oder gar die Sprache hervor. Auch in Ueber Wahrheit undLüge im aussermoralischen Sinne wird diese Ansicht von Nietzsche vertreten. Er ist durchaus der Ansicht, daß es, zur Umwandlung der Eindrücke in Bilder und Wörter, eines „künstlerisch schaffende Subjekt < s > " (883,31) bedarf. Weil aber diese Ansicht im Rahmen einer Polemik artikuliert wird, die der Vorstellung einer „richtigen Perception" (884,5) gilt (vgl. 883-884), müssen wir das für unsere systematische Perspektive Belangvolle erst einmal herausschälen:

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Die Problematik der plastischen Kraft habe ich in meinem dritten Kapitel erörtert — s. weiter oben, besonders die Seiten 107 ff. GT: 45, 16-17.

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„Schon dies kostet < dem vernünftigen Menschen > Mühe, sich einzugestehen, wie das Insekt oder der Vogel eine ganz andere Welt percipiren als der Mensch, und dass die Frage, welche von beiden Weltperceptionen richtiger ist, eine ganz sinnlose ist, da hierzu bereits mit dem Maassstabe der richtigen Perception d.h. mit einem nicht vorhandenen Maassstabe gemessen werden müsste. Ueberhaupt aber scheint mir die richtige Perception — das würde heissen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt — ein widerspruchsvolles Unding! denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf." (WL: 884, 1-15)

Die Ansicht, zwischen Subjekt und Objekt gäbe es keinerlei Verbindung, scheint mir aus dem Rahmen von Nietzsches frühem Denken herauszufallen. Es wurde ja schon mehrmals gezeigt, daß der Mensch nach Nietzsche ganz und gar Natur ist. Es ist vielmehr umgekehrt: Der natürliche Mensch ist sowohl Subjekt wie auch Objekt. Denn er erfährt unmittelbar das, was er zunächst ist, nämlich ein Bündel widersprüchlicher Neigungen und Leidenschaften — welche allesamt auf den Urwiderspruch zurückzuführen sind.305 Der eigentliche Grund für die Differenz zwischen Subjekt und Objekt liegt wohl darin, daß es zwischen dem künstlerischen Subjekt (als bewegendem Mittelpunkt oder Herzen der Natur) und der sonstigen Natur (als dem üblichen Gewühl der Leidenschaften) einen tiefgreifenden Unterschied gibt. Dieses Getriebe, das dem Urwiderspruch inhäriert, wird nun vom Künstler übersetzt. Dazu ist einmal ein „ästhetisches Verhalten" (884,12) vonnöten — das heißt, der Mensch wird dadurch zum Künstler, daß er sich dem Abgrund des Seins öffnet. 306 Sodann muß er hier ordnend vorgehen — wozu es aber, wie Nietzsche zutreffend bemerkt, „einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf" (884,14-15). Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die Umwandlung der primären Eindrücke in Bilder und Wörter m. E. eine plastische Kraft voraussetzt. Sie muß den Zustrom der Reize regeln, indem sie sie einmal ausgrenzt, das andere Mal aber integriert. Doch um darüber hinaus aus den Bildern und Wörtern ein Ganzes bilden zu können, muß die plastische Kraft sich zu einer Einbildungs-, ja zu einer EinBildungskraft verdichten. Nietzsches Vorstellungen zufolge kann solches nur dann

305

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Vergleiche J. Salaquarda, ,Das wahre Selbst über dir. Überlegungen zu Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches' (in: E. Biser (Hrsg.), Besieger des Gottes und des Nichts. Nietzsches fortdauernde Provokation, Düsseldorf 1982, S. 24-51), S. 31; und J. Salaquarda, .Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie' (in: M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einflihrung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 27-62), S.34-35. Vergleiche GT: 44, 14. Zur Problematik vergleiche des weiteren I. Hennemann Barale, .Subjektivität als Abgrund. Bemerkungen über Nietzsches Beziehungen zu den frühromantischen Kunsttheorien' (in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 158-181).

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vollends gelingen, wenn der Mensch ganz und gar zum Künstler wird, indem er im Herzen, also im einen Zentrum der Natur, einkehrt.307 Was bedeutet dieses und jenes nun für die Art und Weise, wie, und für dasjenige, was der Mensch erfährt? Wenn der Mensch im einen Zentrum der Natur eingekehrt ist, erzielt er erstmals die völlige Offenheit. Es ereignet sich demzufolge die unhistorische Erfahrung, d.h. die ursprüngliche und in dem Sinne reine Selbstaffizifikation, der Nietzsche seinerseits, in der Geburt der Tragödie, in der Darstellung eines Nebeneinander, aber auch Gegeneinanders von Urleiden und Urlust beizukommen versucht hat. Lust und Unlust werden erst jetzt in ihrem vollen Ausmaß erfahren, nämlich als Selbstsem beziehungsweise Selbstver/usi. Der Mensch sieht sich nunmehr vor die Aufgabe gestellt, das eine zu perpetuieren, dem anderen aber vorzubeugen. Hier sind nun zwei Momente zu beachten. Einmal zeigt der Mensch sich bemüht, zu einer Praxis zu gelangen, der solches gelingt. Andererseits sieht er sich zu Spekulationen über das Ganze und seine Teile veranlaßt, die seinen zwiespältigen Erfahrungen einen Sinn beilegen und es darüber hinaus erlauben, seine esoterische Praxis exoterisch zu vermitteln. Wenn Nietzsche die Naturgesetze letzten Endes auf die Empfindungsgesetze zurückführt und die Ansicht vertritt, daß die von Kant behaupteten Anschauungsformen und reinen Verstandesbegriffe (letztere freilich werden von Nietzsche auf die Kausalität verkürzt), erst infolge eines Hart- und Starr-Werdens hervorgetreten sind und seitdem die Weichen stellen, so kann man daraus schließen, daß jene künstlerische Mittelkraft der Metapherbildung einer Einengung unterworfen worden ist: Der (zum beständigen neuzeitlichen Subjekt) verhärtete Mensch läßt nur noch dasjenige als Erfahrung, d.h. als Wahrheit, gelten, was sich jener eingeschränkten Perspektive fügt. Offensichtlich handelt es sich nach Nietzsche um eine Perspektive, die, im Vergleich zur anfänglichen Flüssigkeit und Unbestimmtheit, einengend ist.308

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Die Ansicht E. Behlers, daß es zwischen dem Nietzsche der Geburt und dem Autor des späteren Aufsatzes lieber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (WL) ein scharfe Trennung gebe, muß ich zurückweisen (E. Behler, ,Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche' (in: T. Borsche/F. Gerratana/A. Venturelli,, Centauren-Geburten'. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (Berlin/New York 1994, S. 99-111), S. 108 u. 110). So auch Behlers Auffassung, daß Nietzsches „frühe Metaphysik" gerade an der Stelle des Übergangs zwischen dem Ur-Einen und dem Genius zu scheitern scheint — wovon auch „die ganze Annahme eines Zentrums des Seins und der Ausdrückbarkeit dieses Seins durch Kunst, d.h. < Nietzsches > ganze Kunstmetaphysik" betroffen sei. Vielmehr begegnet uns in WL (und in der Ersten Vorrede, Ueber das Pathos der Wahrheit) die gleiche Dynamik wie in der Geburt. Dies mag auch erklären, weshalb Nietzsche den Schluß des ersten Abschnittes von Ueber Wahrheit und Lüge, der sich in einer Vorstufe findet, nicht aufgenommen hat — Schlechta meint, dies sei „merkwürdig" (K. Schlechta / A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart, Bad Cannstatt 1962, S. 14). Der Passus lautet: „Der Raum ohne Inhalt, die Zeit ohne Inhalt sind jederzeit mögliche Vorstellungen: jeder Begriff, also eine Meta-

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3.4. Vom Vernünftigen und vom Intuitiven Diesen Unterschied zwischen einer anfänglichen und ungezügelten und einer eingeengten und disziplinierten Metapherbildung legt Nietzsche nun der Unterscheidung zweier Menschentypen, des wissenschaftlichen oder vernünftigen und des intuitiven, zugrunde. Er sagt: „Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst." (WL: 887,1-8) Mit schöpferischem Behagen, so Nietzsche, wirft der freie Intellekt die Metaphern durcheinander und verrückt die Grenzsteine der Abstraktion. 309 Nun hat er das „Zeichen der Dienstbarkeit" von sich geworfen. War er sonst „mit trübsinniger Geschäftigkeit bemüht, einem armen Individuum, dem es nach Dasein gelüste, den Weg und die Werkzeuge zu zeigen", so ist er jetzt „zum Herrn geworden" und darf „den Ausdruck der Bedürftigkeit aus seinen Mienen wegwischen" (888, 15-21). Nietzsche fährt fort: „Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er jetzt nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird." (WL: 888, 25-33) Nach Nietzsche ist diese Freiheit aber keineswegs eine uneingeschränkte. Denn wie oben bereits erwähnt, ist „ < d > er Intellekt [...] < nur > so lange frei [...], als er täuschen kann, ohne zu schaden" (WL: 888, 8-10). Daraus geht hervor, daß die im Zuge der Konvention herbeigeführte vernunftmäßige Wahrheit insofern maßgebend bleibt, als sie von den Hervorbringungen des frei-

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pher ohne Inhalt ist nur Nachahmung dieser ersten Vorstellungen: Zeit, Raum und Kausalität, so dann die Urphantasie der Übertragungen in Bilder: das erste giebt die Materie, das zweite die Qualitäten, an die wir glauben. GleichniB der Musik. Wie kann man von ihr reden?" (Colli-Montinari 14: 114). Die Nicht-Verwendung erklärt sich daher, daß Nietzsche die Kantischen Grundbegriffe der transzendentalen Apperzeption nunmehr zurückweist. Daß dies der Fall ist, geht im übrigen aus der Darstellung von Anders klar hervor! — siehe a.a.O., S. 113. Vgl. des weiteren H.-P. Balmer, Freiheit statt Teleologie. Ein Grundgedanke von Nietzsche, Freiburg/München 1977, S. 47-50. Dieses Bild begegnet auch im sechsten Abschnitt der Historienschrift (UB II: 286, 34).

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schwebenden Intellekts nicht beeinträchtet werden darf. Man fragt sich, in welcher Hinsicht der Intellekt denn nun seine Freiheit gewonnen hat, inwiefern er zum Herrn wurde? Falls es tatsächlich zutreffen sollte, daß die Vernunft, als Mittel zur Erhaltung der Individuen und, so muß man wohl hinzufügen, der Gesellschaft, nach wie vor als verbindlich gilt, so kann es sich bei den Erzeugnissen des freigewordenen Intellekts nur um Gebilde der freien Phantasie handeln. Solche Gebilde aber sind nur dann mit der vernunftmäßigen Wahrheit zu vereinbaren, wenn sie als bloß beliebig, mithin als unverbindlich aufgefaßt werden. Die Freiheit der Phantasie wäre damit um den Preis erkauft, daßdie Phantasie sich der Vernunft (und d.h. letzten Endes: der Konvention) unterordnet. Eine solche Freiheit bliebe der Bedürftigkeit verhaftet. Nietzsche vertritt indessen entschieden die Ansicht, daß der freie Intellekt den Bereich der Bedürftigkeit und der Bedürfnisse hinter sich läßt. Der Intellekt richte sich nicht länger nach Begriffen, sondern nach Intuitionen. Es stellt sich die Frage nach dem Status einer solchen Intuition. Außerdem überlegt man, ob eine solche Freiheit denn auch wirklich jeden Schaden ausbanne. Um letztere Frage gleich zu beantworten, so heißt es bezüglich des intuitiven Menschen: „Freilich leidet er heftiger, wenn er leidet; ja er leidet auch öfter, weil er aus der Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fällt, in die er einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost." (WL: 889, 33 - 890, 3)

Zunächst ist zu beachten, daß die Existenz des intuitiven Menschen zwischen den Extremen des Glücks und des Leidens oszilliert. In dieser Hinsicht steht der intuitive dem vernünftigen Menschen entgegen. Denn dessen Wohl und Weh bewegen sich nach Nietzsche zwischen den durch die Vernunft, d.h. durch die herdenmäßige Konvention, verordneten Grenzen der Schicklichkeit. Im Grunde genommen kennt der Vernünftige weder Glück noch Unglück. Wir stoßen hier auf den Gegensatz zwischen der Langeweile der eingeübten Alltäglichkeit des Gewohnten und dem hypsipolisapolis, wodurch das Leben außerhalb der Konvention sich zunächst auszeichnet. Nach Nietzsches Darstellung dieses Menschentyps sieht der Intuitive dem Erleuchteten sehr ähnlich: „Während der von Begriffen und Abstractionen geleitete Mensch durch diese das Unglück nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen trachtet, emtet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährend einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung." (WL: 889, 27-33)

Doch widerspricht diese Stelle dem als zweitletzter angeführten Passus. Dort sagte Nietzsche, daß die Existenz des intuitiven Menschen zwischen Glück und Leiden oszilliert und daß er von seinen Erfahrungen nicht zu lernen versteht. Da-

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gegen heißt es hier, daß der intuitive Mensch nicht nur dem Übel, also dem Unglück, vorzubeugen vermag, sondern darüber hinaus mit einer andauernden Erlösung beglückt wird. Wie ist die Differenz zu erklären? Meiner Meinung nach sollte beachtet werden, daß auch der intuitive Mensch nicht auf sich selbst gestellt ist, sondern inmitten einer Kultur lebt. Allerdings ist hier zu differenzieren. Weiter oben hatten wir bereits zwei Varianten angesprochen. Die eine stellte den gleichgültigen Kompromiß des Vemunftmenschen in die Mitte, der auf das Prinzip der Schadenverhütung zurückgeht. In der anderen Variante basiert das verbindliche Maß auf der lebendigen Erfahrung eines Erleuchteten.310 Die hier als dritte anvisierte Variante geht nun dahin, daß es zuweilen mehrere Erleuchteten geben mag und daß es sich, wenigstens Nietzsches Ansicht nach, im Falle der Demokratie des älteren Griechenlands um eine Gesellschaft solcher Erleuchteten gehandelt hat. Als Inhaber der großen Erfahrung waren sie allesamt von der Gefahr der hybris bedroht. Daß sie ihr nicht fortwährend anheimfielen, erklärt er sich daher, daß sie einander die Waage hielten.311 Eine solche Konstellation kann nun den Status der Intuition erhellen. Laut Nietzsche waltet in solchen Fällen das Band mit dem Zentrum, d.h. mit der Zentralkraft der Liebe, und ist der Horizont unversehrt. Demnach entspringen die Intuitionen aus der nie versiegenden Quelle, aus der Fülle des Zentrums. Die zuvor (S. 198) angeführte Stelle gibt jedoch zu erkennen, daß das Band des intuitiven Menschen mit dem Zentrum keineswegs unzerbrechlich ist und daß er durchaus dazu neigt, dem Hochmut zu verfallen. Daraus geht hervor, daß dieser Mensch zwar die Erfahrung der Gewißheit, also die Erkenntnis des nunmehr verbindlichen Maßes gemacht hat, daß ihm aber die eigentliche Einsicht noch fehlt. Erst dem Erkennenden geht auf, daß die Notwendigkeit des je Eigenen zwar zutrifft, jedoch in die höhere Notwendigkeit des Maßvollen eingebunden werden sollte. Somit bleibt auch jene utopische Gesellschaft der Erleuchteten, die von Nietzsche im alten Griechenland situiert wird, in gewissem Sinne der Gleichgültigkeit des Nichtwissens verhaftet.312 Denn auch hier ist von einem Nichtwissen um die höhere Notwendigkeit des Maßvollen die Rede. Dennoch gibt es auch einen Unterschied: In diesem Fall sollte jene Gleichgültigkeit nicht als das fade Einerlei derjenigen, die sich jeglichem Engagement fernhalten, sondern als Gleich-Gültigkeit, das heißt als Gleichberechtigung (Gleich-Gewicht) ausgelegt werden. Während also im ersten Fall jede verbindliche Erfahrung und jegliche Gewißheit fehlen, handelt es sich im

3,0 311

312

Siehe hierzu S. 191 dieser Arbeit. Vergleiche dazu die Erörterung des Wettkampfes, die ihm Rahmen des dritten Kapitels vorgenommen wurde (hier S. 123 ff.). Vergleiche PW: 760, 22; WL: 877, 14.

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zweiten um mehrere solcher Erfahrungen, mithin um mehrere, konkurrierende Gewißheiten. So stehen wir am Ende unserer Besprechung der Schrift Ueber Wahrheit undLüge im aussermoralischen Sinne von neuem der Problematik des allgemein verbindlichen Maßes gegenüber. Meiner Meinung nach sind die Rätselsprüche des delphischen Gottes, die Nietzsche öfter (etwa in der Geburt der Tragödie und am Ende der Historienschrift) erwähnt, vor diesem Hintergrund zu erklären. Das .Erkenne dich selbst' und das .Nichts zuviel' handeln von der Erkenntnis jener höheren Notwendigkeit, welche die berechtigte Notwendigkeit des je Eigenen übersteigt. Die Sprüche befassen sich mit der Notwendigkeit, die Grenzen des Maßvollen in Rechnung zu ziehen. Die ihrem Wesen nach zur Maßlosigkeit neigenden Erleuchteten werden ermahnt, sich dieser Notwendigkeit zu beugen. Nietzsches Vorstellung vom Monumentalen gilt dem Ideal einer solchen Kultur als „erhöhte < r > Praxis" (263, 14) oder auch „verbesserte < r > Physis" (334, 4), wie es dann in der Historienschrift heißt.

3.5. Schlußfolgerung zu den Überlegungen über Wahrheit und Lüge Die Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne geht aus von der Differenz, die wir schon in Ueber das Pathos der Wahrheit vorgefunden hatten, nämlich von dem Gegensatz zwischen dem Anspruch auf Unsterblichkeit (dem Imperativ des sittlichen Menschen) und der Auffassung, daß über kurz oder lang alles dahingeht. Nietzsche bemüht sich, diese Differenz dadurch zu entscheiden, daß er die Begriffe Wahrheit und Lüge auf den Grund geht. Er zeigt zunächst deren Herkunft aus einer gesellschaftlichen Konvention auf und führt diese dann auf die Not und die Langeweile, das heißt letzten Endes auf die Bedürftigkeit (welche ich als das Bedürfnis nach Schadenverhütung verstanden habe) zurück. Er erklärt die Begriffe Wahrheit und Lüge also im Rahmen einer Theorie konventioneller Zeichen. Der nächste Schritt ist, daß Nietzsche den Wahrheitsgehalt solcher Zeichen und Zeichensysteme in Frage stellt. Er führt aus, daß die Wörter und die Begriffe über einen mehrstufigen Umwandlungsprozeß aus der Erfahrung anfänglicher Reize hervorgehen, die man nicht weiter hinterfragen kann. Gegen Kant behauptet Nietzsche, die Verarbeitung der primären Reize werde durch Empfindungsgesetze entschieden, die den Anschauungsformen vorangehen. Ihm zufolge wird die Entscheidung durch Lust und Unlust bestimmt. Zu einem solchen Umwandlungsprozeß bedarf es einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelkraft, also einer plastischen — ja, einer Einbildungskraft. Laut der Geburt der Tragödie entspringt diese Kraft dann dem Zentrum, d.h. dem Herzen der Natur, wenn der Mensch sich ganz und gar dem Abgrund des Seins öffnet und dadurch zum Künstler wird, daß er die Erlösung im

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Schein bewirkt. Entspricht der Mensch in dieser Art und Weise dem Herzen, dem innersten Mittelpunkt der Natur, so wird ein Selbst gestaltet — d.h., es wird eine Welt geschaffen, in der das in sich zerrissene, weil widersprüchliche Ur-Eine seine Erfüllung, seine Erlösung findet. Wenn ich recht sehe, vertritt Nietzsche die Ansicht, daß mit einer solchen Individuation erst die Voraussetzung für die Konvention geschaffen ist. Die Konvention entsteht, wenn jene originäre Gleichnis- und Bilderwelt, ohne daß sie zu der dazugehörigen Erfahrungsgrundlage in Bezug gesetzt wird, einfach übernommen wird. In dem Fall sind die Metaphern alsbald abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden, sie gleichen dann Münzen, die ihr Bild verloren haben und nunmehr bloß als Metall in Betracht kommen. In diesem ohne den dazugehörigen Erfahrungsbereich Übernehmen vorhandener Zeichen und Zeichensysteme erkenne ich die Pseudobildung wieder, die von Nietzsche mit geradezu beispielloser Vehemenz angeprangert wird und mit der wir uns im nächsten Kapitel befassen werden. Andererseits ist zu bedenken, daß die Konvention entschieden dadurch gefördert wird, daß es dem Künstler (d.h. hier: dem großen Einzelnen) öfter durchaus genehm ist, wenn das von ihm Geschaffene in der Form Widerhall findet, daß anderen sich seinen Vorstellungen fügen. Dieses und jenes führt zudem Schluß, daßdie Individuation auf jeweils zwiefache Weise gefährdet ist: einmal durch die Faulheit und Feigheit der Vielen, das andere Mal durch den Hybris der großen Einzelnen — das eine fördert das andere. Indem Nietzsche nachweist, daß der Konvention die Grundlage einer lebendigen Erfahrung, zumal der der Erleuchtung, bar ist, verweist er ihre Ansprüche in ihre Grenzen. Das heißt, daß er der gesellschaftlichen Moral, die sich in der Neuzeit als Wissenschaft ausnimmt, den Imperativ des sittlichen, sich um das Monumentale bemühenden Menschen gegenüberstellt. Er zeigt aber auch auf, daß dieser Imperativ seinerseits gebändigt werden muß, und zwar durch Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung.

4. Zu Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie Erst vor dem Hintergrund einer solchermaßen verhärteten und beim Konventionellen beharrenden Welt kann Nietzsches Bemühen um eine monumentale Historie verstanden werden. Daß sein Verhältnis zu ihr zwiespältig sein muß, leuchtet auch ein; denn die Zwiespältigkeit, welche dem großen Einzelnen anhaftet, zeichnet noch die Erinnerung an sie aus. Grundsätzlich gilt, daß die monumentale Historie die Individuation fördern, also zur Selbstgestaltung anregen soll — freilich bewirkt der Kanon des Großen öfter das Gegenteil. Die monumentale Historie führt die zutiefst unhistorische Erfahrung des Ganz- und Selbstseins vor Augen. Damit stößt man auf

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die bedrängende Schwierigkeit, daß das Selbe dieser unhistorischen Erfahrung an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten in Erscheinung tritt. Das Selbe im Verschiedenen betrifft den Vorgang und das Ziel der Individuation. Zwar erscheint es in immer neuer Gestalt, aber die vielfältigen Gestalten sind sich in der Hinsicht gleich, daß sie stets auf das Selbe verweisen. Die monumentale Historie, die von diesen Gestalten handelt, macht so auf die Möglichkeit der Wiederholung der gleichen Gipfelerfahrung des Selbstseins aufmerksam. Wenn Nietzsche vom Klassischen und Mustergültigen, also vom Monumentalen, spricht, so meint er jene Gipfelerfahrung, er meint dieses Höchste. In diesem Sinne heißt es in der Historienschrift: „Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass für mich das Höchste eines solchen längstvergangenen Moments noch lebendig, hell und gross sei — das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht." (UB II: 259,13-18) 313

Nietzsche wehrt sich hier gegen die Einsicht, die er in Ueberdas Pathos der Wahrheit nur einem gefühllosen Dämon zuzusprechen sich traute, nämlich daß letzten Endes alles vergänglich sei.314 Nach der Frage, was an den Großen zu begraben sei (PW: 757, 7-8 u. UB II: 260, 11), antwortet er in der Historienschrift mit einer Variation einiger Sätze, die sich schon an der Anfangsseite von Ueber das Pathos der Wahrheit finden: „Doch nur das, was sie als Schlacke, Unrath, Eitelkeit, Thierheit immer bedrückt hatte und was jetzt der Vergessenheit anheim fällt, nachdem es längst ihrer Verachtung preisgegeben war." (UB II: 260,11-14; vgl. PW: 755:16-21)

Dem fügt er hinzu: „Aber Eines wird leben, das Monogramm ihres eigensten Wesens, ein Werk, eine That, eine seltene Erleuchtung, eine Schöpfung: es wird leben, weil keine Nachwelt es entbehren kann." (UB II: 260, 14-17)

Wir begegnen hier von neuem der Zäsur zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen, zwischen dem Wesentlichen und dem Kontingenten — zwischen Sollen und Sein.315 Die folgende Stelle in der Historienschrift nimmt sich dann als das Fazit dessen aus, was in der Ersten Vorrede, Ueber das Pathos der Wahrheit, und in der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge erörtert wurde: 313

314 3,5

Vergleiche dazu den weiter oben (S. 169) angeführten Passus aus der Ersten Vorrede, lieber das Pathos der Wahrheit (PW: 756, 9-16); des weiteren UB II: 317, 10-26; 7: 29 [52] (7: 648. 26 649, 9); 14: 110 ff. Vergleiche dazu PW: 759, 29 - 760, 10. Vergleiche hier S. 168.

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„In dieser verklärtesten Form ist der Ruhm doch etwas mehr als der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe, wie ihn Schopenhauer genannt hat, es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit." (UB II: 260,17-22; vergleiche PW: 755, 4-5) Hierin also sieht Nietzsche den Nutzen der monumentalen Historie, das heißt den Nutzen des Gedenkens des Klassischen und Seltenen vergangener Zeiten: Der Mensch entnimmt der monumentalen Historie, „dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird; er geht muthiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht vielleicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen." (UB II: 260, 25-30) Im Nachlaß heißt es dazu: „[...] Für den Menschen, der das Dasein ableidet, ist Geschichte nichts: er findet überall dasselbe Problem, das jeder Tag ihm zeigt. Sie ist aber etwas für den Thätigen, Unweisen, der alles noch zu hoffen hat, der nicht resignirt, der kämpft — der braucht Geschichte als Exempla dessen, was Einer erreichen kann, wie Einer geehrt werden kann, besonders aber als Tempel des Ruhms. Sie wirkt vorbildlich und stärkend." (7: 29 [39]; 7: 641, 27 - 642, 2) Demnach ist der Höhepunkt der höchsten Erfüllung immer der gleiche und zu allen Zeiten das für alle Völker und Individuen verbindliche Maß. Die monumentale Historie befaßt sich mit der Aufgabe, dieses Maß und dessen alleinige Verbindlichkeit zu verbreiten. Nach Nietzsche ist hier der große Historiker am Werke, der, aufgrund eigens gemachter Erfahrungen, in den Gestalten vergangener Zeiten seinesgleichen wiedererkennt. Durchaus in diesem Sinne sagt Nietzsche im sechsten Kapitel der Historienschrift: „Gleiches durch Gleiches!" (UB II: 294, 4 — vgl. freilich 12: 2 [140]). Und weiter unten: „Also: Geschichte schreibt der Erfahrene und Ueberlegene. Wer nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Grosses und Hohes aus der Vergangenheit zu deuten wissen. Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen." (UB II: 294, 25-30) Nietzsche hat einen klaren Blick für die Ambivalenz einer solchen Historie: „ < D > enkt man sich [...] diese Historie in den Händen und Köpfen der begabten Egoisten und der schwärmerischen Bösewichter, so werden Reiche zerstört, Fürsten ermordet < und > Kriege und Revolutionen angestiftet" (UB II: 262, 31 - 263,1). Nietzsches Ansicht, daß das Höchste sich nur dann ein zweites Mal einstellen könne, wenn die Pythagoreer mit ihrem Glauben Recht hätten, bei gleichen astronomischen Vorlagen müsse auch auf Erden das Gleiche sich bis in die kleinsten Einzelheiten wiederholen, betrachte ich als verfehlt. Denn die monumentale Historie gilt

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ja nicht in erster Linie dem Handeln des Menschen. Sie zielt nicht zuerst auf das welthistorische Individuum im Hegeischen Sinne ab,316 sondern betrifft einerseits die Selbstwerdung des einzelnen Menschen und andererseits dessen Haltung inmitten der Natur und des Kosmos. Man kann dies in erweitertem Sinne durchaus als Handeln bezeichnen, sollte es aber streng gegen das erfolgreiche Handeln, also gegen das Handeln im engeren Sinne, abgrenzen. Richtig ist, daß sich die monumentale Historie an erster Stelle bemüht, einen Effekt herbeizuführen317 — sie gleicht in dieser Hinsicht der Tragödie. Der Historiker möchte den Mut seiner Zuhörer steigern, er möchte das Feuer am Herd und darüber hinaus den Funken der Selbsterkenntnis entfachen. Dazu heißt es im Schopenhauer-Aufsatz: „Es ist schwer, Jemanden in diesen Zustand einer unverzagten Selbsterkenntniss zu versetzen, weil es unmöglich ist, Liebe zu lehren: denn in der Liebe allein gewinnt die Seele nicht nur den klaren, zertheilenden und verachtenden Blick für sich selbst, sondern auch jene Begierde, über sich hinaus zu schauen und nach einem irgendwo noch verborgnen höheren Selbst mit allen Kräften zu suchen." (UB III: 385, 18-24; Hervorhebung nicht im Original)318

In der Historienschrift wird dies so artikuliert: 316

317

318

Den diesbetreffenden Ansichten von K. Brase kann ich nicht zustimmen (K. Brase, Geschichtsphilosophische Strukturen im Werk Nietzsches, Bern/Frankfurt am Main 1973, S. 22 f.). Zwar heißt es im Nachlaß: „[...] Sinn der großen That — große Thaten erzeugen" (7: 29 [1]; 621, 10-11), jedoch bin ich der Ansicht, daß Nietzsches Begriff der großen Tat nicht in erster Linie dem Handeln, sondern vielmehr dem Sein des Menschen gilt. In diesem Kapitel wurde ja dargetan, daß das Selbstsein sich im großen Augenblick ereignet, aber auch, daß es nur Bestand hat, solange der Mensch nicht der Hybris anheimfällt — also nur dann, wenn er das Gesetz der Mitte in Rechnung stellt. Dieser Mensch ist dem nur Instinktiven des Tatmenschen (Gerhardt scheint sich zuweilen einer solchen Auslegung zu nähern; vgl. a.a.O., 148-149) gleich fem als dem nur Passiven, welcher einem Pessimismus schopenhauerischer Prägung verfallen ist und daher resigniert hat. Haeuptner kommt der Sache schon näher, indem er streng zwischen dem großen und dem erfolgreichen Individuum unterscheidet. Allerdings bleibt er der Dichotomie zwischen der dualistischen und der „pantheistischen" Weltsicht verhaftet. Vergleiche: „ < I > mmer wird sie die Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der causae die effectus monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig, hinzustellen" (UB II: 261, 29-32). Und des weiteren: „Also nur der, welcher sein Herz an irgend einen grossen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur, ihr Zeichen ist Selbstbeschämung ohne Verdrossenheit, Hass gegen die eigne Enge und Verschrumpftheit, Mitleiden mit dem Genius, der aus dieser unsrer Dumpf- und Trockenheit immer wieder sich emporriss, Vorgefühl für alle Werdenden und Kämpfenden und die innerste Überzeugung, fast überall der Natur in ihrer Noth zu begegnen, wie sie sich zum Menschen hindrängt, wie sie schmerzlich das Werk wieder missrathen fühlt, wie ihr dennoch überall die wundervollsten Ansätze, Züge und Formen gelingen: so dass die Menschen, mit denen wir leben, einem Trümmerfelde der kostbarsten bildnerischen Entwürfe gleichen, wo alles uns entgegenruft: kommt, helft, vollendet, bringt zusammen, was zusammengehört, wir sehnen uns unermesslich, ganz zu werden." (UB III: 385, 24 - 386, 4)

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„ < N > ur in der Liebe aber, nur umschattet von der Illusion der Liebe schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und Rechte." (UB II: 296, 1315) 3 "

Und etwas weiter unten: „ < N > ur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instincte erhalten oder sogar wecken." (UB II: 296, 18-21)

Die beiden zuletzt angeführten Stellen sind dem siebten Kapitel der Historienschrift entnommen. Dort, so denke ich, kommt Nietzsches eigentliches Anliegen betreffend die (monumentale) Historie weitaus klarer zum Zuge als in dem zweiten Abschnitt der Schrift. Im siebten Abschnitt heißt es lapidar: „Eine solche Geschichtsschreibung würde aber durchaus dem analytischen und unkünstlerischen Zuge unserer Zeit widersprechen, ja von ihr als Fälschung empfunden werden." (UB 11:296, 21-23)

In dem zweiten und dritten Kapitel der Historienschrift wird diese Ansicht verzerrt. Zwar gibt Nietzsche im Nachlaß zu erkennen, daß er bestrebt sei, die Gerechtigkeit als Mutter des wahren Wahrheitstriebes zu preisen,320 in diesen Abschnitten verwickelt er sich jedoch in eine zwiespältige Vorstellung der Gerechtigkeit, die als retrospektive dem überlieferten Begriff der Wahrheit als Richtigkeit verhaftet bleibt, als prospektive aber „das Recht dessen, was jetzt werden soll" (254,5), befürwortet. Erst im sechsten Abschnitt seiner Schrift gelingt es ihm, die Differenzen zwischen dem Gerechtigkeits- und dem Wahrheitstrieb herauszustellen. *

Nietzsche zufolge herrschte seinerzeit die Vernunft und war die lebendige Erfahrung des Großen verloren gegangen. In der Notiz 7: 29 [38], mit dem Titel ,Die historische Krankheit', steht: „[...] Kampf gegen das Grosse und Seltne und gegen das Monumentale durch die Antiquare. Alles Gewesene interessant, vernünftig [...]" (7: 29 [38]; 7: 641, 4-6),

und weiter unten: „[...] Es fehlt dem modernen Historiker das Fundament: er ist im Monumentalen willkürlich, im Antiquarischen tödtend und wurzelt nicht in einer Cultur." (7: 29 [31]; 7: 641, 15-17)

Die nun folgenden Passagen aus der Historienschrift nehmen sich als Erläuterungen dieser Sätze aus. Im zweiten Kapitel heißt es: 319 320

Vergleiche hier S. 174. 7: 29 [23]; 7: 634, 20-21.

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„Nehmen wir das einfachste und häufigste Beispiel. Man denke sich die unkünstlerischen und schwachkünstlerischen Naturen durch die monumentalische Künstlerhistorie geharnischt und bewehrt: gegen wen werden sie jetzt ihre Waffen richten! Gegen ihre Erbfeinde, die starken Kunstgeister, also gegen die, welche allein aus jener Historie wahrhaft, das heisst zum Leben hin zu lernen und das Erlernte in eine erhöhte Praxis umzusetzen vermögen. Denen wird der Weg verlegt; denen wird die Luft verfinstert, wenn man ein halb begriffenes Monument irgend einer grossen Vergangenheit götzendienerisch und mit rechter Beflissenheit umtanzt, als ob man sagen wollte: ,Seht, das ist die wahre und wirkliche Kunst: was gehen euch die Werdenden und Wollenden an!'" (UB II: 263, 8-20)

Im dritten Kapitel lesen wir dann: „Wenn sich der Sinn eines Volkes derartig verhärtet, wenn die Historie dem vergangnen Leben so dient, dass sie das Weiterleben und gerade das höhere Leben untergräbt, wenn der historische Sinn das Leben nicht mehr conservirt, sondern mumisirt: so stirbt der Baum, unnatürlicher Weise, von oben allmählich nach der Wurzel zu ab — und zuletzt geht gemeinhin die Wurzel selbst zu Grunde. Die antiquarische Historie entartet selbst in dem Augenblicke, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. Jetzt dorrt die Pietät ab, die gelehrtenhafte Gewöhnung besteht ohne sie fort und dreht sich egoistisch-selbstgefällig um ihren eignen Mittelpunkt. Dann erblickt man wohl das widrige Schauspiel einerblinden Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft; es gelingt ihm selbst eine bedeutendere Anlage, ein edleres Bedürfniss durch die antiquarische Manier zu unersättlicher Neubegier, richtiger Alt- und Allbegier herabzustimmen; oftmals sinkt er so tief, dass er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frisst." (UB II: 268,1-20)

Angesichts einer solchen Verhärtung und Verirrung in geschichtlichen Dingen ist eine kritische Historie gefragt. Wie weiter oben schon einmal erwähnt wurde, sind einige Interpreten der Ansicht, Nietzsche trete an erster Stelle für eine kritische Historie ein. In einem bestimmten Sinne möchte ich dem zustimmen. Denn es trifft durchaus zu, daß diese Art, das Vergangene zu betrachten, seinerzeit die am ehesten angebrachte war. Die kritische Geschichte bemüht sich, einen Weg ausfindig zu machen, der vom historischen Vernunftmenschen zum unhistorischen und intuitiven Menschen zurückführt.321 Auf dieser Strecke hat sie ihren eigentümlichen Ort. Es gibt jedoch keinen rechten Weg vom einen zum anderen, dieser muß vielmehr erst gebaut werden. Dazu kommt, daß die Grundlagen für einen solchen Bau nur aus der Destruktion des Herkömmlichen und Gegenwärtigen gewonnen werden können und daß das Ziel dieses Unterfangens zunächst völlig unklar ist. Es handelt sich also keineswegs um ein bewußtes Wollen, sondern vielmehr um den „dunklen Drang" (UB III: 387, 8) des Lebens, um das Treiben jener dunklen, unersättlich sich selbst begehrenden Macht. Aber obwohl das Ziel dem drängenden Leben unbekannt ist, geht es nach Nietzsche

321

Vergleiche UB II: 306, 33 - 307, 9.

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um das Verlangen nach einer ursprünglichen, d.h. unhistorischen Erfahrung. Das Leben versucht in den Bereich des Unmittelbaren zurückzufinden. Das ist das Ziel, dem es zwar unbewußt, aber dennoch mit nachtwandlerischer Sicherheit zustrebt. Nichtsdestoweniger kann das Leben in diesem Bestreben auch scheitern — daher die Fragwürdigkeit der kritischen Historie. Das Anliegen dieser Art von Historie wird im achten Kapitel der Historienschrift folgendermaßen dargetan: „ < D > er Ursprung der historischenBildung [... ] muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren — dieses dreifache Muss ist der Imperativ des Geistes der .neuen Zeit', falls in ihr wirklich etwas Neues, Mächtiges, Lebenverheissendes und Ursprüngliches ist." (UB II: 306, 5-13)

Nach dem Imperativ des sittlichen und dem des moralischen, d.h. konventionellen oder vernünftigen Menschen begegnet uns hier ein dritter Imperativ. Er bezieht sich auf die Not der geschichtlichen Lage und die Notwendigkeit einer Wende, zurück zur lebendigen Erfahrung, zum Unmittelbaren. Demnach ist die Rolle der kritischen Historie durchaus eine wesentliche. Sie befaßt sich mit der Krisis, die von Nietzsche erkannt und an den Tag gefördert wurde, und sieht sich vor die Aufgabe gestellt, diese Krise in einen Übergang zu verwandeln. Sie schafft die Voraussetzung dafür, daß man sich wieder um das letztendliche Ziel der Geschichte bemühen kann.

Schluß In diesem Kapitel galt es, Nietzsches Vorstellung einer monumentalen Historie zu klären. Dazu bedurfte es erst einmal einer Erläuterung des Monumentalen, weshalb wir uns den nachgelassenen Schriften Ueber das Pathos der Wahrheit (PW) und Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (WL) zugewandt haben. Im ersten Paragraphen wurde gezeigt, daß der Begriff des Monumentalen (UB II) mit dem der Erleuchtung, d.h. mit der Erfahrung des großen Augenblicks (PW), in engstem Zusammenhang steht. Das Pathos der Wahrheit, so stellte sich heraus, geht aus dieser Erleuchtung hervor. Weil aber die Vorrede Ueber das Pathos der Wahrheit Unstimmigkeiten aufzeigt, die im Rahmen der Schrift nicht gelöst werden konnten, haben wir uns im zweiten Paragraphen einigen nachgelassenen Aufzeichnungen aus dem Philosophenbuch zugewandt. Deren Erörterung ließ uns erkennen, daß das Pathos der Wahrheit, welches den Philosophen als solchen auszeichnet, von Grund auf zwiespältig ist. Im dritten Paragraphen sahen wir diesen Befund von den ersten Seiten von Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne bestätigt: Sie thematisieren den „Hochmuth". Sodann gingen wir Nietzsche Analyse der Begriffe Wahrheit und Lüge

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nach. Im großen und ganzen unterscheidet er deren zwei: die konventionellen (die, so hat sich herausgestellt, auf dem Prinzip der Schadenverhütung basieren) und die individuellen (welche auf eine Erleuchtung zurückgehen). Aus Nietzsches diesbezüglichen Vorstellungen geht hervor, daß letztendlich die Erleuchtung der Wahrheit zugrunde liegen muß, weil erst sie die Voraussetzung für die Einbildungskraft schafft. Der Mensch sollte sein jeweils einmaliges Dasein gestalten. Außerhalb der Konvention entscheidet die Frage ob Wahrheit oder Lüge sich demnach daran, ob der Mensch sich der Aufgabe der Individuation stellt oder ob er sich ihr verweigert. Bewältigt der Mensch seine Aufgabe, so sollte dennoch das Ergebnis nicht absolut genommen werden, denn Wahrheit gibt es nur als Kunst. Sie ist symbolisch und pragmatisch und fördert als solche die Individuation, dient also der Gerechtigkeit. Wird sie aber absolut gesetzt, so ist sie der Individuation im Wege und leistet der Ungerechtigkeit Beischub. In betreff der monumentalen Historie führt dies uns zum folgenden Schluß: Insofern die monumentale Historie die Individuation fördert, dient sie der Gerechtigkeit. Sie stellt die Geschicke jener großen Gestalten dar, denen die Individuation gelungen ist. Jedoch ist nicht dieser oderjener große Mensch bedeutsam, sondern der Umstand, daß ihm die Individuation gelungen ist. Indem die monumentale Historie zu erkennen gibt, daß solches — allem Zweifel und aller Reaktion zum Trotz — möglich ist, dient sie, wie gesagt, der Gerechtigkeit. Zur Förderung der Individuation gehört aber auch, daß vor der Gefahr der Hybris gewarnt wird, durch die der Erleuchtete gefährdet ist. Sobald die monumentale Historie dies unterläßt, verkommt sie und dient nunmehr dem Kanon. Letzten Endes also sollte die monumentale Historie die Zwiespältigkeit des Pathos vor Augen führen und den Einblick in das Gesetz der Mitte vermitteln.

Sechstes Kapitel Von der Selbstsucht der objektiven Persönlichkeit Zu Nietzsches Exempel einer kritischen Historie

Einleitung In diesem Kapitel setze ich mich im Rahmen meiner Erörterung über das Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit mitdemjenigen auseinander, wogegen Nietzsche aus „unzeitgemäßer" Perspektive agiert — ich meine die damalige Bildungspraxis, in der die Historie eine hervorragende Rolle spielte. Meines Erachtens geht Nietzsches Polemik auf die Erkenntnis zurück, daß die derzeitige Bildung keineswegs das Herbeiführen und die Bewältigung der unhistorischen Erfahrung des Selbstseins sich zur Aufgabe machte, sondern dem Selbstsein geradezu entgegenstand. Unter diesem Aspekt ist es die Aufgabe der von Nietzsche vorgeschlagenen kritischen Historie, zu zeigen, wie die Historie die Individuation im Weg ist und somit der Ungerechtigkeit Beischub leistet. In diesem Kapitel bemühe ich mich, den eigentlichen Gehalt seiner Kritik herauszuarbeiten: Ich verstehe sie als eine Strukturanalyse der Selbstsucht, die den Mechanismus der Verdrängung, also die Verdrängung der Aufgabe der Individuation, vor Augen führt. Wir gehen von denjenigen Abschnitten der Historienschrift aus, in denen Nietzsche seine Vorstellung einer kritischen Historie in die Praxis umsetzt. Es handelt sich hauptsächlich um die Kapitel vier bis neun. In diesen Abschnitten unternimmt Nietzsche es, den Anspruch der modernen, d.h. objektiven Persönlichkeit auf allgemeine Verbindlichkeit zu prüfen. Am Anfang des fünften Kapitels findet sich folgende Stelle: „In fünffacher Hinsicht scheint mir die Uebersättigung einer Zeit in Historie dem Leben feindlich und gefährlich zu sein: durch ein solches Uebermaass wird < der > [...] Contrast von innerlich und äusserlich erzeugt und dadurch die Persönlichkeit geschwächt; durch dieses Uebermaass geräth eine Zeit in die Einbildung, dass sie die seltenste Tugend, die Gerechtigkeit, in höherem Grade besitze als jede andere Zeit; durch dieses Uebermaass werden die Instincte des Volkes gestört und der Einzelne nicht minder als das Ganze am Reifwerden verhindert; durch dieses Uebermaass wird der jederzeit schädliche Glaube an das Alter der Menschheit, der Glaube, Spätling und Epigone zu sein, gepflanzt; durch dieses Uebermaass geräth eine Zeit in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst und aus ihr in die

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noch gefährlichere des Cynismus; in dieser aber reift sie immer mehr einer klugen egoistischen Praxis entgegen, durch welche die Lebenskräfte gelähmt und zuletzt zerstört werden." (UB II: 279,1-18) 3 2 2

Zwar ist es durchaus berechtigt, zu argumentieren, daß diese fünf Punkte das Programm der Nietzscheschen Historienkritik erfassen — ihnen korrespondieren die Kapitel vier bis neun der Schrift —, doch ist es fraglich, ob Nietzsche der Sache hier auch tatsächlich auf den Grund kommt.323 Das ist m. E. nicht der Fall. Vielmehr wird dasjenige, was letztlich als die eigentliche Ursache ans Licht gefördert wird, hier noch als Folge vorgeführt: Im letzten Satz spricht Nietzsche von einer „klugen egoistischen Praxis" (279, 16). Erst im neunten Kapitel bringt Nietzsche seine Zeitdiagnose auf den Punkt und erläutert die egoistische Praxis wie folgt: „Es ist gewiss die Stunde einer grossen Gefahr: die Menschen scheinen nahe daran zu entdecken, dass der Egoismus der Einzelnen, der Gruppen oder der Massen zu allen Zeiten der Hebel der geschichtlichen Bewegungen war; zugleich aber ist man durch diese Entdeckung keineswegs beunruhigt, sondern man decretirt: der Egoismus soll unser Gott sein. Mit diesem neuen Glauben schickt man sich an, mit deutlichster Absichtlichkeitdie kommende Geschichte auf dem Egoismus zu errichten: nur soll es ein kluger Egoismus sein, ein solcher, der sich einige Beschränkungen auferlegt, um sich dauerhaft zu befestigen, ein solcher, der die Geschichte deshalb gerade studiert, um den unklugen Egoismus kennen zu lernen. Bei diesem Studium hat man gelernt, dass dem Staate eine ganz besondere Mission in dem zu gründenden Weltsysteme des Egoismus zukomme: er soll der Patron aller klugen Egoismen werden, um sie mit seiner militärischen und polizeilichen Gewalt gegen die schrecklichen Ausbrüche des unklugen Egoismus zu schützen." (UB II: 321, 22 - 322, 4)

Das Thema der Selbstsucht wird im Frühwerk öfter aufgegriffen. Im großen und ganzen vertritt Nietzsche die Ansicht, daß die damalige .Bildung' die Selbstsucht schürte und die Individuation verhinderte, also eben keine wirkliche Bildung war. Die plastische Kraft kam nicht zur Wirkung. Im ersten Vortrag aus der Reihe Lieber die Zukunft unserer Bildungsanstalten meint der Begleiter des alten Philosophen, für die derzeitige Bildungspraxis drei Motive erkennen zu können. Er nennt das „nationalökonomische Dogma" (667, 18), die „Angst vor einer religiösen Unterdrückung" (668, 33-34) und das Interesse des Staates (669, 5). Im Schopenhauer-Aufsatz führt Nietzsche vier Gebilde der Selbstsucht auf: die Selbstsucht der Erwerbenden, die Selbstsucht des Staates, die Selbstsucht aller derer, welche Grund haben, sich zu verstellen und durch die Form zu verstecken, und zuletzt die Selbstsucht der Wissen-

322 323

Vergleiche 7: 29 [155]. Die Punkte werden von Hillebrand und Schlechta ausführlich erörtert, dagegen mißt Kaufmann ihnen nur ein geringes Gewicht bei; Jähnig ist der Ansicht, daß das fünfte Kapitel das äußere und innere Mittelstück der Schrift bildet — siehe Hillebrand, a.a.O., S. 313 ff.; Schlechta, .Nietzsches Verhältnis zur Historie', S. 52 ff.; Kaufmann, a.a.O, S. 167; und Jähnig, a.a.O., S. 76.

6 Von der Selbstsucht der objektiven Persönlichkeit

211

schaft und der Gelehrten.324 In der Historienschrift handeln die Abschnitte vier und fünf von der dritten dieser vier Kategorien. Nietzsche geht dort der Kluft zwischen Empfindung und Bildung, zwischen Inhalt und Form nach. Die drei anderen Kategorien sind, von der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung her gesehen, ineinander verschachtelt: Nietzsche spricht an erster Stelle von dem Historiker, der dem Staat hörig ist — die Interessen der erwerbstätigen Historiker, des Staates und der historischen Wissenschaft sind, so geht aus seiner Analyse hervor, zu einem einzigen Gebilde der Selbstsucht zusammengewachsen. Laut des Schopenhauer-Aufsatzes besteht die erste Weihe der Kultur darin, daß man sein Herz an irgend einen großen Menschen hängt.325 In diesem Spiegel erfährt der für gewöhnlich in einer mehr oder weniger tierhaften Existenz dahinlebende Mensch erst die Differenz zwischen dem Vollendeten und dem Bedürftigen — das Leuchtende dieses Ideals dient ihm nunmehr als Richtschnur und Vorbild. In der Historienschrift vertritt Nietzsche die Ansicht, daß das Aufkommen einer solchen Liebe zum Großen und Eigentlichen durch die Bildungspraxis verhindert wird. Dadurch wird der Instinkt aufs empfindlichste gestört und sowohl der Einzelne wie auch das Ganze am Reifwerden gehindert.326 Der Gegensatz zwischen der Lehre der Superiorität der Gegenwart und dem unterschwelligen Wissen um deren Inferiorität veranlaßt zur Ironie, gar zum Zynismus. Aus dem Schopenhauer-Aufsatz geht hervor, daß es bei dieser Bildungspraxis um die Indienstnahme und den Mißbrauch der Kultur geht.327 Der dem Menschen innewohnende dunkle Drang, sein Sehnen nach Erlösung, wird auf Abwege geführt. Ihm wird eine Art SurrogatErlösung geboten. Das Schema ist immer das gleiche: An die Stelle seines eigentlichen Anliegens, zu einem wohlgerundeten und einmaligen Individuum heranzuwachsen, tritt das Interesse einer anderen Person (oder einer Gruppe von Personen), einer Instanz, einer Institution oder eines Staates. Hier ist der Mechanismus der Verdrängung am Werk, der auch der Auffassung der menschlichen Zeitlichkeit als einer Jetztfolge zugrunde liegen mag. Im zweiten Kapitel habe ich dargelegt, daß der Mensch, der sich seiner Aufgabe verweigert, in jedem Moment seines Gewissens wegen bedroht ist. Die Vorstellung einer diachronen Gerechtigkeit (mit diesem Ausdruck bezeichne ich den hegelschen Gedanken 324 325 326

127

UB III: 387, 20 - 401, 6. UB III: 385, 25. Vergleiche den Rahmen 385, 9 - 386, 5. UB II: 279, 9-11. Vergleiche des weiteren UB II: 280, 19-26: „ < E > r hat seinen Instinct vernichtet und verloren, er kann nicht mehr, dem .göttlichen Thiere' vertrauend, die Zügel hängen lassen, wenn sein Verstand schwankt und sein Weg durch Wüsten führt. So wird das Individuum zaghaft und unsicher und darf sich nicht mehr glauben: es versinkt in sich selbst, ins Innerliche, das heisst hier nur: in den zusammengehäuften Wust des Erlernten, das nicht nach aussen wirkt, der Belehrung, die nicht Leben wird." Vergleiche aber auch den siebten Abschnitt der Historienschrift! UB III: 387, 15-16.

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einer in der Geschichte wirksamen Vernunft und die christliche Vorstellung einer eschatologischen Geschichte, von denen im achten Kapitel der Historienschrift die Rede ist) kann als Selbstberechtigung erklärt werden.32® Denn durch den Gedanken einer diachronen Gerechtigkeit wird die Verdrängung zweiter Instanz hypostasiert: Sie rechtfertigt die Praxis dieser Verdrängung. Demnach trifft es durchaus zu, daß diejenigen, die einem solchen Regime, einer solchen Vorstellung der Gerechtigkeit unterstehen, allmählich einer klugen und egoistischen Praxis entgegen wachsen. Man sollte jedoch nicht übersehen, daß der Gott, der in der mit dieser Praxis einhergehenden Theorie gefeiert wird, eben schon die Selbstsucht ist. Also ist es nur folgerichtig, wenn Nietzsche in seinem neunten Kapitel schließt: „ < M > andecretirt: der Egoismus soll unser Gott sein." (321, 27) Im folgenden setze ich mich zuerst mit der von Nietzsche angeprangerten Kluft zwischen Empfindung und Bildung auseinander. Es wird sich herausstellen, daß Nietzsches Ansichten hier zuweilen irreführend sind. Dies gilt vor allem für seine Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Form und Inhalt — hier liegt vielmehr eine Korrespondenz vor: Dem chaotischen Innern korrespondiert ein mangelhaftes Äußeres, während mit dem organisierten Selbst ein starker Ausdruck zusammengeht. Ferner beschäftigt uns sein Gedanke einer Konvention im Sinne eines großen Stils. Außerdem befasse ich mich mit einer Darlegung Nietzsches über den griechischen Staat. Es stellt sich heraus, daß jener nach Nietzsche mustergültige Staat keineswegs seinen Ansprüchen genügt. Indem ich alle diese Themen im letzten Paragraphen dieses Kapitels zusammennehme, versuche ich den Nachweis dafür zu erbringen, daß es Nietzsches Ansicht nach in der Tat so etwas wie die Vorstellung einer diachronen Gerechtigkeit gibt. Diese Vorstellung dient dem Ziel, die Aufgabe der Individuation, an die der Mensch durch sein Gewissen immer wieder erinnert wird, endgültig zu beseitigen. Sie schafft somit die Voraussetzung für die uneingeschränkte Herrschaft der Ungerechtigkeit. In Rahmen der damaligen Verhältnisse war Nietzsches bemüht, die Selbstsucht des objektiven Menschen (des Historikers), der (historischen) Wissenschaft und des Staates vor Augen zu führen. Meines Erachtens aber ist seine Analyse der Selbstsucht nach wie vor aktuell.

1. Von der Kluft zwischen Empfindung und Bildung Am Anfang des vierten Abschnittes der Historienschrift nennt Nietzsche noch einmal die Dienste, welche die Historie dem Leben zu leisten vermag:

,28

Vergleiche weiter oben S. 81 ff.

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„ < J > eder Mensch und jedes Volk braucht j e nach seinen Zielen, Kräften und Nöthen eine gewisse Kenntniss der Vergangenheit, bald als monumentalische, bald als antiquarische, bald als kritische Historie . . . " (UB II: 271, 3-6; vergleiche UB II: 258, 5-12). Jetzt fügt er aber hinzu: „ . . . aber nicht wie eine Schaar von reinen, dem Leben nur zusehenden Denkern, nicht wie wissensgierige, durch Wissen allein zu befriedigende Einzelne, denen Vermehrung der Erkenntniss das Ziel selbst ist, sondern immer nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Zweckes." (UB II: 271, 6-9) 329 J e d o c h w a r seinerzeit d i e natürliche B e z i e h u n g ( 2 7 1 , 11) zur Historie korrumpiert, die Konstellation v o n L e b e n und Historie ( 2 7 1 , 26) hatte sich geändert. U n d zwar „ — durch die Wissenschaft, durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll." (UB II: 271, 32-33) 330 N i e t z s c h e unterläßt e s zunächst, seine T h e s e zu b e g r ü n d e n . Erst g a n z allmählich stellt sich heraus, d a ß d i e Forderung, d i e Historie solle W i s s e n s c h a f t sein, w o h l eher e i n e F o l g e , j e d e n f a l l s aber nicht d i e erste U r s a c h e für das s c h i e f e Verhältnis z w i s c h e n L e b e n und Historie ist. I n f o l g e dieser Forderung w u r d e die A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der G e s c h i c h t e nicht länger durch d e n Z w e c k d e s L e b e n s geführt, das W i s s e n u m die Vergangenheit nicht länger g e z ü g e l t . A l l e Grenzpfähle w a r e n u m g e r i s s e n — der Horizont o h n e Kraft. Kurz, die Historie hatte das L e b e n , das W i s s e n d a s H a n d e l n überwältigt. D i e Abschnitte v i e r bis n e u n der Historienschrift sind g a n z d e n zersetz e n d e n Folgen

dieser Ü b e r w ä l t i g u n g des L e b e n s durch d i e Historie g e w i d m e t :

„Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhangslose drängt sich, das Gedächtniss öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet, die Natur bemüht sich auf's Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe mit einander, und es scheint nöthig, sie alle zu bezwingen und zu bewältigen, um nicht selbst an ihrem Kampfe zu Grunde zu gehen. Die Gewöhnung an ein solches unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen wird allmählich zu einer zweiten Natur, ob es gleich ausser Frage steht, dass diese zweite Natur viel schwächer, viel ruheloser und durch und durch ungesünder ist, als die erste. Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst." (UB II: 272, 12-27)

329

330

Des weiteren heißt es: „Dass dies die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Cultur, eines Volkes zur Historie ist — hervorgerufen durch Hunger, regulirt durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft — dass die Kenntniss der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft: das Alles ist einfach, wie die Wahrheit einfach ist, und überzeugt sofort auch den, der dafür nicht erst den historischen Beweis sich führen lässt." (UB II: 271, 12-20). Laut Jähnig ist dies der zentrale Satz der Historienschrift (a.a.O., S. 71).

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In diesem Absatz finden wir mehrere Themen. Haeuptner ist entgegenzuhalten, daß Nietzsche hier nicht ohne weiteres die dem überhistorischen Gesichtspunkt zuzuordnende „Wissenschaft des universalen Werdens" (272,7) im Blick hat, sondern eher das „historische Wissen" (272, 12). Überdies müssen wir dahingehend differenzieren, daß beide Perspektiven gleichsam miteinander verschränkt werden. Infolge dessen nehmen die historischen Geschehnisse sich nicht als neutrale Daten, sondern vielmehr als lebendige Kräfte aus.331 Nach Nietzsche hat der Verlust der gesunden Intuition dazu geführt, daß sich der Mensch in ein Labyrinth verirrt. Zwar versucht er diese Lage durch das beflissene Sammeln und Speichern historischer Daten zu meistern, doch ist dieses Bestreben von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dem Menschen fehlt nämlich jegliches Richtschnur und ist daher nicht imstande, den Wust einander vielfach widerstreitender Daten, d.h. menschlicher Möglichkeiten, auf eine bestimmte Perspektive hin zu ordnen und so zu verarbeiten. Eine Entscheidung für dieses oder gegen jenes wäre ja völlig willkürlich und würde als nächstliegendes Resultat eine noch größere Verirrung und Verwirrung herbeiführen. Der Schrecken einer solchen Perspektive lähmt ihn und läßt ihn der Apathie anheimfallen. Somit werden die Hoffnung und der Glaube an das wahrhafte und gute Leben vom Terror des Momentanen völlig erdrückt. Und der Mensch versucht sich mit den Waffen der Gleichgültigkeit und der Allwissenheit zu schützen. Daraus geht Nietzsche zufolge der Gegensatz zwischen Innerem und Äußerem hervor: die Kluft zwischen dem zerrissenen und desorientierten menschlichen Selbst und der von der Wissenschaft geprägten Kultur, die Differenz zwischen der aufs peinlichste fehlenden Selbsterkenntnis und den ausufernden historischen Kenntnissen. Nietzsche: „Durch dieses Rumpeln verräth sich die eigenste Eigenschaft dieses modernen Menschen: der merkwürdige Gegensatz eines Inneren, dem kein Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres entspricht, ein Gegensatz, den die alten Völker nicht kennen. Das Wissen, das im Uebermaasse ohne Hunger, ja wider das Bedürfniss aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamen Stolze als die ihmeigenthümliche .Innerlichkeit' bezeichnet." (UB II: 272, 27 - 273, 2)

Hiermit ist jetzt der zentrale Angriffspunkt seiner Kulturkritik erreicht: Die Kritik gilt dem Gegensatz zwischen Empfindung und Bildung. Nietzsche verwendet diese Begriffe in mehrfacher Bedeutung.

331

Vergleiche dazu folgende Notiz aus dem späten Nachlaß (Frühling 1884): „Die Herrschaft über sich ist das Gleichgewicht vieler angehäuften Erinnerungen und Motive — eine Art Frieden unter feindlichen Kräften. / voluntas ist ein zuletzt mechanisches unbedingtes Übergewicht, ein Sieg, der ins Bewußtsein tritt." (11: 25 [360]; 11: 107, 9-13)

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Der Begriff Empfindung meint die unmittelbare Erfahrung, das heißt das unmittelbare Erlebnis. Die nach Nietzsche richtungweisende Empfindung ist die eines Unbehagens. Sie ist eine Mischung aus Langeweile und Gleichgültigkeit — mit der dennoch eine kaum noch bemerkbare Sehnsucht einhergehen mag. Gemeint ist das Gefühl, die Bildung habe sich in bezug auf dasjenige, auf das es im Leben tatsächlich ankommt, als völlig belanglos erwiesen. Diese Empfindung nimmt zwischen dem Pathos, das mit dem gehobenen und einmaligen Gefühl des Ganz- und Selbstseins einhergeht, und jener Apathie, in der die Sehnsüchte vollends abgetötet worden sind, eine Art mittlere Stelle ein. Es ist dies die Empfindung, die Nietzsches Kulturkritik zugrunde liegt; sie ist als ein Aufbegehren seitens des Bereiches der Empfindungen zu verstehen. Was die Bildung betrifft, so unterscheidet Nietzsche zwischen einer wahren und einer unwahren. Seine Kritik gilt einer .Bildung', die sich in einem wahllosen Sammeln und Speichern von Daten erschöpft. Dieser Bildungspraxis stellt er das sogenannte klassische, seines Erachtens im Grunde aber zeitlose, d.h. überzeitliche Bildungsideal gegenüber: das Erringen der „Herrschaft über sich selbst" (285, 1718), also das Vermögen und die Kraft, „das Chaos zu organisiren" (333,18). Wahre Bildung führt eine gleichsam neugeborene, eine zweite Natur herbei.332 Kultur bedeutet ihm eine verbesserte Physis, ohne Innen und Außen, ohne Verstellung und Konvention, also eine Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen, wie es dann auch am Schluß der Historienschrift heißt.333 Seiner Meinung nach war die damalige Bildung als Resultat falsch und als Methode irreführend, da ja sowohl dem Resultat als auch der Methode das Vermögen der Organisation und des Organisierens abgingen.334 Ihr fehlte die plastische Kraft — das aber heißt, daß der Bezug zum Zentrum fehlte. Im Zuge dieser Kulturkritik, die vom Gegensatz zwischen Empfindung und Bildung ihren Ausgang nimmt, verwendet Nietzsche nunmehr vielfach das Bild vom Gegensatz zwischen Form und Inhalt. In bezug auf das „Wissen", das „in einer

332 333 334

UB II: 270, 30-32; 272, 22-23. UB II: 334, 3-6. Vergleiche die UB III: „Und das ist das Geheimniss aller Bildung: sie verleiht nicht künstliche Gliedmaassen, wächserne Nasen, bebrillte Augen, — vielmehr ist das, was diese Gaben zu geben vermöchte, nur das Afterbild der Erziehung. Sondern Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die zarten Keime der Pflanzen antasten will, Ausströmung von Licht und Wärme, liebevolles Niederrauschen nächtlichen Regens, sie ist Nachahmung und Anbetung der Natur, wo diese mütterlich und barmherzig gesinnt ist, sie ist Vollendung der Natur, wenn sie ihren grausamen und unbarmherzigen Anfällen vorbeugt und sie zum Guten wendet, wenn sie über die Äusserungen ihrer stiefmütterlichen Gesinnung und ihres traurigen Unverstandes einen Schleier deckt." (UB III: 341, 6-18)

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gewissen chaotischen Innenwelt" (272,34), in der „Innerlichkeit" (273,1) verborgen bleibt, heißt es: „Man sagt dann wohl, dass man den Inhalt habe und dass es nur an der Form fehle; aber bei allem Lebendigen ist dies ein ganz ungehöriger Gegensatz. Unsere moderne Bildung ist eben deshalb nichts Lebendiges, weil sie ohne jenen Gegensatz sich gar nicht begreifen lässt, das heisst: sie ist gar keine wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, es bleibt in ihr bei dem Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein BildungsEntschlussdaraus." (UB II: 273, 2-9)

Und weiter: „Das dagegen, was wirklich Motiv ist und was als That sichtbar nach aussen tritt, bedeutet dann oft nicht viel mehr als eine gleichgültige Convention, eine klägliche Nachahmung oder selbst eine rohe Fratze. Im Inneren ruht dann wohl die Empfindung jener Schlange gleich, die ganze Kaninchen verschluckt hat und sich dann still gefasst in die Sonne legt und alle Bewegungen ausser den nothwendigsten vermeidet. Der innere Prozess, das ist jetzt die Sache selbst, das ist die eigentliche .Bildung'." (UBII: 273,9-17)

Das Merkmal der modernen ,Bildung' ist der Gegensatz zwischen Form und Inhalt. Gemeint ist das Phänomen des gelehrten Philisters, in dem eine gleichsam äußerliche Gelehrsamkeit mit einem innerlichen Chaos sich paart.335 Das Wissen ist äußerlich, weil der Auszubildende im Innern nach wie vor ungebildet ist — also der Gewalt der Triebe hilflos ausgesetzt ist. Es fehlt eben die Beziehung zwischen dem Bereich des Unmittelbaren und dem des Mittelbaren: zwischen der Sphäre der Gefühle und der des Verstandes wurde keine Brücke geschlagen. Der „BildungsEntschluss" (273, 9) bedeutet aber gerade dies: Der Mensch erfährt die Verbindlichkeit eines bestimmten Erlebnisses im Bereich der Gefühle, weshalb es ihm nunmehr als Richtschnur dient. Er versucht, diesen Bereich über den Verstand in den Griff zu bekommen, so, daß er nicht länger der Gewalt der Triebe, sondern sie ihm untersteht.336 Jedoch scheint Nietzsche hier anderer Ansicht zu sein: „Der innere Prozess, das ist jetzt die Sache selbst, das ist die eigentliche .Bildung'." (UB II: 273, 16-17)

Meines Erachtens erliegt Nietzsche hier dem Bild vom Gegensatz zwischen Form und Inhalt. Aus seiner Darlegung geht eindeutig hervor, daß die derzeitige .Bildung' sich gerade durch das Ausbleiben eines solchen Prozesses auszeichnete. In der gerade (S. 335 m

Vergleiche dazu die Erste Unzeitgemäße Betrachtung (passim). Vergleiche dazu folgende Notiz des späten Nietzsche aus dem Jahre 1885: „Überwindung der Affekte! — Nein, wenn es Schwächung und Vernichtung derselben bedeuten soll. Sondern in Dienstnehmen-, wozu gehören mag, sie lange zu tyrannisiren (nicht erst als Einzelne, sondern als Gemeinde, Rasse usw.). Endlich giebt man ihnen eine vertrauensvolle Freiheit wieder: sie lieben uns wie gute Diener und gehen freiwillig dorthin, wo unser Bestes hin will." (12: 1 [122]; 12: 39, 11-17)

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217

216) angeführten Stelle heißt es ja, daß die Empfindung alle Bewegungen außer den notwendigsten vermeide. Demnach hatte die damalige .Bildung' eben kein Auge für die Bedeutung eines innern Prozesses, in dem die Empfindung von ihren Schlacken geläutert und gereinigt, d. h. organisiert wird. Sie glich am ehesten einer Anhäufung von Äußerlichkeiten, von Wissenswürdigkeiten, die zwar in vielerlei Hinsichten systematisiert, aber letzten Endes dennoch unorganisiert blieben. Die Organisation kann nur von jemand durchgeführt werden, der, wie Nietzsche anläßlich des überhistorischen Gesichtspunktes bemerkt hat, „hellseherisch den Ursinn der verschiedenen Hieroglyphen" (256, 14) erkennt, der also einen Blick für den „Zweck des Lebens" (271, 10) hat, wie es am Anfang seines vierten Kapitels heißt. Ein solcher Scharfblick freilich stellt sich frühestens in dem Moment ein, in dem der vorhin angeführte Bildungsentschluß (273, 9) gefaßt wird. Es sollte beachtet werden, daß Nietzsche (indem er den inneren Prozeß in Abrede stellt) in Gefahr ist, sein eigentliches Anliegen zu verstellen! Um den angeprangerten Gegensatz zu erläutern, verwendet Nietzsche das Bild der Enzyklopädie.337 Doch trifft der Vergleich nur den Gegensatz zwischen einem innerlichen Wissen und einem äußerlichen Handeln. Legen wir dagegen die wahrhafte Bildung als Transformationsprozeß aus, in der die Natur verwandelt wird, so gilt das Bild keineswegs, da es sich in diesem Fall um die Differenz zwischen innerlichem Erfahren und äußerlichem Wissen handelt und es eine wahrhafte Bildung ohne gleichzeitige Läuterung und Organisation der Empfindung nicht gibt. Zwar führt Nietzsche mit Recht an, daß sich nur anhand der (äußeren) Taten entscheiden läßt, ob eine solche stattgefunden hat, aber gerade hierfehlt der Gegensatz, der von ihm behauptet wird. Denn mit dem inneren Chaos geht seiner Meinung nach die gleichgültige Konvention, mit dem inneren Prozeß aber das Aufkommen eines großen Stiles einher. Demnach fehlt der Gegensatz zwischen Innerem und Äußerem in beiden Fällen. Dennoch liegt das von Nietzsche Gemeinte klar zutage: Er prangert den offenkundigen Gegensatz zwischen dem Bildungsanspruch und dem Bildungsawsweis an. Die ausufernde historische Wissenschaft kann keine Ergebnisse aufzeigen. Obzwar die Kenntnisse sich rapide steigerten, war das Leben herunterzukommen und hatte sich in Konventionen verfangen.338 Nietzsche ist der Ansicht, daß diesem Mangel

337 338

UB II: 274, 5-8. Dazu heißt es: „Ja dieser Gegensatz von innen und aussen macht das Aeusserliche noch barbarischer als es sein müsste, wenn ein rohes Volk nur aus sich heraus nach seinen derben Bedürfnissen wüchse. Denn welches Mittel bleibt noch der Natur übrig, um das überreichlich sich Aufdrängende zu bewältigen? Nur das eine Mittel, es so leicht wie möglich anzunehmen, um es schnell wieder zu beseitigen und auszustossen. Daraus entsteht eine Gewöhnung, die wirklichen Dinge nicht mehr ernst zu nehmen, daraus entsteht die .schwache Persönlichkeit', zufolge deren das

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abgeholfen, daß die Kluft zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Inhalt und Form — sagen wir jetzt aber besser: zwischen Anspruch und Ausweis — geschlossen werden muß.

2. Von der Konvention und vom großen Stil Nach diesen kulturkritischen Bemerkungen wendet Nietzsche sich den zeitgenössischen Deutschen zu. Ihm zufolge zeigen sie mehr als andere Völker jenen Gegensatz zwischen Inhalt und Form auf, der die Persönlichkeit schwächt. Hatte er zuvor das Fehlen eines tatsächlichen Bildungsprozesses angeprangert, so führt er hier aus, daß auch die Wende der Deutschen, weg von dem Mechanismus und Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts hinzu zu den Bewegungen des Gemüts in dieser Hinsicht nichts Gutes bewirkt hat.339 Er kritisiert den Pakt zwischen der deutschen Empfindsamkeit und der deutschen Geschichtswissenschaft. Uns interessiert hier am meisten der an dieser Stelle von neuem in Erscheinung tretende Begriff der Konvention. In Anbetracht der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge, die ich in meinem fünften Kapitel erörtert habe, staunt man zunächst, wie entschieden Nietzsche für sie eintritt.340 Das zunächst Sonderbare klärt sich aber auf, sobald wir beachten, daß der Begriff hier nicht die abstrakte Verbindlichkeit des öffentlich Gleichgeschalteten, mithin die „gleichgültige Convention" (273,11-12), sondernden schönen Stil bedeutet. An dieser Stelle geht es um die lebendige Einheit, um die öffentliche Gestalt einer Kultur.341 Der Stil ist so das verbindende und verbindliche Band, das die Individuen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfaßt. Eben am Stil, an dieser Konvention mangele es dem zeitgenössischen Deutschen aufs peinlichste. Nach Nietzsche war dies die Folge einer Unverbindlichkeit im Bereich der unmittelbaren Erfahrungen. Denn zwar hatte der Deutsche die Schule der Franzosen verlassen, weil er „natürlicher und dadurch deutscher" (275, 16-17) werden wollte , aber, so meint Nietzsche,

Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck macht; man wird im Aeusserlichen zuletzt immer lässlicher und bequemer und erweitert die bedenkliche Kluft zwischen Inhalt und Form bis zur Gefühllosigkeit für die Barbarei, wenn nur das Gedächtniss immer von Neuem gereizt wird, wenn nur immer neue wissenswürdige Dinge hinzuströmen, die säuberlich in den Kästen jenes Gedächtnisses aufgestellt werden können." (UB II: 274, 10-26). 339 340

341

Vergleiche Hillebrand, a.a.O., S. 320. Vergleiche hier S. 188 ff. Folgender Satz nimmt sich als eine Selbstkritik aus: „Die Form gilt uns Deutschen gemeinhin als eine Convention, als Verkleidung und Verstellung und wird deshalb, wenn nicht gehasst, so doch jedenfalls nicht geliebt; noch richtiger würde es sein zu sagen, dass wir eine ausserordentliche Angst vor dem Worte Convention und auch wohl vor der Sache Convention haben." (UB II: 275, 10-15) Vergleiche UB II: 274, 26-34.

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„ < i > ndem man zum Natürlichen zurückzuziehen glaubte, erwählte man nur das Sichgehenlassen, die Bequemlichkeit und das möglichst kleine Maass von Selbstüberwindung." (UB II: 275, 24-27)

Der Deutsche lehne den Formensinn ironisch ab, weil er den Sinn des Inhaltes habe: man sei doch das berühmte Volk der Innerlichkeit.342 Nietzsche führt das Fehlen einer belebten und stilisierten Äußerlichkeit auf ein Gebrechen der innern Kraft zurück. Es fehlte die Kraft zur Organisation — d.h.: es fehlte die plastische Kraft. Im Schopenhauer-Aufsatz widmet Nietzsche dieser Thematik von neuem seine Aufmerksamkeit. Im sechsten Kapitel dieser Schrift ist erstens von der Seltenheit des Wissens um das eigentliche Ziel der Kultur und von dem Gang der Einweihung in jenes Wissen die Rede.343 Es betrifft also jene Mysterien, die besonders in der Geburt der Tragödie öfter erwähnt werden. Des weiteren setzt er sich mit den Kräften auseinander, die den Mißbrauch und die Indienstnahme der Kultur fördern 344 . In diesem Zusammenhang erörtert Nietzsche mehrere Gestalten der Selbstsucht. Nebst der der Erwerbenden345, des Staates346, der Wissenschaft und der Gelehrten347 nennt er die Selbstsucht derjenigen, die sich zwar des Häßlichen und Langweiligen des Inhalts, d. h. ihres Inneren, durchaus bewußt sind, aber durch die schöne Form über ihn hinwegtäuschen wollen.348 In einem längeren Absatz (UB III: 390,16 - 393,28) spricht er wiederum von dem Formensinn der Deutschen. Doch hier sind, ganz in Nietzschescher Manier, gleichsam die Vorzeichen umgekehrt worden. Behauptet Nietzsche in der Historienschrift, der Deutsche neige dazu, das Gewicht einer verbindlichen Form zu schmälern, ja zu ironisieren, so spricht er im Schopenhauer-Aufsatz von einer „modischen Gier nach der schönen Form" (392,15), vom Enthusiasmus seitens der Deutschen für den französischen Stil, der sich nach dem Krieg vom Jahre 1870 breitgemacht habe. Und es gibt einen weiteren Kontrapunkt, denn die These einer eigentümlichen Veranlagung der Deutschen wird diesmal durchaus positiv aufgenommen. Dazu heißt es jetzt: „ < M > ich < überkommt > öfter der Verdacht, als ob der Deutsche sich jenen alten Verpflichtungen jetzt gewaltsam entziehen wollte, welche seine wunderbare Begabung, der eigenthümliche Schwer- und Tiefsinn seiner Natur, ihm auflegt." (UB III: 391, 12-16)

Mit Bezug auf jene Selbstsüchtigen, die über eine geliehene Form versuchen, die Häßlichkeit ihres Inneren zu verstellen, sagt er: 342 543 144 345 346 347 348

UB UB UB UB UB UB UB

II: 276, 5-6. III: 383, 30 III: 387, 20 III: 387, 20 III: 388, 26 III: 393, 29 III: 389, 21 -

387, 401, 388, 389, 399, 393,

20. 18. 25. 20. 18. 20. Vgl. 7: 35 [12], insbesondere 7: 815, 14 - 819, 4.

220

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„ < B > ei euch wohnt sie gar nicht mehr, jene alte deutsche Art, die zwar hart, herbe und voller Widerstand ist, aber als der köstlichste Stoff, an welchem nur die grössten Bildner arbeiten dürfen, weil sie allein seiner werth sind." (UB III: 391, 24-26)

Hier macht sich die Nähe zu Hölderlin bemerkbar, zumal Nietzsche in einer Vorstufe explizit auf Hölderlins Gesang des Deutschen Bezug nimmt, dessen vorletzte Strophe er anführt.349 Man mag die nationalistische oder gar völkische Tendenz bedauern,350 doch interessiert der Passus an erster Stelle wegen der eindeutigen Beziehung, welche er zwischen dem häßlichen, d.h. dem ungebildeten Innern und dem Nichtannehmen der dem Menschen je mitgegebenen Aufgabe herstellt. Das Fehlen eines verbindlichen oder großen Stils, wie es dann beim späten Nietzsche heißt, geht darauf zurück, daß die Bildung der Menschen zu einzelnen und unverwechselbaren Individuen ausbleibt. Der Passus bringt also den Grund für den Gegensatz zwischen dem Innern und dem Äußern ans Licht. In der Historienschrift handelt Nietzsche im siebten Abschnitt kurz von den Gestalten der Selbstsucht, was er dann im neunten Kapitel der Schrift weiter ausführt.351 Im fünften Kapitel der Historienschrift vertritt Nietzsche die Ansicht, die Geschichte solle den Menschen vor allem ermutigen, ehrlich zu sein, das heißt sich seine Bedürftigkeit einzugestehen, nach einem großen Vorbild Ausschau zu halten und ihm dann Folge zu leisten, um so zu einer freien Persönlichkeit heranzuwachsen. Unter dem Regime der historischen .Bildung' aber wachsen Nietzsche zufolge nur „ängstlich verhüllte Universal-Menschen" (281, 15-16) hervor. Anstatt der Befreiung der Menschen Beischub zu leisten,352 bewirke die wissenschaftlich angefaßte Historie deren Verknechtung: „Scheint es doch fast, als wäre es die Aufgabe, die Geschichte zu bewachen, dass nichts aus ihr heraus komme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen!" (UB II: 281, 21-23)

Nach Nietzsche sollte die Geschichte zur Ehrlichkeit ermutigen und die wahren Bedürfnisse freisetzen.353 Diese letzte Möglichkeit setzt voraus, daß dem nunmehr 349

Vergleiche 14: 78. F. Beissner (Hrsg.), Hölderlin. Sämtliche Werke, Stuttgart 1943 ff. (GroBe Stuttgarter Ausgabe), 2,1: S. 3-5, V. 53-56. Vergleiche auch hier S. 65. 350 Dazu J. Mohr, Der Mensch als der Schaffende. Nietzsches Grundlegung eines neuen Selbstverständnisses des Menschen, Bern/Frankfurt am Main 1977, S. 24-25. Vergleiche jedoch 7: 29 [47]. 351 Vergleiche ins besondere UB II: 300, 25 - 302, 24 und 321, 22 - 324, 9. Vergleiche des weiteren Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (ZBA), S. 667 ff. und Schopenhauer als Erzieher (UB III), S. 387 ff. Stellen, die sich im nachhinein als überaus bedeutsam herausstellen, finden sich allerdings bereits im dritten (268, 1-20; besonders 2 und 11-12) und im sechsten (286, 34) Abschnitt der Historienschrift. 352 Vergleiche: frei' werden, soll heissen wahrhaftig gegen sich, wahrhaftig gegen Andere, und zwar in Wort und That." (UB II: 281, 24-26) 353 Vergleiche „Erst durch diese Wahrhaftigkeit wird die Noth, das innere Elend des modernen Menschen an den Tag kommen, und an die Stelle jener ängstlich versteckenden Convention und Maskerade können dann, als wahre Helferinnen, Kunst und Religion treten, um gemeinsam eine Cultur anzupflanzen, die wahren Bedürfnissen entspricht und die nicht, wie die jetzige allgemeine

6 Von der Selbstsucht der objektiven Persönlichkeit

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ehrlichen und befreiten Menschen die Differenz zwischen seiner aktuellen Existenz und dem Ziel gegenwärtig ist, daß er also zumindest eine Ahnung von diesem Ziel hat. Hier rückt die Verwobenheit von (menschlicher) Natur und Geschichte ins Thema. Nietzsche differenziert zwischen einer natürlichen ersten Natur, welche der Aufbesserung bedarf, und einer zweiten, die vollkommen und demnach ideal ist. Vor diesem Hintergrund erscheint die Geschichte als das Konglomerat jener Wege und Irrwege, die im Rahmen der Differenz zwischen der natürlichen und der vollendeten Natur gegangen worden sind. Ist der Mensch ehrlich und gesteht er sich seine Bedürfnisse ein, so zeigt die Natur selbst ihm den Weg. Nietzsche spricht vom göttlichen Tier (280, 21) und, weiter unten, am Anfang des zehnten Kapitels der Historienschrift, von der Jugend (324, 32), die ihm das Fahrzeug gelenkt; im Schopenhauer-Aufsatz ist vom Genius die Rede. Dennoch ist auf jene Führung nicht ohne weiteres Verlaß, sonst könnten wir ja getrost auf die Belehrungen der Historie verzichten.354 Zwar kann auch die Historie der Verführung dienen, doch fördert sie dem Leben, wenn sie den klaren Blick für den „Ursinn" (256, 14) historischer Ereignisse, für den „Zweck des Lebens" (271, 10) erhält. Nur so kann sie dem Menschen den Weg weisen und dem Betreten von Ab- und Irrwegen vorbeugen. Diesem emanzipatorischen Zug steht aber ein anderer entgegen. Denn bei Nietzsche findet man auch die Vorstellung der Geschichte als einer „GenialenRepublik" (Schopenhauer). Nietzsche führt an: „Und so möge mein Satz verstanden und erwogen werden: die Geschichte wird nur von starken Persönlichkeiten ertragen, die schwachen löscht sie vollendsaus. Das liegt darin, dass sie das Gefühl und die Empfindung verwirrt, wo diese nicht kräftig genug sind, die Vergangenheit an sich zu messen." (UB II: 283, 12-18)355

Nietzsche versteht die Geschichte hier als den öffentlichen Raum, in dem die Großen sich begegnen. Wie es scheint, handelt es sich um eine Adaption jener griechischen Einrichtung des Wettkampfes, von der er in der fünften seiner Fünf Vorreden zu fiinf ungeschriebenen Büchern, Homer's Wettkampf, spricht. Demnach kommt die monumentalische Betrachtung des Vergangenen einem In-die-Schranken-Treten der großen historischen Gestalten gleich. Die folgende Stelle aus dem sechsten Kapitel der Schrift bestätigt dies:

Bildung, nur lehrt, sich über diese Bedürfnisse zu belügen und dadurch zur wandelnden Lüge zu werden" (UB II: 281, 26-34). 354

155

Vergleiche besonders die Stelle im Schopenhauer-Aufsatz, die weiter oben S. 215, Anmerkung 334 angeführt wurde. Vergleiche dazu Gerhardt, a.a.O., S. 147 und Anmerkung 17 (ebd. S. 161).

222

Geschichte und Gerechtigkeit

„Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten: nur in der stärksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr errathen, was in dem Vergangnen wissens- und bewahrenswürdig und gross ist. Gleiches durch Gleiches!" (UB II: 293, 3 4 - 2 9 4 , 4 )

In der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Vergangenen liege allerdings eine große und auch doppelgesichtige Gefahr. Denn heißt es im fünften Kapitel, daß die Geschichte der Großen das Gefühl und die Empfindung der Schwachen verwirrt, so wird die gerade als letzte angeführte Stelle aus dem sechsten Kapitel folgendermaßen weitergeführt: „Sonst zieht ihr das Vergangene zu euch nieder" (294, 4-5). Demnach gibt es einmal die Gefahr, daß die Auseinandersetzung mit dem Vergangenen eine kontraproduktive Verwirrung der Gefühle herbeiführt, aber auch die, daß das Große vergangener Zeiten auf das Gegenwärtige reduziert wird. Fällt man der ersten Gefahr zum Opfer, so sehen wir das Schauspiel eines Menschen, „der sich nicht mehr zu trauen wagt, sondern unwillkürlich für sein Empfinden bei der Geschichte um Rath fragt ,wie soll ich hier Empfinden?'" (283, 18-20) Im anderen Fall sieht man „kleine vorlaute Burschen [...] mit den Römern umgehen als wären diese ihresgleichen" (283, 24-25). Nach Nietzsche waren die zeitgenössischen Historiker beiden Gefahren erlegen: Im Innern waren sie verwirrt und ohne jede verbindliche Orientierung, im Äußern gaben sie sich aber im höchsten Maßen gebildet und zogen das wirklich Große zu sich herunter. Der so verhärtete und verschränkte Mensch verhielt sich nunmehr objektiv und registrierte weiterhin unberührt alles Geschehende und Geschehene. Dazu heißt es imNachlaß: „[...] Es fehlt dem modernen Historiker das Fundament: er ist im Monumentalen willkürlich, im Antiquarischen tödtend und wurzelt nicht in einer Cultur." (7: 29 [38]; 7: 641,15-17)

Daß dem modernen Historiker „das Fundament" fehlt, heißt, daß es ihm an der ein für alle Mal verbindlichen Erfahrung des Ganz- und Selbstseins mangelt, daß ihm also die verbindliche Richte fehlt — deshalb auch ist er „im Monumentalen willkürlich" . Weil er unterdessen versucht, in diesem Labyrinth sich zu bewahren, verschließt er sich gegen die Möglichkeit einer solchen Erfahrung, weshalb er „im Antiquarischen tödtend" wirkt. Er „wurzelt nicht in einer Cultur", das heißt, es mangelt ihm an der Einheit stiftenden Leuchte des Herdes, an der, einer jeden Kultur konstituierenden Zäsur zwischen Wesentlichem und Kontingentem, zwischen Fug und Unfug. Kurz, es fehltdem „modernen Historiker" die anfängliche und grundlegende Maßgabe. Nietzsche zieht folgendes Fazit: „Sind die Persönlichkeiten erst in der geschilderten Weise zu ewiger Subjectlosigkeit, oder wie man sagt, Objectivität ausgeblasen: so vermag nichts mehr auf sie zu wirken" (UB II: 284, 18-20). Dies führt

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223

schwerwiegende Folgen mit sich, denn die Möglichkeit einer Auseinandersetzung, einer Krise und einer Selbstüberwindung ist ihnen damit verbaut. Nietzsche führt aus, daß die Verschränkung und Verhärtung des modernen Menschen alles Gute und Rechte dazu verurteilen, ohne Wirkung zu bleiben, daß sie aber gleichzeitig die Möglichkeit einer nie anhaltenden Flut von Kritiken öffnen.356 Da dem modernen Menschen das Maß fehlt, ist auch seine Kritik ohne Maß; weil er sich ganz und gar der Berührung verschließt, wird er von nichts mehr betroffen. Seine Kritik dient nur der weiteren Verschränkung. Seine Strategie geht also dahin, das Rechte und Gute dadurch zu neutralisieren, daß er es in den Kanon einordnet. Sodann kann es in vielerlei Richtungen durchquert, analysiert undsystematisiert, in Bruchstücke zerlegt und zu neuen Einheiten zusammengesetzt werden. Weil es ohne verbindliche Richte ist, steigert dieses Glasperlenspiel sich zur Sucht, weshalb Nietzsche schließt: „Gerade in dieser Maasslosigkeit ihrer kritischen Ergüsse, in dem Mangel der Herrschaft über sich selbst, in dem was die Römer impotentia nennen, verräth sich die Schwäche der modernen Persönlichkeit." (UB II: 285, 16-19)

Demnach sollte die Herrschaft über sich selbst nicht mit der Selbstverschränkung des modernen Menschen verwechselt werden.

3. Vom Gebilde des Staates In seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung unterscheidet Nietzsche zwischen zwei Arten des Zusammenlebens, der Gemeinschaft: zwischen dem Volk und den Systemen von Einzelegoismen.357 Er erläutert diese Systeme als Verbrüderungen zum Zweck raubsüchtiger Ausbeutung der Nicht-Brüder und bewertet sie als Schöpfungen utilitarischer Gemeinheit.358 Diesen Systemen stellt er das Volk gegenüber. Das Volk sei auf den Genius ausgerichtet, geht aber das Volk am Egoismus zugrunde, so verliert der produktive Geist seinen Ort.359 Im sonstigen Frühwerk entwickelt Nietzsche seine diesbezüglichen Vorstellungen hauptsächlich anhand des Gegensatzes zwischen dem griechischen und dem neuzeitlichen Staat. Der Gegensatz wird im dritten Vortrag aus der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten dargelegt — die einzelnen Vorträge haben keine Titel. Das griechische Gebilde wird namentlich in der Dritten Vorrede, Der griechische Staat, und im Fünften, Homer's Wettkampf, geschildert. Die neuzeitliche Variante kommt dann vor allem in der Historienschrift und im Schopenhauer-Aufsatz zur Sprache. In diesem Paragraphen

157 358 159

UB UB UB UB

II: II: II: II:

284, 319. 319, 277,

20 - 285, 16. 28-30. 30-32. 24 - 278. 33.

224

Geschichte und Gerechtigkeit

setze ich mich vorwiegend mit dem dritten Vortrag, ohne Titel, und der Dritten Vorrede, Der griechische Staat, auseinander. Meine folgenden Darlegungen zielen auf die Erkenntnis, daß der Gegensatz in der Hinsicht ein künstlicher ist, daß weder der griechische noch der moderne Staat Nietzsches Anliegen genügen. Mehr noch: Sollte die große Individuation sich ereignen, so würde das Gefüge eines wie auch immer ausgestalteten Staates sich fortan erübrigen.

1. Die Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten haben bekanntlich die Form einer Erzählung, in deren Rahmen an Gespräche zwischen einem alten Philosophen, seinem Begleiter und zwei Freunden erinnert wird. Im dritten Vortrag dieser Reihe stoßen wir auf Nietzsches „darker side" (L.P. Thiele): auf seinen aristokratischen Chauvinismus.360 Ob diese Charakteristik zutrifft, bleibe fürs erste dahingestellt. Zunächst sollten wir uns Klarheit darüber verschaffen, auf welcher Grundlage Nietzsches Aristokratismus fußt. Hier ist ein weiteres Mal die Problematik der Individuation zu beachten. Nach Nietzsche stellen nur die wenigsten Menschen sich dieser Aufgabe. Führt er dies im Schopenhauer-Aufsatz auf eine Verdrängung zurück, so sagt uns im dritten Vortrag der alte Philosoph, „ < , > daß von der Natur selbst nur unendlich seltne Menschen zu einem wahren Bildungsgange ausgeschickt werden < ' > " (697,14-15). Der Grund dafür liege darin, daß nur ganz wenigen und seltenen eine Erleuchtung widerfährt. Wie die folgende Stelle zu erkennen gibt, wird die Erleuchtung in dieser Schrift noch ganz der Erfahrung des Griechischen gleichgesetzt: „ < , > Alle die Menschen, die in einem glänzenden Moment der Erleuchtung sich einmal von der Singularität und Unnahbarkeit des hellenischen Alterthums überzeugten und mit mühsamen Kampfe vor sich selbst diese Überzeugung vertheidigt haben, alle diese wissen, wie der Zugang zu diesen Erleuchtungen niemals Vielen offen stehn wird und halten es für eine absurde, ja unwürdige Manier, daß Jemand mit den Griechen gleichsam von Berufswegen, zum Zwecke des Broderwerbs, wie mit einem alltäglichen Handwerkszeuge verkehrt und ohne Scheu und mit Handwerkerhänden an diesen Heiligthümern herumtastet. < ' > " (ZBA: 700, 23-34)

Lassen wir die Griechenschwärmerei einmal auf sich beruhen, so bleibt Nietzsches Einschätzung, daß der Zugang zu diesen Erleuchtungen niemals vielen offenstehen wird (700, 27-28).

140

L. P. Thiele, ,Love and Judgement. Nietzsche's Dilemma' (in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 88-108), S. 88.

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225

Auch mit der Frage, ob diese Ansicht tatsächlich zutrifft, brauchen wir uns nicht länger zu befassen, denn die Schwierigkeit, um die es hier im Grunde genommen geht, ist die des Verhältnisses zwischen den Erleuchteten und denjenigen, die nicht erleuchtet worden sind. Mit anderen Worten, es handelt sich um jene weiter oben angeführte Kluft, welche zwischen dem Exoterischen und dem Esoterischen sich auftut. Mithin stammt die Problematik des Nietzscheschen Aristokratismus aus dem einfachen Grund, daß es zum einen immer wieder einige Menschen gibt, die das Maß der Dinge der Erfahrung des großen Augenblickes entnehmen, daß es aber zum anderen immer sehr viele gibt, denen diese Erfahrung fehlt, die sich gegen sie verschränken oder die sich scheuen, Konsequenzen damit zu verbinden. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Gedanken des Staates (oder auch dessen Bildungsanstalten) zielt auf die Frage, ob der Staat jene Erleuchteten, also die Individuation, fördert oder ob er vielmehr anderem dient. Beim Munde des alten Philosophen kritisiert Nietzsche den damaligen Staat dafür, daß dieser sich selbst als das anvisierte Ziel aller Bildungsbestrebungen aufführt: „ < ,D > er Staat zeigt sich als ein Mystagoge der Kultur und während er seine Zwecke fördert, zwingt er jeden seiner Diener, nur mit der Fackel der allgemeinen Staatsbildung in den Händen vor ihm zu erscheinen: in deren unruhigem Lichte sie ihn selbst wiedererkennen sollen, als das höchste Ziel, als die Belohnung aller ihrer Bildungsbemühungen. < ' > " (ZBA: 707, 32 - 708, 4)

Und er fährt fort: „ < , > Das letzte Phänomen nun zwar sollte sie stutzig machen: es sollte sie z. B. an jene verwandte, allmählich begriffne Tendenz einer ehemals von Staatswegen geförderten und auf Staatszwecke es absehenden Philosophie erinnern, an die Tendenz der Hegeischen Philosophie: ja es wäre vielleicht nicht übertrieben, zu behaupten daß in der Unterordnung allerBildungsbestrebungenunterStaatszweckePreußendaspraktischverwerthbareErbstück der Hegel'schen Philosophie sich mit Erfolg angeeignet habe: deren Apotheose des Staats allerdings in dieser Unterordnung ihren Gipfel erreicht. < ' > " (ZBA: 708, 4-14)

Daraufhin fragt der Begleiter des alten Mannes, was das denn für Absichten des Staates seien, ob mit dieser Allmacht des Staates nicht gar antike Zustände wiedergewonnen wurden. Der Philosoph erwidert ihm, daß der Vergleich hinke: „ < , > Denn gerade von dieser Utilitätsrücksicht ist das antike Staatswesen so fern wie möglich geblieben, die Bildung nur gelten zu lassen, soweit sie ihm direkt nützte und wohl gar die Triebe zu vernichten, die sich nicht sofort zu seinen Absichten verwendbar erwiesen. < ' > " (ZBA: 708, 33 - 709, 3)

Es folt die Stelle, auf die ich bereits im dritten Kapitel (S. 127, Anmerkung 196) aufmerksam gemacht habe:

226

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„ < , > Der tiefsinnige Grieche empfand gerade deshalb gegen den Staat jenes für moderne Menschen fast anstößig-starke Gefühl der Bewunderung und Dankbarkeit, weil er erkannte, daß ohne eine solche Noth- und Schutzanstalt auch kein einziger Keim der Kultur sich entwickeln könne, und daß seine ganze unnachahmliche und für alle Zeiten einzige Kultur gerade unter iler sorgsamen und weisen Obhut seiner Noth- und Schutzanstalten so üppig emporgewachsen sei. < ' > " (ZBA: 709, 3-10) Nietzsche meint hier wohl die Einrichtung des Wettkampfes, die er in seiner Fünften Vorrede, Homer's Wettkampf

erläutert.

Der alte Philosoph vertritt die Ansicht, daß jene Staatstendenz, nämlich der Bildung sich selbst als letztes und höchstes Ziel unterzuschieben, sich mit dem „echten deutschen Geist" (709, 28-29) in Fehde befindet — Nietzsche streift hier wiederum das Thema, das im vorigen Paragraphen schon zweimal begegnete. Er gibt zu erkennen, daß die .Bildung' im Dienste des Staates mit der eigentlichen Bildung nicht vereinbart werden kann. Dann fragt man sich aber, weshalb sie dennoch verbreitet wird. Nietzsche, in der Gestalt des alten Philosophen, antwortet: „ < , > Weil der echte deutsche Geist gehaßt wird, weil man die aristokratische Natur der wahren Bildung fürchtet, weil man die großen Einzelnen dadurch zur Selbstverbannung treiben will, daß man bei den Vielen die Bildungsprätension pflanzt und nährt, weil man der strengen und harten Zucht der großen Führer damit zu entlaufen sucht, daß man der Masse einredet, sie werde schon selbst den Weg finden — unter dem Leitstern des Staates! < ' > " (ZBA: 710,14-21) Daraufhin skizziert er im vierten Vortrag ein pyramidales Gebilde, in dem die Bedürfnisse der Massen in ein Ganzes eingebunden worden sind, so, daß sie alle dem selben Ziel dienen: dem Heraufkommen des Genius. Zwar ist meistens von den Bildungsinstituten die Rede, aber im Grunde ist auch hier der Staat gemeint.

2. In der dritten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Der griechische Staat, beleuchtet Nietzsche dann die Kehrseite einer solchen pyramidalen Ordnung. Allerdings sollte man die Motivation für diese Darstellung berücksichtigen. Aus der Vorrede ist sie nicht ersichtlich, wohl aber aus dem nachgelassenen Fragment einer erweiterten Form der „Geburt der Tragoedie", geht.

361

auf das die Vorrede zurück-

Dort heißt es:

„[...] Falls wirklich der Genius Zielpunkt und letzte Absicht der Natur ist, so muß nun jetzt auch nachweisbar sein, daß in den anderen Erscheinungsformendes hellenischen Wesens nur

361

Siehe 7: 10 [1]; 7: 333-349. Vergleiche besonders 7: 366 ff. Der Titel des Fragments mag Mißverständnisse hervorrufen, deshalb dieser Hinweis: Das Fragment wurde in den ersten Wochen des Jahres 1871 verfaßt und gehört dem Umkreis der SGT an (vgl. 14: 42 und 540 f.).

6 Von der Selbstsucht der objektiven Persönlichkeit

227

nothwendige Hülfsmechanismen und Vorbereitungen jenes letzten Zieles zu erkennen sind. Dieser Gesichtspunkt zwingt uns, vielberufene Zuständedes Alterthums, über die noch kein neuerer Mensch mit Sympathie gesprochen hat, auf ihre Wurzeln hin zu untersuchen..." (7: 10 [1]; 7: 336, 3-10)

Jedoch steht das Ergebnis der Untersuchung von vornherein fest. Der zuletzt angeführte Satz wird folgendermaßen zu Ende geführt: „wobei sich ergeben wird, daß diese Wurzeln es gerade sind, aus denen der wunderbare Lebensbaum der griechischen Kunst einzig erwachsen konnte." Nietzsche befaßt sich dann vor allem mit dem Phänomen des Sklaventums und dem der kriegerischen Auseinandersetzungen. Freilich handelt es sich keineswegs um kritische Erörterungen. Vielmehr ist Nietzsche von Anfang an bemüht, nachzuweisen, daß sie dem Heraufkommen des Genius dienten. Nietzsche behauptet, daß das eigentliche Ziel jener Institution, also jede wahrhafte Kultur, der Dienenden, d.h. des Sklaventums, bedarf. Mithin vertritt er die Ansicht, „daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre" (GS: 767, 26-27).

Die Begründung dieser Ansicht freilich nimmt sich ziemlich dürftig aus: „Damit es einen breiten tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maaß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampf entrückt werden, um eine neue Welt des Bedürfnisses zu erzeugen und zu befriedigen." (GS: 767,17-24)

Nietzsche hätte hier differenzieren müssen, nämlich zwischen dem für seine Konzeption wesentlichen Moment eines hierarchischen Verhältnisses (zwischen den Erleuchteten und den anderen) und dem ihr äußerlichen Moment der spezifischen Art der Arbeitsverhältnisse. Als nächstes geht er der Frage nach, wie der Sklave entstanden sei. Er legt dar, daß dem Recht jeweils eine Gewalttat zugrunde liegt (770, 5-9).362 Allerdings fragt man sich, wie es zu einer solchen Tat kommt — oder sollte jener Imperativ des sitt1 ichen Menschen gemeint sein, von dem in der ersten der Fünf Vorreden, Ueber das Pathos der Wahrheit, und in der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne die Rede ist? Jedenfalls würde das die geheimnisvolle Magie erklären, welche Nietzsche zufolge nach dem jeweils schrecklichen Anfang das Heraufkommen desselben zu fördern scheint. Er meint:

362

Vergleiche V. Gerhardt, ,Das „Princip des Gleichgewichts". Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche' (in: V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 98-132); und R. Schmidt, ,Auf der Suche nach dem Humanum. Elemente der frühen Kulturkritik Friedrich Nietzsches' (in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 129155), S. 150.

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„ < W > enn jetzt sogar der Staat mit Inbrunst als Ziel und Gipfel der Aufopferungen und Pflichten des Einzelnen betrachtet wird: so spricht aus alledem die ungeheure N o t w e n d i g keit des Staates, ohne den es der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius, zu kommen." (GS: 770, 31 - 771, 2)

Nach Nietzsche gibt es zwischen Staat und Kunst, zwischen Krieg und Kunstwerk einen intrinsischen Zusammenhang. Unter Staat versteht er die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß erzwingt.363 Ohne die Klammer des Staates bliebe man dem seiner Einschätzung nach natürlichen bellum omnium contra omnes verhaftet. Vor dem Hintergrund der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge fragt man sich: Wie steht es um das Verhältnis zwischen Staat und Konvention? Im Zuge meiner Interpretation dieser Schrift, in der Nietzsche ausführt, daß dem Krieg von allen gegen alle auf dem Wege einer Konvention ein Ende gesetzt wird, wurde dargetan, daß eine Gesellschaft immerhin nicht zwangsläufig auf dem Prinzip der Schadenverhütung basieren muß, sondern daß ihre pyramidale Ordnung gegebenenfalls aus dem sittlichen Imperativ eines Erleuchteten hervorgehen mag.364 Dem wäre jetzt hinzuzufügen, daßeine solche Konvention wohl kaum jene Magie mit sich führt, die nach Nietzsche das Heraufkommen eines Staates fördert, daß ihr also die innere Notwendigkeit fehlen muß. Demnach bildet tatsächlich am ehesten ein Erleuchteter den Anfang eines Staates. Wenn die Selbsterfahrung eines solchen die Grundlage für die staatliche Ordnung hergibt, so überlegt man, wie die Individuen ihm Folge leisten. Hier gibt es zumindest zwei Wege: Die Einzelnen können sich dem Erleuchteten unterordnen, in welchem Fall sich ein pyramidales Gebilde ergibt. Doch können sie auch versuchen, sich angesichts seines Anspruches, d.h. seinem sittlichen Imperativ gegenüber, zu behaupten. Nietzsche meint, dies geschehe (in der Regel?) nicht und erklärt dies aus einem der Natur innewohnenden Bedürfnis nach dem Genius, nach Erlösung. Es könnte allerdings sein, daß der Staat eine Perversion der Erlösung darstellt und daß er keineswegs die Versprechungen der Natur einlöst. Mit anderen Worten, es können die Vielen dem Genius in zweierlei Manier Folge leisten: Sie mögen trachten, ihm gleich zu werden, also ihrerseits zu Erleuchtenden heranzuwachsen; oder sie können sich darauf beschränken, ihm zudienen — im letzteren Fall hat der Erleuchtete Erfolg. In beiden Fällen kann das Ergebnis als eine „pyramidale Ordnung" verstanden werden, doch sind sie grundverschieden. Handelt es sich im ersten Fall um Stufen der Selbstgestaltung (der Selbstüberwindung), so geht es im zweiten um Stufen der Selbstverneinung, des Selbstverzichts. Im letzten Fall nähert man sich dem Vorbild in einer steigenden, mithin pyramidalen Ordnung der Selbstentmündigung. w 364

GS: 772, 8-9. Vergleiche hierzu S. 191.

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Bedurften die Griechen nach Nietzsche der Einrichtung des Wettkampfes, so vertritt er hier die Ansicht, daß der Staat den Krieg braucht. Er spricht von einer „nach innen gewendeten zusammengedrängten Wirkung jenes bellum" (772,17-18). Demnach schmiedet erst der Krieg den Staat zu einem Ganzen. Nietzsches Darlegung ist nicht ohne innere Logik. Weiter oben wurde ersichtlich, daß der Wettkampf das Individuum mittels eines äußeren Gleichgewichts vor Überheblichkeit schützt und so sein Band zum Zentrum wahrt. Dieses Band gewährt seinerseits das jeweils innere Gleichgewicht der Kämpfenden. Beide Gleichgewichte werden in dem Augenblick erzielt, in dem der Kampf zu seinem Höchsten kommt und die Gegensätze in der einen Mitte einkehren. Demnach ist der Wettkampf das Instrument, das nicht nur vor Überheblichkeit schützt, sondern auch zur Selbstgestaltung, d. h. zur inneren Organisation anreizt. In dieser Richtung weiterdenkend, könnte man folgern, daß erst der Krieg — nämlich der sich steigernde Krieg mit einem gleichstarken Gegner—zur inneren Organisation eines Staates oder zu deren Steigerung veranlaßt. Dennoch tun sich hier zumindest zwei Fragen auf: Was meint das Wort Organisation? Und: Weshalb bedarf die Organisation des Krieges? Es hatte sich herausgestellt, daß Nietzsche die innere Organisation eines Individuums als das Gleichgewicht mehrerer feindseliger Kräfte versteht. Ihre Feindseligkeit ist wesentlich, denn sie bestimmt gleichsam das Maß ihres Einsseins, d.h. des Pathos — das als Intensität aufgefaßt werden kann. Übertragen wir diese Vorstellung auf den Staat, so geht hervor, daß seine Momente ebenfalls in einem Verhältnis der Feindseligkeit zueinander stehen. Allerdings fragt man sich dann, wo der Unterschied zur Hobbesschen Sicht liegt: Gibt es überhaupt einen solchen? Ich denke, ja. Denn während es sich bei dem bellum omnium contra omnes um eine gegenseitige Verschränkung und Abschottung handelt, bedeutet der Begriff der Feindseligkeit gerade das Gegenteil. Und zwar weil die Erleuchteten laut der Ersten Vorrede, Ueber das Pathos der Wahrheit, jeweils universale Gültigkeit beanspruchen. Aber bedarf es dazu tatsächlich der äußeren Feinde? Das ist wohl nicht der Fall. Deren Notwendigkeit ergibt sich vielmehr aus dem Fehlen einer inneren Mitte, eines Zentrums. Also kann Nietzsche mit seiner Vermutung, daß der Staat als Form der Gemeinschaft aus dem Verlangen nach dem Genius, nach Erlösung hervorgeht, zwar im Recht sein, nichtsdestoweniger dient der Krieg jedoch am ehesten jenen großen Erleuchteten und Siegenden, welche es zum einen nicht verstehen, sich nunmehr ohne Gegner zu behaupten, und sich zum anderen als zu schwach erweisen, die Gefolgschaft ihrer Jünger abzuschlagen — und sich daher al$ Kriegsherren versuchen. Es fehlt ihnen somit die Herrschaft über sich. Tatsächlich usurpiert ein solcher nicht nur die Mitte der Öffentlichkeit, sondern die des Zentrums schlechthin. Statt dem tatsächlichen Zentrum ordnen seine Jünger ihm sich unter. Damit verkommt der Erleuchtete vom Ideal zum Idol. Dies ergibt ein

230

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Gebilde des Egoismus. Soweit ich sehen kann, sind deren Strukturen immer die gleichen. Es handelt sich immer einmal wieder um den Egoismus eines Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe und den Altruismus irgenwelcher Jünger. Ihr Zusammengehen läßt eine Verkehrung der ursprünglichen Beziehung der Feindseligkeit erkennen: Die Jünger entlassen den Erleuchteten von seiner schwersten Aufgabe, nämlich den Gott entblößten Hauptes zu bestehen. Der Erleuchtete seinerseits nimmt den Jüngern die Last ab, jeweils selbst ein ganzheitliches Individuum gestalten zu müssen. Infolge dieser Perversion wird das Band zum tatsächlichen Zentrum zerrissen. Das Idol verliert alsbald seinen Glanz und kann den Jüngern nicht länger als Leuchte dienen. Der nunmehr drohenden inneren Zerrissenheit der Individuen und des Staates versucht man über die Konstruktion eines Feindbildes vorzubeugen. Daraus mag hervorgehen, daß es zwei grundverschiedene Arten der Organisation gibt: die der Feindseligkeit und die des Egoismus.

3. Die zweite Frage (Weshalb bedarf die Organisation des Krieges?) wurde bereits beantwortet: Ich habe sie auf das Fehlen einer inneren Mitte zurückgeführt. Nietzsche jedoch begründet die Notwendigkeit des Krieges anders. Er meint, der Krieg sei das einzige Heilmittel gegen dasjenige, was er im Schopenhauer-Aufsatz als die Selbstsucht der Erwerbenden dartut. Folgen wir ihm jetzt in seiner Kritik der „modernen Geldwirthschaft" (774, 19-20), die er in seiner Dritten Vorrede, im Griechischen Staat, vorlegt. Es heißt: „Wenn es Menschen geben sollte, die durch Geburt gleichsam außerhalb der Volks- und Staateninstinkte gestellt sind, die somit den Staat nur so weit gelten zu lassen haben, als sie ihn in ihrem eigenen Interesse begreifen: so werden derartige Menschen nothwendig als das letzte staatliche Ziel sich das möglichst ungestörte Nebeneinanderleben großer politischer Gemeinsamkeiten vorstellen, in denen den eigenen Absichten nachzugehen ihnen vor Allen ohne Beschränkung erlaubt sein dürfte." (GS: 772, 25-33)

Nietzsche meint: „Hierzu gilt es nun zuerst die politischen Sondertriebe möglichst zu beschneiden und abzuschwächen und durch Herstellung großer gleich-wiegender Staatenkörper und gegenseitiger Sicherstellung derselben den günstigen Erfolg eines Angriffskrieges und damit den Krieg überhaupt zur höchsten Unwahrscheinlichkeit zu machen: wie sie andererseits die Frage über Krieg und Frieden der Entscheidung einzelner Machthaber zu entreißen suchen, um vielmehr an den Egoismus der Masse oder deren Vertreter appelliren zu können: wozu sie wiederum nöthig haben, die monarchischen Instinkte der Völker langsam aufzulösen." (GS: 773, 18-28)

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Diese Analyse scheint mir ziemlich schief. Denn es mag zwar stimmen, daß der Krieg, wie es an der nächsten Seite heißt, „in Vaterlands- und Fürstenliebe einen ethischen Schwung aus sich erzeugt, der auf eine viel höhere Bestimmung hinweist" (774, 13-14), jedoch ist es fraglich, ob diese Bestimmung über den Krieg auch tatsächlich herbeigeführt werden kann. Vielmehr weist die Vaterlands- und Fürstenliebe in der Tat auf eine höhere Bestimmung hin, stellt freilich ihrerseits schon eine Perversion des eigentlichen Anliegens dar. Denn letztendlich handelt es sich um das Ideal, seiner selbst Herr zu sein, um die Perspektive einer unverfremdeten Existenz, um das Bei-sich- und Zuhause-Sein — kurz: um die erlangte Souveränität eines jeden Einzelnen, um die große und umgreifende Individuation. Daß die Massen den Monarchen und Fürsten die Gefolgschaft verweigern, sollte somit vielmehr positiv bewertet werden. Dagegen mag es stimmen, daß für gewöhnlich egoistische Motive dabei an erster Stelle stehen. Man kann dies so verstehen, daß der den Massen innewohnende Zug zum Altruismus (zur Gefolgschaft und zur Schwärmerei), in dem jedenfalls noch das Bedürfnis nach Erlösung und Selbstüberwindung bemerkbar war, in den engstirnigen Egoismus der Selbstbehauptung verkehrt ist. In der Historienschrift spricht Nietzsche in diesem Zusammenhang vom Gegensatz zwischen dem unklugen und dem klugen Egoismus (321, 28-33). Im letzteren Fall ist die dem Menschen als solchem anhaftende Bedürftigkeit ins Diesseitige übersetzt worden. Die Bildung bleibt davon nicht unberührt. Nietzsche skizziert die Folgen im ersten Vortrag aus der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Dort sagt der Begleiter des alten Philosophen: „ < , > Ich glaube bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. D i e s e Erweiterung gehört unter die beliebten nationalökonomischen D o g m e n der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntniß und Bildung — daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß — daher möglichst viel Glück: — so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. [ . . . ] D i e eigentliche Bildungsaufgabe wäre demnach möglichst .courante' Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze .courant' nennt. Je mehr es solche courante Menschen gäbe, um so glücklicher sei ein Volk: und gerade das müsse die Absicht der modernen Bildungsinstitute sein, Jeden so weit zu fördern als es in seiner Natur liegt,courant' zu werden < ' > " (ZBA: 667, 15-34). 3 6 5

Dies nationalökonomische Dogma steht mit dem Betreiben jener „wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler" (774, 4), die Nietzsche in seiner Dritten Vorrede nennt, in einem Bunde. Jene Geldeinsiedler hätten es ja gelernt, „die Politik

165

Vergleiche die Variante dieser Stelle, welche im sechsten Kapitel des Schopenhauer-Aufsatzes sich findet: 387, 20 - 388, 25. (Die Beziehung wurde von Colli-Montinari nicht verzeichnet — vergleiche 14: 78 mit 104).

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zum Mittel der Börse und Staat und Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen" (774, 6-7). Angesichts dieser Konstellation stimmt Nietzsche dann seinen Lobgesang auf den Krieg an: „Wenn ich also als gefährlichstes Charakteristikum der politischen Gegenwart die Verwendung der Revolutionsgedanken im Dienste einer eigensüchtigen staatlosen Geldaristokratiebezeichne, wenn ich die ungeheure Verbreitung des liberalen Optimismus zugleich als Resultat der in sonderbare Hände gerathenen modernen Geldwirthschaft begreife und alle Übel der socialen Zustände, sammt dem nothwendigen Verfall der Künste, entweder aus jener Wurzel entkeimt oder mit ihr verwachsen sehe: so wird man mir einen gelegentlich anzustimmenden Paän auf den Krieg zu Gute halten müssen." (GS: 774,14-24)

Somit sieht Nietzsche im Krieg das Mittel, das am ehesten geeignet ist, die „Selbstsucht der Erwerbenden" (UB III: 387, 20) zubrechen. Er versteht den Krieg als das Heilmittel gegen die allerwegen verordnete Krankheit der Selbstsucht. In diesem Sinne heißt es dann auch in der Dritten Vorrede: „Gegen die von dieser Seite zu befürchtende Ablenkung der Staatstendenz zur Geldtendenz ist das einzige Gegenmittel der Krieg und wiederum der Krieg" (774, 8-9).

Zwar sind somit die martialischen Äußerungen Nietzsches auf einen bestimmten Aspekt beschränkt, aber dennoch kommen wir nicht umhin, festzustellen, daß Nietzsche glaubt, im Krieg und im Soldatenstand „das Urbild des Staates" (775, 5) erkennen zu können.366 Der Staat diene seinerseits der Erzeugung des „militärischen Genius" (775, 17). Aus dem Vorbild der militärischen Hierarchie schließt Nietzsche, daß jeder Mensch nur soviel Würde hat, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist.367 Demnach gebe es einen intrinsischen Zusammenhang zwischen Staat und Genius:368 Das eigentliche Ziel des Staates sei die olympische Existenz und die immer erneute Zeugung und Vorbereitung des Genius.369 Ziehen wir das Fazit: Es hat sich herausgestellt, daß Nietzsches frühe Gedanken über den Staat nicht sehr geschlossen sind. Unter der Voraussetzung, der Genius sei Zielpunkt und letzte Absicht der Natur, versteht er den Staat als eine Notwendigkeit eben dieser Natur. Dies trifft allerdings nur bedingt zu. Denn es wurde gezeigt, daß Nietzsche zumindest drei Staatsformen unterscheidet. Im einen Fall gründet der Staat auf einer Konvention und zielt letztendlich auf Schadenverhütung, hier finden wir das gleichgültige Nebeneinander. Im anderen Fall geht der Staat auf die anfängliche Erfahrung eines Erleuchteten zurück. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder

366 367 348 w

Etwaige Bezüge zu Piatons Politeia bleiben in dieser Studie grundsätzlich außer Betracht. GS: 776, 6-7. GS: 777, 2-6. GS: 776, 18-19.

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fördert der Staat die Individuation aller seiner Mitglieder, oder die Mitglieder ordnen sich dem Imperativ eines Erleuchteten unter. Die Notwendigkeit der Hierarchie ergibt sich aus dem Defizit, das die Mehrzahl gegenüber den vereinzelten Erleuchteten aufzeigt. Aber auch diese Hierarchie ist keineswegs eine Notwendigkeit der Natur. Sollten alle Menschen zu Erleuchteten heranwachsen, so würde das hierarchische oder auch pyramidale Gebilde des Staates sich fürderhin erübrigen. Für eine wahre Kultur sind Sklaventum und Krieg somit keineswegs unerläßlich. Sie gehen vielmehr aus der Faulheit und Angst der Vielen und der mangelnden Selbstbeherrschung der großen Einzelnen hervor. Macht man den Versuch, Nietzsches Darlegung des griechischen Staates auf dem Hintergrund der dem Menschen eigenen Aufgabe der Individuation zu verstehen, so kommt man zu dem Schluß, daß dies Vorbild mit dem Nietzscheschen und wohl auch zutiefst christlichen Ideal einer unbedingten Selbständigkeit des Individuums, die auf das je individuelle Band zum Zentrum zurückgeht, nicht vereinbart werden kann. Denn während der griechische Staat für sein inneres und äußeres Gleichgewicht auf den Krieg angewiesen war, wie die griechischen Genien auf die Institution des Wettkampfes, findet das Nietzschesche Genie das Gleichgewicht „in und für sich". Der Nietzschesche Genius versteht es, den Zustand der höchsten Befriedigung „aus sich allein zu erzeugen" (7: 10 [1]; 7: 334, 5).

4. Von der diachronen Gerechtigkeit Aus den vorigen Paragraphen mag hervorgegangen sein, wie die Selbstsucht sich Nietzsche zufolge im Individuum, in der Bildung, in der Kultur und auch im Zusammenleben der Menschen bemerkbar macht. Die Selbstsucht besteht einmal darin, daß die Vielen sich der Aufgabe der Individuation verweigern. Sie zeigt sich aber auch in den großen Einzelnen, die sich als Führer aufspielen. Aus dem Zusammenspiel der beiden Momente ergibt sich eine Pervertierung des Zusammenlebens, der Gemeinschaft. Im achten Kapitel der Historienschrift macht Nietzsche den Versuch, der Herkunft des gesteigerten Richterbedürfnisses der damaligen historischen Wissenschaft auf den Grund zu kommen.370 Wie ich in den Prolegomena dargelegt habe, führt er hier einige hypothetische Erklärungen vor. Nach der ersten, die sich auf das christliche Erbe bezieht, gesteht er, diese Erklärung nur zweifelnd hingestellt zu

170

UB II: 304, 9.

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haben, und regt dazu an, sie durch bessere zu ersetzen.371 Dies trifft wohl auch auf die anderen von ihm vorgeschlagenen Erklärungen zu. Meinerseits möchte ich das gesteigerte Richterbedürfnis auf die Selbstsucht und ins besondere auf das in meinem zweiten Kapitel dargelegte Modell der Verdrängung zurückführen. Um es kurz in Erinnerung zu rufen, so hatte ich die Auffassung der Zeit als einer Jetztfolge als das Ergebnis einer zweistufigen Verdrängung erklärt. Die erste Stufe betrifft die Aufgabe, ein ganzheitliches Individuum darzustellen. Wird die Aufgabe verdrängt, so wird der Mensch wegen seines Gewissens bedrängt. Deshalb bedarf es einer zweiten Stufe der Verdrängung, um der Bedrängung seitens des Gewissens zuvorzukommen. Denn die Bedrängnis, die der Mensch andauernd des Verdrängten wegen erfährt, macht es erforderlich, dessen Ansprüche fortwährend in Abrede zu stellen. Aus der Umkehrung dieser Konstellation geht jene Gestalt der Gerechtigkeit hervor, welche ich als die diachrone bezeichne. Es handelt sich hier um den verkehrten Prozeß, in dem die Bedürftigkeit des Menschen, das heißt dessen tiefes Gefühl des Ungenügens und der Sehnsucht,372 allmählich verbannt wird. In diesem Prozeß geht es um eine allmähliche ,Erlösung' und Befreiung von der Last der jeweils zugeteilten und auferlegten Aufgabe der Individuation. Die Hauptzüge des Gebildes der Selbstsucht werden im folgenden in vier Schritten dargestellt: Das Gebilde basiert auf der Faulheit und der Furcht der Vielen angesichts der Aufgabe der Individuation, was zur Verweigerung veranlaßt. Die Verweigerung wiederum führt zu einer Pervertierung des Gemeinschafts wesens .Das logische Endziel dieser Entwicklung bildet zunächst der absolute Staat — die Vielen verstehen es als den eigentlichen Sinn ihres Daseins, ihm zu dienen. Die Unterwerfung vermittelt ihnen die ultime Berechtigung ihrer Existenz. In diesem Paragraphen gilt es zu zeigen, daß diese Verweigerung mithilfe einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit hypostasiert wird, welche ich, wie gesagt, als die diachrone bezeichne. Sie läuft darauf hinaus, daß die endgültige Beseitigung der Aufgabe der Individuation als das letztendliche Ziel der Geschichte vorgeführt wird. Der Ausdruck diachrone Gerechtigkeit bezeichnet somit eine pervertierte Teleologie. Daß der absolute Staat wenigstens in unserer Hemisphäre weitgehend durch die Demokratie abgelöst wurde, muß nicht heißen, daß es auch schon die Selbstsucht in die Flucht verschlagen hätte. Vielmehr werden heutzutage die wirtschaftlichen Interessen absolut gesetzt. Und die spätkapitalistische bzw. neoliberale Konsumgesellschaft dürfte Nietzsche ein Zeichen dafür gewesen sein, daß sich die Selbstsucht und die Gleichgültigkeit bis ins Mark gefestigt haben.

371 372

UB II: 306, 3-5. UB III: 393, 31-32.

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1. Wie wir sahen, ist Nietzsches Begriff des Egoismus mehrdeutig. Der Begriff betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern bezieht sich auf ein komplexes Geflecht von Beziehungen. Da der Egoismus nur in einer Gemeinschaft, das heißt nur in der Beziehung zweier oder mehrerer Menschen vorkommen kann, ist das nur folgerichtig. Anders gesagt: Wäre der Mensch auf sich gestellt, so wäre der Egoismus letztendlich aussichtslos, denn der Mensch würde an ihm zugrunde gehen — der Eremit wird von seiner Einsamkeit genötigt, dem Egoismus abzuschwören. Was also heißt Egoismus? Zuerst hat es den Anschein, daß es sich um den Zustand handelt, in dem das Individuum verhärtet ist. Das ist wohl auch der Fall, aber nicht ohne Folgen, denn wegen dieser Verhärtung ist das Band mit dem Mittelpunkt zerrissen worden. Weiter oben wurde ausgeführt, daß das Individuum es nicht vermag, selbst seinen Bestand zu gewähren — es sei denn, es wahre das Band der Mitte. Aber eben dieses Band ist ihm im Zuge der Verhärtung verloren gegangen. In diesem Zustand kann es nur Bestand haben, wenn es einen Ersatz ausfindig machen kann. Das heißt, ein anderer Mensch oder eine Instanz muß ihm sein Selbstsein bestätigen und so dessen Bestand wahren. Mithin verliert der Mensch im Zuge der Verhärtung seine Unabhängigkeit. Er sieht sich jetzt gezwungen, seine Beständigkeit um den Preis seiner Eigenständigkeit zu erkaufen. Es kommt dazu, daß er einen Menschen bzw. irgendeine Instanz als ihm übergeordnet anerkennt. Damit ist er aber in dessen oder auch deren Gewalt, denn nun sind sie diejenigen, die sein Selbstsein ihm gewähren oder entziehen. Was ermöglicht nun diese Macht? Was befähigt einen Menschen, des anderen Selbstsein zu beständigen? Wie kann eine Instanz solches gewährleisten? Die Antwort ist einfach: Weder irgendeine Instanz noch irgendein Mensch ist dazu in der Lage. Der Mensch macht dies jeweils selbst, indem er sich eine Legitimation seines momentanen Selbstseins erkauft und sich damit seiner eigentlichen Aufgabe, zur Eigenständigkeit zu gelangen, entledigt. Die Macht ist in diesem Sinne gegenstandslos. Sie vermag nichts Positives zu bewirken. Sie kann kein Selbstsein gewähren, sondern nur bescheinigen. Sie kann aber zerstören, indem sie einem Menschen die bescheinigte Legitimation entzieht. Ihrerseits entnimmt sie ihre Beständigkeit dieser Möglichkeit des Entzugs. Die Drohung mit dem Entzug ist das Instrument ihrer Selbsterhaltung. Dem eigenständigen Menschen gegenüber ist sie aber zunächst machtlos. Dieser stellt somit eine Gefahr für sie dar. Also füllt die Macht die Lücken aus, die sich aus den Defiziten menschlicher Selbstverantwortung ergeben. Je größer die Defizite, desto größer die Macht. Nietzsche versteht den neuzeitlichen Staat als die Instanz, welche das Wachsen menschlicher Defizite vorsetzlich schürt. Zu meinen, irgendeine Instanz könne je-

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mals die Last der Selbstverantwortung, mit der jedes menschliche Individuum versehen werde, übernehmen, ist seiner Ansicht nach ein schwerer Fehler. Die Macht des Staates oder einer anderen Instanz macht so die von ihm (und später von Heidegger) angezeigte Leere der Gleichgültigkeit fühlbar, die die Menschen ihrem eigenen und dem anderen Selbst gegenüber hegen. Nietzsches Polemik gilt ebensosehr dem Sozialismus, insofern dieser die eigene Verantwortung des Menschen in Abrede zu stellen scheint, als dem Liberalismus, insofern dieser meint, es gäbe kein allgemein verbindliches Maß. Was für den Staat und für andere Instanzen zutrifft, gilt auch in bezug auf die Machtsverhältnisse im Privaten. Die Macht einzelner oder Gruppen von Menschen ist jeweils das Ergebnis einer Lücke, einer Leere; sie quillt aus den Defiziten anderer hervor. Aber gibt es nicht dennoch einen Unterschied? In der Tat, denn obwohl der Staat als Ganzes das Wachstum menschlicher Defizite schürt und sich von einer diesbezüglichen Auslese bedienen läßt, erschöpft der einzelne Beamte sich im allgemeinen im Verwalten der Leere — er hat ja seine Auszeichnung darin, daß ihm jegliches Gefühl persönlicher Verantwortung abgeht. In der Privatsphäre dagegen, und zumal in den Beziehungen einzelner Menschen, so könnte man meinen, werde das wohl anders sein; man könnte meinen, hier werde die Fülle menschlicher Nähe gepflegt. Leider trifft das nicht immer zu. Die Defizite, welche dem Gebilde des Staates zugrunde liegen, lassen sich vielmehr gerade hier aufzeigen. Die Privatsphäre ist somit der Ort, wo im Kuhhandel der Gefühle die Selbstsucht zunächst ihr Unwesen treibt. Allerdings wird dieses Unwesen und diese Selbstsucht vom Staate geschürt. Etwa so könnte man Nietzsches Ansichten bezüglich des Staates paraphrasieren — oder um es auf den Punkt zu bringen: Nach Nietzsche ist der Staat das Gespenst, das sich aus den Säften und Gerüchen zusammensetzt, die aus dem Leichnam einer infolge übermäßiger Gleichgültigkeit zu Tode gekommenen Gesellschaft hervorquellen.

2. Ganz in diesem Sinne ist Nietzsche der Ansicht, der Egoismus sei eine Krankheit. Liegt deren Keim auch im Inneren eines jeden Menschen, so wurde sie durch die zeitgenössische Bildung entschieden gefördert. Das Bildungswesen ist ihm das Instrument, mit dem der Staat die jungen Menschen zu passabeln Bürgern, und das heißt zu jämmerlichen Karikaturen erzieht. Ich glaube, Colli tut Nietzsche Unrecht, wenn er dessen diesbezügliche Gedanken im Nachwort des ersten Bandes der KSA

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als naiv bewertet.373 Man sollte klar sehen, daß das Bangen Nietzsches um die Bildung nicht nur ein Herzstück seiner frühen, sondern der (abendländischen) Philosophie überhaupt ist. Demgemäß ist diese Problematik nach wie vor aktuell. Der Gedanke der Bildung gilt dem Weg, der vom Anfang der ästhetischen oder großen Erfahrung zum Ziel der Eigenständigkeit, also zum eigenständigen Innehalten der Mitte der Triebe, führt oder wenigstens führen sollte. Nietzsche hegt denselben Verdacht, der auch dem niederländischen .schoolstrijd' zugrunde lag: Der Staat sei vielmehr daran interessiert, das Heranwachsen eigenständiger Individuen zu verhindern, als zu ihrem Hervorkommen Beitrag zu leisten. Der Streit um die Bildung ist damit der Streit um das Bild des Menschen, denn es handelt sich nicht nur um das Problem der Methode, sondern auch, oder vielmehr zuerst, um dasjenige des Maßes. Die erste Frage ist ja nicht, wie sollte man bilden, sondern: Wozu? In welche Richtung? Zu welchem Zwecke? Wie gesagt, ist, wenigstens Nietzsches Ansicht nach, das Anliegen des Staates von vornherein vorprogrammiert: Er ziele auf die zeitige Verstümmelung des Menschen zum nützlichen Tier. Dieses Anliegen, so meint er des weiteren, werde mit Methode verfolgt: Die zeitgenössische Bildung sei darauf angelegt, den Auszubildenden seiner ursprünglichen, d.h. anfänglichen Selbsterfahrung zu berauben. Anders gesagt, ihr Anliegen sei es, der großen Erfahrung des Selbstseins zuvorzukommen und dort, wo sie dennoch hervortritt, zu vernichten. Damit wäre das erste und wichtigste Ziel erreicht: die völlige Orientierungslosigkeit und die damit einhergehende Drohung einer endgültigen Zerrissenheit des Individuums. Der so präparierte Jüngling liefere das geeignete Material zur Bildung im Dienste des Staates. Nietzsche sieht wohl auch, daß ein derart pathologisches Gebilde schwerlich Bestand hätte, denn er differenziert dahingehend, daß es genüge, wenn der Zögling jedenfalls das Maß der Dinge nicht in seinem eigenen Inneren, sondern in dem vorgetragenen Lehrstoff suche und finde. Die Selbsterfahrung wird somit nicht gänzlich ausgerottet, sondern nur in die Sphäre des Privaten zurückgedrängt. Daraus ergibt sich dann die von Nietzsche gerügte Kluft zwischen Innerem und Äußerem. Das ins Innere zurückgedrängte Selbst wandelt sich zur Stätte der Erlebnisse. Die weitere Bildung scheint nur dazu da zu sein, das Selbst mit immer neuen Erlebnissen zu füttern. Der Streit der Gegensätze legt sich, somit erübrigt sich das Bändigen der wilden, ursprünglichen und ganz und gar unbarmherzigen Leidenschaften.374 Der Strom des Lebens zieht sich zurück, und in der so erzeugten grundlegenden Stimmung der Langeweile ahnt man nur noch im leichterträglichen Nervenkitzel nachempfundener Grausigkeiten und Entzückungen etwas von seiner verlorengegangenen Kraft. 371

KSA 1: 915. ' UB III: 367, 10-11.

,7 1

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Auf diesem Wege also wird das Pathos aus dem öffentlichen Leben verdrängt, und infolge dessen fristet es auch im Privaten nur noch ein spärliches Dasein. Diese Verbannung der Gewalt der gegensätzlichen Triebe — sie sollte nicht mit der Selbstbeherrschung im Sinne des Ihrer-Herr-Seins verwechselt werden — gewährleistet den ungestörten Ablauf der alltäglichen Betriebsamkeit. Der Mensch wird klug und gewandt, weshalb die Tyrannei des Staates allmählig ablassen kann. Seine Macht beruht jetzt auf einer Art contrat social: Der Bürger überläßt den öffentlichen Raum dem Staate und seinerseits gewährt der Staat ihm die Unversehrtheit der Privatsphäre — allerdings nur bis zu dem Moment, wo sie ihm in die Quere zu kommen droht. In jenem Moment droht er mit dem Entzug der von ihm bescheinigten Legitimation. Dieses Gebilde zeichnet sich zwangsläufig durch eine tiefe Gleichgültigkeit aus. Da den Bürgern ein jeweils eigenes Maß bescheinigt wird, fehlt das Phänomen der öffentlichen Auseinandersetzung. Der Staat verwaltet die Leerstelle des öffentlichen Maßes und schreitet nur ein, wenn versucht wird, die Leere zu füllen. Er gewährt seinen Bürgern jeweils einen Platz, aber es fehlt die öffentliche Begegnung und Auseinandersetzung. In diesem Sinne also stellt er ein System der Einzelegoismen dar: Die Menschen erkaufen ihre Freiheit indem sie den Staat erschaffen und damit die Unverbindlichkeit eines jeden Maßes ins Werk setzen. Man ist nunmehr der Ansicht, diese Unverbindlichkeit sei das höchste Gut und das allgemein verpflichtende Maß — oder mit den Worten Nietzsches: „ < M > an decretirt: der Egoismus soll unser Gott sein" (UB II: 321, 27).

Nach Nietzsche gibt diese Losung der zeitgenössischen Bildung die Richtung vor: Das in diesem Sinne freie Individuum werde als erklärtes Ziel der Bildung betrachtet. Dessen Freiheit beinhaltet aber nur die Leere einer Unverbindlichkeit, die ihrerseits erst einer Kultur der privaten Erlebnisse und Genüßlichkeiten den Raum schafft.

3.

Aus diesem Erlaß geht nun des weiteren das grundlegende Modell für die Interpretation und Bewertung der realen Begebenheiten, also für die Historie hervor. Man könnte es als das .Emanzipations'-Modell bezeichnen: Der Gang der realen Geschehnisse wird als Geschichte der .Selbstbefreiung' des Menschen rezipiert. Eine solche Historie führt aus, wie der Mensch seine selbstverschuldete Unmündigkeit abwirft, indem er sich seiner eigentlichen Aufgabe, die nach Nietzsche darin besteht, ein eigenständiges Individuum zu werden, entledigt. Aus dieser Sicht der Dinge gelangt die Geschichte in Gestalt des zeitgenössischen Historikers ans Ziel. Der wissenschaftlich vorgehende Historiker beschäftigt sich mit den geschichtlichen Ereignissen. Die angebliche Fülle seiner Erlebnisse, die sich aber nichtsdestoweniger

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im Morgenrock genießen lassen, macht die Leere der Gegenwart vergessen. Doch begnügt jener Menschen-Typus sich Nietzsche zufolge keineswegs mit dem Genießen, vielmehr mäßigt er obendrein das Recht sich an, das Vergangene zu richten. Das Maß, das der Historiker dabei anlegt, ist das seiner eigenen .Freiheit' — er meint wohl, deren Unverbindlichkeit gewährleiste seine Unvoreingenommenheit und somit seine Objektivität. Von seiner Warte aus erscheinen die großen Ereignisse vergangener Zeiten sämtlich als Folgen unbewältigter Leidenschaften. Und der Historiker schließt, wohl zu Recht, daß der Raum des realen Geschehens meist dem unbewältigten Pathos untersteht. Die Gewalt der unbewältigten Leidenschaften wird als „unkluger Egoismus" (331, 33; 322, 4) bezeichnet. Dieser Ausdruck gilt dem ursprünglichen Walten der gegensätzlichen Triebe und bezieht sich auf das Unvermögen, deren Mitte zu wahren. Dies von Nietzsche mehrfach als „Meeresstille" bezeichnete Gleichgewicht ist nun aber grundverschieden von der Unbewegtheit des Historikers. Bei dessen Unbewegtheit handelt es sich keineswegs um eine „höchste Steigerung < der > Kräfte" (GT: 150, 10-11). Sie ist somit keine „Regung ohne Erregtheit" (UB III: 381, 14)375, sondern sie ergibt sich aus der Abtötung der Leidenschaften, die mit der allmählich sich breitmachenden Gleichgültigkeit einhergeht. Nietzsche vertritt die Ansicht, daß Aer eigentliche Bildungsweg und auch das damit korrespondierende Grundmodell der Geschichtsbetrachtung aus dem Verlangen und dem Ziel hervorgehen, das Höchste dieser Mitte ständig wahren zu können. Dem von Nietzsche gerügten Historiker ist das Ziel vielmehr, die Gewalt der Leidenschaften soweit zurückzudrängen, als zum Zwecke eines dem Anschein nach harmonischen, im Grunde jedoch vielmehr gleichgültigen Nebeneinanders erforderlich erscheint. Aus seiner Darstellung der weltgeschichtlichen Ereignisse geht hervor, daß der Staat das letzte und innerste Ziel aller geschichtlichen Bemühungen ist.376 — Die Lektion der Geschichte, die der objektive Historiker zu verbreiten bemüht ist, ist somit folgende: Diene dem Staat, denn nur er gewährt dir die dauerhafte .Erlösung' deiner Selbst.377

4. Nun könnte man anführen, daß Nietzsches Analyse der Selbstsucht wohl von der Geschichte überholt wurde, denn die Demokratie hat ja, wenigstens in unserer Hemisphäre, den absoluten Staat abgelöst. Doch unterscheidet Nietzsche neben dem

375 176

Vergleiche den Rahmen UB III: 381, 9-18. Vergleiche namentlich UB II: 321, 22 - 322, 10, des weiteren der dritte Vortrag aus der Reihe Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (ZBA: 706-711). Vergleiche ZBA: 707, 32 - 708, 14 und 710, 11-21.

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des Staates noch andere Systeme des Egoismus, deren wichtigstes das Phänomen des Erfolgs ist. In bezug auf den absoluten Staat wurde angezeigt, daß er die Lücke einer Leere füllt. Das trifft auch auf den Erfolg zu, aber es gibt dennoch einen Unterschied. Denn während der Staat weitgehend anonym ist, ist der hier gemeinte Erfolg Sache von einzelnen oder Gruppen von Personen. Diese Konstellation wurde vorhin schon einmal kurz erwähnt, als wir die Machtsverhältnisse innerhalb der Sphäre des Privaten streiften. Der Erfolg ist ein zutiefst zwiespältiges Phänomen, denn seine Möglichkeit geht auf den Enthusiasmus zurück. Und dieser stellt zunächst diejenige Variante des Pathos dar, welche den Menschen seiner Beschränkungen und Verschränkungen entrückt. Es handelt sich dann wohl um den „Hauch der Liebe" (Schelling), um das Wehen des Geistes (pneuma). Das positive Moment des Enthusiasmus bezieht sich auf die Eröffnung des Herzens bzw. der Herzen. Der Mensch erfährt etwas, das sein bisheriges Selbstverständnis übersteigt und in Frage stellt: Er erfährt eine höhere Verbindlichkeit und erkennt somit die zumindest relative Unverbindlichkeit seines bisherigen Daseins. Es wird ihm klar, daß es ein anderes und höheres Maß der Dinge gibt als dasjenige, das er bis vor kurzem angelegt hatte. Negativ betrachtet, heißt das nun aber, daß ihm das eigentliche Maß noch fehlt. Seine Existenz wird vom Wehen dieses Windes auf- und umgewühlt, die Heimat wird ihm fremd, und er macht sich auf den Weg, seinem Genius zu folgen. Aber nicht immer wehet der Nordost. Und die Entrückung kann alsbald zur Berückung werden, denn es fällt einem, dem das Maß fehlt, schwer deren Mitte innezuhalten. Daraus ergibt sich eine Gefahr, die vor allem dann droht, wenn der Enthusiasmus nicht die soeben angedeutete Höhe und Gewalt hat, die ein Damaskus herbeiführen kann. Ich meine jene Fälle, in denen der Mensch von einer Person, von einer religiösen, philosophischen oder politischen Idee, oder von einem Werk der Kunst betroffen wird. Die Gefahr besteht darin, daß er sich nun demjenigen oder derjenigen verpflichten möchte, von dem oder von denen sein Enthusiasmus hervorgerufen wurde. Demnach neigt der enthusiasmierte Mensch zur Heteronomie. Er spürt zu Recht eine höhere Verbindlichkeit, deren Nachfolge er antreten möchte, sucht sie aber nicht in seiner eigenen Erfahrung — in der ästhetischen Erfahrung seiner Selbst, d.h. im großen Augenblick —, sondern in demjenigen, von dem sie hervorgerufen wurde. Nur das Objekt seiner Zuwendung kann dieser Gefahr zuvorkommen und diese Tendenz umbeugen. Der Schwärmer muß zart, aber entschieden zurückgewiesen werden. Es handelt sich um den schmerzlichen Dienst, den Hölderlins Diotima dem Hyperion erwiesen hat. Der von Nietzsche gemeinte Erfolg zeichnet sich nun dadurch aus, daß eben dies nicht geschieht. Das Objekt der Zuwendung läßt sich die Schwärmerei vielmehr gefallen und schürt sie sogar. Es kann aber auch sein, daß einzelne oder eine Gruppe von Personen sich seiner zu ihrem eigenen Nutzen bemächtigen —

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Nietzsches späterer Ansicht nach erklärt dies die Existenz der parasitischen Klasse der Priester. Das Gebilde des Erfolgs ergibt sich somit aus dem Billigen und geradezu Schüren der Schwärmerei. Die Konstruktion hat ihre pervertierte Mitte in einem zwar unerreichbaren, aber nichtsdestoweniger verpflichtenden Ideal, dem der Schwärmer sich nur in der Praxis einer restlosen Hingabe nähern kann. Obwohl der ursprüngliche Anlaß des zur Schwärmerei entarteten Enthusiasmus durchaus reiner Natur sein kann und es sich — wie etwa im Falle Jesu — um eine geglückte Individuation handeln mag, verkommt das anfängliche Ideal im Zuge des Erfolgskults zwangsläufig zum Idol. Das Idol gibt das Maß vor, dem der Schwärmer nur in der Praxis eines restlosen Selbstverzichts gerecht werden kann. Jedoch wird angesichts einer solchen Ungerechtigkeit, eines solchen Frevels, der Wind sich drehen oder gar legen und so der Schwärmerei den Grund entziehen. Was bleibt, ist des ehemaligen Schwärmers Abhängigkeit von der Kaste, die den Nachlaß des entflohenen Genius verwaltet. Nietzsche ist somit der Ansicht, daß der wahrhaft Große immer die Gefolgschaft abschlägt. Das heißt nun aber nicht, er rede einem Schopenhauerischen Pessimismus das Wort, wie etwa van G. Haeuptner vorgetragen worden ist. Nein, diese seine Ansicht ergibt sich vielmehr aus seiner Gesamtkonzeption, die auf dem unerschütterlichen Fundament der Selbsterfahrung und dem Begehren ihrer Beständigung beruht.

Schluß In diesem Kapitel habe ich Nietzsches Vorschlag, kritische Historie zu betreiben, als Mahnung, die Tendenzen aufzuzeigen, welche der Individuation, also der Gerechtigkeit, entgegenstehen, aufgefaßt — das heißt: Kritische Historie wurde als Analyse der Selbstsucht verstanden. Es wurde Nietzsches Kritik am damaligen Bildungswesen erörtert. Hier sollte man zunächst das Walten dergegensätzlichen Triebe als die erste Tatsache der Existenz beachten. In seinem Inneren erfährt der Mensch unmittelbar das Walten dieser Triebe. Er verspürt den apollinischen Trieb zur Selbstgestaltung, erleidet aber auch das dionysische Verlangen nach dem schlechterdings Ungestalteten, nach dem ganz und gar Unbestimmten. Zwischen diesen beiden Trieben ist er zerrissen. Die Aufgabe der Individuation besteht darin, die Mitte dieser beiden Triebe ins Werk zu setzen. Doch kann der Mensch sich dieser Aufgabe auch verweigern, in welchem Fall der Verwandlungsprozeß, das heißt die Organisation der Triebe auf den Mittelpunkt hin, ausbleibt. Nietzsche zufolge wurde die Verweigerung durch die damalige .Bildung' geschürt, wirkte sie also der Individuation und damit der Gerechtigkeit entgegen. Während diese Art von .Bildung' sich in einem Gegen-

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satz zwischen Bildungsanspruch und Bildungsausweis niederschlägt, führt wahrhafte Bildung deren Einheitlichkeit herbei. Vor dem Hintergrund der Problematik der Individuation (als der Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit) habe ich mich ferner mit seinen politischen Vorstellungen auseinandergesetzt. Ich habe zu zeigen versucht, daß Nietzsches Ansichten hier hinter seinen eigenen Ansprüchen, so, wie sie von mir dargelegt worden sind, zurückbleiben. Seine Griechenschwärmerei verstellt ihm den Blick für die Konsequenzen seines Ansatzes: Sollte der Genius in der Tat erste und letzte Absicht der Natur sein — so ist nicht der Staat, sondern die große, d.h. die umgreifende Individuation das Endziel ihres Strebens. Im letzten Paragraphen habe ich mich bemüht, die wichtigsten Themen dieser Studie unter dem Aspekt der Selbstsucht mit einander zu verbinden, um so die innere Dynamik dieser Tendenz ersichtlich zu machen. Diese Dynamik wird in der Vorstellung der diachronen Gerechtigkeit auf den Begriff gebracht. Sie läuft darauf hinaus, daß die endgültige Beseitigung der Aufgabe der Individuation als das Ziel der historischen Entwicklung vorgeführt wird. Im Dienste des Staates diese pervertierte Teleologie zu verbreiten ist nach Nietzsche die Aufgabe, der seinerzeit die historischen Wissenschaften sich widmeten. Aus seiner Sicht war die derzeitige Historie also ganz und garder Ungerechtigkeit verfallen. Indem Nietzsche das damalige historische Wissen gegen sich selbst kehrt, löst er das Problem, vor das diese Art von Historie ihn stellt: Er führt sie auf ihren Ursprung, nämlich auf die Selbstsucht, zurück — er zeigt auf, daß und wie die Historie aus der Faulheit und der Feigheit angesichts der Aufgabe der Individuation hervorgeht. Daß seine Analyse auch außerhalbdesdamaligen historischen undgesellschaftlichen Rahmens bedeutsamsein mag, habe ich im letzten Abschnitt dieses Paragraphen anhand des Phänomens des Erfolgs anzudeuten versucht.

Schlußbetrachtung Geschichte und Gerechtigkeit Rückblick und Aussicht

Am Ende dieses Versuchs, das Problem des Verhältnisses zwischen Geschichte und Gerechtigkeit anhand des Frühwerks Nietzsches zu klären, bemühe ich mich im folgenden um ein Zwiefaches, nämlich um die explizite Anzeige des systematischen Gesichtspunktes meiner Nietzsche-Lektüre und um die Darlegung der Thematik Geschichte und Gerechtigkeit, so wie diese aus jener Perspektive hervorgeht. Was den systematischen Aspekt anbelangt, so vertrete ich die Ansicht, daß eine exemplarische und ausgezeichnete Selbsterfahrung die Herzmitte nicht nur der Nietzscheschen Philosophie, sondern der Philosophie überhaupt bildet. Nietzsche nennt diese Erfahrung die ästhetische und unhistorische und bezeichnet sie als Erleuchtung. Damit rückt er sie in die Nähe der Gottesschau und der intellektuellen oder auch intellektualen Anschauung. Dieser Ansatz hält sich bis in die späten Notizen durch — liest man in der Geburt der Tragödie, daß die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist, so heißt es in einer späten Notiz, Gott hätte es nur als momentanes Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte geben können. Jedoch ist der Höhepunkt dieser Erfahrung oder der Augenblick der Schau von einer Vergänglichkeit geprägt und hinterläßt er nach seinem jeweiligen Erlöschen eine schmerzliche Leere. Dies veranlaßt zur Frage nach der Gerechtigkeit. Ich verstehe die Philosophie als das Bestreben, jene Erfahrung oder Schau innehalten zu können — als den Versuch, sie als gesichtertes Eigentum zu erwerben. Im folgenden wird dargetan, daß die Thematik Geschichte und Gerechtigkeit, so wie wir sie bei Nietzsche vorgefunden haben, in der Methode gipfeln mag, deren Befolgung die Ganzheit des Individuums herbeiführt und beständigt. Zum Schluß führe ich aus, wie diese Philosophie der Liebe (oder der Individuation) ihrerseits die Grundlage für die Auslegung der geschichtlichen Ereignisse schafft. Es wird sich zeigen, daß das Ziel zwar vom Menschen in die Geschichte hineingelegt worden ist, jedoch auf eine tatsächliche Erfahrung zurückgeht. Außerdem soll deutlich werden, daß das Ziel keineswegs zwangsläufig erreicht wird, sondern daß es vielmehr durch die Entscheidungen eines jeden Einzelnen bedingt ist. Zuletzt stellt sich heraus, daß die Geschichte weder heute am Ende ist, noch irgendwann ihr Ziel endgültig

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erreichen wird, sondern daß die Aufgabe der Individuation immer von neuem vom Einzelnen bewältigt werden muß. Ehe wir uns dem annehmen, sollte noch Folgendes bemerkt werden: Es ist mehrfach auf die verschiedenen Stationen der Nietzscheschen Geschichtsphilosophie aufmerksam gemacht worden, und man könnte meinen, der frühere Ansatz sei von späteren Entwicklungen überholt worden.378 Diese Frage aber entscheidet sich eben am Ansatzpunkt. Wie gesagt, vertrete ich die Ansicht, daß dieser bei der ästhetischen und unhistorischen Erfahrung liegt. Ich denke, daß dieser Ausgangspunkt sich auch angesichts der durchaus kritischeren Attitüde des späteren Nietzsche bewährt. Im Spätwerk fällt auch der letzte Rest einer teleologischen Weltordnung, also der Gedanke, der Genius sei „Zielpunkt und letzte Absicht der Natur"379, dahin — freilich rückt dann der Gedanke einer Hierarchie der Affekte in den Vordergrund.

1.

Die ästhetische Erfahrung ist ihrer angeblichen Beliebigkeit wegen vielfach als bloßes Erleben gerügt worden; wird sie aber eigens angenommen und übernommen, so zeitigt sie ihre Verbindlichkeit.380 In der wegen ihrer Plötzlichkeit anarchisch anmutenden und viel umrätselten unhistorischen Erfahrung aus Nietzsches Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung finden wir sie wieder. Freilich ist diese Erfahrung nicht jedermans Sache. Das heißt, daß dem Menschen zunächst dasjenige fehlt, was er am

3

™ Vergleiche etwa H. Heimsoeth, Nietzsches Idee der Geschichte, Tübingen 1938, namentlich S. 19; K. Schlechta, .Nietzsches Verhältnis zur Historie' (in: K. Schlechta, Der Fall Nietzsche, München 19592, S. 44-72). Vergleiche des weiteren W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New-York 1971. Bueb dagegen glaubt eine Kontinuität erkennen zu können (B. Bueb, Nietzsches Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart 1970, S. 192). 379 7: 10 [1]; 7: 336, 3-4. 380 Bezüglich der von Heidegger in Sein und Zeit dargelegten Sicht dieser Problematik bemerkt G. Wohlfart: „Daß Heidegger in Sein und Zeit den Augenblick als Augenblick auf die Situation des Handelns und nicht als Augenblick auf das Schöne versteht, dürfte nicht ohne Bedeutung dafür sein, daß es die Angst ist, die bei Heidegger den Augenblick auf dem Sprunge hält und nicht die Liebe, die den Augenblick eröffnet. Der Augenblick muß aber letzten Endes in Wahrheit als — sit venia verbo — Liebesblick gefaßt werden. Dies geschieht bei Heidegger nicht" (G. Wohlfart, .Heidegger: Zeitlichkeit und Sprachlichkeit' (in: G. Wohlfart, Der Augenblick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg / München 1982, S. 113-160) S. 144, Anmerkung 170). Dieser Interpretation der Heideggerschen Analyse kann ich nur bedingt zustimmen. Man sollte zwischen der Erfahrung des Schönen, also der des Gleichgewichts der Triebe, welche von Wohlfart zu Recht als Liebesblick gefaßt wird, und der Frage, ob der Mensch diese Erfahrung übernimmt und sich sie zu eigen macht, klar unterscheiden. Das namentlich von Heidegger herausgestellte Phänomen der Angst bezieht sich dann auf die Differenz zwischen dem (göttlichen) Liebesblick der Natur und der noch ausstehenden Erwiderung dieser Liebe seitens des Menschen.

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meisten braucht, nämlich ein ihn ohne wenn und aber verpflichtendes Maß. Doch vermag es Nietzsche zufolge die Kunst, dem Menschen diese Erfahrung zuzuführen. Nun hat aber der Augenblick der ästhetischen Erfahrung für gewöhnlich nur solange Bestand, als der Mensch die Wirkung eines Kunstwerks erfährt. Sobald die Wirkung aufhört, droht er von neuem der Gegensätzlichkeit seiner Triebe zu verfallen . Um dieser Gefahr vorbeugen zu können, bedarf der Mensch der apollinischen Klarheit, also der Selbsterkenntnis. Im wesentlichen geht es um die Erkenntnis der Notwendigkeit des Innenhaltens des Maßes, des Bewahrens der Mitte. Obwohl diese Ansicht schon in der in der Geburt der Tragödie ausgeführten These der strengen Proportionalität der Triebe beschlossen liegt, wird sie erst im Schopenhauer-Aufsatz mehr oder weniger explizit vertreten. Ich führe dies darauf zurück, daß Nietzsche die Selbsterkenntnis in der Geburt nicht aus der These der strengen Proportionalität deduziert, sondern aus der konkurrierenden These, derzufolge dem Dionysischen letzten Endes das Übergewicht zusteht: Nietzsche stellt die Übermacht des Dionysischen als Rache der Gerechtigkeit dar. Infolge seines Ausgangspunktes ist erder Meinung, daß sie sich an einer Ungerechtigkeit des Menschen rächt — aber an welcher? Hier ist Nietzsches frühe Konzeption der Gerechtigkeit irreführend. Zunächst bleibt völlig unklar, worin die Ungerechtigkeit des Menschen oder der Individuen bestehen soll. Das apollinische Individuum ist ja geradezu Gestalt der Gerechtigkeit. Um den dionysischen Übergriff dennoch rechtfertigen zu können, sieht Nietzsche sich genötigt, eine Ungerechtigkeit seitens des Menschen zu konstruieren. Dazu nimmt er den Prometheus-Mythos. Er erklärt diesen Mythos dahingehend, daß das Erlangen der Selbsterkenntnis — das olympische Feuer bezieht sich meines Erachtens auf den Funken der Erkenntnis — einen Frevel, also eine Ungerechtigkeit darstellt. Er meint, mit ihr erhebe der Mensch sich über die Natur und diese Hybris werde zu Recht gerächt. Jedoch ist zu beachten, daß zwischen dem Trachten, den Göttern gleich zu werden oder gar das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, und der Selbsterkenntnis ein grundlegender Unterschied besteht. Wie es scheint, verbindet Nietzsche die beiden Momente mit einander. Das stellt sich aber als ein folgenschwerer Fehler heraus — ist es doch vielmehr so, daß die Selbsterkenntnis der Hybris vorbeugen soll. Und tatsächlich hat Nietzsche seine diesbezüglichen Vorstellungen schon bald geändert. Bereits in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung befürwortet er die Selbstbeherrschung, das heißt die praktizierte Selbsterkenntnis (285,17-18); und in Schopenhauer als Erzieher vertritt er die Ansicht, daß die Natur den wahrhaftigen Menschen brauche, „damit ihr endlich einmal als reines und fertiges Gebilde entgegengestellt werde, was sie in der Unruhe ihres Werdens nie deutlich zu sehen bekommt — also zu ihrer Selbsterk e n n t n i s s e (382, 12-15)

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In diesem Text wird der Unterschied zwischen der Gefahr der Hybris und der zu ihrer Vorbeugung benötigten Selbsterkenntnis klar herausgearbeitet. Liegt die Erlösung laut der Geburt der Tragödie im Schein, in der Historienschrift und im Schopenhauer* Aufsatz ist Nietzsche entschieden der Auffassung, diese sei erst auf dem Wege der Selbsterkenntnis Zugewinnen. Was die ästhetische Erfahrung betrifft, so ist also festzuhalten, daß das Werk der Kunst uns keineswegs dazu verführt, unsere Individualität zu verabschieden, wie Nietzsche in der Geburt der Tragödie streckenweise auszuführen scheint, sondern uns vielmehr anregt und auffordert, unsere eigentliche Aufgabe zur Hand zu nehmen und je eine unverwechselbare Individualität zu gestalten. Indem das Kunstwerk uns zur ästhetischen Erfahrung zurückführt, schafft es dazu die Voraussetzung.

2.

Eignet die Kunst sich dazu, den Menschen zur ästhetischen Erfahrung und damit zu seiner ursprünglichen Selbsterfahrung zurückzuführen, so benötigt der Mensch die Philosophie, um ihn vor der Gefahr des Frevels zu bewahren. Dazu allerdings muß sie eine Verbündete der bindenden Kraft sein. Welche Kraft ist da gemeint? Meiner Meinung nach hat Nietzsche die ewige Gerechtigkeit im Blick, welche als das innerste Zentrum oder das Herz der Natur die beiden gegensätzlichen Triebe in strenger Proportionalität zu- und auseinanderhält. Wohlbemerkt, er sagt nicht, daß die Philosophie in ihrem Dienste stehen soll, sondern daß Gerechtigkeit und Philosophie ein Bündnis bilden sollten. Damit ist auf das Anliegen der ewigen Gerechtigkeit aufmerksam gemacht, das zuvor angezeigt wurde: Die Individuen sind dazu aufgefordert, sich zur Eigenständigkeit emporzuarbeiten und somit ihre Beständigkeit zu sichern. Nach Nietzsche bedürfen sie dazu der Bildung. Der Ausdruck Bildung hat bekanntlich einen mehrfachen Sinn. Er bezieht sich auf das Ziel des Menschen als vollendeter Natur, doch bedeutet er auch den Weg, der zu diesem Ziel führen soll. Die Metapher vom Weg und vom Ziel führt zur Frage nach dem Anfang des Weges. Die Wege können vielerorts ihren Ausgang nehmen, doch gibt es Nietzsche zufolge für die Bildung nur einen richtigen Anfang: die ästhetische Erfahrung. Ist die Kunst dazu geeignet, den Menschen zu diesem Anfang zurückzuführen, so bemüht die Philosophie sich um die Wegstrecke zum Ziel. Vielleicht sollte man hinzufügen, daß sie sich nicht um das Ziel als solches sorgt, denn das ist von vornherein clair etdistinct: die Eigen- oder Selbständigkeit der Individuen, d.h. die Beständigung deren je eigener ästhetischer Erfahrung.

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Also nimmt die Philosophie sich der Wegstrecke zwischen Anfang und Ziel an. Dieses Zwischen stellt die Sphäre dar, in der ihre eigentliche Aufgabe liegt. Die Philosophie soll den Weg zeigen, der vom Anfang zum Ziel führt, und davor bewahren, daß man auf Abwege gerät oder sich gar vollends ins Abseits verirrt — mithin soll die Philosophie den rechten Weg zeigen. Heißt das nun auch, daß es nur einen Weg gibt? Die Antwort lautet: Ja und Nein. Es gibt die vielen Wege der vielen Individuen, die jeweils ein schwer zu entziffrendes Geflecht des rechten Weges und der Ab- und Irrwege der betreffenden Person bilden. Andererseits sollte man beachten , daß es im Sinne der Methode nur einen Weg gibt. Der Begriff der Methode ist ein Meta-Begriff. Er bezieht sich auf das Geschick und die Fähigkeit, den rechten und somit kürzesten Weg zum Ziel innezuhalten. In diesem Sinne ist der Weg Sache der Methode — des Weges par excellence. Der königliche Weg der Methode ist ausgerichtet auf das Ziel und wird von ihm gelenkt. Also gibt das Ziel der Philosophie die Richte für die Methode vor. Das Ziel aber ist das zur Eigenständigkeit gelangte Individuum, das zu diesem Zwecke die Selbsterkenntnis braucht. Sie betrifft das Gebot, die Mitte der Triebe, d.h. die Mitte zwischen Verhärtung und Sehnsucht, innezuhalten. Daraus geht hervor, daß die Mitte die Richte der Methode ist. Die Methode besagt jetzt: Man soll nur beständig die Mitte wahren. Dieses ist nun aber nicht nur der gerade und kürzeste Weg zum Ziel. Nein, vielmehr ist damit das Ziel unmittelbar erreicht. Das heißt, daß der Weg zum Ziel durch die wahre oder richtige Methode nicht nur verkürzt, sondern kurzerhand aufgehoben wird. Berücksichtigt man die Methode, so faßt man die Wegstrecke zwischen Anfang und Ziel in dem einen Punkte zusammen, in dem Anfang und Ziel Eins sind. Das Innehalten der Methode führt also die Beständigkeit des Anfangs und somit den Bestand der ästhetischen Erfahrung herbei — es zeitigt den großen Augenblick.381 Dank der Methode kann der Augenblick der ästhetischen Erfahrung zum Geschick werden.

381

Das heißt nun freilich nicht, daß die Schelling-Kritik, die Hegel in der Vorrede seiner Phänomenologie formuliert, ganz unberechtigt sei. Wie ich denke, argumentiert Hegel mit Recht, daß der Weg der Wissenschaft über die Arbeit der Begriffe führt. Dennoch wird Schellings Standpunkt von dieser Kritik nicht eigentlich betroffen, denn die Wissenschaft und die Weisheit gehen verschiedene Wege. Man sollte klar sehen, daß die intellektuelle Anschauung im Schellingschen Sinne immer zwei Momente aufzeigt: sie ist Anfang und Ziel. Zu Recht bemerkt Hegel, daß die intuitive Schau weit davon entfernt ist, die Selbständigkeit des Menschen zu gewähren. Schelling hat aber recht, wenn er meint, die Arbeit der Begriffe sei nicht mit dem Folgeleisten der Schau zu verwechseln und erstere könne letztere nie ersetzen oder vertreten. Gewiß, auch er unterscheidet einen Bildungsweg, denn die Schau geht immer von neuem verloren und ihre Beständigkeit muß je errungen werden. Aber der Schellingschen Bildungsweg unterscheidet sich dahingehend von dem Hegeischen, daß Hegel den Weg auf den Begriff bringt, während Schelling ihn vielmehr selbst beschreitet. Diese Gestalten zeigen somit auf die Differenz zwischen einer theoretischen Erörterung und einer praktischen Ginübung hin.

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Sofern die Philosophie in dem Zwischen zwischen Anfang und Ziel ihren Ort hat und auf dieser Wegstrecke den richtigen und kürzesten Weg weist, gipfelt sie als Methode in dem einzigen Gebot, angesichts der Zerreißprobe, die sich aus dem gleichzeitigen Erfahren eigener Unendlichkeit und Endlichkeit ergibt, die Mitte der gegensätzlichen Triebe innezuhalten. Das heißt nun wiederum nicht, daß die tatsächliche Erfahrung und das Wissen um die Methode dazu ausreichen, den Bestand zu gewähren, denn darüber hinaus bedarf es der Übung und Einübung. Nach Nietzsche ist dieser Moment der praktischen Ein- und Ausübung des Gesetzes des Herzens von Hegel im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie zu wenig beachtet worden. Die Vernunft mag schlau sein, doch gibt die Geschichte zu erkennen, daß sie dennoch ohne die Hilfe der Menschen machtlos ist. Somit kann die Geschichte im Sinne eines Bildungsweges sich nur aus den Bemühungen der einzelnen Individuen ergeben. Nietzsche hat wohl diesen Sachverhalt vor Augen, wenn er für die Selbstüberwindung des Menschen eintritt.

3.

Nietzsches Vorstellung der Geschichte wird erst vor dem Hintergrund von ästhetischer Erfahrung und Philosophie ersichtlich. Zunächst sollten wir zwischen der Geschichte als idealem Bildungsweg und der Geschichte als einem labyrinthischen Geflecht vieler Irr- und Abwege unterscheiden. Außerdem muß man dem Unterschied zwischen den realen Vorgängen und deren Bewertungen und Auslegungen Rechnung tragen. Aber, so mag man einwenden, den sogenannten realen Vorgang gibt es doch wohl kaum, er stellt ja je eine Konstruktion eines Sachverhalts aus einer bestimmten Sicht dar. Diese Sicht bestimmt somit nicht nur Interpretation und Bewertung eines Sachverhalts, sondern der Sachverhalt als solcher ist vielmehr schon das Ergebnis einer Interpretation und Bewertung. Ein Sachverhalt sagt also wohl mehr über eine bestimmte Sicht aus, als daß sie Einblick in einen realen Vorgang gewährt oder dazu einen Beitrag leistet. Er zeigt im Grunde genommen eine bestimmte Sicht der Dinge an. Führt dies nicht zu dem Schluß, daß die realen Vorgänge sich unser gänzlich entziehen und daß die sogenannten Sachverhalte nur beliebige Konstrukte sind? Auf diese Frage ist Folgendes zu antworten: Wohl stellt jeder Sachverhalt eine Konstruktion dar, aber eine solche ist nicht notwendig beliebig, denn den Rahmen aller Sachverhalte bietet letztlich die Philosophie. Sie betrifft die umfassende und grundlegende Sicht der Dinge. Nun wurde zuvor dargetan, daß die Philosophie von der Sphäre des Zwischens, also von der Strecke zwischen Anfang und Ziel handelt. Der von der Philosophie dargebotene Rahmen wird, wie sie, von dieser Vorstellung

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einer Wegstrecke konstituiert. Das wiederum heißt, daß sowohl die Bewegtheit der Natur als auch die der Geschichte als Erstreckung zwischen Anfang und Ziel aufgefaßt werden. Unter diesem Aspekt erschließt die Natur- und Menschheitsgeschichte sich als eine Konstellation, in der die Natur zwar auf ein Ziel hin angelegt ist, dieses jedoch nur mit Hilfe des Menschen erreichen kann. Man könnte anführen, daß diese Sicht nicht der Tatsache Rechnung trägt, daß das Ziel vom Menschen selbst in die Natur hineingelegt worden ist, doch wird dieses Argument durch das Phänomen der ästhetischen Erfahrung widerlegt. Weiter oben sahen wir, daß der auf sich verpflichtende und verbindliche Charakter dieser Erfahrung unmittelbar einleuchtet und in diesem Sinne clair et distinct ist. Es wurde ausgeführt, daß die ästhetische Erfahrung am Anfang steht und daß die Philosophie aus dem Verlangen hervorgeht, dieser Erfahrung Herr zu werden und sich ihrer als eines unverfremdbaren Besitzes und Eigentums zu versichern. Daraus mag jetzt hervorgehen, daß die Philosophie und ihre grundlegende Sicht als Erstreckung auf ein Ziel hin wohl ein Konstrukt bieten, aber keine beliebiges, geht es doch auf eine Erfahrung unmittelbarer und unwiderlegbarer Evidenz zurück.382 Die Sicht der Dinge, welche von der Philosophie artikuliert wird, beruht somit auf dieser Erfahrung. Es ist die Erfahrung, welche das Maß hergibt und es der Philosophie als Ziel vorhält. Das heißt jetzt, daß die philosophische Perspektive keine beliebige sein kann, denn es gibt ein allgemein verbindliches Maß. Die realen Vorgänge werden nunmehr interpretiert und bewertet — mithin konstruiert — im Hinblick auf dieses Ziel. Obwohl andere Interpretationen und Bewertungen, also andere Ansichten zur Sache, durchaus möglich sind, gibt es letztendlich nur das eine und einigende Maß: dasjenige der wenigstens aus menschlicher Sicht höchsten Möglichkeit der Natur, nämlich das Selbstsein. Aus dieser Sicht können jetzt die Geschicke eines Einzelnen, ferner die Geschichte einer bestimmten Gemeinschaft und auch die Universalgeschichte der Menschheit konstruiert werden. Dabei wird sich herausstellen, daß sie in Hinblick auf die Individuation entweder mehr oder weniger gelungen odervöllig mißraten oder geradezu geglückt sind, daß sie also den Bildungsweg ein Stück gegangen sind oder ihn völlig verfehlt haben oder das Ziel des Weges erreicht haben.

382

Allerdings ist der frühe Nietzsche der Ansicht, der Natur lebe ein Drang zur Erlösung, also zum Menschen inne. Doch handelt es sich dabei um eine sinnstiftende Spekulation, um eine Begriffsdichtung. Hier bemühe ich mich, auch seiner kritizistischen Sicht Rechnung zu tragen (vergleiche dazu J. Salaquarda, .Das wahre Selbst über dir. Überlegungen zu Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches' (in: E. Biser (Hrsg.), Besieger des Gottes und des Nichts. Nietzsches fortdauernde Provokation, Düsseldorf 1982, S. 24-51), S. 32-33; des weiteren J. Salaquarda, .Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie' (in: M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Über Friedrich Nietzsche. Eine Einfiihrung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 27-61), S. 40.

250

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Allerdings ist Nietzsche der Ansicht, daß nur einzelne Individuen diesem Anspruch genügen können. Heißt das, daß er einen Aristokratismus befürwortet und somit der Dialektik von Herr und Knecht verfällt? Soll das heißen, daß er dem unaufgelösten Widerspruch, den er in seiner Geburt der Tragödie als Urschmerz dem Leiden der Welt zugrunde legt, verhaftet bleibt? Nein, denn während die Art und Weise, wie Nietzsche in der Geburt die dionysische Entzückung darstellt, noch zu verschiedenartigen Schlüssen veranlassen mag, wird im Schopenhauer-Aufsatz vielmehr die Ansicht vertreten, daß die Lösung des Rätsels im So- und nicht Anderssein liegt. Nicht das Ur-Eine, sondern das große und vollendete Individuum ist ihm jetzt das Unvergängliche.383 Es handelt sich um das Ideal der Eigenständigkeit. Dieses Ziel ist nur auf dem Wege der Ein- und Ausübung des Gesetzes des Herzens zu erlangen, also nur dadurch, daß man sich auf den Weg macht. Das Ziel des Weges wird von Nietzsche klar ins Auge gefaßt: „Und so bedarf die Natur zuletzt des Heiligen, an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich- Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst." (UB III: 382, 23-30)

Nietzsche ist der Ansicht, daß dieses Ziel dann erreicht wird, wenn es jemandem gelingt, auch angesichts der Existenz der Anderen sein Selbstsein, d.h. sein So- und nicht Anderssein zu wahren. Denn in dem Fall wird der Mensch dem Gesetz der Mitte gerecht. Untersteht das menschliche Individuum also dem Gesetz der Mitte, so ist es dennoch frei — das Gesetz ist Gesetz der Freiheit. Anscheinend stellt ein solches Gesetz einen Widerspruch dar, denn es verbindet ja den Begriff der Verbindlichkeit mit dem der Unverbindlichkeit. Es ist jedoch kein Widerspruch, sondern ein Paradox — Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einem Rätsel. Die Unverbindlichkeit, die dem Gesetz der Freiheit eigentümlich ist, besteht darin, daß es dem Menschen freisteht, sich der Aufgabe der Individuation zu stellen oder ihr sich zu verweigern; die Verbindlichkeit betrifft die notwendigen Folgen der Entscheidung. Im ersten Fall, also falls der Mensch sich seiner Aufgabe stellt und sie bewältigt, wird er zur Autonomie gelangen; dagegen wird er im andereren Fall der Heteronomie verhaftet bleiben. Der weiter oben mehrfach gestreifte Gedanke einer Rache oder Bestrafung des Menschen seitens der ewigen Gerechtigkeit bezieht sich auf die Folgen, welche notwendig eintreten, wenn der Mensch seiner Aufgabe nicht gerecht wird. 385

UB III: 374, 33 - 375, 1.

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Diese Einsicht ist von Nietzsche nicht so entschieden formuliert worden, wie ich sie hier herausstelle. Wenn er von den Gesetzen der Geschichte spricht, so meint er fast immer das gewöhnliche Scheitern des Prozesses der Individuation. In diesem Sinne sagt er: „ < S > o weit es Gesetze in der Geschichte giebt, sind die Gesetze nichts werth und ist die Geschichte nichts werth." (320,14-15)

Er fordert seine Leser dazu auf, sich gegen „jene blinde Macht der Facta, gegen die Tyrannei des Wirklichen" (311,4-5) zu empören und sich Gesetzen zu unterwerfen, „die nicht die Gesetze jener Geschichtsfluctuationen sind" (311, 5-6). Die Gesetzmäßigkeit des Regelfalls bildet aber kein Gesetz im Sinne einer Notwendigkeit und ist somit rein deskriptiver Natur. Demnach handelt es sich bei den „Gesetzen der Geschichte" um die Anzeige einer dominierenden Tendenz im Verhalten der Individuen. Die Tendenz hat ihren Ursprung in jenem dunklen Drang der Natur, der durch die Gegensätzlichkeit der Triebe bestimmt wird. In Schopenhauer als Erzieher versucht Nietzsche der genannten Tendenz folgendermaßen beizukommen: Es ist ihm, so sagt er, „als ob der Mensch absichtlich zurückgebildet und um seine metaphysische Anlage betrogen werden sollte, ja als ob die Natur, nachdem sie sich so lange den Menschen ersehnt und erarbeitet hat, nun vor ihm zurückbebte und lieber wieder zurück in die Unbewusstheit des Triebes wollte" (UB III: 378, 32 - 379, 2).

Im Nachlaß heißt es: „[...] Aber die grösste historische Macht ist die Dummheit und der Teufel.[...]" (7:29 [31 ]; 7: 637, 28-29)

Und: „[...] Das Kräftigste schlägt sich durch, das ist das allgemeine Gesetz: wenn es nur nicht so oft gerade das Dumme und das Böse wäre!" (7: 29 [42]; 7: 644,10-12)

Mit diesem Dummen und Bösen ist das Phänomen des Egoismus gemeint, dem wir namentlich in meinem sechsten Kapitel nachgegangen sind. Nietzsche: „Christlich ausgedrückt: so ist der Teufel der Regent der Welt und dabei wird es im Wesentlichen bleiben. Aber jetzt sagt man gebildeter: das System miteinander kämpfender Egoismen [...]." (7: 29 [49]; 7: 646,14-16)

Zu beachten ist, daß der Mensch, dem Gesetz der Freiheit zufolge, durchaus in der Lage ist, dem Bösen zu wehren — nur ist es eine sehr schwere Aufgabe. Nach Nietzsche schwimmt ein solcher gerechter Mensch immer gegen die geschichtlichen Wellen, „sei es dass er seine Leidenschaften als die nächste dumme Thatsächlichkeit seiner Existenz bekämpft oder dass er sich zur Ehrlichkeit verpflichtet, während die Lüge rings um ihn herum ihre glitzernden Netze spinnt." (UB II: 311, 7-10).

252

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Wie soll er sich da verhalten? Nietzsche sieht folgende Lösung: Der Gerechte soll seine Mitmenschen richten. Das heißt zweierlei: Erstens macht er sie darauf aufmerksam, daß sie noch nicht am Ziel sind und wohl auch auf Abwege geraten sind, zweitens zeigt er ihnen dann den rechten Weg. Die Gegenbewegung bleibt nicht aus. Denn sofort fragt man: Woher nimmt diese Person das Recht, mich, Sie, uns zu richten? Sollten wir nicht vielmehr sie richten? Angesichts einer solchen Reaktion nicht nur standzuhalten, sondern zu säen und zu ernten, dazu ist viel Mut und eine unbeirrbare Entschlossenheit gefragt. 384 Nietzsche weicht dieser Konsequenz nicht aus — seine Zweite Unzeitgemäße Betrachtung gipfelt geradezu in dieser Einsicht. Im sechsten Abschnitt dieser Schrift würdigt er den Gerechten wie folgt: „Wahrlich, niemand hat in höherem Grade einen Anspruch auf unsere Verehrung als der, welcher den Trieb und die Kraft zur Gerechtigkeit besitzt." (UB II: 286,8-10)

Der Gerechte ist ihm „das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch" (286, 30), und zwar weil er Wahrheit will, „doch nicht nur als kalte folgenlose Erkenntniss, sondern als die ordnende und strafende Richterin, Wahrheit nicht als egoistischen Besitz des Einzelnen, sondern als die heilige Berechtigung, alle Grenzsteine egoistischer Besitzthümer zu verrücken, Wahrheit mit einem Worte als Weltgericht und durchaus nicht etwa als erhaschte Beute und Lust des einzelnen Jägers." (UB II: 286, 31 - 287, 2).

Dieses Richten bedeutet kein Beurteilen oder gar Verurteilen und Aburteilen, sondern geschieht in anderer Gestalt. Im Schopenhauer-Aufsatz unterscheidet Nietzsche den Künstler, den Philosophen und den Heiligen. Sie weisen dem Menschen jeweils den Weg: Der Künstler führt den Menschen zur ästhetischen Erfahrung zurück; der Philosoph erläutert ihm den Weg zum Besitz dieser Erfahrung, also zur Eigenständigkeit; und der Heilige zeigt ihm, wie man dem Gesetz der Mitte gerecht wird. In dreifacher Weise versuchen sie die Macht der Selbstsucht zu brechen. Hiermit wäre Nietzsches Antwort auf unsere Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gerechtigkeit in Umrissen dargestellt. Hören wir zuletzt ihm zu. Am Ende des achten Kapitels der Historienschrift heißt es: „Wäre die Geschichte überhaupt nichts weiter als ,das Weltsystem von Leidenschaft und Irrthum', so würde der Mensch so in ihr lesen müssen, wie Goethe den Werther zu lesen rieth, gleich als ob sie riefe: ,sei ein Mann und folge mir nicht nach!' Glücklicher Weise bewahrt sie aber auch das Gedächtniss an die grossen Kämpfer gegen die Geschichte, das heisst gegen die blinde Macht des Wirklichen und stellt sich dadurch selbst an den Pranger, dass sie Jene gerade als die eigentlichen historischen Naturen heraushebt, die sich um das ,So ist es' wenig kümmerten, um vielmehr mit heiterem Stolze einem ,So soll es sein' zu folgen." (UB II: 311,11-20)

384

Vergleiche UB II: 282, 19-20.

Rückblick und Aussicht

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Wenige Seiten weiter unten ist dann im neunten Kapitel von neuem von den großen Einzelnen die Rede. Dort auch finden die Sätze sich, die Nietzsches Ansichten zur Thematik Geschichte und Gerechtigkeit zusammenfassen mögen: „Die Aufgabe der Geschichte ist es, zwischen ihnen die Mittlerin zu sein und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen Anlass zu geben und Kräfte zu verleihen. Nein, das Ziel der Geschichte kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren. "(UB II: 317, 22-26)

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Sach- und Personenregistera Abgrund (des Seins) ([143]), (145), 195, 200 agon/agonal 124, ([126]) Altruismus 123-125, 230, 231 Anarchie (vlg. Chaos/Scheidung) ([127) Anaxagoras 183 Anaximander 21-23, 183 Anders. A. (166), (175), (196-197) Anfang als Harmonie oder Disharmonie 23, 24, (8485) der abendländischen Philosophie 21 der Bildung (84-85), 106-107,117-120,244246 der gesellschaftlichen Ordnung 191, 227, 228 drei mögliche Vorstellungen des - s 106-107, 119 u. Ziel 12, 106, 114, 118, (127), 246-249 Angst Augenblick der Angst (Heidegger) (244) Angst u. Faulheit der Vielen 233 vor der Konvention ([218]) Anschauung Anschauungsmetapher 192-194 intellektuale/elle (45), (82), 243, (247) reine 40 Sicherheit der [139] vollendete Welt der [144] vom Fluß der Dinge [91] Anschauungsformen (193), 196-167, 200 Anthropomorphismus (174), 182-183, 192 Apathie 214, 215 apollinisch 58, 135-162 Apollo (135), 140, 155-158, 160 arché 22 Aristokratismus 17, 75, 224, 225, [226], 250 Aristoteles 79, (150) ästhetisch 12, 15, 17, 34,43, 44, ([45]), 54, 56,

a

64,67, (85), 93, (97), 119,134,137,138, [139], 155, [158], 159, 160, 162, 195, 237, 240, 243, 244, 245-247, 249-252 Aufgabe der Individuation (vgl. Individuation) 23,24, 37, 50 ff., 57, 71, 76-78, 82, 84, 88, 89, 91, 95, 104, 107, 110, (117), 119, 133, 163, 190, 208, 209, 212, 220, 233-234, 241, 242, 243, 250, 251 für die Geschichte 48 ff., 49, 50, [220], 248 ff., [253] für die (historische) Bildung/Erziehung 50, [64], 67, [128], 169, 170, [173] für die kritische Historie [207], 209, 241 für die Kunst 244 ff. für die monumentale Historie [34], 169-171, 202-205 für die Naturwissenschaft [126] für die Philosophie 181, 184, 246 ff. Aufstieg u. Rückkehr 100 Augenblick als Moment in einer Jetzt-Folge 71, 81-89, 104, 211-212, 234 als Zenit der Gegensätzlichkeit 25, 58, 71, 149, 229 der ästhetischen/groBen Erfahrung 71, 89100, 104, 119, 167-171, 225, 240, 244246 der/s Erinnerung/Gewissens 13, 16, 56, 71, 72-80, 83, 85, ([86]), [89], 104, 110, 120, 130, 169 der Erleuchtung 167-171, 187, 189, 243 der/s Erlösung/Scheins 74, 134, 155 der Individuation/Selbstwerdung 12, 13, 95, 143, 149, 163, 167-171, 187, 204, 247 der Selbsterkenntnis (vgl. Delphi) 71, 96-97, 104 der Verdrängung 88, 94, 98

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Register

höchster Weltvollendung 165, 169-171, [186] Schwelle des -s [73], 75, [91], [93], 95-97 vier hauptsächliche Bedeutungen des -s bei Nietzsche 71, 104 Augenblick, Pflock des -s [72], 78, 95 Augenblick als Liebesblick 24, (244) Augenblick der Angst (Heidegger) (244) Ausgrenzen 114, 194, 195 Ausgrenzung 57, 131 Autonomie (-Erklärung) 23, 107, 123-130, 250 Balmer H.-P. (189), (197) Band der (große) Stil als lebendiges 218 der Kräfte 116, [127], ([128]), 148 der Nähe 132 mit dem Ideal/Genius [122] mit dem Zentrum 14, 57, 58, 106, 107, 115, 128, 132, 134, 137, 139, 140, 147, 148, 150, 154, 155, 160, 199, 215, 229, 230, 233, 235 ursprünglicher 117 zum Mitmenschen 150 zw. dem deutschen u. dem griechischen Wesen ([67]) Bann der Individuation [153] Bedürfnis 197-198, [206], ([213]), ([217]), 220, ([221]), [227] derZeit 42 nach dem Genius 228, 231 nach Gerechtigkeit 42 nach Schadenverhütung 191 Richter- s. ebd. wahre -se ([95-96]), ([220]), [227] Bedürftigkeit 191, [197], 198, 200, 220, [227], 231, 234 Begierde [73], [90], ([93]), [95], 124, 131 langsam auszureifen [112] nach dem höheren Selbst [204] Richter zu sein 47 Ruhmbegierde s. ebd. Beglücken beglückende Gewißheit [64], [168], 172-178, 187 beglückendste Gewißheit 187 Begründung (vgl. Legitimation) 118 Behler E. (196) bellum [189], 191, 228, 229 Bertram E. (3) Berückendes/Entrückendes 129, 168, [187], 240 Besitz (vgl. Eigenständigkeit/Eigentum) [40], ([95]), 249, [252] Bestand 4,16, 58-59,107,129,136,147, (204), 235, 245

Beständigen (vgl. Perpetuieren) 3, 6, 103, 129, 138, 170, 175, 192, 196, 235, 243, 246-247 Beständigkeit 235, 246-247 Bestimmung 24, (145), [231] Bewahren der Mitte 6, 14, 57, 58, 87, 107, 123, 129,132,133,149,151, 167, 229, 235, 237, 239, 240, 241, 245, 247, 248 Bewegung 5, [156] -en des Gemüts 103, 218 der Hebel geschichtlicher -en [210] des Pendels 148, 149, 155, 159 des Transzendierens 96, 100 des Ur-Einen 153 harmonisches System von -en [128] von Expansion u. Kontraktion 148 Bewußtsein [174] der Endlichkeit, Entscheidbarkeit und Unwiederholbarkeit (Gerhardt) 93 der Verdrängung 98 des Sollens 85 einer Aufgabe 83 seiner Zerrissenheit ([154]) seines Versäumnisses 88, 104 v.s. Instinkt ([110]) Zentrum des -s ([126]) Bildung 'Bildung'/übliche Bildungspraxis 112, 209212, 214-217, 220, 226, 233, 236, 237, 238, 241 Anfang der s. ebd. Bildungsanspruch u. Bildungsausweis 212218 BildungsentschluB 216-217 Bildungsnot ([102]) drei Momente des Bildungsweges 107 griechische 66-67, 124-125, ([126-127]) historische [31], 32, [66], 117, 120, [207], 220 klassische 66-67, 215 Ziel der s. ebd. Bildung (Hölderlin) 65, (84-85) Bildungsprozeß (-Pfad/-Weg) ([84]), 89, 107, 118-120, 216-218, [224], 237, 239, 246-249 Blindheit 41, 45, 51, [73], [83], 84 blinde Macht des Wirklichen/der Facta 49, [50], 251, [252] blinder Eigenwille 109 blinde Sammelwut [206] blindgläubiger Besitz der Wahrheit (183) des unhistorischen Moments 28 retrospektive 28, 51 der lebensdienlichen Historie 42 Bollnow O.F. (72) Brase K. (2), (97), (164), (204) Bruch (vgl. Fall (Sünden-)/Frevel/Hochmut/Hy-

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bris/Verlust) 84-85, 107, 118-119, 132 drie Momente des -es 107, 119 BuebB. (3), 9-10, (92), (244) Bulhof I.N. (2), (70), (79), (85), (93), (110), (164)

Distanz u. Nähe 54, 107, 129 DjuricM. (183) dorisch-apollinisch 155-156 Dramatiker (der Historiker als) 43-44 Drang (62), [73], 153, 206, 211, (249), 251

CancikH. (68) Cellini [128] Chaos (vgl. Anarchie/Scheidung) 13, ([95]), 118, ([128]), 215-217 Colli G. 12, 134, 135, 236 Colli-Montinari 1, (28), (119), (165), (166), (168), (172), (178), (187), (196), (231) contrat social 238 CoolsaetW. (124) Couprie D.L. (21)

Egoismus (vgl. Selbstsucht) 16, [40], (45), 48, 50-51, 54, 60, 65, 71, 103, 105, 109, 112113, 120, 123, (126), ([128]), (136), 155, [203], [206], 209-242, 251, 252 Egoismus ,der Egoismus soll unser Gott sein' [51], [210], [212], [238] kluger/unkluger 51, [210], 231, 239 Systeme von Einzelegoismen [50], 155, 238, [251] Eigenliebe [64], 167, [172], [203] Eigenständigkeit (vgl. Besitz/Eigentum) 105, 107, 143, 193, 235, 237, 246- 247, 250, 252 Eigentum (vgl. Besitz/Eigenständigkeit) 95-96, 243, 249 Einbildungskraft (vgl. höchste Kraft der Gegenwart/Kompositionsmoment) 15, [158], 195, 200, 208 Einblick 96-97, 100, 104, 117-119, 130, 138, 159, 162, 168, 208 Einheit ([85]), 140, [141], [144], 148, 218, 222 als Herrschaftsgebilde ([127]) als Organisation u. Zusammenspiel ([127]) der Zeitlichkeit 165 des Planes [44] Einheitsmysterium ([139]), [144] Gefühl der ([82]), [137], ([138]), [143], [194], 250 metaphysisches Einssein aller Dinge ([84]) Tendenz nach 148 Einklang 25, ([85]), 132, 138, 142, 150, 152, 154, 155, 161-162 Einsamkeit 235 Einweihung 135, 219 Einzelner (vgl. Individuum) 16, [27], [34], [35], [38], [40], 42, 46, 49-50, [74], 95, 101, [102], 107, [111], 117, 121, [124], (138), 139, 150-151, 153-154, 160, 161, [170], [180], 185, 191, 201, [202], 209-211, [213], [226], [227], 228, 230, 231, 233, 235, 243244, 249, [252] Einzigkeit [75], [122], [123] Emanzipation 22, 238 Empfindsamkeit 218 Empfindung [52], 63, [66], 105, ([137]), 211212, 214-217, [221], 222 Ehrlichkeit u. Keckheit der 105, [112] Gesetz der 192 ff. Höhe dieser einen [64], 168, 173, 176, 178,

Damaskus 240 Darwinismus 48 ,Dazu' ([37]), [50] DecherF. (134) Delphi (139) .Erkenne dich selbst'/,Nichts zuviel' ([95]), [158], 200 Demokratie 51, 199, 234, 239 Desintegration (vgl. verveling/Zerstreuung) 80, 150 Dialektik von Herr u. Knecht 250 dialogisch 10-11, 69-71, 166-167, 184 Diels H./Kranz W. 22 Differenz 22-25 bloße 129 Einheit vs. Differenz 140 externe/interne (innere) 24, 123 Mitte von Indifferenz u. Differenz 14 Schmerz der 58, 152 Ungleichgewicht vs. Gleichgewicht 24 Urleidender 144,152 zw. Anfang u. Ziel 118 zw. dem Individuum u. dem Ganzen 152 zw. Mensch u. Tier 72 ff. zw. Realität u. Ideal 122 zw. Selbsterfahrung u. Kultur 67 zweier Gestalten menschlichen Glücks 62, (94), 115-116 dike (23), 51, (98-99), (125) DiltheyW. 101 dionysisch 58, 135-162, 245 Dionysos (135), (138DionysosZagreus), (140), [157], 159, 160 Diotima 240 Disharmonie 23, 127, 131 Dissonanz 136 Distanz 4, 14, 33, 41, 54, 67, 75, 107, 129, 132, 151, 155

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(180), 182, 188 Kluft zw. Bildung u. 212-218 Empfindungsgesetze (193), 196, 200 Endlichkeit (vgl. Unendlichkeit) 25, 93, 248 Enthusiasmus 16, 219, 240-241 Entmythologisierung 36 Entrückendes/Berückendes 1 2 9 , 1 6 8 , [187], 240 Entscheidung 2 4 , 3 0 , 5 4 , 9 2 , 94, (99), 110, 125, 200, 214, [230], 243, 250 Entschlossenheit 252 Entstehen u. Vergehen (vgl. Werden) 21-22 Entweder-Oder 160 Entwicklung (vgl. Weg) (87), (94), [98], 109, 111, 118, 234, 242 Entzug (113), 235, 238 Ereignis der unhistorischen Erfahrung des Selbstseins 167-168 der Versöhnung des Apollinischen u. Dionysischen ([140]) dionysisches 137-138, 154 geschichtliches/historisches 30, 32, 33, 38, 40, 43-44, 167, 221, 238, 239, 243 Heidegger (45), 165 Ursinn historischer -se 221 Erfahrung 61-68, 89-100, 167-168, 187, 192201, 244-246 anfängliche 12, [27], 66, 67, 103, 222, 232 ästhetische/große E . des Selbstseins 12-15, 25, [27], 34, 54, 56, 57, 59, 64, 67, 69, 71, 82, 84, (85), 89, 93, 102, 103-105, 113, 114, 117, 119, 121, 134, 137, 138, 155, 159, 160, 162, 165, 167, 168, 175, (177), 181, 182, 187-189, 191, 198-199, 200, 201, 205, 207, 209, 222, 224, 225, 237, 240, 241, 243-249,252 augenblickliche 117 authentische 100, 102, 104, 135, 159, 203 Strittigkeit der 25, 57, 102, 132, 162, 196, 199, 200, 243 u. Konvention 81, 94, 101, 102, 196 unhistorische 12-15, 42, 56, 59, 63, 67, 71, 82, 89, 93, 97, 99, 104, 106, 107, 113, 114, 117, 119, 120, 134, 162, 167, 196, 201-202, 207, 209, 243-244 u. Vorstellung 158, 184, 188, 205-207 unmittelbare 71, 96, 97, 100, 136, 162, 215, 218 unzeitgemässe [66] ursprüngliche 27, 105, 106, 137, 157 Erfahrungsgrundlage 12, 56, 59, 61 ff., 64, (65), [66], 162, 171, 201 Erfolg 228, 230, 240-242 Erfüllung 81, 95, 155, 169, ([171]), 178, 201, 203

Erinnerung 13, 52, 77, 90, 91, 99 (an die Möglichkeit) des Selbstseins 71, 119 als (Aufforderung zur) Integration des Anderen 1 3 , 8 9 , 1 1 9 als Augenblick der Innigkeit 24 als Augenblick des Gewissens 13, 56, 82, 130 als Gegenwart des Vergangenen 81, 91, 94, 99, 101, 102 an das Große 52, 167, 170, 171, 201 an die Aufgabe der Individuation 78, 82, 85, 8 9 - 9 1 , 9 5 , 9 9 , 105, 107, 119 Augenblick der Erinnerung 77-78 Fehlen der E. beim Tier 90-91, (92), 100 Furcht vor der E. [77] eigentliche/uneigentliche 91, 95, 97, 99, 105 Vermögen der 69, 71, 87, 90, 92, (93) als Erlebnis (Dilthey) (101) Erleuchtung 1 5 , 1 6 , 32, 56, 59, [64], 66-67, 93, 165,167, 168,170, 1 7 1 , 1 7 8 , 1 8 0 , 1 8 1 , 1 8 7 , 189, 192, 201, [202], 207, 208, 224, 243 als Auszug u. Inbegriff unseres Wesens [64],

[168]

Erlösung 5, 14, 15, 17, 46, 48, 57, 58, [73], 74, ([82]), 86, 88, 103, 121, 134, ([141]), 142 ([143]), 146 ff., 149, 151, 152, 154, [198], 199-201, 211, [228], 231, 234, 239, 246, (249), [250] Erstling 48, 51, 53 Erzieher [128], 130 ,es war' [84], 85, 90 esoterisch/exoterisch 4, 118, 196, 225 Evidenz (vgl. Verbindlichkeit) 117, 249 Existenz des Menschen 3, 35-36, 55-56, 72-100, 121 ff., 132, 198, 199 des Tieres 13, 36, 56, 72 ff., 78, 89, 100, 194 der Anderen 2 5 , 5 7 , 107, 119, 132,133, 180 Fundament aller ([140]) Gipfel der 192 von Individuum u. (Ur-)Einem 21ff., 144 von Mensch u. Tier 56, 72-100, 121 Ziel/Sinn der 74, 85, 109, 110, 118, 221 Expansion/Kontraktion 148 Ewige Wiederkehr 1, 34, 203 Fall (Sünden-) (vgl. Bruch/Frevel/Hochmut/Hybris/Verlust) [45], (85), 117, 119-121, 132 Fehlen der Aufgabe/Erinnerung beim Tier 90-91, (92) der Mitte 229, 230 der unhistorischen Erfahrung 1 1 9 , 1 2 0 des (Bandes zum) Zentrum 128, (147), 215,

Register 229-230 des Gleichgewichts 151 des Maßes 99, 125, 191 des Widerspruchs 80 einer Wirkung (100-101), 218 eines (großen) Stils 218-220 Feindseligkeit als gegenseitige Negation 147 Beziehung der 230 feindselige Kräfte 115, ([128]), (147), 229 feindselige Wettkämpfe (147) Gipfel/Mitte der 25,79-80 vs. Egoismus 230 vs. Gleichgültigkeit 79-80 vs. Zerstreuung/Zerrissenheit (147-148) zwei feindselige Prinzipien (147) Fleischer M. (2), (64), (70), 79, (87), (135) Form 34 als großer Stil 219 als Konvention 210, 218, 219 derZeit ([87]), ([175]) Formensinn u. Sinn für den Inhalt 219 Staat als F. der Gemeinschaft 229 u. Inhalt 13, 16, 161, 211, 212, 215-218 u. plastische Kraft 108 verhärtete ([156]) Französische Revolution 120 Freiheit 24, 60, [80], 81, 82, 95, 97, (99), ([103]), 109, 197, 198, ([216]), 238, 239, 250, 251 Fresco M.F. (22), (23), (136), (149-150), (157) Frevel (vgl. Bruch/Hochmut/Hybris/(Sünden-)Fall/Verlust) ([98]), (99), 122, (136), (144), 145,241,245 Fug u. Unfug 23, 168, 222 Führung [38], 45-47,110,111, 115, 128, [213], 221 Führungslosigkeit (102) Fundament [27], ([140]), [177], 181, [205], 222, 241 Fundamentaltrieb [197] Gadamer H.-G. (116) Ganzheit 6, 14, 57, 95, [128], 132 (Einklang), 149, 154, 243 Gefahr 25, 27, [28], [29], 37, 47, 86, 99, 102, 107,121-122,123-125,129, (144), 160,178, 182, (183), 199, 208, [210], 222, 235, 240, 245, 246 der Sehnsucht 14, 58, 87, 122, 153, 155 der Verhärtung 14, 58, 87, 122, 125, 153, 155-157, 159 Gefühl Bildungs-Gefühl [216] das G., erkrankt zu sein 65

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das G., groß, d.h. frei u. ganz sich selbst zu sein 13, 15, 56, 155, 175, 202, 215 das G., verwurzelt zu sein 35 der Belanglosigkeit der Bildung 215 der Bewunderung u. Dankbarkeit ([127]), [226] der Gleichgültigkeit 99 der Sündhaftigkeit [122] des Ungenügens u. der Sehnsucht 215, 234 des verfehlten Weges (62) die Intellektualität des -s ([126]) für das, was man tun soll 99 Gefühllosigkeit ([173]), ([218]) Selbst-Gefühl ([99]) tiefstes Gleich-, Mit- u. Eins-Gefühl ([82]), [250] u. Historie 221-222 vs. Verstand 216 Gegensatz/Gegensätzlichkeit (vgl. Widerspruch) з, 5, 6, 8, 9, 16, 23-26, 71, 80, 97, 101, 102, 106, 127, 135, 136, 139-141, 146-151, 155, 157, 160, 161, 229, 237 als gegenseitige Negation 147, 149 als Konstitutivum der Welt 8 der widersprüchlichen Triebe 131 im Ur-Einen 146 Gegensatz-Paar 156 и. Krieg 156 Gesetz des -es/der Polarität 58, 142 Gegensätze 3, 5, 6, 8, 9, 16, 28, 29, 32, 41, 58, 82, 87, 90, 115, 123, 124, 131, 132, 152, 156, 166, 177-179,183, 188, 189, 198, 200, 211, 212, 214, 215-217, 220, 223, 231, 238, 239, 241-243, 245, 246, 248, 251 Gemeinschaft 16,126, 129,151, 223, 229, 233235, 249 Gemüt [65], 103, ([125]), 218 Genialen-Republik [49], [221] Genie 14, 88, 107, 124-126, 129, 130, 233 Genius 5, (36), [51], ([67]), 107,113, 122, 124, 125, ([127]), 128, 129, 132, ([139]), 143145, [194], (196), ([204]), 221, 223, [226], 227-229, 232, 233, 240-242, 244 Gerber G. 185 Gerechte 5, 6, 12, 30, 40-42, [44], 45, 46, 49, 50, 53, 54, 55, 86, 88, 96, (102), 252 Gerechtigkeit 1-3, 5, 6, 11, 12, 15, 17, 19-21, 23, 26-30, 33, 37-40, 42-50, 53, 54, 55, 56, 68, 71, 73, 86, 96, 104, 105, 109, 130, 132, 138, 144, 150, 161, 163, 166, 183-185, 188, 190, 205, 208, 209, 233, 234, 241, 243, 245, 246, 250, 252 Gerechtigkeit abstrakte 30 als höchster Repräsentant des Lebens 46,

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Register

als kalte/reine, folgenlose Erkenntnis 40,41, 44, [190], [252] als solche 42 diachrone 17, 60, 71, 88, 211, 212, 233, 241, 242 historische 33 ff. historische G. als Vermählung der retrosp. u. der abstrakten G. 47 retrospektive u. prospektive 26 ff. Rache der 245, 250 Gerechtigkeit u. Objektivität 39 ff., 42 ff. Gerhardt V. (3), 7-9, 11, (61), (64), (69), (87), 92, (93), (101), (121), (125), (135), (204), 221, 227 Gericht (vgl. Weltgericht) 22, 36-37, 183 Gerratana F. (49) Geschichte 1-7, 11, 17, 19-21, 26, 30, 31, 33, 35, 38, 41, 43, 48,49, 52-54, 55, 56,60, 61, 93, 98, 99, 104, 105, 109, 120, 126, 130, 132, 138, 144, 161, 163, 166, 203, 207, 209, 210, 212, 220-222, 234, 238, 239, 242, 243, 248, 249, 251, 252, 253 Geschichte als Tempel des Ruhms [203] Geschichte u. Gerechtigkeit 1, 2, 4-7, 11, 12, 17, 18, 19-21, 26, 53, 54, 55, 56, 104, 105, 109, 130,132,138, 144,161, 166, 209, 242, 243, 252 Geschichtlichkeit 54, 164 (Heidegger) Geschick 32, 96, 104, 130, 138, 182,247, 249 Gesetz 26-27, 96-97, (98-99), ([125]), [128], 138, ([140]), ([141]), 158, 162, ([174]), ([182])', 183, [189], [190], [191], 192, (204), der Freiheit (99), 250, 251 der Mitte 130, 132, 134, 188, 204, 208, 239, 250, 252 der/s Polarität/Gegensatzes 58, 142 des Herzens 248, 250 des Lebens 26-27, 30, 39, 50, [111] - e der Geschichte 44, 251 Empfindungsgesetze (193), 196, 200 Naturgesetze (193), 196 universale -e 32 Gesetzmäßigkeit 44, 96, 251 Gestalt 25, 41, 47, 92, 102, 149-151, 158, 159, 161, 202-203, 221, 245 Gesundheit 27, [31], 32, [53], [66], [111], 113, [119] Gewesensein 21, [84], 87 GewiBheit [64], 168,170, 176, 187, 189, (193), 199, 200 Gewissen 13, 16, 56, 69ff„ 71, 72f., [74], 75, 77-79, 82, 83, 89, 90, 95, 104, 110, 111, 114, (117), 120, 130, 131, 169, 211, 212, 234 Gier 5, 55, 56, [73], ([87]), (94), (98), 131,

151, 152, 155, 161, [174], 175-176, 184, 190, [219] Gigante M. (173) Gipfel (vgl. Höhepunkt/Sinn/Ziel) 24, 25, 95, 117, (135), 159, [188], 192, 202, [225], [228] Glaube [34], 47, 169-170,174,177, 178, [186], [202], [203], [205], [209], [210], 214 Gleichgewicht 6, 23-24, 26, (27), 30, 48, 50, 58, 95, (110), 113, 124, ([125]), 126, 129, 132,133, (135), 136,148-151,154-156,188, 199, ([214]), 229, 233, 239, 243, (244) Gleichgültigkeit 30, 48, 52, 54, 65, 79-80, 85, 89, 99, 102, 150, 155, [159], [174], 176, 191, 199, 214, 215, 234, 236, 238, 239 Gleichzeitigkeit 154 Glück 3, 4, 7, 14, [27], 28, 33, [35], 39, 55, 56, 62, 64, [72], [73], 74, 75, 78, 79, 81,82, 89, 90-97, 100, 102, 115, 116, [124], ([125]), 180, 191, 197-199, [231] großes/kleines 82, 90-97 GoedertG. (135) Goethe J.W. von 28, 61, ([67]), [252] Gott als momentanes Gleichgewicht 243 Gottesschau 243 Grieche/Griechentum/griechisch der G. als Idealfall 135 der G. als Vorstellung des .Willens' [144] Diogenes Laertius ([173]) -e Bildung 66f., ([95-96]) -e Kunst [139], 227 -er Kultus ([140]), ([156]) -es Maß 157-158 -er Staat 16-17, 199, 212, 223, 224, 226, 233 -er Wettkampf 14, 107, 123-127, 130, ([140]), 147, 221, 229, 223 Großes 15, [27], 34, 35, 40, 42, 46, 49, 50, 52, [66], 86, 87, 115, 167, 169-171, 176, [177], 201, 202, [203], 205, 211, 221, 222, 241, 253 HaeuptnerG. (2), 19, (29), 62, 70, 74, 81, (94), (96), (97), 115, 116, 119, 120, (127), 164, (204), 214, 241 Haltung 4, 6, 7, 14, 25, 56, 59, 69, 79, 82, 120, 130, (155-156), 181, 183, 204 zwei mögliche -en des Philosophen 181f. vier mögliche -en 25 Handeln/Handelnder 26, 28, 29, 31, 32, 33, 36, 38, 61, 62, 81, [91], (94), 98, 110, [187], 204, 213, 217, (244) Harmonie 23 f., 82, ([84]), 89, 95, 102, [127], [128], 129, 131, (140), 142 u. Disharmonie 23, 127, 131

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Register Hartmann G. von 48 Hasse H. (135) Heftrich E. (64) ,(135) Hegel G.W.F. 48, 204, [225], (247), 248 Hegemeister W. (2), (102), (126) Hegemonie 48, 65, 78, 119, 120, 136 Heidegger M. (3), 20, (24), (45), (53), 80, 120, (142), (148), 164, 165, 236, (244) Heiliger ([82]), 86, 90, [122], [250], 252 Heilkunst ([100-101]) Wissenschaft ohne Wirkung ([100-101]) Heilmittel das Unhistorische u. das Überhistorische [52], [113] Krieg als 230, 232 Kunst u. Religion [52], ([96]), [113], ([220]) HeimsoethH. (2), (126), (244) Hennemann Barale I. (195) Henrichs A. (138) Heraklit 80, (87-88), 91, 97, (98-99), (156-157), 172, (173-174), 176, 183 Herd 204,222 He(e)rde [72], [73], 76, [79], [83], 89 Herder J.G. 115,(116) Herschbell J.P. (97), (157) Herkunft der Objektivität 43ff. des Richterbedürfnisses 233 u. Ziel 114ff. Heroismus der Wahrhaftigkeit [98] Herrschaft 38, 46, 47, 53, 56, 100, 120, 125, 136, 155, 181, 188, 212, [213], [214], 215, 223, 229 Herrschafts-Gebilde ([127]) Herrschaftsanspruch 125, 181, (183), 188 Herz 6, ([75]), 106, (129), 137, (140), 141-142, [143], 146-148, ([157]), ([175]), 195, 196, 200, 201, ([204]), 211, 240, 243, 246, 248, 250 Gesetz des Herzens 248, 250 Herzmitte 243 Heteronomie 107, 123, 130, 240, 250 Hierarchie 39, 232, 233, 244 Hillebrand K. (2), 61, (62), (102), 119, 164, (210), (218) Historie als Kunstwerk 205 Sinn der 44 Nutz u. Nachteil der 34, 54, 203 Historie, wissenschaftliche: als Wissenschaft 38ff. 39, 44, 45, 56, 67, 68. 211, 213, 217, 233, 242 (Un-)Gerechtigkeit u. 15, 38 ff., 46ff. Historie, lebensdienliche:

antiquarische 16, 35f., 38, 59, 164, 206 drei Arten der 16, 33 ff., 41, 59, 164, 201 kritische 16, 36 f., 38, 59, 163, 164, 206, 207, 209, 241 lebensdienliche 12, 30,31, 32,39, 41ff„ 61, (62)

monumentale 15, 33 f., 38, 59, (64), 65, 163-165, 167, 170, 171, 201-205, 207, 208 (Un-)Gerechtigkeit u. 33ff. HobbesTh. 229 Hochmut (vgl. Bruch/Fall (Sünden-)/Frevel/Hybris) 184, 185 ff., 187, 188, 199, 207 Höchste [34], [79], 106, [170], 171, 175, 192, 202, [213], 229, 239 Höhepunkt 4, 53, ([140]), 155, 159-160, 203, 243 Hölderlin F. 65, 80, (82), (84-85), (99), 149, ([173]), 220, 240 Hölscher U. (97), (157) Horizont 13, 14, 20, 26, 27, 29-33, 38, 39, [52], 57, [73], 105, 106, 107ff., 108, [109], 111-116, 131, 132, (140), 199, 213 Herders Lehre vom 115 Humanität [34], [65], ([101]), 169-171, 178, [202] Hybris (vgl. Bruch/Frevel/Hochmut/(Sünden-)Fall/Verlust) (98), 107, 125, 145, 153, 154, 199, 201, (204), 208, 245, 246 Ichheit 142, [143], 145, 194 Ideal 13, 14, 35, 40, 41, 43, 48, 57, 76, 80. 112, 113, 122, 133, 135, (165), 185, 188, 200, 211, 229, 231, 233, 241, 250 Identität 24, 52, 140 Idol 230, 241 Illusion (43), 45, 47, ([103]), [174], [177], 184, [192], [205] Imperativ [144], [169], 170, ([171]), 176, 177. 186, (189), 191, 192, 200, 201, 207, 227, 228, 233 Imperfectum 21, [84], 86, 87 Impetus 30, 35, 37, 45, 47, 51 Indifferenz 14, 107, 129 Individuation 14-17,20ff., 21, 24-26, 37, 57-60. 71, 82, 91, 95, 98, 133, 134ff., 138, 139ff., ([141]), 143-145, 149, 152, 161, 163, 169, 178, 183-185.190, 201, 202, 208, 209, 210, 212, 224, 225, 231, 233, 234, 241, 242. 243, 249, 251 Individuation Aufgabe der s. ebd. Augenblick der 4. ebd. Individuum (vgl. Einzelner) 5, 6, 13,14, 17, 21. 23-26. 42, 50f„ (52), 57. 58, 71. 85. 98,

270

Register

100, 102, 107, 108, 110, 116-118,120, 121, ([124]), 132, 134ff., 135, 136, 138, ([140]), ([141]), 144-146,149-155, ([157]), 160-162, 185, [188], [189], 192, 197, 204, 211, 229, 230, 233-238, 243, 245, 247, 250 Inhalt 16, 30, 32, 161, ([196-197]), 211, 212, 215-219 Form u. s. ebd. Innerlichkeit [214], 216, 219 Innigkeit 24, 80, 149 Instinkt 28, [46], 50, 52, (70), [79], ([85]), 110112, 136, (204), [205], [209], ([211]), [230] Integration 6, 13, 14, 57, 80, 89, 106, 107, 114, 118, 119, 123, 131, 192 Intellekt 184, 186, [187], [188], 189, 192, 197, 198 Intellektualität des Gefühls ([126]) Interpretation 238-239, 248-249 Intuition 110, [197], 198-199, 214 Ironie 75, [209], 211 JähnigD. (3), 164, (210), (213) Jaspers K. (121) Jetztfolge 71, 81 ff., 88, 104, 175, 211, 234 Jugend 29, 51-53, ([65]), [66], [75], 112, 113, 221 Kamerbeek J. (101) Kampf (vgl. Gegensatz/Krieg/Streit/Wettkampf) 8, 25, [34], 53, [66], [73], [84], 85, ([124125]), 125-126, [135], 139, [140], 141, (143), 149, (166), [169], [170], 171, 178180, 183, 188, (193), [202], [205], [213], [224], 229 Kanon 201, 208, 223 Kant I. 58, (61), 142, 193, 196, (197), 200 Kardinalkraft 115, 127 Kaufmann W. 19, (79), 164, (210) Kaulbach F. (3) Kausalität [195], 196, ([197]) Kenntnis der universalen Gesetze 32 Kind 13, [66], [73], 76, 82-85, (94), 104 Kind der Zeit (Heraklit) [98] Kirk G.S./Raven J.E./Schofield M. (22) Kluft 16, 58, 61, 67, (70), 118, [124], [137], 146, 211, 212ff„ 214, 217, 218, 225, 237 Kompositionsmoment (vgl. Einbildungskraft/höchste Kraft der Gegenwart) 43, 45 Konstruktion/Konstrukt (94), 230, 241, 248, 249 Kontinuität 95, 96, 116, [203], (244) Kontraktion/Expansion 148 Konvention 6, 15, 16, 56, 57, 59, [74], 91-93, 96, 97, 104, 106, 120, ([137]), 162, 163, 184, 185, 188ff., 189-193, 197, 198, 200, 201, 207, 208, 212, 215, [216], 217, 218ff.,

([220]), 228, 232 Korruption 106, 119-121 Kraft 80, 93, 124-125, ([217]), [179], [180] das Chaos zu organisieren 215 der Gerechtigkeit 246 des Erkennens [65], [73], [187], 187 eine Vergangenheit zu richten 36 feindselige-e 115, (147), 229 Führung durch eine höhere [31], (36), 45-47 höchste K. der Gegenwart 42, [222] Kardinalkraft 115, 127 Korruption der plastischen 121 künstlerische 44 Mittelkraft 200 plastische 13, 14, 20, 26, 29, [30], 53, 57, 105ff., 106, 107f., 108, 109, 111, 112, 114, 115, 117-121, 131-133, (140), 194, 195,210, ([213]), 215, 219 Wurzelkraft 106, (116), [128], 131 Zentralkraft 128, 129, 131 Zentralkraft der Liebe 199 zu vergessen 14, 23, 52, [91], [97], 99, 100, 106-109,111, [113], 114, (116), 120,132 zur Gerechtigekit 39, 40, 47, [252] Krankheit der Selbstsucht 232, 236 der Worte 52, [105] historische 51, 52, 66, (110), 120, 205 Kratylos (97) Kranz W. 22 Krieg (vgl. Gegensatz/Kampf/Streit/Wettkampf) 17, 149, ([156]), [203], 228-233 Krise/Krisis 207, 223 Kritik 16, 17, 37, 48, 60, 62, 66, (99), ([110]), (183), 185, 209, 214, 215, 223, 230, 241, (247) Kultur 17, [27], [31], [42], 60, 64, (70), [103], [108], [111], ([127]), 145, [198], 199, 214, 218, 219, ([220]), 222, [225], 227, 233 alexandrinische 136 als erhöhte Praxis 200 als verbesserte Physis 215 griechische 67, 126, 156, [157], 158, 226 Grundgedanke der 16,169-171,186 Mißbrauch der 211,219 Untergang der 177 u. Sklaventum 227 ff. Weihe der ([204]), 211, 219 Wurzel aller wahren Kultur [122] Kulturkritik 214, 215 Kunne-Ibsch E. 164 Kunst [52], (85), ([96]), ([110]), [113], 134, [139], [144], ([156]), ([157]), (158), [159], [160], 166,176, 179,185,188, (196), [197], [206], 208, ([220]), 227, [228], 240, 245.

Register 246 vs. Erkenntnis (166), 177-179, 181, 183, 188 vs. Philosophie 176, 177, 179, 181, 183 Kunsttrieb 43, 47, 139, ([140]), 185 Kunstwerk 137, 139, 144, [205], 228, 246 Künstler 86, 90, 137, ([149]), [141], ([142]), 143, ([157]), 176, 181, 185, 195, 200, 201, [206], 252 künstlerisch 43 , 44, ([45]), 61, (38), ([139]), 176, [179], 181-183, 184, 185, 188, 194-196, [205] Künstlertum [160] Lacoue-Labarthe Ph. (185) Laertius Diogenes (173) Landmann M. (2), 8, 115-117, (129) Lange F.A. 185 Langeweile 80, 85, 150, [189], 190-191, 198, 200, 215, 237 Lardinois A.P.M.H. (22) Last 23, [73], [75], 76, 83, 84, 104,121, [187], 230, 234, 236 Leben 5, 19-21, 26, 28-39, 41, 42, 45-54, 55, 61-63, 67, (70), [73], [75], [77], ([82]), 83, ([84]), ([86]), [87], 88, [89], [91], 92, 93, [98], ([102]), 105,108,110, [111], 112,115, 119, 120, [123], 124, (127), 131, 141, 148, 153, 155,159, [160], 164, ([175]), 176,177, 179, [190], [197], 198, 206, 207, 209-217, 221, 227, 237, 238, [250] das Leben als dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht 21, 37, 41, 50, 53, 54, 55, 131, 206 Leere 4, 60, 150, 155, 192, 236, 238-240, 243 Legitimation (vgl. Begründung) 118, 235, 238 Leib 146-148, [174], [213] Leib u. Seele 147-148 Leiden (vgl. (Ur-)Schmerz) 5, 13, [33], 51, 52, [73], 74, 77, [84], 85, 105, [119], 130-133, [141], 146, 147, 152, 160, 198, 250 Leidenschaft [19], 31, 103, [109], 157, 159, 175, 194, 195, 237, 239, 251, [252] Liberalismus 236 Liebe 35, ([52]), 57, ([96]), 106, [112], 124, ([126]), [128], 129, [172], [180], 181. 183, 187, 188, 199, [204], [205], 211, 240, 243, (244) Liebesblick 24, 244 Lust 5. 51, [72], 81, 90, 121, ([126]), 132, 151155, [157], 160, 162, 194, 196, 200, [252] Macht 44, 115, 235 das Dionysische als künstlerische (138) das Leben als dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende 21, 37, 41, 50,

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53, 54, 55, 131, 206 der Entzweiung 146 der Liebe 106 des Apolls ([140]) des Staates 236, 238 des Wirklichen 49, 50, 251, 252 des Zusammenhalts 146, 147 die Gerechtigkeit als thätige, kämpfende, ausscheidende, zerteilende 53 führende/inspirierende 51 historische/geschichtliche [31], 32, 251 unhistorische [31], 47 Wille zur 1, 120 Macht der Selbstsucht 252 Magie 227, 228 Margreiter R. (64), (113) Maß 14, 17, 22, 29, 30, 33, 40, 60, 97, 99, 106, 117, 122, 124-126 (Fehl), 129, (136), (143), 155-158, 191 (Fehl), 192, 199, 200, 203, 222, 223, 225, 236-238, 240, 241, 245, 249 Maßloses (s. auch Übermaß) (142), 152, 153, 155, 157,161 Maßlosigkeit 106, 129, 151-153, 155, 158, 200 Masse 49, 133, [172], [210], [226], 230-231 Mechanismus der Verdrängung 17, 60, 71, 81 ff., 88, 98, 209, 211, 234 Meeresstille 155, 239 Mehrstimmigkeit (Polyphonie) 10-11, 70-71, 166-167 Mehrzahl 46, [79], 191, [227], 233 Meijers A. 185 Melancholie (vgl. Sehnsucht) [122] Mensch als Doppelwesen 53-54 als Erlöser der Natur 1, 2, 6, 9, 23-24, 50, 55, 57, ([82]), 86, 88, 95, 106, 107, 121, 149, 155, 163, 201, ([204]), 211, 234, 249, [250] als künstlerisch schaffender 184-185, 194196 als Spielzeug der Triebe 12, 46, 88, 102, 241 der Gerechte als ehrwürdigstes/höchstes Exemplar der Gattung 46, 49, 54, 86, 163, [252], [253] egoistischer 60, 71, 76, 79, 89, 113, 210, 234ff. gesunder 14. 32, 53, 109, 114 großer u. vollendeter [34], [64], [66], 67, 86, 90, 95, 122, 125, 126, 128, 133, 167, 168-170, [175], 203, 211, [253] handelnder s. ebd. intuitiver 197ff., 198, 199, 206 modemer 14, 39, 42, 107, 126, 128, 213,

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Register

214, 220, 223, [226] objektiver 16, 39, 212 sittlicher 169-171, 176, 177, 186, (189), 200, 201, 227 Stelle des -en 4, 5, 22, 23, 55, 115-117 synthetischer 9, 101, 120 theoretischer 136 überhistorischer 29, 30, 32, 61 vernünftiger 191, 195, 197ff„ 198, 207 wahrhaftiger 53, 86, 115, 117, 121, 167, 245 Mensch u. Tier 13, 20, 21, 56, 69-76, 82, 83, 90, 91, 100, 104, 191, 193, 194 mesótes 79 Metapher 172-174, 191-193,196-197, 201, 246 Metapherbildung 196, 197 Metaphysik ([84]), 135, (175), [180], (196) Methode 17, (102), 113, 215, 237, 243, 247, 248 Mitte als Ganzheit 6, 132 als Gleichgewicht 6, 16, 25, (27), 30, 53, 58, 80, 106, 107, 123, 126, 129, 131, 132, 133, 135, 147-148, 151, 154, 167, 229, 235, 237, 239, 240, 245, 247 als Gleichgültigkeit 79-80 als Langeweile 80 als Richte der Methode 247 als Übergang 95 als Zentrum 6, 25, 53, 106, 130, 131, 147148, 154, 229, 230 Bewahren der s. ebd. der Feindseligkeit 79-80 der Mysterienlehre 160 des Griechentums 135 des Herzens 147 des Leidens 77, 130, 131 Gesetz der Mitte 105ff., 130f., 132, 134, 149, 188, (204), 208, 250, 252 Höchste der 58, 71, 79, 80, 106, 148, 192, 229, 241 Philosophie der 1, 2, 6, 17, 162 Waage der 107, 127 zw. Sehnsucht u. Verhärtung 87, 133, 149, 151, 247 Mittelpunkt (vgl. Herz/Zentrum) 13, 106, 113, 115, 116, 127, 128, 142, 143, 195, 201, [206], 235, 241 MohrJ. (220) Montinari M. s. Colli-Montinari Müller-Lauter W. (2), 8-9, 11, (27), (72), (94), (116), (119), 120, (244) Mut 100,204,252 Mysterien(lehre) (vgl. Delphi) 138, 139, [144], 160, 219

Mystiker ([99]) Nächstenliebe 132 Nähe 54, 107, 129, 132, 236 Narzißmus 13, 76, 78, 88, 129 Natur (vgl. auch Erlösung) 5, 6, 55, [65], (70), [73], ([82]), ([84]-[85]), 86, (101), 104, 109, 113, 115-117, 121, (127), [128], 131, 135, 137, 139, [140], 141,142,146-150, ([154]), [157], [160], 161, [172], [174], 175, 186, [187], 195, 196, 200, 201, 204, [213], ([215]), 217, 221, 224, 226, 228, 232, 233, 242, 244, 245, 246, 249-251 erste 37, (175), [213], 221 hellseherische Gabe der 29, 51, 52, 110 vollendete 246 zweite 37, 84, [213], 215, 221 Naturgesetze (193), 196 Naturphilosophie 58, 142 Naturwissenschaft [126], ([130]) Negation (vgl. Differenz/Gegensatz/(Ur-)Widerspruch) 147-149 Neid menschlicher [73], [78], [83] der Götter [124], [125], 126, 129, 145 des Ursprungs/des Gottes 57, 129, 145, 154 Nierop M. van (101) Nili P. (64) Nimis St.A. / Herschbell J.P. (97), (157) Notwendigkeit (Anaximander) 21-22 der Feinde 229 der Hierarchie 233 der Selbsterkenntnis 65 der seitesten Erleuchtungen [64], [168] des Eigenen 199, 200 des Krieges u. des Sklaventums 226 ff. des Maßvollen 199, 200, 245 des Ruhms [64], 168, 207 des Staates 228, 232 einer Entscheidung 24 einer transzendierenden Bewegung 96, 100 einer Wende 207 geschichtlicher Ereignisse 44 u. Freiheit des Weltenspiels (97), ([174]) u. Gesetz 251 Nutz als Ziel der Bildung 103, [231] der monumentalen Historie 34, 203 u. Nachteil der Historie 54, 209 Objektivismus historischer 40 Objektivität 39 ff., 42ff., 43-47, 222, 239 als kalte/reine, folgenlose Erkenntnis 40, 41,

Register 44, [190], [252] als Phrase vs. positive O. 44 Offene 14, 25, (82), (94) Offenheit 24, (116), (140), 196 Ordnung des Philosophen 181,182 natürliche 117, 120, [124] pyramidale 191, 226, 228 der Zeit 21f. Ordnungsprinzip 191 Organisation [65], 101, (102), 106, ([127]), 128, (193), 215, 217, 219, 229, 230, 241 Otsuru T. (3), (20), (22) Oudemans Th. C. W. (22) Paradies [73], [83], (85), (93), 117, 119, 132 Paradies v. Gesundheit 113, [119] Paradox 54, 250 Parmenides 51, 183 Pathos (der Wahrheit) 48, 52, 166, 167ff„ 176, 178ff., 178-180, 183, 184, 186, (189), 193, 207, 208, 215, 229, 238-240 Pendel 148, 149, 153-156, 159, 160 Perpetuieren (vgl. Beständigen) 17, [139], 149, 194, 196, 246 Persönlichkeit 92, 95, 117, 133, [173], 209ff„ ([217]), 218, 220, [221], 222, [223] Perversion (vgl. Verkehrung) 17, 60, 228, 230, 231 Perzeption 195ff. Pessimismus 241 Phantasie 198 Philosoph 10, 80, 86, 90, 128, 171, 172, 173, 174-177,178ff., 178-183,187,188, 207,252 Selbstgewißheit des -en 172, 187 Philosophie 7-9, 32, ([95]), 136, ([156]), 173, 174, (183), 184, 237, 243, 246-248, 249 Philosophie der Mitte 1, 2, 6, 17, 162 Philosophie vs. Kunst 176, 177, 179, 181, 183 Physis ([126]) Kultur als verbesserte 200, 215 Piaton (97) Pneuma 155, 187, 240 Porzig W. (23) Praxis 6, ([101]), 182, 196, 209, 241 egoistische 210, 212 Kultur als erhöhte 200, [206] principium individuationis 154 Prinzip der Schadenverhütung 191, 199, 208, 228, 232 Systemfrage 7 zwei feindselige -en (139), (140), (147) Priorität (vgl. Übergewicht)

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des Unhistorischen 27, 33 Programm der Historienkritik 209-210 Prometheus-Mythos 145, 245 Prozeß (vgl. Weg) 6, 37, 46, [48], [49], 51, 53, 107, 118, ([125]), 216-217, 234, 251 PützP. (38) Pythagoras 183 Rache der Gerechtigkeit 245, 250 Rätsel 250 Rätselsprüche (vgl. Delphi/Mysterienlehre) 200 Rauh H.D. (2) Regelfall 251 Reibnitz B. v. (139), 142, (145), (156), (158) Reinhardt K. (2), 11 Religion u. Kunst [52], ([96]), [113], ([220]) Philosophie u. R. als Sehnsucht nach einem Eigentum ([95]) Richte/Richtschnur 71, 97, 102, 189-191, 211, 214, 216, 222, 223, 238, 247 Richten [45], 47, (102), 252 Richteramt 42, 47 Richterbedürfnis 47, 48, 233, 234 Richterin die ordnende u. strafende [40], 47, [252] Richtigkeit [195], 205 Rousseau J.-J. 117 Ruhm 14, [64], 163ff„ 167, 168, 172, 184, [203] Geschichte als Tempel des -s [203] Ruhmbegierde 169-171, 177, 178, [186] Ruhmeshöhe [125] Safranski R. (113) Salaquarda J. (3), (49), 62-64, (72), 164, (165), (174), (175), (182), 184, (185), (193), (195), (249) Sallis J. (142), (152) SchankG. 10-11,71 Schau 64 Augenblick der 243 intuitive (247) ScharffR. (3), (164) Scheidung (vgl. Anarchie/Chaos) 6, 13, ([128]) Schein 15, 58, 122, 134, 141-143, 152, 153, 157-161, 201, 228, 246 als Schein 159-160 als Symbol 159-160 apollinischer 157 souveräne Forderungen des - s 153, 158, [159], 160 Schelling F.W.J. (24), 80, (129), 135, 142, 240, (247) Schiller F. 61, ([67])

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Register

Schlechta K. (2), 19, (62), (103), 120, (126), (135), (166), (175), (189), (196), (210), (244) Schlegel W. (2) Schmerz (vgl. (Ur-)Leiden/(Urschmerz) 25, 58, [65], [72], 83, [111], ([126]), 132, 133, [141], 147, 152, ([157]), [198] SchmidH. (135) Schopenhauer A. 21, [49], 65, 66, (72), 86-87, [88], 107, 112, (119), 123, 125, 129-130, 132, 134, (145), 167, (175), [203], 221, 241 Schröter H. (2), (62), (67), (79), 83, 93, 97, (116), (124), (127) Schuld (vgl. Versäumnis) 4, 22-23, [73], [79], ([99]), 238 Schwärmerei 231,240,241 Schwelle des Augenblicks [73], 75, [91], [93], 95-97 des Übergangs 95 zur Transzendenz 118 Seele [29], 31, 32, [73], [124], 147-148, ([154]), [204] Sehnsucht 6, 14, 57, 58, ([67]), 87, ([95]), 122125, 129-133, 149-151, 153, 155, 215, 234, 247 Selbe 24,202 Selbst 4, 6, 12-14, 57, 58, 89, 102, 105, 106, 109,114,117,118,119,121,122,123, «126]), 131, 138, (184), 185, 201, 204, 212, 214, 236, 237, 239, 240 Selbst/Anderes 4, 6, 12-14, 16, 25, 57, 58, 89, 105-108,114,118, 119, 122, 123, 129, 131133, 138,149, 239-241,250 Selbstaffizifikation 196 Selbständigkeit (102), 233, 246, (247) Selbstbefreiung 24,238 Selbstbehauptung 41, 55, 57, 58, 131, 149, 231 Selbstbeherrschung 95, 201, 233, 238, 245 Selbstberechtigung 212 Selbstbeschämung ([204]) Selbstbeschränkung 105, 131 Selbstbewunderung ([99]) Selbstdarstellung 188 Selbstentäusserung [143], [194] Selbstentfremdung 94, 121 Selbstentmündigung 228 Selbstentwurf 165, 185 Selbsterfahrung 13, 15, 16, 54, 57, 59, 67, 69, (85), 118, 120, 161-162 (zwei Modi), (175), 228,237,241,243,246 Selbsterhaltung 235 Selbsterkenntnis 65. 70, 101, 102, 107, 121, [156], 158, 201, 204, 214, 245-247 Stufender 158 Selbstgefälligkeit 113 Selbstgefühl 56, 69, ([99])

Selbstgenügsamkeit [172] Selbstgerechtigkeit 50 Selbstgestaltung llOff., 111, 201, 228, 229, 241 Selbstgewißheit 172, 177 Selbstherrlichkeit 160 Selbst(re)organisation 101 Selbstsein 5-7, 12-15, 17, 25, (27), 55-60, 71, 82, 89, 92, (94), 100, 104, 105-108, 113, 117-121, 130-133, 134, 137, 138, 152, 155, 162, 167ff„ 175, (177), 181, 188, 189, 192, 196, 201, 202, (204), 209, 215, 222, 235, 237, 244-246, 250, 252 Selbstseinkönnen 113 Selbstsicherheit 172 Selbstsucht (vgl. Egoismus) 16, 17, [50], 60, 132, 209ff„ 210, 211, 212, 219, 220, 230, 232-234, 236, 239, 241, 242, 252 vier Arten der 211,219 Selbsttätigkeit 82 Selbstüberwindung 24, 41, 55, 106, 109, 131, [2191,223,228, 231,248 Selbstumschränkung 111, 112, 118 Selbstverachtung ([99]) Selbstverantwortung 235, 236 Selbstverbannung [226] Selbstvergessen [112] Selbstvergessenheit ([157]) Selbstverhältnis 4, 6, 12, 13, 16, 25, 69, 100, 101, 107, 114, 130, 161-162 (zwei Modi) Selbstverlust 196 Selbstvemeinung 228 Selbstverschränkung 105, 223 Selbstverständnis 240 Selbstverwirklichung 42, 46, 50 Selbstverzicht 57, 58, 124, 129, 132, 150, 228, 241 Selbstwerdung 12, 13, 105, 168, 169, 180, 204 Sich-Einfühlen 101 Sinn der Existenz/des Daseins ([37]), [50] ('Dazu'), 52, 74, 234 der großen Tat (204) der Historie 44 der historischen Wissenschaft 68 des Leidens [73], [77] des Transzendierens 100-101 des Wettkampfes 124 ff. der historische 27, 33, 45, 48, 51. 103, [108], [109], 113, 206 Sinn der Erde 86 Situation des Handelnden (vgl. Handeln/Handelnder/Tat) 28, 30, 115, (244) Skala der Sammlung 191 der Selbstüberwindung 106, 109, 111

275

Register des Glücks 90 Sklaventum 17, 226ff„ 233 Sloterdijk P. 55, (135) ,So soll es sein!' 49, ([182]), [252] So- und nicht Anderssein 71, [98], 121, [250] Sokrates ([110]), 136 Sokratismus ([110]) Solipsismus 123, 133 Sollen 85, 99, 117, 168, 202 Sorge 23, 165 Souveränität 97, 231 Sozialismus 236 Spätling 48ff., 51ff„ [209] Spiel 46, ([82]), [84], (85), ([86]), [98], 101, 102, ([174]), [197], [250] Sprung ([86]), 100, (244) Staat 225-230,232-234 als Not- u. Schutzanstalt (vgl. Wettkampf) [226] als Perversion der Erlösung (30), ([75]), 228 als Ziel der Geschichte 234, 239 als Ziel der Kultur 17, 60, 226 dorischer ([155]) drei Staatsformen 232 griechischer 16, 126, (127), [137], 212, 226ff. griechischer vs. neuzeitlicher 223ff., 233 neuzeitlicher 17, 60, 103, 121, (126), 128, 210-211,212,219,223ff., 225,235,236, 238 Notwendigkeit des -s 228 u. Kunst, Krieg u. Kunstwerk 228 Stambaugh J. (2), (79), (87), 93, (94), (98), (142), 164 Status quo 33, 41, 42, 80, 110, 190 Stelle des Menschen 4, 5, 22, 23, 55, 115-117 Stevens J. (3) Stil 16, 218-220 Stimmung der Erfüllung s. ebd. der Gleichgültigkeit s. ebd. der Ironie s. ebd. der Langeweile s. ebd. des Zynismus s. ebd. Glück als 62, (94) Illusions-Stimmung 47 Stoa (27), ([156]) Streit (vgl. Gegensatz/Kampf/Krieg/Wettkampf) 58, 79, 80, 89, (97), 101, 125, 137, 139, 141, 142, 155, 179, 181, 190, 237 Sturm und Drang 62 Subjekt 43, 44, ([45]), ([143]), 145, 155, 175, 184, 185, 194-196 Subjekt u. Objekt 195

Subjektivität 143 Subjektlosigkeit 194, [222] Symbol Historie als 44 als Zeichen der Wahrheit [159], 160 apollinisch-dionysisches 157, 159-160 Synthese/Synthetisieren 8, 9, 19, 101, (102), 103, 120, 149 System des Egoismus [50], 51, 155, 238, [251], des Reellen [126] Philosophie als [173], 177 von Bewegungen [128] Systemfrage 7-11 Tat (vgl. Handeln/Handelnder) 28, 33, 61, 92, ([101]), [111], [124], [125], [202], ([204]), [216], 217, ([220]), 227 Tatkraft 61 Teleologie 5, 234, 242, 244 Telos (s. auch Sinn u. Ziel) 98, 121, (127) Temporalität als Selbstentwurf schlechthin 165 Teufel 251 Gott-Teufel ([129]) Thiele L.P. (3), 17, (224) Tongeren P. van 10, (76) Transformation (vgl. (Ver-)Wandlung) 100,102, 217 des apollinischen Scheins zum Sumbol 159160

der dionysischen Wahrheit zum Symbol 159160 Transzendenz 100 ff., 118 Transzendieren 54, 96, 100, 101 transzendental (193), (197) Trieb 11, 58, 88, 103, 103, 104, ([127]), 194, 195, 216, [225], [230], 237, 251 apollinischer/dionysischer [139], ([140]), 153, ([156]), 160, 161, 241 Bautrieb 46, 47 gegensätzliche/widersprüchliche -e 46, 56, 71, 101, 102, 106, 123, 125, 126, 131, 132, 135, 136, 140, 141, 146, 147, 148, 149, 150, 155, 157, 159-161, 183, 189, 190, 193, 237, 238, 239, 241, 245, 246, 247, 248, 251 historischer [46] Kunsttrieb 43, 47, (139), 185 nach Selbstüberwindung 131 universaler 180-181 Wahrheitstrieb 39, 40, 43, 189, 193, 205 zum Selbstverzicht 57 zur Metapherbildung 197 zur Selbstbehauptung 58, 131 zur Gerechtigkeit 39, 40, 43, 205, 252

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Register

Triebhaftigkeit 56, 100, 104, 157 Tugend der Gerechtigkeit 6, 12, 27, 40, 46, 50, 53, 54, 68, 86, 109, 163, [209] der historischen Gerechtigkeit [45] der Mitte (150) unmögliche 40, 42, 50, 86 Übergang 95, 108, 159, (196 Behler), 207 Übergewicht (vgl. Priorität) der Historie 31, 112 des Dionysischen 136, 153, [159], 245 des Unhistorischen (27), 33 voluntas als unbedingtes ([214]) Überhistorisches 29 ff., 42, 52, 61, (62), 97, 113 -s Ideal 41 Kunst u. Religion [52], [113], (s.a. ([96]) u. ([220])) Wissen 32 -e Erkenntnis 102 Überhistorischer Gesichtspunkt 29 ff., 30-33, 36, 41, 45, 47, 52, 61, 65, 97, 102, 113, 214, 217 Übermaß (vgl. Maßloses/MaBlosigkeit) 51, [124], 150, 157-158, 209, 214 als Wahrheit (141), [157] der Historie [30], 31, (45), 52, 112, 113, 119, [209], [214] der Natur 157 der Reflektion 117, 120 Kampf zw. MaB u. Übermaß (143) Übergewalt der Zentralkraft 128-130 Verdrängung des-es 157-158 Versöhnung als Bändigung des-es 150 Überwältigung des Lebens durch die Historie 38ff., 52,105, 213 der Philosoph als schenkender u. überwältigender 181-182 Umkehrung 114, 135, 136, 153, 154, 156, . [190], 234 Unbestimmtes 23-24, 149, 241 Unendlich-Eines 25 Unendlichkeit des Horizonts 14, 106, 112 endliche Unendlichkeit (118) zwei einander verneinende -en 24 Unendlichkeit u. Endlichkeit 25, (118), 248 Unersättlichkeit des Sichbegehrens 41 Ungerechtigkeit adikia (Anaximander) 21 ff. (Heraklit) ([98-99]) als Hybris der Erkenntnis (Prometheus) 245

als Verhinderung der Individuation 184,208, 209, 212, 241, 242 der (drei Arten der) lebensdienlichen Historie 33 ff., 41ff. der wissenschaftlichen Historie 38ff., 46 ff. des Handelnden 28 f., 32 historischer Phänomene 3 1 , 3 6 prospektive 35, 36 retrospektive 28, 29, 34, 37 u. Gesundheit 27f. u. Leben 37 Unglück 3, 65, 69, (87), 90, (93), 96, 102, 198, 199 Unhistorisches 12-16,26-33, 36, 37,42, 47,48, 50-52, 54, 56, 57, 59, 62, 67, 71, [72], 76, 81, 82, 89, [91], [92], 93, 96, 97, 99, 104, 105-108, 111, 113, 114, 117, 119, 120, 134, 162,167, 169,196, 201,202, 206, 207, 209, 243, 244 Unmittelbares 26, 71, ([84]), 96, 97, 100, 101, 102, 103, 129, 136, [139], (143), 152, 162, (175), 191, 195, 207, 215, 216, 218, 241, 247, 249 Unmittelbarkeit 13, 78, 81, (94), 101 Unsterblichkeit 46, [64], 167, 168, 170, [172], [176], 177, 184, 200 Unverbindlichkeit 17, 60, 218, 238-240, 250 unverbindlich 168, 198 unzeitgemäß 65, [67] Ur-Eines 5, 15, 57, 58, 88, (98), 134, 140-146, 149, 151-155, 160, 161, (175), (196), 201, 250 Urbild des Staates 232 Urfreude (vgl. (Ur-)Lust) 141-143, 152 Urleiden (vgl. Leiden/(Ur-)Schmerz) 141-145, 152, 162, 175, 190, 196 Urlust (vgl. Urfreude) 141-143, 152, 162, 196 Ursache u. Folge 23 Urschmerz (vgl. Schmerz/(Ur-)Leiden) 58, ([87]), 141-144, 152, 175, 250 Ursinn [102], 217, 221 Urteil der Gerechtigkeit selber 37, 49 des Lebens 37 Urteil/Urteilen 26-29, 39-41, 43, (102), 180, 252 Urwiderspruch (vgl. Differenz/Gegensatz/Widerspruch) 58, ([87]), 133, 134, 141-146, 149, 151, 152, 154, 155, 161, 175, 190, 195 Venturelli A. (61) Verantwortung 236 Verbindlichkeit 15,17, (27), 59, 60, (117), 160, 167, 168,188,203, 209, 216, 218,240, 244, 250

Register Verdrängen 25, 57, 74, 76, 81, 83, 120, 163, 184, 224, 238 Verdrängung Augenblick als Moment der 71, 88, 94, 98 des Übermaßes 157-158 Mechanismus der 17, 60, 71, 81ff., 88, 98, 209, 211-212, 234 Verdrängung der Verdrängung: Herkunft der Jetztfolge 88, 98, 104, 211-212 vs. die Kraft zu vergessen 99 der Versäumnis 88, 98 Vergänglichkeit 4, [64], 83, 167, [168], 170, 172, ([173]), (187), 202-203, 243 Vergessen (vgl. Erinnern) als Akt der Befreiung 81,92 als Ausgrenzen 114,194 als Entscheidung 94 als Rückbesinnung 106, 108, 113 das Vermögen, unhistorisch zu empfinden 26, 28, 73, 76, 77, 91-92 der Leere der Gegenwart 239 Kraft zu Vergessen 14, 23, 52, 91, 92, 94, 97, 99, 100, 104, 105-109, 111, 113, (116), 120, 132 Leben/Handeln u. 2 8 , 3 7 , 8 1 , 9 1 , 9 4 , 9 8 u. plastische Kraft 14, 106, 108, 109, 111, 114, 120, 131 V. des Tieres 72-76, 89, 91-93, (94), 104 V. des Illusions-Charakters der Wahrheit [192] V. durch die monumentale Historie 34 V. u. Erinnern 23, 26 (Gleichgewicht), 29, 71-78, 81, 82, 92, 105- 109, 111 Vernichtung der Vergessenheit ('es war') [84]-85 Vernichtung des -s durch die kritische Historie 36 Verhältnis die Haltung als Gefüge dreier -se 4 Selbst- des Einzelnen s. ebd. vier Modi des -ses zwischen dem Ganzen u. den Teilen 151,153 vier Varianten des -ses vom Selbst zum Anderen 25 vom Zentrum/Ganzen u. dem Individuum 6, 13,14,17, 26, 55, 57, 58,107,116, 132, 139, 143, 145, 146, 149, 150, 151, 162 zw. dem Selbst u. dem Anderen 4, 6, 12, 14, 101, 107, 130-132, 150, 151, 225, 227 zw. Leben u. Historie 20, 31, 41, 51, 54, 213 der Feindseligkeit 229 der Gegensätze 22-25 zur Natur (84-85), 135 zw. dem Apollinischen u. dem Dionysischen

277

(27), 135, 136 Umkehrung, (142), 149, 150, 153 Umkehrung, 154, 160 zw. dem Erinnerten u. dem Vergessenen 106-108 zw. dem Historischen u. dem Unhistorischen 30, 81, 105 zw. Staat und Konvention 228 Verhärtung 6, 14, 57, 58, 87, 122-125, 129, 131-133, (136), 149-151, 153, 155, [156], 158, 206, 223, 235, 247 Verinnerlichung 24, [77], 78, 105 Verkehrung (vgl. Perversion) ([110]), 120, 132, 230, 231, 234 Verlangen (vgl. Sehnsucht) nach Beständigung 239, 249 nach dem Genius 113, 122, 229 nach dem Ganz- u. Freisein 122 nach dem Maß 122 nach einer natürlichen Existenz 84 nach Gerechtigkeit 39, 42 nach Sichterheit 120 Richter zu sein 47 wahre Bedürfnisse u. V. 92 widersprüchliches 122-124, (142 Verweij), 241 Verlust (vgl. Bruch/Fall (Sünden-)/Frevel/Hochmut/Hybris) 3, 4, 57,59, 83, (85), 106,107, 113, 117ff., 119-121, 132, 144, 152, 196, 214 Vernunft 191, 194, 198, 205 in der Geschichte 212, 248 Versäumnis 83, 88, 90, 98, 104 Versöhnung (vgl. Schuld) 25, 53, 58, (135), [137], [139], ([140]), 150, ([156]) Verstand ([110]), 136, (193), 196, ([211]), 216 verveling 80, 150 Verwandlung (vgl. Transformation/Wandlung) ([82]), 103, 149, 159, [250] verwandeln 122, 132, 133, 158, 160, 168, 207, 217 Verwandlungsprozeß 241 Verweij D. (136), (142) Vestdijk S. (149-150) VisserG. (80) VogtE. (124) Volk 16, [27], [31], 35, 38, 42, 50, [99], [103], [108], [111], (154), [192], [206], [209], [213], ([217]), 219, 223, [230], [231] Volkmann-Schluck K.-H. (2) Volksmasse [160] Vollendung Augenblick höchster Welt-Vollendung 165, 169-171, [186] des Kindes (85) im Kampfe 125

278

Register

Kraft zur 126 nie zu vollendendes Imperfectum 21, [84], 86-87 Schopenhauer als siegreich Vollendeter 87, 95, 112, 125, 129-130 vollendete Bildung 14 vollendete Genesung 53 vollendete Individualität 112 vollendete Integration 80, 114, 118, 192 vollendete Natur (85), ([215]), 221, 246 vollendete Persönlichkeit 95 vollendete Welt der Anschauung [144] vollendeter Mensch 88, 90, 117, 122, 125, 126, 211 vollendeter Zyniker (Tier als) 90 Vollendetes 122 vollendetes Idealbild 122 vollendetes Individuum 5 , 1 4 , 1 0 7 , 1 1 8 , 1 4 4 , 161, 250 vollendetes Kunstwerk (139) vs. Bedürftiges 211 Vorstellung Vorstellen 40 die Welt als V. des Ureinen ([141]) u. Erfahrung 158, 184, 188 Waage der Mitte 107, 127, (135), 199 Wagner R. (137) Wahrhaftigkeit 34, 185, [220], 245 Heroismus der [98] Wahrhaft-Seiendes 140, (141) wahrhaft seiende Ichheit [143], 145, 194 Wahrheit als die ordnende und strafende Richterin [40], 47, [252] als Illusion 174, 184, [192], 194 als kalte/reine, folgenlose Erkenntnis 40, 41, 44, [190], [252] als Moralgesetz 181 als Übereinstimmung u. Konsens 59 als Weltgericht 39 ff., 40-42, 44, 45, 47, 48, (102), 252 als Widerspruch (Ur-Schmerz) ([157]), ([175]) der Schein als Zeichen (Symbol) der 159-160 des Übermaßes ([141]), [157] empirische 43 Genese der 15, 59, 166, 184ff. historische 28, 38 Kampf um die 178-179 konventionelle 59, 185, 189, 191, 192, 193, 197, 200 metaphysische Vorstellung der 39, 205 (Richtigkeit) Pathos der 166, 167ff., 169-173, 175-180,

183, 184, (189), 193, 207 Symbol als Zeichen der 159-160 symbolisierte 188 u. Erfahrung 196 u. Gerechtigkeit 5, 27, 39 f. u. Leben 38f. u. Lüge 184 ff., [190], 200f., 207-208 vernunftmäßige 197-198 Verschleierung der [157] Wandlung der dionysischen W. zum Symbol 159-160 Wahrheitstrieb 39, 40, 43, 189, 193, 205 zwei Wahrheitsgefühle 180-181 Wal L.G. van der (21) Wandlung (vgl. Transformation/Verwandlung) der Erfahrung zur Vorstellung 158 vom Schein zum Symbol 157, 159-160 Weg 6, 7, 8, 23, 35, 46, 51, (62), 89, 101, 103, 113, 114, 120,122, 135, 154,170,197, 206, ([211]), 221, [226], 228, 237-240, 246-250, 252 Weisheit 6, 7, 30, 96, 110, 119, 136, ([157]), 179, (247) Weltgericht 39ff., 40-42 , 44, 45, 47, 48, (102), [252] Werden (22), 29, [38], 39, [49], [52], ([82]), ([86]), (87), [91], (94), [97], [98], ([98-99]), 99, [103], [113], ([156]), ([174]), ([175]), [186], 214, [245], [250] Werdendes 33, 35-37, 41, 47, [206] Wettkampf 14, 107, 123ff., 124-127, 130, ([140]), (147), (199), 221, 226, 229, 233 Widerspruch (vgl. Differenz/Gegensatz/Kampf/Krieg/Urwiderspruch) 7, 14, 15, 21, 39, 57, 58, 80, (87), 88-89, ([98]), 131, 132, 141145, 146 ff., 150-154, (157), 158, 160, 161, [186], 250 Wirkung 34, 43, (100), [124], 131, 134, 137, 138, 155, 157, 162, 170, [179], [187], 188, 210, 223, 229, 245 Wissen 207 äußerliches [214], 216, 217 Einweihung in das 219 hellseherisches 52, 110 historisches 27, 33, 213, 214, 242 innerliches [214], 215, 217 intuitives 110 Perspektive des -s 28, 31 reines 35 Selbstkritik des -s [207] u. Befindlichkeit 16 u. Handeln 28, 38, 61, 213 u. Kunst 176ff. u. Leben 32, 67, 213 überhistorisches 32

Register um das Ziel der Kultur 219 um die Versäumnisse 83 um die Gier 184 um die Methode 248 Wissensmögliches u. Wissenswürdiges 179 Wissenschaft als gesellschaftliche Moral der Neuzeit 201 ästhetische [139] des universalen Werdens 38, 39, 214 Geschichte als (reine) [31], 32, 38, 213 Hegemonie der historischen W. 65 historische 38ff., 39, 44, 46, 56, 67, 68, 211,213, 217,233,242 ohne Wirkung (100) Selbstsucht der (historischen) 210-212, 219 u. Leben 32, 38, 67 u. Weisheit 136 Ziel u. Sinn der 68, 103 Wissenschaft (Hegel) (247) Wohlfart G. (34), (244) Wurzel aller wahren Kultur [122] alles Übels 117, 144 antiquarische Historie u. 35 der griechischen Kunst 227 der plastischen Kraft 106, [109], 114, 115, 117,131 des Sklaventums u. des Krieges 226 ff. Entwurzelung [206], 213, 232 Fehl der 222 Wurzelkraft 106, (116), [128], 131 Zarathustra ([156]) Also sprach Z. 86, (87), 97, (103), 120 Zäsur 14, 168, 194, 202, 222 Zeit (vgl. Augenblick) als eine erste Vorstellung 197 als Jetztfolge 71, 81ff., 88, 104, 175, 211, 233ff. das große Kind der Z. (Heraklit) [98] drei Extasen der Zeit (Heidegger) 164 erfüllte/leere 150 natürliche vs. historische Z. (Stambaugh) (87), (94) Ordnung der Z. (Anaximander) 21 ff. Werden als Form der Z. ([87]), ([175]) Zeiterfahrung (Dilthey) 101 Zeitkritik 12, 63 ff. Zeitlichkeit 20ff„ 2 6 , 5 6 , 6 9 ff., (87), (94), 104, 165 (Heidegger) zeitlos-gleichzeitig [49], 52 Zentrum (vgl. Mittelpunkt) 6, 13, 14, 57, 58, 105 ff., 106, 107, 115, 116, 126, 128 (Fehl), 130, 131, 132, 135, 140, (147 Fehl), 148,

279

150, 151, 154 (Verführung), 155, 184, 196, 199 (Fülle), 215 (Fehl), 229-230 (Fehl), 233, 246 als Grund u. unmittelbare Bedrohung des Gleichgewichts 129, 154, Band zum Z. 14, 51, 57, 58, 106, 107, 115, 128 (Fehl), 132, 134, 137, 139, 140, (147 Fehl), 148, 150, 154, 155, 160, 199, 215 (Fehl), 229-230 (Fehl), 233, 235 der Natur 6, 115,116, [126], 131, 132, 137, (140), 150, 196, 200, 246 des Seins (Behler) (196) Fehlen des -s 128, (147), 215, 229-230 Fülle des-s 199 innere Zerrissenheit des -s 14, 57 psychisches und physiologisches ([126]), 131 Übergewalt des-s 107, 123, 129, 132, 145 Wirkung des -s 128, 131, 132 Zentralkraft 128, 129, 131, 199 Zerrissenheit 132, 147 als Modus der Selbsterfahrung 162 der Natur 5, 131 des Ganzen 136f. des Individuums 230, 237 des (modernen) Menschen 8, 56, 57, 102, 132 des Staates 230 desUr-Einen 58, 141, 142, (145), 146, 148 des Zentrums 14, 57 Erlösung aus der 88 Schmerz der 147 Tendenz auf Z. u. Zwietracht 148 u. Zerstreuung (148) Z. vs. Ganzheit 154 Zerstreuung/Zerstreutes 8, [98], 99, 131, (148), 176, 189, 191, 194 Ziel Anfang u. Z. 12, 106, 114, 117, 127, 246249 •Dazu' (37), [50] der'Bildung' 121,237-238 der agonalen Erziehung (126) der Bildung 7, 14, 17, 32, 48, (85), 103, 106, 107, 114, 118, 129, 170, 237, 238, 239, 246, 249, 250 der diachronen Gerechtigkeit 212 der Erkenntnis [177], 178 der Existenz 85, 110, 118, 221 der Geschichte 12, 49, 52, 53, 60, 120,163, 207, 234, 238, 242, 243, [253] der historischen Zeit (Stambaugh) (87) der Individuation 202 der Kultur 17, 60, [158] (apollinischen), 219, [227] der Menschheit [49], 86, 246

280

Register

der Natur 5, 86, 221, 249, 250 der/des Philosoph(ie/en) [172], (183), 246247, 249 der Staat als Z. 121,225-230,239 des griechischen Staates (127), 227-228, 232 des Lebens 206-207 des Ur-Einen (die Erlösung) (141), 149 des Wettkampfes 125 Gesetz als Z. der historischen Wissenschaft 44 Gesetz der Mitte als Z. 130,239,250 Glück als Z. menschlichen Handelns (Haeuptner) 62, (94) Nutz als Z. der Bildung 103, [231]

System als Z. [173] überhistorische Erkenntnis als Z. 102 Weg u. Z. 246 ff. Vermehrung der Erkenntnis als Z. 38, [213] der Genius als Zielpunkt u. letzte Absicht der Natur 5, [226], 227, 232, 244 Zuckert C. (3), 29, 65, 70, (164) Zwiespalt 53, 55, [139], 183 Zwiespältigkeit 15, 41, 46, 53, 167, 184, (189), 201,(208) Zwischen 247-248 Zyniker 90, 95 Zynismus 90, [210], 211