Geschichte des Medienbegriffs
 9783787328925, 9783787316076

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Archiv für Begriffsgeschichte Sonderheft Jahrgang 2002 ·

Archiv für Begriffsgeschichte

Begründet von E R I C H ROTH A C K ER

Im Auftrage der Kommission für Philosophie und Begriffsgeschichte der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben in Verbindung mit H A N S-GE O R G GA DAMER und K A R L F R I E D GRÜN D E R von GU N T E R S C H O LTZ

FELIX MEINER VERLAG H A M BURG

Stefan Hoffmann

Geschichte des Medienbegriffs

FELIX MEINER VERLAG H A M BURG

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1607-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2892-5

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2002. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­f rei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Vorbemerkung .

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7

I. Der Medienbegriff im Spannungsfeld von Geistes-, Medien........................................ und Kommunikationswissenschaften .

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II. Etymologie und lexikalischer Bedeutungswandel des Medienbegriffs . A . Etymologie des Medienbegriffs

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B. Das Fremdwort >Medium< in deutschen Wörterbüchern des 18., 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . .. . . .. . . . ... .... .

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Materialität und Transparenz. Der Medienbegriff in der Aisthesislehre und in der Naturphilosophie . ... . . .

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A. Der aisthetische Medienbegriff . . . . . .. .................................................

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B. Typische Verwendungsweisen des Medienbegriffs im frühen 16. Jahrhundert

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Ü bergänge. Von der aisthetischen zur ästhetischen und technifizierten Wahrnehmung .. . .......................................................... .

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C.

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Die Entdeckung der Medien in der Optik und in der Akustik . . .... . .

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A. Medien zwischen Trennung und Vermittlung. Media diaphana und Refraktionsmedien . . . ..........................................................

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B. Medien der Klärung und der Täuschung. Metaphorische Verwendungsweisen des Refraktionsmedienbegriffs . .....................

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62

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69

Exkurs: Der Medienbegriff und der Sprachpurismus ... . . . . . .... . . ...... ........ . . .

71

C.

Medium physicum und Medium mathematicum .

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D. Die Technifizierung der Aisthesis und der Medienbegriff V.

24

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IV.

24

VI. Der Medienbegriff zwischen Transzendenz und Immanenz

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73

A. Der Begriff vom raumfüllenden Medium und seine Metaphorisierung .............. . .. . ............................. . ....... . .............. ..... . . . . . ...

73

B. Vom raumfüllenden zum körperfüllenden Medium . ..

80

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C.

Das Medium und der Körper der Erkenntnis

D. Das Haupt-Medium Gottessprache

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82 86

Inhalt

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E. Der Medienraub als Wahrnehmungsmetapher . . . . .. ...................... ...

F. VII.

Medienimmanenz . . . .

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A. D as frühromantische Reflexionsmedium

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B. Das elastische Reflexionsmedium

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98

D. D as Reflexionsmedium als Kommunikationsmedium . ....................

104

E. Eschatologie und Verdinglichung

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106

Harmonie und Unterdrückung. Die Wandlungen des Medienbegriffs im Mesmerismus und im spiritualistischen Magnetismus . . . . . . . .

108

A . Das Fluidummedium und die Geschichte des Mesmerismus ...........

109

B. Das wärmende und beseelende Medium .

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111

Die Abkehr vom mesmeristischen Medienbegriff i n der spiritualistischen Schule . ..................................................................

1 12

D. Menschmedium und gewaltsame Medienvermittlung . ....................

113

Das leere Medium. Vom Ende des raumfüllenden Äthermediums in der Physik

122

A. Materielle und immaterielle Vermittlung

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122

B. Vom Dingmedium zum leeren Medium .............................................

124

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Das ästhetische Reflexionsmedium

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C.

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IX.

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Das Medium der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C.

VIII.

88

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X. Das Medium ist immer nur das Medium. Spiritistische Medien

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128

A. Spiritistische Medieneschatologie .. . .. ............................................

129

B. D as spiritistische Medium

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130

Gemeinsame Aspekte der Begriffsentwicklung im Spiritismus, im Mesmerismus und in der Physik . . ..............................................

134

XI. Menschliches und technisches Medium ....................................................

137

A. Das Medium und die innere Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140

B. Das Automatenmedium

147

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C.

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XII.

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Die Medienbegriffsgeschichte und einige Positionen der Medienforschung in der Terminologiediskussion

Bibliographie

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149

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VORBEMERKUNG

Die vorliegende Arbeit wurde 2001 von der Philosophischen Fakultät der Uni­ versität Mannheim als Dissertation angenommen. Ganz herzlich danke ich der Stiftung Bildung und Wissenschaft und dem Stifter­ verband für die Deutsche Wissenschaft für die unbürokratische finanzielle För­ derung meiner Promotion. Von der Stiftung Kommunikations- und Medienwissenschaften erhielt ich für diese Arbeit eine Auszeichnung - auch dafür bin ich sehr dankbar. Schließlich danke ich den Herausgebern des Archivs für Begriffsgeschichte und dem Felix Meiner Verlag für das Interesse an meiner Arbeit und für die Ver­ öffentlichung als Sonderband des Archivs. S. H.

I. D E R M E D I E N B E G R I FF IM SPA N N U N G S F ELD VON Ü E I S T E S-, M E D I E N - U N D KoMMU N I KATION SWI S S E N S C H A FT E N

A uch das Wort >Medium< ist ein interes­ santes Wort und ist nicht ganz so einfach zu verstehen, wie man im ersten A ugen­ blick glaubt.

Hans-Georg Gadamerl

Schon seit Jahrzehnten sehen viele Vertreter krisengeschüttelter geistes- und so­ zialwissenschaftlicher Disziplinen in der Medienforschung ein verlockendes Ar­ beitsgebiet. Diese Attraktivität ist angesichts der zunehmenden Bedeutung der Kommunikations- und Massenmedien als soziales Totalphänomen nicht weiter erklärungsbedürftig. Scheinbar zahlen sich aber solche interdisziplinären Begeg­ nungen für die aus wissenschaftshistorischer Perspektive originären Disziplinen der Medienforschung - also für die Publizistik- und die Kommunikationswissen­ schaft - nicht immer aus. Einigen Fachvertretern sind vor allem die medienfor­ schenden Philologen nicht geheuer, die seit den siebziger Jahren in Abgrenzung von der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Medien- und Kommunikationsfor­ schung Medienwissenschaft betreiben. Die Empiriker und die Soziologen unter den Medienforschern reagieren auf das fächerübergreifende Interesse der Gei­ steswissenschaftler immer wieder mit wissenschaftspolitischen Abwehrstrategi­ en. 2 Die Auswirkungen solcher Fehden sind auch in der aktuellen Diskussion des Grundbegriffs Medium spürbar, der in allen Disziplinen der Medienforschung zentral ist. Vor allem den Philologen wird in diesem Zusammenhang ein ent­ spanntes Verhältnis zum Medienbegriff zugeschrieben. Aber auch der Einfluß des allgemeinen Sprachgebrauchs wird kritisch registriert. Stein des Anstoßes ist hauptsächlich die vermeintliche semantische Verwässerung im Zuge der Bedeu­ tungserweiterung des Medienbegriffs durch Fachfremde. Die Vieldeutigkeit von Medium mißfällt etwa dem Kommunikationswissenschaftler GERHARn MA­ LETZKE. Er plädiert dafür, durch die Ausarbeitung einer präziseren kommunika­ tionswissenschaftliehen Terminologie gegenzusteuern.3 Für Medium gelte, was wissenschaftliche Begriffe im allgemeinen ausmache: Der Wissenschaftler müsse >>den Begriff so eindeutig bestimmen, daß dieser konsistent verwendet werden 1 H ANS-GEO RG G A D A M E R : Kultur und Medien. In: Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. Jürgcn Habermas zum 60. Geburtstag, hg. von Ax EL H o N N ETH u.a. (Frankfurt/M. 1989) 7 1 5 . z K N UT H I CKETH I E R : Medienkultur und Medienwissenschaft I n : [Medien]'. Dreizehn Vor­ träge zur Medienkult ur, hg. von CLAUS P I A S (Weimar 1 999) 1 99-219, insbesondere 203 f. 3 GER II A R D MALETZ KE: Kommunikationswissenschaft im Ü berblick (Opladen 1 998) 50.

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Der Medienbegriff

kann und sich hinreichend von den benachbarten Begriffen abgrenzen läßt; fer­ ner sollte der Begriff für den wissenschaftlichen Gebrauch seiner Wertakzente entkleidet werden - nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern um der semanti­ schen Zweckmäßigkeit willen; und schließlich sollten die Merkmale des Begriffs möglichst weitgehend operationalisierbar sein [ . . . ] .«4 Auch für den Kommunika­ tionswissenschaftler KLAUS M E RT E N sind semantische Abgrenzung und Reduk­ tion probate Mittel im Kampf um den seiner Ansicht nach bislang nicht zufrie­ denstellend definierten Begriff Medium. Die Polysemie von Medium führt er auf einen illegitimen Gebrauch des Wortes zurück: »Die auch kommunikationswis­ senschaftlich mehrdeutige (polyseme) Verwendung des Begriffs Medium macht unübersehbar auf einen unzulässigen Umgang mit diesem Begriff aufmerksam.«s Die kommunikationswissenschaftliche Abgrenzungsstrategie zielt darauf ab, das Bedeutungsspektrum von Medium durch die Ausblendung randständiger und störender Bedeutungsvarianten auf bestimmte zentrale Verwendungsweisen ein­ zuengen. Diese Reduktion einer komplexen Semantik ist in der Sprachpraxis un­ bestreitbar notwendig, damit (alltagssprachliche und fachsprachliche) Kommuni­ kation einigermaßen reibungslos funktionieren kann. In der Fachsprache kommt zu diesem Erfordernis noch das Bedürfnis der Akteure hinzu, sich mit Hilfe wohldefinierter Begriffe in geeigneter Weise inhaltlich oder auch theoriepolitisch gegenüber der Fachkonkurrenz abzusetzen. Wie werden solche Strategien ei­ gentlich aus berufener, sprachphilosophischer Perspektive eingeschätzt? H A N S ­ G E O R G G A DAMER streitet deren Berechtigung zwar nicht ab, gibt aber dennoch zu bedenken, daß auch die fachsprachliche Verpflichtung auf zentrale Bedeutun­ gen niemals eine dauerhafte sein könne. Verantwortlich hierfür sei eine grund­ legende, grenzüberschreitende Eigenschaft der Sprache, die terminologische Er­ starrung von Wörtern in jedem Fall zu überwinden. Der Versuch, den künstlichen Charakter eines Terminus aufrechtzuerhalten, laufe dieser Eigenschaft zuwider und sei daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die terminologische An­ strengung erscheint Gadamer geradezu als verbrecherischer Akt. Er kehrt daher den Illegitimitätsvorwurf gegenüber der umgangssprachlichen und unpräzisen Wortverwendung, wie er in M E RTE N S Argumentation anklingt, um und wendet ihn gegen die Sprachhermetiker selbst: »Gegenüber dem Bedeutungsleben der Worte der gesprochenen Sprache, von dem Wilhelm von Humboldt gezeigt hat, daß ihm eine gewisse Schwankungsbreite wesentlich ist, ist der Terminus ein er­ starrtes Wort und der terminologische Gebrauch eines Wortes eine Gewalttat, die an der Sprache verübt wird. «6 Eine Gewalttat, die nicht ungesühnt bleibt. Aus G A D AMERS Sicht ist eine Terminologie notwendigerweise und naturgemäß auf 4

Ebd. 31 f. K LAUS M ERTE N : Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Bd. 1/1 : Grundlagen der Kommunikationswissenschaft (Münster 1 999) 133. 6 H A N S - G EORG GADAMER: Wahrheit und Methode (Tübingen 31972) 392. 5

Der Medienbegriff

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Sand gebaut, denn sie verspreche zwar semantische Präzision, Festlegung und ( kontrollierbare ) Erstarrung, könne aber letztendlich immer nur mit lebendiger Sprache dienen und sei somit untrennbar mit dem allgemeinen Sprachgebrauch verknüpft: »Man wird daher auch als Interpret wissenschaftlicher Texte stets mit dem Nebeneinander des terminologischen und des freieren Gebrauchs eines Wortes rechnen müssen.«7 Darüber hinaus hat eine Terminologie nicht nur mit dem freieren Sprachgebrauch zu rechnen, sondern auch mit der Konkurrenz wei­ terer Fachsprachen, die den j eweiligen Wortkörper möglicherweise mit ganz an­ deren Begriffen verknüpfen. Offenbar neigt also der Sprachgebrauch dazu, wo immer es möglich ist, die terminologische Erstarrung aufzuweichen. Ü brigens gilt dieser Befund gleichermaßen für Terminologien, die mit neugebildeten Wörtern arbeiten, denn gegen eine Vereinnahmung durch den allgemeinen Sprachge­ brauch sind letztendlich auch die Neologismen nicht gefeit. Damit scheint die Einschätzung des Sprachphilosophen näher an der Realität der Sprachpraxis zu sein. Ist dann aber die Vorstellung von einer präzisen Fachsprache ein Phantasma der philologisch Unkundigen? Wohl kaum, denn nicht nur Naturwissenschaftler oder Empiriker brauchen eine verläßliche Terminologie; auch vom Philologen wird zu Recht begriffliche Präzision erwartet. Für die philologischen Fächer, aber auch in anderen Geisteswissenschaften, kompliziert sich darüber hinaus die ter­ minologische Lage nicht nur wegen des schwebenden Charakters der Begriffe, sondern vor allem durch die sprachliche Beschaffenheit der Forschungsgegen­ stände selbst. Insgesamt prägt das Bewußtsein von der ständigen Begriffsbildung durch und in der Sprache die geisteswissenschaftliche Arbeitsweise. Ständiger Bedeutungswandel ist also eine Konstante nicht nur der Alltagssprache, sondern auch aller Fachsprachen. Im Unterschied zum allgemeinen Sprachgebrauch, wo die Erosionen, die Verschüttungen und Neuformierungen des Bedeutungswan­ dels nicht intendiert und weitgehend unbewußt ablaufen, haben Veränderungen in den fachsprachlichen Semantiken ihre Ursache vor allem in der wissenschaft­ lichen Arbeit am Begriff. Beide Bewegungen des Sprachwandels - die intendier­ te und die unbewußte - gehen aber in den Fachsprachen unkontrollierbar inein­ ander über, weil fachsprachliche Ausdrücke sehr häufig auch Einzug in andere, möglicherweise konkurrierende Wissenschaften oder eben in den allgemeinen Sprachgebrauch halten. Für das Wort Medium gilt das heute in besonderem Ma­ ße: Es ist ein Terminus in verschiedenen Wissenschaften und es ist gleichzeitig ein schillerndes Wort der Umgangssprache. Wer am Begriff Medium arbeiten will, muß diesen Umstand berücksichtigen. Die Disziplinen der Erforschung des Bedeutungswandels - also die Begriffsgeschichte, die Metaphorologie und die hi­ storische Semantik - erheben darüber hinaus den Anspruch, theorierelevante Ergebnisse zu liefern.B Eine Geschichte des Medienbegriffs sollte sich dement7 B

Ebd. Zu diesem Anspruch vgl. etwa RALF Ko NERSMAN N : Der Schleier des Timanthes. Perspek-

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sprechend nicht zuletzt auch von theoretischen Interessen leiten lassen und darf sich nicht darauf beschränken, lediglich Bedeutungsvarianten aufzulisten. Die vorliegende Untersuchung ist eine Begriffsgeschichte in diesem Sinne. Anders als bei den zitierten Wissenschaftlern M A LET Z K E und MERTEN werden randständige und vermeintlich überholte Varianten nicht ausgeblendet. Es wird vielmehr der Nachweis erbracht werden, daß erst durch die Berücksichtigung älterer Begriffs­ bedeutungen Impulse von der Medienbegriffsdiskussion für eine Weiterent­ wicklung der Medientheorie ausgehen können. In den letzten Jahren wird verstärkt eine Terminologiediskussion geführt - zu­ erst und hauptsächlich von publizistik- und kommunikationswissenschaftlicher Seite, und hier nicht nur von M E RT E N und M A LETZK E.9 Diese Ansätze zielen zwar in der Regel auf j eweils fachspezifische Themen, verdienen aber dennoch die Beachtung aller Disziplinen der Medienforschung. Problematisch erscheinen in diesem Zusammenhang aber nicht nur die bereits erwähnten Abwehrreflexe.

tiven der historischen Semantik (Frankfurt/M. 1 994) 42 f. KARLHEINZ BARCK / M A RTI N FONTI­ US I Wo LFGANG THI E R S E : Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe. In: Weimarer Beiträge 36, 2 (1 990) 181 -202, hier: 1 82 f. KARLIIEI NZ STI E R L E : Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. von REI N H A RT KOS E LLECK (Stuttgart 1 978) 165 ff. TH EODOR W. ADORNO: Philosophische Termi­ nologie. Bd. 2 (Frankfurt/M. 61 992) 13. CLEMENS KNOB LOCH: Ü berlegungen zur Theorie der Begri ffsgeschichte aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Archiv für Be­ griffsgeschichte 35 ( 1 992) 7-24. 9 Terminologiediskussionen in diesem Sinn finden statt in: RoLAND B u R KART: Was ist ei­ gentlich ein Medium? In: Die Zukunft der Kommunikation: Phänomene und Trends in der In­ formationsgesellschaft, hg. von M I C H A E L LATZER u.a. ( Innsbruck / Wien 1 999) 6 1-69. K . M E R ­ T E N : Kommunikationswissenschaft. Bd. 1/1 , a.a.O. [Anm. 5 ) 1 33-1 38. U LRICH SAXER: D e r For­ schungsgegenstand der Medienwissenschaft In: Medienwissenschaft Ein Handbuch zur Ent­ wicklung der Medien und Kommunikationsformen (Handbücher zur Sprach- und Kommunika­ tionswissenschaft. Bd. 1 5/1 ) , hg. von JoAC H I M -FELIX LEO N H A R D u.a. (Berlin 1 999) 1-14, hier: 4-6 . G. MALETZ K E : Kommunikationswissenschaft, a.a.O. [ Anm. 3) 50-54. ROLA N D B U R K A RT: Kommunikationswissenschaft (Wien 31998) 38-42. CHRI STA KARPENSTEI N - ESSBAC H : Medien als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Affären jenseits des Schönen. In: Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien, hg. von J u L I KA G R I E M (Tübingen 1998) 1 3-32. WE R N E R FAU LSTI C H : Medientheorien (Göttingen 1 991 ) 7-14. K N UT H I C KETH I E R : Das >>Medium>Verbal« und >>nonverbal «, >> I nter­ aktion« und >>Kommunikation«, »Publikum« und » Ö ffentlichkeit«, >>Medium«, >>Massenmedi­ um« und >>multimedial«: In: Zeitschrift für Semiotik 7/3 (1 985) 235-27 1 , hier: ab 253. Zu den wichtigsten dieser älteren Ansätze gehören: FRIEDRICH K N I LLI: Medium. In: WER N E R FAUL­ STICH: Kritische Stichwörter Medienwissenschaft (München 1979) 230-251 . H ELM UT S c H A N ZE: Medienkunde für Literaturwissenschaftler (München 1 974) 21 -37. H ARRY Paoss: Medienfor­ schung (Darmstadt 1 972). G E R H A R D MALETZKE: Psychologie der Massenkommunikation (Hamburg 1963) 76-77 u.a.

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Ungünstig wirkt sich auch die systematische Mißachtung der historischen Di­ mension der Begriffsklärung aus. Dabei liegt es auf der Hand, daß grundsätzlich jede Anstrengung zur Begriffsklärung historisch verfährt, wenn sie sich nicht nur gegen Termini anderer Fachsprachen oder gegen die Umgangssprache abgrenzt, sondern auch veraltete Bedeutungsvarianten aussortiert. Als veraltet und histo­ risch können ausgeschlossene Bedeutungen dann gelten, wenn eine neue Be­ griffsdefinition weitgehend abgeschlossen und eine überwiegende Anzahl von Fachwissenschaftlern endgültig von der Nichtigkeit einer bisher gängigen Be­ griffsbedeutungsvariante überzeugt ist. Über diese simple Ausschlußoperation hinaus ist aber schon jegliche Begriffsbildung per se historisch. Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Mit dem Klärungsversuch des Medienwissenschaftlers WER ­ N E R FAU L S T I C H werden die aporetischen Komplikationen, die durch die Mißach­ tung der historischen Dimension jeder Begriffsarbeit entstehen können, deut­ lich. to Wie schon die genannten Kommunikationswissenschaftler grenzt auch er sich gegenüber unerwünschten Bedeutungen ab, indem er deren fachsprach­ liche Irrelevanz herausstellt: >>Fachspezifische Medienbegriffe wie in der Psy­ chologie, in der Pädagogik und in den Geisteswissenschaften sollen hier ausge­ klammert werden. In allen diesen Fällen, in denen das Wort >Medium< j a nicht im Zentrum des Gegenstandsbereichs und der Aufmerksamkeit steht, wird der Be­ griff entweder sehr speziell oder nur analog, im übertragenen Sinn gebraucht, und jeweils dominiert der Charakter des Instrumentellen. Daß einzelne Bedeu­ tungselemente verschiedener Medientheorien hier mehr oder weniger Eingang gefunden haben, sei unbestritten.« ll FA U LSTI C H hat erkennbare Schwierigkeiten, einen begrifflich distinkten Abstand zu den genannten Wissenschaften zu halten, und diese Kalamitäten haben letztendlich mit der Historizität von Bedeutung zu tun. Zur Verdeutlichung dieser Kritik müssen wir seinen Argumentationsgang etwas genauer verfolgen. Er spricht an einer Stelle vor dem oben zitierten Resü­ mee noch deutlicher davon, daß die Varianten, die er aus dem Spektrum der legi­ timen Bedeutungen ausschließt, lediglich Metaphern seien: »Das Wort >Medium< wird hier demnach nur im uneigentlichen Sinne verwendet; sein alltäglicher, ganz allgemeiner Sinn (>Vermittelndesästhetischelement< ( or substance )« ein Element, das eine bestimmte Funktion hat: »Thus, regardless of the multipli­ city of reference of which medium is capable, there is perhaps one >meaning< throughout: an element envisaged as a factor.«22 Eine weitere Bedeutungsvari­ ante von Medium, die S PITZ ER auf das griechische meson zurückführt, ist der Moralbegriff der goldenen Mitte. Diese Bedeutungsvariante ist im spätklassi­ schen Latein bis zur Renaissance zu finden. Er zeigt abschließend, wie die Hu­ manisten Medium in diesem Sinne ins Französische mit (juste) milieu übersetz en und verfolgt den Medienbegriff nicht weiter.23 Die Bezüge des Medienbegriffs zum Natur- und Elementbegriff analysiert J o c H E N H ö R I S C H in seinem Aufsatz Die Medien der Natur und die Natur der Medien, zwar ohne eine vollständige Geschichte des Medienbegriffs schreiben zu wollen, aber doch mit einem definitorischen Anspruch.24 Seine Ausführungen beziehen sich anfangs auf ein bestimmtes naturphilosophisches Verständnis des Medienbegriffs, das im Verlauf der Argumentation mit aktuellen Verwendungs­ weisen kontrastiert wird. Als Medien habe man lange Zeit die Elemente be­ zeichnet, »in denen sich göttlich-geistige Momente und Tendenzen latent zu er­ kennen geben konnten.«25 Um 1 800 habe man dann - getreu S P I N O Z A s Formel deus sive natura die Naturelemente nicht mehr nur als Medien der Übertra­ gung transzendenter Botschaften verstanden, sondern die Natur selbst als me­ diale Botschaft begriffen. Mit dem Aufkommen des Spiritismus und der Ent­ wicklung technischer Medien im 19. Jahrhundert habe sich der Begriff dann denkbar weit von der Natur und den Elementen entfernt und bezeichne nun im Okkultismus Subjekte und Kommunikationstechniken im Zusammenhang mit den neuen, audiovisuellen Medien. Die neuen Medien seien, so die Pointe dieser -

Ebd. 223, 202-21 1 und 273-279 ( Anmerkungen ) . Ebd. 274. 22 Ebd. 205. 23 Ebd . 209 ff. 24 J o c H E N H ö R I SC H : Die Medien der Natur und die Natur der Medien. In: Zum Natur­ begri ff der Gegenwart, hg. von J OACIII M Wn.KE. Bd. 2 ( Stuttgart 1 994 ) 122- 1 37. 25 Ebd. 130. 20 21

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Ausführungen, wegen ihrer Transzendenzlosigkeit auf dem Niveau SPINOZAS, GoET H ES und HEG ELs: sie ersetzten Transzendenz durch Transparenz. 26 Ähnlich wie S PITZER versucht auch HöRISCH , kultur- und denkgeschichtliche Bezüge her­ zustellen. Wo es aber j enem grundsätzlich um eine genaue Darstellung der Be­ griffsgeschichte als Sukzession von Bedeutungen geht, steht hier die Zuspitzung motivgeschichtlicher Aspekte im Vordergrund. H A N S - D I ETER BAHR dagegen leitet eine Begriffsbestimmung von Medium aus der Philosophiegeschichte her.27 Die eigentliche Begriffsentwicklung setzt aus seiner Perspektive mit dem syllogistischen Mittelbegriff ein: Ein Mittelbegriff (Medium) taucht in zwei zu vermittelnden Sätzen (Prämissen) auf und wird im Schlußsatz getilgt. Hier zeigt sich für BAHR deutlich eine »metaphysische Ent­ scheidung«, die für die Unbestimmtheit der Begriffsverwendung verantwortlich sei. Dem Medium werde in seiner Eigenschaft als Vermittlungsinstanz kein Ein­ fluß auf das erzielte Resultat zugestanden und es sinke zum indifferenten Milieu der Vermittlungen zurück.28 Das ändere sich mit HEGEL, der als erster das Wort Medium noch in einer anderen Bedeutung als der des syllogistischen Mittelbe­ griffs verwende. Medium stehe bei ihm für das Ergebnis einer Neutralisierung ex­ tremer Gegensätze in einem Element, und es scheine zudem die »Neutralität der Mittel gegenüber ihrer Verwendungsweise« zu verkörpern. Daher werde dem Medium in teleologischen Systemen kein Einfluß auf »intendierte Bedeutungen« zugestanden. Lediglich in der Ästhetik werde den Darstellungsmedien »eine Art vieldeutiger Mitsprache« eingeräumt.29 In Abwandlung der Hegeischen Ästhetik bereite WA LTER B ENJAM I N im Kunstwerk-Aufsatz erstmalig den »Weg zur Ent­ deckung der Medien«, das heißt ihrer Einwirkung auf das Rezeptionsverhalten und auf die ästhetischen Aussagen am Beispiel des Films.3o Der Film sei dann in der philosophischen Medientheorie zum Paradigma der Verabschiedung der Re­ präsentation geworden, so etwa bei D E LEUZE. Neben dem syllogistischen Mit­ telbegriff, dem neutralen Mediensubstrat HEG ELs und dem ästhetischen Medi­ um, kommen für BAHR noch weitere philosophische Verwendungsweisen von Medium, etwa im Sinne von Mittler oder Bote, Mittel und schließlich Öffentlich­ keit, in Betracht. Der Bote als kommunikatives Subjekt sei gleichermaßen pas­ sive und aktive Vermittlungsinstanz, denn er sei einerseits selbst Empfänger ei­ ner Botschaft, die er andererseits an einen Empfänger weiterzugeben habe. Eine solche Konstellation sei auch in der grammatischen Terminologie festzustellen, wo Medium eine Verbform zwischen Aktiv und Passiv bezeichne. Mit dem Auf26

Ebd. 1 3 1 ff.

27 H A N S- D I ET E R

B A H R : Medien-Nachbarwissenschaften 1: Philosophie. In: Medienwissen­ schaft ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 15) (Berlin 1999) 273-281 . 28 Ebd. 273. 29 Ehd. 274 . 30 Ebd.

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kommen von Trägermedien habe sich dieser Medienbegriff wiederum gewandelt: Der Bote sei hier zum bloßen Träger von Information geworden, so daß die Re­ produktion der Nachricht bei der Übergabe entfalle. Das Medium - verstanden im Sinne von Mittel oder Instrument- zeichne sich durch seine Disponibilität aus. McLUHANs These vom Medium, das selbst die Botschaft sei, werde so erst in ih­ rem »nicht-magischen« Kern verständlich.31 Sie besage, daß in der Verwendung jeweils verschiedener, disponibler Medien zusätzlich zur eigentlichen Botschaft konnotativ weitere Botschaften lägen, die entschlüsselt werden könnten. Die Disponibilität der Mittel sei aber in McLUHANs Theorie sozial im Sinne von Ge­ brauchsvorschriften eingeschränkt. Medien könnten deshalb auch als Anzeichen für gesellschaftlich erzwungene Bedingungen verstanden werden. B A H R weist in aller Kürze auf einige wichtige Verwendungsweisen des Medienbegriffs hin, ohne explizit den Anspruch auf eine umfassende begriffsgeschichtliche Darstellung zu erheben. Ihm geht es bei seiner Darstellung vielmehr um die Verdeutlichung philosophischer Themen, die in der Medientheorie eine gewisse Rolle spielen. Er konstatiert zwar einen »Schillernden Gebrauch des Ausdrucks, in welchem ver­ schiedenste Aspekte auftauchen und wieder verschwinden. «32 Mindestens vier Aspekte, die so schnell nicht verschwunden sind, als daß man sie ohne weiteres übersehen sollte, nennt BAHR allerdings nicht: die antike Aisthesislehre, die mit­ telalterliche Optik, die Dioptrik und die frühe, mechanistische Physik. Wobei B A HR allerdings zugestanden sei, daß diese Bereiche nicht notwendigerweise als Bestandteile seines Untersuchungsbereich, der Philosophiegeschichte, betrachtet werden müssen. In all diesen genannten Disziplinen spielt Medium aber als Terminus eine wichtige Rolle, wie im Verlauf der vorliegenden Untersuchung deutlich werden wird. In dem konzisen und dichten Überblick B A H Rs vermißt man insbesondere eine Stellungnahme zur wirkungsmächtigen Tradition des aisthetischen Medienbegriffs, die sich beispielsweise bei den Vorsokratikern, bei ARISTOTELES oder auch in den Schriften seiner Kommentatoren zeigen ließe. BAHR spricht lediglich sehr allgemein davon, daß dem syllogistischen Mittel­ begriff eine »bestimmte Ontologie« im aristotelischen Denken entspräche, dem­ zufolge Materie als indifferentes Substrat ausschließlich von außen geformt wer­ de.33 Gerade der aisthetische Medienbegriff muß in einer historischen Unter­ suchung zum Medienbegriff herausgestellt werden, denn er bildet die Grundlage einer wichtigen und wirkungsmächtigen Verwendungstradition von Medium im Deutschen. Sehr nützlich für unsere Zwecke ist BAHRs historische Herleitung andererseits aber, weil dort zum syllogistischen oder zum grammatischen Me­ dienbegriff hinreichend Stellung genommen wird.

31 32 33

Ebd. 278. Ebd. 273. Ebd.

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In den genannten Arbeiten zum Medienbegriff werden wichtige inhaltliche und formale Aspekte nicht ausreichend beachtet. Zunächst ist das Fehlen eines lexikalischen Fundaments zu bemängeln, kritikwürdig ist auch die allzu zielge­ richtete Auswahl von Bedeutungsaspekten hinsichtlich der jeweils formulierten Thesen. Diese beiden Punkte gelten nicht für S PITZERS Untersuchung. In seinem Aufsatz erkennen wir eine große Sorgfalt hinsichtlich des lexikalischen Bedeu­ tungswandels, der ja als linguistische Kategorie von der Begriffsgeschichte, der Metaphorologie oder der historischen Semantik wohl geschieden werden muß . Darüber hinaus ist es auffallend, daß der Zusammenhang von metaphorischen und terminologischen Gebrauchsweisen nicht thematisiert wird. Aus der Kritik der existierenden medienbegriffsgeschichtlichen Ansätze ergeben sich bestimmte Voraussetzungen für die vorliegende Untersuchung: Sie betreffen das lexikali­ sche Fundament, die Methodik und die Konzeption des Textkorpus. Zur Fest­ stellung des lexikalischen Bedeutungswandels von Medium orientieren wir uns zunächst an der linguistisch orientierten historischen Semantik. Die Sammlung von Bedeutungsbeschreibungen in einem Korpus historischer Wörterbücher er­ gibt einen ersten diachronischen Überblick über die kodifizierten Bedeutungs­ varianten des Wortes Medium. Auf dieser Grundlage werden Annahmen über die Häufigkeit bestimmter Verwendungsweisen formuliert. Hierbei geht es dar­ um, für bestimmte Zeitabschnitte in der Bedeutungsentwicklung von Medium zentrale Bedeutungsvarianten festzustellen. Die Bedeutungsgeschichte erscheint dann als Abfolge von unterschiedlichen Grundbedeutungen. Die Ergebnisse die­ ser lexikalischen Vorarbeit führen uns in einem zweiten Arbeitsschritt, mit der begriffsgeschichtlichen Analyse, zu innovativen, auch okkasionell34 genannten, Verwendungen von Medium. Diese Bewegung ist eine rückläufige, weil wir uns angesichts des lexikalischen Bedeutungswandels fragen, welche okkasionellen Verwendungsweisen im Vorfeld des lexikalischen Bedeutungswandels diesen Bedeutungswandel bewirkt haben könnten. Der lexikalische Bedeutungswandel indiziert also vorgängige okkasionelle Abweichungen vom üblichen Sprachge­ brauch. Darüber hinaus zeigt eine okkasionelle Verwendungsweise wiederum ein vorgängiges, individuelles begriffliches Umprägen an, also einen Begriffswandel. Aufschlüsse über die Art und die Motivation dieses Bedeutungswandels kann nur eine kontextuelle Untersuchung des okkasionellen Gebrauchs des Wortes ergeben: »Denn was als relative sprachsystematische Bedeutungskonstante er­ scheint, tut dies ja nur im Hinblick auf die Sinnhorizonte, in denen es vorkommt. Deren Verschiebung läßt auf die Dauer auch den abstrakten Bedeutungskern nicht unverändert. Abstrakt usuelle Bedeutung und okkasioneller Sinn sind dia34

Zu H E R M A N N PAU Ls Unterscheidung von usueller Bedeutung und okkasioneller Anwen­ dung vgl . ders. : Prinzipien der Sprachgeschichte (Darrnstadt 1960, Nachdruck der Ausgabe: Tübingen 51 920) 74 ff. Okkasionelle Verwendungsweisen weichen in innovativer und spracher­ weiternder Weise von den kodifizierten und geläufigen, usuellen Bedeutungen ab.

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Iektisch verbunden. «35 Dieser Prozeß läßt sich modellhaft folgendermaßen skiz­ zieren: Die okkasionelle Verwendungsweise, also die Verwendung eines Wortes in einem bestimmten, neuen und ungewöhnlichen Kontext kann zu einem Be­ deutungswandel führen, in dessen Verlauf die okkasionelle Verwendungsweise schließlich als usuelle Bedeutung sich durchsetzt und somit in den Rang der ver­ bindlichen, im Wörterbuch kodifizierten Bedeutung aufsteigt. Wir verstehen nun diese innovativen Verwendungsweisen eines Wortes als Entwürfe des begreifen­ den Denkens und damit als Begriffsbildung.36 Begriff und Bedeutung sind dabei zu betrachten als »[ . . . ] zwei verschiedene Hinsichten derselben Sache. Bedeu­ tung ist dasj enige Inhaltliche am Zeichen, das fest (aber dennoch wandelbar) in Gemeinbesitz übergegangen ist, und, als Bedeutung ausgelegt, nicht überprüfbar und falsifizierbar, weil gegen diese Betrachtungsweise indifferent ist. «37 Begriffe dagegen sind zwar gleichermaßen sprachgebunden, können aber von Individuen frei gebildet und verändert werden.38 Der Zeicheninhalt wird unter dem begriff­ lichen Aspekt sozusagen »von seiner genetischen Seite her betrachtet. «39 Wir übernehmen diese Unterscheidung als methodische Leitlinie und trennen zwi­ schen konventionalisierter und kodifizierter Wortbedeutung einerseits und der Bedeutung des an ein Lexem gebundenen Begriffs andererseits. Die Begriffsbil­ dung ist aus dieser Perspektive identisch mit der okkasionellen Wortverwendung und somit als eine Vorstufe des lexikalischen Bedeutungswandels zu werten: »Deshalb sagt man im Bereich der Philosophie und der Wissenschaften auch, es würden Begriffe gebildet, und man spricht von neuen Begriffen - aber nicht von neugebildeten Bedeutungen, wenngleich die Begriffe in Allgemeinbesitz über­ gehen können und dann zu Bedeutungen gerinnen [ . . . ) . «40 Für die Begriffsge­ schichte sind beide Hinsichten von Interesse. Die Beschreibung des lexikalischen Bedeutungswandels stellt eine wichtige Vorarbeit für die eigentliche begriffs­ geschichtliche Forschung dar, denn nur wenn zumindest der grobe Verlauf der Bedeutungsentwicklung bekannt ist, können Begriffsinnovationen als solche er­ kannt werden. Es geht uns über den Bedeutungswandel hinaus darum, die Be­ deutungsfülle von Medium auszuloten und seine begriffliche Dynamik herauszu­ stellen, mithin also zu zeigen, daß und wie die engen fachbegrifflichen Grenzen Ü berlegungen, a.a.O. [ Anm. 8) 8. A R M I N B u R KHARDT: Bedeutung und Begriff. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983) 68-87, hier: 71 . 37 Ebd. 72 f. B u R KHARDT tri fft diese Unterscheidung zwischen lexikalischer Bedeutung und Begriff im Anschluß an S c H AFF und CA S S I R E R . Zum Verhältnis von Begriff und Bedeutung im Hinblick auf die Begriffsgeschichte vgl . auch F R A N Z-H U B ERT R o H L I N G : Probleme begriffsge­ schichtlicher Forschung beim »Historischen Wörterbuch der Rhetorik«. In: Archiv für Begriffs­ geschichte 38 (1 995) 1 2 f. 3 8 D e r individuellen Begriffsbildung sind freilich hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzep­ tanz durchaus gewisse Grenzen gesetzt. Vgl. C . K N O B LOCH : Ü berlegungen, a.a.O. ( Anm. 8 ) 20. 39 A. B U R K H ARDT: Bedeutung, a.a.O. ( Anm. 36) S. 73. 40 Ebd. 35 C. K N O B LOC H :

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überschritten werden. Solche Abweichungen sind der Motor begrifflicher Inno­ vation. Da die Grenzüberschreitungen nicht nur in fachsprachlichen Texten exer­ ziert werden, untersuchen wir auch die literarische Verwendung des Wortes. Was die Auswahl der Primärtexte dieser Untersuchung angeht, lehnen wir eine Hier­ archie ab, nach der literarische Texte zwar einen gewissen Erkenntniswert haben können, aber dennoch den Texten der Philosophie und der übrigen Wissenschaf­ ten unterlegen sein sollen, und behandeln literarische und wissenschaftliche Texte gleichwertig. Ziel dieser Strategie ist es allerdings nicht, eine indifferente Textualität zu behaupten und die Bedeutungshorizonte als prinzipiell offen zu verstehen. Vielmehr wird durch die Überwindung der durch traditionelle Re­ striktionen auferlegten Lektürebeschränkungen gezeigt, wie sich metaphorischer Sprachgebrauch und Terminologie ineinander verschränken und voneinander abhängig sind. Unser begriffsgeschichtliches Verfahren definiert sich entspre­ chend dieser Maßgabe. Der Medienbegriff zeigt sich schon bei oberflächlicher Betrachtung als typi­ scher Grundbegriff im Sinne der Begriffsgeschichte, denn er weist gleich mehrere Merkmale eines zentralen Terminus auf: Eine strittige Extension, unklare Inten­ sionsmerkmale, eine klare evaluative Komponente und eine Bedeutungskonsti­ tution nicht allein aus dem Sprachsystem, sondern auch aus dem diskursiven Sinn.4I Ein Grundbegriff kann grundsätzlich auf zwei verschiedene Arten be­ griffsgeschichtlich untersucht werden. Wenn man generell davon ausgeht, daß Begriffsgeschichte die Veränderungen in der Relation zwischen Wortkörper und Sachverhalt im Blick hat, ergeben sich folgende Richtungen: 1. die Untersuchung sich verändernder Bedeutung und Benutzungstradition bei gleichbleibendem Wortkörper und 2. die onomasiologische Untersuchung sich verändernder Be­ deutung und Benutzungstradition unter Berücksichtigung der Diskontinuitäten des Wortmaterials.42 Unser methodisches Vorgehen entspricht also dem ersten Ansatz, denn es kommt uns ja gerade auf die Kontinuität des Wortes Medium als Terminus und Metapher an. Was die weitere Konzeption dieser Untersuchung betrifft, folgen wir der Metaphorologie. B L UME N B E R G beschreibt in seinen Para­ digmen zu einer Metaphorologie unter anderem zwei Spezialfälle der begriffsge­ schichtlichen Untersuchung: Die Untersuchung der Wandlung einer Metapher zum Terminus und die Untersuchung der Wandlung eines Terminus zur Meta­ pher.43 Wir übernehmen diese beiden Ansätze zunächst separat, verbinden sie aber letztendlich miteinander, um die Unentscheidbarkeit zwischen Metapher und Terminus zeigen zu können.44 Der größere Arbeitsaufwand solcher begriffsVgl. C. KNOBLOCH: Überlegungen, a.a.O. (Anm. 8) 1 1 ff. Vgl. H EI N ER ScH U LTZ: Einige methodische Fragen der Begriffsgeschichte. In: Archiv für Begriffsgeschichte 17 ( 1 973), 221-231 . 43 H A N S B LU M E N B ERG: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begri ffsge­ schichte 4 ( 1 960) 7-1 42, hier: 88-122. 44 Dieses besondere Spannungsverhältnis zwischen metaphorischer und terminologischer 41 42

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geschichtlich-metaphorologischer Untersuchungen ist durch die zu erwartende Klarheit in der Sache mehr als gerechtfertigt. Hier stellt sich natürlich die Frage, wieso wir die Unterscheidung von Terminus und Metapher ins Spiel bringen wollen, wo doch zuvor darauf hingewiesen wurde, daß die Grenze zwischen fach­ sprachlicher und rhetorischer Verwendungsweise unscharf ist. Wenn wir im Ein­ zelfall - nach einer ausführlichen Darstellung metaphorischer Verwendungen beabsichtigen, wieder zur Fachsprache zurückzukehren, könnte das Widerspruch erregen. Wäre es nicht sinnvoller, aus den oben ausgeführten theoretischen Überlegungen Ernst zu machen, die nachvollziehbare Generalisierung als me­ thodische Grundlage zu akzeptieren, für die einzelnen Schritte der Untersuchung jeden Gebrauch des Wortes als metaphorischen zu begreifen und folgerichtig auf die Kategorie der Fachsprache oder auch auf den Begriff der eigentlichen Be­ deutung ganz zu verzichten? Wir halten zwar nach wie vor ohne Einschränkung an der These von der Unmöglichkeit einer terminologischen Abschließung der Bedeutungsdynamik eines Wortes fest, können aber im konkreten Rahmen un­ serer Untersuchung die Einschätzungen und Standards der Sprachgemeinschaft nicht einfach ignorieren. Wenn ein Wort allgemein als Fachbegriff verstanden wird, muß diese Konvention in einer begriffshistorischen Untersuchung unbe­ dingt berücksichtigt werden; auch und gerade dann, wenn Abweichungen von der Norm Gegenstand einer solchen Untersuchung sind. Schließlich ist der usu­ elle, konventionalisierte Gebrauch von Medium auch für innovative Abweichun­ gen j eglicher Art verbindlich. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß ohne das Wissen um diese Konvention notgedrungen auch die Abweichung als solche nicht erkannt wird. Wenn wir also von Terminologisierung sprechen, tun wir das in Anerkennung einer solchen Konvention. Letztlich darf uns diese Gratwande­ rung aber nicht dazu verführen, eine Zwangsläufigkeit der Begriffsentwicklung zu suggerieren. Ginge es uns darum, so befänden wir uns, nach einigen metapho­ rischen und terminologischen Verirrungen, in einem sicheren Hafen, in den wir, so scheint es, notgedrungen einlaufen mußten. Die Zwangsläufigkeit wäre die Folge einer Kenntnis der gesamten Bedeutungsentwicklung. Wenn unsere Unter­ suchung tatsächlich in einer solchen teleologischen Bewegung aufginge, verdien­ ten wir aber wahrscheinlich keine freundlichere Würdigung als die Worte, die MICHEL Fo ucAULT für ldeengeschichtler alten Stils findet: »Aber in der großen Anhäufung des bereits Gesagten den Text herauszusuchen, der >im vorhinein< einem späteren Text ähnelt, herumzustöbern, um in der Geschichte das Spiel der Vorwegnahmen und Echos wiederzufinden [ ] das alles sind liebenswerte, aber . . .

Begriffsverwendung findet in immer mehr begriffsgeschichtlichen Arbeiten Berücksichtigung. Vgl. bspw. die methodologischen und konzeptionellen Ü berlegungen von H E L M A R S C H R A M M : Thcatralität und Ö ffentlichkeit. Vorstudien zur Begriffsgeschichte von >>Theater«. In: KA R L ­ H E I N Z B A R C K I M A R T I N FONTI U S I WO LFGANG TH I E R S E : Ästhetische Grundbegriffe. Studien ZU einem historischen Wörterbuch (Berlin 1990) 202-241 .

Der Medienbegriff

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verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen. «45 Der Sinn dieser Klei­ derordnung ist einleuchtend. Als Begriffshistoriker mit der richtigen Garderobe sollten wir uns also nicht von falschen Evidenzen verführen lassen und konfron­ tieren daher erst im Schlußteil dieser Arbeit die Ergebnisse der begriffsge­ schichtlichen Analyse mit der aktuellen Terminologiediskussion in den Diszipli­ nen der Medienforschung.

45

M I C H E L FOUCAULT: Archäologie des Wissens (Frankfurt/M. 81 997) 205 .

II. E TYMOLO G I E U N D LEX I K A L I S C H ER B E D E U T U N G S WA N D EL D E S MED IENBEGRIFFS

Die folgende Orientierung über den Bedeutungswandel des Lexems Medium soll einen Blick auf den Wandel der kodifizierten Bedeutungen des Fremdwortes Medium ermöglichen und damit eine günstige Basis für die semasiologisch orien­ tierte historische Untersuchung des Medien � egriffs schaffen. Der Nutzen einer solchen D okumentation wurde bereits betont: Im Hinblick auf die anschließende begriffsgeschichtliche Analyse dient die Untersuchung des lexikalischen Bedeu­ tungswandels von Medium vor allem der Auswahl und der Strukturierung des relevanten Textmaterials. D as Phänomen des lexikalischen Bedeutungswandels wird somit als Indikator für eine ihm vorgängige, okkasionelle Begriffsverände­ rung bewertet. Im weiteren Verlauf unserer begriffsgeschichtlichen Analyse wer­ den die Ergebnisse dieser historisch-semantischen Vorarbeit immer wieder für die Interpretation einzelner Belege von Bedeutung sein, denn eine okkasionelle, innovative oder ungewöhnliche Verwendung von Medium kann als solche natür­ lich nur erkannt werden, wenn zumindest der grobe Verlauf des Wandels der le­ xikalischen Bedeutung bekannt ist.

A. Etymologie des Medienbegriffs D as Wort Medium ist - laut Auskunft der einschlägigen Herkunftswörterbücher - seit dem 1 7 . Jahrhundert im Deutschen belegt und zunächst als naturwissen­ schaftlicher und grammatischer Terminus aufgekommen.46 Mit den Wörtern Mitte, Mittel, dem französischen milieu, dem italienischen mezzo, und den grie­ chischen Wörtern meta und meson, sowie mit vielen weiteren ist es urverwandt und läßt sich auf die indoeuropäische Wurzel *medh- resp. das indoeuropäische *medhios zurückführen.47 Im Lateinischen dominieren die Bedeutungen mittle­ rer, Mitte (räumlich und zeitlich), Mittelmaß, Mittelweg, Mittler und Hälfte.48 Das Substantiv wird also im klassischen Latein hauptsächlich mit Formen der Bedeu­ tungsvariante räumliche Mitte beschrieben: Einerseits bezeichnet es die Mitte eines Obj ekts, andererseits den Mittelpunkt, den Raum oder die Substanz zwi-

46

So etwa die Auffassung von H A N S S c n u L z / O rro BAS L E R : Deutsches Fremdwörterbuch. Bd. 2 (Berlin 1 942) 95. 47 Vgl. H J A L M A R FRI S K : Griechisches Etymologisches Wörterbuch. Bd. 2 (Heidclberg 1970) und T. G. Tu c K E R : Etymological dictionary of Latin (Halle 1 93 1 ) . 48 Vgl. K A R L E R N ST G EO R G E S : Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch (Han­ nover 141 976) .

Das Fremdwort > Medium
Medium< in deutschen Wörterbüchern des 18., 1 9. und 20. Jahrhunderts Der unserer Untersuchung zugrundeliegende Korpus besteht ausschließlich aus deutschsprachigen historischen Wörterbüchern (Deutsche Wörterbücher und Fremdwörterbücher) ; er enthält keine etymologischen Wörterbücher oder Enzy­ klopädien.53 Wörterbücher sind allerdings nicht unbedingt eine geeignete Ar-

49

L. S P I T Z E R , Milieu, a.a.O. [ Anm. 1 8 ] 203 . Ebd. 204: »This functional interpretation must have continued throughout Latinity. « 5 1 Ebd. 274. 5 2 I m Deutschen hat sich der Bedeutungswandel des Wortes Mittel in vergleichbarer Weise von der Bedeutung räumliche Mitte hin zur Verwendungsweise Mittel zu einem Zweck vollzogen. Vgl . hierzu die Einträge zu diesen beiden Wörtern bei JACOB und WI L H E L M G R I M M : Deutsches Wörterbuch. Bd. 12 (Leipzig 1 885) Spalten 2378 f. : »das mhd. und nhd. läszt mitte zu gunsten des folgenden neutr. mitrel zurücktreten, erst die neuere sprache, nach dem veralten des letzteren Wortes in solchem sinne, wendet mitre reichlich an« und Sp. 2382 f.: [ . . . ] die bedeutung des aus dem adj . hervorgegangenen subst. mirrel deckt sich zum theil mit mitte [ . . . ] , wiewol ursprüngliche begri ffsverschiedenheil waltet, und mittel eigentlich örtliche, mitre zuständliche bedeutung hat; das letztere entfaltet sich auch erst mehr in der neueren sprache, wo mitrel seinen begriff nach einer andern seite hin ausbildet [ . . . ].« Nämlich zur Seite der Funktionalität und der Finalität in der Bedeutung Mirtel zu einem Zweck. 53 Die Auswahl der Lexika wurde weitgehend auf der Grundlage des Wörterbuch-Korpus der Forschungsstelle Historische Lexikologie im I N STI TUT FÜR D E U TS C H E S P R A C H E (Mann­ heim) getroffen. Neun der dort vorhandenen Wörterbücher, die im Untersuchungszeitraum er­ schienen sind, enthalten qualifizierte - beispielsweise mit Belegstellen untermauerte - Bedeu­ tungsbeschreibungen zu Medium: J O H A N N C H R I S T I A N WA E C H T L E R : Commodes Manual (Leip­ zig 1 709) . S P E R A N D E R : A Ia mode - Sprach der Teutschen (Nürnberg 1 727). J O H A N N A D A M WE B E R : Lexicon Encyclicon (Chemnitz 1734). J OAC H I M H . CA M P E : Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke (Braunschweig 1 8 1 3 ) . D A N I E L S A N D E R S : Wörterbuch der deutschen Sprache (Leipzig 1 863). D A N I E L S A N D E R S : Fremdwörterbuch (Leipzig 1871 ) . Jos E P H K E H R E I N : Fremdwörterbuch (Stuttgart 1 876) . J o 50

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Etymologie und lexikalischer Bedeutungswandel

beitsgrundlage für semantische Untersuchungen. Gerade bei den historischen Wörterbüchern kann mit gutem Recht die Qualität der lexikographischen Arbeit der Herausgeber bezweifelt werden, weswegen in der Regel umfangreiche Kor­ pora aus exakten und kontextualisierten Belegstellen vorzuziehen sind. Wir tei­ len die B edenken von D I R K GEERA ERTS , der in seinen historisch-semantischen Untersuchungen zwar Bedeutungsbeschreibungen aus historischen Wörterbü­ chern benutzt, gleichzeitig aber vor allzu großem Vertrauen in die Lexika warnt: »However these lexicographical data should be handled with caution, in the sen­ se that they probably da not faithfully mirrar the actual facts of linguistic usage. In the first place, the dictionaries in question are not based an an extensive lexi­ cal documentation; not corpus analysis, but the intuitions of the lexicographer and existing lexicographical reference works - provide the information to be in­ corporated in the dictionary.«54 Dennoch scheint der Korpus für eine Orientie­ rung über die Bedeutungsentwicklung von Medium geeignet zu sein, zumal an dieser Stelle kein abschließendes Urteil gefällt wird, sondern lediglich einige An­ nahmen mit hypothetischem Charakter formuliert werden sollen. Wir gehen bei der Auswertung von der Grundannahme aus, daß die prototypi­ schen Bedeutungsvarianten von Medium diejenigen sind, die am häufigsten als Bedeutungsbeschreibung in einem bestimmten Zeitraum im Korpus vorkom­ men. ss In der Prototypensemantik wird üblicherweise diej enige Bedeutungs­ beschreibung eines Sprachzeichens als prototypisch angesehen, die (resp. deren Referent) von den Sprechern als sogenanntes bestes Exemplar der jeweiligen Kategorie anerkannt wird. Dieses Urteil der Sprecher wird in der Regel durch geeignete Untersuchungsmethoden (Fragebogen, etc.) ermittelt. In unserem Fall stellen die qualifizierten Bedeutungsbeschreibungen in den Wörterbüchern die empirische Grundlage dar. Die vorliegenden Bedeutungsbeschreibungen zu Medium im Korpus konnten durch Subsumtion unter allgemeinere Begriffe in sieben Varianten klassifiziert werden. Redewendungen oder adj ektivische Formen wurden nicht berücksich­ tigt. Explizite terminologische Zuschreibungen der Wörterbuchautoren sind in der folgenden Tabelle durch Indizes markiert: H A N N C. A. H EYSE: Fremdwörterbuch (Hannover 1 896) . FR. L. K. WEIGAN D : Deutsches Wör­ terbuch (Gießen 51910}. 54 D I R K G EERAERTS : Diachronie Prototype Semantics (Oxford 1 997) 146 f. 55 Zum Begriff der prototypischen Bedeutung vgl. beispielhaft GERD FRITZ : Historische Se­ mantik (Stuttgart 1998) 62 f. und 98 ff. GEORGES KLEIBER: Prototypensemantik (Tübingen 1993) 109-137. D. GEERAERTS : Diachronie Prototype Semantics, a.a.O. [Anm. 54) 10-23. Wir verstehen die prototypische Bedeutung als eine >> Verwendungsweise, von der man annimmt, daß sie die Erklärungsgrundlage für die anderen Unterkategorien bzw. Verwendungsweisen bildetMedium
neuen< Sicht auf Natur zu versöhnen.« 1 86 J o s ll A. B AC H : Athanasius Kireher and his method ( Diss. , Ann Arbor 1 986) 131 ff. 1 84

Medium physicum und Medium mathematicum

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und Wasser« t 87 zu umfassen: »Sind also nur 3 Ding von Gott erschaffen I 2 ex­ trema, als der Englische und der Menschliche Verstand: und das medium , das ist I die sinnbare Creatur I oder die grosse Welt [ . . . ] «188, heißt es im Kapitel über »Die Englische Music und Harmony«. Durch diese Naturmedien erkennt der Mensch den harmonischen Weltentwurf des Schöpfers - unabhängig von der Kraft des Geistes - mit den Sinnen oder aber übersinnlich: »Die media aber I welche diese undere Seelen-kräften gebrauchen I die äusserliche Harmony aller Ding zu vernehmen I sind eben die I mit welchen auch die äusserliche objecta selbsten hineingenommen werden: sind sie sinnbar den Sinnen I so werden sie mit den Sinnen percipiret I sind aber die Sachen selbsten I darinn die harmoni­ sche ratio ist I nicht sensiles, sondern vieleicht mit einer andern Kraft vernehm­ lich I eben dieselbe proportiones leuchten auch in der Seelen herfür.«t89 Die Me­ dien der Wahrnehmung göttlicher Harmonie sind also nicht genau von den Me­ dien sinnlicher Wahrnehmung abzugrenzen. Sie scheinen vielmehr in einigen Fällen mit diesen identisch zu sein, denn die Harmonie wird gleichsam als Tritt­ brettfahrer zusammen mit der sinnlichen Oberflächenwahrnehmung durch die­ selben Kanäle erfahren. Die so erkennbare Harmonie verweist natürlich ihrer­ seits auf den Schöpfer. Dieser harmonische Zusammenhang von Mensch, Na­ turmedien, Engeln und Gott bildet den »Wunder-Schöpfungs-Zirckel«. Wie bei PARACELSUS kann auch hier grundsätzlich j edes sinnlich wahrnehmbare Ding und jede Kreatur als Medium der Erkenntnis göttlicher Harmonie gelten. Die ganze Natur ist in diesem Denken ein Medium, in dem und durch das sich Gott zu erkennen gibt. 1 90 Die Möglichkeit der übersinnlichen Wahrnehmung wird bei beiden Autoren eng an die Medien der Sinneswahrnehmung gekoppelt. Und bei KIRCHER wie auch bei PARACELSUS transzendiert hier der Naturmedienbegriff somit einerseits das Feld der sinnlichen Wahrnehmung und tritt in den grenzen­ losen Raum der Metaphysik ein, andererseits potenziert sich in der physischen Welt die Zahl der als Medien in Frage kommenden Substanzen und Gegenstände ins Unermeßliche. Gleich zu Beginn des Buches klärt KIRCHER die Terminologie seiner Akustik : »Medium Phonocampticum nennen wir das Mittel oder Behülff I wardurch und warmit die Stimm I Hall oder Thon fort-geführet wird.« t 9 t Der Übersetzer der Phonurgia Nova benutzt das Wort Medium allerdings nur an dieser Stelle. Immer wenn medium im lateinischen Originaltext vorkommt, übersetzt er es mit der Wendung Mittel oder Behülff; gelegentlich wird auch instrumenturn so übersetzt. 187 ATH A N A S I U S K I R C I I E R : 1 88 Ebd. 352 f. 18 9

Musurgia Universalis (Schwäbisch Hall 1 662) 6.

Ebd. 355 . !90 Zu diesem Aspekt bei K I RCII E R vgl. L E I N K A U F : Mundus, a.a.O. [ Anm. 1 85) 75 ff. 1 9 1 A . K I R C H E R : Hall- und Thon-Kunst, a.a.O. (Anm. 1 8 1 ) 2. Vgl . die lateinische Originalaus­ gabe : ATH A N AS I U S K I R C I I E R : Phonurgia Nova (New York 1 966, Nachdruck der Ausgabe Kemp­ tcn 1 673) 3: >>Medium Phonocampticum illud dicimus medium, per quod sonus propagatur. «

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Medien in der Optik und in der Akustik

Als ein solches medium phonocampticum können die Luft oder auch das Wasser gelten. KIRCHER referiert im ersten Kapitel die traditionelle aristotelisch-tho­ mistische Auffassung von der Sinneswahrnehmung und betont die Leistung des Mediums bei der Entstehung und Beeinflussung eines Tons: »[ . . . ] daher geschie­ het es I daß die Stimm oder Thon im zurück-fallen die Eigenschafft und Natur seines Gegenstandes an sich nimmet I und sich darnach richtet. Dann gleichwie das Licht I Helle oder Schein I so auf eine Fläche fället I nach demselbigen sich auch färbet; also wird die Stimme gleichsam gemahlet und geartet I nach dem Körper oder Ding worauf sie gefallen.«192 Wie schon in den Modellen der Antike und der Scholastik ist also auch in KIRCHERS aisthetischer Theorie das ( hier: farbige ) medium diaphanum, durch das Schall und Licht »gemahlet und geartet« werden, eine zentrale Instanz der Sin­ neswahmehmung, 1 93 Eine bedeutsame Abweichung von der traditionellen Auf­ fassung stellt dagegen seine Bewertung der Eigenschaften des Schallmediums dar. Jeglicher Versuch, Reflexion und Ausbreitungsmodalitäten des Schalls mes­ sen und bestimmen zu wollen, muß laut KIRCHER an der unterschiedlichen Be­ schaffenheit dieses natürlichen Mediums und an der Trägheit der Meßinstrumen­ te scheitern. KIRCHER favorisiert daher eine Akustik, die die Schallweiterleitung durch geeignete Instrumente manipuliert und so den Unsicherheitsfaktor beim Messen und Vorhersagen von Intensität und Richtung der Schallausbreitung re­ duzieren kann. Theoretische Grundlage dieser technischen Akustik ist die Un­ terscheidung der beiden Begriffe medium physicum und medium mathematicum, die zwei Aspekte des Oberbegriffs medium phonocampticum bezeichnen: »Zweyerley Hülff-Mittel haben wir da zu betrachten I ein Natürliches und Ma­ thematisches; Das Natürliche Mittel ist die Weite I spatium oder Gelegenheit der Lufft I dardurch die Stimme I oder Thon fort-geführet wird I hat seine mancher­ ley und verschidene Eigenschafften und Beschaffenheit. Das Mathematische Mittel ist die Grösse oder Kleine I Feme oder Nähe der fortgeführten Stimme oder Thons I und Abmessung derselbige Daur - oder Währung I von beeden wollen wir in diser Abtheilung handlen I und von den Mathematischen oder Kunst-abmessenden Mitteln den Anfang machen.«194 Das natürliche Schallmedium, das medium physicum, ist vage und undefinier­ bar, hat »mancherley und verschidene Eigenschafften«, der Begriff des mathema1 92

A. K I R C H E R : Hall- und Thon-Kunst, a.a.O. (Anm. 1 8 1 ] 12. Diesen Begri ff findet man auch in A . K I R C H E R : Musurgia, a.a.O. (Anm. 1 87] 17. Dort ist die Rede vom >>Gesicht I welches durch das medium diaphanum geschiehet [ . . . ] . « 1 94 Ebd. 8. Vgl. die lateinische O riginalausgabe: A . K I R C H E R : Phonurgia, a.a.O. (Anm. 1 9 1 ] 12: >>Duplex hoc loco medium considerandum est, Physicum, & Mathematicum. Physicum medi­ um est spatium illud aereum, per quod vox propagatur, diversaeque qualitatis & constitutionis est. Mathematicum medium est magnitudo, vel parvitas intervalli propagatae vocis durationem metientis, de utroque breviter hac praelusione tractabimus a medio Mathematico initium fac­ turi . >Das natürliche Mittel ist die Weite I spatium oder Gelegenheit der Lufft I dardurch die Stimme I oder Thon fort-geführet wird« wohingegen die >>durch das wieder zurück-pröllen in einem nahen Gegen-stand oder Mit­ tel gestärckt und vermehrte Stimme« ein Produkt nicht nur des weiterleitenden Medi ums, son­ dern auch des offensichtlich manipulierenden Gerätes ist.

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Medien in der Optik und in der Akustik

Sinneswahrnehmung und die disqualifizierende und pathologisierende Einschät­ zung verzerrender Effekte bei gewissen optischen Medien gehören der Theorie­ vergangenheit an. Indem sich Forscher wie KIRCHER die Tatsache, daß die Stim­ me durch Medien verändert wird, für ihre Manipulationen zu Nutze machen, kappen sie das feste Band der Vergewisserung durch Ähnlichkeit zwischen dem Wahrnehmungsgegenstand und dem Wahrnehmenden. Dieser hier zum ersten Mal deutlich aufscheinende begriffliche Aspekt der Trennung resp. Aufspaltung der ehemals soliden Einheit von Wahrnehmungsqualität, Medium und Sinnesor­ gan durch das Medium selbst wird in der weiteren Entwicklung des Begriffs und mit der Entwicklung neuer Wahrnehmungs- und Kommunikationstechniken im­ mer wichtiger werden. Die harmonia mundi, die Verbundenheit aller Kreaturen steht gleichwohl weiterhin im begrifflichen Zentrum, wie wiederum an KIRCHER exemplarisch gezeigt werden konnte. Die technisch-analytische Ausdifferenzie­ rung der Medien, die nicht zuletzt er selbst vorangetrieben hat, scheint offen­ sichtlich nach einem kompensatorischen Diskurs zu verlangen, der die Artefakte in einen eschatologischen Zusammenhang integriert, um der Gefahr einer Zer­ splitterung und Sinnstreuung durch Medientechniken Einhalt zu gebieten. Ein solcher Versuch, die neuen Apparate und das alte Weltbild zu versöhnen kann indessen nicht verhindern, daß mit den analytisch-geometrischen Modellen ob­ j ektiver Wahrnehmung gleichzeitig auch entsprechende Modelle der gesicherten Erkenntnis entstehen. Die technischen Medien der Optik und der Akustik wer­ den, indem sie »Begrenzungen des menschlichen Sinnesorgans überwinden«, zu »Garanten der neuen Weltsicht. «203 Im Verlauf dieser Entwicklung wandelt sich entsprechend der Refraktionsmedienbegriff vom wissenschaftlichen Stiefkind zum wirkungsmächtigen Terminus und zur vielbenutzten Metapher.

203 U.

H i c K : Geschichte der optischen Medien, a.a.O. [Anm. 1 27] 25 . Es sei vorgreifend be­ merkt, daß sich mit diesen Vorgängen bestimmte Aussagen der Medientheorie und Medienge· schichte des zwanzigsten Jahrhunderts, beispielsweise der M A R S H A L L M c L u H A N s, über die ge­ genseitige Wechselwirkung von Medien, Räumen und Erfahrung illustrieren lassen. Man denke nur an die Thesen von den Medien als Ausweitung menschlicher Sinnesorgane, von der Er­ schließung neuer Räume und Erfahrungen durch Medien und die nachfolgende Implosion die­ ser Räume im Zustand des globalen Dorfes, in dem das Geheimnis der Ferne zur Gewißheit, zur Gleichzeitigkeit und zur Nähe geworden sind.

V. E X K U RS : D E R M E D I E N B E G R I F F U N D D E R S P R ACHPU R I S M U S

I m Rahmen dieser Untersuchung soll nicht verschwiegen werden, daß i m Umfeld der gebildeten deutschsprachigen Stände Fremdwörter wie Medium nicht nur in den Sprachgebrauch integriert, sondern bisweilen auch erbittert bekämpft wer­ den. Die sprachliche Innovations- und Metaphorisierungslust wird im 18. Jahr­ hundert nämlich von Bemühungen flankiert, den freien Sprachgebrauch politi­ schen Interessen zu unterwerfen: »Fast alle deutschen Schriftsteller des 18. Jahr­ hunderts haben ihre Teilnahme an Sprachreinigung durch gelegentliche Vor­ schläge zu einzelnen Fremdwortverdeutschungen, Tadel bestimmter Wörter und unter Umständen durch Verteidigung von Fremdwörtern oder Verdeutschungen bekundet [ . . ] «, stellt WI LHELM FELDMANN fest und nennt dabei insbesondere CH RISTOPH MARTI N WI E LA N D , der »bekanntlich bei der Neubearbeitung seiner Werke - besonders 1794 und folgende Jahre - viele Fremdwörter der früheren Ausgaben verdeutschte.«204 Tatsächlich haben in dieser Zeit der Sprachpurismus und die Forderungen nach einer einheitlichen nationalen Verkehrssprache Kon­ junktur. Die Frage indessen, wer denn nun die verbindliche sprachliche Norm setzt: die Grammatiker, die Schriftsteller oder die Höfe, ist freilich Ursache eini­ ger Kontroversen.205 So wehrt sich WI ELAND 1782 im Teutschen Merkur mit sei­ ner Antwort auf die von ADELUNG gestellte Frage »Was ist Hochdeutsch?« ge­ gen die Auffassung, nach der lediglich die oberen Klassen sprachnormierende Vereinheitlichungsleistungen erbringen und hält dagegen, »[ . . ] daß es die guten Schriftsteller sind, welche die wahre Schriftsprache eines Volkes bilden und (so weit als die Natur einer lebenden und sich also nothwendig immer verändernden Sprache zuläst) befestigen.«206 LESSINGS Vorwurf an WI ELAND in den Literatur­ briefen muß vor diesem Hintergrund des Kampfs um die Sprache gelesen wer­ den: »-Und die Sprache des Herrn Wielands ? [ . . ] alle Augenblicke läßt er sei­ nen Leser über ein französisches Wort stolpern, der sich kaum besinnen kann, ob er einen itzigen Schriftsteller, oder einen aus dem galanten Zeitalter Christian Weisens lieset. Licenz, visieren, Education, Disziplin, Moderation, Eleganz, Aemulation, Jalousie, Corruption, Dexterität, - und noch hundert solche Worte, die alle nicht das geringste mehr sagen, als die deutschen, erwecken auch dem .

.

.

204

WI LIIELM FELD M A N N : Fremdwörter und Verdeutschungen des 18. Jahrhunderts. In: Zeit­ schrift für Deutsche Wortforschung 8 (1 906/07) 49. 205 Vgl . JoAC H I M G ESSINGER: Die Ausbildung europäischer Nationalsprachen: Deutschland - Sprachpolitik im 18. Jahrhundert. In: Studium Linguistik 3 (1977) 3 ff. 206 CHRI STOPH M A RTIN WI E L A N D : Sämmtliche Werke. Bd. 28 (Hamburg 1984, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1794) 321 .

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Medienbegriff und Sprachpurismus

einen Ekel, der nichts weniger als ein Puriste ist.«207 So tadelt LESSI NG - nicht ohne augenzwinkernd das Fremdwort aus dem Französischen zu verwenden, das den Sprachreiniger bezeichnet. WI ELAND hat sich Rügen dieser Art offenbar zu Herzen genommen und unter anderem auch das Wort Medium aus seinen Texten eliminiert. FELD MANN gibt zwei Beispiele: zos In seinem Aufsatz »Was ist Wahr­ heit?« ersetzt WI ELA N D im Zuge einer Überarbeitung anläßlich der Wiederver­ öffentlichung die Medienmetapher »das falsche Medium der Leidenschaft« durch »das verfälschende Licht der Leidenschaft« und in seinem Roman Die ge­ heime Geschichte des Peregrinus Proteus muß Medium in einer späteren Auflage dem Mittel weichen: »Du wirst das heilige Bild der Göttin sehen, und auf sie allein wird es ankommen, wie viel oder wie wenig sie dir durch dieses Mittel von sich selbst erblicken lassen will.«209 JOHANN CAMPE, einer der Protagonisten der erwähnten sprachpolitischen Kontroversen, schlägt solche Ersetzungen von Me­ dium durch Mittel in seinem Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke vor: »Medium, kann in den meisten Fällen durch Mittel, zuweilen durch Hülfsmittel übersetzt werden. «21 o Das neue Wort Medium, das gerade erst hier und da in den deutschsprachigen Texten auftaucht, ereilt also das gleiche Schicksal wie die übrigen Latinismen und Französismen der Zeit: Wo immer es möglich ist, wird an seine Stelle ein deutsches Wort gesetzt. Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Ergebnisse sind die Ersetzungsvor­ schläge des Sprachreinigers CAM PE und die Überarbeitungen WI ELANDs hoch­ interessant. Die Ersetzung der metaphorischen Verwendungsweise falsches Me­ dium der Leidenschaft durch die Metapher verfälschendes Licht der Leidenschaft bestätigt unseren Befund, daß eine Vielzahl von Metaphernbildungen mit Medi­ um Aspekte der aisthetischen Begriffstradition übertragen. Wo dies nicht zutrifft, steht oft der instrumentelle Aspekt von Medium im Vordergrund, und dann kann eben mit Mittel weitgehend synonym ersetzt werden.

2m G . 2os 209 2 1o

E. LES S I N G : Werke. Bd. S a.a.O. [Anm. 1 22] 60. W. FELD M A N N : Fremdwörter, a.a.O. [ Anm. 204] 80. C H . M. WI ELAND: Werke. Bd. 27, a.a.O. [ Anm. 206] 147. J. H. CAM P E : Wörterbuch, a.a.O. [Anm. 53] 406.

VI. D E R MEDIENBEGRIFF ZWISCHEN TR A N S Z E N D E N Z U N D IM M A N E N Z

Mit der beschriebenen Entwicklung i n der Wahrnehmungstechnik wird ein wei­ tes Feld reicher Medienmetaphorik eröffnet, die vor allem auf der begrifflichen Grundlage des medium diaphanum und insbesondere des Refraktionsmediums entsteht. Über diese fast schon alltäglich zu nennende Metaphorik hinaus zeigen einige Autoren eine ganz besondere Vorliebe für das Wort Medium und meta­ phorisieren nicht nur den optischen oder den instrumentellen Bedeutungsaspekt. JO H A N N GoTT F R I E D H E R D E R gehört zweifelsohne zu diesen Autoren, wie ein prüfender Blick über Teile seines Werks zeigen wird. Eine der interessantesten Medienmetaphern H E R D E RS finden wir in G E O RG WI L H E L M FRI E D R I C H H E G ELS Phänomenologie des Geistes wieder, und mit einer Verknüpfung beider Fund­ stellen gelingt es uns, das Feld der Metaphorisierungen und der innovativen Verwendungsweisen im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der begrifflichen Aspekte Immanenz und Transzendenz analytisch zu strukturieren. Von hier aus führt der Weg zur Medienmetapher und zum Medienbegriff im Kontext der Frühromantik. Mit Hilfe von WA LTE R B EN J A M I N S Untersuchung zur Kunstkritik in der deutschen Romantik können wir das verbindende Glied in Gestalt des Re­ flexionsmedienbegriffs ausmachen. Die terminologische Kraft und der große Ein­ fluß dieses Medienbegriffs gerade auch auf die Autoren der deutschen Romantik wird schließlich an ausgewählten Texten von NovA L I S B R E NTA N O und S c H L E I ­ E R M A C H E R deutlich. Für die weitere Entwicklung des Medienbegriffs ist deren Metaphorik mehr als nur ein interessantes Indiz: Die Medienmetaphernbildung von H E R D E R bis S C H L E I E R M AC H E R vermag insgesamt eine Verbindungslinie von den terminologischen Verwendungsweisen in der Aisthesislehre und der Optik über die Parapsychologie bis hin zur frühen Medientheorie deutlich zu machen. ,

A. Der Begriff vom raumfüllenden Medium und seine Metaphorisierung gebraucht den Begriff Medium einerseits ganz traditionsgemäß als ais­ thetischen und naturphilosophischen Terminus, andererseits aber bedient er sich vor allem der metaphorischen Potentiale des Wortes, um seinem geschichts-, sprach- und wahrnehmungstheoretischen Konzept unverwechselbare Konturen zu geben. Allgemein spielen in H E R D ERS Philosophie die Metapher und ins­ besondere die Analogie eine wichtige Rolle.2 1 1 Erkennen sei für H E R D E R nichts HERDER

21 1

Vgl . HANS D I ETRICH I R M S C H E R : Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken

Medienbegriff zwischen Thanszendenz und Immanenz

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anderes, stellt ERNST CASSIRER fest, als die Ähnlichkeiten in der Schöpfung als Form der Wirklichkeit überhaupt zu deuten. Weit davon entfernt, die Gegen­ stände seiner Philosophie damit in dunkler Ferne halten zu wollen, werde für HERDER »die Analogie zum Mittel, das ihm den Weg von der gefühlsmäßigen Erfassung des Einzelnen zur gefühlsmäßigen Erfassung der Weltzusammenhänge bahnen soll.«2t 2 Für die Medienbegriffsgeschichte ist HERD ERs Analogisierung von Prozessen der sinnlichen Wahrnehmung mit Erkenntnis, Sprache und be­ grifflichem Denken und natürlich die damit verbundene Metaphorisierung der aisthetischen Terminologie von Interesse. An den drei Fassungen von HERD ERS Überlegungen zu den Begriffen Empfindung und Erkenntnis2t 3 werden wir ex­ emplarisch diese semantische Expansion nachzeichnen. Seine exzessive Me­ dienmetaphorik steht allerdings auf einer breiteren Basis als der Aisthesis, wie zunächst auszuführen sein wird. Die Geschichte ist für HERDER das Szenario, in dem sich der Mensch entfaltet und zu seiner Bestimmung, nämlich zur Ausbildung einer vernünftigen und hu­ manen Kultur gelangt. Menschheitsgeschichte konzipiert er in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit als Naturgeschichte - aber nicht im Sinne einer Evolutionstheorie, sondern als Erfüllung einer zweiten Natur in Freiheit von der Naturbindung, obwohl er andererseits die erste Natur, insbeson­ dere regionale Eigenheiten, wie beispielsweise das Klima, als determinierenden Nährboden für die kulturelle Entfaltung des Menschen beschreibt. HERD ERS Ge­ schichtsbegriff läßt sich dementsprechend nicht aus abstrakten Prinzipien ablei­ ten, sondern nur durch die Erfassung des jeweils einzelnen Phänomens oder Le­ bewesens; diese führt schließlich, wenn die strukturelle Ähnlichkeit der einzel­ nen, differenten Erscheinungen erkannt worden ist, zum menschenmöglichen Verständnis des Weltganzen.2t4 Natürliche Medien - beispielsweise die Luft machen die Erkenntnis erst möglich. In den Ideen formuliert HERDER eine Ver­ mutung über den Ursprung der Erde und des Lebens, wonach die »ersten Be­ standteile« der Erde »vielleicht alle aus der Luft niedergeschlagen wurden und durch Übergänge aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare traten.«215 Aber auch die

Herders. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 ( 1 981 ) 64-97. 212

ERNST CASS1RER: Freiheit und Form. In: Ders. : Gesammelte Werke, hg. von B t R G I T RECKI . Bd. 7 (Hamburg 2001 ) 131 . m Eine detaillierte Abhandlung über alle drei Fassungen legt MARION H E I N Z vor: Sensuali­ stischer Idealismus: Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des j ungen Herder (1 763-1 778) (Hamburg 1 994). Wir folgen der Praxis dieser Autorin und übernehmen der Einfachheit halber den Haupttitel der dritten Fassung aus dem Jahr 1778 Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele für alle Fassungen. Vgl. ebd. 1 09. 21 4 Vgl. J E N S HEISE: Johann Gottfried Herder zur Einführung (Hamburg 1 998) 65-82. 21 5 JO H A N N G OTTFR I E D HERDER: Werke in zehn Bänden, hg. von MARTI N BOLLAC H E R und G ü NTER A R N O L D . Bd. 6 (Frankfurt/M. 1 989) 37.

Der Begriff vom raumfüllenden Medium

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naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 18. Jahrhunderts - »die elektrische Materie und der magnetische Strom, das Brennbare und die Luftsäure, erkälten­ de Salze und vielleicht Lichtteile, die die Sonne nur anregt« - und viele andere, die noch zu entdecken seien, wirkten, so H E R D E R , »alle im Medium der Luft«. Die Luft sei »die Mutter der Erdgeschöpfe« und das »allgemeine Vehikel der Dinge. «216 Dieses Medium Luft sei aber nicht überall auf der Erde gleich be­ schaffen. Es gebe die verschiedenen Klimazonen in den unterschiedlichen Erd­ regionen und die »mancherlei wirksamen, geistigen Kräfte«, die in diesem Medi­ um treiben, »deren Inbegriff eben vielleicht alle ihre Eigenschaften und Phäno­ mene ausmacht.« Der Mensch sei körperlich und geistig »ein Zögling der Luft« und lebe in ihr »wie im Organ der Gottheit.«2 1 7 In der antiken Aisthesislehre ist die Luft, wie wir gesehen haben, ein wichtiges Wahrnehmungsmedium. Dieser Aspekt spielt aber in H E R D ERS Abhandlung offensichtlich - neben den anderen genannten, bekannten und den vermuteten Phänomenen im Luftmedium - nur eine untergeordnete Rolle. Alles, was potentiell dem Menschen zugänglich ist, scheint sich dort wie in einem »göttlichen Organ« zu entfalten. LEO S PI T Z E R hat eine ähnliche Formulierung bei ISAAC N EWTON gefunden und darüber hinaus auf die Verbindung dieses umfassenden Medienverständnisses zum Wahrneh­ mungsmedienbegriff hingewiesen: » [ . . . ) this ancient idea of the >medium of per­ ception< in its relationship to the loving universe, is surely reflected to some ex­ tent in Newton's expression when he speaks of space (the aetherial medium) as the >Sensorium of Godsympathy< between the cosmos and man does constitute a kind of loving milieu round about him. «220 Unter Berücksichtigung der Metaphorik HERDERs kann nun eine allgemeine, die Aisthesis miteinbegreifende Bestim­ mung dieses neuen Medienbegriffs entfaltet werden, wonach ein funktionaler Begriffsaspekt über die bloße räumliche Interpretation hinaus in den Verwen­ dungsweisen immer präsent ist: » [ . . . ] a functional interpretation of a spatial rela­ tionship [ . . . ] . « 221 Ähnlich wie die Medien der Sinneswahrnehmung, die in der avancierteren Aisthesislehre ja auch nicht nur einfach den Raum zwischen Wahr­ nehmungssubj ekt und -gegenstand ausfüllen, sondern sympathetisch-funktional Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken erst ermöglichen, werden raum­ füllende Substanzen wie Luft oder Äther von der Naturphilosophie gleicherma­ ßen als Agenzien aufgefaßt.222 Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften aus der Naturphilosophie und der Entdeckung resp. der wissenschaftlichen Erfor­ schung von Phänomenen wie dem Magnetismus, der Elektrizität, der Wärme, des Lichts und anderen wird das aisthetische Medium zum Spezialfall eines allge­ meinen Medienbegriffs. Mit dieser begrifflichen Expansion werden auch die fünf Elemente, vor allem aber die Luft und der Äther, aus der engeren aisthetischen Begriffsbildung gelöst und mit allgemeinen Vermittlungsvorgängen metapho­ risch in Zusammenhang gebracht. Das tertium comparationis von aisthetischen Medien und einem raumfüllenden Medium, das als »Organ der Gottheit« apo­ strophiert wird, finden wir also in einem Sympathiekonzept und in einer damit zusammenhängenden Funktionalität: Die Medien gleichen strukturell (Sympa­ thie) den Elementen (Teilen) , zwischen denen sie vermitteln (Funktion). Das göttliche Organ wiederum ist also nichts anderes als eine Metapher für das allgemeine naturphilosophisch-naturwissenschaftliche Konzept des Mediums, das eine Substanz beschreibt, in der sich physikalische oder chemische Vorgänge abspielen, und in der insbesondere die sogenannten Imponderabilien, die un­ wägbaren Materien, angesiedelt werden.223 In der mechanistischen Physik des 18. Jahrhunderts werden so beispielsweise die Schwerkraft, die Elektrizität, der 21 9

CARL WER N E R M ü LLER: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens (Wiesbaden 1 965) 99. 220 L . SPITZ E R : Milieu, a.a.O. ( Anm. 18) 1 84. 221 Ebd. 204. 222 Ebd. 205 . 223 Vgl. zum Begriff der Imponderabilien: HEINRICH FEL DT : Vorstellungen von physika­ lischer und psychischer Energie zur Zeit Mesmers. In: Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus, hg. von H E I N Z S c H OTT (Wiesbaden 1985) 31-43 .

Der Begriff vom raumfüllenden Medium

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Magnetismus, das Licht und die Wärme bezeichnet. Zur mechanistischen Deu­ tung aller natürlichen Phänomene gehört die Vorstellung, daß auch solche Kräf­ te, die keine sichtbare oder sonst sinnlich nachvollziehbare Vermittlung erfahren, mechanisch vermittelt sein müssen. Wenn das Eisenstück vom Magneten bewegt wird, gibt es für den mechanistischen Naturphilosophen eigentlich nur die Mög­ lichkeit anzunehmen, daß eine Vermittlungssubstanz zwar vorhanden, aber für das menschliche Sensorium nicht wahrnehmbar ist. D ESCARTES und NEWTO N , um nur zwei Vertreter der mechanistischen Physik zu nennen, beschreiben das Universum als eine Ansammlung feinster Materie, die zur Erklärung der unter­ schiedlichsten Erscheinungen dienen soll.224 Neben den physikalischen sind es übrigens auch physiologische oder psychische Vorgänge, die durch das ätherische Fluidum wirken sollen. An einem Beispiel aus der Naturphilosophie des späten 18. Jahrhunderts läßt sich die große Bedeutung, aber auch die Undeutlichkeit des Fluidummodells er­ kennen. ScHELLING erörtert im ersten Buch seiner Ideen zu einer Philosophie der Natur aus dem Jahr 1797 - im Zusammenhang mit den chemischen Proble­ men der Verbrennung von Körpern - die Funktion und die Bestandteile der Fluida resp. der »elastischen Flüssigkeiten«.225 Als elastisch gilt ihm eine Flüssig­ keit, wenn nach der Auflösung von Körpern die anziehenden gegen die absto­ ßenden Kräfte im Verhältnis stehen. Die universale Funktionalität eines solchen Mediums sei eine Folge seiner Elastizität. ScH ELLING verdeutlicht diesen Zu­ sammenhang am besonderen Fall der Imponderabilien Wärme und Licht und geht dann zum allgemeinen Phänomen des Fluidums über: »Wärme und Licht [ . . . ] sind doch wahrscheinlich beyde der gemeinschaftliche Antheil aller elasti­ schen Flüßigkeiten. Diese sind höchstwahrscheinlich das allgemeine Medium, durch welches die Natur höhere Kräfte auf die todte Materie wirken läßt. Die Einsicht in die Natur dieser Flüßigkeiten, muß uns also auch unfehlbar eine Aus­ sicht auf die Wirksamkeit der Natur im Großen eröffnen. [ . . . ) Und so wird es glaublich, daß j ene Fluida das Medium sind, durch welches nicht nur Körper mit Körpern, sondern Welten mit Welten zusammenhängen, und daß sich ihrer die Natur im Großen, wie im Kleinen bedient, schlummernde Kräfte zu wecken, und die todte Materie der ursprünglichen Trägheit zu entreißen.«226 SCHELLING refe­ riert hier die wichtigsten Aspekte des Fluidummodells der Naturwissenschaften und der Naturphilosophie. Erstens: Wärme, Licht und andere Imponderabilien wirken als oder durch Fluida. Zweitens: Es wirken anziehende und abstoßende Kräfte in den Fluida, dadurch ist ihre Elastizität bedingt. Drittens: Fluida vermit224

A N N E LI ESE Eao : Magnetische Auftritte - ideologische Konflikte. Zur Problematik eines medizinischen Konzeptes im Zeitalter der Aufklärung. In: Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von H . -J. S ol i N G S (Stuttgart 1 994) 187-213, hier 1 90 ff. 22 5 F R I E D R I C H WI L H E LM JOSEPII SCI! E L LI N G : Werke. Bd. 5. Historisch-Kritische Ausgabe hg. von H A N S MI C H A E L B A U M G A RT N E R (Stuttgart 1 994). 226 Ebd. 1 1 6 f.

Medienbegriff zwischen Transzendenz und Immanenz

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teln körperlich-substantielle Kräfte genauso wie auch höhere, geistige. Viertens: Fluida sind allgegenwärtig. Und was genau ist nun das Fluidum oder Medium in der konkreten Dingwelt? »Aber, wo ist es, j enes Mittelglied, das allein alle diese Verwandtschaften der Körper unter sich bindet? Es muß überall gegenwärtig und als allgemeines Princip der partiellen Anziehungen, über die ganze Natur verbreitet seyn. Wo anders sollten wir es suchen, als in dem Medium, in dem wir selbst leben, das alles umgiebt, alles durchdringt, allem gegenwärtig ist?«227 Und wie schon in HERD ERS naturgeschichtlicher Abhandlung muß es nicht immer gleich der geheimnisvolle Äther sein, wenn vom Fluidummedium die Rede ist. Schon die ganz profane Luft erfüllt alle Bedingungen ScuELLINGs: »Täglich neu­ verjüngt umfängt die Luft unsre Erde; selbst ein Schauplatz beständiger Ver­ änderungen, ist sie nicht nur das Medium, das der Erde die höhem Kräfte (des Lichts und der Wärme) zuführt, sondern sie ist zugleich Mutter jenes merkwür­ digen Grundstoffs [des Sauerstoffs, S.H.] der als allgemeines Mittelglied aller Verwandtschaften zwischen Körpern und Körpern, mittelbar oder unmittelbar in jeden chemischen Prozeß eingreift.« zzs Neben dem magnetischen Fluidum sind die wichtigsten Fluida des 18. und 19. Jahrhunderts das elektrische Fluidum und das optische Äthermedium. Der Grundsatz der Newtonsehen Physik, wonach je­ de Kraft, die einen Körper anzieht oder abstößt, notwendigerweise über einen anderen Körper wirkt, gilt sowohl für die Elektrizitätstheorien als auch für die Theorien über die Ausbreitung des Lichts. In diesen Fällen ist der Vermittlungs­ körper eben sinnlich überhaupt nicht oder kaum wahmehmbar.229 Die Elektrizi­ tät selbst wird als eine Substanz begriffen, die äußerst subtil sein müsse, weil ein Gewichtsverlust eines elektrisierten Körpers beim Ausströmen der Elektrizität nicht spürbar sei. NEWTON formuliert diese Überlegung folgendermaßen: »If any one would ask how a Medium can be so rare, Iet him [ . . . ] tell me, how an elec­ trick Body can by Friction emit an Exhalation so rare and subtile, and yet so po­ tent, as by its emission to cause no sensible Dirninuition of the weight of the elec­ trick Body, and to be expanded through a Sphere, whose Diameter is above two Feet, and yet to be able to agitate and carry up Leaf Copper [ . . ] . «230 Die Entdeckung der Transportmöglichkeit elektrischer Ladungen führt unter Berücksichtigung mechanistischer Grundannahmen konsequenterweise zu einem Fluidummodell der Elektrizität. In den Theorien über die Ausbreitung des Lichts existieren gleichermaßen substantialistisch-mechanistische Vorstellungen, sei es in der Wellentheorie, die zum ersten Mal von CH RISTIAN HuYGENS bereits im 17. Jahrhundert aufgestellt wird oder in der Korpuskulartheorie NEWTO Ns. In der .

227 22 8

Ebd. 177. Ebd. 229 Vgl. zu den folgenden Ausführungen H A N N A PU LACZEWSKA: Aspects of Metaphor in Physics (Tübingen 1999) 1 84-199. 230 I SAAC N EWTO N zit. nach H. PU LACZEWSKA: Aspects, a.a.Q. (Anm. 229 ] 185.

Der Begriff vom raumfüllenden Medium

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Wellentheorie wird eine Schwingung des Äthermediums für das Phänomen der Lichtausbreitung verantwortlich gemacht. Laut dem Korpuskularmodell besteht das Licht aus Partikeln verschiedener Größe, die durch Medien unterschiedlicher Dichte transportiert und auch in ihrer Ausbreitungsrichtung abgelenkt werden können, wodurch dann der Farbeindruck entstehen soll.23I Das Äthermedium hat genau die Eigenschaften, die dem elektrischen Fluidum und im allgemeinen auch den anderen Fluida zugeschrieben werden.232 Der Äther, der als Quint­ essenz bereits in der antiken Naturphilosophie von Bedeutung ist, hat seit der Neuzeit den Rang einer wissenschaftlichen Hypothese, und es knüpfen sich auch weniger metaphysische Spekulationen an diesen Begriff.233 Die Äthertheorien, die alle mehr oder weniger ein subtiles Element nach dem Modell DESCA RTES ' beschreiben, definieren hauptsächlich zwei Grundfunktionen: Der Raum wird als ein mit Materie gefülltes Plenum gedacht. Die Wirkung von Kräften wird durch diese Materie vermittelt, sei also eine nach mechanistischen Prinzipien erfolgen­ de Nahewirkung. NEWTO N schreibt dem Ätherfluidum optische, physiologische und die Gravitation betreffende Funktionen zu. Er bereitet den Boden für eine breite Akzeptanz der Ätherhypothese im 18. Jahrhundert, sowohl für deren Durchsetzung als Paradigma in der Wellentheorie des Lichts als auch in der elek­ tromagnetischen Theorie. Der physikalische Kraftbegriff wird - ähnlich wie später der physikalisch prä­ zisere Energiebegriff - über den Imponderabilienbegriff auch psychischen Phä­ nomenen zugeordnet,234 obwohl schon seit KEPLER Kraft und Seele keine Syn­ onyme mehr sind, sondern begriffliche Gegensätze.235 Bei HERDER ist auch der Medienbegriff von einer solchen begrifflichen Unschärfe, denn wenn diese Kräf­ te in den Bereich des Immateriellen und Psychischen reichen resp. von dort aus­ gehen, dann werden auch die Medien Luft und Äther, durch die sie wirken, in die Nähe dieser Sphären gerückt. Der engere terminologische Medienbegriff weitet sich in seiner metaphorischen Form semantisch aus und erhält so eine quasi all­ umfassende Gültigkeit im Zusammenhang mit geistigen und natürlichen Ver23 1 Vgl. etwa K. F. WEI N M AN N : Natur des Lichts, a.a.O. [Anm. 145] 90 ff. 23 2 H . PU LACZEWSKA: Aspects of Metaphor, a.a.O. [Anm. 229] 1 89 . 233 Vgl. G. u. H . B ö H M E : Feuer, Erde, Wasser, Luft, a.a.O. [Anm. 78] 1 58- 163. 234 Ebd. 32: »Im 18. Jahrhundert war man - weit entfernt von einer einheitlichen Vorstellung - damit beschäftigt, das Wesen und die Anzahl der Kräfte zu klären. Kräfte schienen sowohl physikalischen als auch physiologischen und psychischen Prozessen zugrunde zu liegen, die man nicht klar voneinander trennen konnte. Das zeigt sich in der Verwendung von Begriffen wie Wärme, Magnetismus, Seele, Äther, Spiritus, Lebenskraft. Es sind vor allem drei Bereiche, über deren klare Unterscheidung Unklarheit herrschte: Der Bereich von Substanzen, die Masse ha­ ben und physikalische Wirkungen zeigen; von geistigen Phänomenen, für die beides nicht gilt; und von Kräften, die keine Masse haben, aber physikalische Wirkungen zeigen.« 235 Zur Geschichte des Kraftbegriffs siehe E . CAS S I R E R : Das Erkenntnisproblem in der Phi­ losophie und Wissenschaft der neueren Zeit. In: Ders. : Gesammelte Werke, hg. von B. R E C K I . B d . 2 (Hamburg 1 999) 294-306, insbes. 295 f.

Medienbegriff zwischen Transzendenz und Immanenz

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mittlungsprozessen. Die begriffsbildende Potenz der Medienmetapher wird im Verein mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt immer wichtiger für die Be­ deutungsentwicklung des Medienbegriffs. Neue Paradigmen in den Natur- und Wahrnehmungswissenschaften nobilitieren den Medienbegriff, indem sie seine Gültigkeit auf viele ihrer Gebiete erweitern und so auch seine Metaphernfähig­ keit steigern, und die Metaphern wirken wiederum auf die terminologischen Va­ rianten zurück.

B. Vom raumfüllenden zum körperfüllenden Medium Eine folgenreiche Erweiterung des Begriffs vom raumfüllenden Medium stellt S PITZ E R seit »that farnaus invention of Descartes, the >matiere subtile< « fest, wo­ nach nicht nur der leere Raum von einer unendlich feinen Äthersubstanz durch­ drungen ist, sondern auch alle Dinge und Lebewesen: »No Ionger is the body im­ penetrably encased; into every pore and crevice creeps this subtle ether, the same with which the celestial bodies are surrounded. The stuff which fills the heavens is at the same time within us, within all bodies. «236 Mit diesem - gegenüber den antiken Vorstellungen neuen - Ätherkonzept237 durchdringt man mit dem Me­ dienbegriff gewissermaßen die Oberfläche der Dinge und Lebewesen, und es bie­ ten sich entsprechend viele Möglichkeiten, ihn als Metapher einzusetzen. In sei­ ner Beschreibung der evolutionären Dynamik der Natur, in der Entwicklungsge­ schichte der Lebewesen »aus Einem und demselben Mittelpunkt«23B verwendet H E R D E R Medium in diesem Sinne. Er spricht beispielsweise vom Insekt, das »in einem feinem Medium«239 als Pflanzen und niedrigere Tiere lebe. H E R D ER meint hier einen »Lebenssaft« im vergleichsweise komplexen Bau des Insektenorga­ nismus: »Bloß die feinere Organisation, in welche die Natur sie setzte, die mehre­ re Mischung, Läuterung und Ausarbeitung der Lebenssäfte, nur diese befördern nach Klassen und Arten allmählich den feinem Strom, der die edlem Teile be­ feuchtet [ . . . ] . «240 Dieser feine Strom - eine lmponderabilie, die vom Medium des Lebenssaftes befördert werde - sei nun aber trotz der offenkundigen Verschie­ denheit der Organismen ein allgemeines »Principium des Lebens«: »[D]er ätheri­ sche oder elektrische Strom, der in den Röhren der Pflanze, in den Adern und Muskeln des Tiers, endlich gar im Nervengebäude immer feiner und feiner ver­ arbeitet wird und zuletzt alle die wunderbaren Triebe und Seelenkräfte anfacht, über deren Wirkung wir bei Tieren und Menschen staunen.«24 t Herders Lebens23 6 23 7 238 239 240 24 1

L. S PITZ E R : Milieu, a.a.O. (Anm. 1 8 ] 202. Ebd. 200 ff. J. G. H E R D E R : Werke, a.a.O. (Anm. 215] 75 . Ebd. 80. Ebd. 78. Ebd.

Vom raumfüllenden zum körperfüllenden Medium

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saftmedium spielt also eine wichtige Rolle bei den physiologischen Transforma­ tionen von Empfindungs- und Wahrnehmungsreizen. Ein Reiz ist in diesem Zu­ sammenhang die Grundlage der Empfindung und stellt in der Hierarchie der Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgänge die »Untere Grenze des Beobachtba­ ren« dar.242 Wird der Reiz »durch feinere Kanäle geläutert«, transformiere er sich zum »Medium der Empfindung«:243 »Das Resultat der Reize wird Trieb; das Resultat der Empfindungen, Gedanke: ein ewiger Fortgang von organischer Schöpfung, der in jedes lebendige Geschöpf gelegt ward.« 244 Gegenüber der älte­ ren, naturphilosophischen Verwendungsweise, die am Beispiel von PARACELSUS dargestellt wurde, steht hier ein differenzierter Körpermedienbegriff: Der Kör­ per ist nicht nur einfach ein nicht weiter konkretisiertes Medium, sondern er ist seinerseits von feineren Medien gleichsam durchdrungen. Erweiterte Erklä­ rungsmöglichkeiten bietet dieses Modell, weil es klarmachen kann, wie und wo­ her die Lebenskräfte zum und in den Körper kommen, um dort zu wirken. Was passiert beispielsweise, wenn der Körper leblos wird? HERDER erläutert das un­ ter Rückgriff auf die Imponderabilien und das neue Ätherkonzept: In der Natur existierten gewisse Kräfte, die sich ihre Organe als Mittler ihrer Wirkkraft zuge­ bildet hätten und nur durch diese überhaupt für den Menschen erfahrbar seien. Kraft und Organ paßten deshalb immer harmonisch zusammen, weil der Schöp­ fer die Kraft genau dem Organ zuführe, in dem sie ihre Wirkungen auch entfal­ ten könne. Stirbt die organische Hülle dann ab, »so bleibt die Kraft, die voraus, obwohl in einem niedrigem Zustande und ebenfalls organisch, dennoch vor die­ ser Hülle schon existierte. Wars möglich, daß sie aus ihrem vorigen in diesen Zu­ stand übergehen konnte: so ist ihr auch bei dieser Enthüllung ein neuer Über­ gang möglich. Fürs Medium wird der sorgen, der sie, und zwar viel unvollkom­ mener, hieher brachte.«245 Dank des Äthermediums existiert die Kraft bereits, bevor sie dem organischen Körpermedium zugeführt wird. Und nach dem Tod kehrt sie dorthin wieder zurück, um bald einen weiteren Organismus mit Hilfe des Äthers zu durchdringen. Und eben weil nicht nur das Universum von Medien raumfüllend durchdrungen ist, sondern auch alle Körper, deutet sich für den Me­ dienbegriff eine weitere semantische Expansion an. Der ominöse Begriff vom Lebenssaftmedium verlangt nach terminologischer Präzisierung, was HERDER freilich mit einer Metaphernflut einlöst, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.

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H A N S A D L E R : Aisthesis, steinernes Herz und geschmeidige Sinne. In: Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 1 8 . Jahrhundert, hg. von H . -J. SCHINGS (Stuttgart 1994) 96-1 1 1 , hier: 1 06 f. 243 J . G. H E R D E R : Werke, a.a.O. ( Anm. 215] 82. 244 Ebd. 245 Ebd. 173.

Medienbegriff zwischen Transzendenz und Immanenz

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C. Das Medium und der Körper der Erkenntnis

HERDER lehnt die Vorstellung eines Körper-Seele-Dualismus ab, weil er ihn als unzulässige Trennung von Bereichen auffaßt, die in Wirklichkeit eng ineinander verschlungen sind und dadurch die gemeinsame Progression von Natur und Geist gewährleisten. Besonders in der Preisschrift Vom Erkennen und Empfin­ den der menschlichen See[e246 wird eine für den »sensualistischen Idealismus« HERDERs247 typische chiastische Struktur des Verhältnisses von Empfindung und Erkenntnis deutlich. Die Vergeistigung der Natur gehe einher mit einer Naturali­ sierung des Geistes: Indem er den durch äußere Anstöße ausgelösten sinnlichen Reiz in Empfindung und schließlich in den Gedanken resp. in den Begriff von dem auslösenden Naturding - und der eigenen Empfindung davon - verwande­ le248, nehme der Mensch buchstäblich die sinnlich wahrnehmbaren Naturdinge an sich: »Die Aneignung des Gegenstandes qua Assimilation durch das Subjekt bedeutet keine Subj ektivierung in dem Sinne, daß der Gegenstand bloß subjekti­ ven Bedingungen unterworfen würde, sondern bedeutet gerade seine Obj ektivie­ rung, d.h. die Transformation der Erscheinung in das Ansichsein seiner Geist­ natur. Weil das Subjekt eine höhere Stufe von Geist repräsentiert, ist die Assi­ milation durch das Subjekt Vergeistigung des Gegenstandes.«249 Demgegenüber meint »Naturalisierung des Geistes« eben das sinnliche Fundament j eder Er­ kenntnis, denn die Aneignung der Natur ist zunächst eine körperliche. Weil sie vollständig auf die Erkenntnismöglichkeiten angewiesen ist, die auf Sinneswahr­ nehmungen aufbauen, wird der menschlichen Vernunft die Möglichkeit der Er­ kenntnis allein aus sich selbst heraus abgesprochen.250 HERD ERS These besagt also, daß Erkennen immer mit Empfindung einhergeht und daß Empfindung immer schon Erkennen ist. Das eingeschränkte Wesen Mensch kann sich selbst und die Welt allerdings nur durch die Vermittlung des eigenen Körpers erken246

Die Abhandlung entstand anläßlich einer Preisfrage der Berliner Akademie im Jahre 1 773. Die Akademie schrieb die Frage 1775 nochmals aus, weil sie mit den eingesandten Arbei­ ten nicht zufrieden war. H ERDER beteiligte sich mit einer zweiten, überarbeiteten Fassung, die aber die Akademie wiederum nicht zu überzeugen vermochte. 1778 erschien dann eine dritte, nochmals überarbeitete Fassung im Druck. 247 Vgl. M . H E I N Z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. [Anm. 213) XVI I I ff. 24 8 J. G. H E R D E R : Werke, a.a.O. [Anm. 215) 82. 249 M. H E I N Z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. [Anm. 213) 140. 250 Vgl. ebd. XXIV: »Die Natur ist [ . . . ) erscheinender Geist Gottes; sie weist selbst eine Pro­ gression vom Dunkeln zum Klaren auf, die sich in der Kette der Wesen manifestiert; der Mensch, der gegenüber den übrigen Naturwesen eine höhere Stufe von Geistigkeit repräsen­ tiert, läutert die Natur im Erkennen empor, indem ihre Geistigkeit als solche zum Vorschein ge­ bracht wird. Umgekehrt wird das Erkennen naturalisiert; indem der Mensch den Gedanken nur im Bild der Empfindung sehen kann, werden die Beschaffenheit der Organe, die konkreten Um­ stände der Position des Körpers in der Welt zu bestimmenden Faktoren des Erkennens, die prin­ zipiell nicht hintergehbar sind [ . . ) . « .

Das Medium und der Körper der Erkenntnis

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nen; ein endgültiger und totaler Blick auf die Zusammenhänge beispielsweise der Leib-Seele-Verbindung bleibt ihm deshalb verwehrt. Laut HERDER ist die Emp­ findung der Körper der Erkenntnis, und wegen der Beschränkungen, die der Körper und seine Empfindungs- und Erkenntnisfähigkeit mit sich bringen, ist die Empfindung immer eine Reduktion und Selektion der Mannigfaltigkeit der Na­ turdinge auf die Bedürfnisse des empfindenden Menschen hin.251 Die Empfin­ dung stellt daher, aufgrund dieser Selektion, die das Wohlergehen des gesamten Menschen zum Ziel hat, schon eine Seelentätigkeit dar.252 Der Medienbegriff spielt in diesem Modell eine entscheidende Rolle für die Entstehung sowohl von Wahrnehmung als auch von Erkenntnis. HERDER steht in der aristotelischen Tra­ dition, wenn er dem Wahrnehmungsmedium eine den Wahrnehmungsgegenstand erst konstituierende Funktion zuschreibt. Die Objekte werden beispielsweise beim Sehen nicht einfach im Medium abgebildet oder gespiegelt, es werde viel­ mehr ein bestimmter qualitativer Aspekt des Wahrnehmungsgegenstands, näm­ lich der sowohl dem Sinnesorgan als auch dem Medium entsprechende, als Ob­ jektwahrnehmung vermittelt: »Ohne Licht was wäre das Auge mit seinen Fühl­ barkeiten, Netzen und Säften? ohne Schall was wäre das Ohr mit allen seinen geöffneten Nerven? Der Gegenstand kann nicht zu ihm, der Sinn nicht zum Ge­ genstande kommen; und siehe ! da fließt ein Weltmeer um den Sinn her, voll tau­ send Wellen und Kanäle: Licht fürs Auge, Schall fürs Ohr! «253 Natürlich folgt HERDER hier dem aisthetischen Grundsatz »Gleiches durch Gleiches«. Er argu­ mentiert, daß der Wahrnehmungsvorgang sich ursprünglich aus dem Medium herleite, denn die Sinnesorgane seien ohne Vermittlungsinstanzen lediglich reiz­ bare Fasern, die nur in sich selbst empfinden. Letztendlich führe erst das Medium Sinnesorgan und Wahrnehmungsgegenstand zu ihrer wahren Bestimmung; mehr noch: »[D]as Medium ordnet nicht nur überhaupt Sinn und Gegenstand einander zu und läßt so erst den Sinn als Sinn entstehen, sondern es bestimmt auch quali­ tativ Sinn und Gegenstand.« 254 HERDER formuliert eine erkenntnistheoretische Position, die die Beziehung von Mensch und Gegenstand genetisch aus der Natur begreift. Dem Subjekt steht demzufolge kein fertiges, unwandelbares Erkennt­ nisobjekt gegenüber; beide sind vielmehr gleicher Natur, und erst das Medium, das diese gemeinsame Natur repräsentiert, vermag sie zu einen und genau die Seiten des Gegenstandes zu vermitteln, die für den Menschen wichtig sind. Die­ ses Konzept impliziert unter anderem auch, daß mit fortschreitender sinnlicher und kultureller Bildung sich die Wahrnehmung verändert. Es fällt nun auf, daß HERDER in diesem Aufsatz nicht die klassischen Wahr­ nehmungsmedien Luft und Wasser explizit als Medien bezeichnet, sondern die 25 1 J . 25 2 253 254

G. H E R D E R : Sämmtliche Werke. Bd. 8, hg. von BERNHARD S U PHAN (Berlin 1 892) 239. M. H E I N Z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. ( Anm. 213) 1 29 ff. J . G. H E R D E R : Sämmtliche Werke, a.a.O. (Anm. 25 1 ) 282. M. H E I N Z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. ( Anm. 213) 156.

Medienbegriff zwischen Transzendenz und Immanenz

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Sinnesorgane und - wie oben zitiert - den Schall und das Licht oder auch den Duft.255 In der aristotelisch-thomistischen Tradition wird das Licht zwar mitunter auch als Medium bezeichnet, weil es die durchsichtigen Medien für das Sehen präpariert; Schall und Duft dagegen gelten als medial rekonstituierte Wahrneh­ mungsqualitäten des Wahrnehmungsobj ekts. Diese Erweiterung der Extension des Medienbegriffs von den aisthetischen Medien hin zu den Wahrnehmungs­ qualitäten und Sinnesorganen hat Methode und ist aus H E R D ERS Ansatz heraus erklärbar. Das Wahrnehmungsmedium scheint für H E R D E R den Wahrnehmungs­ prozeß insgesamt zu dynamisieren, denn mit der Zusammenführung von Subj ekt und Wahrnehmungsobjekt im Erkenntnisprozeß kann das Medium offenbar ver­ schwinden resp. zum Teil des Sinns werden: »Je mehr der Sinn dem Erkennen sich naht, desto mehr fleugt er aus seiner Stäte, gleitet auf Lichtstrat bis zum letz­ ten der Sterne [ . . . ]. Er ists nehmtich nicht durch sich sondern durch seinen Mitt­ ler [ . . . ]. Alles Sichtbare, Hörbare gränzt an mich, weil das Medium zu meinem Organ gehöret, wie der Stab wodurch ich fühle, nur meine verlängerte Hand ist [ . . . ]. Der Gegenstand ist also würklich in meinem Sinne: das Licht, der Schall hat so viel davon abgerissen und zu mir gebracht, als diesem Sinne werden konnte. Medium ist verschwunden und besiegt, denn es ward selbst Sinn. Zwischen Raub und Adler ist kein Zwischenstand mehr: sein Blick, sein Geruch ist da: Pfeil­ schnell schießt er hernieder.«256 Das Subj ekt weitet sich also über seine Sinnes­ organe und mittels der Medien aus. So wie der »Stab wodurch ich fühle, nur mei­ ne verlängerte Hand ist«, funktioniert letztendlich jedes Medium nicht nur als »Zeigefinger der Gottheit für unsre Seele«, sondern auch als Ausweitung der menschlichen Sinne. Mit dem Raub, dem Erkenntniszugewinn durch mediale Aneignung des Wahrnehmungsgegenstandes erweitert sich das Subjekt »bis zum letzten der Sterne«. Offenbar führt die Aneignung des Gegenstands durch den Sinn, die freilich immer nur eine partielle sein kann (innerhalb der Grenzen, die dem Menschen durch seine Sinne gesetzt sind), dazu, daß damit gleichzeitig auch das Medium »besiegt« und überflüssig wird. Diese Inkorporation steht für die Progression in höhere Erkenntnisstufen oder allgemein für ein gesetzmäßiges Verhalten von Organismen: »Das Leben hat insgesamt eine progressive Tendenz, indem höhere Stufen des Lebendigen niedrigere assimilieren«257, und diese Ein­ sicht gilt bei H E R D E R sowohl für die organische Assimilation der weniger kom­ plexen Erscheinungen des Lebens, wie es das Bild vom Adler in der buchstäbli­ chen Lesart zeigt, als auch für die Assimilation der Sinnesreize, die als Empfin­ dungen wahrgenommen und dann vergeistigt werden, mithin also zur Erkenntnis erhöht werden. Für letzteres steht die übertragene Bedeutung des j agenden Ad­ lers und des besiegten und verschwindenden Mediums: Daß der »Gegenstand 2 55 J . G. 256 2 57

H E R D E R : Sämmtliche Werke, a.a .O. ( Anm. 251 ] 187. Ebd. 283. M . H E I N Z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. (Anm. 213] XXV.

D as Medium und der Körper der Erkenntnis

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würklich in meinem Sinne« ist, meint die Rückwirkung der Erkenntnis auf die Empfindung im Sinne der oben erwähnten Zirkularität von Vergeistigung der Natur und Naturalisierung des Geistes.258 Bei einer solchen Interpretation der Raubmetapher darf freilich nicht vergessen werden, daß für HERDER die Seelen­ kräfte nicht unendlich sein können, weil die Seele ja an den Leib gebunden und somit »in den Horizont der Sinnlichkeit verzäunt« ist.259 Die Progression von niedrigen zu höheren Reiz-, Empfindungs- und Erkenntnisstufen ist charakteri­ stisch für das Herdersehe System. In dem dynamischen Progressionsmodell wird die Vermittlungsinstanz in der Synthese von Wahrnehmungsobjekt und Subjekt aufgehoben: Der Adler reißt seine Beute - das Medium ist besiegt. Das Medium läßt sich aber nur als besiegtes und verschwindendes denken, wenn es - eben bei­ spielsweise als Wahrnehmungsqualität - entweder Teil des wahrnehmenden Subjekts (»weil das Medium zu meinem Organ gehöret«) oder aber des von ihm inkorporierten Wahrnehmungsobjekts ist. Daß diese (dialektische) Verschiebung des Medienbegriffs von den Elementen zu den Wahrnehmungsqualitäten und Sinnesorganen zweifelsohne ein idealistisches Moment in HERD ERs Text dar­ stellt, wird ein Vergleich mit einer Raubmetapher in H E G E LS Phänomenologie des Geistes zeigen. Zunächst gilt es jedoch, den Weg von den Empfindungen zur Erkenntnis weiter zu verfolgen. Die weitere Assimilation - der Raub muß schließlich auch verdaut werden - leistet das innere Medium: »Wenn also aus un­ sern Sinnen in die Einbildungskraft, oder wie wir dies Meer innerer Sinnlichkeit nennen wollen, Alles zusammenfleußt und darauf unsre Gedanken, Empfindun­ gen und Triebe schwimmen und wallen: hat die Natur abermals nichts gewebet, das sie einige, das sie leite? Allerdings, und dies ist das Nervengebäude. Zarte Silberbande, dadurch der Schöpfer die innere und äußere Welt, und in uns Herz und Kopf, Denken und Wollen, Sinne und alle Glieder knüpfet. Würklich ein sol­ ches Medium der Empfindung für den geistigen Menschen, als es das Licht fürs Auge, der Schall fürs Ohr, von außen sein konnte. [ . . ] Dieser innere Aether muß nicht Licht, Schall, Duft seyn, aber er muß alles empfangen und in sich verwan­ deln können. Er kann dem Kopfe Licht, dem Herzen Reiz werden: er muß also ihrer Natur seyn, oder zunächst an sie gränzen.«260 Die Wahrnehmungsgegen.

25 8

Zur Parallelität von Natur- und Vernunftgeschichte bei HERDER ebd. 1 43: >> In der Natur liegt selbst eine progressive Vergeistigung: sie weist eine Stufenfolge, Kette von Wesen zuneh­ mend höheren Grades von Geistigkeit auf, die untereinander in Wirkungsverhältnissen stehen. Indem die endlichen Geistwesen die übrige Natur sich im Erkennen aneignen, wird deren Gei­ stigkeit zum Vorschein gebracht, d.h. die progressive Vergeistigung ist nicht nur statisches, son­ dern zugleich dynamisches Gesetz der Natur ( . . . ). Indem aber die Natur Erscheinung des göttli­ chen Gedankens ist, ist Naturgeschichte eo ipso Vernunftgcschichte.« Andererseits verläuft die Entwicklung der Natur nicht abhängig von der des Subjekts, ebd. XXV: >> Herder bietet eine Ge­ nealogie des subjektiven Geistes an, für die der objektive Geist, die Gesetzmäßigkeit der Natur fundierend ist, ohne jedoch selbst in die Bewegung des subjektiven Geistes einbezogen zu sein.« 259 Ebd. 1 23 . 26 0 J . G. H E R DER: Sämmtliche Werke, a.a.O. ( Anm. 251 ) 1 90 f.

Medienbegriff zwischen Transzendenz und Immanenz

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stände werden also zweifach bearbeitet, bevor sie als seelenhaft bezeichnet wer­ den können. Auf der ersten Assimilationsstufe vereinen die äußeren Wahrneh­ mungsmedien Wahrnehmungsobjekt und Sinnesorgan, auf der zweiten fungiert das Nervensystem als Mittler zwischen Sinnesreiz und Gedanke. Damit aus Rei­ zen Empfindungen werden können, muß also durch den »inneren Aether« dem Sinnesreiz ein Gefühlswert zugeordnet werden.261

D. Das Haupt-Medium Gottessprache Die Progression vom Reiz über die Empfindung hin zum Gedanken und zur Er­ kenntnis setzt sich in der Begriffsbildung fort, und auf dieser Stufe spielt ein wei­ teres Medium eine wichtige Rolle: das »Gedankenmedium«, die Sprache.262 Für HERDER ist die Sprache Teil der Kultur, der symbolischen Welt, in der der Mensch lebt. Sie leite sich nicht von Gott her, sondern sei tierischen Ursprungs, also von der Natur hervorgerufen und bis zu den unmittelbaren Lauten der Empfindung zurückzuverfolgen. Die Entstehung von Sprache sei durch die sinn­ liche Offenheit des Menschen ermöglicht worden. Anders als das Tier sei der Mensch nicht an eine bestimmte Sphäre sinn- und instinktgebunden, sondern eben sinnlich frei, was ihm die Möglichkeit zur Reflexion gebe. Er könne aus den sich ihm anbietenden Naturlauten bestimmte Merkmale des Wahrnehmungsge­ genstandes aussondern. Die Seele antworte dann - vermittelt durch das Gehör als »Mittelsinn« - auf die unterschiedenen Laute mit »inneren Worten«, also mit Begriffen. Analog gilt das auch für die anderen Sinne.263 HERDER nennt als Bei­ spiel das »Blöcken« eines Schafs. Als Lautzeichen sei es zwar noch kein sprachli­ cher Ausdruck, aber es gliedere schon die sinnliche Anschauung: »Für Herder ist damit Sprache schon erfunden, weil es dasselbe Vermögen der Besonnenheit ist, das die anschauliche Welt mit Merkmalen versieht und Merkmale in ein System von sprachlichen Zeichen gliedert. Dabei bleibt der Unterschied von Anschau­ ung und Sprache durchaus gewahrt. Herder geht es aber darum zu zeigen, daß die kognitive Leistung der Sprache aus der sinnlichen Anschauung - der Emp­ findung - hervorgeht und auf sie angewiesen bleibt.«264 Und wie durch die Medi­ en der Empfindung wird auch durch das Medium Sprache der Gegenstand ge­ formt und begreifbar, freilich wiederum nur innerhalb der Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind: »Wie die Medien der Sinnlichkeit den omnimode be­ stimmten Gegenstand nur in bestimmten Hinsichten wahrnehmbar machen, so 261

M. H m N z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. ( Anm. 213] 158. Ebd. 1 59 ff. 263 Vgl. HERDERS Abhandlung über den Ursprung der Sprache in: a.a.O. (Anm. 21 5 ] . 264 J . H m s E : Herder, a.a.O. ( Anm. 214] 32. 262

J.

G. H E R D E R : Werke,

Das Haupt-Medium Gottessprache

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ist auch das Begreifen der Dinge im Medium der Sprache eine Selektion von >Begreifbarem< für den durch seine konkrete Lebenssituation bestimmten Geist des Menschen.«265 Speziell im Zusammenhang mit HERDERS Aisthesis- und Er­ kenntnistheorie, wie sie in Vom Empfinden und Erkennen der menschlichen Seele formuliert wird, muß man allerdings von einem umfassenderen Sprachbegriff ausgehen. Hier geht es vor allem um die sogenannte Gottessprache. Alle von HERDER in den drei Fassungen dieses Aufsatzes genannten Medien, also bei­ spielsweise das Licht, die Sinnesqualitäten, die Sinnesorgane und der innere Äther, schaffen zwar die Grundlagen und die Vorarbeit für die Bildung der so­ genannten inneren Worte, sind aber für HERDER letztendlich doch kopflos: »Schon zu lange redeten wir von Polypen ohne Haupt, von Reizen, Empfindun­ gen, Medien, Organen ohne Gedanken. Wir kommen zum andern, höhern Brennpunkt unseres Seyns, der Kraft zu erkennen. « 266 An dieser Stelle muß zwar nochmals nachdrücklich der hohe Rang betont werden, den HERDER den Reizen und Empfindungen als unabdingbarer Grundlage der Erkenntnis einräumt dennoch gilt der Befund einer Hierarchie, die zum Haupt strebt und vom Haupt abhängt: »Wie aber? auch in dieser innern Kraft, im ausgedruckten Bilde der Göttlichen Urthat ist die Seele selbstmächtig, unabhängig, absolut, sich selbst nährend? Bei ihrer Rückwürkung auf Empfindung, Welt und Körper schöpft sie aus sich, unaufhörlich aus sich Kräfte? Erkennet sie weil sie Erkennenskraft hat? - es ist in der That nichts gesagt, das Letzte: nur der Urgeist, der Urerkenner, der Schöpfer erkennet also. Das Bild Gottes, unsre erkennende Seele hangt von einer Gotteswelt ab, wie die äußern Sinne, und da sie mit keinem Gegenstande, der nicht sie selbst ist, Eins werden und ihn gemessen kann ohne Mittler: siehe, so braucht sie ein Medium, wie Ohr und Auge: der Schöpfer muß es selbst wer­ den. Er kommt zu ihr und da sie sich gleichsam von einer Welt abkehrt, auf sie zu würken; so kehrt sie sich einer Welt zu, von der sie Stral und Kraft empfange. Es heißt Wort ! Licht der Seele, dem Schall und Licht der Sinne nur Körper und Kleid sind. Hier öffnet sich ein Reich wahrer unsichtbarer Wesen und Kräfte, in denen der Schöpfer-Geist Eins ist und Alles [ . . . ) Sprache ist also für die Ver­ nunft ein solches Medium von Absonderungen, Bildern, Karaktern, Geprägen, als das Licht dem Auge war, und selbst das Licht ist diesem höhern Sinn nur Sprache, nur Wort vom Munde des Schöpfers, Hauch eines Geistes, des Urbildes, von und nach dem sie gemacht ist. Die Seele übt also ihre Kräfte würklich durch ein Gedankenmedium, durch eine wahre eigentliche Gottessprache.«267 Die Got­ tessprache ist in diesem Zusammenhang gleichermaßen als Naturoffenbarung wie auch im Sinne einer supranaturalen Offenbarung zu verstehen. Zwischen beiden Formen besteht kein wirklicher Unterschied, denn » [ f] ür Gott und für 26 5 M. 266 267

H E I N Z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. [Anm. 213] 1 63 . J . G. H E R D E R : Sämmtliche Werke, a . a . 0 . [Anm. 25 1 ] 287. Ebd. 291 .

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hypothetisch angenommene Geister höherer Vollkommenheit ist die Schöpfung Geist, alles Seiende ist Gedanke oder Wort, d.h. ausgedrückter Gedanke Got­ tes. «268 Somit wird - aus göttlicher Sicht - auch die Unterscheidung zwischen dem Medium Sprache und dem Naturmedium hinfällig, weil beide zwei Seiten einer Medaille darstellen. Das nicht weiter hintergehbare Haupt der Medien­ hierarchie in HERD ERs Aisthesis- und Erkenntnistheorie ist also Gott resp. Got­ tes Wort. Für den Menschen gilt aber nach wie vor, daß er nur durch die sinnliche Anschauung der Naturdinge und durch die Begriffsbildung annäherungsweise und bruchstückhaft einen Zugang zu deren Geistnatur erhält, weshalb die menschliche Sprache trotz ihrer Verbindung zur Gottessprache nicht direkt gött­ lichen Ursprungs ist.

E. Der Medienraub als Wahrnehmungsmetapher Es wurde bereits gezeigt, wie HERDER nachdrücklich mit einer suggestiven Metapher die Sinnesorganische Assimilation der Wahrnehmungen verbildlicht: »Medium ist verschwunden und besiegt, denn es ward selbst Sinn. Zwischen Raub und Adler ist kein Zwischenstand mehr: sein Blick, sein Geruch ist da: Pfeilschnell schießt er hernieder.«269 Der folgende Vergleich mit einer ähnlichen Metaphorik bei HE G EL soll nun zeigen, wie hiermit ein dynamischer und dialek­ tischer Medienbegriff systematisch umrissen wird. In HERDERs Wahrnehmungs­ metapher sind der Adler und seine Beute durch ein gemeinsames Medium, den Geruch, verbunden - damit sind sowohl der Geruch des Beutetieres gemeint als auch der Geruchssinn des Adlers. Wenn nun der Adler seine Beute reißt, genau­ so wie - metaphorisch - der Sinn vom Gegenstand soviel abreißt, »als diesem Sinne werden konnte«,210 wird der verdauliche, genießbare Teil dem naturhierar­ chisch Höherstehenden assimiliert, in ihm aufgehoben, so wie auch der Wahr­ nehmungsgegenstand im Sinn aufgeht. Bei diesem Vorgang wird das Wahrneh­ mungsmedium nicht als ein Medium beschrieben, das immer und für alle denk­ baren Wahrnehmungsvorgänge unverändert präsent bleibt, sondern als vermit­ telnde Instanz, die besiegt wird und verschwindet resp. sich transformiert. Eine genaue und systematische Darlegung dieses Prozesses fehlt zwar bei HERDER, über eine gemeinsame Wahrnehmungsmetaphorik bei HERDER und REGEL kann aber eine Verbindung zum Medienbegriff in der Hegeischen Dialektik der Wahrnehmung gezeigt werden, denn in der Phänomenologie des Geistes spricht HEGEL im Zusammenhang mit der Sinneswahrnehmung ebenfalls von einem Raub. 268 M.

H E I N Z : Sensualistischer Idealismus, a.a.O. [ Anm. 213) 1 62. G. H E R D ER: Sämmtliche Werke, a.a.O. [Anm. 25 1 ) 283. Ebd. 283 .

269 J. 270

Der Medienraub als Wahrnehmungsmetapher

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In HEGELS Raubmetapher ist der sogenannte gesunde Verstand, das Verstan­ desmedium, die Beute. Kurz bevor dem Bewußtsein »in der Dialektik der sinn­ lichen Gewißheit das Hören und Sehen [ ] «27 1 vergehen, stellt sich dieser Ver­ stand der Progression quer, indem er sich gegen die Aufhebung der Wahrneh­ mungsabstraktionen des Bewußtseins wehrt: »Wozu diesen Verstand eigentlich die Natur dieser unwahren Wesen treiben will, die Gedanken von j ener Allge­ meinheit und Einzelheit, vom A uch und Eins, von jener Wesentlichkeit, die mit ei­ ner Unwesentlichkeil notwendig verknüpft ist, und von einem Unwesentlichen, das doch notwendig ist, - die Gedanken von diesen Unwesen zusammenzubrin­ gen und sie dadurch aufzuheben, dagegen sträubt er sich durch die Stützen des Insofern und der verschiedenen Rücksichten oder dadurch, den einen Gedanken auf sich zu nehmen, um den anderen getrennt und als den wahren zu erhalten. Aber die Natur dieser Abstraktionen bringt sie an und für sich zusammen; der gesunde Verstand ist der Raub derselben, die ihn in ihrem wirbelnden Kreise umhertreiben.«272 Bevor aber geklärt werden kann, wie der Raub HEG ELs mit dem HERD ERS zusammenhängt, muß der Gedankengang Hegels wenigstens grob nachvollzogen werden. HEGEL unterscheidet im Kapitel über »Die Wahrneh­ mung oder Das Ding und die Täuschung« drei Medien resp. Vermittlungsstufen: Erstens, das einfache Medium, zweitens das allgemeine Medium und schließlich, drittens, die letzte Vermittlungsstufe, die unbedingte, absolute Allgemeinheit. Das erste Medium ist der Wahrnehmungsgegenstand selbst, der verschiedene Ei­ genschaften hat, die sich nicht gegenseitig affizieren. HEGEL nennt diesen Zu­ stand das »Auch« der vielen Eigenschaften: »Dieses Auch ist also das reine All­ gemeine selbst oder das Medium, die sie so zusammenfassende Dingheit.«273 Mit dem zweiten Medium befinden wir uns bereits auf einer höheren Reflexionsstu­ fe, auf der bestimmte Momente des Wahrnehmungsgegenstandes, nämlich die Entgegengesetztheit seiner Eigenschaften mitgedacht und somit mitenthalten sind. D as Bewußtsein erkennt, daß der Gegenstand seiner Wahrnehmung »Eins« ist, wodurch das »Moment der Negation«274 bezeichnet wird, denn durch die Set­ zung des Dings als »Eins« wird das Andere ausgeschlossen. Zum allgemeinen, dem dritten, Medium gehören die beiden vorigen Bestimmungen des Wahrneh­ mungsgegenstandes - das »Auch« und das »Eins« -, und das allgemeine Medium ist daher das wahrnehmende Bewußtsein selbst: »Wir sind somit das allgemeine Medium, worin solche Momente sich absondern und für sich sind.«275 Dadurch, daß es das Ding als »Eins« wahrnimmt, hat das Bewußtsein dessen Eigenschaften unter Ausschluß entgegengesetzter Eigenschaften gesetzt: weil etwa das Salz . . .

27 1 m

273 274 27 5

G EORG WI LIIELM FRIEDRICII H E G E L : Werke in 20 Bänden. Bd. 3 (Frankfurt 1 970) 1 07. Ebd. 1 06f. Ebd. 95 . Ebd. Ebd. 99 f.

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weiß ist, ist es nicht schwarz, etc. Außerdem sind dessen Eigenschaften nur von­ einander verschieden, weil sie der Wahrnehmung so erscheinen: »Dies Ding ist also in der Tat nur weiß, an unser Auge gebracht, scharf auch, an unsere Zunge, auch kubisch, an unser Gefühl usf. «276 Das allgemeine Medium ist folglich eines, »worin viele Eigenschaften als sinnliche Allgemeinheiten j ede für sich ist und als bestimmte die anderen ausschließt.«277 Weil das allgemeine Medium im Gegen­ satz zum einfachen Dingmedium also die Entgegensetzungen der Eigenschaften oder des Dings miteinschließt, liegt in dieser Gemeinsamkeit nun ein Wider­ spruch: Das Ding ist gleichsam ein »gedoppeltes, verschiedenes Sein«, weil es »für sich und auch für ein Anderes ist. «278 Gerade indem es ein »für sich seiendes Eins« ist, ist es dadurch immer bereits auf ein anderes bezogen, das heißt es ist dadurch notwendigerweise in sich gedoppelt: »Das Auch oder der gleichgültige Unterschied fällt also wohl ebenso in das Ding als das Einssein, aber, da beides verschieden, nicht in dasselbe, sondern in verschiedene Dinge; der Widerspruch, der an dem gegenständlichen Wesen überhaupt ist, verteilt sich an zwei Gegen­ stände. «279 Im Widerstreit seines gegenständlichen Wesens zwischen Selbstän­ digkeit und der Beziehung auf ein Anderes, welche die Selbständigkeit fragwür­ dig macht, wird das Ding aber negiert und aufgehoben, also zunächst vernichtet: »Durch den absoluten Charakter gerade und seine Entgegensetzung verhält es sich zu anderen und ist wesentlich nur dies Verhalten; das Verhältnis aber ist die Negation seiner Selbständigkeit, und das Ding geht vielmehr durch seine we­ sentliche Eigenschaft zugrunde. « zso Vernichtung impliziert hier aber Progression in das »Reich des Verstandes«, in das Medium der »unbedingte[n] , absolute[n] Allgemeinheit«. zs t Dort werden die beschriebenen, vermeintlich getrennten Be­ stimmungen des Dings »in sich reflektiert«282 und die »leeren Abstraktionen der Einzelheit und der ihr entgegengesetzten Allgemeinheit«283 aufgehoben. Genau hier sind wir auf der Stufe angelangt, auf die der von R E G E L sogenann­ te gesunde Verstand nicht mehr mit hinaufsteigen will und deshalb zum Raub der Wahrnehmungsabstraktionen wird. Indem der Verstand sich mal auf die Sei­ te der Allgemeinheit, mal auf die Seite der Einzelheit schlage, so R E G E L , gelinge es ihm nicht, die nächsthöhere dialektische Stufe zu erreichen, die diese beiden Aspekte der Wahrnehmung zusammenbringe. Er versuche, die Widersprüche zu isolieren und die dialektische Bewegung aufzuhalten, indem er den abstrakten und widersprüchlichen Momenten der Wahrnehmung gerecht werden wolle. 27 6 277 27 8 27 9

zso 281 282 28 3

Ebd. Ebd. 98. Ebd. 102. Ebd. Ebd. Ebd. 104. Ebd. Ebd. 1 05 .

Der Medienraub als Wahrnehmungsmetapher

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Während er sich aber so dem Spiel der Widersprüche hingebe und dadurch im­ mer auf dieser Ebene und im Zirkel gefangen bleibe, verschwinde er selbst mit den Widersprüchen im allgemeinen Medium, weil er die höhere Bewußtseinstufe aus der Perspektive der Trennung gar nicht erkennen könne: »Er selbst kommt nicht zu dem Bewußtsein, daß es solche einfachen Wesenheiten sind, die in ihm walten, sondern er meint es immer mit ganz gediegenem Stoffe und Inhalte zu tun zu haben [ . . . ] . «284 Aus dieser Sicht wird er zum Raub der Abstraktionen, die ihn in ihrer eigenen dialektischen Bewegung zur Einheit einfach mitnehmen. So wie die Widersprüche wird auch der aufgehoben, der ihrem Spiel blindlings folgt und sich der Wandlung widersetzen will. Dieses Gesetz der Wandlung gilt in HEGELs Systematik nicht nur für die Wahrnehmung, sondern generell für das menschliche Leben. Seine Dialektik ist - zumindest an dieser Stelle - keine bloße Methode, sondern strukturiert die Wirklichkeit und ist eine Grundtatsache des Lebens und des Werdens. ALEXA N DR E KoJEVE bringt das in seinem Kommentar zur Phänomenologie des Geistes auf die Formel: »Der Mensch ist negierendes Tun, das das Daseieode verwandelt, und in diesem Verwandeln sich selbst ver­ wandelt. Der Mensch ist nur insofern, als er wird [ . . . ] . «285 Der Raub kann somit als naturgesetzliche Zerstörung des Daseieoden interpretiert werden, die letzt­ endlich den Zweck hat, das Leben nicht nur zu erhalten, sondern auch weiterzu­ entwickeln. Die Beute des Adlers dient dessen Wachstum und Bedürfnisbefrie­ digung, ihre wesentlichen Bestandteile werden im Organismus des Adlers ver­ daut und assimiliert, das unwürdige Gewölle bleibt auf der Strecke; kurz: die Beute wird aufgehoben. Ob der gesunde Verstand der Bewußtseinsdialektik nicht folgen kann oder vielleicht aber gar nicht folgen will, ist also vollkommen uner­ heblich, weil ihn in HEGELS Bild die Dialektik bereits mit Adleraugen erspäht und mit Krallen gepackt hat: Spielerisch erhält sie für eine Weile die Abstraktio­ nen des Daseins aufrecht, als die das Leben des Jägers und seiner Beute zu gel­ ten haben und treibt ihr Opfer in den Grenzen umher, die sie selbst setzt. Wo der gesunde Verstand sich noch solidarisch mit der Abstraktion des Opfers erklärt, hat er nur noch nicht erkannt, daß auch er als Raub des Adlers zur Beute gehört. Eine solche dialektische Dynamik stellt übrigens HANS-DIETER BAHR ledig­ lich in HEGELS Verwendung des syllogistischen Mittelbegriffs (medius terminus) fest. Er trennt somit den aktiven Begriffsaspekt der Vermittlung beim Mittelbe­ griff von einem passiven Aspekt, der im Begriff des Mediums als einem Ergebnis von neutralisierenden Vermittlungen der Gegensätze auftauche.286 Nach unserer Analyse müssen wir uns aber angesichts dieser Behauptung fragen, ob aus einer 284

Ebd. 1 06. A LEXANDRE KoJ E V E : Hege!. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens (Stuttgart 1958) 40. 286 H. 8 A H R : Medien-Nachbarwissenschaften, a.a.O. (Anm. 27] 274: HEGEL betone zwar >> [g]egen das vermeintliche Verschwinden des Mittels [ . . . ] die Arbeit der Vermittlung, die das Ergebnis erst ausmache.« Andererseits aber: >> Die Neutralität des Mediums stellt sich, seit He­ gel, selber in einem extremen G egensatz zur reinen Vermittlung dar. « 28 5

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Medienbegriff zwischen Transzendenz und Immanenz

solchen Perspektive nicht unterschlagen wird, daß beide begrifflichen Aspekte gleichzeitig, das heißt in ein und derselben Verwendungsweise, auftauchen kön­ nen. Angesichts der unterschiedlichen medialen Stufen in HEGELs Wahrneh­ mungstheorie wird nämlich deutlich, daß die Medien verschiedenen Progressi­ onsstufen angehören und somit immer beides zugleich sind: Instanzen aktiver Vermittlungen und gleichzeitig auch Ergebnisse solcher Vermittlungen. So wird beispielsweise der »gesunde Verstand« bei HEGEL als Vermittlungsstufe bezeich­ net, er ist - nach unserer Kategorisierung - das zweite Medium, das sich der Auf­ hebung ins dritte Medium widersetzt. Hier erkennen wir den passiven Begriffs­ aspekt des Verharrens: Der Verstand will bleiben, wie er ist und aus der Dynamik vorzeitig, das heißt vor der absoluten Vermittlung, ausscheren. Diese Bemühung ist freilich zwecklos, und der gesunde Verstand, das inferiore allgemeine Medi­ um, muß schließlich im Reich des absoluten Mediums aufgehen; darin erkennen wir gleichzeitig einen aktiven Aspekt des Medienbegriffs.

F.

Medienimmanenz

Wir können nun angesichts der innovativen Verwendungsweisen bei HERDER und HEGEL eine überaus erstaunliche metaphorische Expansion des Medien­ begriffs feststellen. Zunächst führt der Weg von den - zahlenmäßig begrenzten aisthetischen Medien über die raumfüllenden Medien, die gleichzeitig auch körperdurchdringend sind, zu den Wahrnehmungs- und Erkenntnismedien im menschlichen Organismus, und von da aus gelangen wir über die immateriellen Medien Sprache, Gedanke und Begriff schließlich ins Reich des Verstands. Wenn nun Medien offensichtlich überall zu finden sind, und all die Einzelmedien auch noch über das zentrierende Leitmedium Gottessprache organisiert sind, scheint die Vorstellung von transzendenten göttlichen Botschaften tatsächlich der Reali­ tät medialer Immanenz weichen zu müssen: »Natur, Substanz und auch Sein überhaupt sind nicht das schlechthin Andere des Geistes, des Subj ekts und des Schöpfers, sondern sind mit ihm bzw. ihnen eins und eben deshalb das je Andere ihrer selbst. In substantiellen Offenbarungen wird deshalb nicht etwa eine tran­ szendente Botschaft, sondern ein Medium qua Medium offenbar.«287 Auf diese Medienimmanenz ist insbesondere dann zu achten, wenn nun eine metaphern­ induzierte Medienbegriffsveränderung behauptet wird. In den Medienmetaphern von PA R A C E L S U S ist es die eigentliche göttliche Botschaft, die es im Buch der Na­ turmedien zu lesen gilt, und die Refraktionsmedienmetaphern führen häufig das implizite Ideal der richtigen Erkenntnis mit im semantischen Gepäck. Ein gene­ relles Vermittlungsziel ist in Verwendungsweisen dieser Art, trotz aller Betonung der konstruktiven Medienbeteiligung, jenseits der Vermittlungsinstanz zu suchen. 287 J.

H öRISCH: Medien der Natur, a.a.O. (Anm. 24) 127.

Medienimmanenz

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Als Modell für einen solchen Medienbegriff kann das simple Kommunikations­ modell von der Struktur: Sender � Medium � Empfänger zitiert werden, bei dem davon ausgegangen wird, daß die Botschaft vom Sender gewissermaßen als Informationspaket über den verlängerten Arm, den das Medium darstellt, an den Empfänger weitergegeben wird. Das Ziel ist die Weitergabe von Botschaften, die mit entsprechenden Intentionen verknüpft ist, die aber als unabhängig vom Me­ dium gedacht werden. Dem Medium ist in diesem Modell ausschließlich die Übermittlung geschuldet. Im Zuge eines solchen Begriffsverständnisses, das vor dem Hintergrund der innovativen Verwendungsweisen H E R D ERS und H E G E L S freilich naiv anmutet, werden also Medien nicht nur als im metaphysischen Sinn transzendent definiert, sondern generell, weil sie - im eigentlichen Wortsinne dabei helfen, in das vermeintliche Jenseits jeglicher Vermittlung hinüberzustei­ gen. Mit dieser Vorstellung geht häufig und konsequenterweise eine instrumen­ telle Bewertung von Medien einher; auch das wurde bereits am Beispiel der Verwendungsweisen von PA R A C E L s u s angedeutet. Der Begriffsaspekt der In­ strumentalität ist freilich bei H E R D E R noch erkennbar, und zwar, wie könnte es anders sein, im metaphorischen Kleid. Kurz bevor er die Raubmetapher verwen­ det, spricht er ja davon, daß »das Medium zu meinem Organ gehöret, wie der Stab wodurch ich fühle, nur meine verlängerte Hand ist [ . . . ) . «288 Die instrumen­ tell-transzendente Vermittlung führt aber H E R D E R sagt das nur wenige Zeilen später - nicht etwa über das Medium hinaus, sondern zu einem weiteren Medi­ um. Bezeichnenderweise ist in diesem neuen Begriffsaspekt, den wir Immanenz nennen, die mediale Transzendenz aufgehoben. Der neue Medienbegriff beinhal­ tet nämlich gleichermaßen das aktive Moment einer als instrumentell und tran­ szendent verstandenen Vermittlung und das passive Moment des Verbarrens in der Vermittlung, das selbst wiederum Medium ist. Im folgenden werden wir se­ hen, daß die Medienimmanenz auch in einigen frühromantischen Medienmeta­ phern eine Rolle spielt. -

288 J .

G. H E R D E R : Sämmtliche Werke, a.a. 0. (Anm. 251 ] 283 .

V I I . DAS M E D I U M D E R R E F L EX I O N

»Naturforscher und Dichter haben durch Eine Sprache sich immer wie Ein Volk gezeigt. «289 Keine Frage, daß mit dieser von NovALIS ausgegebenen Devise in der Romantik - und hier insbesondere in der frühromantischen Epoche - eine programmatische Offenheit für literarisch-wissenschaftliche Grenzgänge signali­ siert wird. Die terminologischen und rhetorischen Bastarde, die bei diesen Be­ gegnungen unter regelmäßiger Mißachtung von Sprachkonventionen entstehen, bieten unserer metapharologischen Untersuchung naturgemäß sehr geeignetes AnschauungsmateriaL Es kann daher gar nicht anders sein, als daß zu dieser Zeit die Medienmetapher nicht nur in der Philosophie und in der Literatur zu einer äußerst beliebten Trope wird - auch und gerade in der romantischen Naturwis­ senschaft ist Medium nicht selten eine Grundlage für weit ausholende Vergleiche mit ausgesprochen poetischem Charakter. NovALIS, RITTER, B RENTA N O , FRIED­ RICH S C H LEG EL, SCHE LLI N G , HOFFMANN und andere stehen mit ihren Mehr­ fachbegabungen für häufig und gerne beschrittene Passagen zwischen den Diszi­ plinen. Solche Affinitäten, die mitunter zu kühnen Konzepten führen, erscheinen einer nachromantischen Naturwissenschaft mehr als suspekt, den romantischen Theoretikern dagegen gilt die Auffassung von einer grundlegenden Einheit aller Wissenschaften und Künste, wie sie beispielsweise auch NovA u s ' Entwurf einer Enzyklopädie zugrunde liegt, als zwingende Voraussetzung für eine allumfassen­ de Welterkenntnis. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wollen wir uns auf drei Werke beschränken, die exemplarisch für die innovativen und meta­ phorischen Verwendungsweisen von Medium in der deutschen Frühromantik stehen. In NovA u s ' Fragment Die Lehrlinge zu Sais finden wir eine allgemeine Bestimmung des Reflexionsmediums als Absolutum jeder Wahrnehmung und jeder Erkenntnis. Auch die Kunst kann als absolutes Medium in diesem Sinne bestimmt werden, wie am Beispiel von B RENTANOS Godwi gezeigt wird. Und in den Reden Ober die Religion von ScH LEIERMACHER finden wir so etwas wie eine Bestimmung des Buches als Kommunikationsmedium.

A. Das frühromantische Reflexionsmedium In seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik ar­ beitet WA LTER B E NJAMIN die allgemeinen Grundlagen einer frühromantischen Erkenntnistheorie heraus und geht dabei insbesondere auf den Reflexions289

NOVALIS: Schriften, hg. V. PAUL KLUCKHOHN und RICHARD SAMUEL. Bd. l (Stuttgart 1 960) 84.

Das frühromantische Reflexionsmedium

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medienbegriff ein.290 Bevor dieser näher bestimmt werden kann, muß zunächst der frühromantische Reflexionsbegriff geklärt werden. Das allgemeine Begriffs­ verständnis geht auf FI CHTE zurück und meint nicht Reflexion im Sinne einer Erkenntnis durch Anschauung, sondern im Sinne einer Selbsterkenntnis der Me­ thode, nämlich des Denkens. Im Gegensatz zu FIC HTE stellen die Frühromantiker - insbesondere F. S c H L EG E L - auf die Unendlichkeit des Reflexionszusammen­ hangs ab.29 t Es geht ihnen dabei nicht um ein bloßes zielloses Kreisen und Wei­ terlaufen des Denkens des Denkens, sondern um die Auflösung der Reflexion im Absolutum, die man sich als systematische Herstellung eines unabschließbaren Zusammenhangs durch zahllose Vermittlungsvorgänge vorzustellen hat. Jede einzelne Reflexion ist als denkendes Erfassen unmittelbar, genauso wie die Ge­ samtheit aller Reflexionsstufen, das Absolutum, in dem die einzelne Reflexions­ form sich schließlich auflöst. Der Zusammenhang der Reflexionen dagegen ist ein mittelbarer.292 Der Vermittlungszusammenhang kann als »reflexive Synthe­ sis« beschrieben werden, so daß Erkenntnis ein Prozeß ist, »der das zu Erken­ nende erst zu dem, als was es erkannt wird macht.«293 Das bedeutet, daß nicht nur das erkennende Subjekt ein Reflexionszentrum ist, sondern etwa auch das Naturding. Synthesis meint dann die Einverleibung anderer Reflexionszentren durch den Erkennenden resp. die Aufhebung der Trennung: »Es gibt also in der Tat keine Erkenntnis eines Obj ekts durch ein Subjekt. Jede Erkenntnis ist ein immanenter Zusammenhang im Absoluten, oder wenn man will, im Subj ekt. «294 Auf diese Weise sieht beispielsweise »Schlegel unmittelbar und ohne daß er dies eines Beweises bedürftig hielte, das ganze Wirkliche in seinem vollen Inhalt mit steigender Deutlichkeit bis zur höchsten Klarheit im Absolutum sich in den Reflexionen entfalten.«295 Dieses Erkenntnisschema wird laut B E N J A M I N vom methodischen zum »ontologischen Absolutum«, weil das »erste ursprüngliche, stoffliche Denken« ein »erfülltes substantielles« ist. 296 Das Erkennen ist freilich dann überhaupt nicht mehr von der Wahrnehmung zu trennen: »Ohnehin ist es klar, daß diese Erkenntnistheorie es zu keiner Unterscheidung von Wahrneh­ mung und Erkenntnis bringen kann [ ]. Die Erkenntnis ist ihr zufolge in gleich hohem Grad unmittelbar als es die Wahrnehmung nur irgend sein kann [ . . . ] . «297 Daraus folgt für B E N J A M I N eine Identität der Medien: »Das Medium der Refle­ xion, des Erkennens und des Wahmehmens fällt bei den Romantikem zusam. . .

290 WA LTER BENJAMI N : Gesammelte Schri ften, hg. von ROLF TI E D E M A N N und H E R R M A N N SCHWEPPE N H Ä U S E R . Bd. 1 , 1 (Frankfurt 1 974) 7-122. 29 t Ebd. 25. 292 Ebd. 26 f. 293 Ebd. 61 . 294 Ebd. 58. 295 Ebd. 32. 296 Ebd. 54 f. 297 Ebd. 58.

Das Medium der Reflexion

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men.«29S Der Reflexionsmedienbegriff zielt daher folgerichtig nicht nur auf die jeweiligen Einzelreflexionen, sondern auch auf das Absolutum, in dem diese sich verbinden. B E N J A M I N weist ausdrücklich auf die Zweideutigkeit des Komposi­ tums hin, auf die es auch uns hier ankommt: »Der Doppelsinn der Bezeichnung bringt in diesem Falle keine Unklarheit mit sich. Denn einerseits ist die Reflexi­ on selbst ein Medium - kraft ihres stetigen Zusammenhanges, andererseits ist das fragliche Medium ein solches, in dem die Reflexion sich bewegt - denn diese, als das Absolute, bewegt sich in sich selbst.«299 Unter dem Reflexionsmedienbegriff ist also, folgt man B E N J A M I N , zweierlei zu verstehen: Einerseits bezieht er sich auf den Reflexionsvorgang selbst als ein Medium des Denkens des Denkens, an­ dererseits bedeutet Reflexionsmedium ein den einzelnen Reflexionen überge­ ordnetes Erkenntnissystem, also etwa die Natur (die Naturwissenschaft), die Re­ ligion oder die Kunst.300 Im Fall der Kunst wird deutlich, daß der Reflexionsme­ dienbegriff sowohl auf die Kunstidee als Ganzes als auch auf den einzelnen Kunstgegenstand zielen kann, wie RAI N E R M ATZ K E R treffend feststellt: »Mit der frühromantischen Definition der Kunst als Medium offenbart sich bereits der Konflikt zwischen einer ideellen und materiellen Medienauffassung: die Kunst, das ist der Kunstgegenstand und die Kunstidee zugleich. Nur aus solipsistischer Sicht ist allein die Idee das Medium der Vermittlung. «301 Freilich offenbart sich »der Konflikt zwischen einer ideellen und materiellen Medienauffassung« schon viel früher in der Geschichte des Medienbegriffs, wie wir im Rahmen unserer Untersuchung bereits nach der Analyse der ältesten Verwendungsweisen festge­ stellt haben. D agegen ist B E N J A M I N s und MATZKERs allgemeiner Befund, wo­ nach der frühromantische Reflexionsmedienbegriff zwei Erkenntnisschritte be­ schreibt - nämlich erstens die individuelle Erkenntnis durch ein partikulares Medium und zweitens die Entstehung eines spezifischen Systemzusammenhangs aus der Zusammenführung dieser Erkenntnisfragmente sowie der einzelnen Me­ dien im Absolutum - von einiger Bedeutung, wie wir an den folgenden Beispie­ len aus der frühromantischen Literatur sehen werden.

29 8

Ebd. 60. Im übrigen ist ScH LEGEL sich der terminologischen, sprich wahrnehmungstheo­ retischen Grundlage der frühromantischen Medienmetapher durchaus bewußt, ebd. 37: >>Um sich über die mediale Natur des Absoluten, das er im Sinne hat, vollkommen deutlich auszu­ sprechen, nimmt Schlegel einen Vergleich vom Lichte her: >der Gedanke des Ichs [ . . . ] ist [ . . . ] als das innere Licht aller Gedanken zu betrachten. Alle Gedanken sind nur gebrochene Farbenbil­ der dieses inneren Lichtes [ . . . ]Lesarten und Erläuterungen« der Ausgabe: CLEMENS B RENTANO: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von J ü R G E N B E H R E N S , Bd. 16. (Stuttgart 1978) 667 . 3 1 3 Ebd. 316. 3 1 4 Ebd. 314. 315 Ebd. 319. 31 1

Das ästhetische Reflexionsmedium

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und folgerichtig heißt es in Godwi: »Das Romantische selbst ist eine Ueberset­ zung.«316 Der Übersetzer der reinen Kunstwerke »darf bloß die Sprache überset­ zen, so muß sich seine Uebersetzung zu dem Original immer verhalten, wie der Gypsabdruck zu dem Marmor.«317 Eine Übersetzung falle hier vergleichsweise leicht; »obschon sie etwas weiter von uns entfernt sind«, seien sie gerade deswe­ gen auch näher, »weil diese große Feme j edes Medium zwischen ihnen und uns aufhebt, welches sie uns unrein reflektieren könnte.«318 Auch die Werke der rei­ nen Dichter werden also mit der Medienmetapher resp. durch die Metapher vom Fehlen unreiner Medien charakterisiert. Diese Ausführungen zur romantischen Kunst lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Das romantische Kunstwerk reflektiert in besonderer Weise an sich selbst die erkenntnistheoretische Tatsa­ che, »daß die Gegenstände, die Wirklichkeit, nicht etwas einfach Gegebenes sind, sondern immer wieder in Vermittlungen erscheinen [ . ]« und daß »also das Ver­ hältnis von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem in sich fragwürdig und wichtig ist.«3 1 9 Die Medienmetapher und die Erwähnung des Übersetzungspro­ blems unterstreichen diesen Anspruch der romantischen Darstellungen. Zur ne­ gativen Medienmetapher - also zum Bild vom aufgehobenen unreinen Medium stellt sich nun aber die Frage: Wenn alles nur vermittelt erscheint, wieso und auf welche Weise wird dann bei den sogenannten reinen Dichtern jedes unreine Me­ dium aufgehoben? »Wir sind alle gleichweit von ihnen entfernt, und werden alle dasselbe in ihnen lesen, weil sie nur darstellen, ihre Darstellung selbst aber keine Farbe hat, weil sie Gestalt sind.«320 Das Medium der Darstellung läßt den Ge­ genstand ungebrochen passieren und die Dichter selbst treten als solche zurück. Sie werden gewissermaßen identisch mit dessen Gestalt und verändern ihn nicht - wie die romantischen Dichter - durch individuelle Ausgestaltung. Die Me­ dienmetapher wird hier also weiter ausgeführt: Den romantischen Dichtern wird das unreine Medium zugeordnet, den reinen Dichtern dagegen das reine Me­ dium, das deshalb rein ist, weil es - getreu der aristotelischen Definition - keine eigene Farbe hat und so die Farbe des Wahrnehmungsgegenstandes annehmen kann. Wegen dieser Metaphorik bleibt die naheliegende Deutung der fraglichen Aussage, wonach der romantische Dichter durch sein Werk durchscheine und der reine Dichter nicht, unbefriedigend.J21 Zwar ist es richtig, daß in der Konzeption des Romantischen, wie sie in Godwi erläutert wird, der Künstler als Vermitt. .

316

Ebd. 319. Ebd 316 f. 3 1 8 Ebd. 3 1 9 PAU L BöcKM A N N : Die romantische Poesie Brentanos und ihre Grundlagen bei Friedrich Schlegel und Tieck. Ein B eitrag zur Entwicklung der Formensprache der deutschen Romantik . In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1 934/35) 56-176, hier: 1 36. 3 20 C. B R ENTANO: Werke, a.a.O. ( Anm. 312) 316. 3 21 Vgl. H E LGA E N C K E : Bildsymbolik im »Godwi« von Clemens Brentano (Diss. , Köln 1 957) 91 ff. 3 17

.

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Das Medi um der Reflexion

lungsinstanz in den Bereich der Betrachtung tritt.J22 Völlig unberücksichtigt bleibt aber bei einer solchen Sichtweise neben der zentralen Metaphorik bei­ spielsweise auch die Bestimmung der großen Entfernung der reinen Dichtung, von der Maria spricht. Wir schlagen vor, diese große Entfernung vor allem als hi­ storische Kategorie und somit als zeitliche Entfernung zu interpretieren und die hellenische Dichtkunst, die laut FRIEDRICH S C H LEG E L »ein mächtiger Strom der Darstellung«323 gewesen sei, für die Chiffre der reinen und schönen Dichtung einzusetzen. Die Medienmetapher steht dann nicht nur für die Modalitäten des Durchscheinens des romantischen Künstlers durch sein Werk, sondern auch für das Reflexionsmedienmodell in der frühromantischen Konzeption von Kunst­ und Kulturgeschichte. Aus dieser Sicht ist dann in der Rede vom aufgehobenen unreinen Medium H E RD ERS Figur des im allgemeinen Prozeß der Naturvergei­ stigung aufgehobenen und verschwindenden Mediums zu erkennen. Zum weite­ ren Verständnis ist es nützlich, die Beschreibung der Anlage und der Effekte einer romantischen Installation genauer zu lesen. Es handelt sich dabei um ein kunstvoll angelegtes, illuminiertes gläsernes Wasserbecken, das die Gesprächs­ teilnehmer in dem Roman als wahrhaftig romantisches Kunstwerk loben:324 Die Wände eines Saals des Jägerhauses sind mit Gebüschen bemalt und werden vom Sonnenlicht beleuchtet, das durch grüne Glasscheiben an der Decke fällt und von mehreren Spiegeln reflektiert wird. In einem Wasserbecken befinden sich Früchte aus grünem Glas von verschiedener Farbintensität Am Ende des Ge­ sprächs über das Romantische erhellt sich plötzlich der dunkle Saal und »es er­ goß sich ein milder grüner Schein von dem Wasserbecken, das ich beschrieben habe. Sehen Sie, wie romantisch, ganz nach Ihrer Definition. Das grüne Glas ist das Medium der Sonne. «325 Maria bringt sofort den Inhalt des vorausgegangenen Gesprächs und insbesondere Godwis Definition des Romantischen als »Perspec­ tiv« mit dem illuminierten Saal in Verbindung. Im folgenden Kapitel gibt er sei­ ner Überraschung über diese wunderbare Erscheinung Ausdruck: »Dann glühte das ganze Becken in mildem grünem Feuer und die schillemden Tropfen, die zwischen den Früchten hervor drangen, leuchteten und sammelten die verschie­ denen Grade des Feuers in dem Boden des Beckens, das mit grünen Spiegel überzogen die immer gleiche Menge des Wassers mit einer zurückstratenden 3 22

Ebd. 93. FRIED RICH S c H LEG E L : Epochen der Dichtkunst. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von Au­ gust Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel (Dortmund 1989, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1 798) 798. 3 2 4 Dieses romantische Kunstwerk ist allerdings nicht nur eines, das lediglich, wie B E N N O v o N WI E S E i n : Von Lessing bis Grabbe. Studien zur deutschen Klassik und Romantik (Düssel­ dorf 1 968) 246 schreibt, >>stellvertretend für das romantische Kunstwerk [steht)« sondern dar­ über hinaus als Seinssymbol zu verstehen ist. Wir lehnen uns im folgenden an die Interpretation von H . E N C K E an: Bildsymbolik, a.a.O. (Anm. 321 ] 98- 100. 3 25 C . B R E NTAN O : Werke, a.a.O. (Anm. 312) 319. 3 23

Das ästhetische Reflexionsmedium

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Seele belebte, und in dieser brannte das Ganze noch einmal reflektiert. «326 Diese Beschreibung läßt vermuten, daß die Anlage von den Protagonisten als ein Sinn­ bild des Lebens begriffen wird, was durch die weiteren Ausführungen Marias be­ stätigt wird: »Hier ist Ton, Farbe und Form in eine wunderliche Verwirrung ge­ kommen. Man weiß gar nicht was man fühlen soll. Es lebt nicht und ist nicht todt, und es steht auf allen Punkten auf dem Uebergange, und kann nicht fort, es liegt etwas banges, gefesseltes darin. «327 Die Effekte, die das grüne Glasmedium zei­ tigt, sind Übergange zwischen Leben und Tod, gleichzeitig ist es gefangen im Diesseitigen, wo Ton, Farbe und Form in einer bestimmten Weise zusammen­ kommen. Dieses Medium soll also eine Instanz sein, mit deren Hilfe wir eine Ahnung des Jenseitigen und Übersinnlichen bekommen, von dem, was außerhalb unserer augenblicklichen Wahrnehmungsmöglichkeiten liegt. In der illuminierten Anlage steht das Sonnenlicht für dieses Außen, der Saal stellt das Leben und die irdische Welt dar. Godwi bemerkt dazu: »Aufhören wird es bald, wenn sich nur die Sonne wendet. In der Einrichtung liegt das Schöne, daß es mit dem himmli­ schen Lichte in Verbindung steht. Wenn die Sonne sich wendet, verliert es sein Leben und stirbt.«328 Das Kunstwerk wird von den Betrachtern tatsächlich »als Symbol des menschlichen Seins gefasst.«329 Das Jenseitige, »[d]ie Sonne ist das reine, göttliche Licht, das Transcendente, das nur mittels des reinen Gefühls er­ fahren und empfangen wird [ . . . ] . « Für das Diesseits stehen der Saal und das Kunstwerk, in dem das Transzendente nur vermittelt erscheint: »Erst durch die Reflexion im Innern wird sie [die Sonne] der begrenzten, endlichen Welt, hier symbolisiert in der Laube, sichtbar.« Der romantische Künstler führt also im Kunstwerk in besonderer, verdichteter Weise die beiden Sphären zusammen: »Die Kunst, in der die beiden sich scheinbar ausschließenden Welten zusammen­ geführt werden, ist von daher nichts anderes als das Spiegelbild des menschlichen Seins [ . . . ] . « Diese Sicht der Kunst als Sinnbild des Lebens stimmt überein mit der Definition des Poetischen von FRI E D RI C H S C H L E G E L , wonach die Natur selbst schon Poesie ist: Die Natur »aber ist die erste, ursprüngliche [Poesie] , ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben könnte. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Thätigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Theil und Blüthe auch wir sind - die Erde.«330 Demnach verlaufen sowohl die Kunst­ als auch die Naturgeschichte vom Verlust des paradiesischen Ursprungs und der anfänglichen Einheit durch eine lange Phase der Zersplitterung und Ausformung individueller Naturformen bis hin zum Aufscheinen der Möglichkeit einer Wie326 3 27 328 3 29 33 0

Ebd . 320. Ebd. Ebd. 321 . Dieses und die folgenden Zitate aus H . ENCKE: Bildsymbolik, a.a.O. [ Anm. 321 ] 99 f. F. ScH LEGEL: Gespräch über die Poesie. In: Athenäum, a.a.O. (Anm. 323) 789.

Das Medium der Reflexion

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dererlangung der Anfangseinheit durch die Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft. Dieser Ablauf gilt etwa für HERD ERS Natur- und Menschheitsge­ schichte - begriffen als Naturalisierung des Geistes und als Vergeistigung der Na­ tur - genauso wie für die frühromantische Literaturgeschichte: »Die erste Masse hellenischer Dichtkunst, das alte Epos, die Jamben, die Elegie, die festlichen Ge­ sänge und Schauspiele; das ist die Poesie selbst. Alles, was noch folgt, bis auf uns­ re Zeiten, ist Ueberbleibsel, Nachhall, einzelne Ahndung, Annäherung, Rück­ kehr zu j enem höchsten Olymp der Poesie. «33 t Für das Verständnis des in Godwi verwendeten Medienbegriffs bedeutet das: Genauso wie nach der Zersplitterung der Einheit von Geist und Natur in die einzelnen Lebensformen der Schöpfer und der ursprüngliche Zusammenhang allenfalls noch durch die Naturmedien erkennbar werden können, so geben die Kunstwerke in ihrer jeweils individuel­ len Form eine Ahnung von längst vergangenen Zeiten, in denen Natur und Poe­ sie eins waren. Und im Einklang mit den romantischen Naturphilosophen, die den ursprünglichen, göttlichen Zusammenhang von Geist und Natur durch Ex­ periment und Naturbeobachtung benennen und erkennbar machen wollen, for­ muliert S c H LE G E L in seiner romantischen Ästhetik spezifische Erkenntnisan­ sprüche: Alle Kunstwerke zusammen genommen ergeben ihm zufolge eine Ein­ heit, eine neue Mythologie, die den mythologischen Ursprung der Kunst wieder in hellem Licht aufscheinen läßt: »Die neue Mythologie muß [ . ] aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunst­ werke seyn, denn es soll alle andem umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten, ewigen Urquell der Poesie [ . . . ] .«332 Das j eweils einzelne Kunstwerk ermöglicht in diesem Zusammenspiel gerade dank seiner Individualität die An­ näherung an einen übergeordneten Zusammenhang, die allerdings nicht als Rückkehr in einen Naturzustand mißzuverstehen ist, sondern als Bewußtseins­ steigerung und Überführung in einen Zustand, der an Künstlichkeil alle Kunst­ werke übertrifft. Marias These von der Reinheit und Unmittelbarkeit der frühen Dichtungen, die nicht durch ein Medium unrein reflektiert werden, ist nun vor diesem Hintergrund einer frühromantischen Verfalls- und Erlösungsgeschichte der Poesie zu verstehen. Die Aufhebung von einzelnen unreinen Medien in ei­ nem absoluten reinen Medium steht für die - entweder ursprünglich vorhandene oder als Zukunftsperspektive aufscheinende - Möglichkeit der Einheit von Wort, Geist und Natur. Die frühen Dichtungen sind so nahe am »Urquell der Poesie«, sind so sehr Darstellung, in der sich »die Fülle der Erde und der Glanz des Him­ mels freundlich spiegeln«m, daß sie den Nachgeborenen überhaupt nicht als Werke von Künstlerindividuen erkennbar sind. Was im Rückblick als Aufhebung unreiner Medien erscheint, ist nichts anderes als deren ursprüngliches Fehlen. . .

33 1

Ebd. 802. ScH LEGEL: Rede über die Mythologie. In: Athenäum, a.a.O. [Anm. 323] 826. F. S c H LEGEL: Epochen, a.a.O. [ Anm. 323] 798.

332 F. 333

Das ästhetische Reflexionsmedium

1 03

Die Ausdifferenzierung der poetisch-natürlichen Einheit in unreine individuelle Formen ist am Anfang der Literaturgeschichte noch nicht erfolgt, und die einzel­ nen Kunstwerke weisen noch deutlich sichtbare Verbindungen zum Naturganzen auf. Bleibt nur noch zu bemerken, daß auf der anderen Seite - in der Zukunft die unreinen Medien ebenfalls aufgehoben sein werden. Um zu diesem Zustand zu gelangen, ist allerdings eine Erkenntnisanstrengung erforderlich, wie sie von B E N J A M I N beschrieben wird. Die Aufhebung einzelner versprengter und unrei­ ner Medien in einem absoluten Reflexionszusammenhang, also in einem reinen Medium ist eine Aufgabe der romantischen Kunstkritik, die hier synchron mit der romantischen Naturwissenschaft, beispielsweise eines J. W. RITT E R , wirkt.334 Die vereinzelten Kunstwerke sind, so die Quintessenz seiner Überlegungen, un­ reine Medien oder eben partikulare Reflexionszentren, die gemeinsam mit wei­ teren Reflexionen im reinen und absoluten Medium aufgehoben sind. Eschatologie und Utopie sind geeignete Schlagworte für die untersuchten Be­ deutungsaspekte der frühromantischen Medienmetapher. Das Romantische, die Übersetzung und das medium diaphanum stehen in Godwi für den Befund, daß Medien zwar physisch, metaphysisch und ästhetisch vermitteln. Es wird aber ge­ nauso der Blick darauf gelenkt, daß Medien, etwa als Hindernis oder als spezi­ fisch modifizierender Körper, trennend zwischen den Vermittlungspolen stehen. Die Überwindung der Partikularität im Absolutum spielt freilich bei B R ENTA N O wie auch bei NovA u s die Hauptrolle. Unter die Kategorie der Reflexionsmedien fällt auch die Religion, die solche Probleme der Heilsgeschichte und der Ver­ mittlung in besonderem Maße verhandelt. FRI E D R I C H S C H L E I E R M A C H E R folgt in seinen Reden über die Religion zwar der frühromantischen Terminologie und wartet ebenfalls mit dem Reflexionsbegriff auf. Die partikularen Reflexions­ medien werden von ihm aber nicht ohne weiteres als taugliches Vermittlungs­ glied im Absolutum verstanden. Zwar ist auch für ihn das Reflexionsmedium weiterhin die Instanz des Denkens des Denkens, aber in der traurigen und mate­ rialen Form des Buches taugt es indessen, laut S C H LEI E R M AC H E R , eher dazu, die ersehnte Vereinigung im großen Zusammenhang zu verhindern als das Tor zum Absoluten zu öffnen.

33 4 W. B E N JAM I N : Schriften, a.a.O. (Anm. 290] 65 : >>Die Erkenntnis in dem Reflexionsmedi­ um der Kunst ist die Aufgabe der Kunstkritik. Für sie gelten alle diejenige Gesetze, welche all­ gemein für die Gegenstandserkenntnis im Reflexionsmedium bestehen. Die Kritik ist also ge­ genüber dem Kunstwerk dasselbe, was gegenüber dem Naturgegenstand die Beobachtung ist, es sind die gleichen Gesetze, die sich an verschiedenen Gegenständen modifiziert ausprägen.«

Das Medium der Reflexion

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D. D as Reflexionsmedium als Kommunikationsmedium ScH LEIERMACHERs Reden sind ein weiteres prominentes Beispiel dafür, daß mit der romantischen Medienmetaphorik auch der Differenzierungsaspekt hervor­ gehoben wird. In seiner zweiten Rede zeigt Schleiermacher sich von großer Trauer über den Umstand erfüllt, daß man über religiöse Anschauungen einer­ seits und religiöse Gefühle andererseits »nicht anders als getrennt reden kann [ . . . ) .«335 Dabei komme es doch eigentlich gerade darauf an, die Ursprünglichkeit des religiösen Eindrucks zu bewahren: »Nur denkt nicht - dies ist eben einer von den gefährlichsten Irrtümern - daß religiöse Anschauungen und Gefühle auch ursprünglich in der ersten Handlung des Gemüts so abgesondert sein dürfen [ . ] . Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind.«336 Die ursprüngliche Gemütsverfassung stellt sich Schleiermacher so vor: »Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele [ . ] , sie ist in diesem Augenblicke mein Leib [ . . ] . « Allerdings währt die lustvolle Vereinigung nicht lange, denn es braucht nur »die geringste Erschütte­ rung und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt [ . . . ] . « Also endet die erotische Urszene in schamvollem Bewußtwerden: » [Die Gestalt] spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor, und ver­ breitet sich wie die Röte der Scham und der Lust auf seiner Wange. «337 Eben diese Trennung von Anschauung und Gefühl ist aber, wie ScHLEI ERMACHER wohl weiß, die notwendige Bedingung, um über religiöse Erfahrungen überhaupt sprechen oder schreiben zu können: »Aber eine notwendige Reflexion trennt beide, und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurchzugehen.«338 Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Reflexionsmediums wird von ScH LEIERMACHER nicht bestrit­ ten, dennoch ist sein Reflexionsmedienbegriff deutlich von dem abzugrenzen, was WA LTER B ENJAM I N als Position der Frühromantiker herausgearbeitet hat. Wo diese zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis - und somit auch zwischen deren Medien - keinen Unterschied machen, hebt SCH LEIERMACHER die ver­ meintliche Ursprünglichkeit des ersten Wahrnehmungsmoments hervor, die von erkennender Reflexion niemals erreicht werden könne. B ENJAMINs Befund, wo­ nach die Erkenntnis im frühromantischen Verständnis »in gleich hohem Grad . .

. .

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FRIED RICH Scm.EIERMAC II E R : Ü ber die Religion (Hamburg 1 958) 40 f. Ebd. 4 1 . 337 Dieses und die vorangehenden Zitate: ebd. 4 1 f. 338 Ebd. 40. 335

33 6

Das Reflexionsmedium als Kommunikationsmedium

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unmittelbar« sei »als es die Wahrnehmung nur irgend sein kann«339, gilt nicht für S c H LEI E R M A C H E R . Er schreibt Wahrnehmungs- und Erkenntnismedien unter­ schiedliche Vermittlungskräfte zu und erkennt eine Hierarchie, die von der un­ mittelbar lebendigen Rede hinunter zum abgeleiteten und einförmigen Medium der toten B uchstaben verläuft. Ein Blick in die vierte Rede »Über das Gesellige in der Religion« zeigt sehr deutlich, wo S c H L E I E R M A C H E R S Präferenzen liegen. Zunächst hebt er das in der Natur des Menschen - und insbesondere des religiö­ sen Menschen - liegende Kommunikationsbedürfnis hervor: »Wenn also von sei­ ner Natur gedrungen der Religiöse notwendig spricht, so ist es eben diese Natur, die ihm auch Hörer verschafft. «340 Freilich geht es hier nicht um Alltagskommu­ nikation, denn »WO von so heiligen Gegenständen die Rede wäre, würde es mehr Frevel sein als Geschick, auf jede Frage sogleich eine Antwort bereit zu haben, und auf j ede Ansprache eine Gegenrede. « Nein, der religiös Erfüllte »spricht das Universum aus, und im heiligen Schweigen folgt die Gemeine seiner begeisterten Rede.« Diese Rede kommt im Idealfall ohne Worte aus, denn die innerste Bot­ schaft klebt nicht am toten Buchstaben: » [S)o wie eine solche Rede Musik ist auch ohne Gesang und Ton, so ist auch eine Musik unter den Heiligen, die zur Rede wird ohne Worte, zum bestimmtesten verständlichsten Ausdruck des In­ nersten. «34 1 Hier wird mit jedem einzelnen der drei Superlative der lebendige Geist gefeiert, der im fremden Medium des gemeinen Gesprächs oder gar im ab­ tötenden Buch ganz bestimmt nicht zu finden ist. Der Mensch »ist sich bewußt nur einen kleinen Teil von ihr [der Religion] zu umspannen, und was er nicht unmittelbar erreichen kann, will er wenigstens durch ein fremdes Medium wahr­ nehmen. Darum interessiert ihn jede Äußerung derselben, und seine Ergänzung suchend, lauscht er auf jeden Ton den er für den ihrigen erkennt. So organisiert sich gegenseitige Mitteilung, so ist Reden und Hören Jedem gleich unentbehr­ lich. Aber religiöse Mitteilung ist nicht in Büchern zu suchen, wie etwa andere Erkenntnisse und Begriffe. Zuviel geht verloren von dem ursprünglichen Ein­ druck in diesem Medium, worin alles verschluckt wird, was nicht in die einförmi­ gen Buchstaben paßt, in denen es wieder hervorgehen soll, wo Alles einer dop­ pelten und dreifachen Darstellung bedürfte, indem das ursprünglich Darstellen­ de wieder müßte dargestellt werden, und dennoch die Wirkung auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit nur schlecht nachgezeichnet werden könnte durch vervielfältigte Reflexion; nur wenn sie verj agt ist aus der Gesellschaft der Lebendigen, muß sie ihr vielfaches Leben verbergen im toten Buchstaben. «342 Die Parallelen zum frühromantischen Reflexionsbegriff resp. zum Reflexions­ medienbegriff sind offenkundig: Wie das Reflexionsmedium ist auch S c H L E I E R 339

W. B E NJAMI N : Schriften, a.a.O. [Anm. 290) 58. S C H LEIERMAC H E R : Religion, a.a.Ü. [ Anm. 335) 99. Ebd. l OO ff. Ebd. 99 f.

3 40 F. 34 1 342

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Das Medium der Reflexion

fremdes Medium der Ort der vervielfältigten Reflexion, der Ort des Denkens des Denkens des Denkens. Der entscheidende Unterschied in den bei­ den Verwendungsweisen tritt allerdings ebenso deutlich hervor. Der Begriff des Reflexionsmediums bei S C H L E I E R M A C H E R bezieht sich letztendlich nur auf die partikularen Reflexionszentren und nicht auf ein absolutes Seinsmedium. Sein Reflexionsmedium ist eine Instanz der Trennung, des Todes und der Trauer, um seine Metaphern zu gebrauchen. Die im irdischen Leben unaufhebbare Tren­ nung des menschlichen Bewußtseins von der Unmittelbarkeit und Dauer echter religiöser Erfahrung ist für den Theologen S c H LEI E R M A C H E R eine unbestreitbare Tatsache. Gerade deshalb kommt es aus seiner Perspektive darauf an, die irdi­ sche Organisation gegenseitiger Mitteilung einem kritischen Blick zu unterzie­ hen und eine Medienhierarchie zu beschreiben: An erster Stelle steht die ange­ strebte, aber im Diesseits unerreichbare Unmittelbarkeit, dann folgt eine Rede, die auf Worte verzichtet, und am unteren Ende steht das äußerst fragwürdige und redundante Kommunikationsmedium Buch. M AC H E RS

E. Eschatologie und Verdinglichung Die überschäumende Medienmetaphorik, die trotz sprachreformerischer und fremdwortfeindlicher Bemühungen ab dem 18. Jahrhundert in literarischen und philosophischen Texten festzustellen ist, setzt zunächst bei den Terminologien der antiken Aisthesislehre und der neuzeitlichen Dioptrik und Katoptrik an. Nach unseren bisherigen begriffshistorischen Befunden sollte das freilich nicht überraschen, denn schon die Analyse der Refraktionsmedienmetaphern hat ge­ zeigt, wie weit diese Fachsprachen über ihren eigentlichen Bestimmungskreis hinaus wirken. Aber auch ein weniger greifbarer Bedeutungsaspekt des aistheti­ schen Medienbegriffs hat Literatur, Philosophie und (Natur-)Wissenschaft be­ fruchtet. Die spezifischen Eigenschaften des ätherischen Mediums und der Luft, insbesondere die Allsympathie und der raumfüllende Charakter sowie die daraus abgeleitete Funktion der Allvermittlung sorgen für eine Generalisierung des Medienbegriffs, die sich zunächst als Metaphorisierung zeigt. Perfekt und wirk­ lich allumfassend wird die generalisierende Tendenz in der Begriffsentwicklung mit D E S C A RT E S ' Behauptung, daß nicht nur der Raum, sondern auch alle Körper vom Äther durchdrungen seien. Medien sind demnach wirklich überall: im Dies­ seits und im Jenseits, im Mikro- und im Makrokosmos. Und nach H E R D E RS Medienmetaphern muß man hinzufügen: in der dinglichen Welt und in der Vor­ stellung, denn er beschreibt eine Mediensystematik, die bruchlos sämtliche ai­ sthetischen, physiologischen und symbolischen Medialstufen vom simplen Wahr­ nehmungsreiz bis hin zur Begriffsbildung umfaßt. Zur raumfüllenden Eigen­ schaft tritt eine damit verknüpfte Funktionalität des Mediums, denn wenn Medien Körper und Raum durchdringen, können sie nicht nur passive Umwelt

Eschatologie und Verdinglichung

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aktiven Lebens sein - sie haben bestimmte Aufgaben und bewirken etwas. Sie sind einerseits das passive, raumfüllende Element, andererseits vermitteln sie ak­ tiv zu höheren Seins- und Erkenntnisstufen. Im Rahmen einer solchen Progressi­ on bleibt die vermittelnde Instanz nicht gleich - sie transformiert sich und geht in der übergeordneten Medialstufe auf. Weil aber im Rahmen dieser Dialektik Transzendenz zwar behauptet, aber nicht wirklich eingelöst wird, mithin also Medien immer nur zu anderen, übergeordneten Medien führen können, ist der neue Begriffsaspekt der Medienimmanenz von Bedeutung. Der Milieuaspekt, den L E o S PITZ E R bereits betont hat, muß im Hinblick auf diesen Befund spezifi­ ziert werden, weil in einem Medium gleichzeitig passive und aktive Momente aufgehoben sein können, so daß die Vermittlung den Vermittlungsvorgang als solchen nicht transzendiert, sondern in eine neue Vermittlungssituation führt.343 Die jeweils neue Situation mag zwar qualitativ oder hierarchisch bestimmt sein, einen Ausweg aus Vermittlungsvorgängen im allgemeinen stellt sie nicht dar. Die Einheit des aktiven und passiven Moments finden wir auch im Reflexions­ medienbegriff der frühromantischen Autoren. Medienimmanenz ist aber nicht gleichzusetzen mit Leerlauf und Stillstand, sondern weist auf die mediale Be­ dingtheit jeder Wahrnehmung und Erkenntnis hin. Diese wichtige Lehre, die wir aus den frühromantischen Verwendungsweisen des Medienbegriffs ziehen, wird durch S c H L E I E R M A C H E R S Option nicht wirklich in Frage gestellt. Er stellt zwar den Reflexionsmedienbegriff der Frühromantiker in Frage, indem er das Absolu­ tum vollständig ins Jenseits verlegt und die partikularen, diesseitigen Reflexions­ zentren mit dem Bannfluch des Sekundären, Abgeleiteten und dauerhaft Parti­ kularen belegt und das Buch als ein Beispiel für ein verdinglichtes Reflexions­ medium nennt. In dieser Gestalt wird nun das partikulare Reflexionszentrum nicht mehr als Erkenntnismedium begriffen, sondern nur noch als bloßes Kam­ munikationsmedium und Ort der - zumindest im Hinblick auf das Jenseits und auf die absolute religiöse Erfahrung - folgenlosen Vervielfältigung von Reflexio­ nen. Dennoch gilt in dieser Welt auch für S c H L E I E R M A C H E R der Befund, daß Wahrnehmungen und Erkenntnisse ohne Medien nicht zu haben sind. Die Me­ dienmetaphorik im 18. und frühen 19. Jahrhundert hat also den Medienbegriff um einige Bedeutungsvarianten erweitert. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wer­ den sich weitere komplexe Verschiebungen in der Bedeutungsstruktur von Me­ dium ereignen, die vor allem den Okkultismus, die Seelenkunde resp. die frühe Psychiatrie und die Physik betreffen.

34 3 L .

SPITZER: Milieu, a.a.O. [Anm. 1 8 ] 179-245 . S PITZER hat zwar auch den Funktionali­ tätsaspekt des Medienbegri ffs im Unterschied zum Milieubegriff hervorgehoben, aber nicht die Gleichzeitigkeit aktiver und passiver Elemente im Medienbegriff.

V III. H A R M O N I E U N D U N T E R D R Ü C K U N G . D I E WA N D L U N G E N D E S M E D I E N B E G R I F F S I M M E S M E RI S M U S U N D I M S P I R IT U A L I S TI S C H E N MAG N ETI S M U S

Wollte man die Geschichte des Medienbegriffs i n große Abschnitte unterteilen und die Bedeutungserweiterungen nach groben Entwicklungsrichtungen kate­ gorisieren, so könnte man, wie schon im vorangehenden Kapitel, die Zeit des 18. Jahrhunderts als eine begriffshistorische Epoche beschreiben, während der vor allem an der Metaphorisierung der aisthetischen Medienterminologie ge­ arbeitet wird. Im weiteren Gang der Analyse wird sich demgegenüber für das 19. Jahrhundert ein Hang zur erneuten Terminologisierung von Medium fest­ stellen lassen. Die drei terminologischen Verwendungsweisen, um die es uns hier geht, sind auf eine interessante Weise miteinander verknüpft. In zwei Verwen­ dungsbereichen erfährt der Medienbegriff eine terminologische Bedeutungsver­ engung: Im Mesmerismus und wenig später in der Physik wird der Äthermedien­ begriff aufgegeben und die spiritualistische Schule des Mesmerismus betont die psychischen Beziehungen zwischen dem Magnetiseur und den Magnetisierten sie distanziert sich damit vom physischen Medienverständnis der traditionellen Mesmeristen. Der physikalische Medienbegriff wird im Zusammenhang mit der Feldtheorie vom Dingbegriff zum Relationsbegriff umdefiniert. Die Betonung des Relationalen in beiden Bereichen - im Mesmerismus und in der Physik führt deshalb zu einer Bedeutungsverengung, weil der materiale Aspekt des Me­ diums nicht mehr Bestandteil der Begriffsdefinition ist. So werden die Aspekte der Instrumentalität und der Transzendenz im Medienbegriff durch die analy­ tisch-begriffliche Trennung von dem materialen Aspekt erst in aller Deutlichkeit erkennbar. Weil aber offensichtlich die begriffliche Scheidung der Instrumentali­ tät von der Ding- oder Körpervorstellung nicht einfach aus- und durchzuhalten ist, taucht denn auch im dritten Verwendungsbereich, im Okkultismus resp. im Spiritismus, einige Jahre nach dieser Entwicklung der Medienbegriff in der Vari­ ante des Menschmediums wieder auf. In der Esoterik legt man auf Transzendenz und Instrumentalität noch großen Wert und da man nun nicht mehr auf ätheri­ sche raumfüllende Medien zurückgreifen kann, wie es noch der magnetische Arzt tat, muß die okkult handelnde Person selbst als Vermittler herhalten - mit allen Konsequenzen der instrumentellen und transzendenten Medialität. Auch ein bestimmter technischer Medienbegriff, der in der Tradition des medium dia­ phanum steht, bleibt erhalten. In einer Zeitspanne von ungefähr fünfzig Jahren unterliegt also der Medienbegriff einem erstaunlichen Bedeutungswandel. Unse­ re Aufgabe ist es nun, dieses neue Bedeutungsfeld zu beschreiben und die neuen begrifflichen Dimensionen und Potentiale herauszustellen.

Fluidummedium und Geschichte des Mesmerismus

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A . Das Fluidummedium und die Geschichte des Mesmerismus Grundsätzlich greift die Lehre vom Heilmagnetismus, vor allem in ihrer mesme­ ristischen Ausprägung, auf den alten Begriff des Äthermediums resp. des raum­ füllenden Mediums zurück. Sie nimmt also an, daß die Magnetkraft nach dem Modell der mechanischen Einwirkung auf Körper und Korpuskeln übertragen wird. Und weil nach diesem Modell das feinstoffliche Medium das gesamte Uni­ versum ausfüllt und als matiere tres subtile auch die festen Körpergrenzen durch­ dringt, kann die heilende Kraft problemlos zum Ort der Krankheit kommen. So­ weit sind die älteren Vorstellungen universell wirkender Kräfte und die mesmeri­ stische Theorie identisch. Neu am animalischen Magnetismus ist die Bewertung des Arztes oder Magnetiseurs, der gewissermaßen als Akkumulator betrachtet wird. Erst durch ihn wird die Magnetkraft therapeutisch wirksam, weil er die im Universum zerstreute Kraft zu Heilzwecken bündelt, eventuell zusätzliche mate­ rielle Akkumulatoren benutzt und sie dem Patienten in therapeutisch wirksamen Dosen zuführt. Noch wichtiger als im ursprünglichen Mesmerismus ist der Ma­ gnetiseur in der sogenannten spiritualistischen Schule. Hier geht man nicht so sehr von einer mechanischen Wirkung im feinstoffliehen Medium aus, sondern hauptsächlich von psychischen Relationen und Abhängigkeiten. Wir haben es dementsprechend mit zwei unterschiedlichen Medienbegriffen zu tun, je nach­ dem, ob der Magnetiseur den Magnetismus hauptsächlich als Heilmittel sieht, und also das magnetische Fluidum ein Medium therapeutischer Wirkungen dar­ stellt, oder ob er aufgrund einer psychischen Beeinflussung »den Magnetisierten als Medium« benutzt, »das Einblick in Gottes und der Welt Geheimnisse gewähr­ te«.344 FR A N Z A N T O N M E S M E R führt 1774 zum ersten Mal eine Behandlung mit therapeutischen Stahlmagneten durch.345 Er läßt eine nervenkranke Patientin ein eisenhaltiges Präparat einnehmen und befestigt eigens für diese Behandlung an­ gefertigte Magneten an ihrem Körper. Daraufhin fühlt die Patientin, wie innere Ströme in ihrem Körper die Beschwerden gewissermaßen wegschwemmen. H E N RY F. E L L E N D E R G E R schreibt dazu in seiner Geschichte der dynamischen Psychiatrie: »Mesmer begriff, daß diese Wirkungen auf die Patientin unmöglich durch die Magneten allein hervorgerufen worden sein konnten, sondern von ei­ nem >wesentlich anderen Agens< ausgehen mußten; d. h. daß diese magnetischen Ströme in seiner Patientin durch ein Fluidum hervorgerufen wurden, das sich in seiner eigenen Person akkumuliert hatte; er nannte es >thierischen Magnetis­ mus>Mittlerin der Gnade« im: Marienlexikon, hg. von R E M I G l U S B Ä u M E R I LEo S C H E FF C Z Y K . Bd. 4 (St. Ottilien 1 992) : >> Aufgrund der hypostatischen Union ist Christus in sei­ nem Erlösungshandeln die Totalursache des Heils. Auf Grund seiner Gottheit ist er das einzige Subj ekt des göttlichen Heilwirkens, aber in seiner menschlichen Natur, die er von seiner Mutter Maria empfangen hat, ist er das von Gott angenommene kreatürliche Medium, wodurch die Menschen in die Einheit mit Gott vermittelt werden.« Eine der Bedeutungen des Substantivs Medium im Lateinischen lautet bereits Mittelsmann; es kann also mit gutem Recht vermutet werden, daß die Bedeutungsexpansion in den Bereich des Jenseitigen schon in der römischen Antike stattgefunden hat. 424 Untersucht man den Komplex aus einer onomasiologischen Perspektive, wird man natür­ lich noch weitere Medien im Christentum finden. J. HöRISCH beispielsweise spricht in einer mo­ tivgesehichtlichen Untersuchung - Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls (Frankfurt/M. 1 992) - von der medialen Funktion der Transsubstantiation. 422

Das spiritistische Medium

133

tungsreihe bewies, daß diese in geheimnisvoller Weise hier intermittierend eine fremde Maschine beeinflussenden >psychischen Existenzen< durchweg Seelen verstorbener Menschen seien. Ferner: diese Geister übten Wirkungen eigentüm­ lichster Art auch innerhalb des physischen Gebietes und des Beobachtergehirnes aus, welche die gewöhnliche Herrin des betreffenden weiblichen Gehirnes nie­ mals zustande gebracht hätte [ . . . ] .«425 Diese Wirkungen seien erstens »mechani­ sche Leistungen« des Mediums selbst und zweitens »Halluzinationen im Gehirne des Beobachters, die gelegentlich das Bild des bekannten Mediums thatsächlich in das Bild einer längst verstorbenen, geistig aber momentan in dem Medium mächtigen Persönlichkeit verwandelten.«426 In der Literatur der Gegner und der Anhänger des Spiritismus werden die Anforderungen an ein Medium und dessen Funktion in der spiritistischen Seance noch genauer geschrieben. Folgende Me­ dieneigenschaften werden dort immer wieder genannt: »Spiritistische Phänomene sind eine Teilklasse der >okkulten Phänomenekulturellen Wissens< als unmög­ lich und wissenschaftlich unerklärbar gelten bzw. interpretiert werden, 7. wobei nur eine begrenzte Teilmenge der okkulten Phänomene vorkommt. «427 Das Me­ dium im spiritistischen Kontext ist eine Person, deren »Existenz die Möglichkeit für die Manifestation einer subj ektexternen Kraft (eines Geistes) schafft, aber an der Manifestation selbst in keiner Weise mitwirkt.«428 Genauer gesagt: das Medi­ um darf an der psychischen Seite der Hervorbringung des Phänomens nur passiv und keinesfalls aktiv beteiligt sein. Diese Bestimmung, die den Betrug ausschlie­ ßen soll, wird freilich durch andere Regeln konterkariert, die den Betrug wieder­ um erleichtern. So werden die Bedingungen, unter denen die Seance stattfinden soll, vom Medium selbst diktiert: Die Sitzungen finden üblicherweise bei stark reduzierter Beleuchtung statt, und häufig befindet sich das Medium, für das Pu­ blikum unsichtbar, hinter einem Vorhang, und schließlich fühlen sich naturgemäß alle Medien durch kritisch-distanzierte Teilnehmer und Beobachter gestört. 429 Die spiritistischen Phänomene widersprechen regelmäßig dem alltäglichen und dem naturwissenschaftlichen Wissen über die Realität. Es sind undefinierbare Geräusche zu hören, unerklärliche Berührungen zu fühlen, Gegenstände ver­ schwinden oder materialisieren sich, sie werden von unsichtbarer Hand bewegt, angehoben oder apportiert.430 Versucht man eine Klassifizierung der Phänome425 W. B ö L S C H E : 4 26 Ebd. 1 80. 4 27 4 28 42 9 430

Mittagsgöttin. B d 2, a.a.O. [Anm. 418] 179. .

M. W ü N S C H : Fantastische Literatur, a.a.O. [Anm. 417] 86. Ebd. 87. Ebd. 88. Ebd. 90 f.

134

Spiritistische Medien

ne, die durch das Medium hervorgebracht werden, so ergibt sich eine Klasse phy­ sikalischer Erscheinungen, die amorphe Materialisationen und vor allem feste Gegenstände betreffen. Eine zweite Klasse von Phänomenen besteht aus zei­ chenhaften Kommunikationen mit j enseitigen, intelligenten Wesen durch Klopf­ geräusche, Bewegungen, durch Schreiben durch die Hand des Mediums (die so­ genannte automatische Schrift) oder durch Reden durch den Mund des Medi­ ums. Zu dieser Phänomenklasse gehört auch die mündliche oder schriftliche Präsentation von Wissen unerklärlicher Herkunft durch das Medium, wie bei­ spielsweise das Hellsehen und das Gedankenlesen.43 t Fast alle der genannten Medienleistungen kommen auch in B ö LSCHES Roman vor. Die den meisten die­ ser Erscheinungen zugrundeliegende Bestimmung, daß nämlich die vom Medium hervorgebrachten Phänomene eine Kommunikation des Mediums mit dem Jen­ seits darstellten, wird schon von einem Beteiligten der ersten Seance mit einem männlichen Medium schnell durchschaut. Der Gastgeber der Seance, bei der das Medium gefesselt hinter einem Vorhang sitzt und eine Geisterscheinung vor dem Vorhang bewirken soll, ist in die geplante Entlarvung des mutmaßlichen Betrü­ gers eingeweiht und stimmt Wilhelm auf den Nachweis der ernüchternden Tran­ szendenzlosigkeit des spiritistischen Mediums ein: »Das heraustretende Gespenst ist das Medium und immer nur das Medium. «432 Diese Einschätzung, daß näm­ lich das Medium identisch mit seiner Botschaft ist, wird sich denn auch als völlig korrekt herausstellen. Der Begriff des spiritistischen Mediums ist also untrenn­ bar mit dem Phänomen der transzendenten Kommunikation verknüpft. D as au­ tomatische Reden und die automatische Schrift können dabei sowohl einseitige (spontane Mitteilungen aus dem Jenseits durch das Medium) als auch zweiseitige (Antworten aus dem Jenseits auf Fragen des Publikums, die durch das Medium übermittelt werden) Kommunikationen sein. Das übliche Frage-und-Antwort­ Spiel beim Tisch- oder Glasrücken ist eindeutig eine gegenseitige Kommunikati­ onsform. Aber auch das Gedankenlesen, das Hellsehen und die übrigen oben genannten zeichenhaften Phänomene haben üblicherweise Mitteilungscharakter. Bei den Materialisationen ist das allerdings nicht immer der Fall.

C. Gemeinsame Asp ekte der Begriffsentwicklung im Spiritismus,

im Mesmerismus und in der Physik Die Berührungspunkte der terminologischen Verwendungsweisen des 19. Jahr­ hunderts sind nun offenkundig. Zwar wird das frühere Basiskonzept, das die theoretische Zusammenführung von sinnlicher und übersinnlicher Wahrneh­ mung ermöglichte - also das Konzept einer mechanisch vermittelten Nahwirkung 43 1

Ebd. 91 ff.

43 2 W. B ö L S C H E :

Mittagsgöttin. Bd. 1 , a.a.O. ( Anm. 418] 55.

Gemeinsame Aspekte der Begriffsentwicklung

135

- aufgegeben: zuerst in der Seelenkunde ( also im Mesmerismus ) und einige Jahr­ zehnte später in der Physik. Aber gerade diese disziplinenübergreifende, denk­ geschichtliche Umwälzung erlaubt es, die Medienbegriffe in den beiden so unter­ schiedlichen Gebieten weiterhin zu vergleichen, denn der Paradigmenwechsel, in dessen Verlauf die Imponderabilien- und Fluidummodelle verschwinden, verläuft nahezu synchron in beiden Bereichen und verweist durch diese Gleichzeitigkeit auf eine enge, wenn auch nicht kausale Verbindung. Von besonderer erkennt­ nistheoretischer Bedeutung ist dabei nach der Verdrängung der alten Sub­ stanztheorie der neue Feldbegriff. Ein Feld im physikalischen Sinne läßt sich nicht mehr als ein »bloß summatives Ganzes, als ein Aggregat von Teilen auffas­ sen [ . . . ]. Das Feld ist kein Dingbegriff, sondern ein Relationsbegriff; es setzt sich nicht aus Stücken zusammen, sondern ist ein System, ein Inbegriff von Kraftlini­ en.«433 Der Begriff des Mediums kommt ganz folgerichtig durch diese Entwick­ lung in Bedrängnis, war er doch über Jahrhunderte hinweg mit eben der Vor­ stellung einer grobstofflich-partikularen oder einer feinstofflich-universalen Vermittlung von Wirkungen verknüpft. Daß der Medienbegriff im Spiritismus und in der physikalischen Feldtheorie nun die oben skizzierten, einschneidenden Bedeutungsverengungen erleidet, ist die Folge des allgemeinen erkenntnistheo­ retischen Umbruchs. Dieses Ereignis markiert die vorläufige Endstation einer langen gemeinsamen Karriere, denn von nun an trennen sich die Wege der bei­ den Medienbegriffe. Anders als in der Feldphysik gelingt in der Parapsychologie der experimentelle Nachweis natürlich nicht, daß die Wirkungsvermittlung ohne stoffliche Basis funktioniert. Das Medium der Physik ist leer von Materie, nicht aber frei von Kräften.434 Das Medium des Spiritismus - der entsprechend dispo­ nierte Mensch - ist dagegen Materie und vermittelt Kräfte. Es scheint nichts da­ gegen zu sprechen, bei diesem Befund zu bleiben. Der gewissermaßen entleerte Medienbegriff in der Physik wird zu einem Relationsbegriff, wohingegen der spi­ ritistische Medienbegriff ein Dingbegriff bleibt. Unberücksichtigt bei einer sol­ chen Einschätzung bleibt allerdings, daß ja auch die Parapsychologie das Flui­ dummodell abgeschafft hat, das heißt also: auch ihre alten Medien - der Äther, die Fluida - sind gewissermaßen frei von Materie. Wir haben diesen Parallelis­ mus der Medienbegriffsentwicklung in den beiden scheinbar so disparaten Be­ reichen bereits ausführlich gewürdigt. Der Spiritismus hat in der Vermittlungs­ kette lediglich ein neues Medium eingeschoben, eben den Menschen. Es sei hier nur daran erinnert, daß beispielsweise bei PA R A C E L s u s oder bei K I R C H E R fein­ stoffliche Materie und der Mensch gleichermaßen unter dem Medienbegriff sub­ sumiert werden. In der Parapsychologie bleiben hier also lediglich alte Bedeu­ tungsvarianten übrig, die immer schon neben dem Fluidummedium existierten. Der Spiritismus legt dabei grundsätzlich ein religiöses Vermittlungsmodell neu 433 E. CA S S I R E R :

Formproblem, a.a.O. [Anm. 390) 92. [Anm. 398) 31 1 .

4 3 4 J . AGA S S I : Faraday, a.a.O.

1 36

Spiritistische Medien

auf: Transzendente Mitteilungen können über Propheten, Priester und andere Boten empfangen werden oder aber über Gottmenschen, wozu beispielsweise die Engel oder Gottes Sohn gehören. Jeder dieser Boten nimmt qua Herkunft, Begabung oder Ausbildung eine Mittelstellung zwischen den zu vermittelnden Polen ein und ist dadurch für die Aufgabe der Jenseitskommunikation prädesti­ niert. Man könnte nun einwenden, daß die Physik mit solchen mythisch­ vorwissenschaftliehen Vorstellungen sowieso nichts zu schaffen, mit der Feld­ theorie auch das Substanzdenken vollständig hinter sich gelassen habe und daher keine Vermittlungskörper mehr brauche. Für die theoretische Physik des 19. und 20. Jahrhunderts ist das auch ein korrekter Befund. Aber wir behaupten dennoch einen weitergehenden, medienbegrifflichen Synchronismus, denn in den eher technisch orientierten physikalischen Disziplinen, wie etwa der Optik, hat der materiale Medienbegriff weiterhin Bestand. In der Wahrnehmungstechnik ist der Begriff des Fluidummediums zwar abgeschafft worden, aber man spricht weiter­ hin von der Glaslinse als einem Medium. Wenn wir diese begriffshistorische Ko­ inzidenz im Spiritismus und in der Physik als gegeben hinnehmen, können wir uns mindestens zwei Fragen stellen. Die erste Frage wäre dann die nach dem Verbleib der unterdrückten Bedeutungsaspekte, die mit dem Fluidummedium zusammenhängen. Gehen sie mit dem Äthermedium unter oder sucht sich das Wort Medium neue Referenten für dieses Bedeutungsfeld? Die zweite Frage zielte auf einen noch näher zu bestimmenden Konnex zwischen den beiden übrig gebliebenen okkultistisch-spiritistischen und physikalischen Verwendungsweisen. Haben sich diese beiden Medienbegriffe lediglich im Zuge einer denkgeschicht­ lichen Paradigmenverschiebung für eine gewisse Zeit parallel bewegt? Sind sie darüber hinaus völlig disparat? Auch auf diese Fragen vermag eine Verwen­ dungsweise E.T. A HoFFMA NNs vielschichtige literarische Antworten zu geben.

XI . M E N S C H L I C H E S U N D T E C H N I S C H E S M E D I U M

I n den bisher erwähnten Erzählungen E.T. A . H o F F M A N N S, i n denen mesmeristi­ sche Motive aufgegriffen werden, bereitete die Verwendungsweise von Medium hinsichtlich der Referenz des Ausdrucks kaum Schwierigkeiten. Im Magnetiseur ist eindeutig von Fluidummedien und von physischen Medien die Rede, und im Sanctus taucht mit dem reisenden Enthusiasten ein selbsterklärtes magnetisches Menschmedium auf. Der Ausdruck Medium in Die Automate bleibt dagegen merkwürdig unbestimmt. Ein sogenannter sprechender Türke, ein Sprachauto­ mat, der zunächst nichts anderes als eine der im frühen 19. Jahrhundert üblichen Jahrmarktattraktionen zu sein scheint, zieht mit seinen Orakelsprüchen Neugie­ rige in großer Zahl an.435 Die Antworten der orientalisch bekleideten, lebens­ großen Puppe auf die Fragen der Besucher zeugen »von einem tiefen Blick in die Individualität des Fragenden« und sind »bald ziemlich grob spaßhaft und dann wieder voll Geist und Scharfsinn und wunderbarerweise bis zum Schmerzhaften treffend [ . . . ] . «436 Beim Sprechen entströmt dem Mund »der wunderlichen leben­ digtoten Figur« sogar ein Lufthauch. Weil nun aber kein Automat von sich aus sinnvoll sprechen kann, so die Überlegung der Skeptiker, scheint »die Rückwir­ kung eines denkenden Wesens unerläßlich.« Wie aber die Verbindung zu einem solchen Wesen hergestellt wird, und um was für ein Wesen es sich überhaupt handeln könnte, darüber herrscht allgemeine Unklarheit: »Man erschöpfte sich in Vermutungen über das Medium der wunderbaren Mitteilung, man untersuchte Wände, Nebenzimmer, Gerät, alles vergebens.«437 Die gründliche Prüfung der Figur, ihrer Mechanik und ihres unmittelbaren Umfelds bringt keine Aufklärung des Wunders. Es wird aber zumindest klar, daß sich im Innern der Figur unmög­ lich ein auch noch so kleiner Mensch verstecken kann, und das mit Brillen und Lupen peinlich genau untersuchte Räderwerk hat offensichtlich keinen Einfluß auf das Sprechen des Automaten. Der bisher beschriebene Bedeutungswandel, der vom Fluidummedium wegführt, ist auch in Die Automate festzustellen - un435

Vorbilder für diese Figur sind die Kempelschen Automaten. Vgl. PETER G E N DO L L A : Anatomien der Puppe. Zur Geschichte des Maschinenmenschen bei Jean Paul, E.T.A. Hoff­ mann, Villiers de l'lsle-Adam und Hans B ellmer ( Heidelberg 1 992) 153: >>Als unmittelbare Vor­ bilder des Türken der Erzählung müßten deshalb wohl eher der schachspielende Türke und die Sprachmaschine Wol fgang von Kempelens genannt werden [ . . . ] . Der Türke war kein echter Au­ tomat, wie bereits die Zeitgenossen Hoffmanns vermuteten. Poe hat später versucht, diese Täu­ schung auf rein logischem Weg nachzuweisen. Tatsächlich lenkte ein in der Apparatur verborge­ ner Zwerg die Schachfiguren. Hoffmanns Türke bildet die Synthese der beiden realen Automa­ ten, der Schachspieler wird mit Sprachkompetenz ausgestattet.« 43 6 E . T. A . H O F F M A N N : Werke. Bd. 4, a.a.O. ( Anm . 364] 397. 437 Ebd. 398 .

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Menschliches und technisches Medium

geachtet der Unklarheit über die genaue Beschaffenheit und den Umfang des Mediendispositivs. Es ist nämlich ausgeschlossen, daß mit Medium hier ein Flui­ dum gemeint ist, denn nach diesem sucht man schließlich nicht, man setzt viel­ mehr voraus, daß es der Sinneswahrnehmung nicht zugänglich und außerdem ohnehin per definitionem allgegenwärtig ist. Aber wonach sucht man dann? Wer Vermutungen über das Medium der wunderbaren Mitteilung anstellt, und Wän­ de, Nebenzimmer, Gerät untersucht, begreift offensichtlich den Sprachautomaten nicht als das ganze Medium. Wir akzeptieren diese semantische Unschärfe im zi­ tierten Satz und definieren das »Medium der wunderbaren Mitteilung« als einen Komplex, der aus dem sinnlich wahrnehmbaren Sprachautomaten und aus einem oder mehreren zusätzlichen Elementen besteht, die den Sinnen nicht unmittelbar zugänglich sind. Beispielsweise also aus dem Türken und einem ominösen »den­ kenden Wesen«, das als Medium wiederum einem anderen denkenden Wesen unterworfen sein soll. Im Verlauf der Erzählung ist einmal die Rede davon, daß die Figur des Automaten lediglich die täuschende >>Form der Mitteilung« dar­ stelle, hinter der sich ein »antwortendes Wesen« verberge, dem es möglich sei, »sich durch uns unbekannte Mittel einen psychischen Einfluß auf uns zu ver­ schaffen ( . . . ] .«438 Ein solches Medienverständnis findet sich schon im Sanctus, wo der reisende Enthusiast davon spricht, daß er einer unbekannten, psychischen Macht als Medium des Einwirkens auf die Sängetin Bettina gedient habe - das Medium ist dort allerdings eine untrennbare Einheit aus der Psyche des Enthu­ siasten und seinem Sprechwerkzeug. In der Automatenerzählung macht es sich H o F FM A N N mit dem Medium nicht so einfach. Hier geht es ihm um eine noch genauere Auslotung der Bedeutung von Medium. Er trennt bestimmte begriff­ liche Aspekte, indem er den Referenzbereich des Ausdrucks offen läßt und so anfänglich mindestens zwei, später sogar drei Vermittlungsinstanzen vage ins Spiel bringt. Dabei bezieht er sich durchaus auch auf die mesmeristische Traditi­ on des Terminus, wie wir im folgenden sehen werden. Besteht aber überhaupt ei­ ne magnetische Verbindung zwischen den Protagonisten dieser Erzählung? Eini­ ge Aussagen deuten dies tatsächlich an.439 Betrachten wir zunächst die einiger­ maßen komplexe Kommunikationsverbindung. Sie führt von Ferdinand, der dem Orakel eine verhängnisvolle Frage gestellt hat, über den Sprachautomaten zu ei­ nem geheimnisumwitterten Professor der Physik und der Chemie, der sich aber auch auf magische Künste versteht. Zwischen diesen beiden sowie einer unbe­ kannten Sängerin, die sich vermutlich in der Gewalt des Professors befindet, wird von Ludwig, einem Freund Ferdinands, ein psychischer Rapport, also eine spiri­ tuelle Abhängigkeit, vermutet. Die Verbindung werde durch die Frage Ferdi­ nands an den Türken hergestellt, der von dem Orakelautomaten wissen will, ob 43 8 439

Vgl. J.

Ebd. 414 f. Auch in der Forschungsliteratur zum Mesmerismus wird die Erzählung so interpretiert. B A R K H O FF : Magnetische Fiktionen, a.a.O. ! Anm. 352] 204 (.

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er jemals eine bestimmte junge Frau wiedersehen werde, die ihm einmal in einem Gasthof aufgefallen sei. Er habe sie damals abends, im benachbarten Zimmer, ein bezauberndes Lied singen hören. Im Traum dieser Nacht habe das Mädchen sein Zimmer betreten, und er sei der Meinung gewesen, eine schon immer gelieb­ te Frau in ihr erkannt zu haben. Am nächsten Morgen sei ihm klar gewesen, daß er das Mädchen aus dem Traum noch nie zuvor gesehen hatte. Wenig später habe er aber die Sängerio aus seinem Traum in einer Kutsche in natura davonfahren sehen. Ferdinand malte sich daraufhin eine Miniatur und befestigte das Bild in einem Medaillon, das er von da an verborgen auf seiner Brust trägt. Der Türke richtet nun seinen Blick auf genau dieses Medaillon und weissagt daraufhin in bester Orakelmanier, daß Ferdinand diese Frau im Moment des Wiedersehens verlieren werde, was im übrigen am Ende auch tatsächlich geschieht, denn das Wiedersehen findet während der Hochzeit der Sängerio statt. Erschrocken macht sich Ferdinand mit Ludwig auf, das Rätsel des Sprachautomaten zu erkunden und erfährt, daß die geist- und sinnvollen Antworten des sprechenden Türken mit ziemlicher Sicherheit das Ergebnis einer Manipulation durch den Professor sind. Dieser hat den ausstellenden Künstler davon überzeugen können, die Figur zwei Wochen lang unter Verschluß zu halten, um sie verändern zu können. Als die Freunde wenig später, nach einer Besichtigung der Musikautomatensamm­ lung des Professors, außerhalb der Stadt an einem Garten vorbeilaufen, hören sie die Stimme der Sängerin, und sie singt genau dasselbe Lied, das Ferdinand da­ mals im Gasthof so entzückt hat. Zu sehen ist die Sängerio allerdings nicht, in dem Garten steht aber deutlich erkennbar der entrückt zum Himmel blickende Professor. Ludwig mutmaßt daher gegenüber Ferdinand, »daß der Professor in dein Leben oder, besser gesagt, in das geheimnisvolle psychische Verhältnis, in dem du mit jenem unbekannten weiblichen Wesen stehst, eingreift. Vielleicht verstärkt er selbst wider seinen Willen, als feindliches Prinzip darin verflochten und dagegen ankämpfend, den Rapport [ . . ].«440 Ludwigs Einschätzung der Kon­ stellation als Rapport, die magisch-magnetischen Operationen des Professors an der Maschine und die offensichtliche Verbindung zwischen ihm und der Sängerio deuten auf eine mesmeristische Konstellation hin, wie sie auch schon im Magne­ tiseur beschrieben wird, mit dem Unterschied, daß dort das physische Medium eher eine Nebenrolle spielt. Die Heilung Maries und vor allem ihre Unterwer­ fung durch Alban sind die dominierenden Themen im Magnetiseur, in der Auto­ matenerzählung verhält es sich genau umgekehrt. Der Magnetiseur und die von ihm angeblich magnetisch beeinflußte Frau verbleiben als Protagonisten eher im Hintergrund, dagegen steht der zum Orakel umfunktionierte Sprachautomat als das physische Medium des Professors im Mittelpunkt des Interesses. Schauen wir uns nun die Medienelemente genauer an: Wir haben einen Sprachautomaten, ei­ ne geheimnisvolle Sängerio und einen nicht minder geheimnisvollen Professor. .

440 E . T. A . H O F F M A N N :

Werke. Bd. 4, a.a.O. [ Anm. 364] 426.

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Wer ist denn nun das sogenannte denkende Wesen, das ja auch irgendwie Be­ standteil des Mediums der wunderbaren Mitteilung sein soll? Vielleicht ist es j a die rätselhafte S ängerin, die vom Professor zum Medium gemacht wurde. Wenn es sie gibt, dann hätte er sie genauso unterworfen, wie er den Türken für seine Zwecke manipuliert hat. Ob die Sängerin wirklich existiert, darf allerdings be­ zweifelt werden. Im Garten des Professors und im Gasthof war sie schließlich nur zu hören, und das Vernehmen von Sprache und Gesang ist, wie wir eben seit der Automatenerzählung und der Erfindung der sprechenden Automaten wissen, kein untrügliches Zeichen mehr dafür, daß ein Mensch in der Nähe ist. Ferdinand meint zwar, zweimal eine Frau gesehen zu haben, die er für die Sängerin hält, aber der einzige Beweis, den er für seine Behauptung vorbringen kann, ist die Erscheinung der Sängetin im Traum. Daß nun gerade im Traum - und nur dort Erscheinung und Stimme der Sängerin als Einheit auftauchen, deutet auf die ver­ schlungene Motivschichtung in dieser Erzählung hin. Die beschriebene Aufspal­ tung des Menschmedienbegriffs in Stimme, (verborgene) Erscheinung und Geist kreuzt sich nämlich mit einer Dekonstruktion der als Phantasma vorgestellten Einheit von Stimme und Subjekt. Im folgenden werden wir unter Berücksichti­ gung dieser Aspekte sehen, daß in der Logik der Erzählung der verborgene Teil des Mediums, das denkende Wesen, der Professor sein muß, der die Phantasmen Ferdinands angeblich reflektiert und durch den Sprachautomaten artikuliert. In der Logik der Dekonstruktion einer solchen Interpretation der Ereignisse ist das Medium aber allein der Automat.

A. Das Medium und die innere Stimme Am Ende der Erzählung resümiert Ludwig das merkwürdige Geschehen um den sprechenden Türken und schätzt es als ein fatales Zusammenwirken täuschender Begebenheiten (damit meint er zweifelsohne die Orakelsprüche des Automaten und die Gesichte Ferdinands) und psychischer Beziehungen ein.44 t Seine Gering­ schätzung des Türken korrespondiert mit seiner Meinung über die Musikauto­ maten des Professors und über Maschinenmusik im allgemeinen. Seiner Ansicht nach ist das »Streben der Mechaniker, immer mehr die menschlichen Organe zum Hervorbringen musikalischer Töne nachzuahmen oder durch mechanische Mittel zu ersetzen [ . . . ] der erklärte Krieg gegen das geistige Prinzip, dessen Macht nur noch glänzender siegt, je mehr scheinbare Kräfte ihm entgegengesetzt werden [ . . . ] . «442 Der Sieg des geistigen Prinzips sei vor allem durch die Selbst­ tätigkeit der Maschinen gefährdet: » [ . . . ] eben darum ist mir gerade die nach me­ chanischen Begriffen vollkommenste Maschine der Art eben die verächtlichste, 44 1 Ebd. 428 . 442 Ebd. 420.

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und eine einfache Drehorgel, die im Mechanischen nur das Mechanische be­ zweckt, immer noch lieber als der Vaucansonsche Flötenbläser und die Harmo­ nikaspielerin.«443 Ludwig akzeptiert Musikmaschinen also nur dann, wenn sie ihn nicht zum Zuschauer degradieren, sondern ihm als Werkzeug dienen. Nur der musikalische Mensch, nicht die Maschine alleine, sei in der Lage, die natürliche Mechanik der himmlischen Sphärenmusik zu beherrschen: »Sollte es aber nicht die höhere Mechanik sein, welche die eigentümlichsten Laute der Natur be­ lauscht, welche die in den heterogensten Körpern wohnende Töne erforscht und welche dann diese geheimnisvolle Musik in irgendein Organon festzubannen strebt, das sich dem Willen des Menschen fügt und in seiner Berührung er­ klingt.«444 Die im fügsamen Organon gebannten Naturlaute seien nämlich etwas, »das unser Gemüt unwiderstehlich ergreift«, weil »die Musik, die in unserm In­ nern wohnt« keine andere sein könne »als die, welche in der Natur wie ein tiefes, nur dem höhern Sinn erforschliebes Geheimnis verborgen und die durch das Or­ gan der Instrumente nur wie im Zwange eines mächtigen Zaubers, dessen wir Herr worden, ertönt [ . . . ].«445 Hier wird nun deutlich, warum Ludwig zu einem ähnlich deutlichen Urteil über den Sprachautomaten kommt. In seinem umfäng­ lichen Monolog über die Vorzüge der ausgefeiltesten Musikinstrumente und das Grauen der heillosen Musikautomaten liefert Ludwig die Begründung für seine Ablehnung: Die Musikmaschine muß für ihn Werkzeug sein und bleiben, weil er durch die Simulation des Instrumentalisten die ureigene Sphäre des Subjekts, das geistige Prinzip, gefährdet sieht. 446 So denkt er auch über den Sprachautomaten, die Menschmaschine: Er kann den Türken nur als Werkzeug eines fremden gei­ stigen Prinzips, das er in der Person des Professors verkörpert sieht, verstehen, weil ihm die Selbsttätigkeit des Automaten verächtlich ist und genauso irritie­ rend auf ihn wirkt wie die automatisch spielenden Musikmaschinen. Ihm sind »alle solche Figuren, die dem Menschen nicht sowohl nachgebildet sind, als das Menschliche nachäffen, diese wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens, im höchsten Grade zuwider. «447 Es nimmt also nicht wunder, daß Ludwig Ferdinands Interpretation des Orakelspruchs als Selbsttäuschung, Beziehungswahn oder Fremdbestimmtheit seines Freundes einschätzt, denn eine Anerkennung der technischen Perfektion des Automaten kommt natürlich nach dem Gesagten nicht in Frage. Selbst ein irres Subj ekt verkörpert immer noch ein, wenn auch deformiertes, geistiges Prinzip, nicht aber der Automat. HoFFMANN gibt diesem Erklärungsansatz in der Anlage und Gewichtung der Erzählung brei­ ten Raum. Ludwigs Meinung kann daher durchaus als die HoFFMANNs betrach443

Ebd. 420. 444 Ebd. 421 . 445 Ebd. 446 Vgl. P. G E N DOLLA: Anatomien, a.a.O. ( Anm. 435] 153: >>Ein Moment, das an den Maschinen wohl am meisten irritierte, wird so betont: die Vortäuschung einer autonomen geistigen Tätigkeit.« 447 E . T. A . H oF F M A N N : Werke. Bd. 4, a.a.O. [Anm. 364] 400.

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tet werden448, dennoch scheint es so, als ob hier der Text selbst die Problematik tiefer auslotet als sein Verfasser dies intendiert: »So sehr E.T.A. Hoffmann zu ei­ ner rein psychologischen Deutung seiner eigenen Darstellungen neigt, liegt doch der Reiz seiner Erzählungen eben darin, das Unheimliche des Automaten nicht eindeutig auf die >krankhafte< Einbildungskraft zu reduzieren. «449 Zweifelsohne wird die Frage nach dem Stand der geistig-seelischen Gesundheit des Fragestel­ lers aufgeworfen, wenn Ludwig behauptet, daß dieser sich vor dem Automaten­ orakel selbst die Antwort auf seine Frage gebe, daß also » [ . . . ] wir uns die Ant­ worten erteilen, indem wir die innere Stimme, durch ein fremdes geistiges Prinzip geweckt, außer uns verständlich vernehmen.«450 Entweder ist das fremde geistige Prinzip einer psychopathalogischen Disposition des Fragenden geschuldet, und also die Fremdheit im eigenen Kopf angesiedelt. Oder aber besagtes Prinzip wirkt tatsächlich - wie auch immer - von außen auf die Psyche ein. Mit diesen rein psychologischen Deutungen werden die Implikationen der technischen Per­ fektion und der täuschend menschenähnlichen Selbsttätigkeit des Automaten bewußt außer Betracht gelassen. Trotzdem aber ist auch der psychologische Dis­ kurs immer wieder an den Automaten verwiesen, denn die Versuche, das geistige Prinzip zu retten, und sei es durch Pathologisierung der Psyche, müssen an einer bestimmten Vorstellung scheitern, die Ludwig vom ganzen Menschen hat. Seine metaphorische Scheidung der Stimme des Fragestellers in eine innere (die mut­ maßlichen stillen Gespräche, die der Fragesteller mit sich selbst führt) und eine äußere (die Stimme des Automaten) wirft eine Reihe von Fragen auf, die geeig­ net sind, den Fragesteller nicht so gut aussehen zu lassen, wie der Lobredner auf das souveräne Subj ekt das gerne hätte. Es stellt sich nämlich die Frage, ob denn die innere Stimme, der Ludwig die Automatenstimme instrumentell unterordnet, wirklich ein Garant für die Kohärenz und die Dominanz eines vollständigen Subj ekts sein kann, denn sie erscheint ja, wie er selbst sagt, tatsächlich akustisch wahrnehmbar als äußere Stimme am Automaten. Kaum unterschieden, möchte er zwar beide sogleich wieder im Hinblick auf seine psychologische Deutung vereinen, indem er nämlich die fragliche Automatenantwort eben als Phantasma Ferdinands klassifiziert. Es bleibt aber eine unbestreitbare und für jeden Besu­ cher nachprüfbare Tatsache, daß der Türke sich bisweilen sinnvoll auszudrücken vermag. Ludwig meint die Individualität des Fragenden durch seine Teilung der Stimme bewahrt zu haben, denn die Stimme gilt ihm offensichtlich als Aufweis des Subjektbewußtseins, und wenn der Automat angeblich genau das laut und vernehmbar spricht, was den Fragesteller in Gedanken umtreibt, dann bleibt dem Subj ekt immer noch die der Automatenstimme vorgängige, lautlose und innere 448 Vgl. dazu Deutung bei DIETRICH KREPLI N : Das Automaten-Motiv bei Hoffmann (Diss. Bonn 1 957) 1 16 ff. 449 H . BAHR: Ü ber den Umgang mit Maschinen (Ttibingen 1983) 487. 450 E.T. A . H O F FM A N N : Werke. Bd. 4, a.a.O. ( Anm. 364) 415.

Das Medium und die innere Stimme

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Stimme.45 t Die Trennung zwischen innerer und äußerer Stimme des Subj ekts scheint aber nur eine Innen-Außen-Dichotomie zu reproduzieren, die bereits im Individuum selbst angelegt sein muß, denn was ist das denn überhaupt für eine individuelle Stimme, die sich in eine innere und eine äußere aufspalten läßt? Eben keinesfalls eine individuelle, unteilbare. Darüber hinaus scheint es so, als ob die Vorstellung von einer inneren Stimme selbst ein Produkt der Erfahrung mit der Automatenstimme sei. Tatsächlich läßt die Erzählung »keinen anderen Schluß zu, als daß dies Innerste vom Außen überhaupt erst erzeugt wird. Die Maschine m acht erst das tiefe Gemüt, eben dadurch, daß sie als reine Form radi­ kal abgespalten wird.«452 Mit seinem Versuch die beiden Stimmaspekte zusam­ menzuführen zeigt Ludwig unfreiwillig nur deren bereits bestehende Differenz auf, die unmittelbar mit der Teilung des Subj ekts in Geist und Körper zusam­ menhängt: Hat er nicht gerade durch die in seiner Schmährede über die Maschi­ nenmusik getroffene Unterscheidung von Werkzeug und geistigem Prinzip den Menschen selbst schon längst in ein Innen und ein Außen aufgeteilt und das Be­ gehren dem subjektiven Geist zugeordnet, den Körperorganen und ihren äuße­ ren, instrumentellen Erweiterungen aber maschinenhafte Funktion zugeschrie­ ben?453 Das Irritierende und Erschreckende des Automaten liegt in seiner Selbsttätigkeit, mit der er sich über den Objektstatus erhebt. Diese Seihsttätig­ keit kann aber genau deshalb nicht akzeptiert werden, weil dadurch die Tren­ nung von Innen und Außen, von Subjekt und Werkzeug, von Geist und Körper verwischt wird: »Daß die Automaten >selbsttätig< seien, kann folglich nur ein Indiz dafür sein, daß gerade das Subjekt sich nicht so vollständig - als sich be­ wahrender, unreduzierbarer Referent - von den referenzlosen maschinellen Transmissionen abgekoppelt hat. «454 Wir erkennen j etzt deutlich Ludwigs Erklä­ rungsmodell: Die psychischen Beziehungen, die laut Ludwig das Orakelwunder erklären sollen, sind nur vom Subjekt her und unter Subj ekten möglich, so daß dem Automaten wieder sein Werkzeugstatus zugewiesen wäre, und damit die vermeintliche Integrität des Subj ekts gerettet zu sein scheint. Er erklärt den Au45 1 Zur Bedrohung der Subj ektivität durch die Sprachautomaten vgl. auch WER N E R K ü N ­ Z E L I PETER B E X TE : Maschinendenke n / Denkmaschinen. A n den Schaltstellen zweier Kulturen (Frankfurt/M. 1 996) 63: »Der Generalangriff der Maschinen auf die Welt der Menschen wird je­ doch an einer anderen Front geführt, an der Front der Sprache nämlich ! Kaum eine Definition des Humanum war der Aufklärung so wichtig wie die des Menschen als einem sprechenden We­ sen, und die damit implizierte Logozentrik behauptete eine uneinnehmbare Position. Die Erfin­ dung von Maschinen aber, welche die menschliche Sprache imitieren konnten, bedrohte das Zentrum klassischer Souveränität, das sprechende Ich . Mit der Imitation des Sprechens erobern Automaten den Zugang zum Diskurs [ . . . ].« 4 52 P. G E N D O L L A : Anatomie, a.a.O. [Anm. 446] 1 52. 453 Vgl . H. B A H R : Maschinen, a.a.O. [Anm. 449 ] 444: »Um den subjektiven Referenten zu retten, mußte der Leib selbst sich in Herren und Sklaven aufsplittern und sein Begehren von der Mittelhaftigkeit seiner Organe und ihrer maschinellen Funktionen absondern. le­ bendigohne Dazwischentreten< disponibel zu bleiben. So zumin­ dest gibt sich das Phänomen der Stimme, die phänomenologische Stimme. «455 Die unmittelbare Präsenz und Disponibilität der Bedeutung für den Sprechen­ den rührt - nur scheinbar paradoxerweise - daher, daß sich der Lautkörper, der Signifikant, in dem Moment auszulöschen scheint, in dem er gebildet und her­ vorgebracht wird: »Diese Tilgung des sinnlichen Körpers und seiner Äußerlich­ keit ist für das B ewußtsein die eigentliche Form der unmittelbaren Präsenz des Signifikats. «456 D adurch, daß sich der Sprechende beim Sprechen selbst hört, ist diese Präsenz und Nähe des Signifikats durch das Wiederaufnehmen des Signifi­ kanten beim Vernehmen seiner selbst gewährleistet. Das Subjekt wähnt sich durch die Rekurrenz des Signifikanten vor einer Unsicherheit über sich selbst bewahrt, die sofort einträte, wenn der Signifikant ohne jegliche Rückversiche­ rung losgelassen würde: »Der Lebensakt, der Akt, der das Leben oder die Lebendigkeit verleiht, die den Körper des Signifikanten beseelt und in den bedeutenden (voulant-dire) Ausdruck verwandelt, die Seele der Sprache also scheint sich nicht von sich selbst und ihrer Selbstpräsenz zu trennen. So läuft sie nicht Gefahr, im Körper eines der Welt und der Sichtbarkeit des Raums preisge­ gebenen Signifikanten unterzugehen. «457 Genau diese Selbsterhaltungsstrategie unterläuft aber der Türke und er kann, laut KITT L E R , in dieser Hinsicht als Ver­ wandter resp. als Vorläufer der phonographischen Medien gelten, die in ähnli­ cher Weise zu irritieren vermögen: »Denn während es (mit Derrida) den soge­ nannten Menschen und sein Bewußtsein ausmacht, sich sprechen zu hören oder sich schreiben zu sehen, trennen Medien solche Rückkopplungsschleifen auf. «458 Tonband oder Phonographenwalze bewahren den Signifikanten auf, der sich be4 55 456 45 7 458

JACQ UES D ER R I D A : Die Stimme und das Phänomen (Frankfurt 1 979) 1 32. Ebd. 1 34. Ebd. F. KITT L E R : Grammophon, Film, Typewritcr (Berlin 1 986) 39.

Das Medium und die innere Stimme

1 45

deutungslos selbst in den materiellen Träger einschreibt, und treiben so einen Keil in die Einheit des Lauts und der im (Sprech-)Moment gegebenen Bedeu­ tung oder zeigen vielmehr überdeutlich deren ursprüngliche Differenz. Für KITTLER deckt die technische Tonwiedergabe deshalb den Halluzinationscharak­ ter der akustischen Selbstwahrnehmung auf. Beim halluzinatorischen und pa­ thologischen Stimmenhören gibt es kein obj ektives Korrelat, es handelt sich vielmehr um trieb- oder wunschgesteuerte Scheinwahrnehmungen, deren Ursa­ che und Bedeutungen sich rein subj ektiv konstituieren. Genauso sei der Rück­ lauf tatsächlich gegebener akustischer Signifikanten ins Bewußtsein zu beurtei­ len. Er gleiche in gewisser Weise dem Prozeß der »halluzinatorischen Wunsch­ erfüllung«, bei der »schon gespeicherte Daten als neuer Input auftreten und der psychische Apparat für sich selber zum Simulakrum wird. So perfekt läuft bei halluzinatorischer Wunscherfüllung die Rückströmung oder Rückkopplung, so nahe auch steht Freuds Entwurf einer Psychologie den technischen Medien. «459 Aus der Sicht der normalen akustischen Selbstwahrnehmung - aus Ludwigs Sicht beispielsweise - muß die Bedeutungskonstitution beim halluzinatorischen Stim­ menhören und beim Gebrauch von Audiomedien als höchst problematisch er­ scheinen. Der Halluzinierende erschafft sich selbst seine akustische Welt, wie er sie gerne hätte oder wie er sie einmal hatte, und der Schallplattenhörer verge­ genwärtigt sich dieser Theorie zufolge umgekehrt einen Körper, einen Erzeuger, ein Subj ekt und damit eben die Bedeutung zum irgendwann einmal aufgezeich­ neten Signifikanten. Aus der Perspektive der beiden pathologischen Wahrneh­ mungsformen Halluzination und Audiospeichermedienrezeption erscheint dage­ gen gerade die normale Selbstwahrnehmung als Illusion. Wie die halluzinatori­ sche Wahrnehmung und wie die Audiospeichermedienrezeption führt also der Türke eine pathologische Variante der (Selbst-)Wahrnehmung im Hinblick auf die Signifikation vor. Das Subj ekt vernimmt sich laut Ludwig selbst, ohne daß es über die einfache Frage an das Orakel hinaus tatsächlich etwas ausgesprochen hätte. Die verborgenen und möglicherweise nur halb oder gar nicht bewußten Wünsche werden - zumindest für den entsprechend disponierten Fragesteller klar und deutlich vernehmbar artikuliert: » [ . . . ] so sind wir aber es selbst, die wir uns die Antworten erteilen, indem wir die innere Stimme, durch ein fremdes gei­ stiges Prinzip geweckt, außer uns verständlich vernehmen und verworrene Ahn­ dungen, in Form und Weise des Gedankens festgebannt, nun zu deutlichen Sprü­ chen werden [ . ] unerachtet die Stimme, welche uns fremdes Wissen zuzuführen scheint, doch nur aus unserm eignen Innern kommt und sich in verständlichen Worten ausspricht.«460 Im Fall Ferdinands sind die verworrenen Ahnungen na­ türlich Wünsche und Ängste, welche die unbekannte Sängerin betreffen. Durch die maschinelle Versprachlichung des Unbewußten entgleiten die ureigenen . .

459 4 60

Ebd. 6 1 . E . T. A . H O F F M A N N , Werke. B d . 4, a.a.O. (Anm. 364] 415.

Menschliches und technisches Medium

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Phantasmen des Subjekts in die Welt hinaus und werden so zum unheimlichen Anderen. HOFFMA N N vergleicht dabei übrigens durchaus die optische mit der akustischen Einbildung, das Traumbild und die innere Stimme. Beide materiali­ sieren sich in der Erzählung außerhalb des Subjekts, das Traumbild der Frau in der Kirche und die innere Stimme im sprechenden Türken. Und beide Materiali­ sationen werden möglich durch das Medium. Die beiden Freunde aber geben dem mesmeristisch-spiritualistischen Erklärungsmodell den Vorzug, und weil Ferdinand genausowenig wie Ludwig von der reinen Selbsttätigkeit des Automa­ ten überzeugt ist, gibt es für ihn gar keinen Zweifel, »daß ein menschliches We­ sen vermöge uns verborgener und unbekannter akustischer und optischer Vor­ richtungen mit dem Fragenden in solcher Verbindung steht [ . . . ] . «461 Zum wun­ derbaren Medium der Mitteilung gehört also nach ihren Vorstellungen auch ein Mensch, der sich des Automaten bedient, das Seelenleben des Fragestellers ge­ nau kennen muß und dessen Inneres nach Außen kehrt. Auf die äußere Stimme und das scheinbar real gewordene Traumbild reagiert Ferdinand nun offenbar tatsächlich mit einer empfindlich gestörten Selbstpräsenz, denn er fühlt sich nach dem Erlebnis mit dem Orakelautomaten bald nicht mehr so recht lebendig und als er sein Phantasma, die Sängerin, für immer aufgeben muß, ist er selbst fast nur noch Apparat: »Mechanisch gehe ich in die Kirche und trete ein, als der Geistliche gerade mit dem Segen die Zeremonie endigt. Ich schaue hin, die Braut ist die Sängerio [ . . ] . «462 Bevor er aber vollends zum Automaten mutiert, gelingt es ihm, die Täuschung als solche zu erkennen: »Was weiter vorgegangen, weiß ich nicht mehr, auch nicht, wie ich hierhergekommen. Du wirst es wohl vom Profes­ sor X. erfahren. Jetzt ist eine nie gefühlte Ruhe und Heiterkeit in meine Seele gekommen. Der verhängnisvolle Spruch des Türken war eine verdammte Lüge, erzeugt vom blinden Hintappen mit ungeschickten Fühlhömem. Habe ich sie denn verloren? ist sie nicht im innem glühenden Leben ewig mein?«463 schreibt er an Ludwig. Und so wie dieser die äußere Automatenstimme als Entsprechung der inneren Stimme ausgibt und sie so als psychopathalogischen Trug klassifi­ ziert, der aber immerhin das Subjekt in seiner Ganzheit bewahrt, nimmt Ferdi­ nand letztendlich die äußere Erscheinung, die ja einmal Traumbild war, wieder ins »innere glühende Leben«. Wir sehen also wie auch dieser Versuch der Ret­ tung vor der Auflösung und dem Irresein mit einer Rückführung des verlorenen Signifikanten nach innen endet. Diese Strategie ist aber selber eine phantasmati­ sche, denn die Rückführung selbst erzeugter Signifikanten ist nur denkbar, wenn das Subj ekt als bereits geteiltes gedacht wird und deshalb die reine Differenz selbst ist: »Die Selbst-Affektion setzt als Operation der Stimme eine reine Diffe­ renz voraus, die die Selbstpräsenz zerbrechen läßt. Und eben in dieser reinen .

4 61 462 46 3

Ebd. 401 . Ebd. 427 (Hervorhebung von mir, S. H.). Ebd. 428 .

Das Automatenmedium

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Differenz ist die Möglichkeit all dessen, was man aus der Selbst-Affektion glaubt ausschließen zu können, verwurzelt: der Raum, das Draußen, die Welt, der Kör­ per etc. «464 Die von Ludwig und letztlich auch von Ferdinand praktizierten Ver­ suche, das Selbst zu bewahren und die Einheit des Subj ekts zu retten, setzen die Unterscheidung von Innen und Außen bereits voraus, ohne die sie schlechter­ dings nicht durchführbar wären. Diese Selbst-Affektion ist somit also nicht im Sinne einer Wiedervereinigung temporär getrennter, ursprünglich aber zusam­ mengehöriger Teile zu verstehen. Es verhält sich genau umgekehrt: Der Automat und die Erscheinung der Unbekannten lenken erst den Blick auf die Konstituie­ rung des Subjekts als mit sich selbst Nicht-Identisches; die angebliche Verfaßtheil des Selbst als Individuum ist das Unwahre: »Die Selbst-Affektion ist keine Er­ fahrungsmodalität, die ein bereits zuvor als Selbst (autos) verfaßtes Seiendes charakterisierte. Sie bringt das Selbst als Beziehung zu sich in der Differenz mit sich, das Selbst als das Nicht-Identische hervor.«465 Die Bemühungen der Heim­ holung verlorener Signifikanten ist angesichts des Sprachautomaten notgedrun­ gen zum Scheitern verurteilt. HoFFMANNS schillernde und überkomplexe Er­ zählung dekonstruiert diesen bewahrenden Diskurs, gerade indem sie den Au­ tomaten als seinen Antipoden in den Vordergrund stellt.

B. Das Automatenmedium Wir haben bereits - unter Bezugnahme auf die medienhistorischen Arbeiten von KITTLER - die vom Türken ausgelösten Irritationen mit bestimmten Wirkungen der technischen Tonaufzeichnung und -Wiedergabe verglichen. Diese Analogie läßt sich, folgt man KITTLER weiter, technikhistorisch begründen. Sprachautoma­ ten seien demnach technische Urahnen des Phonographen, und die Erfinder der Automaten hätten technische Fertigkeiten in den Bereichen der synthetischen Frequenzerzeugung und der analytischen Frequenzbestimmung entwickelt, die auch für die Konstruktion technischer Audiomedien von einiger Bedeutung ge­ wesen seien: »Erfinder wie Kempelen, Maelzel oder Mical bauten erste Automa­ ten, die durch Erregung und Filterung bestimmter Frequenzbänder genau jene Laute technisch simulieren konnten, die die gleichzeitige Romantik poetisch als 4 64 J. O E R R I D A : Stimme, a.a.O. [Anm. 455] 140. 4 65 Ebd. Vgl. auch die Zusammenfassung P. G E N D O L LAs:

Anatomien, a.a.O. [Anm. 446] 159, der zwar nicht das Problem der Stimme nennt, aber zum gleichen Schluß kommt, was die Ret­ tungsstrategien der beiden Freunde betrifft: »Hiermit deutet die >Automate < auf eine gesell­ schaftliche Abstraktion, die dann der >Sandmann< genauer zu verfolgen sucht. Im Verhältnis von Innen und Außen zerbricht die Autonomie eines subjektiven Willens und seines Erkenntnis­ vermögens. Dieser B ruch wird von einer Interpretation wieder zugedeckt, die den Funktiona­ lismus selbst als bloß äußerliche Schale, als Maske oder Attrappe einer zwar bedrohten, gestör­ ten, verhinderten, aber schließlich doch substantiellen Innerlichkeit ansieht.«

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Seelensprache feierte: Ihre Puppen sagten >Mama< und >Papa< oder auch >Ach< wie E.T.A. Hoffmanns geliebte Automatenpuppe Olimpia. [ . . . . ] Damit entstand, fernab aller Romantik, ein praktisches Wissen über Vokalfrequenzen. «466 Die Abstammungslinie, die KITTLER zeichnet, ist plausibel und befindet sich durch­ aus in Übereinstimmung mit der üblichen Mediengeschichtsschreibung.467 Auf­ grund der semantischen Unschärfe der Begriffsverwendung in der Automatener­ zählung sollten wir aber diesen technikgeschichtlichen Befund im Hinblick auf unsere begriffsgeschichtliche Untersuchung nicht überbewerten. Wir haben be­ reits oben gesehen, daß die Verwendungsweise »Medium der wunderbaren Mit­ teilung« durchaus auch im mesmeristischen Kontext zu verstehen ist. Eine aus­ schließliche Referenz auf den technischen Apparat, also das physische Medium, kann somit schon vor dem Hintergrund unserer bisherigen Analysen nicht be­ hauptet werden. Das Medium der wunderbaren Mitteilung ist vielmehr zum größten Teil abwesend, der Türke ist nur ein äußerlich sichtbarer Teil einer kom­ plexen Medienanordnung. Es hat zudem den Anschein, als agiere diese verbor­ gene Anordnung irgendwie selbsttätig und entziehe sich somit intentionalen Handlungsabsichten der Protagonisten. Das Automatenmedium ist damit in ge­ wisser Weise den heutigen Massenmedien ähnlich. Wenn man etwa vom Medium Fernsehen spricht, ist man wahrscheinlich zunächst geneigt, ausschließlich die technischen Empfangsgeräte unter diesem Begriff zu subsumieren. Die Organi­ sationsformen, die sich um die Übertragungstechniken gebildet haben - etwa die Sendeanstalten -, sind dagegen weniger augenfällig und werden daher selbst in der Medientheorie bisweilen nicht ausreichend berücksichtigt. Genauso kann von intentionalen Absichten bei der Medienkommunikation nur bedingt die Re­ de sein. Die Komplexität der Massenmedienkommunikation sperrt sich in der Regel gegen Absichten, Medien für eigene, rein subjektiv definierte Zwecke zu benutzen. Der Begriff vom Automatenmedium in HoFFMANNs Erzählung kann uns also in gewisser Weise zu bestimmten kommunikationstheoretischen Ver­ wendungsweisen von Medium führen, und wir sind mit solchen Überlegungen im Begriff, das eigentliche Feld unserer begriffsgeschichtlichen Analyse zu verlassen und zu einem Ausblick hinsichtlich der Bedeutung unserer Ergebnisse für die Medientheorie überzugehen. Im folgenden abschließenden Kapitel werden eini­ ge Anschlußmöglichkeiten für weiterführende Diskussionen skizziert. D abei soll nun aber nicht suggeriert werden, daß es einen nahtlosen Übergang vom Auto­ matenmedium zur Medientheorie des späten zwanzigsten Jahrhunderts gibt. Was wir in den Blick nehmen, sind die Beziehungen zwischen den kodifizierten Be­ deutungen des Medienbegriffs, die wir bisher untersucht haben, und den Me­ dienkonzeptionen, die in der aktuellen medien-, kommunikations- und publizi­ stikwissenschaftlichen Terminologiediskussion erörtert werden. 4 66

F.

K I TT L E R :

Grammophon, a.a.O. [Anm. 458] 43. Medienchronik, a.a.O. [Anm. 1 26] 131 .

467 H. H. H I E B E L :

X I I . D I E M E D I E N B EG R I F F S G E S C H I C H T E U N D E I N I G E P O S I TI O N E N D E R M E D I E N FO R S C H U N G I N D E R TE R M I N O LO G I E D I S K U S S I O N

Am Ende dieser Untersuchung über den Bedeutungswandel von Medium ist ­ ungeachtet aller Detailinformationen und Einzelbefunde - eine Erkenntnis zwingend: Die begriffsgeschichtliche Methode hat gegenüber einer unhistarisch­ synchronen Betrachtungsweise nicht nur den Vorteil, daß sie verschüttete, ver­ gessene oder alltagssprachliche Verwendungsweisen in die wissenschaftliche Diskussion bringt und dadurch das fachsprachlich Unbewußte dem analytischen Zugriff öffnet. Ein weiterer entscheidender Vorzug der historischen Terminolo­ gieforschung ist der Aufweis eines spezifischen Entwicklungsganges semanti­ scher Bewegungen. Diese Feststellung ist nicht so banal wie es zunächst scheinen mag - das folgende Beispiel kann das verdeutlichen. Man betrachte einmal die eingangs erwähnten Versuche der synchronen Bedeutungsermittlung. Hier steht in der Regel die Bestimmung von Medium im Sinne eines Kommunikationsmit­ tels im Vordergrund. Den meisten dieser Beiträge zur Begriffsklärung ist ge­ meinsam, daß sie die aisthetische Terminologie und den daraus ableitbaren Mi­ lieuaspekt im Medienbegriff außer acht lassen und sich auf die geläufigeren Verwendungsweisen aus der Kommunikationswissenschaft, der Publizistikwis­ senschaft, der Medienpädagogik, der Semiotik und ähnlichen Bereichen konzen­ trieren. Vordergründig erscheint dieses Verfahren völlig korrekt zu sein - im Hinblick auf eine wünschenswerte Entwicklung der Medienforschung ist das Versäumnis indessen fatal. Die Vorherrschaft der Mediendefinition von MA­ LETZ K E , die in der Kommunikations- und in der Publizistikwissenschaft als »klas­ sisch« gilt, führt mit ihrer Fixierung auf den instrumentellen Medienbegriff zur Ausblendung konkurrierender Aspekte.468 Wer sich, wie etwa SAXER, schon seit Jahren einigermaßen erfolglos für eine Erweiterung dieses engen Medienbegriffs einsetzt, weiß ein Lied von der Beharrlichkeit vermeintlich bewährter Definitio­ nen zu singen.469 Besonders augenfällig ist die Vernachlässigung einer Bestim­ mung, die zur instrumental-technischen Definition konträr verläuft, die aber gleichwohl die andere Seite der Medienmedaille darstellt: Der Aspekt der Mitte, also des durch Medien geschaffenen spezifischen Milieus resp. der Allgegenwart des Mediums kommt in dieser klassischen Definition nicht vor.470 Es ist aber gerade diese Verwendungsweise, die in der aisthetischen Begriffstradition ur468

R . B u R KART: Was ist eigentlich ein Medium? a.a.O. (Anm. 9) 65 . Erst in der j üngsten Zeit werden seine Vorschläge immer wieder aufgegriffen, zuletzt von R. BURKART: Medium, a.a.O. (Anm. 9). 470 Vgl. S . K R Ä M E R : Medium, a.a.O. (Anm. 1 24). Zur Verwandtschaft der Begriffe Medium und Milieu vgl. L. S PITZER, Milieu, a.a.O. [ Anm. 18). 469

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sprünglich ist. Die Bestimmung des Mittels dagegen bricht sich erst mit der Ent­ wicklung optischer und akustischer Medien allmählich B ahn. Dem Begriffshisto­ riker bietet sich also ein gänzlich anderes Bild als dem synchron arbeitenden Be­ griffsforscher. Aus seiner Perspektive entsteht der Begriffsaspekt Mittel aus der Bedeutung Mitte. Er läuft daher nicht Gefahr, die ursprüngliche Variante zu un­ terschlagen.471 D as Beispiel zeigt, wie sich allein durch die historische Perspek­ tive auf den Begriff die Gewichtung einzelner Bedeutungsvarianten völlig ver­ schieben kann. Die Aisthesis ist auf einmal keine Marginalie mehr im Feld der möglichen Verwendungsweisen von Medium. Und daher ist nicht von ungefähr im Verlauf dieser Untersuchung deutlich geworden, daß der aisthetische Me­ dienbegriff lange Zeit äußerst wirkungsmächtig gewesen ist. Das zeigte sich nicht zuletzt an der überschäumenden Metaphorik, die auf der Grundlage des wahr­ nehmungstheoretischen Medienbegriffs entstanden ist - und die zudem nicht fol­ genlos geblieben ist, betrachtet man die anschließenden Terminologisierungen des Wortes. In den Anfängen der Medientheorie war die Verbindung zur Aisthe­ sislehre noch präsenter als heute, wie ein Blick in den Kunstwerk-Aufsatz von B ENJAMIN zeigt: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinnes­ wahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.«472 Den Weg der Veränderung der Sinneswahrnehmung sieht B E N JAMIN vom authentischen Originalkunstwerk zur Filmkunst verlaufen. Die - gemessen an der Zahl ihrer Vertreter freilich unbedeutende - Vorhut der nachfolgenden, sogenannten Medienkulturwissen­ schaft hat sich dem hier formulierten Wahrnehmungsparadigma verschrieben und untersucht technische Medien aus der aisthetischen Perspektive. 473 Im Anschluß an die geisteswissenschaftlich orientierte Medienforschung situiert sich auch eine Medienästhetik, die sich gerade nicht den Medieninhalten widmet, sondern den Fragen der sinnlichen und der ästhetischen Wahrnehmung im Zeitalter der technischen Medien.474 Wer sich über die aisthetische Tradition des Medienbegriffs im klaren ist, gerät vermutlich auch nicht so sehr in Versu­ chung, der geisteswissenschaftlich arbeitenden Medienwissenschaft generell ein lediglich inhaltliches Interesse im Hinblick auf die Medienprodukte zu unter47 1

Es ist freilich nicht ausgeschlossen, sich über die beiden Medienaspekte auch ohne die Begri ffsgeschichte zu orientieren. Vgl . S. K R Ä M E R : Medium, a.a.O. [ Anm. 1 24). 47 2 W. B E NJ A M I N : Schriften, a.a.O. [Anm. 290) Bd. 1 , 2 (Frankfurt 1 974) 439. 47 3 Exemplarisch können für diese Richtung stehen: F. K I TT L E R , insbesondere mit seinem Buch Grammophon, Film, Typewriter, a.a.O. [Anm. 458) , PAU L VI R I L I O mit seinem Essay über die Transformation der Wahrnehmung: Rasender Stillstand (Frankfurt 1997) und natürlich M. M c L U H A N mit den entsprechenden Kapiteln in: Die magischen Kanäle (Dresden 1 994). 474 Siehe etwa das Kapitel >>Eine Revolution der Bilder« in VI L L E M F L U S S E R : Medienkultur (Frankfurt 1 997) 69-140.

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stellen.475 Die Entdeckung der aisthetischen Geschichte des Medienbegriffs und andere Ergebnisse der begriffsgeschichtlichen Analyse werden aber im Kontext der aktuellen Begriffsdiskussion in der Medienwissenschaft, der Kommunika­ tionswissenschaft und der Publizistikwissenschaft wahrscheinlich nur dann ak­ zeptiert, wenn sie als aktuelle Optionen erkennbar und begreifbar sind. D aher ist es notwendig, die wichtigsten Eigenschaften und Funktionen, die mit den unter­ schiedlichen Verwendungsweisen des Medienbegriffs umrissen werden, zu be­ nennen und in einer synchronen Systematik anzuordnen. Im folgenden werden jeweils Problem- oder Spannungsfelder skizziert, auf denen sich ältere und unbe­ kannte begriffliche Varianten und die aktuelle Diskussion treffen könnten. Diese Konfrontation geschieht vor allem in der Hoffnung, daß sich ein integrierender Medienbegriff etablieren könnte. Mitte und Mittel. Die Begriffsbedeutungen Mitte und Mittel zielen auf völlig verschiedene Aspekte ein und derselben Sache. Bereits am Anfang dieser Unter­ suchung konnten wir sehen, daß Mitte entweder den Zustand der Ausgewogen­ heit eines Mediums meint, eine Neutralitätseigenschaft, die Voraussetzung für eine reine Vermittlung ist oder aber die Eigenschaft der prägenden Allgegenwart des Mediums beschreibt - der Medienbegriff kommt dann dem soziologischen Milieubegriff nahe. Ein Mittel dagegen ist, um es noch einmal mit PA R A C E L S U S zu sagen, ein subiect, ein dem Vermittlungszweck im Idealfall völlig unterworfener Körper oder Artefakt. Hierbei spielt der Handlungsaspekt eine vorrangige Rolle. Mitte und Mittel sind in vielerlei Hinsicht für ein medienwissenschaftlich frucht­ bares Verständnis des Medienbegriffs relevant, und es ließe sich unter dieser Überschrift natürlich vieles sagen - einige der unten aufgeführten Eigenschaften, Funktionen und Problemfelder leiten sich aus diesen allgemeinen Bedeutungen von Medium ab. Wichtig ist aber zunächst, daß mit den beiden Bestimmungen äußerste Markierungen im Bedeutungsspektrum des Begriffs gesetzt werden, de­ ren Überschreitung zu benachbarten Begriffen, etwa zu Milieu oder zu Werkzeug führt. Eine genaue Abgrenzung zu diesen Konzepten ist nicht nebensächlich, denn sie heben zwar jeweils einen wichtigen Aspekt des Medienbegriffs hervor, aber eben auch nur einen. Das Beharren auf einer Verknüpfung beider Konzepte im Medienbegriff hat nichts mit semantischer Erbsenzählerei zu tun - vielmehr erzeugt die Ausblendung eines der beiden Aspekte charakteristische Schieflagen, die man bei einigen einflußreichen Autoren beobachten kann. Diese Autoren kann man grob in zwei Gruppen einteilen - die Gruppe der Verfechter eines aus­ schließlich instrumentellen Medienbegriffs und die Gruppe der »Milieutheoreti­ ker« (wir verwenden den Milieubegriff hier nicht im soziologischen Sinn). Zur ersten Gruppe könnte man dann MA LETZ K E zählen. Seine bereits erwähnte Me475 So wie das selbst bei einem bedeutenden Fachwissenschaftler wie H I C K E T H I E R der Fall zu sein scheint, der in einem Ü berblick über die Entwicklung der Medienwissenschaft das wahr­ nehmungstheoretische Paradigma völlig übersieht. In ders. : Medienkultur, a.a.O. [ Anm. 2].

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diendefinition, die in weiten Teilen der Kommunikationswissenschaft als Stan­ dard gilt, wird in j üngster Zeit kritisiert. Stein des Anstoßes ist das instrumentelle Medienverständnis, das sich darin äußert. Die bekannte Stelle aus seinem Hauptwerk Psychologie der Massenkommunikation lautet: »Als Medien der Massenkommunikation bezeichnen wir die technischen Instrumente oder Appa­ raturen, mit denen Aussagen öffentlich, indirekt und einseitig einem dispersen Publikum vermittelt werden.«476 M A L ETZ K E schließt dabei die publizistischen Organisationen - also die Verlage, die Sender, die Redaktionen und andere Ein­ richtungen - explizit aus. Diese seien vielmehr Kommunikatoren. Der Autor legt hiermit eine verhängnisvoll enge Interpretation des publizistik- und kommunika­ tionswissenschaftliehen Grundbegriffes vor, wie nicht nur S A X E R meint.477 Zur zweiten Gruppe zählen all diej enigen, die den Menschen an neue Medientechni­ ken ausgeliefert sehen, von einer weitgehenden Passivität der Mediennutzer aus­ gehen oder in eschatologischer Manier eine Kulturentwicklung im Zeichen der Medien prophezeien.478 Das Motto dieser Apokalyptiker (U M B E RT O Ec o ) könn­ te lauten: Die Medien bestimmen unsere Lage und dagegen können wir wenig tun.479 Gegen diese beiden Extrempositionen steht die subtilere Erkenntnis, daß Medien einerseits zwar unsere Lage bestimmen, daß sich andererseits durch Re­ zeptions- , oder richtiger: Nutzungsstrategien, die Medien selbst auch wandeln.4so Die deutschsprachige Medienwissenschaft ist in dieser Frage eigentümlich ge­ spalten. H A RT M U T WI N K L E R hat in einem anderen Zusammenhang auf die hart­ näckige Lagerbildung nachdrücklich hingewiesen und gezeigt, daß sie zu einer defizitären Medienforschung führt.4St Seinen Befund können wir nun bestätigen, denn als wichtiges Fazit der vorliegenden begriffsgeschichtlichen Untersuchung bleibt festzuhalten, daß es mit der Entscheidung für den instrumentellen oder den eschatologischen Medienaspekt notgedrungen zur Ausblendung wichtiger Forschungsbereiche kommen muß. Beobachtbarkeit und Unzugänglichkeit. Die wissenschaftstheoretisch wichtige Frage nach der Beobachtbarkeit von Medien wurde in aller Kürze, Deutlichkeit und Brisanz in H o F F M A N NS Automatenerzählung gestellt: »Wo ist das Medium?« 476

G. M A LETZ K E : Psychologie d e r Massenkommunikation (Hamburg 1963) 76. U. SAXER: Grenzen der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 4 (1980) 525-543, hier: 532. 47 8 Zu eschatologischen Aspekten der Medientheorie vgl. STEFAN HoFFMAN N : Die romantische Aufhebung unreiner Medien. Eschatologische Strukturen in der Medientheorie. In: Athenäum. Jahrbuch der Romantik (2001 ) 1 22-1 38. 479 Vgl. HARTMUT WI N KLER: Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte vs. >>anthro­ pologische>Wie kann über den sinnstiftenden Beitrag der Medien so aufgeklärt werden, daß dabei zugleich nachvollziehbar wird warum dieser Beitrag sich latent voll­ zieht, also im Verborgenen bleibt?«483 Mit SAXER, KRÄMER und anderen folgt die Medienforschung - zumindest was den Medienbegriff angeht - auf einem viel­ versprechenden Weg den Protagonisten der Erzählung HoFFMANNS. Eigensinn und Unterworfenheit. Aus begriffshistorischer Perspektive ist die Doppelnatur des Mediums, einerseits dem Vermittlungszweck unterworfen zu sein und im Extremfall - man denke an das syllogistische Medium oder an HERDERS Raubmetapher - in der Vermittlung aufzugehen und zu verschwinden, anderer­ seits aber seine Eigenart immer wieder hervorzuheben, schon früh festzustellen. Mit den ersten gefärbten Gläsern und geschliffenen Linsen schärfte sich nicht nur der wahrnehmende Blick, sondern auch das Bewußtsein, daß den Wahrneh­ mungsmedien nicht unbedingt zu trauen ist. Anstatt gehorsam ihre Vermittlungs­ dienste zu leisten und den Wahrnehmungsgegenstand getreu bis zum Sinnesor­ gan zu bringen, leisten manche Medien Widerstand, indem sie ihm eine Tönung ge­ ben. Solche Medien sind keine subiecte, sondern widerständige Substanzen oder Artefakte. Die Medienwissenschaft kennt dieses Phänomen als »Rauschen«484

4 82 4 83 4 84

Wie ihn MALETZKE in: Massenkommunikation, a.a.O. ( Anm. 476) formuliert hat. S. K R Ä M E R : Medium, a.a.O. (Anm. 1 24) 75. F. KITT L E R : Grammophon, a.a.O. ( Anm. 458) 39 f. u. passim.

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oder als »Eigensinnigkeit«.485 Aufgrund dieser Eigensinnigkeit können Medien als » Welterzeugungsmaschinen«486 oder - aus konstruktivistischer Sicht - als Mit­ tel der Realitätserzeugung bewertet werden. Sowohl der geisteswissenschaftli­ chen als auch der kommunikationswissenschaftliehen und der publizistikwissen­ schaftlichen Medienforschung ist dieses Problemfeld nicht fremd: Die Diskussion über das Verhältnis von Medien und Realität findet genauso vor diesem Hinter­ grund statt wie die kulturwissenschaftlichen Simulationstheorien.487 Der Eigen­ sinn der Medien steht also zu ihrer instrumentellen Bestimmung vermeintlich quer. Die Instrumentalisten unter den Medienwissenschaftlern - vor allem dieje­ nigen, die einem simplen Kommunikationsmodell anhängen, wonach ein Medi­ um der reibungslosen Übermittlung von Botschaften dient - haben einen nam­ haften Gegner: M A R S H A L L M c L U H A N . Eine seiner Thesen besagt bekannterma­ ßen, daß das Medium die eigentliche Botschaft sei.488 Ihn interessiert die Entstehung von Kommunikation genauso wenig wie der Inhalt eines vom Medi­ um angeblich nur weitergeleiteten Informationspakets. Er richtet seinen analyti­ schen Blick vielmehr auf die Medieneigenschaften, die unabhängig von den ver­ mittelten Inhalten kulturell wirksam werden und betreibt somit eine Medienwir­ kungsforschung, die aufs Ganze geht. Inhaltsfanatiker zeichneten sich dagegen, so der Polemiker M c L u H A N , durch eine typische »Nachtwandlermentalität« aus.489 In seltener Einmütigkeit mit M c L u H A N - freilich mit konträrer Bewer­ tung - weist G ü NT H E R A N D E RS die einseitig instrumentelle Bestimmung der Medien zurück: »Was von diesen Geräten (Radio- und Fernsehgeräte, S. H.] gilt, gilt mutatis mutandis von allen. Daß sie noch >Mittel< darstellen, davon kann keine Rede sein. Denn zum >Mittel< gehört wesensmäßig, etwas Sekundäres zu sein; das heißt: der freien Zielsetzung nachzufolgen; ex post, zum Zwecke der >Vermittlung< dieses Ziels, eingesetzt zu werden. Nicht Mittel sind sie sondern Vorentscheidungen: Diejenigen Entscheidungen, die über uns getroffen sind, be­ vor wir zum Zug kommen. «490 Mit einer im Vergleich zu McLU H A N völlig unter­ schiedlichen Zielsetzung kehrt der Medienkritiker A N D ERS hier den Eigensinn der Rundfunkmedien hervor. Wo McLU H A N die utopische Hoffnung auf eine freie und direkte Kornmunikation im elektronischen global village hegt, diagno­ stiziert A N D ERS durch eben diese Medien eine katastrophale Entwicklung. 48 5 S . K R Ä M E R : 486 Ebd. 85. 4 87

Medium, a.a.O. [ Anm. 1 25 ] 76.

Vgl. WI N F R I E D S c H U LZ : Massenmedien und Realität. Die »ptolemäische« und die >>ko­ pernikanische