Geschichte der abendländischen Philosophie: Band 4 Moderne 9783534740833

Diese Philosophiegeschichte setzt neue Maßstäbe! Anthony Kenny ist in seinem vierbändigen Werk etwas gelungen, wonach ma

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German Pages 362 [355] Year 2015

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Geschichte der abendländischen Philosophie: Band 4 Moderne
 9783534740833

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einführung
1 Von Bentham bis Nietzsche
Benthams Utilitarismus
Die Entwicklung von John Stuart Mill
Schopenhauers Metaphysik des Willens
Ethik und Religion bei Kierkegaard
Dialektischer Materialismus
Darwin und die natürliche Zuchtwahl
John Henry Newman
Nietzsche
2 Von Peirce bis Strawson
Peirce und der Pragmatismus
Der Logizismus Freges
Psychologie und Pragmatismus bei William James
Der britische Idealismus und seine Kritiker
Russell über Mathematik, Logik und Sprache
Wittgensteins Tractatus
Der logische Positivismus
Wittgensteins Spätphilosophie
Die analytische Philosophie nach Wittgenstein
3 Von Freud bis Derrida
Freud und die Psychoanalyse
Husserls Phänomenologie
Der Existenzialismus Heideggers
Der Existenzialismus Sartres
Jacques Derrida
4 Logik
Mills empiristische Logik
Freges Neubegründung der Logik
Induktion und Abduktion bei Peirce
Die Saga der Principia Mathematica
Die moderne Modallogik
5 Sprache
Frege über Sinn und Bedeutung
Die pragmatistische Auffassung von Sprache und Wahrheit
Russells Theorie des Kennzeichnens
Die Bildtheorie des Satzes
Sprachspiele und private Sprachen
6 Erkenntnistheorie
Zwei wortgewandte Empiristen
Peirce über die Methode der Wissenschaft
Frege über Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie
Wissen durch Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung
Husserls epoché
Wittgenstein über Gewissheit
7 Metaphysik
Verschiedene Formen des Idealismus
Metaphysik und Teleologie
Der Gegensatz von Realismus und Nominalismus
Erstheit, Zweitheit und Drittheit bei Peirce
Die Metaphysik des logischen Atomismus
Schlechte und gute Metaphysik
8 Philosophie des Geistes
Bentham über Absicht und Motiv
Vernunft, Verstand und Wille
Experimentelle im Gegensatz zur philosophischen Psychologie
Das freudsche Unbewusste
Philosophische Psychologie im Tractatus
Intentionalität
Wittgensteins spätere Philosophie des Geistes
9 Ethik
Das größte Glück der größten Zahl
Spielarten des Utilitarismus
Schopenhauer über Entsagung
Der moralische Aufstieg bei Kierkegaard
Nietzsche und die Umwertung der Werte
Analytische Ethik
10 Ästhetik
Das Schöne und das Erhabene
Die Ästhetik Schopenhauers
Kierkegaard über Musik
Nietzsche über die Tragödie
Kunst und Moral
Kunst um der Kunst willen
11 Politische Philosophie
Utilitarismus und Liberalismus
Kierkegaard und Schopenhauer über Frauen
Marx über Kapital und Arbeit
Die geschlossene und die offene Gesellschaft
12 Gott
Der Gegensatz von Glaube und Entfremdung
Der Theismus von John Stuart Mill
Schöpfung und Evolution
Newmans Philosophie der Religion
Der Tod Gottes und das Überleben der Religion
Freud über religiöse Illusion
Philosophische Theologie nach Wittgenstein
Zeittafel
Siglen und Abkürzungen
Bibliografie
Liste der Abbildungen
Register
Back Cover

Citation preview

Anthony Kenny

Geschichte der abendländischen Philosophie

Band I Band II Band III Band IV

– – – –

Antike Mittelalter Neuzeit Moderne

Anthony Kenny

Geschichte der abendländischen Philosophie Band IV

Moderne Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke

Studienausgabe

Originalausgabe: A New History of Western Philosophy. Volume 4: Philosophy in the Modern World Oxford University Press © Sir Anthony Kenny 2006

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Studienausgabe 2016 3., durchgesehene Auflage © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Tina Koch Satz: SatzWeise GmbH, Trier Einbandgestaltung: Christian Hahn, Babenhausen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26787-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74083-3 eBook (epub): 978-3-534-74084-0

In Memoriam Georg Henrik von Wright

Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von Bentham bis Nietzsche . . . . . . Benthams Utilitarismus . . . . . . . . . Die Entwicklung von John Stuart Mill . Schopenhauers Metaphysik des Willens Ethik und Religion bei Kierkegaard . . Dialektischer Materialismus . . . . . . Darwin und die natürliche Zuchtwahl . John Henry Newman . . . . . . . . . . Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . .

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Von Peirce bis Strawson . . . . . . . . . . . . . Peirce und der Pragmatismus . . . . . . . . . . . Der Logizismus Freges . . . . . . . . . . . . . . Psychologie und Pragmatismus bei William James Der britische Idealismus und seine Kritiker . . . Russell über Mathematik, Logik und Sprache . . Wittgensteins Tractatus . . . . . . . . . . . . . . Der logische Positivismus . . . . . . . . . . . . . Wittgensteins Spätphilosophie . . . . . . . . . . Die analytische Philosophie nach Wittgenstein .

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Von Freud bis Derrida . . . . . Freud und die Psychoanalyse . . Husserls Phänomenologie . . . Der Existenzialismus Heideggers Der Existenzialismus Sartres . . Jacques Derrida . . . . . . . . .

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Logik . . . . . . . . . . . . . . . . Mills empiristische Logik . . . . . . Freges Neubegründung der Logik . Induktion und Abduktion bei Peirce Die Saga der Principia Mathematica Die moderne Modallogik . . . . . .

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Inhalt

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Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frege über Sinn und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . Die pragmatistische Auffassung von Sprache und Wahrheit Russells Theorie des Kennzeichnens . . . . . . . . . . . . Die Bildtheorie des Satzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachspiele und private Sprachen . . . . . . . . . . . . .

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Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei wortgewandte Empiristen . . . . . . . . . . . . . . . . Peirce über die Methode der Wissenschaft . . . . . . . . . . Frege über Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie . . . . Wissen durch Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung Husserls epoché . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wittgenstein über Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Formen des Idealismus . . . . . . . Metaphysik und Teleologie . . . . . . . . . . . . Der Gegensatz von Realismus und Nominalismus Erstheit, Zweitheit und Drittheit bei Peirce . . . . Die Metaphysik des logischen Atomismus . . . . Schlechte und gute Metaphysik . . . . . . . . . .

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Philosophie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bentham über Absicht und Motiv . . . . . . . . . . . . . . . Vernunft, Verstand und Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experimentelle im Gegensatz zur philosophischen Psychologie Das freudsche Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophische Psychologie im Tractatus . . . . . . . . . . . . Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wittgensteins spätere Philosophie des Geistes . . . . . . . . .

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Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das größte Glück der größten Zahl . . . Spielarten des Utilitarismus . . . . . . Schopenhauer über Entsagung . . . . . Der moralische Aufstieg bei Kierkegaard Nietzsche und die Umwertung der Werte Analytische Ethik . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

10 Ästhetik . . . . . . . . . . . Das Schöne und das Erhabene Die Ästhetik Schopenhauers . Kierkegaard über Musik . . . Nietzsche über die Tragödie . Kunst und Moral . . . . . . . Kunst um der Kunst willen . .

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11 Politische Philosophie . . . . . . . . . . . Utilitarismus und Liberalismus . . . . . . . Kierkegaard und Schopenhauer über Frauen Marx über Kapital und Arbeit . . . . . . . Die geschlossene und die offene Gesellschaft

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12 Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gegensatz von Glaube und Entfremdung . Der Theismus von John Stuart Mill . . . . . . Schöpfung und Evolution . . . . . . . . . . . . Newmans Philosophie der Religion . . . . . . Der Tod Gottes und das Überleben der Religion Freud über religiöse Illusion . . . . . . . . . . Philosophische Theologie nach Wittgenstein . .

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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen und Abkürzungen

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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liste der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung Dies ist der letzte Band einer vierbändigen Geschichte der abendländischen Philosophie von ihren Anfängen bis in die jüngste Zeit. Der erste Band zur Philosophie der Antike (2004) beschrieb die frühen Jahrhunderte der Philosophie im klassischen Griechenland und in Rom. Der zweite Band zur Philosophie des Mittelalters (2005) behandelte die Zeit von der Bekehrung des heiligen Augustinus bis zur humanistischen Renaissance. Der dritte Band (2006) zur Philosophie der Neuzeit stellte die wichtigsten Philosophen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts vor. Die Darstellung endete mit dem Tod Hegels zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dieser letzte Band führt die Geschichte der Philosophie bis in die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts fort. Es gibt zwei Gründe, aus denen man eine Geschichte der Philosophie lesen kann. Einige Leser tun dies hauptsächlich deshalb, weil sie bei Denkern der Vergangenheit Hilfe und Einsicht zu Fragen von gegenwärtigem philosophischem Interesse suchen, während andere mehr an den Menschen und Gesellschaften der ferneren oder jüngeren Vergangenheit interessiert sind und deren intellektuelles Klima kennenlernen möchten. Ich habe diesen Band, wie die früheren Bände, so unterteilt, dass ich hoffe, dadurch beiden Lesern gerecht werden zu können. Das Buch beginnt mit drei chronologisch angelegten Überblickskapiteln. Die restlichen Kapitel behandeln jeweils einen bestimmten Bereich der Philosophie, von der Logik bis zur natürlichen Theologie. Vornehmlich historisch interessierte Leser können sich auf die chronologischen Übersichten konzentrieren und auf Wunsch zur Vertiefung die thematischen Kapitel konsultieren. Stärker an den philosophischen Problemen interessierte Leser werden hingegen hauptsächlich die thematischen Abschnitte der Bände lesen und die chronologischen Übersichten zurate ziehen, um ein bestimmtes Problem in seinen Kontext zu stellen. Bestimmte Themen sind in jedem der vier Bände dieser Reihe durch ein Kapitel vertreten: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Philosophie des Geistes, Ethik und Philosophie der Religion. Andere Themen waren in verschiedenen Epochen von unterschiedlicher Bedeutung, weshalb sich in manchen Bänden Kapitel finden, die in anderen fehlen. In den ersten beiden Bänden begann der nach Themen geordnete Abschnitt mit einem Kapitel über Logik und Sprache, während dieses Kapitel im dritten Band fehlte, weil die Logik zur Zeit der Renaissance in einen Winterschlaf versank. In dem Zeitraum, der im letzten Band behandelt wird, sind die formale Logik und die Sprachphilosophie von solch großer Bedeutung, dass jedes der beiden Themen ein eigenes Kapitel verdient. In den früheren Bänden fand sich jeweils ein Kapitel zur Physik, die als Teilgebiet dessen betrachtet wurde, was man als „Philosophie der Natur“ bezeichnete. Mit Newton wurde die Physik jedoch zu einer ausgereif-

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Einführung

ten, von einer philosophischen Grundlegung unabhängigen Wissenschaft, weshalb sich im gegenwärtigen Band kein Kapitel zur Physik mehr findet. Band III war der erste Band mit einem eigenen Kapitel zur politischen Philosophie, da die politischen Institutionen vor der Zeit von Machiavelli und Thomas Morus von unseren heutigen so verschieden sind, dass die Einsichten politischer Philosophen dieser Epochen für die gegenwärtige Diskussion nicht relevant sind. Dieser Band ist der erste und einzige mit einem eigenen Kapitel zur Ästhetik: Hierbei kam es zu einer teilweisen zeitlichen Überschneidung mit dem vorherigen Band, da dieses Teilgebiet sich im 18. Jahrhundert als eigenes Fach zu etablieren begann. Die Einführungskapitel dieses Bandes folgen, im Gegensatz zu denen der früheren Bände, keiner einzigen chronologischen Sequenz. Das erste Kapitel zeichnet zwar eine durchgehende Linie von Bentham bis Nietzsche; da jedoch die Philosophie der englischsprachigen Welt im 20. Jahrhundert von der Philosophie auf dem europäischen Kontinent durch einen tiefen Abgrund getrennt ist, erfolgen die Darstellungen im zweiten und dritten Kapitel in unterschiedliche Richtungen. Das zweite Kapitel beginnt mit Peirce, dem großen alten Mann der amerikanischen Philosophie, und Frege, der im Allgemeinen als Begründer der analytischen Tradition der Philosophie angesehen wird. Das dritte Kapitel behandelt eine Reihe einflussreicher kontinentaler Denker, beginnend mit einem Mann, der es gehasst haben würde, als Philosoph bezeichnet zu werden: Sigmund Freud. Es ist mir nicht leicht gefallen, zu entscheiden, wann und wie meine Geschichte der Philosophie enden sollte. Mit vielen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war ich persönlich bekannt, einige von ihnen waren enge Mitarbeiter und Freunde. Dies macht es schwer, ihre Bedeutung relativ zu denjenigen objektiv einzuschätzen, die in den früheren Bänden und zu Beginn dieses Bandes behandelt werden. Zweifellos wird meine Auswahl der Denker, die in die Darstellung aufgenommen bzw. weggelassen werden sollten, anderen, die diese Entscheidung ebenso kompetent treffen könnten, willkürlich erscheinen. Im Jahre 1998 gab ich A Brief History of Western Philosophy heraus. Zum damaligen Zeitpunkt entschied ich mich, keinen lebenden Philosophen in die Darstellung aufzunehmen. Dies erlaubte es mir, meine Geschichte mit Wittgenstein enden zu lassen, den ich nach wie vor für den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts halte. Leider sind seit 1998 eine Reihe von Philosophen verstorben, von denen jeder erwartet hätte, in einer Geschichte der Philosophie der Gegenwart behandelt zu werden – zum Beispiel Quine, Anscombe, Davidson, Strawson, Rawls und andere. Daher musste ich ein anderes Kriterium festlegen, das mir zur Bestimmung des Zeitpunkts dienen konnte, mit dem meine Darstellung endet. Als mein 75. Geburtstag näher rückte, kam mir der Gedanke, ich könne alle Autoren ausschließen, die jünger waren als ich, doch dies schien mir ein allzu egozentrisches Kriterium. Daher entschied ich mich schließlich dafür, Werke auszuschließen, die vor 1975 geschrieben wurden, d. h. 30 Jahre vor der damaligen Gegenwart. Ich muss den Leser bitten, zu bedenken, dass dies der letzte Band einer Philoso-

Einführung

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phiegeschichte ist, die mit Thales begann. Sie ist daher deutlich anders strukturiert, als eine eigenständige Geschichte der Gegenwartsphilosophie aufgebaut sein würde. So bin ich beispielsweise nicht auf die Neuscholastik oder den Neukantianismus des 20. Jahrhunderts eingegangen und habe über mehrere Generationen von Neuhegelianern nur sehr wenig gesagt. Würde man diese philosophischen Strömungen aus einem Buch, das sich der Philosophie der letzten zwei Jahrhunderte widmet, weglassen, würde ihre Darstellung eine große Lücke aufweisen. Doch der Wert dieser Schulen bestand darin, die Moderne an die Bedeutung der großen Denker der Vergangenheit zu erinnern. Eine Geschichte der Philosophie, die auf Thomas von Aquin, Kant und Hegel bereits ausführlich eingegangen ist, muss auf derartige Ermahnungen nicht eingehen. Bei den Lesern, die ich vor Augen habe, handelt es sich – wie in den früheren Bänden – um Studenten auf dem Niveau des zweiten und dritten Studienjahres. Da viele Studenten, die sich für die Geschichte der Philosophie interessieren, für andere Fächer eingeschrieben sind, war ich bemüht, nicht vorauszusetzen, dass meine Leser mit den philosophischen Methoden und der philosophischen Terminologie der Gegenwart vertraut sind. Außerdem habe ich – mit Ausnahme der Originaltexte der Denker des betrachteten Zeitraums – in die Bibliografie lediglich englische Werke aufgenommen. Da viele Leser sich mit der Philosophie nicht deshalb beschäftigen, weil sie auf ihrem Lehrplan steht, sondern dies zur eigenen Belehrung und Unterhaltung tun, war ich außerdem bestrebt, jeglichen Jargon zu vermeiden und den Lesern keine Schwierigkeiten in den Weg zu legen, die nicht mit der Sache selbst zusammenhängen. Wie sehr man sich jedoch bemühen mag: Das Studium der Philosophie wird immer eine Herausforderung darstellen, denn es gibt in ihr, wie häufig zu Recht gesagt worden ist, kein „Nichtschwimmerbecken“. Peter Momtchiloff und seinen Kollegen bei Oxford University Press bin ich zu großem Dank verpflichtet, ebenso zwei anonymen Lektoren des Verlages, die zahlreiche Mängel einer früheren Fassung des Buches behoben haben. Besonders dankbar bin ich Patricia Williams und Dagfinn Føllesdal, die mir bei der Behandlung der kontinentalen Philosophen des 20. Jahrhunderts geholfen haben. Anmerkung des Übersetzers: Bei der Übersetzung der Zitate wurde nach Möglichkeit eine deutsche Standardübersetzung verwendet oder der Originaltext zurate gezogen.

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Von Bentham bis Nietzsche Benthams Utilitarismus

Großbritannien blieben die gewaltsamen konstitutionellen Umbrüche erspart, die sich in den letzten Jahren des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf dem Kontinent vollzogen. Im Jahre 1789, dem Jahr der Französischen Revolution, wurde jedoch in England ein Buch veröffentlicht, das noch weit über den Tod Napoleons hinaus einen revolutionären Einfluss auf die Philosophie der Moral und Politik ausüben sollte. Es handelte sich hierbei um Jeremy Benthams Einführung in die Prinzipien der Moral und Regierung (An Introduction to the Principles of Morals and Government), 1 die zum Gründungsdokument der als Utilitarismus bezeichneten Denkrichtung wurde. Bentham wurde im Jahre 1748 als Sohn eines wohlhabenden Londoner Anwalts geboren. Er war ein für sein Alter kleines, auf Bücher versessenes, altkluges Kind und wurde mit sieben Jahren in die Westminster School geschickt. Mit 15 Jahren absolvierte er das Queen’s College in Oxford. Er war für eine juristische Laufbahn bestimmt. Mit 21 Jahren wurde er als Anwalt zugelassen, doch die juristische Praxis seiner Zeit war ihm zuwider. Die zeitgenössische Rechtstheorie hatte ihn bereits abgestoßen, als er in Oxford die Vorlesungen des berühmten Juristen William Blackstone hörte. Er hielt das englische Rechtssystem für schwerfällig, künstlich und widerspruchsvoll: Es sollte nach vernünftigen juristischen Prinzipien von Grund auf rekonstruiert werden. Das grundsätzlichste dieser Prinzipien verdankte er nach eigenen Angaben Hume. Er berichtet, dass es ihm, als er die Abhandlung über die menschliche Natur gelesen hatte, wie Schuppen von den Augen gefallen und er zu der Überzeugung gelangt sei, der Nutzen sei das Kriterium und Maß aller Tugend und der einzige Ursprung der Gerechtigkeit. Ausgehend von einem Aufsatz des Chemikers Joseph Priestley, der ihm widersprach, legte Bentham das Prinzip der Nützlichkeit so aus, dass das Glück der Mehrheit der Bürger das Kriterium sei, nach dem man die Angelegenheiten eines Staates beurteilen sollte. Allgemeiner formuliert: Der wahre Maßstab der Moralität und das wahre Ziel der Gesetzgebung sei das größte Glück der größten Zahl. Während der 1770er Jahre arbeitete Bentham an einer Kritik von Blackstones Kommentaren zum englischen Recht (Commentaries on the Laws of England). Ein Teil davon wurde im Jahre 1776 als Ein Fragment über die Regierung (A Fragment on 1

Anm. d. Übers.: Auszüge in deutscher Übersetzung in: O. Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik (München: Verlag C. H. Beck, 1975).

Benthams Utilitarismus

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Government) veröffentlicht. In dieser Schrift griff Bentham den Begriff eines Gesellschaftsvertrages an. Zur gleichen Zeit schrieb er eine Dissertation über Strafe, in der er sich auf den italienischen Strafrechtler Cesare Beccaria (1738–1794) berief. Eine Analyse des Zweckes und der Grenzen der Strafe macht mit einer Darlegung des Prinzips der Nützlichkeit den Hauptteil der Einführung in die Prinzipien der Moral und Regierung aus, die Bentham 1780 abschloss: neun Jahre bevor sie schließlich herausgegeben wurde. Das Fragment über die Regierung war der erste Text, in dem Bentham das Prinzip, dass „das größte Glück der größten Zahl der Maßstab für das Richtige und Falsche“ ist, öffentlich darlegte. Obwohl das Buch anonym veröffentlicht wurde, fand es einige einflussreiche Leser, unter anderem den Grafen von Shelburne, einen führenden Politiker der Whigpartei, der später für kurze Zeit Premierminister wurde. Als Shelburne erfuhr, dass Bentham der Autor des Werkes war, machte er ihn zu seinem Schützling und führte ihn in politische Kreise in England und Frankreich ein. Zu den bedeutendsten neuen Freunden Benthams in England gehörte Caroline Fox, die Nichte von Charles James Fox. Im Jahre 1805 machte er ihr, nachdem er zwar lange, aber nicht kontinuierlich um sie geworben hatte, einen erfolglosen Heiratsantrag. Der wichtigste unter den französischen Bekannten war Étienne Dumont, der Privatlehrer von Shelbournes Sohn, der später eine Reihe von Übersetzungen seiner Werke herausgeben sollte. Eine Zeit lang war Bentham in Frankreich bekannter als in Großbritannien. Die Jahre 1785–1787 verbrachte Bentham im Ausland. Er reiste durch Europa und wohnte eine Zeitlang bei seinem Bruder Samuel, der in Krytschau in Weißrussland die Güter des Prinzen Potemkin verwaltete. Während seines Aufenthalts ersann er die Idee des Panopticons, eines neuartigen Gefängnisses: eines kreisförmigen Gebäudes mit einem zentralen Beobachtungspunkt, von dem aus der Gefängniswärter alle Gefangenen ständig im Auge behalten konnte. Er kehrte voller Enthusiasmus für Gefängnisreformen aus Russland zurück und versuchte, die britische und französische Regierung zu überreden, ein Modellgefängnis zu bauen. Das Parlament von William Pitt verabschiedete ein Gesetz, welches den Plan genehmigte, doch er wurde durch herzogliche Landbesitzer, die in der Nähe ihrer Ländereien kein Gefängnis haben wollten, sowie durch die persönliche Intervention von König Georg III. – so nahm Bentham zumindest an – durchkreuzt. Die französische Nationalversammlung nahm zwar sein Angebot, die Aufsicht über den Bau eines Panopticons zu übernehmen, nicht an, doch machte sie ihn zu einem Ehrenbürger der Republik. Benthams Interesse an der Theorie und Praxis des Rechts ging weiter als seine ursprüngliche Beschäftigung mit Fragen des Strafrechts. Da er durch den verworrenen Zustand des bürgerlichen Rechts verärgert war, schrieb er eine umfangreiche Abhandlung Über Gesetze im Allgemeinen (Of Laws in General), die – wie so viele seiner Werke – erst viele Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Im Rahmen seiner Überlegungen zu den Armengesetzen schlug er vor, man solle ein Netzwerk von Panopticons aufbauen, die als Arbeitshäuser für die „beschwerlichen Armen“

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1 Von Bentham bis Nietzsche

Benthams Plan eines perfekten Gefängnisses: des Panopticons.

dienen sollten. Es sollte von einer nationalen Aktiengesellschaft geleitet werden, die einen Gewinnanteil einbehielt, nachdem der Erlös der Arbeit der Insassen ihren Unterhalt gedeckt hatte. Es wurde nie ein Panopticon gebaut: weder als Gefängnis noch als Produktionsstätte. Im Jahre 1813 beschloss das Parlament, Bentham als Ausgleich für seine Arbeit an dem Plan die riesige Summe von 23 000 Pfund zu zahlen.

Benthams Utilitarismus

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Im Jahre 1808 befreundete sich Bentham mit James Mill, einem schottischen Philosophen, der soeben eine monumentale Geschichte Indiens zu schreiben begonnen hatte. Mill hatte einen ungewöhnlichen zweijährigen Sohn, John Stuart, und Bentham half ihm bei der Erziehung des Wunderkindes. Bentham, der einige Jahre lang über die Prinzipien gerichtlicher Zeugenaussagen und Indizien gearbeitet hatte, begann jetzt, zum Teil unter dem Einfluss Mills, sich stärker auf politische und konstitutionelle Reformen zu konzentrieren, statt auf die Kritik juristischer Verfahren und Praktiken. Er schrieb einen Katechismus der Parlamentsreform, den er im Jahre 1809 abschloss, der aber erst 1817 veröffentlicht wurde. Ein oder zwei Jahre später folgte ihm der Entwurf eines radikalen Reformgesetzes. Er arbeitete viele Jahre am Entwurf eines Verfassungsgesetzes, das bei seinem Tode unvollendet war. Gegen Ende seines Lebens war er zu der Überzeugung gelangt, die vorhandene britische Verfassung sei ein Blendwerk, das eine Verschwörung der Reichen gegen die Armen verschleiere. Daher trat er für die Abschaffung der Monarchie und des Oberhauses, die Einführung jährlich durch allgemeine Wahlen zu konstituierender Parlamente sowie für die Entstaatlichung der anglikanischen Kirche (Church of England) ein. Benthams Anregungen zu konstitutionellen und liberalen Reformen beschränkten sich keineswegs auf die Angelegenheiten Großbritanniens. Im Jahre 1811 schlug er James Madison vor, er solle ein Verfassungsrecht (constitutional code) für die Vereinigten Staaten von Amerika entwerfen. Er engagierte sich im Griechischen Komitee Londons, das die Expedition von Lord Byron, während der er im Jahre 1823 ums Leben kam, finanziell unterstützte. Eine Zeitlang hegte er die Hoffnung, sein Verfassungsrecht könnte durch den kolumbianischen Präsidenten Simón Bolívar in Lateinamerika eingeführt werden. Die Gruppe der „philosophischen Radikalen“, die die Ideale von Bentham akzeptierten, gründete 1823 die Westminster Review, um die Sache des Utilitarismus voranzubringen. Sie bestand aus enthusiastischen Befürwortern einer Reform des Erziehungswesens. Bentham entwarf einen Lehrplan für die Sekundarstufe, der Wissenschaft und Technik eine größere Bedeutung als Griechisch und Latein zuwies. Er und seine Freunde bemühten sich um die Gründung des University College London, das 1828 die ersten Studenten aufnahm. Es war die erste universitäre Institution Großbritanniens, die Studenten ohne eine Prüfung im Fach Religion aufnahm. Gemäß seinem Testament wurde Benthams Leichnam nach seinem Tode im Jahre 1823, bekleidet und mit einem Kopf aus Wachs versehen, im University College London ausgestellt. Seine von ihm so genannte „Auto-Ikone“ ist dort bis heute zu sehen. Ein passenderes Denkmal für seine Bemühungen war der Great Reform Act von 1832, der die Rechte des Parlaments wesentlich stärkte. Das Gesetz wurde wenige Wochen vor seinem Tode verabschiedet. Unter denen, die ihn gut kannten, gaben selbst seine größten Bewunderer zu, er sei eine sehr einseitige Persönlichkeit gewesen, begabt mit einem beeindruckenden Intellekt, jedoch mit nur wenig Gefühl. John Stuart Mill sagte über ihn, er zeichne sich durch ein präzises und konsistentes Denken aus, doch fehle es ihm an der Fähig-

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keit, sich mit den natürlichsten und stärksten Gefühlen der Menschen zu identifizieren. Karl Marx bemerkte, er halte den englischen Ladenbesitzer für das Musterbeispiel eines menschlichen Wesens. Zu keiner Zeit und in keinem Land, sagte Marx, habe sich der hausbackenste Gemeinplatz jemals so selbstgefällig breitgemacht (C 488). Benthams Kenntnis der menschlichen Natur war in der Tat sehr begrenzt. „Sie ist völlig empirisch“, erklärte Mill, „und basiert auf dem Empirismus von jemandem, der wenig Erfahrung hat.“ Mill zufolge wurde er niemals erwachsen: „Er war bis zum Schluss ein Knabe“ (U 78).

Die Entwicklung von John Stuart Mill Mill selbst durfte nie ein Junge sein. Er ging in keine Schule und kam nicht mit anderen Kindern zusammen, sondern wurde von seinem Vater, der hohe Erwartungen an ihn stellte, zuhause erzogen. Im Alter von drei Jahren bekam er seinen ersten Griechischunterricht und mit zwölf Jahren hatte er bereits zahlreiche Dialoge Platons im Original gelesen. In diesem Alter begann er anhand von Aristoteles’ Texten mit dem Studium der Logik und half seinem Vater dessen Geschichte Indiens Korrektur zu lesen. Im Jahre darauf erhielt er Unterricht in politischer Ökonomie. Ferien waren nicht erlaubt, damit „die Gewohnheit zu arbeiten nicht unterbrochen“ würde und damit er „am Müßiggang keinen Geschmack finden“ könne. Doch mit 14 Jahren verbrachte er im Haus von Benthams Bruder Samuel ein Jahr in Frankreich, was ihm die Gelegenheit gab, naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität von Montpellier zu hören. Dies war sein einziger Besuch einer Universität, doch mit 16 Jahren war er bereits wesentlich belesener als die meisten Geisteswissenschaftler mit einem Magisterexamen. Was Mill im Rückblick auf seine außergewöhnliche Erziehung am meisten schätzte, war die Freiheit zum Selbstdenken, die ihm sein Vater einräumte. „Alles, was man durch Nachdenken ergründen konnte, wurde mir erst beigebracht, wenn ich mich selbst bis zum Äußersten bemüht hatte, es selbst herauszufinden“ (A 20). Er meinte, dass er sein Erwachsenenleben, verglichen mit seinen gleichaltrigen Zeitgenossen, die eine Schule und eine Universität besucht hatten, mit einem Vorsprung von 25 Jahren begann. Doch seine Erziehung hatte ihn, in seinen eigenen Worten, in „eine bloße Denkmaschine“ verwandelt. Nachdem er mehrere Jahre damit verbracht hatte, zusammen mit seinen Kollegen von der Westminster Review für liberale Sachen zu streiten, während er hauptberuflich als Angestellter der Ostindien-Kompanie arbeitete, erlitt Mill einen Nervenzusammenbruch. Er fiel in eine tiefe Depression, während der ihm selbst die effektivste Arbeit für Reformen völlig sinnlos erschien. Seiner Autobiografie zufolge rettete ihn im Herbst 1828 die Lektüre von Wordsworth aus dieser Krise. Die Gedichte führten ihm nicht nur die Schönheit der Natur vor Augen, sondern sie zeigten ihm auch Aspekte des menschlichen Lebens, die in Benthams System keinen Platz gefunden hatten.

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„Hier glaubte ich jene Gefühlskultur gefunden zu haben, die ich suchte. Ich erkannte darin eine Quelle innerlicher Freude, eines sympathischen und imaginativen Genusses, den ich mit allen Menschenwesen teilen konnte und der nicht in Verbindung stand mit Kampf oder Unvollkommenheit, sondern nur reicher wurde durch jene Verbesserung in der physischen oder sozialen Lage der Menschheit. Ich glaubte daraus zu lernen, welche Quellen des Glücks stetig tätig fortfließen würden, wenn alle größeren Übel des Lebens beseitigt wären, und ich fühlte mich besser und glücklicher unter dem Einfluss dieser Lektüre.“ (A 89) 2

Nachdem er diese Krise überstanden hatte, verehrte Mill Bentham ebenso wie vorher, und er war der Meinung, sein Werk habe dasjenige aller früheren Moralphilosophen übertroffen. Doch er gelangte zu der Überzeugung, dass sowohl die persönlichen als auch die sozialen Aspekte seines Systems verändert und ergänzt werden müssten. Was seine persönliche Entwicklung betraf, entwickelte sich Mills Denken unter dem Einfluss englischer Dichter weiter. Als dominante Präsenz in seinem inneren Leben trat Coleridge schon bald an die Stelle von Wordsworth. In seinen reifen Jahren war er bereit, Coleridge und Bentham, als „die beiden großen zukunftsträchtigen englischen Denker ihrer Zeit“, auf eine Stufe zu stellen. Seine sozialen Ideen kamen unter französischen Einfluss: des noch in seinen Anfängen befindlichen Sozialismus des Grafen Saint-Simon (1760–1825) und des ebenfalls gerade erst aufkeimenden Positivismus von Auguste Comte (1798–1857). Während die britischen Utilitaristen Privatbesitz und die Vererbung von Eigentum für gegeben und unanfechtbar hielten, behaupteten die Anhänger von SaintSimon, dass das Kapital und die Arbeit einer Gesellschaft zum Nutzen des gesellschaftlichen Allgemeinwohls als Ganzes verwaltet werden sollte, wobei jeder Bürger verpflichtet war, nach seinen Fähigkeiten dazu beizutragen, und Anspruch darauf hatte, gemäß seinem Beitrag belohnt zu werden. Mill war vom Programm des Sozialismus nicht überzeugt, doch machte es ihn darauf aufmerksam, dass die Institutionen des Privateigentums und des freien Marktes einer Rechtfertigung bedurften. Er bewunderte den Idealismus der Saint-Simonisten und wurde von einer Reihe ihrer Prinzipien inspiriert – insbesondere von ihrer Forderung nach völliger Gleichberechtigung von Mann und Frau. Comte begann seine philosophische Karriere als Saint-Simonist, entwickelte jedoch später ein eigenes System, dem er den Namen „positive Philosophie“ gab. Das Merkmal seines Systems, welches auf Mill einen bleibenden Eindruck machte, war die Theorie, dass die Entwicklung des menschlichen Wissens und der menschlichen Gesellschaften drei historische Stadien durchläuft: das theologische, metaphysische und wissenschaftliche Stadium. Diese drei Stadien waren, in der Sprache der Saint-Simonisten, „organisch“ bzw. in sich abgeschlossen. Im ersten Stadium gaben Gesellschaften übernatürliche Erklärungen der Weltphänomene und bemühten sich, durch ma2

Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 120 f.

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gische oder religiöse Praktiken Wirkungen in der Welt herbeizuführen. Dieses Stadium umfasste nach Comte die Zeit des Feudalsystems und dauerte bis zur Reformation. Im metaphysischen Stadium wurden die Phänomene der Welt durch Wesenheiten und Kräfte erklärt, die sich als ebenso okkult wie die übernatürlichen Faktoren erwiesen, von deren Wirkung man im theologischen Stadium ausging. Dieses Stadium wurde durch die Französische Revolution beendet, und die Welt trat nunmehr in das positive oder wahrhaft wissenschaftliche Stadium der Naturforschung und Gesellschaft ein. Von Comte und den Saint-Simonisten übernahm Mill die Idee des Fortschritts. Zwischen den einzelnen organischen Stadien, wie Mill sie verstand, lag eine kritische, störende Unterbrechungsphase, und er glaubte, dass er in einer solchen Phase lebte. Er begann, sich auf eine Zukunft zu freuen, welche „die besten Eigenschaften der kritischen Periode mit den besten Eigenschaften der organischen vereinigen würde – eine ungehemmte Freiheit des Gedankens und eine schrankenlose Freiheit des individuellen Handelns in jeder Weise, die anderen keinen Nachteil bringt, oder auch Überzeugungen von Recht und Unrecht, Nützlichem und Schädlichem, die den Gefühlen tief eingegraben sind durch frühe Erziehung und allgemeine Einmütigkeit der Gesinnung“. (A 100) 3

Wenn dieser Zustand erreicht sein würde, wäre weiterer Fortschritt unnötig: Die moralischen Überzeugungen würden in der Vernunft und den wahren Bedürfnissen des Lebens so fest verankert sein, dass sie – im Gegensatz zu den Glaubensbekenntnissen der Vergangenheit und Gegenwart – nicht wie bisher in regelmäßigen Abständen wieder verworfen werden müssten. Obwohl er schon in jungen Jahren ein äußerst produktiver Journalist war, veröffentlichte Mill fast bis zum Ende seines vierten Lebensjahrzehnts keine Bücher. Doch sein erstes, 1843 veröffentlichtes Buch war ein substanzielles Werk, das sofortige und anhaltende Berühmtheit erlangte: sein System der deduktiven und induktiven Logik. Das Werk, an dem er mehrere Jahre lang gearbeitet hatte, umfasste sechs Bücher, und er gab zu seinen Lebzeiten acht Neuauflagen heraus. Das Buch behandelt eine Vielzahl von Themen, die von Mills Wunsch, eine auf den Stand des 19. Jahrhunderts gebrachte Version der britischen empiristischen Tradition darzulegen, zusammengehalten wurden. Er legte eine säkulare Version von Berkeleys theologischem Phänomenalismus vor: Materie sei nichts anderes als die ständige Möglichkeit der Wahrnehmung, und die Außenwelt „die Welt möglicher, gesetzmäßig aufeinanderfolgender Wahrnehmungen“. Er stimmte Hume darin zu, dass wir vom Geist selbst – im Gegensatz zu seiner bewussten Manifestation in uns selbst – keinen Begriff haben, und er hielt es für ein besonders schwer zu lösendes philosophisches Problem, die Existenz des Fremdseelischen zu beweisen, dass andere 3

Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 135 f.

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Personen außer einem selbst ein bewusstes Selbst haben. Anders als frühere Empiristen war Mill ernsthaft an formaler Logik und der Methodologie der Wissenschaften interessiert. Das System der Logik beginnt mit einer Analyse der Sprache und einer Erläuterung unterschiedlicher Arten von Namen (einschließlich Eigennamen, Pronomen, Beschreibungen, Allgemeinbegriffe und abstrakter Ausdrücke). Mill zufolge benennen alle Namen Dinge: Eigennamen bezeichnen die Dinge, deren Namen sie sind, und Allgemeinbegriffe benennen die Dinge, von denen sie wahr ausgesagt werden können. Doch außer der Bezeichnung (denotation) gibt es noch die Konnotation, d. h.: Ein Wort wie „Mensch“ bezeichnet Sokrates (unter anderem), hat jedoch auch Konnotationen wie Vernünftigkeit und Tierheit. Mill legt eine detaillierte Theorie der logischen Schlüsse dar, die er in reale und verbale einteilte. Syllogistische Schlüsse sind verbale, keine realen Schlüsse, da uns ein Syllogismus kein neues Wissen liefert. Reale Schlüsse sind nicht deduktiv, sondern induktiv, wie in der Schlussfolgerung: „Peter ist sterblich, James ist sterblich, John ist sterblich, daher sind alle Menschen sterblich.“ Ein solcher Induktionsschluss führt uns nicht, wie einige Logiker angenommen haben, von einzelnen Fällen zu einem allgemeinen Gesetz. Die allgemeinen Gesetze sind lediglich Formeln für Schlussfolgerungen von bekannten Einzelfällen auf unbekannte Einzelfälle. Mill gibt fünf Regeln oder Vorschriften für Experimente an, die als Richtlinien für induktive Forschungen in den Naturwissenschaften dienen sollen. Mill behauptet, dass die empirische Forschung durch die Anwendung dieser Vorschriften ohne Berufung auf apriorische Wahrheiten auskommen kann. 4 Das System der Logik geht weit über die Diskussion der Sprache und des logischen Schließens hinaus. Der Titel des sechsten Buches lautet beispielsweise „Von der Logik der moralischen Wissenschaften“. Die wichtigsten derartigen Wissenschaften sind Psychologie, Soziologie und was Mill als „Ethologie“ bezeichnete: das Studium der Bildung des Charakters. Zu den Sozialwissenschaften gehören die Wissenschaft der Politik und das Studium der Wirtschaft. Mills umfassendste Behandlung dieser Themen erschien allerdings in einem anderen Buch, den Prinzipien der politischen Ökonomie (1848). Bei seiner Darstellung der modernisierten Form des Empirismus ging Mill einen wichtigen Schritt weiter als irgendein Philosoph vor ihm. Die Wahrheiten der Mathematik hatten für radikale Empiristen stets ein Problem dargestellt, da es sich hierbei scheinbar um diejenigen Gegenstände unserer Erkenntnis handelte, von denen wir ein sicheres Wissen hatten, und dennoch schienen sie der Erfahrung vorauszuliegen, statt sich aus ihr zu ergeben. Mill behauptete, dass Arithmetik und Geometrie, nicht weniger als die Physik, aus empirischen Hypothesen bestanden – aus Hypothesen, die die Erfahrung zwar höchst umfassend bestätigt habe, die aber dennoch im Lichte weiterer Erfahrung korrigiert werden könnten. 4

Mills Logik wird in Kapitel 4 ausführlich erläutert.

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Diese These – so wenig plausibel sie späteren Philosophen auch erscheinen mochte – war für das übergreifende Ziel, das Mill in seinem System der Logik verfolgte, wesentlich. Es bestand darin, eine Auffassung zu widerlegen, die er als „die stärkste intellektuelle Stütze falscher Lehren und schlechter Institutionen“ ansah, d. h. die Auffassung, dass Wahrheiten über Dinge außerhalb des Geistes durch von der Erfahrung unabhängige Intuition erkennbar sind. Mill selbst hielt diese Frage für die wichtigste der gesamten Philosophie. „Nun ist aber der Unterschied zwischen diesen beiden philosophischen Schulen, von denen die eine der Intuition Raum gibt, die andere die Erfahrung und Assoziation zur alleinigen Grundlage nimmt, nicht eine bloße Sache der abstrakten Spekulation, sondern reich an praktischen Folgen, und sie liegt allen praktischen Meinungsverschiedenheiten im Zeitalter des Fortschritts zugrunde.“ (A 162) 5 Die aggressivste Auseinandersetzung, auf die sich Mill im Rahmen dieses intellektuellen Feldzuges einließ, trug er in einem seiner letzten Werke aus: seiner Untersuchung der Philosophie von Sir William Hamilton von 1865. Sir William Hamilton war ein schottischer Philosoph und Reformer, der von 1838 bis 1856 Professor für Logik und Metaphysik in Edinburgh war. In seinen Vorlesungen versuchte er, eine neue und verbesserte Form der Common-Sense-Philosophie von Reid darzulegen, ähnlich wie Mill versucht hatte, eine neue und verbesserte Form des Empirismus von Hume auszuarbeiten. Als sie in Buchform erschienen waren, sah Mill in diesen Vorlesungen eine ideale Zielscheibe, gegen die er seine explosive Kritik aller Formen des Intuitionismus richten konnte. Mills Untersuchung wurde berühmter als der von ihm analysierte Text, heute wird er jedoch kaum noch gelesen. Diejenigen Werke Mills, die nach wie vor viele Leser finden, wurden nach seinen eigenen Angaben nicht von ihm allein verfasst. Im Jahre 1851 heiratete er Harriet, die Witwe des Londoner Kaufmanns John Taylor. Sie war ein Blaustrumpf, mit der ihn eine etwa 20 Jahre dauernde enge, aber keusche Freundschaft verbunden hatte. Harriet starb bereits sieben Jahre später in Avignon. Mill zufolge sollte sie als Mitautorin der Streitschriften Über Freiheit (erschienen 1859) und Die Hörigkeit der Frau (geschrieben 1861, herausgegeben im Jahre 1869) angesehen werden. Die Schrift Über die Freiheit versucht, der Einmischung der Regierung in die Freiheit des Einzelnen eine Grenze zu ziehen. Ihr Schlüsselprinzip ist folgendermaßen formuliert: „[D]ass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädi-

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Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 223.

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Harriet Taylor, Inspiratorin, Mitarbeiterin und schließlich Ehefrau von J. S. Mill. gung anderer zu verhüten. Das eigene Wohl, sei es das physische oder das moralische, ist keine genügende Rechtfertigung.“ 6

Mill zufolge hat ein Einzelner die Verfügungsgewalt über sich selbst, seinen eigenen Körper und Geist. Der Essay wendet dieses Prinzip auf verschiedene Lebensbereiche an, am offensichtlichsten zur Unterstützung der Meinungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung. 6

Zitiert nach: J. S. Mill, Über die Freiheit, übersetzt von B. Lemke, herausgegeben von B. Gräfrath (Stuttgart: Reclam, 2009), 35.

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Die Veröffentlichung der Streitschrift Von der Hörigkeit der Frau war der Höhepunkt eines langen Kampfes zur Sicherung der Rechte und zur Verbesserung der Lage der Frauen. Als James Mill in seinem Essay über die Regierung behauptet hatte, dass Frauen kein Wahlrecht benötigten, da ihre Interessen mit denen ihrer Männer identisch seien, widersprach ihm – unterstützt von Bentham – der junge John Stuart. In seinen Gedanken zur Parlamentsreform von 1859 schlug er vor, dass jeder gebildete Haushaltsvorstand, unabhängig davon, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, das Wahlrecht haben sollte, denn „warum sollte bei der Stimmabgabe ein Unterschied gemacht werden, der bei der Entrichtung von Steuern nicht gemacht wird?“ (CW xix. 328). Im Jahre 1866 brachte er eine Petition zum Stimmrecht der Frau in das Parlament ein, und während der Debatten zum Reform Act von 1867 schlug er in einer Gesetzesänderung (die 73 Stimmen auf sich vereinigte) vor, diejenigen Wörter zu streichen, die das Stimmrecht auf Männer beschränkten. Die Schrift Über die Hörigkeit der Frauen ging jedoch auf Fragen ein, die über das Stimmrecht weit hinausgingen: Sie griff die Institution der Ehe in der Form an, in der sie vom Recht und der Moral des viktorianischen Zeitalters verstanden wurde. Diese Struktur, so behauptet Mill, mache die Ehe zu einer Form häuslicher Knechtschaft. Von 1865 bis 1868 war Mill Mitglied des Parlaments von Westminster. Zusätzlich zu den Frauenfragen beschäftigte er sich mit irischen Angelegenheiten und der Wahlreform. Er kritisierte die irische Zwangspolitik der britischen Regierung und veröffentlichte eine Streitschrift, in der er für eine radikale Bodenreform eintrat. Er befürwortete ein Verhältniswahlrecht bei Parlamentswahlen, um die Tyrannei einer Mehrheit gegen eine Minderheit zu verhindern. Seine Ideen über derartige Fragen waren 1861 in seinen Betrachtungen über repräsentative Regierung in gedruckter Form erschienen. In seinen letzten Lebensjahren lebte Mill mit seiner Stieftochter Helen Taylor in Avignon. Er starb dort im Jahre 1873 und wurde neben seiner Frau beerdigt. Seine Autobiografie und Drei Essays über Religion wurden von seiner Stieftochter nach seinem Tod veröffentlicht. Obwohl Mills Liberalismus immer wieder neue Anhänger fand, verblasste sein Ruf als systematischer Philosoph schon bald nach seinem Tode. Seine Arbeiten zur Logik fanden nicht die Zustimmung der Gründer der modernen formalen Logik. Sein Empirismus wurde von der Welle des Idealismus erstickt, die Großbritannien in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts überrollte. Erst als der Empirismus in den 1930er Jahren wieder an Boden gewann, fanden seine Schriften wieder zahlreiche Leser. Die utilitaristische Tradition wurde jedoch ohne Unterbrechung von Henry Sidgwick (1838–1900) am Leben erhalten. Er veröffentlichte sein Hauptwerk, die Methoden der Ethik, im Jahr nach Mills Tod. Sidgwick war Fellow7 am Trinity College Cambridge. Im Jahre 1869 gab er sein 7

Anm. d. Übers.: Als Fellow bezeichnet man im angelsächsischen Sprachraum einen Akademiker, der ein gewähltes, gleichberechtigtes Mitglieder der Körperschaft einer Univer-

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Fellowship aus Gewissensgründen auf. Philosophieprofessor in Cambridge wurde er im Jahre 1883. Anfänglich war er ein unkritischer Bewunderer Mills: Er begrüßte sein System, weil es ihm erlaubte, sich der willkürlichen moralischen Regeln zu entledigen, die man ihm im Laufe seiner Erziehung beigebracht hatte. Er gelangte jedoch schließlich zu der Überzeugung, dass zwischen den beiden Hauptprinzipien von Mills System – dem psychologischen Hedonismus (jeder strebt nach seinem eigenen Glück) und dem ethischen Hedonismus (jeder sollte nach dem allgemeinen Glück streben) – ein Widerspruch besteht. Eine der Hauptaufgaben, die er sich in den Methoden der Ethik stellte, bestand darin, dieses Problem, das er als den „Dualismus der praktischen Vernunft“ bezeichnete, zu lösen. Im Laufe seiner Beschäftigung mit diesen Fragen gab Sidgwick das Prinzip des psychologischen Hedonismus auf und ersetzte es durch ein ethisches Prinzip des rationalen Egoismus, welches besagte, jeder Mensch sei verpflichtet, nach dem für ihn Guten zu streben. Dieses Prinzip zeichnete sich seiner Meinung nach durch eine intuitive Evidenz aus. Auch der ethische Hedonismus, entschied er, konnte nur auf grundlegenden moralischen Intuitionen errichtet werden. Daher verband sein System Utilitarismus und Intuitionismus. Er sah dies als Ausdruck des gesunden Menschenverstandes auf dem Gebiet der Ethik. Er glaubte allerdings, die Intuitionen des Common Sense seien in der Regel zu eng und zu spezifisch. Die Intuitionen, die der utilitaristischen Moral zugrunde lagen, waren abstrakter. Eine dieser Intuitionen besagte, dass ein künftiges Gut ebenso wichtig ist wie ein gegenwärtiges, eine weitere, dass aus der Perspektive des Universums das Gute einer beliebigen Einzelperson keine größere Bedeutung hat als das Gute irgendeiner anderen Person. Die verbleibende Schwierigkeit besteht darin, die Intuitionen des Utilitarismus mit denjenigen des rationalen Egoismus zu vereinbaren. Sidgwick gelangte letztlich zu der Auffassung, dass auf der Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung eine vollständige Lösung des Konflikts zwischen meinem eigenen und dem allgemeinen Glück unmöglich ist (ME, xix). Er akzeptierte, dass die Verbindung zwischen den Interessen des Einzelnen und seiner Pflicht für die meisten Menschen durch den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit der Person hergestellt wird. Da er selbst sich in diesem Zusammenhang nicht auf Gott berufen wollte, gelangte er zu dem traurigen Ergebnis, dass sich zeige, dass „die anhaltende Bemühung des menschlichen Verstandes um ein vollkommenes Ideal des rationalen Verhaltens zu einem unvermeidlichen Scheitern vorherbestimmt“ sei (ME, Ende). Er tröstete sich, indem er durch die Arbeit bei der 1882 gegründeten Society for Psychical Research 8 nach empirischen Hinweisen dafür suchte, dass das Individuum seinen Tod überdauert.

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sität ist. An Colleges in Oxford und Cambridge und am Trinity College in Dublin ist die Versammlung der Fellows das oberste Entscheidungsgremium. Anm. d. Übers.: Die Society for Psychical Research ist eine bis heute existierende Vereinigung zur Erforschung parapsychologischer Phänomene.

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Schopenhauers Metaphysik des Willens Bei seiner Darlegung des Prinzips der Nützlichkeit hatte Bentham es mit dem Prinzip der Askese kontrastiert, das Handlungen insofern gutheißt, als sie dazu tendieren, das Glück zu verringern. Das Ziel von Benthams Kritik war die christliche Moral, doch kein Christ hatte das Prinzip der Askese jemals in vollem Umfang verteidigt. Von allen Philosophen war derjenige, der der Verkündung eines solchen Prinzips am nächsten kam, der Atheist Arthur Schopenhauer, der gerade ein Jahr alt war, als Bentham seine Einführung in die Prinzipien der Moral und Regierung (1789) veröffentlichte. Schopenhauer war der Sohn eines Danziger Kaufmanns. Bis zum Jahr 1803, in dem sein Vater starb, erhielt er eine Erziehung, die ihn darauf vorbereiten sollte, ebenfalls eine kaufmännische Laufbahn einzuschlagen. Dann begann er jedoch ein dem Studium gewidmetes Leben und nachdem er zunächst Medizin studiert hatte, schrieb er sich 1810 an der Universität Göttingen für das Fach Philosophie ein. Seine Lieblingsphilosophen waren Platon und Kant, während er Kants Schüler Fichte, dessen Vorlesungen er 1811 in Berlin hörte, nicht bewunderte. Insbesondere widerte ihn Fichtes Nationalismus an, und statt sich dem preußischen Kampf gegen Napoleon anzuschließen, zog er sich zurück, um seine Schrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde zu verfassen, die er 1813 an der Universität Jena als Doktorarbeit einreichte. In den Jahren 1814–1818 schrieb er sein Hauptwerk: Die Welt als Wille und Vorstellung. Das Werk ist in vier Bücher unterteilt, wobei das erste und dritte der Welt als Vorstellung und das zweite und vierte der Welt als Wille gewidmet sind. Mit dem Wort „Vorstellung“ bezeichnet Schopenhauer keinen Begriff, sondern eine konkrete Erfahrung – dasjenige, was Locke und Berkeley als „Idee“ bezeichnet hatten. Schopenhauer zufolge existiert die Welt allein als Vorstellung, nur in Beziehung auf ein Bewusstsein: „Die Welt ist meine Vorstellung.“ Für jeden ist der eigene Körper der Ausgangspunkt der Wahrnehmung der Welt, und andere Objekte werden anhand ihrer Wirkungen aufeinander erkannt. Schopenhauers Darstellung der Welt als Vorstellung unterscheidet sich kaum vom System Kants. Das zweite Buch, in der die Welt als Wille dargestellt wird, ist jedoch höchst originell. Schopenhauer erklärt darin, dass die Wissenschaft die Bewegung von Körpern anhand von Gesetzen erklärt, wie zum Beispiel derjenigen der Trägheit und Gravitation. Doch die Wissenschaft gibt keine Erklärung des inneren Wesens dieser Kräfte. Tatsächlich wäre keine solche Erklärung je möglich, wenn der Mensch nicht mehr als ein erkennendes Subjekt wäre. Ich bin jedoch selbst in dieser Welt verwurzelt und mein Körper ist nicht lediglich ein Objekt neben anderen, sondern er verfügt über eine aktive Kraft, derer ich mir bewusst bin. Dies, und nur dies, erlaubt es uns, in das Wesen der Dinge einzudringen. „[V]ielmehr ist dem als Individuum erscheinenden Subjekt des Erkennens das Wort des Rätsels gegeben: und dieses Wort heißt WILLE. Dieses, und dieses allein, gibt ihm den Schlüssel zu seiner eigenen

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Erscheinung, offenbart ihm die Bedeutung, zeigt ihm das innere Getriebe seines Wesens, seines Tuns, seiner Bewegungen“ (WWI 100). 9 Jeder kennt sich selbst als ein Objekt und ein Wille, und dies wirft ein Licht auf jedes Phänomen in der Natur. Das innere Wesen aller Gegenstände muss mit dem identisch sein, was wir in uns den Willen nennen. Doch es gibt viele verschiedene Abstufungen des Willens, die bis zur Schwerkraft und zum Magnetismus hinabreichen, und nur die höheren Stufen werden von Erkenntnis und Selbstbestimmung begleitet. Dennoch ist der Wille das reale Ding an sich, nach dem Kant vergeblich gesucht hatte. Da auch er annimmt, dass leblose Objekte weder nach Gründen noch aus Motiven handeln, mag man sich fragen, warum Schopenhauer ihre natürlichen Tendenzen als „Wille“ statt mit Aristoteles als „Streben“ oder mit Newton als „Kraft“ bezeichnet. Schopenhauers Antwort hierauf lautet, dass wir – wenn wir Kraft als eine Form des Willens erklären – etwas, das uns weniger bekannt ist, durch etwas erklären, das wir besser kennen. Das einzige uns zugängliche, unmittelbare Wissen über das innere Wesen der Welt ist uns durch das Bewusstsein unseres eigenen Willens gegeben. Doch worin besteht das Wesen des Willens selbst? Alles Wollen, lehrt Schopenhauer, entspringt aus einem Bedürfnis, damit aus einem Mangel und also aus einem Leiden. Geht ein Wunsch in Erfüllung, wird er lediglich durch einen anderen ersetzt. Wir haben ständig mehr Wünsche, als wir uns erfüllen können. Solange unser Bewusstsein von unserem Willen beherrscht wird, können wir niemals Glück oder Frieden erleben. Wir können bestenfalls darauf hoffen, dass Schmerz und Langeweile einander ablösen. Im dritten und vierten Buch seines magnum opus bietet uns Schopenhauer zwei verschiedene Wege zur Befreiung aus der Sklaverei des Willens. Der erste besteht im Genuss von Kunstwerken, in der reinen, interesselosen Kontemplation des Schönen. Der zweite Weg, auf dem wir dem Willen entkommen können, besteht in der Entsagung. Nur wenn wir dem Willen zum Leben entsagen, können wir uns von seiner Tyrannei gänzlich befreien. Der Wille zum Leben wird nicht durch Selbstmord negiert, sondern durch eine asketische Lebensweise. Um wirklichen moralischen Fortschritt zu erzielen, müssen wir nicht nur Bosheit (die Freude am Leiden anderer), Schlechtigkeit (die Nutzung anderer zu unseren Zwecken) und selbst Güte (die Bereitschaft, uns für andere zu opfern) hinter uns lassen. Wir müssen über die Tugend hinausgehen und ein asketisches Leben führen. Man muss eine solche Abscheu vor dieser elenden Welt empfinden, dass man es nicht mehr für ausreichend hält, andere wie sich selbst zu lieben oder lediglich das eigene Vergnügen aufzugeben, wenn es dem Wohl anderer im Wege steht. Um das ethische Ideal zu erreichen, muss man Keuschheit, Armut und Entsagung auf sich nehmen und den Tod als Erlösung vom Bösen willkommen heißen, wenn er sich einem naht. Als Beispiele der Selbstverleugnung führt Schopenhauer christliche, hinduisti9

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 151.

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sche und buddhistische Heilige an. Sein Argument für einen asketischen Lebenswandel basierte jedoch nicht auf irgendwelchen religiösen Voraussetzungen, und er gab zu, dass das Leben der meisten Heiligen von zahlreichem Aberglauben bestimmt war. Religiöse Glaubensüberzeugungen waren seiner Meinung nach mystische Verkleidungen von Wahrheiten, die ungebildeten Menschen nicht erreichbar waren. Doch sein System stand ausdrücklich unter dem Einfluss der Maya-Lehre der indischen Philosophie, die behauptet, dass alle einzelnen Subjekte und ihre Gegenstände lediglich Erscheinungen, der Schleier der Maya, sind. Die Welt als Wille und Vorstellung hatte kaum eine direkte Wirkung. 1820 ging Schopenhauer nach Berlin, wo Hegel der führende Philosoph der Universität war. Er hatte nur wenig Respekt für ihn: Er verspottete die einschläfernde Wirkung seiner langen Satzkonstruktionen, die nicht einen einzigen Gedanken enthielten. Er legte seine eigenen Vorlesungen absichtlich auf die gleichen Zeiten, zu denen Hegel las, doch es gelang ihm nicht, Hegel seine Studenten abzuwerben. Dass man seine Vorlesungen boykottierte, trug zu seiner Abneigung gegen das System Hegels bei, das er größtenteils für Unsinn hielt oder, mit seinem eigenen Wort, für eine unerträgliche, äußerst langweilige „Scharlatanerei“ (WWI, 26). Schopenhauers Genie gewann erst 1839 öffentliche Anerkennung, als er einen Preis der norwegischen Akademie der Wissenschaften für einen Essay Über die Freiheit des Willens gewann. Er veröffentlichte diesen Essay 1841 zusammen mit einem anderen Essay über die Grundlagen der Ethik unter dem Titel Die beiden Grundprobleme der Ethik. 1844 veröffentlichte er eine erweiterte Ausgabe der Welt als Wille und Vorstellung und im Jahre 1851 eine Sammlung von Essays unter dem Titel Parerga und Paralipomena. 10 Diese Schriften gaben einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit, seinen geistreichen und klaren literarischen Stil zu würdigen sowie – mit Vergnügen oder Widerwillen – seine respektlosen und politisch unkorrekten Ansichten zu genießen bzw. zur Kenntnis zu nehmen. Die erfolglosen Revolutionen, die sich 1848 auf dem europäischen Kontinent ereigneten, folgten dicht auf Schopenhauers 60. Geburtstag. In seinem siebten Lebensjahrzehnt erfreute er sich unter den Angehörigen einer Generation, die von den politischen Versuchen, die Welt zu verbessern, enttäuscht worden waren, einer wachsenden Beliebtheit. Das akademische Establishment Deutschlands, das er in seinen Schriften gegeißelt hatte, umwarb ihn nun. Er konnte die angenehmen Seiten der Welt genießen, die er als menschenunwürdige Illusion bezeichnet hatte. Leuten, die darauf hinwiesen, dass sich sein eigenes Leben vom dem des von ihm angepriesenen asketischen Ideals deutlich unterscheide, antwortete er, es sei eine seltsame Forderung an einen Moralphilosophen, er solle keine andere Tugend lehren als die, die er selbst besitze. Er starb im Jahre 1860.

10 Anm. d. Übers.: Nebenarbeiten und Nachgelassenes.

Ethik und Religion bei Kierkegaard

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Ethik und Religion bei Kierkegaard Während Schopenhauer in Frankfurt an der Welt als Wille und Vorstellung weiterarbeitete, gab ein dänischer Philosoph in Kopenhagen eine Reihe von Abhandlungen heraus, die einen ähnlichen Aufruf zur Askese enthielten, welcher allerdings durch eine von derjenigen Schopenhauers sehr verschiedene Metaphysik motiviert war. Der Autor war Søren Aabye Kierkegaard, der im Jahre 1813 in eine tragische Familie geboren wurde. Seine Mutter und fünf seiner sechs Geschwister starben, bevor er das Erwachsenenalter erreicht hatte, und sein Vater glaubte, auf seinem Leben liege ein Fluch, weil er vor langer Zeit als Hirtenjunge eine Gotteslästerung ausgesprochen hatte. Kierkegaard wurde 1830 zum Studium der Theologie auf die Universität Kopenhagen geschickt, wo er – wie Schopenhauer – die Philosophie Hegels kennen und hassen lernte. Er empfand Abneigung gegen die Theologie, erlebte im Jahre 1838 jedoch eine religiöse Bekehrung, die von einer mystischen Erfahrung „unbeschreiblicher Freude“ begleitet war. 1840 verlobte er sich mit Regine Olsen, doch löste er die Verlobung ein Jahr später, da er davon überzeugt war, dass seine eigene und die Geschichte seiner Familie ihn für die Ehe untauglich mache. In der Folgezeit war sein Selbstbild das eines Mannes, der zur Philosophie berufen war. Im Jahre 1841, nachdem er eine Dissertation Über den Begriff der Ironie in stetem Hinblick auf Sokrates geschrieben hatte, ging Kierkegaard nach Berlin, wo er die Vorlesungen von Schelling besuchte. Seine Abneigung gegen den deutschen Idealismus nahm zu, doch im Gegensatz zu Schopenhauer glaubte er, dass dessen Fehler darin bestehe, den Wert des Einzelnen zu unterschätzen. Er folgte Schopenhauer allerdings darin, dass er für seine Leser einen spirituellen Weg vorzeichnete, der in der Entsagung endete. In seiner Version war allerdings jeder Schritt dieses aufwärtsgerichteten Weges, weit davon entfernt eine Abschwächung der Individualität zu bedeuten, ein Stadium in der Bejahung der eigenen einmaligen Persönlichkeit. Kierkegaard legte sein System zwischen 1843 und 1846 in einer Reihe unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichter Werke dar. Entweder/Oder aus dem Jahr 1843 stellt zwei verschiedene Lebensansichten dar: eine ästhetische und eine ethische. Von einem Ausgangspunkt, in dem der Einzelne das unkritische Mitglied einer Masse ist, stellt das ästhetische Leben das erste Stadium der Selbstverwirklichung dar. Der ästhetische Mensch gibt sich dem Vergnügen hin, doch tut er dies mit Geschmack und Eleganz. Das wesentliche Merkmal dieses Charakters ist seine Weigerung, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen – sei sie persönlich, sozial oder gesellschaftlich –, die seine Freiheit einschränken würde, also das zu tun, wonach es ihn jeweils verlangt. Im Laufe der Zeit kann ein solcher Mensch erkennen, dass seine Forderung nach Freiheit in jedem Moment in Wahrheit eine Einschränkung seiner Vollmacht bedeutet. Wenn dies geschieht, tritt er in das ethische Stadium ein, indem er seinen Platz in gesellschaftlichen Institutionen einnimmt und die Verpflichtungen akzeptiert, die sich daraus ergeben. Doch wie sehr er sich auch bemühen mag, das

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moralische Gesetz zu erfüllen: Er wird feststellen, dass seine Kräfte hierzu nicht ausreichen. Vor Gott ist er immer im Unrecht. Sowohl das ästhetische als auch das ethische Stadium des Lebens müssen in Richtung auf das religiöse Stadium überschritten werden. Diese Botschaft ist auf unterschiedliche Weise in weiteren, unter einem Pseudonym erschienenen Werken dargelegt: in Furcht und Zittern (1843), in Der Begriff der Angst (1844) und in Stadien auf des Lebens Weg aus dem Jahre 1845. Diese Reihe von Büchern erreicht ihren Höhepunkt mit der Veröffentlichung der umfangreichen Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift von 1846, deren Botschaft lautet, dass der Glaube nicht das Ergebnis irgendwelcher vernünftiger Gedankengänge ist, wie die Hegelianer behauptet hatten. Der Übergang vom ethischen zum religiösen Stadium ist in Furcht und Zittern anschaulich dargestellt, das als seinen Text die biblische Geschichte von Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu töten und zu opfern, zugrunde legt. Ein ethischer Held, wie zum Beispiel Sokrates, gibt sein Leben für ein allgemeines moralisches Gesetz hin; doch Abraham bricht ein moralisches Gesetz im Gehorsam gegen einen besonderen Befehl Gottes. Dies ist es, was Kierkegaard als „die teleologische Suspension des Ethischen“ bezeichnet – die Handlung Abrahams überschreitet die moralische Ordnung, um ein höheres Ziel (telos) außerhalb dieser Ordnung zu verfolgen. Fühlt sich ein Individuum jedoch berufen, das moralische Gesetz zu durchbrechen, kann ihm niemand sagen, ob es sich um eine bloße Versuchung oder um einen echten Befehl Gottes handelt. Er kann es noch nicht einmal selbst wissen oder sich selbst beweisen: Er muss eine Entscheidung in blindem Glauben treffen. Nach einer zweiten mystischen Erfahrung im Jahre 1848 wechselte Kierkegaard zu einer transparenteren Methode des Schreibens und veröffentlichte, unter seinem eigenen Namen, eine Reihe christlicher Abhandlungen und Werke, wie etwa Die Reinheit des Herzen ist, Eines zu wollen (1847) und Der Liebe Tun (1847). Seine Schrift Die Krankheit zum Tode gab er jedoch wieder unter einem Pseudonym heraus. Er stellt darin den Glauben als einzige Alternative zur Verzweiflung und als notwendige Voraussetzung für eine vollständige Verwirklichung der eigenen authentischen Existenz oder des Selbstseins dar. Ein großer Teil seiner letzten Lebensjahre wurde von seinem Konflikt mit der dänischen Staatskirche bestimmt, die er nur dem Namen nach für christlich hielt. Ihrem Oberhaupt, dem Bischof J. P. Mynster, stand er äußerst kritisch gegenüber, und nach dessen Tod im Jahre 1854 veröffentlichte er einen bitteren Angriff auf ihn. Er gründete und finanzierte eine anti-klerikale Zeitung, Der Moment, die neun Mal erschienen war, als er auf der Straße zusammenbrach und nach einer nur wenige Wochen dauernden Krankheit im November 1855 starb. Gegen seinen eigenen Wunsch und die Proteste seines Neffen erhielt er eine kirchliche Beerdigung.

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Dialektischer Materialismus Für Schopenhauer und Kierkegaard wurde ihre Reaktion gegen das System Hegels zum Anstoß ihres Philosophierens. Die einflussreichste und heftigste Reaktion auf den Hegelianismus war diejenige von Karl Marx, der seine eigene philosophische Aufgabe darin sah, „Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Seiner Ansicht nach musste an die Stelle von Hegels dialektischem Idealismus ein dialektischer Materialismus treten. Marx’ Vater war ein liberaler Jude, der kurz vor der Geburt seines Sohnes im Jahre 1816 zum Protestantismus übergetreten war. Der junge Karl ging in Trier zur Schule und besuchte für ein Jahr die Universität Bonn, wo er sich für das Fach Jura einschrieb und ein wildes Studentenleben führte. Anschließend ging er fünf Jahre nach Berlin. Er ging nun ernsthaften Studien nach, begann Gedichte zu schreiben und wechselte von der Jurisprudenz zur Philosophie. Als Marx nach Berlin kam, war Hegel bereits tot, doch studierte er die hegelsche Philosophie mit einer politisch links orientierten Gruppe, die als Junghegelianer bekannt waren. Die Gruppe wurde von Bruno Bauer geleitet; zu ihren Mitgliedern gehörte auch Ludwig Feuerbach. Von Hegel und Bauer lernte Marx die Geschichte als einen dialektischen Prozess zu betrachten: Jedes Stadium der Geschichte wurde nach grundlegenden logischen oder metaphysischen Prinzipien durch das ihr vorausgehende Stadium streng festgelegt. Die Strenge dieser Determination glich der eines geometrischen Beweises. Die Junghegelianer maßen Hegels Begriff der Entfremdung große Bedeutung bei, d. h. dem Begriff des Zustands, in dem Menschen etwas als sich äußerlich ansehen, was in Wirklichkeit ein wesentliches Element ihres eigenen Seins ausmacht. Die Form der Entfremdung, die Hegel selbst hervorgehoben hatte, bestand darin, dass Individuen, die sämtlich Manifestationen eines einzelnen Geistes waren, einander als feindliche Gegner statt als Elemente einer zugrunde liegenden Einheit betrachteten. Bauer, und Feuerbach noch stärker, betrachtete Religion als höchste Form der Entfremdung, in der Menschen, die die höchste Form des Seins darstellten, ihr eigenes Leben und Bewusstsein in einen unwirklichen Himmel projizierten. „Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: Er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber“ 11, schrieb Feuerbach (W vi. 41). Für Hegel und Feuerbach war die Religion eine Form des falschen Bewusstseins. Für Hegel war dies dadurch zu beheben, dass man die religiösen Mythen in eine idealistische Metaphysik übersetzte. Für Feuerbach war der Hegelianismus jedoch selbst eine Form der Entfremdung: Die Religion sollte nicht übersetzt, sondern abgeschafft und durch ein naturalistisches, positives Verständnis des alltäglichen Lebens der Menschen in der Gesellschaft ersetzt werden. Marx stimmte Feuerbach darin zu, dass die Religion eine Form des falschen Bewusstseins sei, seiner Meinung nach boten jedoch weder Hegel noch Feuerbach eine angemessene Lösung für das Problem der 11 Zitiert nach: L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (Stuttgart: Reclam, 1971), 80.

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Ein postum gezeichnetes Bildnis Kierkegaards von Vilhelm Marstrand.

Entfremdung. Hegels Metaphysik beschrieb den Menschen als bloßen Zuschauer in einem Prozess, den er in Wahrheit kontrollieren sollte. Andererseits hatte Feuerbach nicht erkannt, dass Gott nicht das einzige fremde Wesen war, das der Mensch anbetete. Wesentlich wichtiger war das Geld, das die Entfremdung der menschlichen Arbeit darstellte. Insofern der Privatbesitz die Grundlage des Staates ist, schrieb Marx in einer Kritik der politischen Philosophie Hegels, war auch der Staat eine Entfremdung der wahren Natur des Menschen. Die Entfremdung ließ sich nicht durch philosophische Reflexion aufheben: Was erforderlich war, war nicht weniger als ein sozialer Aufstand. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (TF 11) Nachdem er von der Universität Jena für eine Dissertation über Demokrit und Epikur, in der er 1842 mit den Junghegelianern brach, den Doktorgrad erhalten hatte, ging er nach Köln und begann als politischer Journalist zu arbeiten. Er wurde Herausgeber der radikalen Rheinischen Zeitung. 1843 heiratete er Jenny von Westphalen,

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die er schon seit seiner Kindheit kannte. Sie war die Tochter eines Barons, der im Dienst der preußischen Regierung stand. Obwohl er reizbar und herrisch war, führte Marx – was unter großen Philosophen eher die Ausnahme ist – bis zu Jennys Tod im Jahre 1881 eine glückliche Ehe. Kurz nach der Hochzeit wurde die Rheinische Zeitung auf Drängen des russischen Zaren von der preußischen Regierung geschlossen. Die Familie Marx zog daraufhin nach Paris, wo Karl weitere Arbeit als Journalist fand, die englischen Klassiker der politischen Ökonomie studierte und eine Reihe radikaler Freunde gewann. Der wichtigste unter diesen war Friedrich Engels, der soeben aus Manchester zurückgekehrt war, wo er in der Baumwollspinnerei seines Vaters gearbeitet und eine Studie über die Lage der englischen Arbeiterklasse geschrieben hatte. Nach einem Treffen im Pariser Café de la Régence begannen Marx und Engels gemeinsam die Theorie des Kommunismus auszuarbeiten, d. h. der Abschaffung des privaten zugunsten eines gemeinschaftlichen Eigentums. Das größere Werk, das die beiden Männer gemeinsam verfassten, war Die deutsche Ideologie, die in Brüssel abgeschlossen wurde, wohin Marx umziehen musste, weil man ihn wegen seines subversiven Journalismus aus Paris vertrieben hatte. In diesem Buch legten Marx und Engels eine materialistische Konzeption der Geschichte dar. Das Leben bestimmt das Bewusstsein, nicht das Bewusstsein das Leben. Die grundlegende Wirklichkeit der Geschichte ist der Prozess der ökonomischen Produktion, und um diese zu verstehen, muss man die materiellen Bedingungen der Produktion verstehen. Die unterschiedlichen Weisen der Produktion führen zur Entstehung von gesellschaftlichen Klassen, zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen ihnen, und schließlich zu Formen des politischen Lebens, der Gesetze und der Moral. Die Handmühle resultiert beispielsweise in einer Gesellschaft, der ein Feudalherr vorsteht, während eine dampfgetriebene Mühle eine Gesellschaft herbeiführt, die durch industrielle Kapitalisten dominiert wird. Ein dialektischer Prozess führt die Welt durch diese verschiedenen Stadien in Richtung auf eine Revolution des Proletariats und der Ankunft des Kommunismus. Die deutsche Ideologie wurde erst viele Jahre nach Marx’ Tod veröffentlicht, doch sind ihre Gedanken in der Schrift Das Elend der Philosophie von 1847 zusammengefasst (die gegen ein Werk von P. J. Proudhon mit dem Titel Philosophie des Elends gerichtet war). Eine bekanntere Darstellung der materialistischen Geschichtskonzeption war das Manifest der Kommunistischen Partei, das Marx im Februar 1848 anhand von Aufzeichnungen von Engels verfasste. Es war als Abriss der Prinzipien und Ideale des neugegründeten Bundes der Kommunisten gedacht. Die Botschaft des Kommunistischen Manifests wurde von Engels im Vorwort einer der späteren Ausgaben zusammengefasst, wo es heißt, „daß […] die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und herrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung; daß dieser Kampf aber jetzt eine Stufe erreicht hat, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das

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Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien.“ (CM 48) 12

Die berühmtesten Sätze des Kommunistischen Manifests waren seine letzten: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ In dem Jahr, in dem das Kommunistische Manifest veröffentlicht wurde, gab es in vielen Städten, insbesondere in Paris, Berlin, Mailand und Rom, bewaffnete Aufstände. Marx und Engels kehrten für kurze Zeit nach Deutschland zurück und drängten die Revolutionäre, ein System der freien staatlichen Erziehung einzurichten, das Transport- und Bankwesen zu verstaatlichen sowie eine progressive Einkommenssteuer durchzusetzen. Nach dem Zusammenbruch der Revolution wurde Marx in Köln zweimal vor Gericht gestellt: Einmal lautete die Anklage auf Beleidigung des Staatsanwalts, das andere Mal auf Anstiftung zu einer Revolte. Er wurde zwar von beiden Anklagen freigesprochen, jedoch aus Preußen ausgewiesen. Er kehrte für kurze Zeit nach Paris zurück, wurde aber auch von dort erneut vertrieben. Den Rest seines Lebens verbrachte er in London, häufig in so bitterer Armut, dass drei seiner sechs Kinder verhungerten. In London arbeitete Marx unermüdlich an der Entwicklung der Theorie des dialektischen Materialismus. Häufig forschte er bis zu zehn Stunden am Tag in der Bibliothek des Britischen Museums. Im Winter 1857–1858 schrieb er eine Reihe von Notizbüchern, in denen er seine ökonomischen Ideen des vorausliegenden Jahrzehnts zusammenfasste: Sie wurden der Welt erst 1953 bekannt, als sie unter dem Titel Grundrisse herausgegeben wurden. Auf diesen Entwürfen basierte seine Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859. Das Vorwort dieses Werkes enthält eine knappe und verbindliche Beschreibung der materialistischen Geschichtstheorie. Während seines gesamten Lebens versuchte Marx, kommunistische Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Im Jahre 1864 half er bei der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation, besser bekannt als Erste Internationale. Die Vereinigung veranstaltete in neun Jahren sechs Kongresse, doch sie litt unter internen Meinungsverschiedenheiten, die von dem Anarchisten Mikhail Bakunin angeführt wurden. Sie geriet dadurch in Verruf, dass sie den brutalen und vergeblichen Pariser Aufstand des Jahres 1870 befürwortete. 1876 wurde sie aufgelöst. Marx’ schriftstellerische Karriere erreichte ihren Höhepunkt mit dem kolossalen Werk Das Kapital, in dem er im Einzelnen zu erklären versuchte, wie der Verlauf der Geschichte durch die Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse diktiert wurde. Der erste Band des Werkes erschien 1867 in Hamburg, der zweite und dritte Band 12 Zitiert nach: K. Marx und F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (Stuttgart: Reclam, 1972), 5.

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waren, als Marx im Jahre 1883 starb, noch unveröffentlicht. Sie wurden nach seinem Tode von Engels herausgegeben. Marx wurde auf dem Friedhof von Highgate neben seiner Frau beerdigt. Die Grundthese von Marx’ umfassendem Werk lautet, dass sich das kapitalistische System im Zustand des unaufhaltsamen Niedergangs befindet. Zum Kapitalismus gehört seinem innersten Wesen nach die Ausbeutung der Arbeiterklasse, denn der wahre Wert jeglichen Produkts hängt vom Umfang der Arbeit ab, die darin investiert wurde. Der Kapitalist eignet sich jedoch einen Teil dieses Wertes an und zahlt dem Arbeiter weniger als den realen Wert des Produkts. Mit der Entwicklung der Technik und damit auch der Produktivität des Arbeiters landet ein immer größerer Teil des durch die Arbeit erzeugten Wertes in den Taschen des Kapitalisten. 13 Diese Ausbeutung erreicht zwangsläufig einen Punkt, an dem sie das Proletariat nicht länger hinnehmen kann und es sich in einem Aufstand dagegen erhebt. Das kapitalistische System wird durch eine Diktatur des Proletariats ersetzt, die das Privateigentum abschaffen und einen sozialistischen Staat errichten wird, in dem sich sämtliche Produktionsmittel unter der Kontrolle der Zentralregierung befinden. Der sozialistische Staat wird seinerseits absterben und durch eine kommunistische Gesellschaft ersetzt werden, in der die Interessen des Einzelnen mit denen der Gemeinschaft übereinstimmen. Marx’ Vorhersage einer proletarischen Revolution, auf die ein allgemeiner Sozialismus und Kommunismus folgen würden, wurden durch den weiteren Verlauf der Geschichte seit seinem Tod glücklicherweise widerlegt. Doch wie immer er auch selbst hierüber gedacht haben mag: Seine Theorien sind im Wesentlichen philosophischer und politischer statt wissenschaftlicher Natur; und wenn man sie als solche beurteilt, hatten sie sowohl Erfolge als auch Misserfolge. Marx irrte mit seiner Behauptung, dass Ereignisse ausschließlich von ökonomischen Faktoren bestimmt werden. Selbst in Ländern, in denen es zu sozialistischen Revolutionen des marxistischen Typs kam, hat die Macht, über die Einzelpersonen wie Lenin, Stalin oder Mao verfügten, die Theorie, dass die Geschichte ausschließlich von unpersönlichen Kräften geformt wird, Lügen gestraft. Andererseits würde kein Historiker, noch nicht einmal ein Historiker der Philosophie, es heute wagen zu bestreiten, dass ökonomische Faktoren auf Politik und Kultur einen Einfluss ausüben. Blicken wir nach 150 Jahren auf die Vorschläge des Manifests der Kommunistischen Partei zurück, so finden wir darin eine Mischung voreiliger, drakonischer Maßnahmen, die nur von einer Gewaltherrschaft durchgesetzt werden können (zum Beispiel Beseitigung des Erbrechts und landwirtschaftliche Zwangsarbeit), von Institutionen, die fortschrittliche Länder heute als selbstverständlich ansehen (eine progressive Besteuerung und ein staatliches Schulsystem), sowie Experimente, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten mit mehr oder weniger großem Erfolg übernommen wurden (Verstaatlichung des Eisenbahn- und Bankwesens). Betrachtet man Marx als Prophet, so hat ihn der Lauf der Geschichte widerlegt, ebenso 13 Marx’ Theorie des Mehrwertes wird ausführlich in Kapitel 11 erläutert.

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wie seine Behauptung, dass die Ideologie lediglich eine Verschleierung des Status quo darstellt. Doch die überzeugendste Widerlegung der These, dass das Bewusstsein zur Bestimmung des Lebens machtlos ist, bietet Marx’ eigene Philosophie. Denn die Geschichte der Welt seit seinem Tod wurde, zum Guten oder Bösen, durch das System seiner Ideen enorm beeinflusst, nicht sofern es sich dabei um eine wissenschaftliche Theorie handelt, sondern als Inspiration für politischen Aktivismus und als Richtlinie politischer Regime.

Darwin und die natürliche Zuchtwahl Zehn Jahre vor seinem Tod schickte Marx ein Exemplar der zweiten Ausgabe des ersten Bandes des Kapitals an Charles Darwin, dessen Buch Über die Entstehung der Arten 14 Jahre früher erschienen war. Er erhielt eine höfliche Empfangsbestätigung dieses Geschenks „des großen Werkes“, doch wie viele andere Leser fand es Darwin unmöglich, die Lektüre über die ersten Seiten des Bandes hinaus fortzusetzen. In seiner Beerdigungsansprache beschrieb Engels die materialistische Theorie der Geschichte als wissenschaftlichen Durchbruch, der mit der Entdeckung der Evolution durch natürliche Zuchtwahl vergleichbar sei. Dies war zwar eine Übertreibung, doch sollten sich Marx und Darwin als die beiden einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts erweisen – sowie, damals ebenso wie heute, als die am heftigsten kritisierten. Charles Darwin wurde 1809 in Shrewsbury geboren und war von 1818 bis 1825 im Internat der Shrewsbury School. 1825 schrieb er sich in Edinburgh für das Medizinstudium ein, doch brachte er seine Studien zu keinem Abschluss. Stattdessen ging er an das Christ’s College in Cambridge, wo er 1831 ein unrühmliches Bachelorexamen ablegte. Der Professor für Botanik empfahl ihn Kapitän Fitzroy, dem Kommandeur der HMS Beagle, der ihn als Naturforscher des Schiffes anstellte. Während einer fünfjährigen Reise auf der südlichen Halbkugel sammelte Darwin eine Unmenge geologischen, botanischen, zoologischen und anthropologischen Materials. Anfänglich war er mehr an Geologie als an Zoologie interessiert. Er machte Entdeckungen zur Natur vulkanischer Inseln und zur Entstehung von Korallenriffen. Im Jahre 1839 veröffentlichte er eine populäre Darstellung seiner maritimen Forschungen in einem Band, der am besten als Die Fahrt der Beagle bekannt ist. Im selben Jahr heiratete er Emma Wedgwood und wurde in die Royal Society gewählt. Während der 1840er und 1850er Jahre entwickelte er beim Studium der Flora und Fauna seines Landsitzes in Kent die Theorie der natürlichen Zuchtwahl. 1844 verfasste er einen Abriss seiner Ideen, der zu ihrer privaten Verbreitung bestimmt war. Er hatte die Absicht, seine Theorie in einem umfassenden Band darzustellen, der irgendwann in den 1860er Jahren fertig werden sollte. Als jedoch ein anderer Zoologe, Alfred Russell Wallace, 1858 einer gelehrten Gesellschaft eine ähnliche Theorie über das Überleben der bestangepassten Individuen („survival of the fittest“) vorstellte, entschloss sich Darwin, die Unabhängigkeit und Priorität seiner eigenen Ideen

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unter Beweis zu stellen, und gab daraufhin in Eile eine Kurzfassung seiner Ideen in Druck, bei der es sich um seine Schrift Die Entstehung der Arten handelte. Im Jahre 1860 verteidigte Thomas Henry Huxley in einer berühmten Debatte während einer Sitzung der British Association for the Advancement of Science 14 den Darwinismus erfolgreich gegen Samuel Wilberforce, den Bischof von Oxford. In späteren Jahren veröffentlichte Darwin eine Reihe ergänzender Abhandlungen zur Befruchtung sowie zur Variation der Struktur und des Verhaltens innerhalb verschiedener Arten und zwischen ihnen. Das bekannteste seiner späteren Bücher war das 1871 herausgegebene Werk Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. In diesem Werk entwickelte er die Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl weiter, indem er sie durch die wichtige Theorie der natürlichen Zuchtwahl ergänzte. Außerdem verteidigte er darin die These, dass der Mensch gemeinsame Vorfahren mit Orang-Utans, Schimpansen und Gorillas hat. Er starb im Jahre 1882 und wurde in der Westminister Abbey beigesetzt. Darwin war nicht der Erste, der eine Theorie der Evolution aufstellte. In der Antike hatte der auf Sizilien lebende Philosoph Empedokles, was Darwin ausdrücklich anerkannte, „eine dunkle Ahnung des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl“. 15 Er wurde dafür jedoch von Aristoteles, der annahm, dass es die Arten seit Ewigkeiten gegeben hatte, äußerst heftig kritisiert. Von den Christen wurde Empedokles ignoriert, da sie glaubten, Gott habe die Tierarten im Garten Eden für Adam erschaffen. Der bedeutende schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778), dessen taxonomisches System der Pflanzen- und Tierarten die Grundlage war, auf der Darwin seine Theorie aufbaute, glaubte, dass jede Art einzeln geschaffen worden war und dass die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ihnen den Plan des Schöpfers offenbarten. Linné und andere Taxonomen hatten das Pflanzen- und Tierreich in Gattungen und Arten eingeteilt und ihnen lateinische Namen gegeben. Alle Löwen gehören beispielsweise zu derselben Art, felis leo. Die Art der Löwen gehört zur Gattung der Katzen (felis), zu der andere Arten gehören, wie zum Beispiel der Tiger (felis tigris) und der Leopard (felis pardus). Die Eigenschaften der Individuen einer bestimmten Art können stark voneinander abweichen. Das Kriterium der Zugehörigkeit zur selben Art ist die Fähigkeit der Individuen, mit anderen Angehörigen dieser Art die Art fortzupflanzen. Der Nachwuchs von Angehörigen unterschiedlicher Arten ist hingegen normalerweise unfruchtbar. Statt sich auf die unergründlichen Zwecke eines Schöpfers zu berufen, hatten einige Naturforscher vorgeschlagen, die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Arten innerhalb einer Gattung dadurch zu erklären, dass sie von einer entwicklungsgeschichtlich fernen, gemeinsamen Urform abstammten. Diese Hypothese war von Darwins Großvater Erasmus Darwin (1731–1802) und außerdem von J. B. Lamarck 14 Anm. d. Übers.: Britische Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft. 15 Vgl. Band I, 41.

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vorgeschlagen worden, der 1815 behauptet hatte, dass jede Generation einer Art eine vorteilhafte Eigenschaft erwerben und sie dann an seine Nachkommen weitergeben könne. Giraffen würden ihren Hals verlängern, da sie ihn streckten, um die höchsten Blätter zu erreichen, und dann Nachkommen mit längeren Hälsen zeugen. Indem Darwin die alte Idee der natürlichen Zuchtwahl wieder aufgriff, war er in der Lage, eine sehr verschiedene Erklärung der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Arten zu geben. Seine Theorie basierte auf drei Grundtatsachen. Erstens: Der Grad der Anpassung der Organismen an ihre Umwelt weist große Unterschiede auf. Zweitens: Alle Arten können sich mit einer Geschwindigkeit vermehren, die ihre Anzahl von einer Generation zur nächsten anwachsen lassen würde. Selbst ein sich nur langsam vermehrendes Elefantenpaar könnte nach 500 Jahren 15 Millionen Nachkommen haben. Drittens: Der Grund dafür, dass sich Arten nicht auf diese Weise vermehren, ist die Tatsache, dass in jeder Generation nur wenige Nachkommen überleben und sich fortpflanzen. Alle Angehörigen jeder Art müssen um ihre Existenz kämpfen, sowohl gegen das Klima als auch gegen die konkurrierenden Individuen konkurrierender Arten, um Nahrung für sich selbst zu erlangen und zu verhindern, selbst Teil der Nahrung anderer Tiere zu werden. Es ist dieser dritte Faktor, der zu der Auswahl führt, die dem Mechanismus der Evolution entspricht. „In diesem Wettkampfe wird jede Veränderung, wie gering sie auch sein und aus welchen Ursachen sie auch entstanden sein mag, wenn sie nur irgendwie dem Individuum vorteilhaft ist, auch zur Erhaltung dieses Individuums beitragen und sich gewöhnlich auch auf die Nachkommen vererben. Diese werden daher mehr Aussicht haben am Leben zu bleiben; denn von den vielen Individuen einer Art, die geboren werden, lebt nur eine geringe Anzahl fort.“ (OS 52) 16

Darwin unterschied drei verschiedene Arten der Zuchtwahl. Die künstliche Zuchtwahl war schon seit Langem von Menschen praktiziert worden, die für die Zucht diejenigen Exemplare – seien es Kartoffeln oder Rennpferde – ausgewählt hatten, die ihren Absichten am besten entsprachen. Die natürliche Zuchtwahl war im Gegensatz zur künstlichen nicht zweckgerichtet. Vorteilhafte Variationen blieben lediglich durch den natürlichen Überlebensdruck auf die Individuen einer Art erhalten und wurden durch ihre Fortpflanzung vermehrt. Innerhalb der natürlichen Zuchtwahl nahm Darwin eine weitere Unterscheidung vor: zwischen der natürlichen Zuchtwahl im engeren Sinne, die darüber entschied, ob ein Individuum lange genug überlebte, um sich fortzupflanzen, und der geschlechtlichen Zuchtwahl, die festlegte, mit wem ein solches überlebendes Individuum sich fortpflanzen würde. Im Gegensatz zu Lamarck glaubte Darwin nicht, dass die Unterschiede in der Anpassung von den Eltern zu ihren Lebzeiten erworben worden: Die Variationen, die sie weitergaben, waren ihnen 16 Zitiert nach: C. Darwin, Die Entstehung der Arten, übersetzt von C. W. Neumann (Stuttgart: Reclam, 1976), 99 f.

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selbst vererbt worden. Obwohl es möglich war, einige Gesetze der Variabilität aufzustellen, konnte der Ursprung einer bestimmten vorteilhaften Variation sehr wohl eine Sache des Zufalls sein. Die natürliche Zuchtwahl lässt sich sehr leicht anhand der Beispiele innerhalb einer einzelnen Art veranschaulichen und beobachten. Nehmen wir an, es gäbe eine bestimmte Population von Motten, von denen einige dunkel und andere blasser sind, die auf Birken lebt und die Vögeln als Nahrung dienen. Solange die Bäume ihre natürliche silberne Farbe behalten, haben die besser getarnten, blassen Motten eine höhere Überlebenschance und sie werden daher den größeren Teil der Population ausmachen. Bekommen die Bäume hingegen durch Ruß dunkle Rinden, verschiebt sich die Überlebenswahrscheinlichkeit zugunsten der dunkleren Motten. Da sie in überdurchschnittlicher Zahl überleben, hat es den äußeren Anschein, dass die Art ihre Farbe ändert, von einer charakteristischen blassen zu einer charakteristischen dunklen Farbe. Darwin war der Überzeugung, dass die natürliche Zuchtwahl über lange Zeiträume sogar noch weiter gehen und völlig neue Pflanzen- und Tierarten entstehen lassen konnte. Tatsächlich würde dies ein so langsamer Vorgang sein, dass er im normalen Sinne unbeobachtbar wäre. Doch hatten neuerliche Entdeckungen in der Geologie die Vorstellung plausibel gemacht, dass die Erde eine ausreichend lange Zeit existiert hatte, um Arten auf diese Weise entstehen und wieder aussterben zu lassen. Die Evolution konnte daher nicht nur die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den vorhandenen Arten erklären, sondern auch die Unterschiede zwischen den in der Gegenwart lebenden und den ausgestorbenen Arten früherer Zeitalter, deren Fossilien man auf der ganzen Welt entdeckte. Selbst komplexeste Organe und Instinkte, behauptete Darwin, konnten durch die Ansammlung zahlloser winziger, dem jeweiligen Individuum nützlicher Änderungen erklärt werden. „Die Annahme, daß das Auge mit allen seinen unnachahmlichen Einrichtungen: die Linse den verschiedenen Entfernungen anzupassen, wechselnde Lichtmengen zuzulassen und sphärische wie chromatische Abweichungen zu verbessern, durch natürliche Zuchtwahl entstanden sei, erscheint, wie ich offen bekenne, im höchsten Grade als absurd. […] Der Verstand sagt mir: wenn zahlreiche Abstufungen vom einfachen unvollkommenen Auge bis zum zusammengesetzten und vollkommenen nachgewiesen werden und jede Abstufung ihrem Besitzer nützt, was ja sicher der Fall ist; wenn ferner das Auge beständig variiert und diese Veränderungen erblich sind, was gleichfalls sicherlich zutrifft; und wenn schließlich diese Veränderungen einem Tier unter wechselnden Lebensverhältnissen nützen, so kann die Schwierigkeit der Annahme, daß ein vollkommenes, kompliziertes Auge durch natürliche Zuchtwahl gebildet worden sein könne (so unüberwindlich sie unserer Einbildungskraft auch erscheinen mag), unsere Theorie nicht umstürzen.“ (OS 152) 17 17 Zitiert nach: C. Darwin, Die Entstehung der Arten, übersetzt von C. W. Neumann (Stuttgart: Reclam, 1976), 245 f.

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Darwins Theorie wurde nach seinem Tode durch wichtige Entdeckungen weiter untermauert. Zuerst dadurch, dass die von Gregor Mendel entdeckten Gesetze der Populationsgenetik allgemein bekannt wurden, und dann dadurch, dass die Entdeckung der DNA es den Molekulargenetikern erlaubte, den Mechanismus der Vererbung zu erklären. Die Geschichte des Darwinismus ist ein Teil der Geschichte der Wissenschaft, nicht der Philosophie. Völlig unerwähnt lassen kann eine Geschichte der Philosophie Darwin allerdings nicht, da seine biologischen Arbeiten für die Philosophie der Religion und die allgemeine Metaphysik von Bedeutung sind. 18

John Henry Newman Obwohl Darwins Ideen in manchen kirchlichen Kreisen auf Widerstand stießen, wurden sie von John Henry Newman, dem bedeutendsten religiösen Autor des Viktorianischen Zeitalters, mit Gleichmut zur Kenntnis genommen. Kurz nachdem Die Entstehung der Arten erschienen war, bemerkte Newman, dass man, wenn man an die Schöpfung jeder einzelnen Art glauben wollte, an die Erschaffung von Fossilien enthaltenden Gesteinen glauben müsste. „Die Annahme der getrennten Erschaffung jeder einzelnen Art weist den gleichen Mangel an Einfachheit auf“, schrieb er, „wie die Annahme der Erschaffung von Bäumen im ausgewachsenen Zustand oder von Gesteinen, die Fossilien enthalten. Ich meine, dass es ebenso merkwürdig wäre, dass Affen den Menschen so ähnlich sind, wenn es keine historische Verbindung zwischen ihnen gibt, wie es seltsam wäre, dass sich versteinerte Knochen in Felsen finden, ohne dass es eine Geschichte oder Reihenfolge von Tatsachen gibt, die dies erklärt.“ 19 Er war bereit, sich „Darwin voll und ganz anzuschließen“, und er beteiligte sich an keinem Streitgespräch zwischen Wissenschaft und Religion. Sein Anspruch auf einen Platz in der Geschichte der Philosophie hat andere Gründe. Newman wurde im Jahre 1801 in London geboren. Von 1817 bis 1820 absolvierte er sein Grundstudium am Trinity College in Oxford, und von 1822 bis 1845 war er Fellow am Oriel College. 1828 wurde er Pfarrer der Universitätskirche St Mary’s und erwarb sich einen dauerhaften Ruhm als Prediger. Er war zwar protestantisch erzogen worden, doch wuchs in ihm über die Jahre die Überzeugung, dass die wahre Auslegung des Christentums sein katholisches Verständnis sei. Er war einer der Gründer der „Oxford-Bewegung“ (Oxford Movement), die versuchte, katholischen Prinzipien innerhalb der anglikanischen Kirche Englands Geltung zu verschaffen. Im Jahre 1845 konvertierte er jedoch zum Katholizismus und gab sein Fellowship am Oriel College auf. Als römisch-katholischer Priester gründete er in Birmingham, wo er den größten Teil seiner restlichen Lebensjahre verbrachte, ein Oratorium bzw. eine Gemeinschaft 18 Diese Konsequenzen seiner Theorie werden in den Kapiteln 7 und 12 erörtert. 19 Zitiert in: D. Brown, Newman: A Man for our Time (London: SPCK, 1990), 5.

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von Gemeindepriestern. 1850 wurde er zum ersten Rektor einer neuen katholischen Universität in Dublin ernannt. Er bekleidete dieses Amt bis zum Jahre 1858. Die Vorlesungen und Ansprachen, die er in dieser Rolle hielt, wurden zu dem Buch Die Idee der Universität zusammengefasst, das, nachdem es erschienen war, zu einem Klassiker der Philosophie der Erziehung wurde. Newman verfasste vor und nach seinem Übertritt zum Katholizismus zahlreiche theologische Werke, doch sein Anspruch, als bedeutender Autor gelten zu können, gründete sich im Bewusstsein der Allgemeinheit auf seine Apologia pro Vita Sua. Es handelt sich hierbei um seine Autobiografie, die er als Antwort auf Vorwürfe schrieb, die der Romanschriftsteller Charles Kingsley gegen seine Integrität erhoben hatte. Außer historischen und erbaulichen Werken schrieb er einen philosophischen Klassiker, An Essay in Aid of a Grammar of Assent 20 (1870), in dem er erkenntnistheoretische Ideen entwickelte, die er ursprünglich in Universitätspredigten in St Mary’s vorgestellt hatte. Als das Vatikanische Konzil im Jahre 1870 die päpstliche Unfehlbarkeit definierte, konnte Newman die Begeisterung von Kardinal Manning, der Oberhaupt der katholischen Kirche Englands war, nicht teilen. Trotzdem wurde er 1879 von Papst Leo XIII. zum Kardinal ernannt. Bis zu seinem Tode im Jahre 1890 führte er ein zurückgezogenes Leben. Zu seinen in der Gegenwart bekanntesten Werken zählt Der Traum des Gerontius, ein Drama in Gedichtform, und eine Meditation über den Tod, die 1900 von Edward Elgar vertont wurde. Newmans Interesse an der Philosophie entstammte seinem Wunsch, der Welt zu beweisen, dass nicht nur der Glaube an Gott, sondern auch die Zustimmung zu einem speziellen religiösen Bekenntnis eine vollkommen vernünftige Haltung darstellt. Er ging offen und ehrlich auf die Frage ein: Wie kann ein religiöser Glaube angesichts der Tatsache, dass die Beweise für seine Schlussfolgerungen für die vollständige Hingabe des Glaubens nicht auszureichen scheinen, dennoch gerechtfertigt sein? Anders als Kierkegaard verlangte er nicht die Annahme des Glaubens in der Abwesenheit von Gründen, einen blinden Sprung über einen Abgrund. Er versuchte zu zeigen, dass die Einwilligung zu einem Bekenntnis selbst vernünftig sei, selbst wenn seine einzelnen Aussagen nicht bewiesen werden konnten. Im Laufe seiner Behandlung dieser Frage in The Grammar of Assent hatte Newman über das Wesen des Glaubens, in säkularen ebenso wie in religiösen Zusammenhängen, Vieles von allgemeinem philosophischem Interesse zu sagen. Die allgemeine philosophische Frage, die Newman stellte, war folgende: Ist es immer falsch, einer Aussage zuzustimmen, wenn keine hinreichenden Beweise oder Argumente dafür vorliegen? Locke hatte behauptet, dass man sich der Wahrheit keines Satzes sicherer sein sollte, als durch die Beweise, auf die er sich gründete, gerechtfertigt war. Hierauf antwortete Newman mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass die Gewissheit, mit der wir die Wahrheit vieler unserer festesten Überzeugungen anneh20 Anm. d. Übers.: Ins Deutsche übersetzt von T. Haecker, Philosophie des Glaubens (München: Wiechmann-Verlag, 1921).

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men, weit über die schwachen Beweise hinausgeht, die wir dafür anführen könnten. Wir alle glauben, dass Großbritannien eine Insel ist, doch wie viele von uns haben sie umsegelt oder Leute getroffen, die sie umsegelt haben? Wenn wir uns weigern würden, jemals einem Satz zuzustimmen, für dessen Wahrheit wir nur unzureichende Beweise haben, könnte die Welt nicht fortbestehen, ja könnte selbst die Wissenschaft keine Fortschritte machen. Ein religiöser Glaube kann daher nicht deshalb als irrational verurteilt werden, weil er sich auf Gründe stützt, die mutmaßlichen Charakter haben. Tatsächlich behauptete Newman, dass sich in der Geschichte des Judentums überzeugende Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion finden ließen. Er gestand allerdings zu, dass die Kraft dieser Beweise davon abhing, ob jemand bereit war, sie für sich gelten zu lassen: d. h., ob er an die Existenz Gottes und die Möglichkeit einer Offenbarung glaubte. Auf die Frage, warum man überhaupt an Gott glauben sollte, antwortete Newman, die Macht Gottes könne in der Stimme des Gewissens erlebt werden. Nur wenige, die nicht bereits Gläubige waren, haben Newmans Argument für die Existenz Gottes, das sich auf die Stimme des Gewissens stützt, oder seine Berufung auf das Zeugnis der Geschichte überzeugend gefunden. Doch die allgemeinen erkenntnistheoretischen Erläuterungen, in die er seine Apologetik einbettet, wurden auch von Philosophen bewundert, die weit davon entfernt waren, seinen religiösen Glauben zu teilen. Man wird wohl behaupten dürfen, dass seine Behandlung von Glauben und Gewissheit die beste zwischen Hume und Wittgenstein ist. 21

Nietzsche Genau zu der Zeit, als Newman seine Rechtfertigung der Rationalität religiösen Glaubens vorlegte, wurde in Basel ein junger Mann zum Professor ernannt, der den Tod Gottes proklamierte und damit eine Verkündigung von sich gab, deren Widerhall das 20. Jahrhundert erfüllen sollte. Friedrich Nietzsche wurde 1844 in Sachsen in eine fromme lutheranische Familie geboren. Er studierte in Bonn und Leipzig, und zwar nicht Philosophie, sondern klassische Philologie. Er war ein solch herausragender Student, dass er bereits im Alter von 24 Jahren, noch bevor er eine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, zum Professor ernannt wurde. Er unterrichtete von 1869 bis 1879, mit einer kurzen Unterbrechung, während der er am französisch-preußischen Krieg von 1870 im Sanitätskorps teilnahm, an der Universität Basel. Kurz vor dem Antritt seiner Lehrtätigkeit machten zwei Ereignisse auf Nietzsche einen besonders tiefen Eindruck: Das eine war die Lektüre von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, das andere ein Treffen mit Richard Wagner, dessen Tristan und Isolde ihn fasziniert hatte, seit er die Oper im Alter von 16 Jahren zum ersten Mal gehört hatte. Sein erstes veröffentlichtes Buch, Die Geburt der Tragödie 21 Vgl. Kapitel 6.

Nietzsche

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(1872) lässt den Einfluss beider Männer erkennen. In diesem Werk beschrieb er den Gegensatz zwischen zwei Aspekten der griechischen Seele: zwischen den wilden, irrationalen Leidenschaften, die in Dionysos personifiziert waren und sich in der Musik und der Tragödie ausdrückten, und der von Apollon dargestellten, disziplinierten und harmonischen Schönheit, die in der Epik und der bildenden Kunst zum Ausdruck kam. Der Triumph der griechischen Kultur habe darin bestanden, dass ihr eine Synthese zwischen diesen beiden Aspekten gelungen war – eine Synthese, die durch die rationalistischen Übergriffe von Sokrates zerstört worden war. Die Dekadenz, die Griechenland daraufhin überkam, habe auch das gegenwärtige Deutschland infiziert, das nur erlöst werden könne, indem es sich der Führung Richard Wagners anvertraute, dem das Buch gewidmet war. Zwischen 1873 und 1876 veröffentlichte Nietzsche vier Essays, die Unzeitgemäßen Betrachtungen. Zwei schlugen einen negativen Ton an: Einer war eine Kritik an David Strauß, dem Verfasser des berühmten Buches Das Leben Jesu, der andere ein Angriff auf die Anmaßungen der Geschichtswissenschaft. Die zwei anderen Essays hatten einen positiven Inhalt: Der eine pries die Philosophie Schopenhauers an, während der andere eine Lobrede auf Wagner war. Im Jahre 1878 brach Nietzsche jedoch mit Wagner (das Musikdrama Parsifal ekelte ihn an), und auch sein Enthusiasmus für Schopenhauer (dessen Pessimismus er nun erdrückend fand) war jetzt eine Sache der Vergangenheit. In seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches nimmt er eine auf uncharakteristische Weise wohlgesinnte Haltung zur utilitaristischen Moral ein und scheint ausnahmsweise den Wert der Wissenschaft über den der Kunst zu stellen. Doch seine anhaltende Grundüberzeugung, die Kunst sei die höchste Aufgabe des Lebens, kommt in der Form des Werkes zum Ausdruck, das – statt argumentativ oder deduktiv vorzugehen – in einem poetischen und aphoristischen Stil geschrieben ist. Im Jahre 1879 gab Nietzsche, der an einer psychosomatischen Krankheit litt, seinen Baseler Lehrstuhl auf. Er ließ sich frühzeitig pensionieren und schied aus dem akademischen Leben aus. In den nächsten zehn Jahren lebte er an verschiedenen Orten Italiens und der Schweiz, stets auf der Suche nach einem seiner Gesundheit zuträglichen Klima. Viele Sommer verbrachte er in Sils Maria im Engadin. Er publizierte eine Reihe von Werken, in denen er hoffte, den Pessimismus Schopenhauers durch eine optimistische Bejahung des Lebens zu ersetzen. In Werken wie Morgenröte (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882) griff er christliche Selbstverleugnung, altruistische Moral, demokratische Politik und wissenschaftlichen Positivismus als lebensfeindliche Phänomene an. Er sah es als seine Aufgabe, ein neues Bild und einen neuen Begriff des „freien Geistes“ zu entwerfen. Nietzsche drückte die Freiheit seines Geistes auch praktisch aus: 1882 ging er mit dem deutschen Materialisten Paul Rée und der russischen Feministin Lou von Salomé eine Dreiecksbeziehung ein. Diese ménage à trois war jedoch nur von kurzer Dauer, und von 1883 bis 1885 widmete sich Nietzsche der Arbeit an seinem berühm-

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1 Von Bentham bis Nietzsche

testen Buch, dem orakelhaften Werk Also sprach Zarathustra. Das unglückliche Ende der Beziehung zu Lou mag den berühmtesten Aphorismus des Buches motiviert haben: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ Doch das Werk enthielt drei wichtigere Gedanken, die in der letzten Phase von Nietzsches Leben bedeutsam werden sollen. Einer von ihnen besagt, dass an die Stelle des Menschen, wie er jetzt ist, eine Form des Übermenschen treten wird. Zarathustra wartet auf „Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele“. 22 Der zweite Gedanke ist der Gedanke der Umwertung aller Werte, eines völligen Umsturzes der herkömmlichen, insbesondere der christlichen moralischen Wertvorstellungen. Der dritte ist der Gedanke der ewigen Wiederkehr: In der endlosen Zeit wiederholt sich alles, was je geschehen ist, in ewigen Kreisläufen immer wieder. Diese Ideen erläuterte Nietzsche in einer weniger prophetischen und diskursiveren Sprache in seinen philosophisch wichtigsten Werken, den Schriften Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Diese Texte beschreiben einen Gegensatz zwischen einer aristokratischen Herrenmoral, die Edelmut, Tapferkeit und Ehrlichkeit einen hohen Wert beimisst, und einer Sklaven- oder Herdenmoral, die unterwürfige Eigenschaften wie Demut, Mitgefühl und Wohlwollen hoch schätzt. Nietzsche sah diese Werke als Prolegomena zu einer systematischen Darstellung seiner Philosophie, an der er zwar intensiv arbeitete, die er aber niemals zum Abschluss bringen konnte. Nach seinem Tode wurden mehrere Versionen dieses Systems aus seinem handschriftlichen Nachlass zusammengestellt, doch nur der erste Teil dieses Werkes erschien zu seinen Lebzeiten unter dem Titel Der Antichrist (1895). 1888 war das Jahr einer fieberhaften Produktion. Zusätzlich zu der Schrift Der Antichrist veröffentlichte Nietzsche einen erbitterten Angriff auf Wagner (Der Fall Wagner) und schrieb Die Götzendämmerung, die 1889 herausgegeben wurde. Außerdem schrieb er ein halbautobiografisches Werk, Ecce homo, in dem man bereits Spuren der geistigen Verwirrung – die wahrscheinlich Folge einer Syphilis war – finden kann, wegen der er 1889 in eine Klinik in Jena eingewiesen wurde. Gegen Ende seines Lebens war er geistesgestört und wurde zunächst von seiner Mutter und später in Weimar von seiner Schwester Elisabeth gepflegt, die ein Archiv seiner Schriften aufbaute. Nietzsche starb im Jahre 1900. Die Verfügungsgewalt über seinen Nachlass lag in den Händen seiner Schwester, die über seine Veröffentlichung eine beschützerische Kontrolle ausübte. Während des 20. Jahrhunderts hatte Nietzsche einen großen Einfluss in Europa, besonders auf die russische Literatur und die deutsche Philosophie. Seine Ablehnung einer unterwürfigen Moral und des demokratischen Sozialismus machten ihn unter Nationalsozialisten beliebt, die nach ihrem Selbstverständnis einen höheren Typus des Menschen heraufführen wollten. Dies war einer der Gründe dafür, dass er von 22 Zitiert nach: F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Band 4 der von G. Colli und M. Montinari herausgegebenen kritischen Gesamtausgabe (München: dtv/de Gruyter, 1999), 351.

Nietzsche

Das Dreigespann Salomé, Rée und Nietzsche in einer Fotografie aus dem Jahre 1882.

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englischsprachigen Philosophen lange vernachlässigt wurde. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begannen die Moralphilosophen der analytischen Tradition jedoch zu erkennen, dass man auf die Herausforderung seines Angriffs auf die traditionellen Moralverstellungen, statt sie zu ignorieren, eingehen musste. 23

23 Auf die Einzelheiten von Nietzsches Schriften zur Moralphilosophie wird in Kapitel 9 eingegangen.

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Von Peirce bis Strawson Peirce und der Pragmatismus

Sämtliche Denker, mit denen wir uns in diesen Bänden bisher beschäftigt haben, kamen entweder aus Europa, Nordafrika oder dem Mittleren Osten. Der amerikanische Kontinent, auf dem heute einige der einflussreichsten Philosophen der Welt arbeiten, war bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts philosophisch wenig fruchtbar. Im 18. Jahrhundert lieferten der calvinistische Theologe Jonathan Edwards (1703–1758) und der universalgelehrte Aufklärer Benjamin Franklin (1706–1790) scharfsinnige Beiträge zu verschiedenen Bereichen der Philosophie. Im frühen 19. Jahrhundert vertrat der Essayist Ralph Waldo Emerson (1803–1882) eine als „Transzendentalismus“ bezeichnete Form des Idealismus, die in den Vereinigten Staaten für kurze Zeit in Mode war. Ihren Kinderschuhen entwuchs die amerikanische Philosophie jedoch erst mit dem Werk von Charles Sanders Peirce (1839–1914). Peirce war der Sohn eines hervorragenden Mathematikprofessors an der Universität Harvard, an der er im Jahre 1863 ein Chemiediplom mit der Note summa cum laude ablegte. Er arbeitete 30 Jahre für die Küstenvermessung der amerikanischen Regierung. Außerdem unternahm er Forschungen an der Sternwarte der Universität Harvard. Das einzige von ihm veröffentlichte Buch, Photometric Researches (Fotometrische Forschungen), war ein Werk der Astronomie. Um 1872 schloss er sich einer Diskussionsgruppe um William James, Chauncey Wright, Oliver Wendell Holmes und anderen an, die als Metaphysical Club bekannt war. In Harvard unterrichtete er die Geschichte und Logik der Naturwissenschaften in mehreren Vorlesungszyklen und von 1879 bis 1884 war er Dozent für Logik an der neuen, auf Forschung ausgerichteten Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Er war ein schwieriger Kollege, der für akademische Konventionen wenig Geduld aufbrachte, und 1883 ging seine Ehe mit Melusina Fay, einer Pionierin des Feminismus, auseinander. Es gelang ihm nicht, eine feste Anstellung zu bekommen, und er bekleidete nie wieder eine akademische Position oder eine sonstige Vollzeitstelle. In seinen späten Lebensjahren lebte er mit seiner zweiten, ihm treu ergebenen Frau Juliette verarmt in Pennsylvania. Peirce war ein höchst origineller Denker. Wie viele andere Philosophen des 19. Jahrhunderts, nahm er als seinen Ausgangspunkt die Philosophie von Kant, von dessen Kritik der reinen Vernunft er behauptete, er kenne sie fast auswendig. Doch hielt er Kants Verständnis der formalen Logik für amateurhaft. Als er sich daranmachte, diesen Mangel zu beheben, fand er es notwendig, große Teile des kantischen Systems, wie zum Beispiel die Theorie der Kategorien, umzugestalten. Er kannte und bewunderte die Schriften der mittelalterlichen Scholastiker, insbesondere die Werke

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2 Von Peirce bis Strawson

von Duns Scotus, was unter seinen Zeitgenossen ungewöhnlich war. Diejenige Eigenschaft der scholastischen Philosophen (und gotischer Architekten), die er am meisten lobte, war das gänzliche Fehlen jeglicher Form von Eigendünkel. Von seinen eigenen Leistungen hatte er eine hohe Meinung: In der Logik ließ er nur Aristoteles und Leibniz als ihm ebenbürtig gelten. Seine philosophischen Arbeiten decken einen breiten Bereich ab, nicht nur in der Logik im engeren Sinne, sondern sie umfassen auch die Theorie der Sprache, die Erkenntnistheorie und die Philosophie des Geistes. Er war der Begründer des Pragmatismus, einer der einflussreichsten amerikanischen Schulen der Philosophie. Zu seinen Lebzeiten wurde Peirce’ Philosophie der Öffentlichkeit nur in einer Reihe von Aufsätzen in Fachzeitschriften bekannt. Im Jahre 1868 veröffentlichte er im Journal of Speculative Philosophy zwei Aufsätze mit dem Titel „Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man“ (Bestimmte angebliche Fähigkeiten des Menschen betreffende Fragen), in denen er eine frühe Version seiner Erkenntnistheorie darlegte. Ihre Ergebnisse waren hauptsächlich negativ: Wir verfügen über keine Kraft der Introspektion und wir sind unfähig, ohne die Verwendung von Zeichen zu denken. Vor allem verfügen wir nicht über die Kraft der Intuition: Jede Erkenntnis ist logisch durch irgendeine frühere Erkenntnis bestimmt. Einflussreicher war eine Reihe von „Veranschaulichungen der Logik der Naturwissenschaften“, die in den Jahren 1877–1878 im Popular Science Monthly 1 erschien. In diesen Beiträgen formulierte er sein Prinzip des Fallibilismus, welches besagt, dass sich sämtliche Wissensansprüche des Menschen letztlich als falsch erweisen können. Er bestand darauf, dass dies nicht bedeute, dass es so etwas wie objektive Wahrheit nicht gebe. Die absolute Wahrheit ist das Ziel der wissenschaftlichen Forschung, doch das meiste, was wir erreichen können, ist eine immer größere Annäherung an die Wahrheit. Einer der Artikel aus dem Jahre 1878 enthält eine erste Formulierung dessen, was später als das „Prinzip des Pragmatismus“ bezeichnet wurde. Die Formulierung besagt: Wollen wir uns Klarheit über unsere Gedanken zu einem Gegenstand verschaffen, so müssen wir uns lediglich fragen, welche denkbaren Wirkungen praktischer Natur mit dem Gegenstand in Zusammenhang stehen (EWP 300). 1884 gab Peirce eine Sammlung von Johns-Hopkins-Studien zur Logik heraus. Er schrieb einen Aufsatz zur Logik der Relationen, und sein auf Quantifikation beruhendes System der Logik wurde von einem seiner Studenten vorgestellt. Das System enthielt eine neue Schreibweise zur Darstellung der Syntax der Relationen. So konnte zum Beispiel das zusammengesetzte Zeichen „Lij“ den Satz darstellen, dass Isaak Jessica liebt, und das Zeichen „Gijk“ den Satz, dass Isaak Jessica Kore gab. Außerdem enthielt das System zwei Quantoren, den Existenzquantor „S“ (der für „einige“ steht) und den Allquantor „P“ (der für „alle“ steht). Die Syntax von Peirce’ „Allgemeiner Algebra der Logik“, wie er sie nannte, entsprach derjenigen des Logiksystems, das

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Anm. d. Übers.: Ein populärwissenschaftliches Magazin, das bis heute monatlich erscheint.

Peirce und der Pragmatismus

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C. S. Peirce mit seiner zweiten Frau Juliette.

Gottlob Frege einige Jahre früher in Deutschland entwickelt hatte, ihm jedoch unbekannt war. In der Fachzeitschrift The Monist stellte Peirce in dem Aufsatz „Eine Vermutung über das Rätsel“ („A Guess at the Riddle“) (1891–1892) seine Metaphysik und seine

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2 Von Peirce bis Strawson

Philosophie des Geistes vor dem Hintergrund einer allgemeinen evolutionären Kosmologie vor. Die definitive Darstellung seines Pragmatismus (den er nun lieber als „Pragmatizismus“ bezeichnete, da er mit einigen der Thesen seiner Schüler nichts zu tun haben wollte) erfolgte in einer Reihe von Vorlesungen, die er 1903 in Harvard hielt, sowie in einer weiteren Reihe von Aufsätzen, die 1905 in The Monist erschienen. In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Peirce intensiv an der Entwicklung einer allgemeinen Zeichentheorie – einer Semiotik, wie er sie nannte – als Bezugssystem einer Philosophie des Denkens und der Sprache. Viele dieser Ideen, die von einigen als sein wichtigster Beitrag zur Philosophie angesehen werden, wurden zwischen 1903 und 1912 in einem Briefwechsel mit der Engländerin Victoria Welby ausgearbeitet. Die umfassende philosophische Synthese, an der er viele Jahre lang arbeitete, wurde von Peirce niemals fertiggestellt, und bei seinem Tode hinterließ er eine große Zahl unveröffentlichter Entwürfe, von denen viele postum herausgegeben wurden, als man sich im 20. Jahrhundert für sein Werk zu interessieren begann. Sein Einfluss auf andere Philosophen steht nicht im Verhältnis zu seinem Genie. Peirce’ Arbeiten zur Logik wurden nie in vollständig rigoroser Form dargestellt, und es war Frege, der – durch Russell – der Welt das logische System gab, das die beiden unabhängig voneinander ersonnen hatten. Peirce’ subtile Form des Pragmatismus hatte nie die gleiche Anziehungskraft wie die populärere Version seines Bewunderers William James. Daher wenden wir uns nun den Werken von Frege und James zu.

Der Logizismus Freges Gottlob Frege (1848–1925) war zu seinen Lebzeiten nur wenigen Menschen bekannt, nach seinem Tode sollte er jedoch einen einzigartigen Platz in der Geschichte der Philosophie einnehmen. Er war der Erfinder der modernen mathematischen Logik und ein herausragender Philosoph der Mathematik. Er wird von vielen als Begründer derjenigen Richtung der Philosophie verehrt, die seit langer Zeit an den englischsprachigen Universitäten vorherrscht: der analytischen Philosophie, deren Hauptanliegen die Analyse der sprachlichen Bedeutung ist. Es war sein Einfluss – in Großbritannien durch Bertrand Russell und auf dem europäischen Kontinent durch Edmund Husserl vermittelt –, der zur sprachanalytischen Wende der Philosophie führte, die für das 20. Jahrhundert so charakteristisch war. Frege wurde in eine lutheranische Lehrerfamilie geboren, die in Wismar an der deutschen Ostseeküste lebte. Sein Vater starb, als er noch nicht volljährig war, und er wurde während seiner restlichen Schulzeit und als Student von seiner Mutter unterstützt, die nach dem Tod ihres Mannes Leiterin der Mädchenschule wurde, die sein Vater gegründet hatte. Frege ging 1869 an die Universität Jena, wechselte aber nach vier Semestern nach Göttingen, wo er 1873 mit einer Dissertation zu einem Thema der Geometrie promovierte. 1874 kehrte er als unbezahlter Privatdozent nach Jena

Der Logizismus Freges

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zurück. Er lehrte 44 Jahre an der dortigen mathematischen Fakultät. 1879 wurde er zum Professor ernannt. Abgesehen von seinen intellektuellen Aktivitäten verlief sein Leben ereignislos und zurückgezogen. Nur wenige seiner Kollegen machten sich die Mühe, seine Bücher und Aufsätze zu lesen, und er hatte Schwierigkeiten, für sein wichtigstes Werk einen Herausgeber zu finden. Freges produktive Lebensphase begann im Jahre 1879 mit der Veröffentlichung einer Streitschrift mit dem Titel Begriffsschrift. Die Begriffsschrift, die dem Buch seinen Titel gab, war ein neuer Symbolismus, der die logischen Beziehungen, die die Umgangssprache verdeckt, deutlich hervortreten lassen sollte. Frege verwendete sie zur Entwicklung eines neuen Systems, das im Zentrum der modernen Logik einen dauerhaften Platz hat: des Aussagenkalküls. Hierbei handelt es sich um denjenigen Zweig der Logik, der sich mit Schlussfolgerungen beschäftigt, deren Gültigkeit von der Bedeutung der Negation, Konjunktion, Distinktion usw. abhängen, wenn diese auf ganze Sätze angewendet werden. Sein Grundprinzip besteht darin, dass der Wahrheitswert (d. h. die Wahrheit bzw. Falschheit) eines Satzes, der Junktoren wie „und“, „wenn“ und „oder“ enthält, ausschließlich von den Wahrheitswerten der Teilsätze abhängt, die durch die Junktoren verbunden werden. Zusammengesetzte Sätze wie zum Beispiel „Schnee ist weiß und Gras ist grün“ werden, um es mit dem technischen Ausdruck der Logiker zu bezeichnen, als Wahrheitsfunktionen ihrer Elementarsätze – wie etwa „Schnee ist weiß“ und „Gras ist grün“ – behandelt. Die Aussagenlogik war in der Antike von den Stoikern und im Mittelalter von Ockham und anderen studiert worden; 2 doch es war Frege, der ihr als Erster eine systematische Formulierung gab. Die Begriffsschrift stellt das Aussagenkalkül auf eine axiomatische Weise dar, in der sämtliche Gesetze der Aussagenlogik durch eine spezielle Methode des logischen Schließens von einer Reihe elementarer Aussagen abgeleitet werden. Der konkrete Symbolismus, den Frege für diesen Zweck erfunden hatte, lässt sich nur schwer drucken, und er wurde schon längst durch eine andere Darstellung des Kalküls ersetzt. Die Operationen, die er ausdrückt, sind für die mathematische Logik jedoch nach wie vor von grundlegender Bedeutung. Freges bedeutendster Beitrag zur Logik war jedoch nicht der Aussagenkalkül, sondern die Prädikatenlogik. Hierbei handelt es sich um denjenigen Zweig der Logik, der sich mit der inneren Struktur von Aussagen beschäftigt, statt sie als atomare Einheiten zu betrachten. Frege erfand eine neuartige Schreibweise für die Quantifizierung, d. h. eine Methode, mit der sich Schlussfolgerungen, deren Gültigkeit von Ausdrücken wie „alle“ oder „einige“, „nicht“ oder „keine“ abhängt, symbolisieren und rigoros darstellen lassen. Mithilfe dieser Schreibweise stellte er eine Prädikatenlogik vor, die einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der aristotelischen Syllogistik bedeutete, die man bis dahin für das A und O der Logik gehalten hatte. Freges Methode erlaubte es der formalen Logik, erstmals mit Sätzen fertig zu werden, die mehrere

2

Vgl. Band I, 155; Band II, 156 f.

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Quantifikationen enthielten, wie zum Beispiel „Niemand weiß alles“ und „Jeder Junge liebt irgendein Mädchen“. 3 Obwohl die Begriffsschrift in der Geschichte der Logik ein klassischer Text ist, hatte der Zweck, zu dem Frege sie verfasst hatte, mehr mit der Mathematik als mit der Logik zu tun. Zusätzlich zu einem formalen System der Logik wollte er ein formales System der Arithmetik vorstellen und was ihm am wichtigsten war: Er wollte zeigen, dass die beiden Systeme eng verbunden waren. Er behauptete, es lasse sich zeigen, dass alle Wahrheiten der Arithmetik aus Wahrheiten der Logik ableitbar waren, ohne dazu irgendeiner weiteren Hilfe zu bedürfen. Wie diese These (die später als Logizismus bezeichnet wurde) bewiesen werden könne, war in der Begriffsschrift skizziert worden und sollte in zwei späteren Werken, den Grundlagen der Arithmetik von 1884 und den Grundgesetzen der Arithmetik von 1893 und 1903, ausführlicher dargestellt werden. Der wichtigste Schritt in Freges logizistischem Programm bestand in der Definition der arithmetischen Begriffe, wie zum Beispiel des Begriffs der Zahl, in rein logischen Begriffen, wie zum Beispiel dem Begriff der Klasse. Frege gelang dies, indem er die Kardinalzahlen als Klassen äquivalenter Klassen behandelte, das heißt als Klassen mit derselben Anzahl von Elementen. So ist beispielsweise die Zahl Zwei die Klasse der Paare und die Zahl Drei die Klasse der Trios. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Definition zirkulär. Dies ist jedoch nicht der Fall, da sich der Begriff der Äquivalenz von Klassen ohne die Verwendung des Begriffs der Zahl definieren lässt. Zwei Klassen sind einander äquivalent, wenn sie restlos aufeinander abgebildet werden können. Um eins von Freges eigenen Beispielen anzuführen: Ein Kellner kann wissen, dass sich auf einem Tisch ebenso viele Messer wie Teller befinden, ohne zu wissen, wie viele Messer und Teller auf dem Tisch liegen. Er muss lediglich feststellen, dass sich rechts neben jedem Teller ein Messer und links von jedem Messer ein Teller befindet. So könnten wir beispielsweise die Zahl Vier als die Klasse aller Klassen definieren, die der Klasse der Evangelisten äquivalent ist. Doch eine solche Definition würde für den Zweck des logistischen Programms nutzlos sein, weil die Tatsache, dass es vier Evangelisten gab, nicht zur Logik gehört. Frege muss für jede Zahl nicht nur eine Klasse der richtigen Größe finden, sondern auch eine Klasse, deren Größe durch die Logik garantiert ist. Er beginnt hier mit der Null als der ersten Zahl der Reihe der Zahlen. Sie lässt sich in rein logischen Begriffen als die Klasse aller Klassen definieren, die derjenigen Klasse äquivalent sind, deren Objekte nicht mit sich selbst identisch sind. Diese Klasse enthält offensichtlich keine Elemente (die „Null-Klasse“). Anschließend können wir die Zahl Eins als die Klasse aller Klassen definieren, die derjenigen Klasse äquivalent sind, deren einziges Element Null ist. Um von diesen Definitionen zu den Definitionen der anderen natürlichen Zahlen fortzuschreiten, muss Frege den Begriff des Folgens in dem Sinne definieren, in dem in der Reihe der Zahlen Drei auf Zwei und Vier auf Drei folgt. Er definiert „n folgt unmittelbar auf m“ auf 3

Vgl. Kapitel 4.

Der Logizismus Freges

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folgende Weise: „Es gibt einen Begriff F und einen unter ihn fallenden Gegenstand x der Art, dass die Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt, n ist, und dass die Anzahl, welche dem Begriffe ‚unter F fallend aber nicht gleich x‘ zukommt, m ist.“ 4 Mithilfe dieser Definition können die anderen Zahlen definiert werden, ohne irgendwelche anderen logischen Begriffe wie zum Beispiel Identität, Klasse und Klassenäquivalenz zu verwenden. Die Begriffsschrift ist ein sehr nüchternes und formales Werk. Die Grundlagen der Arithmetik stellen das logizistische Programm wesentlich vollständiger, jedoch auch wesentlich informeller dar. Symbole kommen darin kaum vor, und Frege bemüht sich sehr darum, sein Werk zu dem anderer Philosophen in Beziehung zu setzen. Kant zufolge hängt unsere arithmetische und geometrische Erkenntnis von der Anschauung ab. In der Kritik der reinen Vernunft hatte er behauptet, dass mathematische Wahrheiten synthetische Wahrheiten a priori sind, d. h. dass sie, obwohl sie genuin informativ sind, dennoch vor aller Erfahrung gewusst werden.5 John Stuart Mill hatte, wie wir gesehen haben, behauptet, bei mathematischen Aussagen handle es sich um empirische Verallgemeinerungen, die weithin anwendbar und weitgehend bestätigt waren, aber dennoch a posteriori. Frege stimmte Kant gegen Mill darin zu, dass das mathematische Wissen apriorischer Natur war, und wie Kant glaubte auch er, dass die Geometrie auf Anschauung basiert. Doch seine These, die Arithmetik sei ein Zweig der Logik, bedeutete, dass sie nicht synthetisch war, wie Kant behauptet hatte, sondern analytisch. Wenn Frege Recht hatte, basierte sie ausschließlich auf allgemeinen Gesetzen, die in jedem Bereich des Wissens gültig waren und keiner Unterstützung durch empirische Tatsachen bedurften. Die Arithmetik besaß ebenso wenig einen eigenen Gegenstandsbereich wie die Logik. Die Grundlagen enthielten zwei Thesen, die Frege für bedeutsam hielt: Die eine besagt, dass jede einzelne Zahl ein für sich selbst existierender Gegenstand ist, die andere, dass der Inhalt einer Aussage, die eine Zahl zuordnet, eine Aussage über einen Begriff ist. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Aussagen einander widerstreitend, doch wenn wir verstanden haben, was Frege unter einem „Begriff“ und einem „Gegenstand“ versteht, erkennen wir, dass dies nicht der Fall ist. Mit der Behauptung, dass eine Zahl ein Gegenstand ist, will Frege nicht sagen, dass sie etwas Greifbares wie ein Busch oder eine Kiste ist. Es geht ihm vielmehr darum, zwei Dinge zu bestreiten: Erstens bestreitet er, dass eine Zahl eine Eigenschaft von irgendetwas ist. Wenn wir drei blinde Mäuse vor uns haben, ist die Dreiheit keine Eigenschaft irgendeiner Maus, wie dies für die Blindheit zutrifft. Zweitens bestreitet er, dass eine Zahl irgendetwas Subjektives ist, ein Bild oder eine Idee oder irgendeine Eigenschaft eines Element des Geistes. Begriffe haben für Frege eine vom Geist des Menschen unabhängige Existenz, 4 5

Zitiert nach: G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, herausgegeben von C. Thiel (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988), 84. Vgl. Band III, 113 f.

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sodass kein Widerspruch zwischen der Behauptung besteht, dass Zahlen Gegenstände und dass Zahlen Aussagen über Begriffe sind. Mit dieser zweiten Behauptung will Frege sagen, dass eine Aussage wie „Die Erde hat einen Mond“ dem Begriff Mond der Erde die Zahl Eins zuordnet. In ähnlicher Weise ordnet der Satz „Die Venus hat keine Monde“ dem Begriff Mond der Venus die Zahl Null zu. In letzterem Fall ist es völlig klar, dass es keinen Mond gibt, der eine Zahl als seine Eigenschaft haben könnte, alle Aussagen über Zahlen müssen jedoch auf dieselbe Weise behandelt werden. Wenn derartige Aussagen über Zahlen Aussagen über Begriffe sind: Was für eine Art von Gegenstand ist dann eine Zahl selbst? Freges Antwort auf diese Frage lautet, dass eine Zahl der Umfang eines Begriffes ist. Er sagt, dass die Zahl, die zu dem Begriff F gehört, der Umfang des Begriffes „gleichzahlig mit dem Begriff F“ ist. Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass sie die Klasse aller Klassen ist, die die gleiche Anzahl von Elementen haben wie die Klasse der Fs, wie wir weiter oben erklärt haben. Freges Theorie, dass Zahlen Gegenstände sind, hängt demnach von der Möglichkeit ab, Klassen wie Gegenstände zu behandeln. In den Jahren nach der Veröffentlichung der Grundlagen veröffentlichte Frege eine Reihe bahnbrechender Aufsätze über die Philosophie der Sprache. Drei erschienen in den Jahren 1891–1892: „Funktion und Begriff“, „Über Sinn und Bedeutung“ sowie „Über Begriff und Gegenstand“. Jeder dieser Aufsätze war eine erstaunlich knappe und klare Darstellung origineller philosophischer Ideen von großer Tragweite. Von Frege selbst wurden sie zweifellos als bloße Ergänzungen zu seinen Arbeiten über das Wesen der Mathematik angesehen, doch gegenwärtig betrachtet man sie als klassische Texte, die die moderne Semantik begründeten. 6 Zwischen 1884 und 1893 arbeitete Frege an einer Abhandlung, den Grundgesetzen der Arithmetik, die der Höhepunkt seiner intellektuellen Laufbahn hätte sein sollen. Darin sollte auf umfassende und formale Weise die logizistische Konstruktion der Arithmetik aus der Logik dargelegt werden. Die Aufgabe bestand darin, eine Reihe von Axiomen aufzustellen, bei denen es sich eindeutig um logische Wahrheiten handelte, eine Reihe von unbezweifelbar gültigen Schlussregeln darzulegen und dann im Ausgang von diesen Axiomen mithilfe dieser Regeln nacheinander die üblichen Wahrheiten der Arithmetik abzuleiten. Diese Ableitung sollte einen Umfang von drei Bänden haben, von denen nur zwei fertiggestellt waren. Der erste behandelte die natürlichen Zahlen und der zweite die negativen, irrationalen und komplexen Zahlen sowie die Brüche. Freges ehrgeiziges Projekt wurde abgebrochen, bevor es abgeschlossen wurde. Zwischen der Veröffentlichung des ersten Bandes im Jahre 1893 und des zweiten im Jahre 1903 erhielt Frege den Brief eines englischen Philosophen, Bertrand Russell, der darauf hinwies, dass das fünfte der zu Anfang aufgestellten Axiome das gesamte System inkonsistent mache. Faktisch stellte dieses Axiom fest, dass, wenn jedes F ein G ist 6

Einzelheiten von Freges Beiträgen zur Philosophie der Sprache werden in Kapitel 5 behandelt.

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und jedes G ein F, die Klasse der Fs mit der Klasse der Gs identisch ist und umgekehrt. Es war das Axiom, das in Freges eigenen Worten den Übergang von einem Begriff zu seinem Umfang erlaubte, den Übergang von Begriffen zu Klassen, der unerlässlich war, wenn es möglich sein sollte zu beweisen, dass Zahlen logische Gegenstände sind. Wie Russell zeigte, bestand das Problem darin, dass das System es mit diesem Axiom erlaubte, ohne Einschränkung Klassen von Klassen zu bilden und Klassen von Klassen von Klassen usw. Klassen müssen selbst klassifizierbar sein. Kann dann eine Klasse sich selbst als Element enthalten? Auf die meisten Klassen trifft dies nicht zu (die Klasse der Menschen ist kein Mensch), doch für einige scheint es zu gelten (zum Beispiel ist die Klasse der Klassen gewiss selbst eine Klasse). Es scheint daher zwei Klassen zu geben: solche, die sich selbst als ein Element enthalten, und solche, auf die dies nicht zutrifft. Doch die Bildung der Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst als eins ihrer Elemente enthält, führt auf ein Paradoxon: Wenn sie sich selbst als eines ihrer Elemente enthält, ist sie kein Element ihrer selbst, und wenn sie sich nicht selbst als eines ihrer Elemente enthält, ist sie ein Element ihrer selbst. Ein System, das auf einen solchen Widerspruch führt, kann logisch nicht tragfähig sein. Der zweite Band der Grundgesetze befand sich bereits in Druck, als Russells Brief eintraf. Vollkommen niedergeschlagen beschrieb Frege das Paradoxon in einem Anhang und versuchte, das System zu korrigieren, indem er das problematische Axiom abschwächte. Doch dieses revidierte System erwies sich seinerseits als inkonsistent. Nachdem Frege 1918 seine Lehrtätigkeit in Jena eingestellt hatte, scheint er seine Überzeugung, die Arithmetik könne aus der Logik abgeleitet werden, aufgegeben zu haben und zur Auffassung Kants, dass ihre Sätze, wie diejenigen der Geometrie, synthetische Sätze a priori sind, zurückgekehrt zu sein. Wir wissen heute, dass das logizistische Programm undurchführbar ist. Der Weg von den Axiomen der Logik zu den Lehrsätzen der Arithmetik ist doppelt versperrt. Erstens war die naive Mengenlehre, die ein Teil von Freges logischen Grundannahmen war, wie Russell gezeigt hatte, selbst inkonsistent. Zweitens wurde der Begriff der „Axiome der Arithmetik“ selbst fragwürdig, als später (im Jahre 1931, durch den österreichischen Mathematiker Kurt Gödel) bewiesen wurde, dass es unmöglich ist, ein vollständiges und konsistentes System von Axiomen für die Arithmetik aufzustellen. Dennoch war Freges philosophisches Erbe von enormem Einfluss. Er verglich den Mathematiker häufig mit einem Geografen, der neue Kontinente kartografiert. Seine eigene Karriere als Denker glich derjenigen von Christoph Kolumbus als Entdecker. Wie es Kolumbus nicht gelang, einen Seeweg nach Indien zu finden, dafür Europa aber mit einem neuen Kontinent bekannt machte, misslang es Frege zwar, die Arithmetik aus der Logik abzuleiten, doch gelangen ihm Neuerungen in der Logik und Fortschritte in der Philosophie, die die Landkarte beider Fächer auf Dauer veränderten. Wie Kolumbus versank Frege in Mutlosigkeit und Depression; er sollte niemals erfahren, dass er der Gründer einer einflussreichen philosophischen Bewegung war. Doch er verlor nicht alle Hoffnung, dass sein Werk einen Wert hatte. Als er kurz vor seinem Tod im Jahre 1925 seinem Sohn seinen Nachlass anvertraute, schrieb

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er ihm, er solle nicht verachten, was er geschrieben habe. Wenn auch nicht alles Gold sei, so sei doch Gold darunter.

Psychologie und Pragmatismus bei William James William James (1842–1910) war sechs Jahre älter als Frege, doch er begann seine philosophische Karriere erst sehr spät in seinem Leben. Er wurde in New York als Sohn eines von Swedenborg beeinflussten Theologen geboren. Sein jüngerer Bruder war der berühmte Romanautor Henry James. Seine Ausbildung erhielt er teilweise in Amerika und zum Teil in Europa, wo er Schulen in Frankreich und Deutschland besuchte. Er wusste eine Zeitlang nicht, ob er Maler oder Arzt werden sollte, schrieb sich jedoch 1846 an der medizinischen Fakultät von Harvard ein. Nachdem er sein Examen bestanden hatte, war er längere Zeit krank und litt unter Depressionen. Nach seiner Genesung (die er der Lektüre der Werke des französischen Philosophen Charles Renouvier zuschrieb) erhielt er an der medizinischen Fakultät von Harvard die Stelle eines Dozenten für Anatomie und Physiologie. Er wendete sich nun jedoch der empirischen Psychologie zu und gründete 1876 das erste psychologische Forschungslabor Amerikas. Zu seinen Schülern gehörte unter anderen die Romanautorin Gertrude Stein. Sein zweibändiges Werk über die Prinzipien der Psychologie (1890) war eine schwungvolle Zusammenfassung der Ergebnisse dieser noch jungen Disziplin. James zufolge bestand die Aufgabe der Psychologie darin, die Zustände des Gehirns mit den Phänomenen des Bewusstseinsstroms in Verbindung zu bringen. Das Werk wurde zu einem Standardlehrbuch, doch als es erschien, hatte James bereits die Psychologie verlassen und war Professor der Philosophie geworden. Das Fach hatte ihn seit seinen Diskussionen mit Peirce und den anderen Mitgliedern des 1872 gegründeten Metaphysical Club fasziniert. Wie sein Vater hatte James ein großes Interesse an religiösen Fragen, und er war darum bemüht, eine wissenschaftliche Weltsicht mit einem Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in Einklang zu bringen. Seine Karriere als professioneller philosophischer Autor begann mit dem Erscheinen seines Buches Der Wille zum Glauben, in dem er Situationen erörterte, in denen wir uns in einer Frage entscheiden müssen, ohne über überzeugende theoretische Beweise zu verfügen. Er meinte, dass in dieser Situation unsere Pflicht, die Wahrheit zu glauben, ebenso groß sei wie die Pflicht, Irrtümer zu vermeiden. Er erlangte schon bald einen internationalen Ruf und 1901–1902 gab er die Gifford Lectures in Edinburgh heraus, die später unter dem Titel Die Vielfalt religiöser Erfahrung erschienen. In diesem Werk stellte er sich die Aufgabe, „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen einzelner Menschen in ihrer Einsamkeit“ zu untersuchen, „insofern sie sich so verstehen, dass sie in einer Beziehung zu demjenigen stehen, was sie als das Göttliche betrachten“. Er unterwarf die Phänomene der Mystik und andere Formen religiöser Empfindung der empirischen Untersuchung, in der Hoffnung, auf diese Weise ihre Echtheit und Gültigkeit unter Beweis stellen zu können.

Psychologie und Pragmatismus bei William James

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Mit der Publikation seines Werkes Pragmatismus (1907) festigte James seine Position als Altmeister der amerikanischen Philosophie. Sowohl der Titel als auch das Hauptthema des Buches wurden von James Peirce zugeschrieben, und in seiner Formulierung des pragmatischen Prinzips wird diese intellektuelle Schuld offensichtlich. „Um daher vollständige Klarheit in unsere Gedanken über einen Gegenstand zu bringen, müssen wir lediglich erwägen, welche praktischen Auswirkungen dieser Gegenstand hat, welche Wahrnehmungen wir erwarten und welche Reaktionen wir vorbereiten müssen. Unsere Vorstellung von diesen Auswirkungen, seien sie unmittelbare oder mittelbare Wirkungen, macht dann für uns die ganze Vorstellung dieses Gegenstandes aus, sofern diese Vorstellung überhaupt eine positive Bedeutung hat.“ (P 47)

Während Peirce’ Pragmatismus eine Theorie der Bedeutung war, war James’ Version eine Theorie der Wahrheit, und während Peirce’ Pragmatismus unpersönlich und objektiv war, war James’ Pragmatismus individualistisch und subjektiv. Dies ist der Grund, warum Peirce James’ Theorie ablehnte und seine eigene Theorie in „Pragmatizismus“ umbenannte. James’ Pragmatismus zufolge ist eine Idee so lange wahr, wie es für unser Leben vorteilhaft ist, daran zu glauben. „Wahr ist der Name für das, woran zu glauben für uns gut ist“ (P 42). Er und seine Anhänger fassten dies manchmal in dem Motto zusammen: „Das Wahre ist das, was funktioniert.“ Kritiker wendeten ein, dass der Glaube an eine Unwahrheit die Menschen glücklicher machen könne als der Glaube an die Wahrheit, was zur Folge hatte, dass die Wahrheit nicht mit dem gleichgesetzt werden dürfe, was sich auf lange Sicht als zufriedenstellend erweist. Gläubige und Ungläubige waren gleichermaßen schockiert über James’ Behauptung, dass „die Hypothese von Gott wahr ist, wenn sie eine im weitesten Sinne befriedigende Wirkung hat“ (P 143). James bestand darauf, dass seine Theorie keiner Leugnung der objektiven Wirklichkeit gleichkomme. Wirklichkeit und Wahrheit sind voneinander verschieden. Dinge haben Wirklichkeit; wahr sind Ideen und Überzeugungen. „Wirklichkeiten sind nicht wahr, sie sind; wahr sind die Überzeugungen von ihnen“ (T 196). Ob eine Überzeugung wahr ist oder nicht, erfahren wir nicht dadurch, dass wir entdecken, ob ihre Konsequenzen gut sind; vielmehr sind es die Konsequenzen, die „mit diesem Unterschied in unseren Überzeugungen, der mit unserer Gewohnheit, sie wahr oder falsch zu nennen, übereinstimmt, die einzig begreifbare praktische Bedeutung“ zuweisen (T 273). Es wird häufig gesagt, dass dasjenige, was eine Überzeugung wahr macht, ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist. James ist bereit, dies zu akzeptieren, doch fragt er, was der Begriff der Übereinstimmung konkret bedeutet. Reden wir davon, dass eine Idee auf die Wirklichkeit „zeigt“ oder ihr „entspricht“ oder „korrespondiert“ oder „sich mit ihr deckt“, so ist das, wovon wir wirklich sprechen, der Prozess der Überprüfung oder Bestätigung, der uns von der Idee zur Wirklichkeit führt. Ein solches vermittelndes Geschehen macht James zufolge die Idee wahr.

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In einer Reihe von Aufsätzen (die in The Meaning of Truth (Die Bedeutung der Wahrheit) [1909] zusammengefasst wurden) verteidigt, präzisiert und verbessert James seinen Pragmatismus. Doch es blieb unklar, ob in seinem System die tatsächliche Existenz einer Wirklichkeit eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Überzeugung von ihrer Existenz zufriedenstellend (satisfactory) ist (was ihn zur Korrespondenz als Element der Wahrheit verpflichtet) oder ob der Glaube an einen Gegenstand auch dann zufriedenstellend sein kann, wenn der Gegenstand nicht wirklich existiert (wodurch er sich dem Vorwurf aussetzt, Wunschdenken wirklicher Forschung vorzuziehen). In demselben Jahr, in dem er The Meaning of Truth herausgab, veröffentlichte James außerdem die Schrift A Pluralistic Universe, in der er den Pragmatismus zur Stützung einer religiösen Weltsicht verwendet. Er sprach darin von unserem Bewusstsein eines „weiteren Selbst, von dem aus erlösende Erfahrungen einströmen“, und von einem „mütterlichen Meer des Bewusstseins“ (mother sea of consciousness). Er glaubte jedoch, dass das Ausmaß des Leidens in der Welt uns daran hindere, an eine unendliche absolute Gottheit zu glauben: Dem übermenschlichen Bewusstsein fehlt es entweder an Macht oder Wissen oder an beidem. Selbst Gott kann die Zukunft nicht bestimmen oder vorhersagen. Ob die Welt besser oder schlechter werden wird, hängt von den Entscheidungen der mit ihm kooperierenden menschlichen Wesen ab. Im hohen Alter war James, der ein großherziger und geselliger Mensch war und eine hervorragende Mitteilungsgabe besaß, eine inner- und außerhalb der USA hoch verehrte Persönlichkeit. Peirce hingegen war isoliert und verarmt. 1907 fand ihn einer von James’ Studenten halb verhungert in einer Pensionsunterkunft in Cambridge. James organisierte einen Spendenfond, aus dem Peirce bis 1914, dem Jahr, in dem er an Krebs verstarb, seine Grundbedürfnisse decken konnte. James selbst starb 1910 an einem Herzleiden. Auf seinem Sterbebett in Cambridge bat er seinen Bruder Henry, sechs Wochen lang in der Nähe zu bleiben, um Nachrichten zu empfangen, die er ihm vom Jenseits aus schicken könnte. Keine solcher Mitteilungen wurde aufgezeichnet. In England entwickelte F. C. S. Schiller (1864–1937) eine Version des Pragmatismus, die er als „Humanismus“ bezeichnete. Schiller hatte in Oxford am Balliol College studiert und für eine Weile an der Cornell-Universität nördlich von New York unterrichtet, wo er William James begegnete. Im Anschluss daran kehrte er nach Oxford zurück, zum Corpus Christi College, an dem er ein Fellowship erhalten hatte. Philosophisch war er in Oxford vereinsamt, da in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die philosophischen Seminare der größeren Universitäten im Vereinigten Königreich von einer britischen Version des Idealismus Hegels dominiert wurden.

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Der britische Idealismus und seine Kritiker Nach dem Tod von John Stuart Mill setzt eine Reaktion gegen die Tradition des britischen Empirismus ein, zu deren bedeutendsten Repräsentanten er gehört hatte. Im Jahre 1874, ein Jahr nach Mills Tod, brachte ein Tutor am Balliol College, T. H. Green (1836–1882), eine Ausgabe von David Humes Traktat über die menschliche Natur heraus. In der umfangreichen Einleitung zu dieser Ausgabe unterzog er die Voraussetzungen des Empirismus einer vernichtenden Kritik. Im selben Jahr erschien die erste einer langen Reihe englischer Übersetzungen der Werke von Hegel, der zuerst von Benjamin Jowett (1817–1893), dem Master von Greens College, in Oxford eingeführt worden war. Zwei Jahre später veröffentlichte F. H. Bradley vom Merton College seine Ethical Studies, einen Gründungsklassiker des britischen Hegelianismus. 1893 vollendete Bradley Appearance and Reality (Erscheinung und Wirklichkeit), die umfassendste und maßgebliche Darstellung des britischen Idealismus. Wenig später wurden die Methoden und einige der Lehren von Hegels Logik von J. M. E. McTaggart, einem Philosophen am Trinity College in Cambridge, in einer Reihe von Abhandlungen dargelegt. Greens Idealismus war, ähnlich wie James Pragmatismus, zum Teil durch religiöse Anliegen motiviert. „Es gibt ein geistiges, seiner selbst bewusstes Wesen, und alles, was wirklich ist, ist seine Aktivität und sein Ausdruck“, schrieb er in den Prolegomena to Ethics, die ein Jahr nach seinem Tode veröffentlicht wurden. „Wir stehen alle zu diesem geistigen Wesen in Beziehung, nicht nur als Teile der Welt, in der es sich ausdrückt, sondern in einem unvollständigen Maße als Teilnehmer an demjenigen Selbstbewusstsein, durch das es gleichzeitig sich selbst konstituiert und sich von der Welt unterscheidet.“ Diese Teilnahme war seiner Meinung nach die Quelle von Moral und Religion. Bradley und McTaggart hingegen entfernten jeglichen, auch nur im entfernten Sinne christlichen Inhalt aus dem Idealismus. Letzterer ging sogar so weit zu bestreiten, dass es irgendein Absolutes gebe, das sich von einer aus endlichen Selbsten bestehenden Gemeinschaft unterscheide. Es war jedoch eine allgemeine Grundannahme der britischen Idealisten, dass die Wirklichkeit wesentlich geistiger Natur ist: Sie verwarfen die dualistische Vorstellung, Geist und Materie seien zwei gleichrangige und voneinander unabhängige Seinsbereiche. Bradleys „Monismus“ hatte jedoch noch einen anderen grundlegenden Aspekt: die These, dass die Wirklichkeit als Totalität betrachtet werden müsse. Wahrheit ist keine Eigenschaft einzelner, atomistischer Aussagen, sondern nur von Urteilen über das Sein als Ganzes. In Appearance and Reality versuchte Bradley zu zeigen, dass wir uns in Widersprüche verwickeln, wenn wir versuchen, das Universum als einen Komplex voneinander unabhängiger Substanzen zu verstehen, die von ihren Relationen zueinander verschieden sind. Jeder Teil des Universums steht – intern, durch sein Wesen – mit jedem anderen in Beziehung. Die Gegenstände der alltäglichen Erfahrung, der Raum und die Zeit, in denen sie sich befinden, und sogar das Subjekt der Erfahrung, das individuelle Selbst: Dies alles sind bloße Erscheinungen, die zwar für

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praktische Belange nützlich sind, aber äußerst irreführend, wenn es um das wahre Wesen der Wirklichkeit geht. Die Vorherrschaft des Idealismus wurde um die Jahrhundertwende durch zwei junge Philosophen in Cambridge auf entschiedene Weise infrage gestellt: durch G. E. Moore (1873–1958) und Bertrand Russell (1872–1970). Beide waren Schüler von McTaggart und taten ihre ersten philosophischen Schritte als Hegelianer. Russell fand Hegel selbst wesentlich weniger beeindruckend als McTaggart: Besonders seine unklare Haltung zur Mathematik widerte ihn an. In seinem Aufsatz „The Nature of Judgement“ („Das Wesen des Urteils“) (1899) verwarf Moore die grundlegende Behauptung, die Wirklichkeit sei eine Schöpfung des Geistes, und ersetzte sie durch einen platonischen Realismus: Begriffe sind objektive, unabhängige Wirklichkeiten, und die Welt besteht aus solchen, miteinander zu wahren Aussagen verbundenen Begriffen. Nach seinem Angriff auf den metaphysischen Idealismus griff Moore vier Jahre später den empirischen Idealismus an. In seiner „Widerlegung des Idealismus“ verwarf er die Behauptung esse est percipii: Zu existieren sei etwas vom Wahrgenommenwerden sehr Verschiedenes, und die Gegenstände unseres Wissens seien von unserem Wissen von ihnen unabhängig. Außerdem würden materielle Gegenstände direkt von uns wahrgenommen. Moores Revolte gegen den Idealismus hatte einen großen Einfluss auf Russell: „Es war höchst aufregend“, erinnerte er sich später, „nachdem man die sinnlich wahrnehmbare Welt für unwirklich gehalten hatte, wieder glauben zu können, dass es solche Dinge wie Tische und Stühle wirklich gab“ (A 135). Er erlebte es als eine große Befreiung, trotz Locke und seiner Nachfolger denken zu können, dass Gras wirklich grün war. Wie Moore verband er seine Abkehr vom Idealismus mit der Bejahung eines platonischen Glaubens an Universalien: Jedes Wort, sei es partikulär oder allgemein, stand für eine objektive Entität. Besonders in seiner Reaktion auf Bradley maß er der unabhängigen Wirklichkeit von Relationen große Bedeutung bei. In einer brillanten Studie zur Philosophie von Leibniz ging er 1899 so weit zu behaupten, dass die komplizierte und unvorstellbare Struktur der Metaphysik der Monaden das Ergebnis des einzigen Irrtums sei, alle Sätze müssten die Subjekt-Prädikat-Form haben, statt zu erkennen, dass relationale Sätze auf dieses Muster nicht zurückgeführt werden können.

Russell über Mathematik, Logik und Sprache Relationen waren für Russell um diese Zeit von besonderem Interesse, da er sich gerade intensiv mit der Philosophie der Mathematik beschäftigte, in der relationale Aussagen wie „n ist der Nachfolger von M“ eine wichtige Rolle spielen. Unabhängig von Frege und anfänglich ohne Kenntnis seiner Werke hatte Russell ein logizistisches Projekt verfolgt und versucht, die Mathematik von der reinen Logik abzuleiten. Sein Unternehmen war sogar ehrgeiziger als Freges, da er zu zeigen hoffte, dass nicht nur

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Der Speisesaal von Trinity College, Cambridge, dem College von Moore, Russell und Wittgenstein.

die Arithmetik, sondern auch die Geometrie und Differenzialrechnung von allgemeinen logischen Axiomen abgeleitet waren. Zwischen 1900 und 1903, zum Teil beeinflusst durch den italienischen Mathematiker Giuseppe Peano, arbeitete er seine diesbezüglichen Ideen zu einem umfangreichen Buch aus, den Principia Mathematica.

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Auf das Paradoxon, das seinen Namen trägt, stieß er im Verlauf dieser Arbeiten: das Paradoxon, das sich dadurch ergibt, wenn man versucht, die Klasse aller Klassen zu bilden, die sich selbst nicht als Element enthält. Wie wir sahen, teilte er Frege, in dessen Richtung ihn Peano verwiesen hatte, diese Entdeckung mit. Russell stellte Freges Arbeit einem englischen Publikum in einem Anhang zu den Prinzipien vor. Angesichts des Paradoxons erkannten die beiden großen Logizisten, dass ihr Projekt, wenn es erfolgreich sein sollte, deutlich modifiziert werden müsste. Das Ergebnis von Russells Versuch, den Widerspruch zu vermeiden, war seine Typentheorie. Nach dieser Theorie war es ein Fehler, Klassen als wahllos klassifizierbare Objekte zu behandeln. Einzeldinge und Klassen gehörten zu verschiedenen logischen Typen, und was von den Elementen des einen Typs ausgesagt werden konnte, konnte auf sinnvolle Weise von den Elementen eines anderen nicht ausgesagt werden. Die Aussage „Die Klasse aller Hunde ist kein Hund“ war nicht wahr oder falsch, sondern sinnlos. In ähnlicher Weise kann das, was sinnvoll von Klassen ausgesagt werden kann, nicht von Klassen von Klassen ausgesagt werden usw. durch die Hierarchie der logischen Typen. Um das Paradoxon zu vermeiden, müssen wir den Unterschied zwischen den Typen der verschiedenen Ebenen der Hierarchie beachten. Doch nun tauchte eine neue Schwierigkeit auf. Erinnern wir uns daran, dass Frege die Zahl Zwei faktisch als die Klasse aller Paare und die anderen natürlichen Zahlen auf ähnliche Weise definiert hatte. Doch ein Paar ist einfach eine Klasse mit zwei Elementen, sodass die Zahl Zwei nach dieser Erklärung eine Klasse von Klassen ist. Wenn wir die Bildung der Klassen von Klassen einschränken, wie können wir dann die Reihe der natürlichen Zahlen definieren? Russell behielt die Definition der Null als der Klasse, deren einziges Element die Null-Klasse ist, bei. Doch er behandelte die Zahl Eins jetzt als die Klasse aller Klassen, die der Klasse entsprach, deren Elemente (a) Elemente der Null-Klasse sind und (b) irgendein Objekt, das kein Element dieser definierenden Klasse ist. Auf diese Weise können die Zahlen eine nach der anderen definiert werden, und jede Zahl ist eine Klasse von Klassen von Individuen. Die Reihe der natürlichen Zahlen kann auf diese Weise nur dann bis ins Unendliche fortgesetzt werden, wenn die Anzahl der Gegenstände des Universums selbst unendlich ist. Denn wenn es nur n Einzeldinge gibt, dann wird es keine Klassen mit n + 1 Elementen geben und daher keine Kardinalzahl n + 1. Russell akzeptierte dieses Argument und fügte seinen Axiomen daher ein Axiom der Unendlichkeit hinzu, d. h. die Hypothese, dass die Anzahl der Gegenstände im Universum nicht endlich ist. Ob diese Hypothese wahr ist oder nicht: Sie ist gewiss keine Wahrheit der reinen Logik, und daher scheint die Notwendigkeit, sie zu postulieren, das logizistische Projekt der Ableitung der Arithmetik aus der Logik zum Scheitern zu verurteilen. Russells spätere Philosophie der Mathematik wurde der Welt in zwei bemerkenswerten Werken vorgestellt. Die erste, technischere Darstellung schrieb er zusammen mit seinem früheren Tutor A. N. Whitehead. Sie erschien zwischen 1910 und 1913 unter dem Titel Principia Mathematica in drei Bänden. Das zweite, populärere Werk,

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Einführung in die Philosophie der Mathematik, schrieb er, während er eine Gefängnisstrafe absaß, zu der er 1917 wegen Antikriegsprotesten verurteilt worden war. Um diese Zeit hatte sich Russell bereits einen Namen außerhalb der Philosophie der Mathematik in Bereichen einen Namen gemacht, die später zu zentralen Anliegen britischer Philosophen wurden. Von seinen frühen Arbeiten und denjenigen von Moore wird häufig gesagt, sie hätten eine neue Ära in der britischen Philosophie eingeleitet, die Ära der „analytischen Philosophie“. Obwohl der Impuls zum analytischen Stil des Philosophierens, wie Russell selbst gern zugab, auf Frege zurückgeführt werden kann, war Moore der erste Philosoph des 20. Jahrhunderts, der den Ausdruck „Analyse“ als Kennzeichen einer besonderen Art des Philosophierens in Umlauf brachte. „Analyse“ war in erster Linie ein anti-idealistischer Slogan: Statt die Notwendigkeit zu akzeptieren, dass man das Ganze verstanden haben muss, bevor man seine Teile verstehen kann, bestanden Moore und Russell darauf, dass der korrekte Weg, zum Verständnis einer Sache zu gelangen, darin besteht, Ganzheiten dadurch zu analysieren, dass man sie in ihre Teile zerlegt. Doch was war dasjenige, was man durch Analyse zerlegt: Waren es Dinge oder Zeichen? Anfänglich sahen Moore und Russell ihre Aktivität als Analyse von Begriffen, nicht als Analyse der Sprache: von Begriffen, die unabhängig vom menschlichen Geist existierten. „Wo der Geist Elemente unterscheiden kann“, schrieb Russell 1903, „dort muss es verschiedene Elemente geben, die unterschieden werden können“ (PM 466). Analyse würde die Komplexität von Begriffen aufdecken und ihre Teilelemente darlegen. Diese Teilelemente könnten dann entweder zum Gegenstand weiterer Analyse werden, oder sie waren einfach und nicht weiter analysierbar. In seinen Principia Ethica (1903) stellte Moore die berühmte These auf, dass „gut“ eine einfache Eigenschaft sei, die nicht weiter analysiert werden könne. Russell war zu der Zeit, zu der er die Principia Mathematica schrieb, davon überzeugt, dass er zur Sicherung der Objektivität von Begriffen und Urteilen akzeptieren musste, dass Aussagen eine von ihrem Ausdruck in Sätzen unabhängige Existenz haben. Er glaubte, dass nicht nur Begriffe, Relationen und Zahlen ein Sein hatten, sondern auch Schimären und die Götter Homers. Hätten sie kein Sein, wäre es unmöglich, Aussagen über sie zu machen. „Daher ist Sein eine allgemeine Eigenschaft von allem, und wenn man über irgendetwas spricht, beweist man, dass es existiert“ (PM 449). Was der Analyse ihre linguistische Wende gab, war Russells bahnbrechender Aufsatz „On Denoting“ („Über das Kennzeichnen“). In diesem Aufsatz zeigte er, wie man Sätze verstehen konnte, die Ausdrücke wie „das runde Quadrat“ und „der gegenwärtige König von Frankreich“ enthielten, ohne zu behaupten, dass diese Ausdrücke eine Entität in der Welt bezeichnen, wie schattenhaft sie auch sei. Der Aufsatz wurde lange Zeit als ein Musterbeispiel der Analyse betrachtet, doch er enthält natürlich keine Analyse runder Quadrate oder nichtexistierender Könige. Stattdessen zeigt er, wie solche Sätze so umgeschrieben werden können, dass sie ihre Bedeutung behalten

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und dass der Anschein entfällt, sie schrieben nichtexistierenden Entitäten ein Sein zu. Und Russells Methode ist ausdrücklich linguistisch: Sie beruht darauf, dass ein Unterschied zwischen solchen Symbolen (wie zum Beispiel Eigennamen), die einen realen Gegenstand in der Welt bezeichnen, und anderen, von Russell als „unvollständig“ bezeichneten Symbolen gemacht wird. Definitive Beschreibungen wie „der gegenwärtige König von Frankreich“ waren Beispiele für „unvollständige“ Symbole. Diese Symbole haben für sich genommen keine Bedeutung – sie bezeichnen nichts –, sondern die Sätze, in denen sie vorkommen, haben eine Bedeutung, d. h., sie drücken einen Satz aus, der entweder wahr oder falsch ist. 7 Die in „Über das Kennzeichnen“ praktizierte Analyse ist eine Technik, mit der eine auf irgendeine Weise irreführende Wortfolge durch einen logisch deutlichen Ausdruck ersetzt wird. Doch für Russell war die logische Analyse nicht nur eine linguistische Methode zur Klassifikation von Sätzen: Er gelangte zu der Überzeugung, sollte es einmal gelungen sein, der Logik eine klare und deutliche Form zu geben, so werde dies die Struktur der Welt enthüllen. Die Logik enthält einzelne Variablen und Aussagefunktionen: Dem entsprechend, glaubte Russell, enthalte die Welt Einzeldinge und Universalien. Komplexe Aussagen sind logisch als Wahrheitsfunktionen einfacher Aussagen aufgebaut. Russell glaubte schließlich, dass es in der Welt in ähnlicher Weise unabhängige atomare Fakten gebe, die den einfachen Aussagen entsprachen. Atomare Tatsachen bestanden entweder darin, dass ein Einzelding eine bestimmte Eigenschaft besaß, oder in einer Relation zwischen zwei oder mehr Einzeldingen. Die Theorie Russells wurde später als „logischer Atomismus“ bezeichnet. Die Entwicklung der Theorie lässt sich in den Büchern verfolgen, die Russell in den Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs schrieb: The Problems of Philosophy (1912), eine nach wie vor beliebte Einführung in das Fach, und das professionellere Werk Our Knowledge of the External World (Unser Wissen von der Außenwelt) von 1914. Die lebhafteste Darstellung der Theorie war eine Reihe von Vorlesungen, die er 1918 in London hielt: „The Philosophy of Logical Atomism“, die erst wesentlich später als Logic and Knowledge (Logik und Erkenntnis) (1956) veröffentlicht wurde. Russell glaubte, dass jede Aussage, die wir verstehen können, vollständig aus Elementen zusammengesetzt sein muss, die uns bekannt sind. „Bekanntsein mit“ war seine Bezeichnung für die unmittelbare Darstellung: Wir sind beispielsweise mit unseren eigenen Sinnesdaten vertraut, die für ihn an die Stelle von Humes Eindrücken und Descartes’ Gedanken traten. Doch unmittelbares Bekanntsein war auch bei Universalien möglich, die hinter den Prädikaten einer reformierten, logischen Sprache standen: So viel von Russells frühem Platonismus blieb erhalten. Dieses Bekanntsein war im Falle von räumlich und zeitlich entfernten Gegenständen jedoch unmöglich. Wir konnten nicht mit Königin Viktoria oder unseren eigenen, der Vergangenheit ange7

Auf die Einzelheiten von Russells Theorie der Beschreibungen wird in Kapitel 5 eingegangen.

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hörenden Sinnesdaten vertraut sein. Dinge, die nicht durch Bekanntsein mit ihnen erkannt werden, werden durch Beschreibung erkannt. Hierauf beruht die Bedeutung der Theorie der Beschreibung für die Entwicklung des logischen Atomismus. Russell wendete die Theorie der Beschreibungen nicht nur auf runde Quadrate und fiktive Gegenstände an, sondern auf viele Dinge, die der gesunde Menschenverstand für vollkommen real hält, wie zum Beispiel auf Julius Cäsar, Tische und Kohlköpfe. Russell zufolge waren dies logische Konstruktionen aus Sinnesdaten. Ein Satz wie „Cäsar überquerte den Rubikon“, in der deutschen Sprache geäußert, entspricht einer Aussage, die keine einzelnen Elemente enthält, mit denen wir bekannt sind. Um zu erklären, wie wir diesen Satz verstehen können, analysierte Russell die Namen „Cäsar“ und „Rubikon“ als definitive Beschreibungen, die – legte man sie vollständig dar – keine Ausdrücke enthalten würden, die sich auf die Gegenstände beziehen, die scheinbar in dem Satz genannt werden. Normale Eigennamen waren daher verdeckte Beschreibungen. Ein vollständig analysierter Satz würde nur logische Eigennamen enthalten (Wörter, die auf Einzeldinge Bezug nehmen, mit denen wir vertraut sind) und Allgemeinbegriffe (Wörter, die Merkmale und Relationen bezeichnen). Russells Erläuterung dessen, was als logischer Eigenname zulässig war, schwankte von Zeit zu Zeit. In der strengsten Version der Theorie schienen nur rein demonstrative Fürwörter als Namen zu zählen, sodass eine atomare Aussage ein Satz wäre wie etwa: „(Dieses) Rot“ oder „(Dies) neben (dem)“. „The Philosophy of Logical Atomism“ war jedoch keineswegs Russells letztes Wort in der Philosophie. Im Jahre 1921 schrieb er The Analysis of Mind (Die Analyse des Geistes), in der er eine Version von William James’ neutralem Monismus verteidigte: die Theorie, dass Geist und Materie aus einem neutralen Stoff bestehen, bei dem es sich – praktisch gesehen – um nichts anderes handelt als die Daten der inneren und äußeren Sinne. Während der 1930er und 1940er Jahre schrieb Russell zahlreiche populäre Bücher über gesellschaftliche und politische Themen. Er wurde berühmt für seine unkonventionellen moralischen Ideen und berüchtigt für das Scheitern mehrerer Ehen. 1940 wurde er, nachdem man ihm am City College von New York eine Kurzzeitprofessur angeboten hatte, vom obersten Gerichtshof des Bundesstaates für lehruntüchtig erklärt. 1945 veröffentlichte er eine brillant geschriebene, wenn auch oft ungenaue History of Western Philosophy (Geschichte der Philosophie des Abendlandes), für die man ihm den Nobelpreis für Literatur verlieh. Russells letztes philosophisches Werk war Human Knowledge: Its Scope and Limits (Menschliches Wissen: Sein Umfang und seine Grenzen), in dem er versuchte, eine empiristische Rechtfertigung der wissenschaftlichen Methode zu liefern. Sehr zu seiner Enttäuschung erhielt das Buch wenig Aufmerksamkeit. Obwohl er in seinen späten Lebensjahren, besonders nachdem er eine Lordschaft übernommen hatte, als Streiter für gesellschaftliche und politische Forderungen – besonders zur atomaren Abrüstung – sehr bekannt wurde, erreichte sein Ruf unter Fachphilosophen nie wie-

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der das Maß an Respekt, das man seinen Werken vor 1920 entgegengebracht hatte. Der logische Atomismus selbst beruhte – wie er als Erster zugab – zu großen Teilen auf Ideen von Ludwig Wittgenstein, einem seiner früheren Schüler, dem wir uns nun zuwenden.

Wittgensteins Tractatus Ludwig Wittgenstein wurde 1889 in Wien in eine österreichische Familie jüdischer Abstammung geboren. Die Familie war groß und wohlhabend. Sein Vater war ein berühmter Stahlmagnat, der mit seiner katholischen Ehefrau neun Kinder hatte, die alle katholisch getauft wurden. Die Familie war musisch sehr begabt. Johannes Brahms war ein häufiger Gast der Wittgensteins, und Ludwigs Bruder Paul war Konzertpianist, der internationale Berühmtheit erlangte, obwohl er im Ersten Weltkrieg einen Arm verloren hatte. Ludwig wurde bis zu seinem 14. Lebensjahr zuhause erzogen und ging anschließend drei Jahre auf die Realschule in Linz, wo einer seiner gleichaltrigen Mitschüler Adolf Hitler war. Während der Schuljahre verlor Wittgenstein, teilweise unter dem Einfluss Schopenhauers, seinen religiösen Glauben. Er studierte Maschinenbau in Berlin und später an der Universität von Manchester, wo er ein Düsentriebwerk für Flugzeuge entwarf. Er las Russells Principia Mathematica und wurde auf diesem Wege mit den Werken Freges bekannt, den er 1911 in Jena besuchte. Er folgte Freges Rat, nach Cambridge zu gehen, wo er am Trinity College fünf Trimester unter Russell studierte, der sein Genie schnell erkannte und großzügig förderte. Im Jahre 1913 verließ Wittgenstein Cambridge und zog sich als Einsiedler in eine Hütte zurück, die er sich in Norwegen gebaut hatte. Die Aufzeichnungen und Briefe aus dieser Zeit zeigen die Anfänge einer Sicht der Philosophie, die er sein Leben lang beibehalten sollte. Die Philosophie, schrieb er, sei keine deduktive Wissenschaft. Man könne sie nicht auf die gleiche Stufe wie die Naturwissenschaften stellen. Die Philosophie gebe kein Bild der Realität und könne wissenschaftliche Untersuchungen weder bestätigen noch widerlegen (NB 93). Im Jahre 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, wurde Wittgenstein freiwillig Soldat der österreichischen Artillerie. Er leistete seinen Dienst an der östlichen und italienischen Front und fiel durch seine Tapferkeit auf. 1918 wurde er von italienischen Soldaten in Südtirol gefangen genommen und in ein Lager in der Nähe von Monte Cassino gebracht. Während seines Wehrdienstes hatte er philosophische Gedanken in sein Tagebuch geschrieben, und während seiner Gefangenschaft verwandelte er sie in das einzige Buch, das er je veröffentlichte, den Tractatus Logico-Philosophicus. Er schickte das Buch aus dem Gefangenenlager an Russell, mit dem er es später in Holland diskutieren konnte. Es wurde 1921 auf Deutsch herausgegeben und kurz darauf in einer Übersetzung von C. K. Ogden mit einer Einführung von Russell. Der Tractatus ist kurz, schön und kryptisch. Er besteht aus einer Abfolge num-

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merierter Absätze, die häufig sehr kurz sind. Der erste lautet: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ und der letzte: „Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“ 8 Das zentrale Thema des Buches ist die Bildtheorie der Bedeutung. Die Sprache, wird uns gesagt, besteht aus Aussagen, die die Welt abbilden. Aussagen sind der wahrnehmbare Ausdruck von Gedanken, und Gedanken sind logische Bilder von Tatsachen: Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen. Ein Satz wie etwa „Der Zug nach London fährt um 11:15 Uhr ab“ oder „Blut ist dicker als Wasser“ sieht nicht wie ein Abbild aus. Doch Wittgenstein glaubte, dass Aussagen und Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes Bilder sind. Wenn sie nicht wie Bilder aussahen, lag dies daran, dass die Sprache die Gedanken stark verschleiert. Doch Wittgenstein bestand darauf, dass selbst die Umgangssprache ein deutlich erkennbares Bildelement enthält. Nehmen wir beispielsweise den Satz „Meine Gabel liegt links von meinem Messer“. Dieser Satz behauptet etwas, das von einem anderen Satz, der dieselben Wörter enthält, nämlich „Mein Messer liegt links von meiner Gabel“, sehr verschieden ist. Was dem ersten Satz die Bedeutung gibt, die er hat, ist die Tatsache, dass die Wörter „meine Gabel“ innerhalb des Satzes links von den Wörtern „meinem Messer“ stehen, was im zweiten Satz nicht der Fall ist. Hier bildet eine räumliche Beziehung zwischen Wörtern eine räumliche Beziehung zwischen Dingen ab (TLP 4.012). Wenige Fälle sind so einfach wie dieser. Wenn die Sätze gesprochen statt geschrieben würden, wäre es eine temporale Beziehung zwischen Geräuschen statt der räumlichen Beziehung auf der bedruckten Seite, was die Beziehung zwischen den Gegenständen auf dem Tisch darstellt. Doch liegt dies seinerseits daran, dass die gesprochene Lautsequenz und die räumliche Anordnung eine gewisse abstrakte Struktur gemeinsam haben. Nach der Lehre des Tractatus muss jedes Bild etwas mit dem, was es abbildet, gemeinsam haben. Wittgenstein nennt dieses gemeinsame Minimum seine logische Form. Die meisten Aussagen haben – im Gegensatz zum obigen untypischen Beispiel – mit der von ihnen dargestellten Situation keine räumliche Form gemeinsam; doch jegliche Aussage muss mit dem, was sie darstellt, eine logische Form gemeinsam haben. Wittgenstein war der Überzeugung, dass wir, um die Bildstruktur der Gedanken hinter der Verkleidung der gewöhnlichen Sprache aufzudecken, eine logische Analyse von der Art durchführen müssen, die Russell vorgeschlagen hatte. Er behauptete, dass wir auf dem Weg dieser Analyse schließlich zu Symbolen gelangen würden, die vollkommen einfache Gegenstände bezeichnen. Eine vollständig analysierte Aussage besteht aus einer Kombination atomarer Aussagen, deren jede Namen einfacher Gegenstände enthält. Diese Namen stehen zueinander auf solche Weise in Beziehung, dass sie die Relationen zwischen den Gegenständen, die sie bezeichnen, richtig oder falsch abbilden. Eine solche Analyse mag die Kraft des Menschen übersteigen, doch der 8

Zitiert nach: L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Frankfurt: Suhrkamp, 1978), 11 und 115.

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Gedanke, den die Aussage ausdrückt, hat im Bewusstsein bereits die Komplexität der vollständig analysierten Aussage. Wir drücken diesen Gedanken durch die unbewusste Anwendung äußerst komplizierter Regeln in einfachem Deutsch oder Englisch aus. Die Verbindung zwischen der Sprache und der Welt kommt durch die Korrelation zwischen den letzten Elementen dieser Gedanken tief im Bewusstsein und den atomaren Gegenständen zustande, die das Wesen der Welt ausmachen. Wie diese Korrelationen selbst zustande kommen, wird uns nicht gesagt: Es ist ein mysteriöser Vorgang, der, wie es scheint, jedem von uns selbst gelingen muss, indem wir sozusagen eine private Sprache erschaffen. Nachdem er die Bildtheorie der Aussage und die dazugehörige Weltstruktur dargelegt hatte, zeigte Wittgenstein, wie Aussagen verschiedener Art durch Analyse zu Kombinationen atomarer Bilder zerlegt werden konnten. Die Wissenschaft besteht aus Aussagen, deren Wahrheitswert von den Wahrheitswerten der atomaren Sätze, aus denen sie bestehen, abhängt. Die Logik besteht aus Tautologien, d. h. aus komplexen Aussagen, die unabhängig vom Wahrheitswert der Teilaussagen, aus denen sie bestehen, wahr sind. Nicht alle Aussagen können in atomare Aussagen zergliedert werden: Es gibt einige, die sich als bloß scheinbare Aussagen erweisen. Hierzu gehören die Aussagen der Ethik und Theologie – und, wie sich herausstellt, auch die Aussagen der Philosophie, einschließlich derjenigen, aus denen der Tractatus selbst besteht. Der Tractatus versucht, wie jede andere metaphysische Abhandlung, die logische Struktur der Welt zu beschreiben: Doch dies ist etwas, was nicht geleistet werden kann. Ein Bild muss von dem, was es abbildet, verschieden sein. Es muss ein falsches ebenso wie ein wahres Bild sein können. Doch da jede Aussage die logische Form der Welt enthalten muss, kann sie sie nicht abbilden. Was der Metaphysiker zu sagen versucht, kann nicht gesagt, sondern nur gezeigt werden. Die einzelnen Sätze des Tractatus sind wie eine Leiter, die man hinaufsteigen und dann wegwerfen muss, soll man die Welt richtig sehen können. Die Philosophie ist keine Theorie, sondern eine Aktivität: die Aktivität der Aufklärung nichtphilosophischer Aussagen. Nachdem sie geklärt wurden, spiegeln die Aussagen die logische Form der Welt, und auf diese Weise zeigen sie, was der Philosoph sagen will, aber nicht sagen kann. Weder die Wissenschaft noch die Philosophie können uns den Sinn des Lebens zeigen. Doch dies bedeutet nicht, dass ein Problem ungelöst bleibt. „Denn Zweifel kann es nur geben, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann. Wir fühlen, daß selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (TLP 6.51–6.521)9 9

Zitiert nach: L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Frankfurt: Suhrkamp, 1978), 114 f.

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Selbst wenn man an Unsterblichkeit glauben könnte, würde dies dem Leben keinen Sinn verleihen; kein Problem wird dadurch gelöst, dass man ewig fortlebt (TLP 6.4312). Ein ewiges Leben wäre ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige. Wittgenstein schrieb: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“ (TLP 6.44). Die Philosophie kann sehr wenig für uns tun. Was sie jedoch leisten kann, war ein für alle Mal im Tractatus geleistet worden – zumindest war Wittgenstein davon überzeugt. Insofern war es vollkommen konsequent, dass er nach der Veröffentlichung des Buches die Philosophie aufgab und eine Reihe eher eintöniger Arbeiten annahm. Beim Tod seines Vaters im Jahre 1912 hatte Wittgenstein, wie seine Geschwister, ein großes Vermögen geerbt, doch bei seiner Rückkehr aus dem Krieg verzichtete er auf seinen Anteil und finanzierte seinen Lebensunterhalt durch die Arbeit als Gärtner in einem Kloster oder als Dorfschullehrer. 1926 klagte ihn ein Schüler an, ihn sadistisch gestraft zu haben. Obwohl man ihn von dieser Anschuldigung freisprach, kam seine Karriere als Lehrer auf diese Weise an ihr Ende.

Der logische Positivismus Wittgenstein kehrte nach Wien zurück und beteiligte sich am Entwurf eines neuen Hauses für seine Schwester. Sie stellt ihm Moritz Schlick vor, der seit 1922 Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität war. Mit ihm setzte Wittgenstein seine philosophischen Nachforschungen fort. 1927 und 1928 trafen sich die beiden montagabends, und andere Philosophen schlossen sich ihnen an, darunter Rudolf Carnap und Friedrich Waismann. 1929 ging Wittgenstein nach Cambridge, um an einem philosophischen Manuskript zu arbeiten (das nach seinem Tod als Philosophische Bemerkungen veröffentlich wurde). Während seiner Abwesenheit entwickelte sich die Diskussionsgruppe zu einer selbstbewussten philosophischen Bewegung und gab ein Manifest heraus – Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis –, das eine Kampagne gegen die Metaphysik führte: Sie sei ein veraltetes System, das einer wissenschaftlichen Weltsicht weichen müsse. Das anti-metaphysische Programm stützte sich auf einige Ideen von Wittgensteins Tractatus und erklärte, dass notwendige Wahrheiten nur deshalb notwendig seien, weil es sich dabei um Tautologien handle. Dies ermöglichte es ihnen zu akzeptieren, dass mathematische Wahrheiten notwendig waren, und gleichzeitig zu bestreiten, dass sie uns irgendetwas über die Welt sagen. Wissen über die Welt lasse sich allein durch die Erfahrung gewinnen, und Aussagen haben nur dann eine Bedeutung, wenn sie durch die Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden konnten. Die These, dass die Bedeutung einer Aussage der Methode ihrer Verifikation entspreche, das Verifikationsprinzip, war die große Waffe im Angriff gegen die Metaphysik. Wenn zwei Metaphysiker über das Wesen des Absoluten diskutierten oder über den Zweck des Universums, konnte man sie mit folgender Frage zum Schweigen bringen:

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„Welche mögliche Erfahrung würde den Disput zwischen euch zur Entscheidung bringen?“ Über den genauen Status und die Formulierung des Verifikationsprinzips kam es schnell zu Streitigkeiten. War es selbst eine Tautologie? Konnte es durch die Erfahrung verifiziert werden? Keine Antwort hierauf schien zufriedenstellend. Außerdem schienen allgemeine Gesetze der Wissenschaft ebenso wenig endgültig verifizierbar wie metaphysische Dogmen. Immerhin konnten sie falsifiziert werden, und das reichte aus, ihnen Bedeutung zu geben. Sollen wir dann das Verifikationsprinzip durch das Falsifikationsprinzip ersetzen? Doch wenn wir dies tun, lässt sich nur schwer verstehen, wie Existenzbehauptungen eine Bedeutung haben können, da sie nur durch eine Reise durch das ganze Universum definitiv falsifiziert werden könnten. Es schien vernünftig, dem Bedeutungskriterium eine schwächere Form zu geben, die festlegte, dass eine Aussage nur dann eine Bedeutung hatte, wenn es einige Beobachtungen gab, die für ihre Wahrheit oder Falschheit relevant waren. Wittgenstein stimmte dem Verifikationsprinzip nur bedingt zu. Allerdings verteidigte er zu diesem Zeitpunkt häufig das apriorische Gegenstück dieses Prinzips: dass die Bedeutung einer mathematischen Aussage mit der Methode ihres Beweises identisch sei. Die Positivisten nahmen an, die wahre Aufgabe der Philosophie sei es nicht, allgemeine philosophische Sätze aufzustellen, sondern nichtphilosophische Aussagen zu klären. Hierin waren sie sich mit Wittgenstein einig. Die von ihnen für diese Klärung bevorzugte Methode bestand darin, zu zeigen, wie sich die Wahrheitsfunktion empirischer Aussagen aus elementaren Sätzen, sogenannten „Protokollsätzen“, aufbaute, bei denen es sich um direkte Aufzeichnungen der Erfahrung handelte. Die in Protokollsätzen vorkommenden Wörter leiteten ihre Bedeutung aus ostentativen Definitionen ab, d. h. von einer Geste, die auf dasjenige Merkmal der Erfahrung zeigte, das das Wort bezeichnete. Dieses Programm stieß auf ein gewaltiges Hindernis: Die durch Protokollsätze aufgezeichneten Erfahrungen schienen die privaten Erfahrungen einzelner Individuen zu sein. Wenn Bedeutung von Verifikation abhängt, und jeder von uns die Verifikation durch ein Verfahren ausführt, zu dem kein anderer Zugang hat: Wie kann man dann jemals die Bedeutung eines anderen verstehen? Schlick versuchte dieses Problem dadurch zu lösen, dass er zwischen Form und Inhalt unterschied. Der Inhalt meiner Erfahrung ist dasjenige, was ich erlebe, wenn ich beispielsweise etwas Rotes oder etwas Grünes sehe. Dieser Inhalt ist privat und nicht mitteilbar. Die Form oder die Struktur der Erfahrung kann jedoch mehreren gemeinsam sein. Wenn ich einen Baum oder einen Sonnenuntergang sehe, kann ich nicht wissen, ob andere Personen dieselben Erfahrungen haben – wenn sie einen Baum betrachten, sehen sie vielleicht, was ich sehe, wenn ich einen Sonnenuntergang beobachte. Doch solange wir uns einig sind, einen Baum grün und einen Sonnenuntergang rot zu nennen, können wir miteinander kommunizieren und die Sprache der Wissenschaft aufbauen. Wittgenstein war mit dieser Lösung unzufrieden und er versuchte, eine Erklärung der Bedeutung zu geben, für die sich die Gefahr des Solipsismus nicht ergab. Er distanzierte sich vom Wiener Kreis und kehrte dauerhaft nach Cambridge zurück.

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Nachdem er den Tractatus als Doktorarbeit eingereicht hatte, wurde er Fellow am Trinity College in Oxford. Der Wiener Kreis setzte sein anti-metaphysisches Programm fort, insbesondere in der Fachzeitschrift Erkenntnis, die Schlick gemeinsam mit Hans Reichenbach, der in Berlin lehrte, herausgab. Die Ideen des Wiener Kreises fanden in Großbritannien im Jahre 1936 durch die Veröffentlichung von A. J. Ayers Language, Truth and Logic (Sprache, Wahrheit und Logik) Verbreitung. Noch im selben Jahr wurde Schlick jedoch von einem verärgerten Studenten erschossen, und 1939 löste sich der Kreis auf, da einige seiner bekanntesten Mitglieder gezwungen waren, ins Exil zu gehen. Das bedeutendste Vermächtnis des Wiener Kreises an die Nachwelt war die Veröffentlichung des Buches The Logic of Scientific Discovery (Die Logik der Forschung) im Jahre 1935. Der Autor Karl Popper hatte der Gruppe nie als Vollmitglied angehört.

Wittgensteins Spätphilosophie In den 1930er Jahren wurde Wittgenstein zum einflussreichsten philosophischen Lehrer Großbritanniens. Während dieses Zeitraums stellte er die Erkenntnistheorie und die Philosophie des Geistes auf den Kopf. Frühere Philosophen, von Descartes bis Schlick, waren darum bemüht zu zeigen, wie das Wissen über die Außenwelt – sei es wissenschaftlich oder alltäglich – aus letzten, unmittelbaren privaten Anschauungsdaten oder Erfahrungen aufgebaut werden konnte. Wittgenstein zeigte in diesen Jahren, dass die private Erfahrung, weit davon entfernt, das unerschütterliche Fundament zu sein, auf dem Wissen und Überzeugung aufgebaut werden konnten, selbst eine geteilte öffentliche Welt voraussetzte. Selbst die Wörter, von denen wir bei der Formulierung unserer geheimsten und innersten Gedanken Gebrauch machen, leiten den einzigen Sinn, den sie haben, von ihrer allgemeinen Verwendung in unseren Gesprächen mit anderen Personen ab. Das Problem der Philosophie besteht nicht darin, die öffentlich zugängliche Welt aus privaten Elementen zu konstruieren, sondern der privaten Welt im Kontext der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nach seiner Rückkehr zur Philosophie gab Wittgenstein viele Thesen des Tractatus auf. Er glaubte nun nicht mehr an logische Atome und suchte nicht mehr nach einer logisch gegliederten Sprache, die durch die Alltagssprache verschleiert wurde. Eine zentrale Lehre des logischen Atomismus war die These, dass jeder Elementarsatz von jedem anderen Elementarsatz unabhängig ist. Dies traf auf die Protokollsätze der Positivisten offenbar nicht zu: Der Wahrheitswert des Satzes „Dies ist ein roter Fleck“ ist nicht unabhängig vom Wahrheitswert des Satzes „Dies ist ein blauer Fleck“. Das Nachdenken über diese Tatsache ließ Wittgenstein den Unterschied zwischen elementaren und nichtelementaren Aussagen infrage stellen und führte ihn dazu, die Vorstellung aufzugeben, dass die letzten Elemente der Sprache Namen sind, die einfache Gegenstände bezeichnen.

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A. J. Ayer, der dem logischen Positivismus in den 1930er Jahren in Großbritannien zu Popularität verhalf.

Wittgenstein gelangte zu der Auffassung, dass er die Beziehung zwischen Sprache und Welt im Tractatus grob vereinfacht hatte: Die Beziehung zwischen den beiden sollte nur auf Zweierlei beruhen: auf der Verbindung von Namen mit Gegenständen und auf der Übereinstimmung oder Diskrepanz von Aussagen und Tatsachen. Dies hielt er jetzt für einen großen Irrtum. Wörter sehen einander auf die gleiche Weise ähnlich, auf die ein Kupplungs- einem Bremspedal ähnlich sieht. Doch Wörter sind in ihren verschiedenen Funktionen ebenso verschieden wie die von den beiden Pedalen betätigten Mechanismen. Wittgenstein hob jetzt hervor, dass die Sprache mit der Welt auf vielfältige Weise verwoben ist, und zur Bezeichnung dieser Verbindungen prägte er den Ausdruck „Sprachspiel“. Als Beispiele für Sprachspiele nennt Wittgenstein: gehorchen und befehlen, das Aussehen von Gegenständen beschreiben, Empfindungen ausdrücken, Messergebnisse mitteilen, Gegenstände nach einer Beschreibung herstellen, über ein Ereignis berichten, über die Zukunft spekulieren, Geschichten erfinden, Schauspiele aufführen, Rätsel raten, Witze erzählen, Fragen stellen, fluchen, jemanden begrüßen und beten. Jedes dieser Sprachspiele und viele andere müssen untersucht werden, wenn wir die Sprache verstehen wollen. Wir können sagen, dass die Bedeutung eines Wortes seiner

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Verwendung in einem Sprachspiel entspricht. Dies ist jedoch keine allgemeine Theorie der Bedeutung, sondern lediglich eine Erinnerung an Folgendes: Wollen wir die Bedeutung eines Wortes erklären, so müssen wir nach der Rolle suchen, die es in unserem Leben spielt. Die Verwendung des Wortes „Spiel“ sollte nicht nahelegen, dass Sprache etwas Triviales ist. Das Wort wurde ausgewählt, weil für Spiele die gleiche Vielfalt typisch ist, durch die sich auch die Verwendung der Sprache auszeichnet. Es gibt keine allgemeine Eigenschaft, die alle Spiele zu Spielen macht, und ebenso wenig gibt es irgendeine Eigenschaft, die für Sprache wesentlich ist. Es gibt lediglich eine Familienähnlichkeit zwischen den zahllosen Sprachspielen. Wittgenstein gab später seine frühere Sicht der Philosophie auf, nach der sie eine Aktivität und keine Theorie ist. Die Philosophie entdeckt keine neuen Wahrheiten, und philosophische Probleme werden nicht durch die Gewinnung neuer Informationen gelöst, sondern durch die Neuordnung dessen, was wir bereits wissen. Die Funktion der Philosophie, sagte Wittgenstein einmal, bestehe darin, die Knoten in unserem Denken aufzulösen. Dies bedeutet, dass die Manöver des Philosophen zwar kompliziert sein werden, sein Ergebnis aber so einfach wie ein Stück Bindfaden. Wir benötigen die Philosophie, wenn wir es vermeiden wollen, der Verführung durch unsere Sprache zu erliegen. Die Oberflächengrammatik unserer Sprache verkörpert eine Philosophie, die uns verhext, indem sie die Vielfalt der verschiedenen Weisen vor uns verschleiert, auf die die Sprache als gesellschaftliche, interpersonale Aktivität funktioniert. Philosophische Missverständnisse fügen uns keinen Schaden zu, wenn wir uns auf alltägliche Aufgaben beschränken, indem wir Wörter in Sprachspielen verwenden, in denen sie ihr einfaches Zuhause haben. Wenn wir uns jedoch abstrakten Untersuchungen zuwenden – zum Beispiel in der Mathematik, der Psychologie oder der Theologie –, dann wird unser Denken behindert und verzerrt, wenn es uns nicht gelingt, uns aus philosophischer Verwirrung zu befreien. Die philosophische Nachforschung wird durch mythische Auffassungen über das Wesen von Zahlen, des Geistes oder der Seele in die Irre geführt. Wie die Positivisten stand Wittgenstein der Metaphysik feindlich gegenüber. Doch er griff die Metaphysik nicht mit einer stumpfen Waffe wie dem Verifikationsprinzip an, sondern indem er sorgfältige Unterscheidungen traf, die es ihm ermöglichten, die Mischung zwischen Gemeinplätzen und Unsinn innerhalb der metaphysischen Systeme zu entwirren. „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ‚Wissen‘, ‚Sein‘, ‚Gegenstand‘, ‚Ich‘, ‚Satz‘, ‚Name‘ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück“ (PI I 116) 10. In den Jahren zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in denen Wittgenstein in 10 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), 80. Auf Wittgensteins Haltung zur Metaphysik wird ausführlich in Kapitel 7 eingegangen.

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Cambridge unterrichtete, veröffentlichte er nichts. Er schrieb unablässig und füllte zahlreiche Notizbücher, schrieb Manuskripte, verfasste sie neu und verteilte umfangreiche Vorlesungsskripte an seine Studenten, die außerdem detaillierte Mitschriften seiner Vorlesungen erstellten und aufbewahrten. Doch bis zu seinem Tode wurde nichts von diesen Texten veröffentlicht. Seine Ideen zirkulierten, häufig in entstellter Form, größtenteils durch mündliche Weitergabe. Als Österreich durch den Anschluss 1938 zu einem Teil Nazi-Deutschlands wurde, beantragte Wittgenstein die britische Staatsbürgerschaft. Während des Krieges arbeitete er als Sanitäter. 1947 gab er seinen Cambridger Lehrstuhl auf, der von seinem Schüler Georg Henrik von Wright übernommen wurde. Er schrieb weiterhin philosophische Texte und teilte engen Freunden und Schülern seine philosophischen Gedanken mit. Nachdem er einige Zeit lang einsam in Irland gelebt hatte, verbrachte er die Zeit, bis er 1951 im Alter von 62 Jahren starb, in den Häusern verschiedener Freunde in Oxford und Cambridge.

Die analytische Philosophie nach Wittgenstein Im Jahre 1949 gab Gilbert Ryle, der Professor der Metaphysik in Oxford war, ein Buch mit dem Titel The Concept of Mind (Der Begriff des Geistes) heraus. Die in diesem Buch dargelegten Gedanken wiesen eine große Ähnlichkeit mit den Ideen Wittgensteins auf. Ryles Position war vehement anti-kartesianisch, und das erste Kapitel des Buches trug die Überschrift „Descartes’ Mythos“. Ryle hob den Unterschied zwischen „wissen, wie“ und „wissen, dass“ hervor, der möglicherweise von Heidegger beeinflusst war. Seine Erörterung des Willens und der Gefühle machte den Begriff der inneren Eindrücke, den viele Philosophen von den britischen Empiristen übernommen hatten, vollkommen zunichte. In einem Kapitel mit der Überschrift „Dispositionen und Ereignisse“ machte er die modernen Philosophen auf die Bedeutung der aristotelischen Unterscheidungen zwischen verschiedenen Formen von Wirklichkeit und Möglichkeit aufmerksam. Seine Erläuterungen zu Wahrnehmung, Einbildungskraft und Verstand fanden keine allgemeine Anerkennung, da sie zu stark in die Richtung des Behaviorismus gingen. Trotzdem blieb das Buch ein Klassiker der analytischen Philosophie des Geistes. Als jedoch 1953 Wittgensteins Philosophische Untersuchungen postum herausgegeben wurden, konnte man Ideen, die Ryle zwar lebhaft, aber nur grob dargelegt hatte, mit wesentlich größerem Scharf- und Tiefsinn dargestellt finden. Es war und bleibt eine strittige Frage, inwieweit Ryle sich bei der Entwicklung seiner Ideen auf Gespräche mit Wittgenstein und mündliche Berichte über seine Cambridger Vorlesungen gestützt hat und inwieweit er durch eigenständige Reflexionen zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte. Wittgenstein vererbte die Verlagsrechte an seinem literarischen Nachlass an drei seiner früheren Schüler: Georg Henrik von Wright, Elizabeth Anscombe und Rush

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Rhees. Die drei Philosophen entsprachen drei verschiedenen Facetten von Wittgensteins eigener Persönlichkeit und seines Werkes. Von Wright, der von 1948 bis 1951 Wittgensteins Cambridger Lehrstuhl innehatte und dann seine Karriere in seinem Heimatland Finnland fortsetzte, glich dem Logiker Wittgenstein der Zeit des Tractatus. Die Bücher, die seinen Ruf begründeten, hatten Induktion, Wahrscheinlichkeit und modale Logik zum Thema. Anscombe, eine Oxforder Tutorin, die den Lehrstuhl ihrerseits gegen Ende des Jahrhunderts bekleidete, führte die Arbeiten des späten Wittgenstein auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes weiter. Mit ihrem Buch Intention leitete sie eine umfangreiche Diskussion des praktischen Vernunftgebrauchs und der Handlungstheorie ein. Von den Dreien stand Rhees der mystischen und fideistischen Seite von Wittgensteins Temperament am nächsten, und in Wales regte er eine entsprechende religionsphilosophische Schule an. In den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts machten sich Wittgensteins literarische Testamentsvollstrecker an die Veröffentlichung seines umfangreichen Nachlasses. Unter den zahlreichen herausgegebenen Bänden waren die wichtigsten: Philosophische Grammatik (1974) und Philosophische Bemerkungen (1975) aus den Manuskripten der Vorkriegszeit sowie Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (1978), Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie (1980) und Über Gewissheit (1969) aus den späten Notizbüchern bis zur Zeit seines Todes. Der gesamte Nachlass wurde 1998 von Oxford University Press, in Transkription und als Faksimile, in einer von der Universität Bergen vorbereiteten, elektronischen Form herausgegeben. Nach Wittgensteins Tod sahen viele W. v. O. Quine (1908–2000) als den Altmeister der englischsprachigen Philosophie. Nachdem er sich in der formalen Logik früh einen Namen gemacht hatte, verbrachte Quine einige Zeit im Wiener Kreis sowie in Prag und Warschau. Bei seiner Rückkehr in die USA schloss er sich der philosophischen Fakultät in Harvard an, wo er für den Rest seiner philosophischen Karriere blieb, unterbrochen nur durch die Kriegsjahre, in denen er in der Marine Wehrdienst leistete. Seine wichtigsten Bücher waren From a Logical Point of View (Von einem logischen Standpunkt) (1953), das zwei berühmte Aufsätze enthielt: „On What There Is“ („Was es gibt“) und „Two Dogmas of Empiricism“ („Zwei Dogmen des Empirismus“), sowie Word and Object (Wort und Gegenstand) (1960), wobei es sich um eine autoritative Darlegung seines Systems handelte, die später durch eine Reihe weniger einflussreicher Studien ergänzt wurde. Das Ziel von Quines philosophischen Bemühungen bestand darin, einen Rahmen für eine naturalistische Welterklärung in wissenschaftlichen Begriffen, insbesondere der Physik, vorzugeben. Er meinte, dass dies durch eine Analyse der Sprache erreicht werden könne, die sowohl empiristisch als auch behavioristisch war. Alle Theorien, mit denen wir die Welt erklären (seien es informelle oder wissenschaftliche Theorien) basieren auf den Daten unserer Sinnesorgane. Alle Ausdrücke und Sätze, die in den Theorien vorkommen, müssen anhand des Verhaltens der Sprecher und Hörer definiert werden, die sie benutzen. Die Grundform der Bedeutung einer Äu-

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ßerung ist die Reizbedeutung (stimulus meaning): die Klasse aller Reizeinflüsse, die einen Sprecher zur Zustimmung zu der Äußerung veranlassen. Obwohl er ein radikal empiristisches Programm verfolgte, war Quines erste Arbeit, die einen größeren Einfluss hatte, sein Aufsatz „Two Dogmas of Empiricism“ von 1951. Die beiden Zielscheiben seines Angriffs beschrieb er auf folgende Weise: „Das eine ist der Glaube an eine grundlegende Kluft zwischen einerseits analytischen Wahrheiten, die auf Bedeutungen beruhen und unabhängig von Tatsachen sind, und synthetischen, auf Tatsachen beruhenden Wahrheiten andererseits. Das andere Dogma ist der Reduktionismus: der Glaube, daß jede sinnvolle Aussage äquivalent einem logischen Konstrukt aus Termen sei, die auf unmittelbare Erfahrung referieren.“ (FLPV 20) 11

Quine bestritt nicht, dass es logisch wahre Aussagen gibt, d. h. Aussagen, die unabhängig von der Interpretation ihrer nichtlogischen Ausdrücke wahr bleiben – wie zum Beispiel: „Kein unverheirateter Mann ist verheiratet.“ Doch wir können von einer solchen logisch wahren Aussage nicht zu der angeblich analytischen Aussage „Kein Junggeselle ist verheiratet“ übergehen, denn das hängt davon ab, dass „unverheirateter Mann“ und „Junggeselle“ als Synonyme benutzt werden. Doch was ist Synonymie? Sollen wir sagen, dass zwei Ausdrücke synonym sind, wenn in einem Satz einer gegen den anderen ausgetauscht werden kann, ohne dass sich dadurch der Wahrheitswert des Satzes ändert? „Lebewesen mit einem Herzen“ und „Lebewesen mit einer Niere“ sind aber auf diese Weise gegeneinander austauschbar, ohne dass jemand annimmt, dass „Alle Lebewesen, die Herzen haben, haben Nieren“ ein analytischer Satz ist. Ebenso wenig können wir uns auf irgendeinen Begriff von Notwendigkeit berufen, um Analytizität zu definieren: Die Erklärung muss in umgekehrter Richtung erfolgen. Sollen wir stattdessen zu definieren versuchen, was es für einen Satz bedeutet, synthetisch zu sein, indem wir beispielsweise sagen, dass ein Satz genau dann synthetisch ist, wenn er durch Erfahrung verifiziert oder falsifiziert werden kann? Quine erklärt, dass diese Strategie auf einem falschen Verständnis von Verifikation beruht: Es sind nicht einzelne Sätze, sondern ganze Systeme, die verifiziert oder falsifiziert werden. „Unsere Aussagen über die Außenwelt treten nicht einzeln vor das Tribunal der Sinneserfahrung, sondern als Kollektiv.“ (FLPV 140) „Die Gesamtheit unseres sogenannten Wissens oder Glaubens, angefangen bei den alltäglichsten Fragen der Geographie oder der Geschichte bis hin zu den grundlegendsten Gesetzen der Atomphysik oder sogar der reinen Mathematik und Logik, ist ein von Menschen geflochtenes Netz, das nur an seinen Rändern mit der Erfahrung in Berüh11 Zitiert nach: W. v. O. Quine, Von einem logischen Standpunkt, übersetzt und herausgegeben von P. Bosch (Frankfurt: Ullstein Verlag, 1979), 27.

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rung steht. Oder, um ein anderes Bild zu nehmen, die Gesamtwissenschaft ist ein Kraftfeld, dessen Randbedingungen Erfahrungen sind. Ein Konflikt mit der Erfahrung an der Peripherie führt zu Anpassungen im Inneren des Feldes. Wahrheitswerte müssen über einige unserer Aussagen neu verteilt werden. Die Umbewertung einiger Aussagen zieht aufgrund ihrer logischen Zusammenhänge die Umbewertung einiger anderer Aussagen nach sich – die logischen Gesetze wiederum sind nur gewisse weitere Aussagen des Systems, gewisse weitere Elemente des Feldes.“ (FLPV 140) 12

Hieraus folgt, dass es unsinnig ist, eine Klasse analytischer Aussagen zu isolieren, die unter allen Umständen wahr bleiben. Jede Aussage kann unter allen Umständen für wahr gehalten werden, wenn wir an anderer Stelle des Systems drastische Veränderungen vornehmen. Einerseits ist keine Aussage – noch nicht einmal eine Aussage der Logik – völlig immun gegen jegliche Revision. Die Wissenschaft als Ganzes hängt sowohl von der Sprache als auch von der Erfahrung ab – doch lässt sich diese Dualität nicht an einzelnen Sätzen festmachen. Wenn den Begriffen der Synonymie und der Analytizität keine Bedeutung gegeben werden kann, so ist der gesamte Begriff der Bedeutung suspekt, weil es keine Kriterien für die Identität der Bedeutung geben kann. Quine bestand darauf, dass es so etwas wie Bedeutungen, die durch Berufung auf intentionale Begriffe wie Glauben oder Verstehen interpretiert werden müssen, mit Sicherheit nicht gebe. Bedeutung müsse in rein extensionalen Begriffen erklärt werden, indem man Sinnesreize verbalem Verhalten zuordne. Quine stellt sich einen Sprachforscher vor, der versucht, aus einer ihm vollkommen unbekannten Sprache zu übersetzen, und der als seine einzigen Daten die Kräfte verwendet, „die er auf die Sinnesoberflächen des Eingeborenen auftreffen sieht, und das beobachtbare, verbale und sonstige Verhalten des Eingeborenen“ (WO 28). Das Fazit von Quines Gedankenexperiment besteht darin, drei Stufen der Unbestimmtheit zu unterscheiden. Da ist erstens die Unbestimmtheit der individuellen Referenz. Der Linguist mag beobachten, dass die Eingeborenen die Lautfolge „Gavagai“ nur in Gegenwart von Kaninchen verwenden. Doch selbst wenn wir annehmen, dies sei ein Beobachtungssatz, kann diese Lautfolge ebenso Kaninchen, Kaninchenstadium oder Kaninchenteil bedeuten. Zweitens besteht eine Unbestimmtheit auf der Ebene der gesamten Sprache: Die Daten könnten gleich gut zu zwei verschiedenen, miteinander inkompatiblen Übersetzungshandbüchern passen. Diese Unbestimmtheit ist ein spezielles Beispiel für ein allgemeineres Phänomen, d. h., dass Theorien, nicht nur Theorien der Übersetzung, durch sinnliche Daten unterbestimmt sind. Daher kann mit allen jemals verfügbaren Daten mehr als ein umfassendes wissenschaftliches System vereinbar sein. Wir müssen tatsächlich die Vorstellung aufgeben, dass die Welt aus einer defini12 Zitiert nach: W. v. O. Quine, Von einem logischen Standpunkt, übersetzt und herausgegeben von P. Bosch (Frankfurt: Ullstein, 1979), 47.

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tiven Ansammlung vorgegebener Gegenstände besteht. Was existiert, hängt davon ab, welche Theorie wir zugrunde legen. In seinem frühen Aufsatz „On What There Is“ („Was es gibt“) traf Quine die berühmte Feststellung: „Sein heißt, Wert einer gebundenen Variablen zu sein.“ Mit dieser Behauptung trat er in die Fußstapfen von Frege und Russell, die darauf bestanden, dass in einer wissenschaftlichen Theorie kein Name zugelassen werden darf, dem ein definitiver Bezug fehlt. Wenn sämtliche zweifelhaften Namen mithilfe von Russells Theorie der Beschreibung eliminiert wurden, blieben uns Sätze der Form „Es gibt ein x, das so beschaffen ist, dass x …“ gefolgt von einem Satz von Prädikaten, anhand derer das angebliche Individuum zu identifizieren ist. Was existiert, sind dieser Theorie zufolge die Entitäten, über die sich die Quantoren erstrecken. Da verschiedene Theorien jedoch gleich gut belegt werden können, gilt dasselbe auch für verschiedene Ontologien. Dasjenige, von dem gesagt werden kann, es existiert, existiert immer relativ zu einer bestimmten Theorie. Wittgenstein und Quine werden häufig – besonders auf dem europäischen Kontinent – als die beiden führenden Vertreter der analytischen Philosophie angesehen. Tatsächlich ist der Unterschied zwischen ihren Philosophien beträchtlich. 13 Die beiden unterschieden sich insbesondere durch ihr Philosophieverständnis. Da er nicht an den Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Sätzen glaubte, sah Quine keine scharfe Grenzlinien zwischen der Philosophie und den empirischen Wissenschaften. Wittgenstein hielt jedoch sein Leben lang an der Überzeugung fest, die er im Tractatus (4.111) formuliert hatte: „Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften. (Das Wort Philosophie muß etwas bedeuten, was über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften steht.)“ Der Szientismus, d. h. der Versuch, die Philosophie als eine Wissenschaft zu sehen, war ein rotes Tuch für ihn. Im Blauen Buch schrieb er: „Philosophen haben ständig die naturwissenschaftliche Methode vor Augen und sind in unwiderstehlicher Versuchung, Fragen nach der Art der Naturwissenschaften zu stellen und zu beantworten. Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik und führt den Philosophen in vollständiges Dunkel.“ (BB 18) 14 In den USA behauptete sich der von Quine eingeführte Szientismus. Einer seiner eloquentesten Vertreter war Donald Davidson (1917–2003), der in Harvard Quines Schüler war. Davidson unterrichtete an zahlreichen amerikanischen Universitäten und verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in Berkeley. Seine bevorzugte Publikationsform waren kurze Aufsätze, doch viele seiner Essays wurden in Aufsatzbänden gesammelt, von denen insbesondere Essays on Actions and Events (1980) and Inquiries into Truth and Interpretation (1984) berühmt wurden. In der Philosophie des Geistes und der Handlungstheorie drückte sich Davidsons Szientismus darin aus, dass er keinen Unterschied zwischen Philosophie und Psychologie gelten ließ. In der 13 Dieser Unterschied ist auf erhellende Weise von P. M. S. Hacker in Wittgenstein’s Place in Twentieth Century Analytic Philosophy (Oxford: Blackwell, 1996), 183–227, umfassend dargestellt worden. 14 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Das Blaue Buch, Eine philosophische Betrachtung, herausgegeben von R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1984), 39.

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Sprachphilosophie nahm er die Form einer empirischen und extensionalen Theorie der Bedeutung an. Davidson Aufsatz „Truth and Meaning“ („Wahrheit und Bedeutung“) aus dem Jahre 1967 beginnt mit folgenden Zeilen: „Daß eine befriedigende Bedeutungstheorie eine Darstellung geben muß, wie die Bedeutungen der Sätze von den Bedeutungen der Wörter abhängen, wird von den meisten Sprachphilosophen und neuerdings auch von einigen Linguisten eingeräumt. Es wird geltend gemacht, daß es, wenn für eine bestimmte Sprache keine derartige Darstellung gegeben werden könnte, ausgeschlossen wäre, die Tatsache zu erklären, daß wir diese Sprache zu lernen vermögen: Es wäre ausgeschlossen, die Tatsache zu erklären, daß wir, nachdem wir ein endliches Vokabular und eine endliche Aufstellung von Regeln beherrschen gelernt haben, imstande sind, jeden Satz aus einer potenziell unendlichen Anzahl zu erzeugen und zu verstehen.“ (ITI 17) 15

Davidsons Theorie der Bedeutung basiert auf einer Wahrheitstheorie. Die Wahrheitstheorie für eine Sprache L erklärt die Wahrheitsbedingungen für alle Sätze in L. Dies muss nicht dadurch geschehen, dass der unmögliche Weg eingeschlagen wird, jeden Satz der Sprache aufzulisten, sondern dadurch, dass gezeigt wird, wie die Teilelemente von Sätzen zu den Wahrheitsbedingungen der Sätze beitragen, in denen sie vorkommen. Eine solche Theorie wird eine endliche Liste von Ausdrücken enthalten und eine endliche Liste syntaktischer Regeln, doch zu ihren daraus abgeleiteten Behauptungen gehört die potenziell unendliche Menge von Wahrheitssätzen der Form: „‚S‘ ist wahr in L genau dann, wenn p“. Wie Quine veranschaulicht Davidson seine Theorie, indem er eine Situation erwägt, in der wir auf eine Gemeinschaft treffen, deren Sprache uns vollkommen unbekannt ist. Um diese Sprache zu deuten, müssen wir eine Wahrheitstheorie für die Sprache aufbauen, indem wir beobachten, welchen Sätzen sie in welchen Situationen zustimmen. Doch wir können die Gefahr der Unbestimmtheit und des Skeptizismus vermeiden, indem wir voraussetzen, dass die Eingeborenen wahre und vernünftige Überzeugungen haben und dass sie bei ihren Schlussfolgerungen und Entscheidungen rational vorgehen. Dies ist das „principle of charity“ („Prinzip der wohlwollenden Interpretation“). Das tatsächliche Verhalten von Personen wird von ihren Gründen bestimmt, das heißt: von ihren Wünschen und Überzeugungen, die Davidson als mentale Ereignisse konstruiert. Die Beziehung zwischen diesen mentalen Ereignissen und den Handlungen, deren vernünftige Gründe sie darstellen, ist eine kausale Beziehung: Die Behauptung, dass eine Handlung absichtlich geschieht, besteht genau darin, dass man sagt, sie werde durch die passenden Überzeugungen und Wünsche verursacht. Doch diese 15 Zitiert nach D. Davidson, „Wahrheit und Bedeutung“, in: D. Davidson, Wahrheit und Interpretation, übersetzt von J. Schulte (Frankfurt: Suhrkamp, 1990), 40.

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2 Von Peirce bis Strawson

Verursachung entzieht sich für Davidson unserer Einsicht: Wir können keine psychologischen Gesetze aufstellen, die die Überzeugungen und Wünsche von Akteuren mit den von ihnen ausgeführten Handlungen verbinden. Davidson behauptet stattdessen, dass jedes einzelne mentale Ereignis ein einzelnes physikalisches Ereignis ist und dass dieses Ereignis durch physikalische Gesetze mit den einzelnen physikalischen Ereignissen verbunden ist, die mit den Handlungen identisch sind. Es können jedoch keine psychophysischen Gesetze aufgestellt werden, die physiologische Ereignisse einer bestimmten Art mit psychologischen Ereignissen einer bestimmten Art zueinander in Beziehung setzen. Davidsons Position ist insofern materialistisch, als es keine Ereignisse gibt, die nicht physikalische Ereignisse sind. Doch er versucht diesem Materialismus seinen Stachel zu nehmen, indem er auf etwas besteht, das er als „die Anomalie des Mentalen“ bezeichnet. Jedes mentale Ereignis ist mit einem physikalischen Ereignis identisch, doch auf dasselbe Ereignis sind als mentales oder physikalisches Ereignis jeweils andere Beschreibungen anwendbar. Als mentales Ereignis unterliegt es keinen Kausalgesetzen, sondern ist Gegenstand einer Deutung, da seine Identität als mentales Ereignis von seiner Position in einem Geflecht anderer mentaler Ereignisse abhängt. Als mentales Ereignis, nicht als physikalisches, unterliegt es der normativen Bewertung als rational oder irrational. Dies macht das Wesen der Verursachung zwischen dem Mentalen und Physischen höchst rätselhaft, wie Davidson selbst zugesteht. Die Philosophen in England waren weiterhin der Überzeugung, dass es eine Kluft zwischen Wissenschaft und Philosophie gebe, nicht nur eine verschwommene Grenze. Sie behaupteten, wie Ryle und Wittgenstein, das Ziel der Philosophie bestehe nicht in Information, sondern in einem vertieften Verständnis. In einem Aufsatz mit dem Titel „In Defence of a Dogma“ („Zur Verteidigung eines Dogmas“) wies Peter Strawson (1919–2006) zusammen mit seinem Tutor Paul Grice Quines Angriff auf die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen zurück. In seinem eigenen Philosophieren war Strawson alles andere als dogmatisch. Zu einer Zeit, als die Philosophie in Oxford eine übertriebene Sicht ihrer eigenen Bedeutung hatte und nicht bereit war, von Philosophen in großer räumlicher oder zeitlicher Ferne etwas zu lernen, erinnerte Strawson seine Kollegen an den Wert anderer Stile des Philosophierens, indem er ein Buch über Kants Kritik der reinen Vernunft schrieb und seine eigene Arbeit in einem gewissen Grad daran ausrichtete. Als „Metaphysik“ für viele ein Schimpfwort war, gab Strawson seinem wichtigsten Werk, Individuals 16 (1959), den Untertitel „Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik“. Die deskriptive Metaphysik versucht die tatsächliche Struktur unserer Gedanken über die Welt zu beschreiben, ohne sich anzumaßen, diese Struktur zu verbessern. (Diese Anmaßung ist das Kennzeichen der revisionären Metaphysik.) In Individuals versuchte Strawson die Grundvoraussetzungen für eine Sprache zu analysieren, in der 16 Anm. d. Übers.: In deutscher Übersetzung verfügbar als: P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, übersetzt von F. Scholz (Stuttgart: Reclam, 1972).

Die analytische Philosophie nach Wittgenstein

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es möglich ist, sich auf Objekte zu beziehen und sie wiederzuerkennen und Aussagen darüber zu machen. Er betrachtete seine Aufgabe als die einer Begriffsanalyse, allerdings einer breit angelegten, allgemeinen Analyse. Er schrieb: „Die Struktur, die der Metaphysiker sucht, zeigt sich nicht an der Oberfläche der Sprache, sondern sie liegt verborgen“ (I 10). Strawson versuchte zu zeigen, dass in unserem Begriffsschema materielle Gegenstände und Personen eine besondere Position einnehmen: Einzeldinge dieser Art sind die grundlegenden Einzeldinge. Die beiden Sprechakte der Bezugnahme und Beschreibung, die der Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache entsprechen, sind nur möglich, wenn wir materielle Gegenstände identifizieren und reidentifizieren können, und dies setzt einen raum-zeitlichen Rahmen voraus. (In einer Welt reiner Geräusche, in der es nur Tonhöhen und zeitliche Sequenzen gibt, ist Wiedererkennen kaum möglich.) Eine raum-zeitliche Struktur von Objekten mit bestimmten Eigenschaften liegt jeder Sprache, die lediglich die Verteilung von Eigenschaften an verschiedenen Orten registriert, voraus und ist eine ihrer Bedingungen. Für Strawson sind Personen, nicht weniger als materielle Körper, eine fundamentale logische Kategorie. Eine Person darf man sich nicht im Sinne des kartesianischen Dualismus vorstellen. Wenn man sich den Geist des Menschen als kartesianisches Ego vorstellt, dem nur private Erfahrungen zugeschrieben werden können, dann wird das Problem, wie man anderen Bewusstseinszustände zuschreiben kann, unlösbar. „Eine notwendige Bedingung dafür, dass man sich selbst Bewusstseinszustände, Erfahrungen, auf die Art und Weise zuschreibt, wie man dies für gewöhnlich tut, ist, dass man sie anderen, die von einem selbst verschieden sind, ebenso zuschreibt, oder zumindest dazu bereit ist.“ (I 99) Man kann anderen solche Zustände nur dann zuschreiben, wenn man andere Objekte der Erfahrung identifizieren kann. Und man kann andere nicht identifizieren, wenn man sie nur als Subjekte der Erfahrung identifizieren kann, als Besitzer von bewussten Zuständen. Der Begriff der Person ist daher ursprünglicher als der Begriff des Bewusstseins: „Mit dem Begriff der Person meine ich den Begriff eines Typs von Entitäten derart, daß ein und demselben Individuum von diesem einen Typ sowohl Bewußtseinszustände als auch körperliche Eigenschaften, eine physikalische Situation etc. zugeschrieben werden können. […] Der Begriff der Person ist logisch primär gegenüber dem des individuellen Bewußtseins. Der Begriff der Person ist nicht als der Begriff eines beseelten Körpers oder einer in den Körper eingebetteten Seele zu analysieren.“ (I 102 f.)17

Dennoch glaubte Strawson, es sei nicht unmöglich, sich vorzustellen, dass man den Tod seines Körpers als Person überlebt. Solch ein Leben nach dem Tod wäre das Leben eines Individuums, das völlig einsam wäre, unfähig, mit anderen zu kommuni17 Zitiert nach: P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, übersetzt von F. Scholz (Stuttgart: Reclam, 1972), 130 ff.

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2 Von Peirce bis Strawson

zieren oder Wirkungen in der Welt herbeizuführen. In dem Maße, in dem die Erinnerung verblasse und eine solche ohnmächtige Existenz langweilig würde, verflüchtige sich auch der Begriff, den der seinen Tod Überlebende von sich selbst als Individuum hat. „Am Ende dieses Prozesses besteht, vom Gesichtspunkt des Fortbestehens als Individuum aus betrachtet, kein Unterschied mehr zwischen Fortdauer und Beendigung der Erfahrung. Unkörperliches Fortleben mag in dieser Form wohl wenig attraktiv erscheinen. Kein Zweifel, daß aus diesem Grund die Strenggläubigen wohlweislich an der Lehre der körperlichen Auferstehung festhalten.“ 18 (I 116) Strawsons eigener Tod zu Beginn des Jahres 2006 markierte das Ende einer Ära der englischen Philosophie.

18 Zitiert nach: P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt, übersetzt von F. Scholz (Stuttgart: Reclam, 1972), 149.

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Von Freud bis Derrida

Im 19. Jahrhundert gab es einen beständigen philosophischen Ideenaustausch zwischen den Ländern auf dem europäischen Festland und der englischsprachigen Welt. Kant und Hegel hatten an britischen Universitäten einen gewaltigen Einfluss, während die Tradition des britischen Empirismus unter den radikalen Denkern auf dem Kontinent viele Sympathisanten fand. Der Lebensweg von William James ist ein gutes Beispiel für den kosmopolitischen Charakter der Philosophie dieser Zeit. Zur Philosophie wurde er durch die Lektüre eines französischen Philosophen bekehrt. Er studierte in Deutschland, hielt häufig Vorlesungen in Großbritannien, lebte aber in den Vereinigten Staaten. Auch der junge Bertrand Russell war keineswegs auf den Horizont seiner Heimatinsel beschränkt: Während er seine Philosophie der Mathematik ausarbeitete, korrespondierte er ständig mit dem Deutschen Frege und dem Italiener Peano. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte sich all das geändert. Die kontinentalen und englischsprachigen Philosophen gingen ihre eigenen Wege und sprachen kaum noch dieselbe Sprache. In Großbritannien und Amerika war die analytische Tradition der Philosophie, die Russell zu gründen geholfen hatte, in akademischen Kreisen zum dominierenden Einfluss geworden und hatte alternative Stile des Philosophierens fast verdrängt. Auf dem europäischen Kontinent war der Existenzialismus zu einer modischen Denkrichtung geworden, die in Frankreich von Jean-Paul Sartre und in Deutschland von Martin Heidegger angeführt wurde. Gut gemeinte Versuche, die Vertreter der verschiedenen Arten, Philosophie zu betreiben, zusammenzubringen, hatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur begrenzten Erfolg.

Freud und die Psychoanalyse Derjenige kontinentale Denker, der im gesamten 20. Jahrhundert den größten Einfluss auf die angloamerikanische Philosophie hatte, war selbst kein Philosoph, sondern ein Mann, der sich als Wissenschaftler betrachtete, ja sogar als Erfinder einer neuen Wissenschaft: Sigmund Freud. Nur sehr wenige Philosophen beschrieben sich als Freudianer, doch alle, die die Philosophie des Geistes, Ethik oder Religionsphilosophie unterrichteten, waren gezwungen, sich mit Freuds neuen und faszinierenden Thesen in diesen Bereichen auseinanderzusetzen. Freud wurde im Jahre 1856 in Mähren in eine österreichische, jüdische Familie geboren, die ihr Judentum nicht praktizierte. 1860 zog die Familie nach Wien um, und Freud studierte an der dortigen Universität Medizin. 1882 trat er eine Stelle als

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3 Von Freud bis Derrida

Ein Treffen englischsprachiger und kontinentaler Philosophen unter der Leitung von Gilbert Ryle im Christ Church College, Oxford, ca. 1970.

Arzt in einem allgemeinmedizinischen Krankenhaus an, wo er sich anfänglich auf Hirnanatomie spezialisierte. Außerdem arbeitete er mit dem Neurologen Josef Breuer zusammen und behandelte hysterische Patienten unter Hypnose. Drei Jahre später ging er nach Paris, um unter dem Neurologen Jean-Martin Charcot zu studieren. Kurz nach seiner Rückkehr machte er eine private Praxis auf. Im selben Jahr heiratete er Martha Bernays, mit der er sechs Kinder hatte: drei Töchter und drei Söhne. 1895 veröffentlichte Freud zusammen mit Breuer eine Studie über Hysterie, in der sie eine neuartige Analyse seelischer Krankheiten vorstellten. Nach und nach verzichtete Freud auf den Einsatz der Hypnose als Behandlungsform und ersetzte sie durch eine neue Form der Therapie, die er als Psychoanalyse bezeichnete, die – in seinen eigenen Worten – in nichts anderem als einem Gespräch zwischen Patient und Arzt bestand. Die neue Behandlungsmethode stand unter der Prämisse, dass es sich bei hysterischen Symptomen um das Ergebnis von Erinnerungen an ein psychologisches Trauma handelte, die der Patient zwar verdrängt hatte, die durch einen Prozess der freien Assoziation jedoch wieder wachgerufen werden konnten. Der auf einer Couch liegende Patient wurde ermutigt, über alles zu reden, was ihm in den Sinn kam. Freud gelangte durch zahlreiche derartige Sitzungen zu der Überzeugung, dass die entsprechenden psychologischen Traumata in die Kindheit zurückreichten und einen sexuellen Inhalt hatten. Seine Theorien der kindlichen Sexualität führten zu einem Bruch mit Breuer. Isoliert von seinem medizinischen Fachkollegen, führte Freud seine Wie-

Freud und die Psychoanalyse

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ner Praxis fort. Im Jahre 1900 veröffentlichte er das wichtigste seiner Werke, Die Traumdeutung, in der er die These vertrat, Träume seien, ebenso wie neurotische Symptome, der verschlüsselte Ausdruck unterdrückter sexueller Wünsche. Er behauptete, die Theorie sei auf normale ebenso wie auf neurotische Personen anwendbar, und er ließ diesem Buch ein Jahr später eine Studie mit dem Titel Zur Psychopathologie des Alltagslebens folgen. Dies waren die ersten einer Reihe höchst lesbarer Bücher, die seine psychoanalytischen Theorien ständig veränderten und präzisierten. 1902 erhielt Freud an der Universität Wien eine außerordentliche Professur für Neuropathologie und er begann, Schüler und Kollegen um sich zu sammeln. Zu den berühmteren unter ihnen gehörten Alfred Adler und Carl Gustav Jung, die sich beide später von Freud trennen und ihre eigenen Schulen gründen sollten. Im Jahre 1923 veröffentlichte Freud die Arbeit Das Ich und das Es, in der er eine neue und sorgfältig ausgeführte Beschreibung der Struktur des Unbewussten darlegte. Er schreckte vor Kontroversen nicht zurück und legte in der Arbeit Die Zukunft einer Illusion (1927) eine reduktionistische Erklärung des Ursprungs der Religion vor. Er selbst war Atheist, doch dies hinderte ihn nicht, sich mit der jüdischen Kultur zu identifizieren, und es schützte ihn ebenso wenig vor anti-semitischen Angriffen. Die Psychoanalyse wurde nach der Annexion Österreichs im Jahre 1938 von den Nazis verboten, und Freud war gezwungen, nach England zu gehen. Er fand in London eine freundliche Aufnahme, wo seine Werke von Mitgliedern der Bloomsbury-Gruppe übersetzt und herausgegeben worden waren. Nachdem er 16 Jahre lang an Kieferkrebs gelitten hatte, starb Freud am 23. September 1939 durch eine tödliche Morphiuminjektion, um die er seinen Arzt gebeten hatte. Seine psychoanalytische Arbeit wurde von seiner jüngsten Tochter Anna fortgesetzt. In einer Reihe einführender Vorlesungen, die Freud zwischen 1915 und 1917 hielt, fasste er die psychoanalytische Theorie in zwei Grundthesen zusammen. Die erste besagt, dass der größte Teil unseres Seelenlebens – handele es sich dabei um Gefühle, Gedanken oder Wünsche – unbewusst ist. Die zweite These lautet, dass sexuelle Impulse, in einem weiten Sinne verstanden, nicht nur als mögliche Ursachen seelischer Krankheiten äußerst wichtig sind, sondern auch als Motor künstlerischer und kultureller Schöpfungen. Dass das sexuelle Element in den künstlerischen und kulturellen Arbeiten weitestgehend unbewusst bleibt, hat den Grund, dass die Sozialisation das Opfer grundlegender Instinkte verlangt. Solche Instinkte werden sublimiert, d. h., sie werden von ihren ursprünglichen Zielen auf gesellschaftlich akzeptable Aktivitäten umgelenkt. Allerdings ist diese Sublimierung ein instabiler Zustand, und ungebändigte und unbefriedigte Instinkte können sich in Form seelischer Krankheiten und Störungen rächen. Die Existenz des Unbewussten manifestiert sich Freud zufolge auf drei unterschiedliche Weisen: durch alltägliche triviale Fehlhandlungen, durch die Berichte in Träumen und die Symptome der Neurosen. Es ist zwar wahr, dass Träume und neurotische Symptome auf den ersten Blick, oder wie sie von den Patienten ohne Hilfe des Analytikers gedeutet werden, die Überzeugungen, Wünsche und Gefühle, aus

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3 Von Freud bis Derrida

denen das Unbewusste nach Freud besteht, nicht zu erkennen geben. Doch die analytische Praxis der freien Assoziation, davon war Freud überzeugt, offenbarte in der Deutung des Therapeuten die zugrunde liegenden Muster der unbewussten Seele. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Musters ist die sexuelle Entwicklung. Freud erklärte, dass die kindliche Sexualität mit einer oralen Phase beginnt, in der die Lustempfindungen auf den Mund konzentriert sind. Hieran schließt sich zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr eine anale Phase an sowie eine „phallische“ Phase, in der sich das Kind auf seinen eigenen Penis oder seine Klitoris konzentriert. Freud behauptete, dass ein Junge sich in diesem Alter sexuell zu seiner Mutter hingezogen fühlt und dass er sie seinem Vater missgönnt. Doch diese Feindseligkeit gegenüber seinem Vater hatte die Angst zur Folge, dass sich der Vater an ihm rächen wird, indem er ihn kastriert. Daher gibt der Junge seine auf seine Mutter gerichteten sexuellen Wünsche auf, und er identifiziert sich allmählich mit seinem Vater. Dies ist der Ödipuskomplex, ein Stadium von entscheidender Wichtigkeit in der Entwicklung jedes Jungen. Neurotische Charaktere sind Personen, die über ein frühes Stadium ihrer Entwicklung nicht hinausgekommen sind. Die Aufdeckung ödipaler Wünsche und die Geschichte ihrer Unterdrückung sind ein wichtiger Teil jeder Analyse. Freud hatte keinen Zweifel daran, dass es mutatis mutandis ein weibliches Gegenstück zum Ödipuskomplex gebe, doch wurde diese Annahme niemals auf eine überzeugende Weise vollständig ausgearbeitet. Gegen Ende seines Lebens ersetzte Freud die frühere Dichotomie zwischen Bewusstsein und Unbewusstem durch ein dreiteiliges Schema der Seele. Der seelische Apparat, schreibt er in Das Ich und das Es, bestehe aus einem Es, das die instinktiven Impulse enthalte, einem Ich, bei dem es sich um den oberflächlichsten Teil des Es handle, der durch den Einfluss der Außenwelt verändert worden sei, und das ÜberIch, das sich aus dem Es entwickelt habe, das Ich dominiere und die für den Menschen charakteristischen Instinkthemmungen darstelle (SE xx. 266). Freud zufolge besteht das gesamte Streben des Ichs darin, eine Aussöhnung zwischen den verschiedenen Teilen der Seele zu erreichen. Solange sich das Ich mit dem Es und dem Über-Ich in Harmonie befindet, ist die Welt in Ordnung. Doch wenn diese Harmonie gestört ist, entwickeln sich seelische Krankheiten. Konflikte zwischen dem Ich und dem Es führen zu Neurosen, Konflikte zwischen dem Es und dem ÜberIch zu Melancholie und Depression. Wenn das Ich mit der Außenwelt in Konflikt gerät, entstehen Psychosen. Freud würde es uns nicht danken, dass wir ihn in eine Geschichte der Philosophie aufgenommen haben, da sein Selbstverständnis das eines Naturwissenschaftlers war, der Erforschung des strengen Determinismus gewidmet, der den Illusionen menschlicher Freiheit zugrunde liegt. Tatsächlich fehlt es den meisten seiner detaillierten Theorien, wenn man sie hinreichend präzisiert hat, um sie experimentell testen zu können, an einer empirischen Grundlage. Medizinische Fachleute sind sich nicht darüber einig, inwieweit psychoanalytische Techniken effektive Therapieformen darstellen, und wenn sie es sind, worauf ihre Wirksamkeit beruht. Wenn sie Erfolg

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haben, so scheint dies nicht darauf zu beruhen, dass sie deterministische Mechanismen aufdecken, sondern darauf, dass die Selbstwahrnehmung und Wahlfreiheit des Einzelnen erweitert werden. Doch trotz aller theoretischen Einwände, die man gegen Freuds Werk vorbringen kann, hat Freud einen ungeheuer großen Einfluss auf die Gesellschaft gehabt: in Bezug auf die Sexualmoral, auf unser Verständnis seelischer Krankheiten, unsere Beurteilung von Kunst und Literatur sowie auf zwischenmenschliche Beziehungen vielfältiger Art. Freud war nicht der erste Denker, der dem Sexualtrieb eine fundamentale Rolle in der Psyche des Menschen zuwies. Viele Generationen von Theologen, die den Zustand des Menschen als von einer Sünde Adams bestimmt ansahen, deren Ursprung, Übertragung und Auswirkung sexueller Natur war, gingen ihm darin voran. Und wenn die Prüderie des 19. Jahrhunderts sich auch bemüht haben mochte, die Allgegenwart der Sexualität zu verbergen, so war der Schleier, mit dem man sie bemäntelte, doch stets leicht wegzuziehen. Freud liebte den Ausspruch Schopenhauers, dass es zu den Witzen des Lebens zähle, dass die sexuelle Betätigung, das Hauptanliegen des Menschen, im Verborgenen verfolgt werde. Die Sexualität, sagte Schopenhauer, sei die wahre Erbherrin der Welt, und der behandelte alle Vorkehrungen, die man zu ihrer Eindämmung traf, mit Verachtung. Freuds Zeitgenossen waren von seiner Betonung der kindlichen Sexualität schockiert. Doch die viktorianische Sentimentalität bezüglich der Kindheit war eine Einstellung, die es noch nicht lange gab. Sie wird zum Beispiel von Augustinus nicht geteilt, der in seinen Bekenntnissen schrieb: „Unschuldig ist nicht der Geist des Kindes, sondern es ist die Schwäche seiner Gliedmaßen. Ich habe selbst ein eifersüchtiges Baby beobachtet und studiert. Es konnte noch nicht sprechen, und blass vor Neid und Bitterkeit schaute es seinen Bruder an, der die Milch seiner Mutter mit ihm teilte. Wem ist diese Erfahrungstatsache nicht vertraut?“ Die sexuelle Laxheit vieler moderner Gesellschaften beruht nicht nur auf der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, sondern auf einem kulturellen Gesamtklima, zu dessen Entstehung Freud Vieles beigetragen hat. Er hat in seinen öffentlichen Schriften keineswegs einer sexuellen Freizügigkeit das Wort geredet: Vielmehr hat er eine einflussreiche Metapher in Umlauf gebracht: die Vorstellung des sexuellen Verlangens als eines psychischen Fluidums, das durch irgendeinen Kanal abfließen können muss. Nach dieser Metapher erscheint sexuelle Abstinenz als eine gefährliche Aufstauung von Kräften, die früher oder später sämtliche eindämmenden Hindernisse durchbrechen würden – und zwar mit katastrophalen Konsequenzen für die seelische Gesundheit. Man kann behaupten, dass der in der Neuzeit entwickelte Begriff der seelischen Gesundheit aus der Zeit stammt, zu der Freud, Breuer und Charcot begannen, hysterische Patienten statt als Simulanten als tatsächlich leidende Menschen zu behandeln. Es wird häufig behauptet, dass es sich hierbei mehr um eine moralische Entscheidung als um eine medizinische Entdeckung handelte, doch die meisten Menschen würden dies heute als die richtige moralische Entscheidung ansehen. Man kann die These vertreten, dass Freud die Grenzen zwischen Ethik und Medizin neu bestimmt hat.

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3 Von Freud bis Derrida

Bestimmte Verhaltensformen, die man vor seiner Zeit als strafwürdige Übertretungen angesehen hatte, werden nun schon seit geraumer Zeit – vor Gericht nicht weniger als in ärztlichen Behandlungszimmern – als behandlungswürdige Krankheiten eingestuft. Die Schwierigkeiten, einen strikten Unterschied zwischen einer klinischen Beurteilung und einer moralischen Bewertung zu machen, lassen sich besonders am Beispiel der veränderten Einstellung zu homosexuellem Verhalten verdeutlichen. Während dieses lange Zeit als verabscheuenswürdig kriminell angesehen wurde, galt es fast ein Jahrhundert lang als Symptom einer psychopathologischen Erkrankung. Heute hingegen betrachtet man es als zentrales Element eines rational gewählten, alternativen Lebensstils. Trotz seiner wenig schmeichelhaften Ansicht, dass künstlerische Kreativität große Ähnlichkeiten mit einer Neurose aufweist, war Freuds Einfluss auf Kunst und Literatur sehr groß. Romanautoren machen von assoziativen Techniken Gebrauch, die denjenigen ähnlich sind, die auf der Couch des Analytikers zum Einsatz kommen, und Kritiker lieben es, literarische Werke in ödipalen Begriffen zu interpretieren. Historiker widmen sich begeistert psychobiografischen Darstellungen: Sie analysieren die Handlungen reifer Personen des öffentlichen Lebens auf der Grundlage realer oder eingebildeter Episoden ihrer Kindheit. Maler und Bildhauer haben Freuds Symbolen aus einer Traumwelt konkrete Gestalt verliehen. Tatsächlich hat jeder von uns, auf direkte oder indirekte Weise, eine Menge psychoanalytischer Theorie aufgesaugt. Wenn wir unsere zwischenmenschlichen Beziehungen mit unseren Familienmitgliedern und Freunden diskutieren, reden wir bedenkenlos von Repression und Sublimierung, und wir beschreiben Charaktere als anal oder narzisstisch. Menschen, die nie ein Wort von Freud gelesen haben, können problemlos ihre eigenen und die freudschen Versprecher anderer als solche erkennen. Seit Aristoteles hat kein Denker einen größeren Beitrag zum alltäglichen Vokabular der Psychologie und Ethik geliefert. Dem Urteil W. H. Audens, der Freuds Tod in 28 Vierzeilern betrauerte, ist schwer zu widersprechen: „Wenn er sich oft auch irrte, Und manchmal auf absurde Weise, Ist er für uns jetzt nicht mehr nur Person, Sondern ein ganzes Meinungsklima.“ 1

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„If often he was wrong, and, at times, absurd, to us he is no more a person now but a whole climate of opinion.“

Husserls Phänomenologie

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Husserls Phänomenologie An entscheidenden Punkten gleicht das Leben von Edmund Husserl demjenigen von Sigmund Freud. Husserl war drei Jahre jünger als Freud. Wie dieser wurde er in eine jüdische Familie in Mähren geboren, und auch er besuchte Vorlesungen in Wien. Beide Männer widmeten einen großen Teil ihres Lebens einem Projekt, das die erste wirklich wissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes sein sollte. Am Ende ihres Lebens hatten beide Männer unter dem Antisemitismus der Nazis zu leiden, wobei Freud Österreich verlassen und im Exil sterben musste und Husserls Bücher beim Einmarsch deutscher Truppen 1939 in Prag verbrannt wurden. Husserls berufliche Laufbahn unterschied sich von derjenigen Freuds allerdings deutlich. Seine anfänglichen Studien galten der Mathematik und Astronomie, nicht der Medizin. Anschließend verfolgte er eine herkömmliche akademische Karriere in der Philosophie. Er hatte nacheinander mehrere Stellen an den philosophischen Seminaren verschiedener Universitäten. Obwohl er in Wien promoviert hatte, ging er zur Habilitation nach Halle, und die Lehrstühle, auf die er später berufen wurde, befanden sich an deutschen, nicht an österreichischen Universitäten. Husserls Interesse an der Philosophie wurde durch die Vorlesungen geweckt, die Franz Brentano von 1884 bis 1886 in Wien hielt. Brentano (1838–1917) war ein ehemaliger Priester, der in dem Buch Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), das sich als sehr einflussreich erweisen sollte, versucht hatte, die aristotelische Philosophie des Geistes mit gegenwärtigen experimentellen Forschungen in Beziehung zu setzen. Das Buch erklärte, dass die Daten des Bewusstseins von zwei unterschiedlichen Arten waren: Sie umfassten physikalische und geistige Phänomene. Beispiele für physikalische Phänomene waren Farben und Gerüche, geistige Phänomene wie beispielsweise Gedanken zeichneten sich dadurch aus, dass sie einen Inhalt bzw. ein immanentes Objekt hatten. Diese Eigenschaft, für die Brentano den scholastischen Begriff „Intentionalität“ wiederbelebte, war der Schlüssel zum Verständnis der geistigen Akte und des geistigen Lebens. Während er von Brentanos Haltung zur Psychologie beeinflusst war, konzentrierte sich Husserl anfänglich weiterhin auf die Mathematik. Seine Habilitationsschrift in Halle beschäftigte sich mit dem Begriff der Zahl, und sein erstes Buch, das 1891 herausgegeben wurde, war die Philosophie der Arithmetik. Darin versuchte er, unsere Zahlbegriffe zu erklären, indem er die geistigen Akte bestimmte, die ihr psychologischer Ursprung waren. So sollte sich unser Begriff der Vielheit beispielsweise aus einem Prozess der „kollektiven Kombination“ ableiten, in dem Elemente zu Aggregaten zusammengefasst wurden. Da er bestrebt war, eine Grundlage für die Mathematik in der empirischen Psychologie zu finden, war Husserl zu einigen unattraktiven Schlussfolgerungen gezwungen. So bestritt er beispielsweise, dass die Null und die Eins Zahlen sind, und er musste eine scharfe Trennung zwischen der Arithmetik kleiner und der Arithmetik großer Zahlen vornehmen. Mit dem Auge unseres Geistes können wir nur kleine Ansammlungen überschauen, weshalb nur ein kleiner Teil der

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Arithmetik eine anschauliche Grundlage haben kann. Wenn wir es mit großen Zahlen zu tun haben, lassen wir die Anschauung hinter uns und bewegen uns in einem Reich reiner Symbole. Rezensenten von Husserls Buch, insbesondere Frege, beklagten, dass darin eine Unklarheit bezüglich des Unterschieds zwischen Einbildungskraft und Denken bestehe. Die geistigen Ereignisse, die das Thema der Psychologie waren, waren private Erlebnisse Einzelner. Sie konnten einer allgemeingültigen Wissenschaft wie der Arithmetik nicht als Grundlage dienen. Die Arithmetik musste sich auf Gedanken gründen, die das allgemeine Eigentum aller Menschen waren. Husserl akzeptierte die Kritik und gab seinen frühen Psychologismus auf. In seinen Logischen Untersuchungen aus den Jahren 1900–1901 behauptete er, die Logik könne nicht aus der Psychologie abgeleitet werden, und dass jeder Versuch, dies zu tun, einen Zirkelschluss beinhalte, weil es erforderlich sei, sich im Laufe der Ableitung auf die Logik zu berufen. Von nun an behauptete er, wie Frege, dass es eine scharfe Trennung zwischen Logik und Psychologie gebe. Doch während Frege, dem die analytische Tradition hierin folgte, die Philosophie auf die logische Seite dieser Trennlinie konzentrierte, sah Husserl, dem sich die kontinentale Tradition anschloss, die psychologische Seite als rechtmäßige Heimat der Philosophie. Allerdings waren Frege und Husserl sich in dieser Zeit darin einig, dass sie die Philosophie – in ihrer logischen oder psychologischen Form – auf einen expliziten platonischen Realismus gründeten. Die philosophische Gesamtsituation zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von Gilbert Ryle, wenn auch nicht ganz unparteiisch, auf folgende Weise lebhaft beschrieben: „Um die Jahrhundertwende war Husserl vielen derselben intellektuellen Einflüsse ausgesetzt, unter denen auch Meinong, Frege, Bradley, Peirce, G. E. Moore und Bertrand Russell standen. Alle revoltierten auf gleiche Weise gegen die Ideenpsychologie von Hume und Mill; alle forderten sie die Emanzipation der Logik von der Psychologe; alle fanden sie im Begriff der Bedeutung ihren Fluchtweg aus den subjektivistischen Theorien des Denkens; fast alle von ihnen befürworteten eine platonistische Theorie der Bedeutungen, d. h. der Begriffe und Aussagen; alle setzten die Philosophie von den Naturwissenschaften ab, indem sie die Ermittlung von Tatsachen den Naturwissenschaften zuwiesen und begriffliche Untersuchungen der Philosophie; fast alle von ihnen redeten so, als ob die begrifflichen Untersuchungen der Philosophie in Superinspektionen irgendwelcher Superobjekte an ihr Ziel gelangten, als wären begriffliche Untersuchungen am Ende doch auf höheren Formen der Beobachtung (super-observational) beruhende Untersuchungen. Dennoch wichen sie alle in der Praxis ihrer begrifflichen Untersuchungen notwendigerweise von den Superbeobachtungen, die ihre platonisierende Erkenntnistheorie verlangte, ab. Husserl redete von der Anschauung von Wesenheiten in etwa so, wie Moore von der Überprüfung von Begriffen sprach und Russell von der Bekanntschaft mit Universalien, doch ihre tatsächlichen begrifflichen Schwierig-

Husserls Phänomenologie

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keiten trugen sie natürlich durch ihre intellektuellen Kämpfe aus, nicht durch irgendwelche intellektuellen Anschauungen.“ (CP i. 180)

Ryle hat zwar Recht, wenn er den gemeinsamen Ausgangspunkt der analytischen und kontinentalen Tradition der Philosophie betont; im Fall von Husserl waren die intellektuellen Kämpfe allerdings etwas komplizierter, als es der Schnelldurchgang in diesem Text nahelegt. Husserl übernahm von Brentano den Begriff der Intentionalität, d. h. die Vorstellung, dass dasjenige, was für die geistigen Phänomene im Gegensatz zu den physischen charakteristisch ist, ihr Gerichtetsein auf Objekte ist. Ich denke vielleicht an Troja oder ich sorge mich um meine Investitionen – Intentionalität ist die Eigenschaft, die durch kleine Wörter wie „an“ oder „um“ bezeichnet wird. Was ist die Beziehung zwischen dem, was in meinem Geist vor sich geht, und einer schon vor langer Zeit untergegangenen Stadt oder den auf die ganze Welt verteilten Aktienmärkten? Husserl, und viele andere nach ihm, verbrachten Jahre damit, nach der Antwort auf diese Frage zu suchen. 2 Zwei Dinge sind einem Gedanken wesentlich: dass er einen Inhalt hat, und dass es jemanden gibt, dessen Gedanke er ist. Angenommen, ich denke an einen Drachen. Zwei Dinge machen dies zu dem Gedanken, der er ist: erstens, dass es der Gedanke an einen Drachen und nicht an einen Adler oder ein Pferd ist; und zweitens, dass es mein Gedanke und nicht der Gedanke meines Lesers oder der Gedanke Napoleons ist. Husserl bezeichnete diese Merkmale, indem er sagte, dass es ein Akt von mir mit einem besonderen Inhalt (seinem intentionalen Objekt) sei. Auch andere Personen können an Drachen denken. In diesem Fall haben wir es nach Husserl mit mehreren individuellen Akten zu tun, die zur selben Klasse gehören, ja der Begriff „Drache“ ist tatsächlich nichts anderes als die Klasse, der alle derartigen Akte angehören. Begriffe werden daher in den Logischen Untersuchungen auf der Grundlage psychologischer Elemente definiert. In welcher Beziehung stehen die auf diese Weise verstandenen Begriffe zur Logik? In derselben Beziehung, glaubte Husserl nunmehr, in der die empirischen dreidimensionalen Körper zu den Lehrsätzen der Geometrie stehen. Auf diese Weise konnte er seinem früheren Psychologismus abschwören und einen klaren Unterschied zwischen Psychologie und Logik machen. Er ging nun noch einen Schritt weiter und zog eine weitere Trennungslinie zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie. Er tat dies, indem er die Psychologie als Disziplin der „Phänomenologie“ neu erfand. Die Phänomenologie wurde vor dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelt. Im Jahre 1900 erhielt Husserl einen außerordentlichen Lehrstuhl für Philoso2

Intentionalität hat nichts mit dem zu tun, was mit dem Wort „Intention“ im modernen Sprachgebrauch gemeint ist. Brentano entnahm das Wort mittelalterlichen Kontexten, in denen es von dem Verb „intendere“ abgeleitet war. Hiermit bezeichnete man das Spannen eines Bogens beim Zielen auf ein Objekt. Ein intentionales Objekt ist also sozusagen das Ziel eines Gedankens.

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phie an der Universität Göttingen. Zu seinen dortigen Kollegen gehörte der berühmte Mathematiker David Hilbert, doch seine begeistertsten Mitarbeiter an diesem neuen Unternehmen waren eine Gruppe von Philosophen in München, die den Ausdruck „phänomenologische Bewegung“ prägten. 1913 war die Bewegung selbstbewusst genug, um ein Jahrbuch für phänomenologische Forschung herauszugeben. In seiner ersten Ausgabe erschien ein Text von Husserl in Buchlänge, der als erster Band eines Werkes mit dem Titel Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie geplant war. Das Ziel der Phänomenologie war das Studium der unmittelbaren Daten des Bewusstseins, ohne Bezug auf irgendetwas, das uns das Bewusstsein über eine außerhalb des Geistes existierende, oder angeblich existierende, Welt mitteilt. Denke ich an einen Phönix, so ist – wenn es irgendeinen Phönix in Wirklichkeit gibt, oder wenn es keinen gibt – die Intentionalität meines Gedankens in beiden Fällen dieselbe. Bereits 1901 hatte Husserl geschrieben: „Für das Bewußtsein ist das Gegebene ein wesentlich Gleiches, ob der vorgestellte Gegenstand existiert oder ob er fingiert und vielleicht gar widersinnig ist. Jupiter stelle ich mir nicht anders vor als Bismarck, den Babylonischen Turm nicht anders als den Kölner Dom, ein regelmäßiges Tausendeck nicht anders als einen regelmäßigen Tausendflächner.“ (LI ii. 99) 3 Dasselbe galt Husserl zufolge, wenn ich einen Tisch sehe. Ob es den Tisch wirklich gibt, oder ob ich halluziniere: Die Intentionalität meiner Erfahrung ist in beiden Fällen genau dieselbe. Der Phänomenologe solle die psychologischen Phänomene genauestens studieren und die Welt der außerhalb des Geistes existierenden Gegenstände ausklammern. Seine Einstellung zur Existenz dieser Welt solle die sein, dass er sich des Urteils darüber enthält, wofür Husserl das griechische Wort epoché verwendete. Dies wurde als „phänomenologische Reduktion“ bezeichnet. Es war, so könnte man sagen, eine Philosophie, die ihre Hörner einzieht. Phänomenologie ist nicht dasselbe wie Phänomenalismus. Ein Phänomenalist glaubt, dass außer Phänomenen nichts existiert und dass Aussagen über solche Dinge wie materielle Gegenstände in Aussagen über Erscheinungen übersetzt werden müssen. Berkeley und Mill vertraten Versionen des Phänomenalismus. 4 Husserl vertrat in den Ideen nicht die Auffassung, dass es außer Phänomenen nichts gibt. Die Möglichkeit, dass es eine Welt nichtphänomenaler Objekte gibt, ließ er absichtlich offen. Nur gehen diese Objekte den Philosophen nichts an, oder zumindest zunächst nichts an. Der Grund hierfür ist, dass wir Husserl zufolge unfehlbares unmittelbares Wissen von den Gegenständen unseres eigenen Bewusstseins haben, während unser Wissen über die Außenwelt von Schlussfolgerungen und Vermutungen abhängt. Husserl unterschied zwischen immanenter Wahrnehmung, die selbstevident ist, und transzendenter Wahrnehmung, die fehlbar ist. Die immanente Wahrnehmung entspricht 3 4

Zitiert nach: E. Husserl, Logische Untersuchungen (Halle: Max Niemeyer Verlag, 1901), 353. Vgl. Band II, 209 und oben 20.

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meiner unmittelbaren Vertrautheit mit meinen eigenen gegenwärtigen geistigen Akten und Zuständen. Die transzendente Wahrnehmung ist meine Wahrnehmung meiner eigenen vergangenen Akte und Zustände, physischer Dinge und Ereignisse und des Inhalts des Bewusstseins anderer Menschen. Die immanente Wahrnehmung liefert der Phänomenologie ihren Gegenstand. Die immanente Wahrnehmung ist nicht nur deshalb grundlegender als die transzendente Wahrnehmung, weil sie selbstevident ist, während die transzendente Wahrnehmung Täuschungen unterliegen kann, sondern auch deshalb, weil die Schlussfolgerungen und Vermutungen, auf die sich die transzendente Wahrnehmung stützt und stützen muss, auf den Daten basiert, die die immanente Wahrnehmung liefert. Nur das Bewusstsein hat „absolutes Sein“; alle Existenz aller anderen Formen des Seins hängt vom Bewusstsein ab (Ideen i. 49). Daher ist die Phänomenologie die grundlegendste aller Wissenschaften, da die Objekte, die ihr Gegenstand sind, die Daten für alle anderen Zweige der Philosophie und der Wissenschaften liefern. Husserl hatte die Ideen als dreibändiges Werk geplant, doch die letzten beiden Bände wurden erst nach seinem Tod herausgegeben. Im Jahre 1916 ging er nach Freiburg und blieb bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1928 Professor an der dortigen Universität. Einen Ruf an die Universität in Berlin, den er 1923 erhielt, lehnte er ab. Seine Freiburger Vorlesungen zogen eine große internationale Hörerschaft an, und zu seinen Schülern gehörten einige, die später selbst einflussreiche Philosophen werden sollten, wie beispielsweise Martin Heidegger und Edith Stein. In diesen Jahren entwickelte er das im ersten Band der Ideen dargelegte System in verschiedene Richtungen weiter. Einerseits erweiterte er die phänomenologische Methode, um einige Annahmen zu untergraben, die Descartes nicht hinterfragt hatte, sodass seine epoché radikaler wurde als der kartesianische Zweifel. Andererseits versuchte er, seinen methodischen Solipsismus mit einer Lösung für das Problem der Intersubjektivität zu verbinden, durch die die Existenz des Fremdpsychischen bewiesen werden könnte. Die schließlich von ihm erreichte Position war diejenige eines transzendentalen Idealismus. Dies war eine Schlussfolgerung, die sich nach seiner Meinung von der Phänomenologie nicht trennen lasse (CM 42). Einige Ergebnisse seiner späten Reflexionen erschienen in zwei Werken, die im Jahre nach seiner Emeritierung herausgegeben wurden: in den Cartesianischen Meditationen und dem Buch Formale und Transzendentale Logik.

Der Existenzialismus Heideggers Zwei Jahre früher hatte ein Schüler Husserls ein Buch veröffentlicht, das einen wesentlich größeren Einfluss auf die Philosophie haben sollte als eines dieser beiden. In Sein und Zeit behauptete Martin Heidegger (1889–1976), dass die Phänomenologie bislang zu halbherzig vorgegangen sei. Sie gab vor, die Daten des Bewusstseins zu untersuchen, doch sie verwendete Begriffe wie „Subjekt“, „Objekt“, „Akt“ und „In-

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halt“, die keine Elemente bezeichneten, die sie im Bewusstsein gefunden hatte, sondern wobei es sich um Begriffe handelte, die sie von früheren Philosophien übernommen hatte. Am wichtigsten war, dass Husserl das begriffliche Gerüst Descartes’ übernommen hatte, demzufolge es die beiden korrelativen Bereiche des Bewusstseins und der Realität gab. Nur einer von ihnen, das Bewusstsein, war der von Husserl der Phänomenologie aufgegebene Gegenstandsbereich. Doch Heidegger hielt dem entgegen, dass es die erste Aufgabe der Phänomenologie sei, den Begriff des Seins zu untersuchen, der der Spaltung zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit vorauslag. Die Erfahrung, die uns dazu bringt, diese beiden Bereiche als polare Gegensätze zu betrachten, ist das als Erstes zu untersuchende Phänomen. Wir müssen daher hinter Descartes zurückgehen, wenn wir uns über das Wesen der Philosophie klar werden wollen, und als unseren Ausgangspunkt nicht das Bewusstsein, sondern das Sein wählen. Doch Heidegger warnt uns, dass es nicht genüge, einfach zu den Kategorien von Platon und Aristoteles zurückzukehren, die bereits ein Element künstlichen Raffinements enthielten. Das beste Beispiel, das ein radikaler Phänomenologe imitieren kann, böten die Vorsokratiker, da sie vor der Ausbildung eines philosophischen Fachvokabulars und all den Voraussetzungen, die eine solche Fachsprache mit sich bringt, geschrieben haben. Heidegger stellte sich die Aufgabe, ein ursprüngliches Vokabular zu erfinden, das uns befähigen würde, sozusagen nackt zu philosophieren. Der wichtigste der von Heidegger geprägten Begriffe ist Dasein. Dasein ist die Art von Wesen, das philosophische Fragen stellen kann, und Heideggers Darlegung des Daseins erinnert zunächst sehr an das kartesianische Ego. Doch während Descartes’ Ego wesentlich ein denkendes Ding war, eine res cogitans, ist das Denken nur eine, und nicht die fundamentalste Art, in der das Dasein sein Sein hat. Der ursprüngliche Charakter des Daseins ist das „In-der-Welt-sein“, und Denken ist nur eine Art, in der Welt zu sein: Auf die Welt einzuwirken und darauf zu reagieren sind ebenso wichtige Elemente seines Seins. Dasein liegt dem Unterschied zwischen Denken und Wollen oder Theorie und Praxis voraus. Dasein ist besorgen. Das Dasein ist keine res cogitans, sondern eine res curans, nicht ein denkendes, sondern ein sorgendes Ding. Nur wenn die Welt mich etwas angeht, wenn sie mich interessiert, werde ich auch Fragen an die Welt stellen und diese Fragen durch Wissensbehauptungen beantworten. Begriffe und Urteile können als Instrumente im Umgang mit der Welt angesehen werden. Doch es gibt noch einfachere derartige Instrumente, Dinge, bei denen es sich im wahrsten Sinne um Werkzeuge handelt. Ein Zimmermann bezieht sich auf die Welt, indem er einen Hammer verwendet. Er muss nicht über den Hammer nachdenken, um ihn effektiv gebrauchen zu können. Das Denken an den Hammer kann ihn sogar von der Konzentration auf sein Projekt ablenken, das die eigentliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit darstellt. Gegenstände, mit denen wir auf diese transparente Weise umgehen, werden von Heidegger als „das Zuhandene“ bezeichnet. Dieser Unterschied zwischen dem, was zuhanden ist und was nicht, liegt unserer Konstruktion der Räumlichkeit der Welt zugrunde.

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Martin Heidegger, der Altmeister des kontinentalen Existenzialismus.

Heidegger hebt besonders das zeitliche Wesen des Daseins hervor: Wir sollten es uns nicht als Substanz, sondern als die Entfaltung eines Lebens vorstellen. Unser Leben ist kein in sich abgeschlossenes, sich selbst entfaltendes Seiendes: Von Anfang an finden wir uns in einen natürlichen, kulturellen und historischen Kontext geworfen. Diese „Geworfenheit“ wird von Heidegger als Faktizität des Daseins bezeichnet. Außerdem ist mein Leben nicht durch das erschöpft, was ich jetzt bin und bisher gewesen bin: Ich kann sein, was ich noch nicht gewesen bin, und meine Möglichkeiten sind meinem Sein ebenso wesentlich wie das, was ich bisher getan habe. Heidegger zufolge hat die Zukunft in meiner Selbstdefinition sogar vor der Vergangenheit und der Gegenwart Priorität. Heidegger sagt, Dasein sei ein „Seinkönnen“, und das, worauf ich in meinem Leben abziele, legt die Bedeutung meiner gegenwärtigen Situation und meiner Fähigkeiten fest. Doch was immer meine bisherigen Leistungen und Möglichkeiten sein mögen: Sie alle enden im Tod – doch obwohl er sie beendet, vollendet er sie nicht. Jede Sicht meines Lebens als einer Ganzheit muss den Unterschied zwischen dem berücksichtigen, der ich sein werde, und dem, der ich hätte sein können: Dies ist der Ursprung von Schuld und Angst. Wenn Heidegger Recht hat, ist etwas Absurdes an den Versuchen der Philosophen von Descartes bis Russell, die Existenz einer Außenwelt zu beweisen. Wir sind keine

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Beobachter, die durch das Medium der Erfahrung versuchen, Wissen von einer Realität zu erlangen, von der wir abgeschnitten sind. Wir sind von Anfang an Teile der Welt, „immer schon In-der-Welt-sein“. Wir sind Wesen unter anderen Wesen, auf sie einwirkend und reagierend. Und unsere Handlungen und Reaktionen müssen auf keine Weise von einem Bewusstsein geleitet werden. Tatsächlich ist es so, dass wir uns dessen, was wir tun, erst bewusst werden, wenn unsere spontanen Handlungen auf irgendeine Weise erfolglos bleiben. Wenn dies geschieht, wird das „Zuhandene“ zum nur noch „Vorhandenen“. Die Aktivität des Daseins hat für Heidegger drei fundamentale Aspekte. Da ist erstens das, was Heidegger als „Befindlichkeit“ bezeichnet: Die Situationen, in die wir geworfen werden, manifestieren sich als angenehm, bedrohlich, langweilig etc., und wir reagieren auf sie mit Stimmungen verschiedener Art. Zweitens gehört zum Dasein die Rede, d. h., es operiert in einer Welt der Diskurse, unter Dingen, die für es durch die Sprache und Kultur, die es mit anderen teilt, ausgelegt und gedeutet werden. Drittens ist Dasein „Verstehen“ in einem besonderen Sinn – d. h., seine Aktivitäten sind (nicht notwendigerweise bewusst) auf irgendein Ziel gerichtet, ein „Worum-willen“, das ein Leben in seiner Ganzheit innerhalb eines kulturellen Kontexts sinnvoll sein lässt. Diese drei Aspekte des Daseins entsprechen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft: der Zeit, auf die sich der zweite Teil des Titels von Sein und Zeit bezieht. Obwohl sich Dasein in einem biologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext vollzieht, gibt es nicht so etwas wie das Wesen des Menschen, aus denen die Aktivitäten der menschlichen Individuen hervorgehen. Das Wesen des Daseins, sagt Heidegger, ist seine Existenz. Mit dieser Behauptung wurde er zum Vater des „Existenzialismus“, der philosophischen Richtung, die hervorhebt, dass menschliche Individuen nicht bloß Angehörige einer Art sind und dass sie nicht durch allgemeine Gesetze determiniert sind. Was ich wesentlich bin, ist das, wofür ich mich in meiner Freiheit halte. Die Grundlosigkeit einer solchen Wahl ist beängstigend und ich kann Zuflucht in einer oberflächlichen Konformität suchen. Doch dies ist eine „uneigentliche“ Entscheidung, ein Verrat an meinem Dasein. Um eigentlich zu sein, muss ich mein Dasein in dem Bewusstsein übernehmen, dass es für die von mir getroffenen Entscheidungen keinen Grund gibt, weder in der Natur des Menschen noch in einem göttlichen Befehl, und dass keine von mir getroffene Wahl meinem Leben irgendeinen transzendenten Sinn gibt. Sein und Zeit ist ein schwer zu lesendes Buch, und jeder Kommentator, der seine Ideen unmittelbar verständlich darstellen will, muss in einem Stil schreiben, der sich von demjenigen Heidegger deutlich unterscheidet. Es ist eine umstrittene Frage, ob Heideggers idiosynkratisches Vokabular und sein komplizierter Satzbau unverzichtbare Elemente seines Projekts waren oder ein unnötiges undiszipliniertes Schwelgen in seinem eigenen Jargon. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sein Werk nicht nur originell, sondern auch wichtig war. Gilbert Ryle, einer von Heideggers schärfsten Kritikern, gab am Ende seiner kritischen Besprechung von Sein und Zeit

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zu, dass er für seine „phänomenologische Analyse der Tiefenaspekte (root workings) der menschlichen Seele“ nichts als Bewunderung empfinde. Als Werk der Phänomenologie fand Sein und Zeit wesentlich mehr Beifall als irgendeines der Werke Husserls, des Gründers der Phänomenologie. Die Beziehung zwischen dem Schüler und seinem Lehrer nahm kein glückliches Ende. 1929 trat Heidegger als Professor für Philosophie die Nachfolge Husserls auf dessen Freiburger Lehrstuhl an, und 1933 wurde er Rektor der Universität. Im Mai desselben Jahres begrüßte er den Nationalsozialismus in einer berüchtigten Ansprache als das Medium, durch das das deutsche Volk endlich seine historische, geistige Mission erfüllen könne. Eine seiner ersten Handlungen als Rektor bestand darin, sämtliche jüdischen Fakultätsmitglieder, darunter auch den emeritierten Professor Husserl, der noch fünf Jahre leben sollte, von der Universitätsbibliothek auszuschließen. Nach dem Krieg musste Heidegger für seine Unterstützung Hitlers büßen. Von 1945 bis 1950 belegte ihn die Universität Freiburg mit einem Lehrverbot. Sein Denken blieb jedoch bis zu seinem Tod im Jahre 1976 und darüber hinaus einflussreich.

Der Existenzialismus Sartres Im Gegensatz zu dem rechts stehenden Existenzialismus Heideggers entwickelte JeanPaul Sartre, der einmal für kurze Zeit unter Heidegger studiert hatte, in Frankreich eine Form des Existenzialismus, die sich zunehmend weiter nach links bewegte. Sartre wurde 1905 in Paris geboren und studierte von 1924 bis 1928 an der École Normale Supérieure. Einige Jahre lang verdiente er seinen Lebensunterhalt als Gymnasiallehrer. Seine eigene Philosophie begann er von 1933 bis 1935 in Berlin und Freiburg zu entwickeln. Sie fand ihre erste Darstellung in zwei 1936 veröffentlichten philosophischen Monografien: Die Transzendenz des Ego und Das Imaginäre: Eine psychologische Kritik. Ihnen folgte 1938 ein Roman, Der Ekel, sowie 1939 eine Skizze zu einer Theorie der Gefühle. Sartres Essays aus der Vorkriegszeit sind detaillierte Studien im phänomenologischen Stil über die Philosophie des Geistes. Wie Heidegger kritisierte Sartre an Husserl, dass dieser die phänomenologische Reduktion nicht weit genug getrieben hatte. Husserl akzeptierte das kartesianische Ego, das denkende Subjekt, als ein Faktum des Bewusstseins; in Wahrheit ist es das jedoch keineswegs: Wenn ich versunken bin in das, was ich sehe oder höre, habe ich keinen Gedanken an mich selbst. Erst durch die Reflexion machen wir das Selbst zu einem Gegenstand. Wollen wir strenge Phänomenologen sein, müssen wir daher mit dem präreflexiven Bewusstsein beginnen. Das Selbst, das denkende Subjekt, liegt außerhalb des Bewusstseins und gehört daher, nicht weniger als das Bewusstsein anderer, zur transzendenten Welt. In Das Imaginäre griff Sartre die unter Philosophen weit verbreitete, besonders bei Hume explizite Vorstellung an, dass wir in der Einbildungskraft den Inhalt einer inneren geistigen Welt überschauen. Sartre zeigte, dass es sich bei der Annahme,

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Wahrnehmungen und Empfindungen bestünden in der Gegenwart bildlicher Vorstellungen vor einem inneren Augen und der einzige Unterschied zwischen ihnen bestehe darin, dass diese Bilder bei der Wahrnehmung intensiver und lebhafter sind als in der Einbildung, um einen Irrtum handelt. Sartre behauptete, dass uns die Vorstellungskraft zu außerhalb des Geistes befindlichen Gegenständen in Beziehung setzt, nicht zu inneren Bilder. Sie tut dies auch in der Wahrnehmung, jedoch auf eine andere Weise. Dies zeigt sich am deutlichsten, wenn wir uns eine reale, aber abwesende Person vorstellen. In den Fällen, in denen das, was wir uns vorstellen, in Wahrheit nicht existiert, erschafft unsere Einbildungskraft einen Gegenstand in der Welt. Sartre zufolge verfehlen wir auch das Wesen der Emotionen, wenn wir sie uns als passive, innere Empfindungen vorstellen. Ein Gefühl ist eine bestimmte Art, die Welt zu erfassen: Für jemanden Hass zu empfinden bedeutet beispielsweise, ihn als hassenswert wahrzunehmen. Die Emotionen sind zweifellos kein unparteiisches, vorurteilsloses Gewahrwerden unserer Umwelt. Im Gegenteil: Sartre geht sogar so weit, die Gefühle als „magische Wandlung“ der Situationen zu bezeichnen, in denen wir uns wiederfinden. Leiden wir zum Beispiel an einer Depression, belegen wir die Welt sozusagen mit einem düsteren Zauber, sodass uns alle Versuche, in ihr zurechtzukommen, sinnlos erscheinen. Bei Ausbruch des Krieges wurde Sartre in die Armee eingezogen, und 1940 nahm er am Kriegsgeschehen teil, bis er in deutsche Gefangenschaft geriet. Nach dem Waffenstillstand kehrte er als Philosophielehrer nach Paris zurück, beteiligte sich jedoch auch am Widerstand gegen die Besetzung durch die Nazis. Im Jahre 1943 veröffentlichte er sein Opus magnum, Das Sein und das Nichts. Während seine Essays aus der Zeit vor dem Krieg von Husserl inspiriert waren, ist dieses Werk sehr stark Heidegger verpflichtet, was auch im Titel des Buches zum Ausdruck kommt. Teile von Das Sein und das Nichts können es an Schwierigkeit mit jedem Abschnitt von Sein und Zeit aufnehmen. Sartre hatte jedoch eine Begabung, die Heidegger fehlte: Wie man es von einem Autor von Romanen und Theaterstücken erwarten kann, konnte er philosophische Auffassungen anhand detaillierter und überzeugender Erzählungen veranschaulichen. Nach dem Krieg stellte Sartre die Hauptthemen seines Werkes in kürzerer und populärerer Form in seiner Schrift Ist der Existenzialismus ein Humanismus? (1946) dar. Das Sein (l’être) ist für Sartre dasjenige, was allen verschiedenen Arten und Aspekten der Dinge, die uns in unserem Bewusstsein begegnen, voraus- und zugrunde liegt. Wir ordnen die Dinge unseren Interessen entsprechend und als Werkzeuge unserer Ziele in Arten und Klassen ein. Wenn wir von allen Unterscheidungen abstrahieren, die das Bewusstsein eingeführt hat, so bleibt das reine Sein zurück, das Ansichsein, „l’en-soi“. Dieses ist undurchsichtig, massiv, einfach und vor allem kontingent. Es ist „ohne Grund, ohne Ursache, ohne Notwendigkeit“ (BN 619). Zu sagen, dass es ohne Ursache ist, bedeutet nicht zu sagen, dass es seine eigene Ursache, causa sui, ist. Es ist einfach da: Sartre nennt es „unnötig“ und manchmal „überflüssig“.

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Das Ansichsein ist einer der Schlüsselbegriffe von Das Sein und das Nichts. Der andere ist „le pour-soi“, das Fürsichsein, d. h. das menschliche Bewusstsein. In welcher Beziehung steht dies zum Nichts im Titel des Werkes? Sartres Antwort lautet, dass der Mensch das Wesen ist, durch das das Nichts in die Welt kommt. Die Negation ist das Element, das den Unterschied zwischen „le pour-soi“ und „l’en-soi“ ausmacht. Sartre erweitert an dieser Stelle ein Thema Heideggers. Während englischsprachige Philosophen Heideggers Diktum „Das Nichts nichtet“ für den Inbegriff der Absurdität hielten, akzeptierte Sartre die Objektivation des Nichts und versucht ihm eine wichtige Bedeutung zu verleihen. Wenn das Bewusstsein die Welt strukturiert, so geschieht dies mithilfe der Negation. Verfüge ich über den Begriff „rot“, so unterteile ich die Welt in das Rote und das Nicht-Rote. Unterscheide ich zwischen Stühlen und Tischen, muss ich Stühle als Nicht-Tische ansehen und Tische als Nicht-Stühle. Wenn ich einen Unterschied zwischen Bewusstsein und Sein machen will, muss ich sagen, dass Bewusstsein Nicht-Sein ist: „Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, muss sein eigenes Nichts sein“ (BN 23). Für den Historiker sieht es so aus, als führe Sartre in die Philosophie erneut das Rätsel ein, das von Parmenides erdacht und bereits vor langer Zeit von Platon gelöst worden war. 5 A. J. Ayer verglich Sartres Behandlung von „le néant“ 1945 mit der Antwort, die der König Alice in Alice im Wunderland gibt, als Alice sagt, dass sie niemanden auf der Straße sieht: „Ich wünschte, ich hätte deine Augen … Niemanden sehen zu können! Und das aus dieser Entfernung!“ Glücklicherweise enthält Das Sein und das Nichts, trotz seines Titels, viele bedeutsame Einsichten, die von Sartres Erklärung der „Nichtung“ (nihilification) unabhängig sind. Der interessanteste Gedanke ist wiederum Heidegger entnommen. Während bei den meisten Gegenständen das Wesen (essence) der Existenz vorausgeht, gibt es „mindestens ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann“, und dass „dieses Wesen der Mensch“ sei (EH 66). Die Freiheit des Menschen liegt seinem Wesen voraus und macht es möglich. Während das Leben einer Eiche von einem bestimmten Muster vorgegeben wird, weil sie diese Art eines Seienden ist, gehört der Mensch nicht auf diese Weise zu einer Art: Jede Person muss entscheiden, welche Art von Wesen sie sein will. Die menschliche Freiheit bringt einen Riss in die Welt der Objekte. Nach Sartre ist das Leben eines menschlichen Individuums nicht im Voraus festgelegt: weder durch einen Schöpfer, noch durch nötigende Ursachen oder ein absolutes moralisches Gesetz. Die einzige Notwendigkeit, der ich nicht entkommen kann, ist die Notwendigkeit zu wählen. Die menschliche Freiheit ist zwar absolut, jedoch auch beängstigend. Wir versuchen, sie vor uns zu verbergen, indem wir irgendeine vorbestimmte Rolle übernehmen, die uns die Moral, die Gesellschaft oder die Religion anbietet. Unsere Anstrengungen sind jedoch zum Scheitern verurteilt und wir 5

Vgl. Band I, 213 und 227.

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finden uns schließlich in einer unaufrichtigen Lage wieder: Wir sind uns insgeheim unserer Freiheit bewusst, verfolgen aber dennoch das Ziel, uns auf bloße Objekte zu reduzieren. Dies ist die Situation, die Sartre mit dem Ausdruck „mauvais foi“ (Unehrlichkeit) bezeichnet. Die alternative Haltung besteht darin, die eigene Freiheit zu akzeptieren und die Verantwortung für seine Handlungen und sein Leben zu übernehmen, ohne Unterstützung durch eine vorgegebene moralische Ordnung und uneingeschränkt durch irgendwelche kontingenten Umstände. Sicherlich gibt es physische Grenzen für die mir möglichen Handlungen, doch indem ich meine eigenen Wünsche und Projekte an die Situation anpasse, in der ich mich befinde, bin ich es, der ihr eine Bedeutung verleiht. Ich muss mich selbst radikal wählen. „Allein und in der Angst tauche ich im Angesicht des einzigen und ersten Entwurfs auf, der mein Sein konstituiert, alle Barrieren, alle Geländer zerbrechen, vernichtet vom Bewußtsein meiner Freiheit. Bei keinem Wert finde ich Zuflucht vor der Tatsache, daß ich es bin, der die Werte am Sein erhält, weil eine solche Zuflucht nicht gefunden werden kann“ (EH 66). In den Jahren nach dem Krieg wurde Sartre, zusammen mit Simone de Beauvoir, zum Zentrum des kulturellen und intellektuellen Lebens auf dem linken Seine-Ufer von Paris. Er gründete die avantgardistische Monatszeitung Les Temps Modernes und war ihr Herausgeber. Außerdem schrieb er eine Reihe erfolgreicher Romane und Theaterstücke, deren bekanntestes möglicherweise Huis clos (Geschlossene Gesellschaft) ist. Es enthält den häufig zitierten Satz: „Die Hölle sind die anderen.“ In Das Sein und das Nichts hatte Sartre, zusätzlich zum „en-soi“ und „pour-soi“, den Begriff des Seins-für-andere eingeführt. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um die Art, auf die ich anderen erscheine und von ihnen wahrgenommen und auf diese Weise zu nichts als einem Objekt für sie werde, vielleicht zum Gegenstand ihres Neides oder ihrer Verachtung. Die ursprüngliche Bedeutung des Seins-für-andere, schrieb er, sei der Konflikt. In seinem Spätwerk entwickelte Sartre diesen Gedanken weiter und gab ihm größere Wichtigkeit. In gesellschaftlichen und politischen Fragen bezog Sartre Positionen, die denen der Kommunistischen Partei nahe kamen, obwohl sich der marxistische Determinismus mit seiner Lehre von der absoluten Freiheit des Menschen, die der Kernbegriff des Existenzialismus war, nur schwer in Einklang bringen ließ. Seine Kritik der dialektischen Vernunft von 1960 stellt einen Versuch dar, diese Spannung aufzulösen. 1964 lehnte er den Nobelpreis für Literatur ab und 1968 unterstützte er die Studentenrevolution, die die Regierung von de Gaulle gefährdete. Er starb 1980.

Jacques Derrida In den 1960er Jahren sah es für kurze Zeit so aus, als könne es zu einer Annäherung zwischen der kontinentalen und englischsprachigen Philosophie kommen. Im Jahre 1962 veröffentlichte ein 32-jähriger Philosoph namens Jacques Derrida, der aus einer

Jacques Derrida

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jüdischen Familie aus Algerien stammte, eine Doktorarbeit über Husserl und die Geometrie. Im selben Jahr wurde eine Reihe von Vorlesungen des Oxforder Philosophen J. L. Austin (1911–1960) unter dem Titel How to Do Things with Words 6 postum herausgegeben. 1967 veröffentlichte Derrida drei höchst originelle Werke (Die Schrift und die Differenz, Die Stimme und das Phänomen und Grammatologie), die deutliche Anzeichen eines Einflusses von Austin zeigten. Die beiden Philosophen behandelten dasselbe Thema allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Austins Ausgangspunkt war – bereits 1946 – ein Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten des Sprechens: konstativen und performativen. Ein konstativer Satz wird verwendet, um auszudrücken, wie Dinge sich tatsächlich verhalten: „Es regnet“, „Der Zug nähert sich“. Performative Äußerungen waren hingegen keine Aussagen, deren Wahrheit man beurteilen und die man als wahr oder falsch bezeichnen konnte. Es waren Sprechakte, die die Welt veränderten, statt sie zu beschreiben. Beispiele hierfür sind: „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen Queen Elizabeth“, „Ich verspreche dir, dich um zehn Uhr zu treffen“, „Ich vererbe meine Uhr meinem Bruder“. Austin klassifiziert noch zahlreiche andere Arten performativer Äußerungen, wie zum Beispiel Wetten, Ernennungen, Vetos, Entschuldigungen und Flüche. Weiterhin machte er verborgene performative Elemente in scheinbar unkomplizierten Aussagen ausfindig. In ihrer vollständig ausgeführten, reifen Form unterschied Austins Theorie drei verschiedene Elemente von Sprechakten: lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Elemente. Angenommen, jemand sagt zu mir: „Schieße auf sie!“ Der lokutionäre Akt wird durch die Angabe der Bedeutung von „schießen“ und der Referenz von „sie“ definiert. Der illokutionäre Akt besteht im Befehlen, Drängen etc. Der perlokutionäre Akt (der nur stattfindet, wenn der illokutionäre sein Ziel erreicht) würde zum Beispiel durch den Satz „Er brachte mich dazu, auf sie zu schießen“ beschrieben. Austin führte zahlreiche neue technische Begriffe ein, um Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Sprechakten und ihren Elementen benennen zu können. Jeder Ausdruck wird bei seiner Einführung klar beschrieben und durch Beispiele erläutert. Das Gesamtergebnis besteht darin, dass in ein riesiges und bedeutsames Feld der Sprachphilosophie bis ins Detail Klarheit gebracht wird. Derrida geht deutlich anders vor. Auch er führt eine große Zahl technischer Begriffe ein, wie zum Beispiel „Grammaton“ 7, „Reserve“, „Einschnitt“, „Spur“, „Abstand“, „Leerstelle“, „Ergänzung“, „Pharmakon“ und viele andere mehr. Doch er ist wesentlich weniger bereit, Definitionen dafür anzubieten, und scheint häufig die Forderung nach einer Definition als irgendwie unangemessen zurückzuweisen. Die Relevanz seiner veranschaulichenden Beispiele ist nur selten deutlich, sodass selbst banale Eigenschaften der Sprache einen geheimnisvollen Anschein erwecken. 6 7

Anm. d. Übers.: Auf Deutsch zugänglich als Zur Theorie der Sprechakte, übersetzt von E. von Savigny (Stuttgart: Reclam, 1986). Anm. d. Übers.: Oberbegriff zu Piktogramm, Logogramm, Leipogramm etc.

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Bei seiner Behandlung der Sprechakte war Austin nicht sonderlich an dem Unterschied zwischen dem gesprochenen Wort (zum Bespiel einem mündlichen Versprechen) und dem geschriebenen Wort (zum Beispiel einem Testament) interessiert. Die philosophischen Argumente, die er vorbringt, gelten im Allgemeinen für beide Sprachformen. Derrida hingegen misst dem Unterschied große Bedeutung bei und greift den sogenannten „Phonozentrismus“ an, die angebliche Überbetonung des gesprochenen Wortes in der abendländischen Kultur. Angesichts des hohen Werts, der in juristischen und geschäftlichen Angelegenheiten darauf gelegt wird, Dinge schriftlich niederzulegen, und der enormen Anstrengungen der modernen Gesellschaften, sicherzustellen, dass ihre Mitglieder lesen und schreiben können, muss Derrida seinen Vorwurf des Phonozentrismus auf eine Reihe exzentrischer Texte stützen, an deren Beginn eine ironische Passage aus Platons Dialog Phaidros steht. Unter den performativen Sprechakten ist das Versprechen ein paradigmatischer Fall, für den sich sowohl Austin als auch Derrida interessierten. Austin listet auf lehrreiche Weise die verschiedenen Arten unglücklicher Umstände auf – von mangelnder Aufrichtigkeit bis zur Unfähigkeit –, die sich negativ auf ein Versprechen auswirken können. Derrida war hauptsächlich davon beeindruckt, dass man sterben kann, bevor man ein Versprechen einlöst. Er bringt diesen Umstand dadurch zum Ausdruck, dass er feststellt, dass jeder performative Akt durch den Tod verfolgt wird. Allerdings sagt uns die Möglichkeit des Todes – bei allem Respekt vor Derrida –, da wir alle zu jeder Zeit sterblich sind, nichts über performative Akte im Besonderen. Wer mit dem Rad zur Arbeit fährt, kann ebenso wie jemand, der ein Versprechen abgibt, vom Tod unterbrochen werden. Allerdings kann bei einem Versprechen der Tod ausdrücklich erwähnt werden, wie es zum Beispiel Braut und Bräutigam tun, wenn sie sich Treue geloben, „bis der Tod uns scheidet“. Doch in diesem Fall wird kein Versprechen gebrochen oder bleibt unerfüllt, wenn einer der beiden Ehepartner stirbt. Derridas Feindschaft gegen den Phonozentrismus war Teil eines Angriffs auf das, was er als „die Metaphysik der Präsenz“ bezeichnete, die Vorstellung, dass die Grundlage für Ansprüche auf Bedeutung und Wahrheit etwas Vertrautes, im Bewusstsein Gegebenes ist. Das Hauptziel seines Angriffs war Husserl, doch der empiristische Begriff der Sinnesdaten kann ähnlicher Kritik ausgesetzt werden. Dem gesprochenen Wort wurde ein Vorrang vor dem geschriebenen Wort eingeräumt, weil das Sprechen dem Denken, das als letzter, transzendenter Gegenstand der Signifikation idealisiert wurde, näher steht als das Schreiben. Derrida „dekonstruiert“ den Gegensatz zwischen Rede und Schrift und gibt dem geschriebenen Text den Vorrang – demjenigen, was der Kontrolle des Autors am meisten entzogen ist und verschiedenen, einander ablösenden Deutungen offensteht. Von einigen wurde Derridas Angriff auf die Metaphysik der Präsenz als ein Projekt angesehen, das Parallelen mit Wittgensteins vernichtender Kritik an der Vorstellung einer privaten Sprache aufweist – wenn auch in sehr verschiedener Ausführung. In seinen frühen Werken zeigte Derrida Anzeichen großen philosophischen Scharfsinns, doch nach 1967 entfernte sich sein Denken immer weiter von Austin

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und Wittgenstein. In dem Maße, in dem seine Laufbahn sich weiterentwickelte, entfernte sich sein Arbeitsstil immer stärker nicht nur von der zeitgenössischen analytischen Philosophie, sondern von der Philosophie, wie sie von bedeutenden Denkern von Aristoteles bis Husserl verstanden worden war. Es wurde immer als Aufgabe der Philosophen angesehen, Begriffe zu unterscheiden, die miteinander verwechselt werden können, und – wenn nötig – neue Begriffe zu erfinden oder vorhandene anzupassen, um diese Unterscheidungen vornehmen zu können. Im Gegensatz dazu führte Derrida neue Begriffe ein, deren Wirkung darin bestand, vollkommen unterschiedliche Vorstellungen durcheinanderzubringen. Betrachten wir den Begriff „différance“, auf den Derrida besonders stolz war. 8 Dieser Begriff soll die Bedeutungen des Aufschiebens von etwas und des Unterschieds in sich vereinigen. „Différance“, sagt uns Derrida, „muss man sich als etwas vor der Trennung zwischen différer als Aufschieben und différé als das Anderssein vorstellen, das sich aus dem Unterscheiden ergibt“ (SP 88). Es ist nicht klar, wie diese beiden gegensätzlichen Bedeutungen auf diese Weise kombiniert werden können, und die Erläuterungen und Paraphrasen, die uns Derrida zur Verdeutlichung anbietet, sind nicht unbedingt hilfreich: „Die différance bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte ‚gegenwärtige‘ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des vergangenen Elements an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem künftigen Element aushöhlen läßt, wobei die Spur sich weniger auf die sogenannte Zukunft bezieht, als auf die sogenannte Vergangenheit, die durch eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist, die sogenannte Gegenwart konstituiert: es selbst ist absolut keine Vergangenheit oder Zukunft als modifizierte Gegenwart.“ (Diff. 13) 9

Man sieht, worauf er hinauswill. Wenn ich beim Frühstück zum Kellner „Schinken und Eier“ sage, so hängt die Bedeutung des von mir Gesagten von der Tatsache ab, dass in dem Moment, in dem ich das Wort „und“ ausspreche, das Wort „Schinken“ in der Vergangenheit liegt, aber darauf bezogen bleibt. Außerdem steht das Wort „und“ zum Wort „Eier“ in Beziehung, das noch nicht ausgesprochen wurde, jedoch im nächsten Moment dazu in Beziehung gesetzt wird. Wohl wahr. Und wenn es das ist, was Différance bedeutet, dann ist das, was Derrida darüber sagt, völlig zutreffend: „Es 8

9

Anm. d. Übers.: A. Kenny übersetzt „différance“ als „deference“ und fügt folgende Fußnote hinzu: „Das Wort ‚différance‘ wird häufig als ‚Differenz‘ übersetzt, doch meine Übersetzung kommt der Konstruktion des französischen Wortes näher. Ich muss meine Leser allerdings bitten, das Wort genauso auszusprechen wie das Wort ‚difference‘ (Unterschied) – aus Reverenz gegenüber Derrida, welcher der Tatsache, dass die beiden entsprechenden Wörter im Französischen gleich klingen, große Bedeutung beimaß.“ Zitiert nach: J. Derrida, „Die différance“, in: J. Derrida, Rundgänge der Philosophie, herausgegeben von P. Engelmann (Wien: Passagen Verlag, 1988), 39.

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ist nicht der Name eines Objekts, nicht der Name eines ‚Wesens‘, das präsent sein könnte. Und aus diesem Grunde ist es auch kein Begriff.“ Das kann jedoch nicht alles sein, was Différance bedeutet, denn wir wissen, dass einige von Derridas Lesern es als einen Namen Gottes verstanden haben – und dies, obwohl uns Derrida versichert, dass sie „jede Beziehung zur Theologie vereitelt“ (P 40). Die verschiedenen Paraphrasen, die wir in seinen Texten für Différance finden, sind vielleicht selbst ein Fall von Différance. Es sind von einer Definition deutlich verschiedene Schuldscheine, die die Verleihung eines definitiven Sinns in eine unbestimmte Zukunft aufschieben. Derrida erfand eine Methode, mit anderen Autoren umzugehen, eine Technik, der man scherzhaft den Namen Blumenstrauß-Methode geben könnte. Um einen Blumenstrauß zusammenzustellen, sammelt man eine Reihe von Texten, die dasselbe Wort (oder häufig lediglich dasselbe Phonem) enthalten. Man schneidet sie dann aus ihrem Kontext und ignoriert ihr Entstehungsdatum, verwirft Sprecher und Meinung und modifiziert den herkömmlichen Sinn durch Kursivierung, Weglassen oder Abschneiden einzelner Teile. Man bindet sie dann zusammen und präsentiert sie, mit einer verblüffenden oder provokativen These umwickelt, als Blumenstrauß. Die Blumenstrauß-Methode erfreute sich in einigen philologischen Seminaren großer Beliebtheit, da sie wesentlich weniger Mühe bereitet als herkömmliche Methoden der Literaturkritik. Der späte Derrida machte, um die Aufmerksamkeit seiner Leser zu behalten, geschickten Gebrauch von der Rhetorik. Einen seiner besonders erfolgreichen Kunstgriffe könnte man als „das unwiderlegbare Paradoxon“ bezeichnen. Ein sehr häufig zitierter, vom Autor selbst unterstrichener Satz der Grammatologie lautet: „Es gibt nichts außerhalb des Textes.“ Welch fesselnde, ja sogar schockierende Äußerung! Die Pestepidemie im Europa des 14. Jahrhunderts oder der Holocaust waren jedoch wohl kaum Textereignisse in dem Sinne, in dem eine Neuausgabe von Johnsons Das Leben der Dichter ein Textereignis ist. Derrida war später so freundlich zu erklären, dass er unter einem Text keinen Schriftenkorpus versteht, sondern etwas, das die Grenzen der Welt, der Wirklichkeit und der Geschichte hinter sich lässt. 10 Nun ja, wenn uns lediglich gesagt wird, dass es nichts außerhalb des Universums gibt, wäre es unvorsichtig, dem zu widersprechen. Und eine Aufforderung, Dinge in ihrem Kontext zu betrachten, ist gewiss ein guter Ratschlag. Als geschickter Rhetoriker hält Derrida seine Leser wach, indem er die Sexualität und den Tod in seine Darstellung bringt. Wir sind dem Tod bereits als etwas begegnet, das die performativen Akte bedroht. Auf die Sexualität treffen wir in ähnlich irrelevanten Kontexten. Wir erfahren, dass ein inneres Selbstgespräch in derselben Beziehung zur Aussprache von Wörtern steht wie die Selbstbefriedigung zum Beischlaf. Dies ist zweifellos der Fall. Ein ebenso passender Vergleich wäre derjenige zwischen dem Legen einer Patience und dem Skatspiel gewesen. Freilich hätte das den Leser 10 Vgl. „Living On“, in: H. Bloomfield (ed.), Deconstruction and Criticism (New York: Seabury Press, 1979).

Jacques Derrida

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Eine Fotografie von Jacques Derrida, nachdem er in vielen Kreisen Kultstatus erlangt hatte.

nicht auf die gleiche Weise gekitzelt. Ferner heißt es am Ende der Offenbarung des Johannes: „Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es höret, der spreche: Komm!“ (22: 17) Derrida hat sich lang und breit über diesen Text ausgelassen, wobei er ausgiebig mit der Doppelbedeutung spielt, die das Verb „kommen“ im Französischen wie im Deutschen und Englischen hat. Wenn man kleinlich genug wäre, darauf hinzuweisen, dass das als „kommen“ übersetzte griechische Wort unmöglich die Bedeutung von „einen Orgasmus erzielen“ haben kann, würde man zweifellos gesagt bekommen, dass man die Stoßrichtung der gesamten Übung vollkommen missverstanden habe. Es mag unziemlich erscheinen, Derrida in der soeben veranschaulichten Weise zu kritisieren. Der Grund hierfür ist allerdings, dass eine derartige Parodie sachlicher Kritik exakt derjenigen Vorgehensweise entspricht, die Derrida in seinen späteren Werken befolgte: Seine philosophischen Waffen sind das Wortspiel, die unzüchtige Bemerkung, Hohn und Gelächter. Normalerweise versucht der Historiker, einige der Hauptlehren eines Philosophen auszumachen, sie so klar wie möglich darzustellen und vielleicht eine Bewertung hinzuzufügen. Im Spätwerk Derridas gibt es keine Lehren, die man vorstellen könnte. Es ist nicht nur so, dass es einem ihm wenig gesinnten Leser misslingen könnte, sie zu erkennen oder zu verstehen: Derrida selbst verwirft die Vorstellung, sein Werk könne in Thesenform zusammengefasst werden. Manchmal bestreitet er sogar den Ehrgeiz, überhaupt als Philosoph gelten zu wollen. Ist es dann aber nicht unfair, Derrida – zum Lob oder Tadel – in eine Philo-

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3 Von Freud bis Derrida

sophiegeschichte wie diese aufzunehmen? Ich denke nicht. Was immer er selbst sagen mag: Er wurde von vielen als Philosoph ernst genommen, und er sollte auch als solcher beurteilt werden. Es ist jedoch nicht überraschend, dass sein Ruf in philosophischen Seminaren nicht denselben Grad erreichte, den er in literaturwissenschaftlichen Seminaren genoss, deren Vertreter weniger geübt darin sind, echte von falscher Philosophie zu unterscheiden.

4

Logik

Mills empiristische Logik John Stuart Mills System der Logik zerfällt in zwei Hauptteile. Die ersten beiden Bücher stellen ein System der formalen Logik dar, während der Rest des Werkes die Methodologie der Natur- und Sozialwissenschaften behandelt. Er beginnt den ersten Teil mit einer Analyse der Sprache, insbesondere der Theorie der Namen. Mill war der erste britische Empirist, der die formale Logik ernst nahm, und von Anfang an war er darum bemüht, sich von dem Nominalismus abzusetzen, der seit Hobbes mit dem Empirismus in Verbindung gebracht wurde. Unter „Nominalismus“ versteht er die Zwei-Namen-Theorie der Aussage: die Theorie, dass eine Aussage genau dann wahr ist, wenn ihr Subjekt und ihr Prädikat Namen derselben Sache sind. Mill zufolge passt Hobbes’ Erklärung nur zu solchen Aussagen, bei denen Prädikat und Subjekt Eigennamen sind, wie etwa in „Tullius ist Cicero“. Sie sei jedoch für alle anderen Aussagen bedauerlicherweise unbrauchbar. Mill verwendet das Wort „Name“ in einem sehr weiten Sinn. Für ihn gehören zu den Namen nicht nur Eigennamen wie „Sokrates“ und Pronomen wie „dieser“, sondern auch definitive Beschreibungen wie etwa „der König, der auf Wilhelm den Eroberer folgte“. Außerdem gehören Allgemeinbegriffe dazu wie „Mensch“ und „weise“ sowie abstrakte Nomen wie „Weisheit“. Alle Namen, unabhängig davon, ob sie besondere oder allgemeine Namen sind, bezeichnen Dinge: Eigennamen bezeichnen die Dinge, die sie benennen, und Allgemeinbegriffe diejenigen Dinge, von denen sie wahr sind: Nicht nur „Sokrates“, sondern auch „Mensch“ und „weise“ bezeichnen Sokrates. Allgemeinbegriffe verfügen, zusätzlich zu dieser Bezeichnungsfunktion, über eine Konnotation. Es gibt Dinge, die sie bezeichnen, und solche, die sie mitbezeichnen. Was sie mitbezeichnen, sind die Attribute, die sie bezeichnen, d. h., was in einem Wörterbuch als Definition der Sache angegeben wäre. In der Logik geht die Konnotation der Bezeichnung (denotation) voraus: „Als die Menschen die Bedeutung des Wortes ‚weise‘ festlegten, dachten sie nicht an Sokrates“ (SL 1.2.5.2). Da das Wort „Name“ für eine solche Vielzahl von Ausdrücken steht, kann Mill die nominalistische Ansicht, dass jede Aussage eine Verbindung von Namen ist, gelten lassen. Doch dies legt ihn nicht auf Hobbes’ Ansicht fest, da er sich im Gegensatz zu Hobbes bei der Darlegung der Wahrheitsbedingungen von Aussagen auf die Konnotation berufen kann. Ein Satz, der zwei konnotative Ausdrücke miteinander verbindet, wie zum Beispiel „Alle Menschen sind sterblich“, sagt uns, dass bestimmte Attribute (diejenigen der Tierheit und Vernünftigkeit) stets vom Attribut der Sterblichkeit begleitet werden.

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4 Logik

Im zweiten Buch erörtert Mill die logischen Schlüsse, von denen er zwei Arten unterschied: reale und verbale Schlüsse. Verbale Schlüsse liefern uns kein neues Wissen über die Welt. Die Kenntnis der Sprache reicht aus, um die Schlussfolgerung aus der Prämisse abzuleiten. Als Beispiel einer verbalen Schlussfolgerung führt Mill den Schluss von „Kein bedeutender General ist ein unüberlegter Mann“ auf „Kein unüberlegter Mann ist ein bedeutender General“ an: Sowohl die Prämisse als auch die Schlussfolgerung, stellt er fest, sagen dasselbe. Ein echter Schluss liegt vor, wenn wir durch logisches Folgern eine Wahrheit erschließen, die in den Prämissen nicht enthalten ist. Mill fand es sehr schwer zu erklären, wie neue Wahrheiten durch logisches Denken gefunden werden konnten. Er akzeptierte, dass alles Schließen syllogistisch war, und er behauptete, dass in jedem Syllogismus die Schlussfolgerung in den Prämissen enthalten und impliziert ist. Nehmen wir das Argument, das von den Prämissen „Alle Menschen sind sterblich, und Sokrates ist ein Mensch“ auf die Aussage „Sokrates ist sterblich“ schließt. Wenn diese syllogistische Ableitung gültig sein soll, dann muss der Satz „Sokrates ist sterblich“ doch gewiss in der allgemeineren Annahme „Alle Menschen sind sterblich“ vorausgesetzt sein. Wenn wir andererseits „Sokrates“ durch den Namen einer noch lebenden Person ersetzen (Mills Beispiel war „der Herzog von Wellington“), dann gibt uns die Schlussfolgerung zwar eine neue Information, doch sie ist durch das in der ersten Prämisse zusammengefasste Zeugnis der Erfahrung nicht gerechtfertigt. Daher ist der Syllogismus keine echte Schlussfolgerung: „Alle Schlüsse gehen vom Besonderen auf das Allgemeine. Allgemeine Aussagen sind lediglich Verzeichnisse solcher bereits früher vorgenommenen Schlüsse und Kurzformeln, um weitere vorzunehmen. Der Obersatz eines Syllogismus ist demzufolge eine Formel für diese Beschreibung, und die Folgerung ist kein Schluss aus dieser Formel, sondern ein Schluss, der gemäß dieser Formel gezogen wurde, wobei der reale logische Vordersatz oder die Prämisse den besonderen Tatsachen entspricht, aus denen der allgemeine Satz durch Induktion zusammengetragen wurde.“ (SL 3. 3. 4)

„Induktion“ war schon seit Langem der Name, mit dem die Logiker das Verfahren bezeichneten, durch das allgemeine Wahrheiten aus bestimmten Einzelfällen abgeleitet wurden. Doch es gibt mehr als nur eine Art der Induktion. Angenommen ich sage: „Petrus ist ein Jude, Jakob ist ein Jude, Johannes ist ein Jude …“ und zähle dann die Namen aller Apostel auf. Anschließend bin ich berechtigt zu sagen: „Alle Apostel sind Juden“, doch indem ich dies tue, erklärt Mill, gelange ich nicht wirklich vom Besonderen zum Allgemeinen: Die Schlussfolgerung ist lediglich eine abgekürzte Schreibweise für die in der Prämisse aufgeführten besonderen Tatsachen. Die Dinge liegen anders, wenn wir auf der Grundlage einer nur unvollständigen Übersicht eine allgemeine Behauptung über die Gegenstände aufstellen, für die sie gilt – zum Beispiel wenn wir aus der Tatsache, dass die Menschen in der Vergangenheit gestorben sind, schließen, dass alle Menschen zu allen Zeiten sterben werden.

Mills empiristische Logik

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Mills Kritik an deduktiven Schlüssen beruht auf einer Verwechselung zwischen Logik und Erkenntnistheorie. Eine Schlussfolgerung kann, wie er sagt, deduktiv gültig sein, ohne neue Informationen zu liefern: Gültigkeit ist eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung dafür, dass ein Argument neue Informationen liefert. Syllogismen sind jedoch nicht die einzige Form des logischen Schließens, und es gibt viele gültige Formen nicht-syllogistischer Argumente (zum Beispiel Argumente der Form: „A = B“, „B = C“, daher „A = C“), die sehr wohl Informationen liefern. Selbst für den Syllogismus lässt sich eine Erklärung geben, durch die er zu einer realen Schlussfolgerung wird, wenn wir die Aussage „Alle Menschen sind sterblich“ nicht so verstehen, dass damit gesagt wird, „sterblich“ sei ein Name jedes Elements der Klasse der Menschen, sondern – in Übereinstimmung mit Mills eigener Erläuterung der Namen – dass es eine Verbindung zwischen den Attributen gibt, die zu den Konnotationen von „Mensch“ und „sterblich“ gehören. Mill würde zweifellos mit der Frage antworten, wie wir jemals etwas über eine solche Verbindung wissen könnten, wenn nicht durch Induktion, und der interessanteste Teil seiner Logik besteht in dem Versuch, die Regeln für die induktive Forschung aufzustellen. Er legte fünf solcher Regeln oder Richtlinien für experimentelle Untersuchungen dar, um Forscher bei der Aufdeckung von Ursachen und Wirkungen durch induktive Schlüsse anzuleiten. Zur Veranschaulichung wollen wir uns die ersten beiden dieser Regeln ansehen. Die erste wird als Methode der Übereinstimmung bezeichnet. Sie besagt das Folgende: Wenn ein Phänomen F in Verbindung mit den Umständen A, B und C auftritt und ebenfalls in Verbindung mit den Umständen C, D und E, dann dürfen wir schließen, dass C, das einzige gemeinsame Merkmal, zu F in einer Kausalbeziehung steht. Die zweite, die Methode des Unterschieds, besagt: Wenn F in Gegenwart von A, B und C auftritt, jedoch nicht in Gegenwart von A, B und D, dann dürfen wir schließen, dass C, das einzige Merkmal, in dem sich die beiden Fälle unterscheiden, zu F in einer Kausalbeziehung steht. Mill behauptet, dass wir diese Richtlinien, obwohl nicht unbedingt immer bewusst, ständig im alltäglichen Leben und vor Gericht anwenden. Um die zweite Richtlinie zu veranschaulichen, gibt er folgendes Beispiel: „Wird jemandem eine Kugel durch das Herz geschossen, so wissen wir durch Anwendung dieser Regel, dass es die Kugel war, die ihn tötete, denn der Erschossene erfreute sich unmittelbar vorher der Fülle des Lebens, und alle Umstände blieben gleich, mit Ausnahme der Wunde.“ Mills Methoden der Übereinstimmung und des Unterschieds stellen eine Verbesserung von Bacons Tabellen der Gegenwart und Abwesenheit dar. 1 Wie die Methoden Bacons scheinen auch die Methoden von Mill die Konstanz der allgemeinen Naturgesetze vorauszusetzen. Mill sagt ausdrücklich: „Die Aussage, dass der Lauf der Natur gleichförmig ist, ist das Grundprinzip, oder allgemeine Axiom, der Induktion.“ Doch

1

Vgl. Band III, 42.

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4 Logik

was ist der Ursprung dieses allgemeinen Axioms? Als konsequenter Empirist sieht Mill darin selbst eine Verallgemeinerung aus der Erfahrung: Er sagt, es sei unbedacht, wenn man annehme, dass die Kausalgesetze auf fernen Sternen gelten. Wenn dieses allgemeine Prinzip die Grundlage des induktiven Schließens ist, dann ist allerdings nur schwer nachzuvollziehen, wie es selbst durch Induktion aufgestellt werden kann. Andererseits war Mill bereit, die Behauptung aufzustellen, nicht nur die Grundgesetze der Physik, sondern auch die Gesetze der Arithmetik und Logik, einschließlich des Gesetzes vom verbotenen Widerspruch, seien nicht mehr als gut bestätigte Verallgemeinerungen aus der Erfahrung. 2

Freges Neubegründung der Logik In diesen Fragen bezog Frege die Mill entgegengesetzte Position. Während für Mill jegliches Wissen aus der Erfahrung stammte, waren für Frege Arithmetik und Logik nicht nur apriorische Wissenschaften, sondern ihre Sätze waren auch analytisch. Um dies zu zeigen, musste Frege logische Untersuchungen anstellen und seine Ergebnisse in einem Maße systematisieren, wie dies weder Mill noch irgendeinem seiner Vorgänger gelungen war. Er organisierte die Logik auf völlig neue Weise, ja, er wurde sogar nach Aristoteles zum zweiten Begründer des Faches. Nach einer Definition der Logik ist sie die Wissenschaft, die gültige von falschen Schlüssen unterscheidet. In den Jahrhunderten vor Frege bestand der wichtigste Teil der Logik darin, die Gültigkeit oder Ungültigkeit bestimmter Schlussfiguren zu untersuchen, insbesondere der Syllogismen. Man hatte detaillierte Regeln aufgestellt, um gültige Schlussfiguren, wie zum Beispiel: Alle Deutschen sind Europäer Einige Deutsche sind blond. Daher: Einige Europäer sind blond. von ungültigen zu unterscheiden, wie etwa Alle Kühe sind Tiere. Alle Säugetiere sind Vierbeiner. Daher: Alle Kühe sind Vierbeiner. Obwohl beide Schlussfiguren gültige Schlussfolgerungen haben, ist nur die erste gültig, d. h., nur die erste Schlussfigur hat eine Form, die niemals von wahren Prämissen zu falschen Schlussfolgerungen führt.

2

Vgl. Kapitel 6.

Freges Neubegründung der Logik

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Die Syllogistik deckt tatsächlich nur einen kleinen Teil der Formen gültiger Argumente ab. In Anthony Trollops Der Premierminister ist die Herzogin von Omnium bestrebt, einem ihrer Günstlinge einen Parlamentssitz als Abgeordneter des Wahlbezirks Silverbridge zu verschaffen. Er sagt uns, „sie hatte eine kleine Schlussfigur im Kopf, nach der der Herzog den Wahlbezirk regiert, die Frau des Herzogs den Herzog, und dass daher die Frau des Herzogs den Wahlbezirk regiert“. Das Argument der Herzogin war einwandfrei gültig, doch es war kein Syllogismus und kann in keine syllogistische Form gebracht werden. Der Grund hierfür ist, dass ihre Schlussfolgerung davon abhängt, dass „regieren“ eine transitive Beziehung ist (wenn A B regiert und B C regiert, dann regiert A in der Tat C), während die Syllogistik ein System ist, das dazu bestimmt ist, mit Sätzen der Subjekt-Prädikat-Form zu operieren, und das nicht umfassend genug ist, um mit Relationsaussagen fertig zu werden. Eine weitere Schwäche der Syllogistik bestand darin, dass sie nicht für Schlüsse brauchbar war, in denen Wörter wie „alle“ oder „einige“ nicht an der Subjektstelle vorkamen, sondern irgendwo im grammatischen Prädikat. Anhand ihrer Schlussregeln konnte die Gültigkeit von Schlüssen, die Prämissen enthielten wie zum Beispiel „Alle Politiker lügen manchmal“ oder „Niemand spricht alle Sprachen“, nicht ermittelt werden, wenn die Schlussfolgerung von dem Wort „einige“ im ersten Satz oder von dem Wort „alle“ im zweiten abhingen. Frege entwarf ein System, mit dem sich diese Schwierigkeiten überwinden ließen, das er zum ersten Mal in seiner Begriffsschrift darlegte. Sein erster Schritt bestand darin, die grammatischen Begriffe von Subjekt und Prädikat durch neue logische Begriffe zu ersetzen, die Frege „Argument“ und „Funktion“ nannte. In dem Satz „Wellington besiegte Napoleon“ hätten Grammatiker „Wellington“ als das Subjekt und „besiegte Napoleon“ als das Prädikat bezeichnet (zumindest taten sie dies traditionellerweise). Freges Einführung der Begriffe Argument und Funktion bietet eine flexiblere Methode zur Analyse dieses Satzes. Sie wird folgendermaßen angewendet. Angenommen, wir nehmen den Satz „Wellington besiegte Napoleon“ und ersetzen darin den Namen „Napoleon“ durch den Namen „Nelson“. Offensichtlich ändert dies den Inhalt des Satzes. Ja, es verwandelt ihn von einem wahren in einen falschen Satz. Wir können uns den Satz auf diese Weise als bestehend aus einer konstanten Komponente, „Wellington besiegte […]“, und einem austauschbaren Element, „Napoleon“, vorstellen. Frege nennt die erste, feststehende Komponente eine Funktion und die zweite das Argument der Funktion. Der Satz „Wellington besiegte Napoleon“ ist, wie Frege sagen würde, der Wert der Funktion „Wellington besiegte […]“ für das Argument „Napoleon“ und der Satz „Wellington besiegte Nelson“ der Wert derselben Funktion für das Argument „Nelson“. Wir könnten den Satz auch auf andere Weise analysieren. „Wellington besiegte Napoleon“ ist auch der Wert der Funktion „[…] besiegte Napoleon“ für das Argument „Wellington“. Wir können weiter gehen und sagen, dass der Satz der Wert der Funktion „[…] besiegte […]“ für die Argumente „Wellington“ und „Napoleon“ (in dieser Reihenfolge) ist. In Freges Terminologie sind „Wellington besiegte […]“ und

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4 Logik

Trollops Lady Glencora Palliser regierte nicht nur einen, sondern zwei Herzöge von Omnium. In dieser Illustration von Phineas Finn festigt sie ihre Herrschaft über den älteren Herzog, indem sie ihm einen Enkel präsentiert.

Freges Neubegründung der Logik

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„[…] besiegte Napoleon“ Funktionen mit einem einzigen Argument, während „[…] besiegte […]“ eine Funktion mit zwei Argumenten ist. 3 Wie man sieht, lassen sich mithilfe der Unterscheidung von Funktion und Argument die logisch relevanten Ähnlichkeiten zwischen Sätzen wesentlich leichter hervorheben, als dies mithilfe der Unterscheidung zwischen Subjekt und Prädikat möglich ist. Die Analyse nach Subjekt und Prädikat reicht aus, um die Ähnlichkeit zwischen „Cäsar eroberte Gallien“ und „Cäsar besiegte Pompeius“ hervorzuheben, doch sie reicht nicht aus, um die Ähnlichkeit zwischen „Cäsar eroberte Gallien“ und „Pompeius mied Gallien“ hervorzuheben. Diese Ähnlichkeit wird jedoch logisch bedeutsam, wenn wir es etwa mit Sätzen in Syllogismen zu tun haben, die keine Eigennamen wie „Cäsar“ und „Gallien“, sondern quantifizierte Ausdrücke wie „alle Römer“ oder „irgendeine Provinz“ enthalten. Nachdem er die Begriffe Funktion und Argument eingeführt hat, besteht Freges nächster Schritt darin, eine neue Schreibweise einzuführen, um die Art von Allgemeingültigkeit darzustellen, die durch ein Wort wie „alle“ ausgedrückt wird, unabhängig davon, wo es innerhalb eines Satzes vorkommt. Wenn „Sokrates ist sterblich“ ein wahrer Satz ist, können wir sagen, dass die Funktion „[…] ist sterblich“ für das Argument „Sokrates“ gilt. Um Allgemeingültigkeit zum Ausdruck zu bringen, benötigen wir ein Symbol, das anzeigt, dass eine bestimmte Funktion unabhängig vom jeweiligen Argument wahr ist. In Anlehnung an die von Frege eingeführte Schreibweise verwenden Logiker die Schreibweise: (x)(x ist sterblich) um anzuzeigen, dass die Funktion „[…] ist sterblich“, unabhängig von dem Argument, das in sie eingesetzt wird, wahr ist. Die Schreibweise kann gelesen werden als: „Für alle x gilt: x ist sterblich“. Sie ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass alles sterblich ist. Diese Schreibweise für Allgemeingültigkeit ist auf sämtliche Arten anwendbar, auf die Sätze in Funktionen und Argumenten analysiert werden können. So ist beispielsweise „(x)(Gott ist größer als x)“ gleichbedeutend mit „Gott ist größer als alles“. Die Schreibweise kann mit einem Negationszeichen („~“) verbunden werden, um Darstellungen zu ermöglichen, die Sätzen äquivalent sind, die „nicht“ oder „keine“ enthalten. Daher bedeutet „(x)~(x ist unsterblich)“ = „Für alle x gilt: Es ist nicht der Fall, dass x unsterblich ist“ = „Nichts ist unsterblich“. Um einen Satz mit einem Ausdruck wie „einige“ auszudrücken, nutzte Frege die schon lange von Logikern akzeptierte Äquivalenz zwischen (beispielsweise) „Einige Römer sind Feiglinge“ und 3

Wie ich weiter oben erläutert habe, sind der Begriffsschrift zufolge Funktionen, Argumente und ihre Werte Teile der Sprache: Namen und Sätze, mit oder ohne Lücken. In seinen späteren Schriften verwendet Frege die Begriffe häufiger nicht für Elemente der Sprache, sondern für diejenigen Gegenstände, zu deren Ausdruck und Erörterung die Sprache dient. Ich werde dies im Kapitel 7 über die Metaphysik noch genauer erörtern.

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4 Logik

„Nicht alle Römer sind keine Feiglinge“. Daher entspricht „Einige Dinge sind sterblich“ = „Es ist nicht der Fall, dass nichts sterblich ist“ = „~(x)~(x ist sterblich)“. Der Einfachheit halber verwendeten seine Nachfolger für „einige“ ein Zeichen (Ex) als Äquivalent für „~(x)~“. Freges Schreibweise und ihre Abkürzung kann verwendet werden, um Aussagen über die Existenz von Dingen verschiedener Art zu machen. „(Ex)(x ist ein Pferd)“ ist beispielsweise gleichbedeutend mit der Aussage „Es gibt Pferde“ (vorausgesetzt, wie Frege anmerkt, dass dieser Satz so verstanden wird, dass er den Fall abdeckt, dass es nur ein Pferd gibt). Frege glaubte, dass Gegenständen aller Art ein Name gegeben werden kann – Zahlwörter waren beispielsweise die Namen von Zahlen –, und an die Argumentstelle seiner logischen Schreibweise können Namen für beliebige Gegenstände treten. Dementsprechend bedeutet „(x)(x ist sterblich)“ nicht nur, dass jeder Mensch sterblich ist, sondern auch, dass alles überhaupt Denkbare sterblich ist. Wird die Aussage so verstanden, ist sie falsch, weil Zahlen zum Beispiel nicht sterblich sind. Wir wollen jedoch nur selten Aussagen von einer solch uneingeschränkten Allgemeinheit machen. Wesentlich häufiger wollen wir sagen, dass alle Dinge einer bestimmten Art eine bestimmte Eigenschaft haben, oder dass alles, was über eine bestimmte Eigenschaft verfügt, auch eine bestimmte andere Eigenschaft besitzt. „Alle Menschen sind sterblich“ oder „Alles, was aufsteigt, kommt auch wieder herunter“ sind typische Beispiele allgemeiner Sätze der Umgangssprache. Um derartige Sätze in Freges System ausdrücken zu können, muss man seine Prädikatenlogik (die Theorie der Quantoren wie zum Beispiel „einige“ und „alle“) auf ein Aussagenkalkül pflanzen (die Theorie der Bindewörter von Sätzen, wie etwa „wenn“ und „und“). Das wichtigste Element in Freges System der Aussagenlogik ist ein Zeichen für Bedingtheit, das in etwa dem „wenn“ der Umgangssprache entspricht. Der stoische Logiker Philo hatte in der Antike „Wenn p, dann q“ definiert, indem er sagte, es sei eine Aussage, die dann falsch ist, wenn p wahr und q falsch ist, und die in den drei anderen möglichen Fällen wahr ist. 4 Frege definierte sein Zeichen für Bedingtheit (das wir durch „!“ darstellen können) auf ähnliche Weise. Er warnte, dass es dem umgangssprachlichen Konjunktionspaar „wenn–dann“ nicht exakt entspreche. Wenn wir „p ! q“ als gleichbedeutend mit „Wenn p, dann q“ ansehen, dann ergibt sich, dass Aussagen wie zum Beispiel „Wenn die Sonne scheint, dann 3  7 = 21“ oder „Wenn ein perpetuum mobile möglich ist, dann können Schweine fliegen“ sich als wahr herausstellen – einfach deshalb, weil der Folgesatz der ersten Aussage wahr und der Vordersatz der zweiten Aussage falsch ist. Die umgangssprachliche Konjunktion „wenn“ wird anders verwendet. Diejenige ihrer Verwendungen, die dem Sinn von „!“ am nächsten kommt, liegt in Sätzen wie dem folgenden vor: „Wenn diese Vorhänge zu diesem Sofa passen, dann bin ich Holländer“. Man kann Freges Zeichen als eine verkürzte Version des Wortes „wenn“ ansehen, das dazu bestimmt ist, genau denjenigen Aspekt seiner Bedeutung 4

Vgl. Band I, 152.

Freges Neubegründung der Logik

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abzudecken, der für die Formulierung strenger Beweise, die das Zeichen enthalten, erforderlich ist. In Freges Terminologie ist „[…] ! […]“ eine Funktion, die als Argumente Sätze akzeptiert: Auch ihre Werte sind Sätze. Ob die Sätze, die ihre Werte sind (Sätze der Form „p ! q“), wahr oder falsch sind, wird davon abhängen, ob die Sätze, die ihre Argumente sind („p“ und „q“), wahr oder falsch sind. Wir können Funktionen dieser Art „Wahrheitsfunktionen“ nennen. Die Bedingungsfunktion ist nicht die einzige Wahrheitsfunktion in Freges System. Die Negation, dargestellt durch das Zeichen „~“, ist ebenfalls eine Wahrheitsfunktion, da ein verneinter Satz genau dann wahr ist, wenn der Satz, der verneint wird, falsch ist, und umgekehrt. Mithilfe dieser beiden Symbole baute Frege ein vollständiges System der Aussagenlogik auf, und er leitete sämtliche Wahrheiten dieser Logik aus einem begrenzten Satz einfacher Wahrheiten oder Axiome ab, wie zum Beispiel „(p ! q) ! (~p ! ~q)“ und „~~p ! p“. Andere Junktoren als „wenn“, wie zum Beispiel „und“ und „oder“, werden anhand der Bedingtheit und der Negation definiert. So schließt zum Beispiel „~q ! p“ den Fall aus, in dem p falsch und ~q wahr ist: Es bedeutet, dass p und q nicht beide falsch sind, und ist daher gleichbedeutend mit „p oder q“ (in moderner Schreibweise „p _ q“). „p und q“ („p & q“) wird von Frege andererseits als „~(q ! ~p)“ wiedergegeben. Wie Frege erkannte, wäre ein alternatives System möglich, in dem die Konjunktion ursprünglich wäre, und Bedingtheit mithilfe von Konjunktion und Negation definiert würde. Doch er behauptete, dass in der Logik die Deduktion wichtiger sei als die Konjunktion, und dies ist der Grund, warum „wenn“ und nicht „und“ als ursprünglich angenommen wird. Frühere Logiker hatten eine Reihe von Schlussregeln aufgestellt, Regeln, mit denen man von einer Aussage zu einer anderen übergehen konnte. Eine der bekanntesten wurde als modus ponens bezeichnet: „Aus ‚p‘ und ‚Wenn p, dann q‘ schließe auf ‚q‘“. Frege behauptet, dass er in seinem System alle Gesetze der Logik mithilfe dieser einzigen Schlussregel beweist. Die anderen Regeln sind entweder Axiome seines Systems oder Theoreme, die mit ihrer Hilfe beweisbar sind. So wird zum Beispiel die Regel, die traditionellerweise als Kontraposition bezeichnet wird und die den Schluss von Wenn John schnarcht, schläft John auf Wenn John nicht schläft, schnarcht John nicht erlaubt, durch das erste der oben angegebenen Axiome gerechtfertigt. Wenn wir Freges Aussagenkalkül und seine Prädikatenlogik zusammenfügen, können wir die allgemeinen Sätze der Umgangssprache symbolisieren, indem wir das Symbol für die Allgemeingültigkeit und die Bedingtheit kombinieren.

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4 Logik

Der Ausdruck (x)(Fx ! Gx) kann gelesen werden als Für alle x, wenn Fx, dann Gx, was Folgendes bedeutet: Was immer x sein mag: Wenn „Fx“ wahr ist, dann ist „Gx“ wahr. Setzen wir „ist ein Mensch“ für „F“ ein und „ist sterblich“ für „G“, so erhalten wir: „Für alle x: Wenn x ein Mensch ist, ist x sterblich“. Frege schlägt dies als Übersetzung von „Alle Menschen sind sterblich“ vor. Das kontradiktorische Gegenteil hiervon, „Einige Menschen sind nicht sterblich“, wird zu: „~(x)(x ist ein Mensch ! x ist sterblich)“ und das konträre Gegenteil, „Kein Mensch ist sterblich“, wird zu: „(x)(x ist ein Mensch ! ~x ist sterblich)“. Mithilfe dieser Übersetzungen gelingt es Frege, Theoreme, die dem gesamten Korpus der aristotelischen Syllogistik entsprechen, als Teile seines Systems zu beweisen. Freges logisches Kalkül ist nicht nur systematischer als das von Aristoteles; es ist auch umfassender. Sein Symbolismus kann beispielsweise den Unterschied zwischen dem Satz Jeder Junge liebt irgendein Mädchen = (x)(x ist ein Junge ! Ey (y ist ein Mädchen & x liebt y) und der scheinbar ähnlichen (doch wesentlich weniger plausiblen) passiven Version des Satzes zum Ausdruck bringen: Irgendein Mädchen wird von jedem Jungen geliebt = (Ey (y ist Mädchen & (x)(x ist ein Junge ! x liebt y)). Aristotelische Logiker in früheren Jahrhunderten hatten vergeblich versucht, eine einfache und übersichtliche Methode zu finden, um derartige Bedeutungsunterschiede in doppeldeutigen Sätzen der Umgangssprache klarzumachen. Eine letzte Raffinesse von Freges System muss noch erwähnt werden. Der Satz „Sokrates ist sterblich“ kann – wie wir gesehen haben – so analysiert werden, dass „Sokrates“ sein Argument und „[…] ist sterblich“ seine Funktion ist. Doch die Funktion „[…] ist sterblich“ kann ihrerseits als ein Argument einer anderen Funktion angesehen werden, einer Funktion höherer Ebene. Dieser Fall liegt vor, wenn wir die Funktion „[…] ist sterblich“ nicht mit einem bestimmten Argument, sondern mit einem Quantor vervollständigen, wie in „(x)(x ist sterblich)“. Der Quantor „(x)(x […])“ kann dann als eine Funktion zweiter Ebene der Funktion „[…] ist sterblich“ ange-

Induktion und Abduktion bei Peirce

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sehen werden. Die ursprüngliche Funktion, darauf weist Frege stets hin, ist unvollständig, doch sie kann auf zwei Weisen vervollständigt werden: entweder, indem in ihre Argumentstelle ein Argument eingesetzt wird, oder indem sie selbst zum Argument einer Funktion höherer Ebene wird. Dies geschieht, wenn die Auslassung in „[…] ist sterblich“ mit einem Quantor wie etwa „alles“ gefüllt wird.

Induktion und Abduktion bei Peirce Einige der Neuerungen, die von Frege in die Logik eingeführt wurden, hatte C. S. Peirce zwar unabhängig von ihm gefunden, doch gelang es ihm nie, seine Ergebnisse in ein strenges System einzugliedern, geschweige denn, sie in einer definitiven Form zu veröffentlichen. Peirce’ Bedeutung für die Geschichte der Logik liegt eher in seinen Untersuchungen zur Struktur der wissenschaftlichen Forschung. Die deduktive Logik hilft uns, unser Wissen zu organisieren. Diejenige Art des logischen Denkens, die unser Wissen erweitert („ampliative Schlüsse“, wie Peirce sie nannte), hat drei unterschiedliche Formen: Induktion, Hypothese und Analogie. Alle diese Schlussformen, behauptete Peirce, hängen im Wesentlichen von Stichproben ab. Jede Erklärung der nicht-deduktiven Schlussfolgerungen muss daher zur mathematischen Theorie der Wahrscheinlichkeit in Beziehung gesetzt werden (EWP 177). Wissenschaftler stellen Hypothesen auf, machen auf der Grundlage dieser Hypothesen Voraussagen und stellen dann Beobachtungen an, um diese Hypothesen zu bestätigen oder zu widerlegen. Diese drei Stufen der Forschung werden von Peirce als Abduktion, Deduktion und Induktion bezeichnet. In der abduktiven Phase der Forschung wählt der Forscher eine Theorie zur Überprüfung aus. In der deduktiven Phase erdenkt er ein Experiment, mit dem sie getestet werden kann, und in der induktiven Phase bewertet er seine Ergebnisse. „Wie entscheidet ein Wissenschaftler, welche Hypothesen es wert sind, induktiv überprüft zu werden? Unendlich viele verschiedene Theorien könnten die Phänomene, die er untersuchen möchte, erklären. Will er nicht seine Zeit, seine Energie und seine Forschungsgelder verschwenden, benötigt er einen Leitfaden, der ihm diejenigen Theorien auszuwählen hilft, die untersucht werden sollten. Dieser Leitfaden besteht in den logischen Regeln der Abduktion. Um wahr sein zu können, muss die Theorie einen echten Erklärungswert haben; sie muss empirisch überprüfbar sein; und sie sollte einfach und unkompliziert sein und mit dem vorhandenen Wissen zusammenhängen. Unseren subjektiven Meinungen über die im Voraus angenommene Wahrscheinlichkeit muss sie allerdings nicht entsprechen.“ (P 7. 220 f.)

Die Regeln der Abduktion erklären jedoch für sich genommen nicht den Erfolg der Wissenschaftler bei der Auswahl ihrer Hypothesen. Wir müssen annehmen, dass ihnen bei der Untersuchung der Natur von der Natur selbst geholfen wird.

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4 Logik

Das von seinem Gründer Frege eingeführte Symbolsystem, das nur schwer zu drucken war, wird von der modernen Logik nicht mehr verwendet. Diese Abbildung zeigt, in seiner Schreibweise, das Muster zur Ableitung von Ergebnissen wie: „Wenn dieser Strauß ein Vogel ist und nicht fliegen kann, so folgt daraus, dass einige Vögel nicht fliegen können.“

„Die Wissenschaft setzt voraus, dass sie über die Fähigkeit verfügt, etwas richtig zu ‚vermuten‘. Wir täten besser daran, den Versuch, die Wahrheit in Erfahrung zu bringen, aufzugeben […], wenn wir nicht darauf vertrauen, dass der Geist des Menschen die Macht besitzt, das Richtige zu vermuten, sodass – bevor zahllose Hypothesen überprüft worden sind – von einer intelligenten Vermutung erwartet werden kann, dass sie uns auf diejenige führt, die sämtlichen Überprüfungen standhält.“ (P 6. 530)

Dieses Vertrauen muss von Anfang an vorausgesetzt werden, obwohl es vielleicht auf keinen Beweisen beruht. Tatsächlich zeigt die Geschichte der Naturwissenschaften, dass dieses Vertrauen wohlbegründet ist: „Es ist selten erforderlich gewesen, mehr als zwei oder drei Hypothesen eines klar denkenden Genies zu überprüfen, bevor die richtige gefunden wurde“ (P 7. 220). Nachdem die Theorie ausgewählt wurde, folgt auf die Abduktion die Deduktion. Aus der Hypothese werden Konsequenzen, d. h. experimentelle Voraussagen, abgeleitet, die sich bestätigen werden, wenn die Hypothese richtig ist. Peirce behauptete, dass der Verstand bei der Deduktion der Herrschaft der Gewohnheit unterliegt: Eine allgemeine Idee wird einen besonderen Fall nahelegen. Durch die Verifikation oder Falsifikation der vorhergesagten Beispielsituation bestätigt oder widerlegt der Wissenschaftler die überprüfte Hypothese in einem gegebenen Fall. Die Induktion ist das bei Weitem wichtigste Element der Überprüfung, und Induktion ist im Wesentlichen eine Sache von Stichproben. „Angenommen, ein mit Weizen schwer beladenes Schiff trifft in Liverpool ein. Angenommen, die gesamte Ladung würde auf irgendeine Weise höchst gründlich durchmischt. Angenommen, mit einem Fingerhut würden siebenundzwanzig Proben der Ladung vom Bug, Mittelteil und Heck des Schiffes entnommen und ebenso von der Steuerbord- und Backbordseite und aus der Mitte sowie aus dem oberen, mittleren und unteren Teil der Ladung und diese Proben würden gemischt und die Körner gezählt.

Induktion und Abduktion bei Peirce

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Man stellt fest, dass vier Fünftel der Ladung die Qualität A hat. Dann schließen wir, erfahrungsgemäß und vorläufig, dass etwa vier Fünftel der Gesamtmenge der Getreideladung von derselben Qualität ist.“ (EWP 177)

Indem er behauptet, dass wir Schlussfolgerungen vorläufig ziehen, will Peirce sagen: Wenn unsere Erfahrung unendlich erweitert und jede sich als notwendig erweisende Korrektur sofort vorgenommen würde, dann würde unsere Annäherung auf lange Sicht der Wahrheit unendlich nahekommen. Peirce behauptet, dass eine Schlussfolgerung dieser Art auf keinem Postulat über irgendeine Tatsache beruht, sondern allein auf den mathematischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Bei der beschriebenen Induktion handelt es sich um eine quantitative Induktion: um eine Schlussfolgerung von einem Prozentsatz einer Probe auf den Prozentsatz der Gesamtmenge. Doch es gibt noch eine andere Art von Induktion, die nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im alltäglichen Leben wichtig ist. Hierbei handelt es sich um die qualitative Induktion, bei der wir von einer oder zwei beobachteten Eigenschaften eines Einzeldings auf andere, unbeobachtete Eigenschaften schließen. Um dies zu veranschaulichen, führt Peirce den Begriff des Mugwumps ein. Ein Mugwump, erklärt er uns, hat bestimmte Eigenschaften: „Er hat einen hohen Respekt vor sich selbst und legt großes Gewicht auf gesellschaftliche Abgrenzung. Er bedauert, welche wichtige Rolle Rowdytum und unkultivierte Kameraderie beim Umgang amerikanischer Politiker mit ihrer Wählerschaft spielen. […] Er ist der Ansicht, dass finanzielle Erwägungen in Fragen der öffentlichen Politik im Allgemeinen den Ausschlag geben sollten. Er hält das Prinzip des Individualismus und des Laissez-faire für die größten Mittel der Zivilisation. Ich weiß, dass diese Ansicht, neben anderen, die auffälligen Merkmale eines ‚Mugwamps‘ sind. Nehmen wir nun an, dass ich bei einer Bahnfahrt zufällig einem Mann begegne, mit ihm ein Gespräch beginne und feststelle, dass er derartige Ansichten hat, so vermute ich natürlich, dass er ein Mugwamp ist. Dies ist eine hypothetische Schlussfolgerung, d. h.: Ich stelle fest, dass der Mann über eine Reihe leicht zu verifizierender Merkmale eines Mugwamps verfügt, und schließe daraus, dass er auch alle anderen Eigenschaften besitzt, die einen Denker von diesem Schlag ausmachen.“ (EWP 210)

Dieses schlichte Beispiel veranschaulicht die drei Stadien der wissenschaftlichen Forschung, die von Peirce beschrieben wurden. Mein Mitreisender beklagt die pöbelhafte Vulgarität der Kongressabgeordneten. Ich bilde die Hypothese, dass es sich um einen Mugwamp handelt. Ich schließe daraus, dass er die staatliche Reglementierung der Geschäftswelt wahrscheinlich ablehnen wird. Ich frage ihn nach seiner Meinung zu den jüngsten Maßnahmen zur Einschränkung des Handels, und meine Hypothese wird durch seine vehemente Verurteilung bestätigt. Meine Hypothese bleibt jedoch trotz des weiteren Gesprächs lediglich wahrscheinlich, denn die Bahnfahrt ist zum Glück nur von begrenzter Dauer.

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4 Logik

Die Saga der Principia Mathematica Die logischen Untersuchungen von Peirce hatten kaum irgendeine Auswirkung auf die Entwicklung der Logik im frühen 20. Jahrhundert. Es war hauptsächlich das Werk Freges, das weitergeführt wurde, insbesondere im Werk von Russell und Whitehead, seinen Nachfolgern in der Suche nach dem logizistischen Gral. Die drei Bände der Principia Mathematica enthalten eine Systematisierung der Logik, die schon bald wesentlich bekannter wurde als die von Frege selbst in seinen eigenen Werken dargelegte Form. Ein Grund für die größere Popularität der Principia bestand darin, dass in den Principia Freges raffinierter, aber umständlicher Symbolismus durch eine wesentlich praktischere Schreibweise ersetzt wurde, die Russell und Whitehead von ihrem Erfinder, dem italienischen Mathematiker Giuseppe Peano, übernahmen. Während Freges System zweidimensional war und nur sehr mühevoll gedruckt werden konnte, war das System Peanos linear. Für seine Darstellung waren außer den Buchstaben des Alphabets nur wenige zusätzliche Sonderzeichen erforderlich. Die Tilde „~“ wurde als Negationszeichen verwendet, das Zeichen „_“ für Disjunktion und das Hufeisensymbol „“ für die Wahrheitsfunktion „wenn“. Diese Zeichen für die logischen Junktoren sind noch immer in Gebrauch, doch wir verwenden in diesem Text statt des Hufeisensymbols das Zeichen „!“, das heute gebräuchlicher ist. Als Konjunktionszeichen verwendeten Russell und Whitehead einen einfachen Punkt, d. h. „p.q“. Heute wird stattdessen im Allgemeinen ein Ampersand verwendet, wie zum Beispiel „p & q“. Als Allquantor verwendeten Russell und Whitehead die Schreibweise „(x)F(x)“ und als Existenzquantor „(Ex)F(x)“. Auch diese Symbole sind noch in allgemeinem Gebrauch. Der Allquantor „E“ wird manchmal seitenverkehrt dargestellt. Das System der Principia ist, wie das System Freges, ein axiomatisches System, in dem logische Wahrheiten aus einer Handvoll von Axiomen nach logischen Regeln abgeleitet werden. Der Satz ursprünglicher Axiome unterscheidet sich allerdings von dem Satz der Axiome Freges, und während Frege „wenn“ und „nicht“ als ursprüngliche Bindewörter angesehen hatte, durch die die anderen definiert werden konnten, nahmen Russell und Whitehead „oder“ und „nicht“ (die sie als „logische Konstanten“ bezeichneten) als ursprünglich an. Tatsächlich sind zahlreiche andere Sätze von Axiomen mit verschiedenen primitiven Konstanten möglich, und sie wurden von Logikern im Laufe der nächsten Jahrzehnte studiert. Man erkannte schon bald, dass axiomatische Systeme nicht den einzigen (und nicht einmal notwendigerweise den besten) Weg darstellen, der Logik eine strenge Form zu geben. Dies wurde von Wittgenstein bewiesen, der eine formale Methode erfand, die, wie viele der Methoden Freges, in die Logiklehrbücher Eingang gefunden hat, d. h. die Wahrheitstabelle. Man kann die Junktoren von Aussagen definieren, indem man in einer Tabelle die Wahrheitsbedingungen der Aussagen darlegt, die sie enthalten. So stellt zum Beispiel die folgende Tabelle

Die Saga der Principia Mathematica

p W F W F

q W W F F

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p&q W F F F

dar, dass „p & q“ in dem Fall wahr ist, dass „p“ und „q“ beide wahr sind, und falsch in den drei anderen möglichen Fällen, nämlich (a) wenn „p“ falsch und „q“ wahr ist, (b) wenn „p“ wahr und „q“ falsch ist und (c) wenn „p“ und „q“ beide falsch sind. Der Wahrheitswert von „p & q“ wird – wie die Tabelle zeigt – durch die Wahrheitswerte der Teilaussagen „p“ und „q“ festgelegt. Wir können daher sagen, dass die zusammengesetzte Aussage eine Wahrheitsfunktion ihrer Teilaussagen ist, und die möglichen Kombinationen der Wahrheitswerte der Teilsätze legen die Wahrheitsbedingungen für die zusammengesetzte Aussage dar. Ähnliche Tabellen können für die anderen logischen Konstanten, wie zum Beispiel „oder“ und „wenn“, aufgestellt werden. „Wenn p, dann q“ wird als „p ! q“ geschrieben und wird als eine wahrheitsfunktionale Bedingung interpretiert, die in allen Fällen wahr ist, außer in demjenigen, in welchem „p“ wahr und „q“ falsch ist. Die einfachste Wahrheitstabelle ist diejenige für „nicht“: p W F

~p F W

Dies zeigt, dass eine Aussage wahr ist, wenn ihre Negation falsch ist, und umgekehrt. Durch die wiederholte Verwendung der logischen Konstanten lassen sich Aussagen von großer Länge und Komplexität aufbauen, doch wie komplex sie auch sein mögen: Ihre Wahrheitswerte können immer anhand der Wahrheitswerte der einfachen Aussagen ermittelt werden, aus denen sie zusammengesetzt sind (Wittgenstein, TLP 5.31). Betrachten wir die folgende Aussage: Wenn p und q, dann nicht-p und q. Dies ist eine Wahrheitsfunktion von „p“ und „q“, wie folgende Tabelle zeigt: p W F W F

q W W F F

p&q WWW FFW WFF FFF

! F W W W

~p & q FWFW WFWW FWFF WFFF

122

4 Logik

Diese Tabelle ist auf folgende Weise aufgebaut: Zuerst werden die Spalten unter jedem Vorkommen der einzelnen Aussagenvariablen ausgefüllt, indem die Werte kopiert werden, die in den Spalten auf der linken Seite in der konventionellen Anordnung angegeben sind, die sicherstellt, dass alle möglichen Kombinationen der Wahrheitswerte abgedeckt sind (TLP 4.31). Dann wird in der vierten Spalte von rechts der Wahrheitswert von „nicht-p“ unter dem „~“-Zeichen angegeben, indem der Wahrheitswert von „p“ umgekehrt wird. Anschließend werden die Spalten unter den „&“-Zeichen ausgefüllt, indem die Wahrheitswerte der zusammengesetzten Aussagen aus den vorher gegebenen Tabellen abgeleitet werden. Zum Schluss wird der Wert der „!“-Spalte ermittelt, wobei die Wahrheitswerte von der wahrheitsfunktionalen Definition von „wenn […], dann“ abgeleitet werden. Diese Spalte zeigt den Wert der komplexen Gesamtformel für jede mögliche Kombination ihrer Teile. Es ergibt sich, dass sie falsch ist, wenn „p & q“ wahr ist, und in allen anderen Fällen wahr. Wenn wir auf diese Weise Wahrheitstabellen für komplexe Aussagen erstellen, stellen wir manchmal fest, dass sie für jeden möglichen Wahrheitswert der Elementaraussagen denselben Wahrheitswert annehmen. So ist beispielsweise die Aussage „p oder nicht-p“ unabhängig davon wahr, ob „p“ wahr ist oder falsch, wie sich auf folgende Weise ergibt: p p _ ~p W W W FW F F W WF Andererseits ist die Aussage „p und nicht-p“ falsch, welchen Wert „p“ auch annimmt: p p & ~p W W F FW F F F WF Eine Aussage, die für sämtliche Wahrheitsmöglichkeiten ihrer Elementarsätze wahr ist, nennt man eine Tautologie, eine Aussage, die für sämtliche Wahrheitsmöglichkeiten ihrer Elementarsätze falsch ist, eine Kontradiktion (TLP 4.46). Die oben dargestellte Tautologie entspricht dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten, die Tautologie, die der Negation der oben dargestellten Kontradiktion entspricht, dem Gesetz vom verbotenen Widerspruch. Diese beiden Gesetze waren zwei der drei traditionellen Gesetze des Denkens. Auf diese Weise schlägt das Studium der Tautologien eine Brücke zur herkömmlichen Logik, doch sie markiert auch einen Fortschritt gegenüber Freges Behandlung der Aussagenlogik. Es lässt sich beweisen, dass sämtliche Formeln, die nach Wittgensteins Test Tautologien sind, entweder Axiome oder Theoreme von Freges System sind, und dass umgekehrt alles, was sich anhand von Freges Axiomen beweisen lässt, eine Tautologie sein wird. Es zeigt sich, dass die Wahrheitstabellen und das axiomatische

Die Saga der Principia Mathematica

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System zwei Methoden für den Umgang mit demselben Material sind, d. h. den offensichtlichen logischen Wahrheiten der Aussagenlogik. Die Methode der Wahrheitstabellen hat jedoch gegenüber der axiomatischen Methode eine Reihe von Vorteilen. Erstens stellt es sämtliche logischen Wahrheiten als gleichberechtigt dar, während Freges System und das System der Principia einem willkürlich ausgewählten Satz von logischen Wahrheiten als Axiomen einen privilegierten Status einräumt. Zweitens entfällt die Berufung darauf, dass etwas logisch offensichtlich ist: Die Methode der Wahrheitstabellen ist völlig mechanisch, insofern sie von einer Maschine befolgt werden kann. Und schließlich können wir anhand von Wahrheitstabellen für eine gegebene Formel der Aussagenlogik stets die Frage beantworten, ob es sich dabei um eine Tautologie handelt. Ein axiomatisches System bietet nichts Vergleichbares. Gewiss: Wenn wir einen Beweis finden, wissen wir, dass es sich bei der Formel um ein Theorem handelt. Gelingt es uns hingegen nicht, einen Beweis zu finden, zeigt dies möglicherweise nichts anderes als die Grenzen unseres Einfallsreichtums. Wenn man uns fragt: „Ist p eine Tautologie oder nicht?“, gibt uns Wittgensteins Methode ein absolut sicheres Verfahren, die Frage nicht nur mit „ja“, sondern auch mit „nein“ zu beantworten. Die axiomatische Methode bietet kein vergleichbares Entscheidungsverfahren (um den Ausdruck zu gebrauchen, der von den Logikern hierfür standardmäßig verwendet wurde). Die klassische Aussagenlogik, wie sie auf verschiedene Weise von Frege, Russell und Wittgenstein formuliert wurde, wurde von einer von L. E. J. Brouwer gegründeten Schule von Logikern kritisiert. Sie missbilligten die Verwendung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten in der Mathematik. Diese als „Intuitionisten“ bezeichneten Logiker hielten die Mathematik für eine Schöpfung des menschlichen Geistes, und sie hielten daher nur solche mathematischen Aussagen für wahr, für die ein Beweis angeführt werden konnte. Nach diesem Prinzip wäre es falsch, der Aussage „p“ ohne einen unabhängigen Beweis nur deshalb zuzustimmen, weil man „nicht-p“ widerlegt hatte. Intuitionisten entwickelten Logiksysteme, in denen nicht nur „p v ~p“ nicht vorkommt, sondern ebenso wenig andere vertraute Theoreme wie zum Beispiel „~~p ! p“. In den 1920er und 1930er Jahren zeigten Logiker, dass es zahlreiche verschiedene Wege der Formalisierung der Aussagen- und Prädikatenlogik gibt. Statt eines axiomatischen Systems, das den einen oder anderen Satz von Axiomen sowie eine Reihe von Regeln enthält, konnte es Systeme geben, die keine Regeln, dafür aber eine unendliche Menge von Axiomen enthielten, oder ein System ohne Axiome und mit einer begrenzten Anzahl von Regeln. Ein System dieser Art wurde 1934 von Georg Gentzen entwickelt: Es bestand aus sieben Regeln zur Einführung der logischen Konstanten und Quantoren und acht Regeln zu ihrer Eliminierung. Wenn die formale Logik auf diese Weise dargestellt wird, gleicht sie informellen Argumenten, wie sie im Alltag verwendet werden, mehr als irgendein axiomatisches System. Derartige Systeme wurden daher Systeme „natürlicher Deduktion“ genannt. Sie waren nicht nur für die klassische, sondern auch für die intuitionistische Logik geeignet.

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4 Logik

Neben der Entwicklung einer Vielzahl von Methoden zur Systematisierung der Logik versuchten Logiker über die Eigenschaften verschiedener Systeme Wahrheiten zweiter Ordnung aufzustellen. Eine Eigenschaft, über die ein System der Logik verfügen sollte – ja, deren Besitz sogar unerlässlich ist –, ist die Eigenschaft der Konsistenz. Wenn wir es zum Beispiel mit einem bestimmten Satz von Axiomen und Regeln zu tun haben, müssen wir zeigen, dass es unmöglich ist, nach diesen Regeln aus diesen Axiomen zwei Aussagen herzuleiten, die einander widersprechen. Eine weitere Eigenschaft, die zwar nicht unerlässlich, jedoch wünschenswert ist, ist die der Unabhängigkeit: Wir möchten zeigen, dass kein Axiom des Systems nach den Regeln aus den übrigen Axiomen des Systems hergeleitet werden kann. Der Logiker Paul Bernays bewies 1926, dass das Aussagensystem der Principia Mathematica konsistent war und dass vier seiner Axiome voneinander unabhängig waren. Das fünfte ließ sich jedoch als Behauptung aus den vier übrigen ableiten. Die Methode zum Beweis der Konsistenz und Unabhängigkeit hängt davon ab, dass die Axiome und Theoreme eines deduktiven Systems einfach als abstrakte Formeln behandelt werden und die Regeln des Systems als mechanische Verfahren, mit denen sich eine Formel aus einer anderen gewinnen lässt. Die Eigenschaften des Systems werden dann untersucht, indem ein Satz von Gegenständen als Modell, oder Interpretation, des abstrakten Kalküls angeboten wird. Die Elemente des Systems werden auf die Gegenstände und ihre Relationen auf solche Weise abgebildet, dass sie die Formeln des Systems erfüllen oder wahr sein lassen. Eine Formel P beinhaltet eine Formel Q genau dann, wenn alle Interpretationen, die P genügen, Q ebenfalls genügen. Dieser modelltheoretische Ansatz gewann in der Logik allmählich eine Bedeutung, die derjenigen des früheren Ansatzes entsprach, in der der Begriff des Beweises im Mittelpunkt stand. Eine dritte Eigenschaft deduktiver Systeme, die von den Logikern zwischen den beiden Weltkriegen untersucht wurde, war die Vollständigkeit. Eine axiomatische Darstellung der Aussagenlogik ist genau dann vollständig, wenn jede durch Wahrheitstabellen als Tautologie erwiesene Aussage innerhalb des Systems beweisbar ist. Hilbert und Ackermann lieferten 1928 einen Beweis, dass die Aussagenlogik der Principia Mathematica in diesem Sinne vollständig war. Sie war sogar in dem folgenden, strengeren Sinne vollständig: Wenn wir irgendeine nichttautologische Formel als Axiom hinzufügen, führt dies auf einen Widerspruch. Im Jahre 1930 bewies Gödel, dass die Prädikatenlogik erster Ordnung, die Logik der Quantifizierung, zwar in diesem schwächeren Sinne vollständig war, jedoch nicht in dem strengeren Sinne. Daraus ergab sich die Frage: War die Arithmetik, wie die allgemeine Logik, ein vollständiges System? Frege, Russell und Whitehead hatten gehofft, dass es ihnen gelungen war zu beweisen, dass die Arithmetik ein Zweig der Logik ist. Russell schrieb: „Wenn es noch Personen gibt, die nicht zugeben, dass Logik und Mathematik identisch sind, können wir sie auffordern uns zu sagen, an welchem Punkt der aufeinanderfolgenden Definitionen und Deduktionen der Principia Mathematica nach ihrer Meinung die Logik endet und die Mathematik beginnt.“ (IMP 194 f.) Wenn die

Die moderne Modallogik

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Arithmetik ein Zweig der Logik und die Logik vollständig war, dann sollte auch die Arithmetik ein vollständiges System sein. In einem bahnbrechenden Aufsatz aus dem Jahre 1931 bewies Gödel, dass dies nicht der Fall ist und dass die Arithmetik auch in kein vollständiges System verwandelt werden kann. Mithilfe einer genialen Methode konstruierte er eine Formel innerhalb des Systems der Principia, deren Wahrheit beweisbar ist und die dennoch nicht innerhalb des Systems bewiesen werden kann. Dies gelang ihm, indem er zeigte, wie man Formeln des logischen Systems dadurch in Aussagen der Arithmetik verwandeln kann, dass man die Zeichen der Principia auf solche Weise mit natürlichen Zahlen verbindet, dass jeder Beziehung zwischen zwei Formeln des logischen Systems eine Beziehung zwischen den auf diese Weise verbundenen Zahlen entspricht. Insbesondere zeigte er: Ist ein Satz von Formeln A, B und C ein Beweis der Formel D, so existiert eine spezielle numerische Beziehung zwischen den Gödel-Zahlen der vier Formeln. Er stellte dann eine Formel auf, für die es nur einen Beweis in dem System geben konnte, wenn die relevanten Gödel-Zahlen die Gesetze der Arithmetik verletzten. Die Formel muss daher unbeweisbar sein; und dennoch konnte Gödel, unabhängig von dem System, beweisen, dass es eine wahre Formel war. Man könnte vorschlagen, das Problem dadurch zu lösen, dass man die unbeweisbare Formel als Axiom in das System aufnimmt; doch hierdurch wird es möglich, eine andere, unbeweisbare Formel zu konstruieren, usw. ad infinitum. Wir müssen daher schlussfolgern, dass die Arithmetik unvollständig und nicht zu vervollständigen ist. Selbst wenn ein System vollständig ist, folgt hieraus nicht, dass es immer eine Methode geben wird, mit der sich entscheiden lässt, ob eine bestimmte Formel gültig ist oder nicht. Wenn man einen Beweis dafür findet, wird dadurch natürlich bewiesen, dass sie gültig ist. Doch wenn sich kein Beweis finden lässt, beweist dies nicht, dass sie ungültig ist. Für die Aussagenlogik gibt es ein solches Entscheidungsverfahren: Die Methode der Wahrheitstabellen zeigt, ob etwas eine Tautologie ist oder nicht. Da die Arithmetik nicht vervollständigt werden kann, ist sie erst recht unentscheidbar. Doch wie steht es, zwischen Aussagenlogik und Arithmetik, um die Prädikatenlogik erster Ordnung, deren Vollständigkeit Gödel bewiesen hatte? Gibt es hierfür ein Entscheidungsverfahren? Die mühevolle Arbeit von Logikern zeigte, dass Teile des Systems zwar entscheidbar sind, es jedoch für das Ganze der Prädikatenlogik kein Entscheidungsverfahren gibt und wir auch keine befriedigenden Kriterien angeben können, um zu ermitteln, welche Teile entscheidbar sind und welche nicht.

Die moderne Modallogik Zwischenzeitlich studierten andere Logiker einen Zweig der Logik, der seit dem Mittelalter vernachlässigt worden war: die Modallogik. Modallogik ist die Logik der Begriffe Notwendigkeit und Möglichkeit. Ihr Studium in neuerer Zeit geht auf das Werk von C. I. Lewis aus dem Jahre 1918 zurück, der sich der Modallogik von der Theorie

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4 Logik

der Implikation aus näherte. Was bedeutet es, dass eine Aussage p eine andere Aussage q impliziert? Russell und Whitehead behandelten ihr Hufeisensymbol (das wahrheitsfunktionale „wenn“) als Zeichen der Implikation, weil „Wenn p, dann p ! q, dann q“ eine gültige Schlussfolgerung ist. Doch sie erkannten, dass es eine seltsame Form der Implikation war – sie impliziert zum Beispiel, dass aus jeder falschen Aussage jede Aussage folgt –, weshalb sie sie als „materiale Implikation“ bezeichneten: Lewis bestand hingegen darauf, dass die einzige echte Implikation die strenge Implikation sei: p impliziert q nur dann, wenn es unmöglich ist, dass p wahr und q falsch ist. Er behauptete, dass „p impliziert q auf strenge Weise“ gleichbedeutend war mit „q folgt logisch aus p“. Er entwarf logische Systeme, in denen das Zeichen für die materiale Implikation durch ein neues Zeichen zur Darstellung der strengen Implikation ersetzt wurde. Dies waren die ersten formalen Systeme der Modallogik. Die strenge Implikation erschien vielen Kritikern jedoch nicht weniger paradox als die materiale Implikation, da eine unmögliche Aussage jede andere Aussage streng impliziert, sodass „Wenn Katzen Hunde sind, dann können Schweine fliegen“ wahr ist. Lewis’ Forschungsarbeiten zur Modalität waren jedoch um ihrer selbst willen von Interesse. Er schlug fünf verschiedene Systeme von Axiomen vor, die er mit S1 bis S5 nummerierte, und zeigte, dass jeder Satz von Axiomen konsistent und unabhängig war. Die Axiomensätze unterscheiden sich hinsichtlich ihrer beweistheoretischen Stärke. So erlaubt S1 zum Beispiel keinen Beweis von „Wenn p & q möglich ist, dann ist p möglich und q ist möglich“ (was sehr plausibel klingt), während S5 das Axiom enthält „Wenn p möglich ist, dann ist p notwendigerweise möglich“ (was ziemlich fragwürdig klingt). In mancher Hinsicht ist das interessanteste System S4, von dem Gödel bewies, dass es der um die folgenden Axiome erweiterten Logik der Principia Mathematica entspricht (wobei „wenn“ als materiale, nicht strenge Implikation zu lesen ist): (1) Wenn notwendigerweise p, dann p. (2) Wenn notwendigerweise p, dann (wenn notwendigerweise [wenn p, dann q] dann notwendigerweise q). (3) Wenn notwendigerweise p, dann notwendigerweise notwendigerweise p. Er fügte auch eine Regel hinzu, dass – wenn „p“ irgendeine These des Systems war – wir auch „notwendigerweise p“ hinzufügen können. Das System nutzt die wechselseitige Definierbarkeit von Notwendigkeit (die er durch das Symbol & darstellte) und Möglichkeit (die er durch ^ darstellte). Wie in der Antike und im Mittelalter wohl bekannt war, kann „notwendigerweise“ durch „nicht möglicherweise nicht“ und „möglicherweise“ durch „nicht notwendigerweise nicht“ definiert werden. Es gibt zahlreiche Aussagen in der Modallogik, über deren Wahrheitswert unter den Logikern keine Einigkeit besteht. Die umstrittensten Aussagen sind diejenigen, in denen Modaloperatoren iteriert (d. h. wiederholt) werden. Das von Gödel axiomatisierte System S4 enthält als ableitbare Thesen die beiden folgenden Formeln:

Die moderne Modallogik

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Wenn möglicherweise möglicherweise p, dann möglicherweise p. Wenn notwendigerweise p, dann notwendigerweise notwendigerweise p. Es enthält jedoch nicht die folgenden beiden Formeln: Wenn möglicherweise p, dann notwendigerweise möglicherweise p. Wenn möglicherweise notwendigerweise p, dann notwendigerweise p. – die in S5 beweisbar und charakteristische Eigenschaften dieses Systems sind. Die Vorund Nachteile von S4 und S5 als Systeme der Modallogik sind bis heute umstritten, und nicht nur unter Logikern. Einige Religionsphilosophen haben zum Beispiel die folgende These vertreten: Wenn es möglich ist, dass ein notwendiges Wesen (d. h. Gott) existiert, dann existiert ein notwendiges Wesen. Diese Behauptung enthält eine unausdrückliche Berufung auf die zweite der oben angeführten Thesen von S5. Es gibt eine Reihe von Parallelen zwischen Modaloperatoren und den Quantoren der Aussagenlogik. Die wechselseitige Definierbarkeit von „notwendigerweise“ und „möglicherweise“ entspricht der wechselseitigen Definierbarkeit von „alle“ und „einige“. Ebenso wie „Für alle x, Fx“ „Fa“ impliziert, impliziert „Notwendigerweise p“ die Aussage „p“, und ebenso wie „Fa“ die Aussage „Für einige x, Fx“ impliziert, impliziert „p“ die Aussage „möglicherweise p“. Es gibt Distributivgesetze in der Logik, die denjenigen in der Theorie der Quantifikation analog sind: So ist es zum Beispiel genau dann notwendig, dass p und q, wenn es sowohl notwendig ist, dass p, als auch dass es notwendig ist, dass q. Und es ist genau dann möglich, dass p oder q, wenn es entweder möglich ist, dass p, oder wenn es möglich ist, dass q. Dies ist der Grund dafür, dass wir ein System erhalten, welches der doppelten Quantifikation ähnlich ist, wenn wir Quantifizierungen in die Modallogik einführen und Modaloperatoren und Quantoren gemeinsam verwenden. In der quantifizierten Modallogik ist es wichtig, die Reihenfolge zu markieren, in der die Operatoren und Quantoren platziert werden. Es ist leicht zu erkennen, dass „Für alle x: x ist möglicherweise F“ nicht dasselbe bedeutet wie „Es ist möglich, dass für alle x: x ist F“: In einer fairen Lotterie hat jeder die Chance, der Gewinner zu sein, doch es ist unmöglich, dass jeder die Lotterie gewinnt. Auf ähnliche Weise müssen wir unterscheiden zwischen „Es gibt etwas, auf das F notwendigerweise zutrifft“ und „Es gibt notwendigerweise etwas, auf das F zutrifft“. Es ist notwendigerweise wahr, dass es jemanden gibt, verglichen mit dem niemand übergewichtiger ist. Diese Person ist jedoch nicht notwendigerweise so übergewichtig: Es ist durchaus möglich, dass die Person abnimmt und nicht länger ein Rekordfettkloß ist. Sätze, in denen der Modaloperator den Quantoren vorausgeht (wie jeweils im zweiten Satz der oben angeführten Satzpaare), wurden im Mittelalter als Modalsätze de dicto bezeichnet, und Sätze, in denen der Quantor dem Modaloperator vorausgeht (wie jeweils im ersten Satz der oben angeführten Satzpaare), als Modalaussagen de re bezeichnet. Diese Ausdrücke

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4 Logik

wurden von neuzeitlichen Modallogikern wiederbelebt, um sehr ähnliche Unterscheidungen vorzunehmen. Trotz der Parallelen zwischen der Modallogik und der Theorie der Quantifikation gibt es auch einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden, wenn wir in das System den Begriff der Identität einführen. In den von Quine eingeführten technischen Begriffen sind modale Logiken referentiell opak, 5 während es quantifizierende Kontexte nicht sind. Referentielle Opakheit wird von Lewis folgendermaßen definiert: E sei ein Satz der Form A = B (wobei A und B Bezug nehmende Ausdrücke sind). Dann gilt Folgendes: Wenn P ein Satz ist, der den Ausdruck A enthält und Q ein Satz, der P in jeder Hinsicht gleicht, außer dass er Ausdruck B enthält, wo der Satz P den Ausdruck A enthält, dann ist P referentiell opak, wenn P und E gemeinsam nicht Q implizieren. Es ist leicht zu erkennen, dass modale Kontexte in dieser Weise opak sind. Als Quine schrieb, war neun die Anzahl der Planeten, doch während „9 ist notwendigerweise größer als 7“ wahr ist, ist der Satz „Die Zahl der Planeten ist notwendigerweise größer als 7“ falsch. Aufgrund dieser Opakheit haben einige Logiker, insbesondere Quine, die Modallogik vollständig verworfen. Durch die Arbeit, die eine Reihe von Logikern in den 1960er Jahren unternahm – vor allem Føllesdal, Kripke und Hintikka –, gewann die Modallogik wieder an Ansehen. Die zentrale Idee der modernen Modallogik besteht darin, die Ähnlichkeiten zwischen Quantifikation und Modalität dadurch auszunutzen, dass Notwendigkeit als Wahrheit in allen möglichen Welten definiert wird und Möglichkeit als Wahrheit in irgendeiner möglichen Welt. Als einfache Wahrheit gilt dann die Wahrheit in der tatsächlichen Welt, die eine der möglichen Welten ist. Die Rede von möglichen Welten muss nicht mit metaphysischen Annahmen befrachtet sein: Für die Zwecke der modalen Semantik genügt ein beliebiges Modell mit der entsprechenden formalen Struktur. Um zu veranschaulichen, wie diese Semantik erläutert wird, stellen wir uns ein Universum vor, das lediglich zwei Objekte enthält, a und b, und drei Prädikate: F, G und H. Nehmen wir weiterhin an, dass es drei mögliche Welten in diesem Universum gibt, von denen Welt 2 der tatsächlichen Welt entspricht, die wir Alpha nennen wollen. Welt 1 Welt 2 Welt 3

Fa Fa Fa

~Ga ~Ga Ga

~Ha Ha ~Ha

~Fb ~Fb Fb

Gb Gb Gb

Hb ~Hb Hb

Wenn Notwendigkeit Wahrheit in allen möglichen Welten ist, gilt in diesem Universum „Notwendigerweise Fa“ und „Notwendigerweise Gb“. Die These „Wenn notwendigerweise p, dann p“ wird durch die Wahrheit von Fa und Gb in Alpha, der tatsäch5

Anm. d. Übers.: undurchsichtig, nicht transparent.

Die moderne Modallogik

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lichen Welt, veranschaulicht. Wenn Möglichkeit die Wahrheit in irgendeiner möglichen Welt ist, gilt in diesem Universum zum Beispiel „Möglicherweise Fb“ und „Möglicherweise Ga“, obwohl „Fb“ und „Ga“ in Alpha falsch sind. Die Iteration von Modalitäten, die – wie wir gesehen haben – zu Problemen führen kann, wird nun anhand der Beziehung zwischen verschiedenen möglichen Welten definiert. Eine mögliche Welt kann von einer anderen aus zugänglich sein oder nicht. Wenn wir einen einzelnen Operator verwenden, wie in dem Satz „Möglicherweise p“, so kann man dies so verstehen, dass wir damit sagen: „In einer von Alpha aus zugänglichen Welt Beta ist p der Fall“. Wenn wir den Modalausdruck wiederholen und sagen „Möglicherweise möglicherweise p“, meinen wir damit: „In einer Welt Gamma, die von der von der Welt Alpha aus zugänglichen Welt Beta zugänglich ist, ist p der Fall“. Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass jede von der Welt Beta aus zugängliche Welt auch von Alpha aus zugänglich ist: Ob dies der Fall ist, hängt davon ab, wie die Relation der Zugänglichkeit definiert ist. Dies wird seinerseits dadurch bestimmt, welches System – zum Beispiel welches von Lewis’ Systemen S1–S5 – das für unsere Zwecke passende ist. Wenn die Begriffe, die wir mit unserer Modallogik erfassen wollen, diejenigen der logischen Notwendigkeit und Möglichkeit sind, wird jede mögliche Welt von jeder anderen möglichen Welt aus zugänglich sein, da die Logik universal und transparent ist. Es gibt jedoch noch andere Formen von Notwendigkeit und Möglichkeit. Es gibt beispielsweise epistemische Notwendigkeit und Möglichkeit, bei der „Möglicherweise p“ bedeutet: „Nach allem, was uns an Gegenteiligem bekannt ist, p“. Philosophen haben den Begriff der Modalität in viele verschiedene Kontexte ausgedehnt, in denen es Paare von Operatoren gibt, die sich auf ähnliche Weise verhalten wie die paradigmatischen modalen Operatoren. In der Logik der Zeit entspricht „immer“ zum Beispiel „notwendigerweise“ und „manchmal“ zum Beispiel „möglich“, wobei beide Operatoren mithilfe der Negation wechselseitig durcheinander definierbar sind. In der deontischen Logik, der Logik der Verpflichtung, ist „vorgeschrieben“ der Notwendigkeitsoperator und „erlaubt“ der Operator der Möglichkeit. In diesen und anderen Fällen muss die Beziehung der Zugänglichkeit sorgfältig definiert werden: In einer Logik der verschiedenen Zeiten werden zum Beispiel künftige Welten, jedoch keine vergangenen Welten von der tatsächlichen Welt (d. h. von der Gegenwart) aus zugänglich sein. 6 Das Problem der referentiellen Opakheit taucht in allen diesen im weitesten Sinne modalen Kontexten auf. Man kann damit fertig werden, indem man eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten der Bezugnahme trifft. Um ein echter Name zu sein, muss ein Ausdruck, in der Terminologie von Kripke, ein starrer Desig6

Die Logik der Zeit und der Zeitstufen wurde erstmals von A. N. Prior systematisch studiert, und zwar in: A. N. Prior, Time and Modality (Oxford: Oxford University Press, 1957), und die deontische Logik von G. H. von Wright in: An Essay on Deontic Logic (Amsterdam: North-Holland, 1968).

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Ein Brief Freges an Husserl, in dem er seine Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung erläutert.

Die moderne Modallogik

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nator sein. Dies bedeutet: Er muss in jeder möglichen Welt dieselbe Bedeutung haben. Es gibt noch andere Ausdrücke, deren Bedeutung durch ihren Sinn festgelegt wird (zum Beispiel „der Entdecker des Sauerstoffs“), die sich daher von einer möglichen Welt zu einer anderen ändern können. Wenn diese Unterscheidung vorgenommen wurde, lässt sich leicht zugeben, dass eine Aussage wie „9 = die Anzahl der Planeten“ keine echte, zwei Namen verbindende Identitätsaussage ist. „9“ ist in der Tat ein starrer Designator, der seine Bedeutung in allen möglichen Welten behält, „die Anzahl der Planeten“ ist jedoch eine Beschreibung, die in verschiedenen Welten für verschiedene Zahlen steht.

5

Sprache

Im Laufe des 19. Jahrhunderts richteten Philosophen ihre Aufmerksamkeit immer stärker auf das Problem der Bedeutung. Was bezeichnen Wörter und Sätze? Wie bezeichnen sie es, und bezeichnen alle Wörter und Sätze auf gleiche Weise? Was ist die Beziehung zwischen Bedeutung und Wahrheit? Diese Fragen wurden jetzt mit einer Dringlichkeit gestellt, wie man sie seit dem Mittelalter nicht mehr gestellt hatte. 1

Frege über Sinn und Bedeutung Eine bahnbrechende Leistung in der Theorie der Bedeutung war Freges Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“ von 1892. Er beginnt mit einer Frage zu Aussagen, die Gleichheit im Sinne von Identität behaupten. Ist Gleichheit eine Beziehung? Und wenn es eine Beziehung ist: Ist es eine Beziehung zwischen Zeichen oder zwischen dem, wofür sie stehen? Es scheint, dass es keine Beziehung zwischen den Gegenständen sein kann, für die Zeichen stehen. Denn wenn es so wäre, dann könnte, wenn „a = b“ wahr ist, „a = a“ nicht von „a = b“ verschieden sein. Andererseits scheint es keine Beziehung zwischen Zeichen sein zu können, weil Namen willkürlich sind, und wenn ein Satz der Form „a = b“ eine Beziehung zwischen Zeichen ausdrückt, könnte er keine Tatsachen über die außersprachliche Wirklichkeit ausdrücken. Ein Satz wie „Der Morgenstern ist identisch mit dem Abendstern“ drückt jedoch keine sprachliche Tautologie, sondern eine astronomische Entdeckung aus. Frege löste dieses Problem, indem er zwischen zwei verschiedenen Arten der Bezeichnung unterschied. Während andere Philosophen von Bedeutung reden, führte Frege einen Unterschied zwischen der Bedeutung eines Ausdrucks (des Gegenstandes, den er bezeichnet, wie der Planet Venus die Bedeutung des Ausdrucks „der Morgenstern“ ist) und dem Sinn des Ausdrucks ein (der besonderen Art, auf die ein Zeichen das von ihm Bezeichnete darstellt). „Der Morgenstern“ hat einen anderen Sinn als „der Abendstern“, obwohl entdeckt wurde, dass beide Ausdrücke die Venus bezeichnen. Frege behauptet, dass eine Identitätsaussage wahr und informativ ist, wenn auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens Namen stehen, die zwar dieselbe Bedeutung, aber einen unterschiedlichen Sinn haben. Das Wort „Name“ wird von Frege, wie das Beispiel zeigt, in einem weiten Sinn verwendet, der komplexe Bezeich-

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Für mittelalterliche Theorien der Bedeutung vergleiche Band II, 138 f., 152 f.

Frege über Sinn und Bedeutung

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nungen von Gegenständen einschließt. Er ist bereit, alle derartigen Bezeichnungen Eigennamen zu nennen (CP 157 f.). Frege wendete den Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung auf alle möglichen Sätze an. Seine Erklärung der Bedeutung enthält Elemente auf drei Ebenen: Zeichen, ihr Sinn und ihre Bedeutungen. Durch die Verwendung von Zeichen drücken wir einen Sinn aus und bezeichnen einen Gegenstand (CP 161). Frege glaubte, dass in einer wohlgeregelten Sprache jedes Zeichen einen und nur einen Sinn haben würde. In natürlichen Sprachen sind Wörter wie „Bank“ oder „See“ doppeldeutig, und ein Name wie „Aristoteles“ kann auf vielfältige Weise paraphrasiert werden. Wir müssen damit zufrieden sein, wenn dasselbe Wort im selben Kontext denselben Sinn hat. Andererseits ist es nicht notwendig, nicht einmal in einer idealen Sprache, dass jeder Sinn nur ein Zeichen hat. Derselbe Sinn kann in verschiedenen Sprachen oder sogar in derselben Sprache durch verschiedene Zeichen ausgedrückt werden. In einer guten Übersetzung bleibt der Sinn des Originaltextes erhalten. Was bei der Übersetzung verloren geht, ist dasjenige, was Frege „die Farbe“ des Textes nennt. Die Farbe eines Textes ist für die Dichtung wichtig, jedoch nicht für die Logik. Sie ist nicht auf die Weise objektiv, auf die es der Sinn ist. Der Sinn eines Wortes ist das, was wir erfassen, wenn wir das Wort verstehen. Er ist etwas ganz anderes als ein inneres Bild, obwohl sich für mich – wenn ein Zeichen einen konkreten Gegenstand bedeutet – sehr wohl ein geistiges Bild damit verbinden kann. Geistige Vorstellungsbilder sind subjektiv und von Person zu Person verschieden: Ein Bild ist mein Bild oder dein Bild. Der Sinn eines Zeichens ist im Vergleich dazu der gemeinsame Besitz aller Benutzer einer Sprache. Gedanken können von einer Generation an eine andere weitergegeben werden, weil der Sinn auf diese Weise öffentlich zugänglich ist. Für Frege haben nicht nur Eigennamen – einfache und komplexe – Sinn und Bedeutung. Wie steht es mit ganzen Sätzen, die Gedanken ausdrücken? Ist der Gedanke, d. h. der Inhalt des Satzes, sein Sinn oder seiner Bedeutung? „Nehmen wir einmal an, der Satz habe eine Bedeutung! Ersetzen wir nun in ihm ein Wort durch ein anderes von derselben Bedeutung, aber anderem Sinne, so kann dies auf die Bedeutung des Satzes keinen Einfluß haben. Nun sehen wir aber, daß der Gedanke sich in solchem Fall ändert; denn es ist zum Beispiel der Gedanke des Satzes „der Morgenstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper“ verschieden von dem des Satzes „der Abendstern ist ein von der Sonne beleuchteter Körper“. Jemand, der nicht wüßte, daß der Abendstern der Morgenstern ist, könnte den einen Gedanken für wahr, den anderen für falsch halten. Der Gedanke kann also nicht die Bedeutung des Satzes sein, vielmehr werden wir ihn als den Sinn aufzufassen haben.“ (CP 162) 2

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Zitiert nach: „Über Sinn und Bedeutung“, in: G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, herausgegeben von G. Patzig (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980), 46 f.

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Wenn der von einem Satz ausgedrückte Gedanke nicht seine Bedeutung ist: Hat der Satz dann überhaupt eine Bedeutung? Frege gibt zu, dass es Sätze geben kann, die keine Bedeutung haben, zum Beispiel Sätze, die in fiktiven Erzählungen wie der Odyssee vorkommen. Doch der Grund, weshalb diese Sätze keine Bedeutung haben, ist, dass sie Namen wie Odysseus enthalten, die keine Bedeutung haben. Andere Sätze haben eine Bedeutung, und durch die Betrachtung von Sätzen in fiktiven Texten können wir ermitteln, worin genau diese Bedeutung besteht. Wir müssen erwarten, dass die Bedeutung eines Satzes durch die Bedeutung der Teile des Satzes festgelegt wird. Fragen wir daher danach, was in einem Satz fehlt, wenn einem Teil des Satzes die Bedeutung fehlt. Wenn ein Name keine Bedeutung hat, wirkt sich dies auf den Gedanken nicht aus, da dieser nur durch den Sinn seiner Teile festgelegt wird, nicht durch deren Bedeutung. Nur wenn wir die Odyssee nicht als einen Mythos, sondern als wissenschaftlichen Text betrachten, wenn wir die Sätze, die sie enthält, im Ernst daraufhin befragen, ob sie wahr oder falsch sind, müssen wir „Odysseus“ eine Bedeutung zuschreiben. „Warum wollen wir denn aber, daß jeder Eigenname nicht nur einen Sinn, sondern auch eine Bedeutung habe? Warum genügt uns der Gedanke nicht? Weil und soweit es uns auf einen Wahrheitswert ankommt.“ (CP 163) 3 Wir sind, behauptet Frege, dazu gezwungen anzuerkennen, dass die Bedeutung eines Satzes sein Wahrheitswert ist, das Wahre oder gegebenenfalls das Falsche. Jeder ernsthaft behauptete Satz im Indikativ ist ein Name für das eine oder andere dieser Objekte. Ein wahrer Satz hat dieselbe Bedeutung wie alle anderen wahren Sätze, und Entsprechendes gilt für alle falschen Sätze. Die Beziehung zwischen einem Satz und seinem Wahrheitswert ist dann dieselbe wie diejenige zwischen einem Namen und seiner Bedeutung. Dies ist eine überraschende Schlussfolgerung: Es ist doch gewiss etwas anderes, zu behaupten, dass Schweine Flügel haben, als irgendetwas einen Namen zu geben. Frege würde dem zustimmen; doch der Grund dafür ist, dass, einen Satz zu behaupten, etwas ganz anderes ist, als einen Satz aus einem Subjekt und einem Prädikat zusammenzufügen. „Subjekt und Prädikat sind ja (im logischen Sinne verstanden) Gedankenteile; sie stehen auf derselben Stufe für das Erkennen. Man gelangt durch die Zusammenfügung von Subjekt und Prädikat immer nur zu einem Gedanken, nie von einem Gedanken zu dessen Wahrheitswert.“ (CP 164) Sätze können ohne Behauptung vorkommen, zum Beispiel als Nebensatz in einem Bedingungssatz wie etwa: „Wenn Schweine Flügel haben, dann können Schweine fliegen“. Obwohl jeder im Ernst behauptete Satz einen Wahrheitswert benennt (in diesem Fall das Falsche), verpflichtet die bloße Verwendung eines Satzes den Benutzer nicht zur Angabe eines Wahrheitswertes. Nur wenn wir einen Satz behaupten, sagen wir, dass er ein Name des Wahren ist. Im Anschluss an Frege haben viele Philosophen diese Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung verwendet und anerkannt, dass es einen wichtigen Unterschied 3

Zitiert nach: „Über Sinn und Bedeutung“, in: G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, herausgegeben von G. Patzig (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980), 48.

Die pragmatistische Auffassung von Sprache und Wahrheit

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zwischen Prädikation und Behauptung gibt, doch fast alle haben seine Vorstellung verworfen, dass vollständige Sätze auf einen Wahrheitswert referieren. In seinen späteren Schriften scheint Frege selbst die Idee aufgegeben zu haben, dass es zwei große Gegenstände, das Wahre und das Falsche, gibt. Stattdessen gelangte er zu der Überzeugung, dass Wahrheit kein Gegenstand, sondern eine Eigenschaft ist, wenn auch eine nicht definierbare Eigenschaft eigener Art (CP 353). Gegen Ende seines Lebens interessierte sich Frege mehr für diejenigen Aspekte der Sprache, die von seinem System der Logik nicht erfasst wurden – für die „Farbe“ in den Ausdrücken der Gedanken. Die wissenschaftliche Sprache stellte die Gedanken sozusagen in Schwarzweiß vor; doch in den Geisteswissenschaften können Sätze Gedanken mit Ausdrücken des Gefühls in ein farbenfrohes Kleid einhüllen. Wir verwenden Ausrufe und Ausdrücke wie „Ach“ oder „Gott sei Dank!“, und wir machen von emotionsgeladenen Wörtern Gebrauch, wenn wir statt von einem „Hund“ von einem „Köter“ reden. Solche Eigenschaften von Sätzen sind nicht Gegenstand der Logik, weil sie auf ihren Wahrheitswert keinen Einfluss haben. Eine Aussage, die statt des Wortes „Hund“ das Wort „Köter“ enthält, wird nicht allein deshalb falsch, weil die Person, die sie ausspricht, die Feindseligkeit, die das Wort zum Ausdruck bringt, nicht empfindet (PW 140). In seinem Aufsatz „Der Gedanke“ betrachtet Frege die Eigenschaften der Sprache, die durch die verschiedenen Zeitstufen des Verbs sowie durch indexikalische Ausdrücke wie „heute“, „hier“ und „ich“ dargestellt werden. Wenn ein Satz ein Wort im Präsens enthält, wie zum Beispiel der Satz „Es schneit“, dann muss man, wenn man den ausgedrückten Gedanken erfassen möchte, wissen, zu welcher Zeit der Satz geäußert wird. Entsprechendes gilt für die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular. Der Satz „Ich habe Hunger“ drückt einen anderen Gedanken aus, wenn Peter oder wenn Paul ihn ausspricht. Der eine Gedanke kann wahr und der andere falsch sein. Ein und derselbe Satz kann daher, in verschiedenen Kontexten, verschiedene Gedanken ausdrücken. Auch das Gegenteil kann Frege zufolge der Fall sein. Wenn ich am 9. Dezember sage „Gestern hat es geschneit“, so drücke ich denselben Gedanken aus, als ob ich am 8. Dezember sage „Es schneit heute“. Es blieb Logikern späterer Generationen vorbehalten, den Versuch zu unternehmen, derartige Komplikationen in formale Systeme zu integrieren.

Die pragmatistische Auffassung von Sprache und Wahrheit Charles Sanders Peirce, der unabhängig von Frege eine Theorie der Quantifikation entwickelt hatte, drückte viele von Freges sprachphilosophischen Einsichten in einer anderen Terminologie aus. Beide Philosophen verwarfen die herkömmliche Art, zwischen Subjekt und Prädikat zu unterscheiden, und analysierten Aussagen in Elemente von zwei Arten, von denen eines ein vollständiges Symbol (die Argumente in Freges Begriffsschrift) und das andere ein unvollständiges, oder ungesättigtes, Symbol (die

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Funktionen der Begriffsschrift) war. Eigennamen, die Frege als „Argumente“ bezeichnete, nannte Peirce „Indizes“, und Freges Begriffsausdrücke oder Funktionen wurden von Peirce „Ikons“ genannt. Eine für Peirce besonders wichtige Klasse der Ikons waren die Ausdrücke für Beziehungen. Er schrieb: „In der Aussage einer Beziehung sollten die Bezeichnungen der Korrelate als ebenso viele logische Subjekte und die Beziehung selbst als Prädikat betrachtet werden.“ In seiner Behandlung von Sätzen, in denen es um zweistellige (oder dyadische) Relationen geht, wie zum Beispiel in dem Satz „John liebt Mary“, unterschied sich Peirce kaum von Frege. Er erweiterte den Begriff der Relation jedoch in zwei Richtungen, indem er dasjenige untersuchte, was er als die Valenz (d. h. als eine Zahl der Argumente) verschiedener Relationen bezeichnete. Er war besonders an dreistelligen Relationen interessiert (wie zum Beispiel „Hans gab Maria Flocky“) und außerdem an „polyadischen“ Relationen mit mehr als einem Subjekt. Für einfache einstellige Prädikate wie „[…] ist weise“ führte er die Bezeichnung „monadische Relation“ ein. Er war sogar bereit, eine vollständige Aussage als „medadische Relation“ zu bezeichnen – d. h. eine Relationsaussage mit null (griechisch meden) ungesättigten Stellen. Peirces’ Logik und Theorie der Sprache war in eine allgemeine Theorie der Zeichen eingebettet, die er als „Semiotik“ bezeichnete und der er große Bedeutung beimaß. Ein Zeichen steht für ein Objekt, wenn es von einem intelligenten Wesen verstanden oder gedeutet wird. Die Interpretation ist selbst ein weiteres Zeichen. Peirce nannte das externe Zeichen ein „Representamen“ und das Zeichen, wie es verstanden wurde, als „Interpretant“. Die semiotische Funktion von Zeichen ist eine triadische Relation zwischen Representamen, Objekt und Interpretant. Peirce teilte die Zeichen in drei Klassen ein. Es gibt natürliche Zeichen: Wolken sind zum Beispiel ein Zeichen für Regen, und ein Baum, dem ein Teil seiner Rinde fehlt, kann ein Zeichen für die Gegenwart von Rehen sein. Die nächste Klasse der Zeichen sind ikonische Zeichen, deren Bezeichnung auf der Ähnlichkeit mit ihren Objekten beruht. Die offensichtlichsten Beispiele hierfür sind naturalistische Gemälde und Skulpturen, doch es gibt auch noch andere, wie zum Beispiel Landkarten. Ein ikonisches Zeichen hat zwei wesentliche Eigenschaften: (1) Es sollte mit seinem Gegenstand einige Eigenschaften gemeinsam haben, die beide haben könnten, wenn es das jeweils andere nicht gäbe; (2) die Methode der Interpretation dieser Eigenschaft sollte durch eine Konvention festgelegt sein. Und schließlich gibt es noch Symbole, deren bei Weitem wichtigstes Beispiel Wörter sind, zu denen aber auch solche Dinge wie Uniformen und Verkehrsschilder gehören. Ihre Bedeutung wird, wie die von ikonischen Zeichen, durch Konvention festgelegt, doch im Gegensatz zu ikonischen Zeichen stützt sich ihre Funktion nicht auf irgendeine Ähnlichkeit mit ihren Gegenständen. Seit Peirce haben Theoretiker die Semiotik in drei Disziplinen unterteilt: in die Syntaktik, das Studium der Grammatik und all dessen, was der grammatischen Struktur zugrunde liegt; die Semantik, das Studium der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit; und die Pragmatik, das Studium des gesellschaftlichen Kontextes

Die pragmatistische Auffassung von Sprache und Wahrheit

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und der Absichten und Folgen der Kommunikation. Peirce’ eigene Arbeiten beschäftigten sich mit Fragen, die in den Grenzbereichen aller drei Disziplinen lagen. Doch die Diskussionen in den Arbeiten seiner Nachfolger konzentrierten sich, obwohl ihre Schule den Namen „Pragmatismus“ hatte, hauptsächlich auf zwei Schlüsselbegriffe der Semantik, d. h. auf Bedeutung und Wahrheit. Peirce und James erklärten Bedeutung auf ähnliche Weise: Um herauszufinden, was eine Äußerung bedeutet, musste man erforschen, was es für praktische Konsequenzen haben würde, wenn sie wahr wäre; und wenn es keinen Unterschied zwischen den Konsequenzen zwei verschiedener Überzeugungen gab, dann handelte es sich faktisch um dieselbe Überzeugung. Doch James behauptete, dass die Wahrheit einer Überzeugung, und nicht nur ihre Bedeutung, von ihren Konsequenzen abhänge oder genauer: von den Konsequenzen, die sich aus dem Überzeugtsein ergeben. Wenn ich glaube, dass p etwas ist, was sich auf lange Sicht bezahlt macht, etwas, dessen Gesamtfolgen für mein Leben vorteilhaft sind, dann ist p für mich wahr. Er sagt uns, die Behauptung des Pragmatisten sei folgende: „Wahrheit, konkret betrachtet, ist eine Eigenschaft unserer Überzeugungen, und dies sind Einstellungen, die auf Befriedigungen folgen. Die Ideen, um die sich die Befriedigungen gruppieren, sind in der Hauptsache lediglich Hypothesen, die eine Überzeugung heraus- oder auffordern, sich zu artikulieren und auf sie zu gründen. Die Wahrheitsidee des Pragmatisten ist eine genau solche Herausforderung. Er findet es höchst befriedigend sie zu akzeptieren, und bezieht dementsprechend seine eigene Position.“ (T 199)

Er behauptete, dass der Pragmatismus dem Realismus in keiner Weise widerspreche. Wahrheit und Wirklichkeit seien nicht dasselbe. Die Wahrheit sei etwas, das über die Wirklichkeit gewusst, gedacht oder gesagt wird. Tatsächlich sei die Idee der Wirklichkeit, die von jedem, der von ihr überzeugt ist, unabhängig ist, die Grundlage der pragmatischen Definition der Wahrheit. Um als wahr gelten zu können, muss jede Aussage mit einer solchen Wirklichkeit übereinstimmen. „Der Pragmatismus definiert ‚Übereinstimmen‘ so, dass es bestimmte, wirkliche oder mögliche, Weisen des ‚Funktionierens‘ bedeutet. Wenn daher meine Aussage ‚Der Schreibtisch existiert‘ von einem Schreibtisch, den du als wirklich anerkennst, soll wahr sein können, muss sie mich dazu führen können, deinen Schreibtisch zu schütteln, mich mit Worten zu erklären, die diesen Schreibtisch für deinen Geist wachrufen, eine Zeichnung anzufertigen, die du als dem Schreibtisch ähnlich ansiehst etc. Nur auf diese Weise hat es Sinn zu sagen, dass er mit dieser Wirklichkeit übereinstimmt, nur so erlangt meine Aussage für mich die Befriedigung, dass ich höre, dass du sie bestätigst.“ (T 218)

Passagen wie diese legen den Eindruck nahe, dass der Pragmatismus den Wahrheitsbegriff des gesunden Menschenverstandes erweitert, statt ihn zu reduzieren. Es scheint, dass – damit „p“ soll wahr sein können – p nicht nur der Fall sein muss,

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sondern es muss tatsächlich verifiziert worden oder zumindest verifizierbar sein, dass p der Fall ist. Einem Gegner, der protestierte, dass, wenn eine Überzeugung wahr ist, der Gegenstand der Überzeugung existiert, erwiderte James: „er muss existieren, nach soliden pragmatischen Prinzipien“. Wie wird die Welt für mich verändert, fragte er, wenn ich eine meiner Überzeugungen für wahr halte? „Erstens muss ein Gegenstand dort für mich gefunden werden können (oder es müssen Zeichen eines solchen Gegenstandes gefunden werden), die mit der Überzeugung übereinstimmen. Zweitens darf einer solchen Überzeugung durch nichts Sonstiges, dessen ich mir bewusst bin, widersprochen werden.“ (T 275) Trotz seiner schroffen, hemdsärmeligen Darstellungsweise war James ein oft nur schwer fassbarer Autor, und es ist durchaus nicht einfach, ihn in der Frage, ob eine Aussage wahr sein kann, ohne dass ihr eine Tatsache korrespondiert, auf eine eindeutige Antwort festzulegen. Er versucht, die Frage zu vermeiden, indem er versucht, den Begriff der Wahrheit zu relativieren. Im menschlichen Leben, sagt er uns, könne das Wort „Wahrheit“ nur „relativ zu irgendeinem, der etwas für wahr hält“, verwendet werden. Kritiker haben eingewendet, dass es einige Wahrheiten gibt (zum Beispiel über die vormenschliche Geschichte), die niemand jemals wissen wird. James antwortete hierauf, dass diese Wahrheiten, obwohl es keine Gegenstände wirklichen Wissens seien, dennoch stets Gegenstände möglichen Wissens seien und dass wir bei der Definition der Wahrheit doch sicherlich dem Wirklichen Vorrang vor dem bloß Imaginären geben sollten. Doch es gibt noch einen weiteren, schwerwiegenderen Einwand gegen seine Behauptung, dass Wahrheit relativ zu dem ist, der sie geltend macht: Wenn ich behaupte, dass p wahr ist und du behauptest, dass nicht-p wahr ist, dann ist es doch gewiss eine echte Frage, wer von uns beiden Recht hat.

Russells Theorie des Kennzeichnens Einer von James’ frühesten und schärfsten Kritikern war Bertrand Russell, der die Wahrheitstheorie des Pragmatismus im Jahre 1908 in einem Aufsatz mit dem Titel „Transatlantische Wahrheit“ angriff. „Dem Pragmatismus zufolge“, schrieb er, „bedeutet der Satz ‚Es ist wahr, daß andere Menschen existieren‘ : ‚Es ist nützlich zu glauben, daß andere Menschen existieren‘. Doch wenn dies so ist, dann sind die beiden Sätze lediglich verschiedene Wörter für dieselbe Aussage. Wenn man daher den einen für wahr hält, hält man den anderen für wahr.“ (T 278) Doch Russell hielt dem entgegen, dass die eine Aussage wahr und die andere falsch sein könne und dass es im Allgemeinen im praktischen Leben oft wesentlich leichter sei, zu ermitteln, ob p wahr ist, als festzustellen, ob es gut ist, p zu glauben. Er schrieb: „Es ist wesentlich leichter, die einfache Frage zu beantworten ‚Sind Päpste immer unfehlbar gewesen?‘ als die Antwort auf die Frage zu finden, ob die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, daß man sie für unfehlbar hält, auf ’s Ganze gesehen gut sind.“ (T 273) In den Jahren, bevor er die Principia Mathematica schrieb, konzentrierte sich

Russells Theorie des Kennzeichnens

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Russells philosophisches Interesse weniger auf das Wesen der Wahrheit, als vielmehr auf die verschiedenen Arten der Bedeutung, die Wörter und Ausdrücke haben können, sowie darauf, wie es möglich war, dass ihnen eine Bedeutung fehlte. Als er die Principia Mathematica schrieb, hatte er eine sehr einfache Theorie der Bedeutung, die zu einem sehr umfassenden Seinsverständnis führte, das an Parmenides erinnert. 4 „Sein ist dasjenige, was jedem denkbaren Ausdruck zukommt, jedem Gegenstand des Denkens – kurz gesagt: allem, was in irgendeiner möglichen, wahren oder falschen Aussage vorkommen kann, sowie allen diesen Aussagen selbst […] ‚A ist nicht‘ muss immer falsch oder sinnlos ein, denn wenn A nicht wäre, könnte von ihm nicht gesagt werden, dass es nicht ist. ‚A ist nicht‘ impliziert, dass es einen Ausdruck A gibt, dem das Sein abgesprochen wird, und somit, dass A existiert. Daher muss, soll ‚A ist nicht‘ kein sinnloses Geräusch sein, diese Aussage falsch sein. Was immer A sein mag, es hat gewiss ein Sein. Zahlen, die Götter Homers, Relationen, Schimären und vierdimensionale Räume haben alle ein Sein. Denn wären es nicht Entitäten irgendeiner Art, könnten wir keine Aussagen darüber machen. Demnach ist Sein eine allgemeine Eigenschaft von allem, und wenn man irgendetwas erwähnt, beweist man, dass es Sein hat.“ (PM 449)

Es dauerte nicht lange, bis er zu der Überzeugung gelangte, dass ein System, welches zwischen verschiedenen Arten unterschied, auf die Zeichen etwas bedeuten können, glaubwürdiger war als ein System, in dem die Welt eine Unzahl verschiedener Arten von Gegenständen enthielt, die alle durch die einfache Relation der Bezeichnung mit Symbolen in Beziehung standen. Schon bald übernahm er zum Beispiel Freges Methode, die Existenz von etwas zu behaupten oder zu leugnen. Wie er es in den Principia Mathematica ausdrücken sollte: „Angenommen, wir sagen ‚Das runde Quadrat existiert nicht‘. Es scheint offensichtlich, dass dies eine wahre Aussage ist, und dennoch können wir sie nicht so verstehen, dass damit die Existenz eines bestimmten Gegenstandes namens ‚das runde Quadrat‘ bestritten wird. Denn wenn es ein solches Objekt gäbe, würde es existieren: Wir können nicht zunächst annehmen, dass es ein bestimmtes Objekt gibt und dann anschließend bestreiten, dass es ein solches Objekt gibt. Wann immer man vom grammatischen Subjekt einer Aussage annehmen kann, dass es nicht existiert, ohne die Aussage dadurch sinnlos zu machen, ist es offensichtlich, dass das grammatische Subjekt kein Eigenname ist, d. h. kein Name, der direkt für irgendeinen Gegenstand steht. Daher muss die Aussage in allen derartigen Fällen so analysiert werden können, dass dasjenige, was das grammatische Subjekt war, dadurch verschwindet. Wenn wir daher sagen ‚Das runde Quadrat existiert nicht‘ können wir, in einem ersten Versuch einer solchen Analyse stattdessen sagen ‚Es ist falsch, dass es einen Gegenstand x gibt, der sowohl rund als auch quadratisch ist!‘“ (PM, 2nd edn., 66) 4

Siehe Band I, 213 ff.

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Russell war weiterhin der Überzeugung, dass ein echter Eigenname „direkt für irgendeinen Gegenstand steht“. Doch er nahm an, dass nicht alle scheinbaren Namen echte Namen waren. Er glaubte beispielsweise, dass Frege Unrecht hatte, als er „Aristoteles“ und „der Lehrer Alexanders“ als gleichartige Symbole behandelte, indem er sie beide als Namen mit einem Sinn und einer Bedeutung ansah. Wenn „Aristoteles“ ein echter Eigenname war, so behauptete Frege, hatte er keinen Sinn, sondern seine Bedeutung (meaning) hatte er allein dadurch, dass er auf etwas Bezug (reference) nahm. Andererseits war ein Ausdruck wie „der Lehrer Alexanders“ überhaupt kein Name, denn im Gegensatz zu einem echten Namen bestand er aus Teilen, die selbst Symbole waren. Russells Erklärung solcher Ausdrücke wird seine Theorie der Kennzeichnungen (definite descriptions) genannt. Er legte sie im Jahre 1905 erstmals in seinem Aufsatz „On Denoting“ („Über das Kennzeichnen“) 5 dar. Betrachten wir den Satz: „Der Autor von Hamlet war ein Genie“. Damit dies wahr sein kann, muss es der Fall sein, dass nur eine Person Hamlet geschrieben hat (da ansonsten niemand rechtmäßig als „der Autor von Hamlet“ bezeichnet werden kann). Russell schlug daher vor, den Satz auf folgende Weise in drei Elemente zu zerlegen: Für irgendein x gilt (1) x schrieb Hamlet und (2) Für alle y: Wenn y Hamlet schrieb, ist y mit x identisch und (3) x war ein Genie. Das erste Element besagt, dass es mindestens ein Individuum gibt, das Hamlet geschrieben hat. Das zweite Element stellt fest, dass nicht mehr als ein Individuum Hamlet geschrieben hat. Nachdem auf diese Weise festgestellt ist, dass genau ein Individuum Hamlet schrieb, verwendet der analysierte Satz das dritte Element, um darüber hinaus festzustellen, dass dieses besondere Individuum ein Genie war. In dem unanalysierten Satz sieht „der Autor von Hamlet“ wie ein komplexer Name aus und wäre im System von Frege auch so behandelt worden. In der Analyse von Russell taucht kein solcher Nominalausdruck auf, sondern stattdessen haben wir es mit einer Kombination aus Prädikaten und Quantoren zu tun. Die Analyse soll nicht nur in Fällen – wie diesem – gelten, wenn es einen Gegenstand gibt, auf den die Kennzeichnung zutrifft, sondern auch dann, wenn die Beschreibung gegenstandslos ist, wie in dem Ausdruck „der gegenwärtige König von Frankreich“. Ein Satz wie „Der König von Frankreich hat eine Glatze“ stellt sich als falsch heraus, wenn er nach dieser Methode von Russell analysiert wird. Betrachten wir die folgenden beiden Sätze: (1) Der Souverän des Vereinigten Königreichs ist männlich. (2) Der Souverän der Vereinigten Staaten ist männlich. 5

Anm. d. Übers.: In deutscher Übersetzung enthalten in: B. Russell, Philosophische und politische Aufsätze, herausgegeben von U. Steinvorth (Stuttgart: Reclam, 1971), 3–22.

Die Bildtheorie des Satzes

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Keiner dieser beiden Sätze ist wahr, doch die Gründe hierfür sind verschieden. Der erste Satz ist einfach falsch, weil der Souverän des Vereinigten Königreichs, obwohl so etwas existiert, eine Frau ist. Der zweite Satz ist nicht wahr, weil die Vereinigten Staaten keinen regierenden Souverän haben. Nach Russells Analyse ist dieser Satz nicht nur nicht wahr, sondern falsch, und seine Negation „Es ist nicht der Fall, dass der Souverän der Vereinigten Staaten männlich ist“ ist demnach wahr. (Andererseits ist der Satz „Der Souverän der Vereinigten Staaten ist männlich“ ebenso wie der zweite der obigen Sätze falsch.) Was ist der Zweck dieser komplizierten Analyse? Da es keinen Souverän der Vereinigten Staaten gibt, ist es natürlich, anzunehmen, dass Satz (2) nicht falsch, sondern irreführend ist. Die Frage nach seinem Wahrheitswert stellt sich nicht. Für unsere Verwendung solcher Kennzeichnungen in der Umgangssprache trifft dies zweifellos zu, doch das Ziel von Frege und Russell bestand darin, eine Sprache für die Zwecke der Logik und Mathematik zu konstruieren, die ein präziseres Instrument als die Umgangssprache war. Beide hielten es für unerlässlich, dass eine solche Sprache nur Ausdrücke mit einem definitiven Sinn enthalten sollte, worunter sie verstanden, dass alle Sätze, die diese Ausdrücke enthielten, einen Wahrheitswert haben sollten. Wenn wir in unserem System Sätze zulassen, die keinen Wahrheitswert haben, werden Schlussfolgerungen und logische Ableitungen unmöglich. Frege schlug zur Vermeidung von Sätzen ohne Wahrheitswert verschiedene willkürliche Festlegungen vor. Russells Analyse, nach der „der Souverän von X“ in keinem Fall ein kennzeichnender Ausdruck ist, erzielt die Bestimmtheit, nach der er und Frege gesucht hatten, und es gelingt ihm mit wesentlich weniger künstlichen Mitteln. Es ist leicht zu erkennen, dass „das runde Quadrat“ nichts bezeichnet, da es sich um einen offensichtlich selbstwidersprüchlichen Ausdruck handelt. Doch vor einer Untersuchung kann es alles andere als offensichtlich sein, ob eine komplizierte mathematische Formel einen verborgenen Widerspruch enthält. Und wenn dies der Fall ist, werden wir es durch eine logische Untersuchung nur dann feststellen können (d. h., indem wir eine reductio ad absurdum herleiten), wenn wir sicher sein können, dass Sätze, die die Formel enthalten, einen Wahrheitswert enthalten.

Die Bildtheorie des Satzes In seinem Tractatus Logico-Philosophicus stützte sich Wittgenstein auf Russells Theorie der Kennzeichnungen, um die Beschreibung komplexer Gegenstände zu analysieren. Er schrieb: „Jede Aussage über Komplexe läßt sich in eine Aussage über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen, welche die Komplexe vollständig beschreiben.“ (TLP 2.0201) Betrachten wir die folgende Aussage (die kein Beispiel von Wittgenstein ist): Österreich-Ungarn ist mit Russland verbündet.

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5 Sprache

Der Satz war nicht wahr, als Wittgenstein den Tractatus schrieb, weil sich ÖsterreichUngarn mit Russland im Krieg befand. Er ist gegenwärtig aus einem ganz anderen Grund nicht wahr, weil die als „Österreich-Ungarn“ bezeichnete politische Einheit nicht mehr existiert. Wenn wir uns Russells Analyse anschließen, werden wir sagen, dass der Satz in beiden Fällen sinnvoll, aber falsch ist. Die beiden Möglichkeiten des Falschseins liegen offensichtlich parallel zu denjenigen des Satzes „Der Souverän von X ist männlich“. „Österreich-Ungarn“ kann als eindeutige Kenzeichnung verstanden werden, etwa als „die Einheit von Österreich und Ungarn“. Wenn wir Wittgenstein folgen und den Satz gemäß der Theorie von Russell analysieren, erhalten wir: Für ein x und ein y gilt: und und und und

x = Österreich y = Ungarn x ist vereinigt mit y x ist verbündet mit Russland y ist verbündet mit Russland.

Auf einfachere Weise können wir sagen: „Österreich-Ungarn ist mit Russland verbündet“ bedeutet: „Österreich ist mit Russland verbündet und Ungarn ist mit Russland verbündet, und Österreich ist mit Ungarn vereinigt.“ Im Tractatus hat Wittgenstein auf die Möglichkeit dieser Art von Analyse zahlreiche metaphysische Aussagen gegründet. In der Sprachphilosophie, schrieb er, sei es Russells Verdienst, „gezeigt zu haben, daß die scheinbare logische Form des Satzes nicht seine wirkliche sein muß“ (TLP 4.0031). Als er den Tractatus schrieb, glaubte Wittgenstein, dass die Sprache die Struktur des Gedankens bis zur Unkenntlichkeit verschleiere. Die Aufgabe der Philosophie bestehe darin, durch Analyse die nackte Form des Gedankens unter dem Kleid der Umgangssprache sichtbar zu machen. Komplexe Sätze seien auf elementare zurückzuführen, und elementare Sätze würden sich als Bilder der Wirklichkeit erweisen. Am 29. September 1914 notierte Wittgenstein in seinem Tagebuch, wie ihm der Gedanke kam, dass Sätze im Wesentlichen Bildcharakter haben: „Der allgemeine Begriff des Satzes führt auch einen ganz allgemeinen Begriff der Zuordnung von Satz und Sachverhalt mit sich: Die Lösung aller meiner Fragen muß höchst einfach sein! Im Satz wird eine Welt probeweise zusammengestellt. (Wie wenn im Pariser Gerichtssaal ein Automobilunglück mit Puppen etc. dargestellt wird.) Daraus muß sich (wenn ich nicht blind wäre) sofort das Wesen der Wahrheit ergeben.“ (NB 7) 6

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Zitiert nach: L. Wittgenstein, Tagebücher 1914–16 (Frankfurt: Suhrkamp, 1969), Band 1, 94 f.

Die Bildtheorie des Satzes

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Die These, dass ein Satz ein Bild ist, ist nicht so unplausibel, wenn wir uns klarmachen, dass Wittgenstein nicht nur Gemälde, Zeichnungen und Fotografien und nicht nur dreidimensionale Modelle als Bilder gelten ließ, sondern auch Dinge wie Landkarten, Partituren und Schallplatten. Seine Bildtheorie lässt sich vielleicht am besten als allgemeine Theorie der Darstellung ansehen. Bei jeder Darstellung sind zwei Dinge zu berücksichtigen: (a) dasjenige, was dargestellt wird, und (b) ob das Dargestellte richtig oder falsch wiedergegeben wird. Dem Unterschied zwischen diesen beiden Aspekten einer Darstellung entspricht im Falle eines Satzes der Unterschied zwischen dem, was der Satz bedeutet, und seiner Wahrheit oder Falschheit – d. h. zwischen seinem Sinn und seinem Wahrheitswert. Sollen bei einer Gerichtsverhandlung ein Spielzeuglastwagen und ein Spielzeugkinderwagen eine Kollision zwischen einem Lastwagen und einem Kinderwagen darstellen können, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss der Spielzeuglastwagen den wirklichen Lastwagen vertreten und der Spielzeugkinderwagen den wirklichen Kinderwagen: Die Elemente des Modells müssen die Elemente der darzustellenden Situation vertreten. Wittgenstein bezeichnet dies als die abbildende Beziehung, die das Bild zu einem Bild macht (TLP 2.1514). Zweitens müssen die Elemente des Modells zueinander in einer bestimmten Beziehung stehen. Die Positionen des Spielzeuglastwagens und des Spielzeugkinderwagens geben die räumliche Beziehung zur Zeit des Unfalls wieder, auf eine Weise, wie es nicht der Fall wäre, wenn die Spielzeuge einfach zusammen in einen Schrank weggeräumt worden wären. Wittgenstein bezeichnet dies als die Struktur des Bildes (TLP 2.15). Jedes Bild besteht demnach aus einer Struktur und einer abbildenden Beziehung. Die Beziehung zwischen den Spielzeugen im Gerichtssaal ist eine Tatsache, und dies führte Wittgenstein zu der Feststellung, dass ein Bild, eine Aussage, eine Tatsache ist, und nicht bloß eine Sammlung von Gegenständen oder Namen. Es ist eine Tatsache, die anders hätte sein können. Die Möglichkeit der Struktur – in diesem Fall die Spielzeuge im Gerichtssaal, ihre Dreidimensionalität – nennt Wittgenstein die Form der Abbildung. Die Form der Abbildung ist dasjenige, was Bilder mit dem gemeinsam haben, was sie abbilden, das gemeinsame Element, das es dem einen überhaupt ermöglicht, ein Bild des anderen zu sein. Daher stellt ein Bild eine Möglichkeit in der realen Wirklichkeit dar (TLP 2.161). Wie stellt das Bild eine Verbindung mit der abgebildeten Wirklichkeit her? Dies geschieht durch die Wahl eines Gegenstandes als Gegenstand mit einer bestimmten Form der Abbildung. Wenn ich eine Reihe von Spielzeugen als dreidimensionale Stellvertreter für dreidimensionale Gegenstände auswähle, so mache ich gleichzeitig ihre dreidimensionalen Eigenschaften zur Form der Abbildung des Bildes. Ich stelle die Verbindung zur Wirklichkeit her, indem ich eine Korrelation zwischen den Elementen des Bildes und den Elementen der Situation herstelle, die sie darstellen sollen. Wie stelle ich diese Korrelation her? Als er den Tractatus schrieb, nahm Wittgenstein an, es handele sich hierbei um eine empirische Angelegenheit, die für die Philosophie nicht von Bedeutung sei.

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Bilder können mehr oder weniger abstrakt, dem Abgebildeten mehr oder weniger ähnlich sein: Die Form ihrer Abbildung kann mehr oder weniger umfassend sein. Dasjenige Minimum, das erforderlich ist, damit ein Bild die Darstellung einer Situation sein kann, wird von Wittgenstein seine logische Form genannt (TLP 2.18). Die Elemente des Bildes müssen auf eine Weise miteinander kombiniert werden können, die der Beziehung der abgebildeten Elemente entspricht. So gibt zum Beispiel in einer Partitur die gedruckte Anordnung der Noten von links nach rechts die Ordnung der Töne in der Zeit wieder. Die räumliche Anordnung der Noten ist nicht Teil der Form der Abbildung, da sich die Töne nicht im Raum befinden. Die Anordnung ist jedoch beiden gemeinsam und sie ist dasjenige, was die logische Form ausmacht. Wittgenstein wendete seine allgemeine Theorie der Darstellung auf Gedanken und Sätze an. Er sagte, ein Gedanke sei ein logisches Bild der Tatsachen, und in einem Satz drücke sich ein Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus (TLP 3, 3.1). Obwohl Gedanken im Tractatus Sätzen vorausliegen und ihnen Leben verleihen, hat uns Wittgenstein über Gedanken wesentlich weniger zu sagen als über Sätze. Um ihn verstehen zu können, ist es besser, sein Augenmerk auf Sätze als Bilder statt auf Gedanken als Bilder zu richten. Fragen wir zum Beispiel, was die Elemente von Gedanken sind, erhalten wir keine klare Antwort. Fragen wir hingegen, was die Elemente von Sätzen sind, bietet sich sofort eine Antwort an: Namen. Tatsächlich ist es so, dass die Bildtheorie der Sätze aus Wittgensteins Überlegungen zum Unterschied zwischen Sätzen und Namen erwuchs. Für Frege hatten sowohl Namen als auch Sätze Sinn und Bedeutung, wobei die Bedeutung eines Satzes sein Wahrheitswert war. Wie Wittgenstein jedoch später erkannte, gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen der Beziehung zwischen Namen und dem, was sie bezeichnen, auf der einen Seite, und zwischen Sätzen und demjenigen, was sie bedeuten, auf der anderen Seite. Um einen Eigennamen wie „Bismarck“ zu verstehen, muss ich wissen, auf wen oder was er sich bezieht. Einen Satz kann ich jedoch verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr oder falsch ist. Was wir verstehen, wenn wir einen Satz verstehen, ist nicht seine Bedeutung, sondern sein Sinn. Ein Name kann nur eine Beziehung zur Wirklichkeit haben: Entweder er benennt etwas oder er ist überhaupt kein bedeutsames Symbol. Ein Satz hat jedoch eine zweigliedrige Beziehung: Er behält seinen Sinn auch dann, wenn er aufhört, wahr zu sein (TLP 3.144). Einen Namen zu verstehen, heißt daher, seinen Wirklichkeitsbezug (reference) zu erfassen. Einen Satz zu verstehen, heißt hingegen, seinen Sinn erfassen. Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen Namen und Sätzen, der sich aus dem ersten Unterschied ergibt. Die Bedeutung eines Namens muss einem erklärt werden; um jedoch den Sinn eines Satzes zu verstehen, ist keine Erklärung erforderlich. Ein Satz kann einen neuen Sinn mit alten Wörtern mitteilen: Wir können einen Satz verstehen, den wir noch nie vorher gehört haben und dessen Wahrheitswert uns nicht bekannt ist. Es ist diese Tatsache, auf die sich Wittgenstein beruft, wenn er behauptet, dass ein Satz ein Bild ist.

Die Bildtheorie des Satzes

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Was Wittgenstein damit meint, dass er einen Satz ein Bild nennt, lässt sich in neun Thesen zusammenfassen: (1) Ein Satz ist, im Gegensatz zu einem Namen, wesentlich zusammengesetzt. (TLP 4.032) (2) Die Elemente eines Satzes werden durch menschliche Entscheidungen mit Elementen der Wirklichkeit korreliert. (TLP 3.315) (3) Die Kombination dieser Elemente zu einem Satz stellt – ohne weitere menschliche Intervention – eine mögliche Situation oder eine Sachlage dar. (TLP 4.026) (4) Ein Satz steht in einem wesentlichen Zusammenhang zu der möglichen Situation, die er darstellt: Er teilt ihre logische Struktur. (TLP 4.03) (5) Diese Beziehung kann nur gezeigt, nicht gesagt werden, da die logische Form nur widergespiegelt, nicht dargestellt werden kann. (TLP 4.022) (6) Jeder Satz ist bipolar: Er ist entweder wahr oder falsch. (TLP 3.144) (7) Ein Satz ist wahr oder falsch, indem er mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht: Er ist wahr, wenn die mögliche Situation, die er abbildet, tatsächlich besteht, und falsch, wenn sie nicht besteht. (TLP 4.023) (8) Ein Satz muss von der Sachlage, die ihn wahr macht, wenn sie besteht, unabhängig sein; ansonsten könnte er nie falsch sein. (TLP 3.13) (9) Kein Satz ist a priori wahr. (TLP 3.05) Bei der Aufstellung dieser Thesen habe ich das Wort „Bild“ nicht verwendet, weil die Theorie interessant und wichtig ist, unabhängig davon, ob es verwirrend ist oder nicht, sie in dem Slogan „Ein Satz ist ein Bild“ zusammenzufassen. Wittgenstein war sogar der Meinung, dass alle Theoreme wahr bleiben, wenn man für „Satz“ das Wort „Bild“ einsetzt. Er war sich auch wohl bewusst, dass Sätze nicht wie Bilder aussehen. Doch er war der Überzeugung, dass in einer Aussage, die vollständig gegliedert und in einer idealen Sprache niedergeschrieben wäre, jedem Element des Satzzeichens ein einzelnes Objekt in der Welt korrespondieren würde. Und auf diese Weise würde der Bildcharakter des Satzes in die Augen springen (TLP 3.2). Wir sollten jedoch nicht denken, dass mit den unanalysierten Sätzen, die wir im Alltag verwenden, irgendetwas nicht stimmt. Wittgenstein besteht darauf, dass „alle Sätze unserer Umgangssprache tatsächlich, so wie sie sind, logisch vollkommen geordnet sind“ (TLP 5.5563). Der Grund hierfür ist, dass ihre vollständige Analyse in den Gedanken von jedem von uns, der sie versteht, bereits enthalten ist, obwohl wir natürlich ebenso wenig eine Ahnung davon haben, wie unsere Wörter etwas bedeuten, wie davon, wie unsere einzelnen Laute hervorgebracht werden (TLP 4.002). Nicht alle von Muttersprachlern hervorgebrachten Sätze sind jedoch echte Aussagen: Viele von ihnen sind lediglich Scheinsätze, deren Analyse zeigen würde, dass sie keinen Sinn ergeben. Die letzten 17 Seiten des Tractatus sind einer knappen Darstellung gewidmet, die zeigt, dass die Sätze der Logik (6.1 ff.), der Mathematik (6.2 ff.), der apriorischen Wissenschaft (6.3 ff.), der Ethik und Ästhetik (6.4 ff.) und schließlich auch der Philosophie (6.5 ff.) sämtlich auf verschiedene Weise Scheinsätze sind.

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5 Sprache

Die einzigen Sätze, die einen Platz in Logikbüchern verdienen, sind Tautologien, die selbst nichts aussagen, sondern lediglich die logischen Eigenschaften echter Aussagen, die etwas sagen, demonstrieren (TLP 6.121). Die Mathematik besteht aus Gleichungen, doch Gleichungen haben es nicht mit der Wirklichkeit zu tun, sondern nur mit der Austauschbarkeit von Zeichen. Im wirklichen Leben machen wir von mathematischen Sätzen nur nebenbei Gebrauch, um von einem Satz, der nicht der Mathematik angehört, auf einen anderen derartigen Satz zu schließen (TLP 6.2 f.). In der Wissenschaft sind Aussagen wie die Axiome der Newton’schen Mechanik nicht wirkliche Sätze, sondern es sind eher Einsichten in die Form, in der wirkliche wissenschaftliche Aussagen ausgedrückt werden (TLP 6.32 ff.). In der Ethik und Ästhetik gibt es ebenfalls keine echten Sätze. Kein Satz kann den Sinn der Welt oder des Lebens ausdrücken, da alle Sätze zufällig sind – sie haben wahr-falsch-Pole –, und kein echter Wert kann eine Sache des Zufalls sein (TLP 6.41). Zum Schluss fallen auch die Sätze der Philosophie derselben Axt zum Opfer. Die Philosophie ist keine Ansammlung von Sätzen, sondern eine Aktivität, eine Aktivität der Analyse. Angewendet auf die Sätze des alltäglichen Lebens, verleiht die Philosophie ihnen einen deutlichen Sinn; wird sie auf Pseudosätze angewendet, so offenbart sie, dass sie sinnlos sind. Selbst die Aussagen des Tractatus sind bedeutungslos, weil sie Versuche darstellen, etwas zu sagen, was nur gezeigt werden kann. Dies macht sie jedoch nicht nutzlos, da gerade ihr Versagen instruktiv ist. „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“ (TLP 6.54) 7

Sprachspiele und private Sprachen Als er sich in den 1920er und 1930er Jahren erneut der Philosophie zuwandte, behielt Wittgenstein die Überzeugung, dass die Philosophie eine Aktivität und keine Theorie ist und dass philosophische Behauptungen keine Sätze im selben Sinne wie Sätze der Umgangssprache sind. Doch er gelangte zu einer sehr verschiedenen Auffassung bezüglich der Art und Weise, wie Sätze der Umgangssprache ihre Bedeutung erlangen. In seiner frühen und späten Phase glaubte er, dass die Umgangsprache so, wie sie gesprochen wurde, in Ordnung war. Zur Zeit des Tractatus nahm er dies an, weil er

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Zitiert nach: L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (Frankfurt: Suhrkamp, 1978), 115.

Sprachspiele und private Sprachen

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Das Haus in Wien, das Wittgenstein in den 1920er Jahren für seine Schwester entwarf. Es besitzt dieselbe karge und einschüchternde Schönheit wie der Tractatus.

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dachte, dass der Umgangssprache eine perfekte, in logische Atome gegliederte Sprache zugrunde liege. Seit der Zeit der Philosophischen Grammatik glaubte er dies, weil er glaubte, dass die Umgangssprache in soziale Aktivitäten und Strukturen eingebettet ist, die er als „Sprachspiele“ bezeichnete. Was ist dasjenige, fragte er in der Grammatik, was den Lauten und Zeichen auf Papier, aus denen die Sprache besteht, Bedeutung verleiht? Für sich genommen sind diese Symbole reglos und tot. Was ist dasjenige, was ihnen Leben verleiht? (PG 40, 107; PI i. 430) Die offensichtliche Antwort lautet, dass sie dadurch lebendig werden, dass ihnen von Sprechern und Schreibern ihre Bedeutungen verliehen und dass sie von Hörern und Lesern verstanden werden. Diese offensichtliche Antwort ist zwar die richtige, doch wir müssen uns darüber klar werden, was Bedeutung und Verstehen sind. Es handelt sich dabei nicht, wie man denken könnte, um geistige Prozesse, die gesprochene Sätze begleiten. Wer versucht ist, dies anzunehmen, soll versuchen, diesen Vorgang zu vollziehen, ohne dabei zu sprechen. Wittgenstein schreibt: „Mach diesen Versuch: Sag ‚Hier ist es kalt‘ und meine ‚Hier ist es warm‘. Kannst du es? – Und was tust du dabei?“ (PI i. 332, 510) Wenn man einen Akt des Bedeutens vollzieht, ohne den entsprechenden Satz auszusprechen, wird man sehr wahrscheinlich feststellen, dass man den Satz stumm für sich wiederholt. Doch es wäre natürlich absurd zu behaupten, dass es gleichzeitig mit der öffentlichen Äußerung eines Satzes noch eine zweite mit gedämpfter Stimme gibt. Es würde einiges Geschick erfordern sicherzustellen, dass die beiden Vorgänge exakt synchron erfolgen. Und wie fatal wäre es, wenn die beiden aus dem Takt kämen, sodass die Bedeutung eines Wortes fälschlicherweise mit seinem Nachbarwort verbunden würde! Es ist zwar zutreffend, dass es zu mentalen Ereignissen kommt – Gefühlen, Vorstellungsbildern etc. –, wenn wir einen Satz in einer Sprache hören, die wir verstehen, und dass diese sich von denjenigen unterscheiden, die auftreten, wenn wir einen Satz in einer uns unbekannten Sprache hören. Doch diese Erfahrungen sind von Fall zu Fall verschieden und sie können nicht als dasjenige angesehen werden, was das Verstehen ausmacht. Verstehen lässt sich überhaupt nicht als ein Vorgang vorstellen. Wittgenstein sagt: „Wann verstehen wir den Satz? – Wenn wir ihn ausgesprochen haben? Oder während wir ihn aussprechen? – Ist das Verstehen ein artikulierter Vorgang wie das Sprechen des Satzes; und entspricht seine Artikulation der des Satzes? Oder ist es unartikuliert und begleitete den Satz wie ein Orgelpunkt das Thema?“ (PG 50) 8

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Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, herausgegeben von R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1984), 50.

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Eine Sprache verstehen ist, ähnlich wie Schach-spielen-Können, eher ein Zustand als ein Vorgang; doch wir sollten es uns nicht als den Zustand von irgendeinem verborgenen, geistigen Mechanismus vorstellen. Manchmal sind wir versucht anzunehmen, dass die bewussten Vorgänge unseres Geistes das Ergebnis eines mentalen Prozesses sind, der sich unterhalb der Ebene der Introspektion abspielt. Vielleicht, so denken wir, arbeitet der Mechanismus unseres Geistes so schnell, dass wir all seinen Bewegungen nicht folgen können, ähnlich wie die Kolben einer Dampfmaschine oder die Klingen eines Rasenmähers. Könnten wir nur unsere Fähigkeit der Introspektion schärfen oder die Maschinerie in Zeitlupe laufen lassen: Dann wären wir vielleicht in der Lage, die Vorgänge des Bedeutens und Verstehens tatsächlich zu beobachten. Einer Version dieser Lehre von einem geistigen Mechanismus zufolge besteht das Verstehen eines Wortes darin, sich ein passendes Bild vorzustellen, das damit verbunden ist. Man sagt mir „Hole mir eine rote Blume“, und nach dieser Auffassung habe ich ein rotes Bild in meinem Geist und erkenne, welche Blume ich bringen soll, indem ich sie mit diesem Bild vergleiche. Doch das kann nicht richtig sein: Denn wie sollte man dann dem Befehl „Stelle dir einen roten Fleck vor!“ gehorchen können? Die Theorie zwingt uns einen unendlichen Regress auf (BB 3; PG 96). Angenommen, wir ersetzen die angebliche Betrachtung eines inneren Bildes durch die reale Betrachtung eines roten Papierstücks. Gewiss wird die größere Anschaulichkeit des Farbmusters die Erklärung noch überzeugender machen! Doch nein: Wenn erklärt werden soll, wie jemand weiß, was ‚rot‘ bedeutet, muss auch erklärt werden, wie er weiß, dass dieses Farbmuster – sei es geistig oder physisch real – rot ist. Wittgenstein sagt: „Sobald du daran denkst, das geistige Bild durch, sagen wir, ein gemaltes zu ersetzen und sobald das Bild dadurch seinen geheimnisvollen Charakter verliert, erscheint es in der Tat nicht mehr so, als ob es dem Satz irgendwelches Leben verleihen könnte.“ (BB 5) 9 Es ist natürlich wahr, dass uns beim Sprechen häufig Vorstellungsbilder vor unserem geistigen Auge erscheinen. Doch sie sind nicht dasjenige, was den von uns verwendeten Wörtern ihre Bedeutung verleiht. Es ist eher umgekehrt: Die Bilder gleichen den Abbildungen, die den in einem Buch abgedruckten Text erläutern. Eine der wichtigsten Versionen der fehlerhaften Theorie der Bedeutung, die sie für einen geistigen Vorgang hält, ist die These, dass die Namensgebung eine geistige Handlung ist. Diese Vorstellung wird in einem der wichtigsten Abschnitte der Philosophischen Untersuchungen angegriffen, der die Vorstellung einer privaten Sprache kritisiert, oder genauer: die Vorstellung einer privaten ostentativen Definition. In der Erkenntnistheorie von Russell und der logischen Positivisten spielt die ostentative Definition eine zentrale Rolle: Es war der Punkt, an dem die Sprache mit dem Wissen durch Bekanntschaft (acquaintance) eine Verbindung einging. Doch 9

Zitiert nach: L. Wittgenstein, Das Blaue Buch, Eine philosophische Betrachtung, übersetzt von P. von Morstein, herausgegeben von R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1984), 20.

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Wittgenstein bestand darauf, dass die Bekanntschaft mit einem Objekt, für das ein Wort steht, nicht identisch ist mit der Kenntnis der Bedeutung des Wortes. Die Bekanntschaft mit dem Objekt reicht ohne ein Erfassen der Rolle, die das sie definierende Wort in der Sprache spielt, nicht aus. Angenommen, ich spreche das Wort „Toff“ aus, indem ich auf einen Bleistift zeige und sage: „Das ist Toff.“ Diese Erklärung wäre völlig unangemessen, weil man mich so verstehen könnte, dass ich sagen will „Dies ist ein Bleistift“ oder „Dies ist rund“ oder „Das ist Holz“ und so weiter (PG 60; BB 2) 10. Um einer Sache einen Namen zu geben, genügt es nicht darauf zu zeigen und Laute von sich zu geben: Das Fragen nach einem Namen und das Nennen eines Namens ist etwas, was nur im Kontext eines Sprachspiels geschehen kann. Dies gilt sogar für den relativ einfachen Fall der Benennung einer Farbe oder eines materiellen Gegenstandes. Die Sache wird wesentlich komplizierter, wenn es um die Benennung geistiger Ereignisse und Zustände geht, wie zum Beispiel von Empfindungen und Gedanken. Betrachten wir die Art und Weise, auf die das Wort „Schmerz“ als Name für eine Empfindung fungiert. Wir sind versucht anzunehmen, dass das Wort „Schmerz“ für jede Person seine Bedeutung dadurch erhält, dass sie es mit ihrer eigenen, privaten, nicht mitteilbaren Empfindung korreliert. Doch Wittgenstein zeigte, dass kein Wort seine Bedeutung auf diese Weise erlangen kann. Eines seiner Argumente hierfür ist das folgende: Angenommen, ich möchte über das Auftreten einer bestimmten Empfindung ein Tagebuch führen und ich assoziiere sie mit dem Zeichen „E“. Es ist für dieses Gedankenexperiment wesentlich, dass dieses Zeichen auf keine in der Umgangssprache übliche Weise definiert werden kann, weil es sich ansonsten nicht um eine private Sprache handeln würde. Das Zeichen muss allein für mich definiert werden, und zwar durch eine private ostentative Definition. „[I]ch spreche, oder schreibe das Zeichen, und dabei konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf die Empfindung […]. [D]adurch präge ich mir die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung ein.“ (PI i. 258) 11 Wittgenstein behauptet, dass sich durch keine derartige Zeremonie eine entsprechende Verbindung herstellen ließe. Wenn ich das nächste Mal etwas „E“ nenne: Woher weiß ich, was ich mit „E“ meine? Das Problem besteht nicht darin, dass ich mich falsch erinnern und etwas „E“ nennen kann, das nicht „E“ ist. Die Schwierigkeiten sind größer. Selbst um fälschlicherweise denken zu können, dass etwas „E“ ist, muss ich die Bedeutung von „E“ kennen, und dies ist, so behauptet Wittgenstein, in einer privaten Sprache unmöglich. Doch kann ich mich nicht auf meine Erinnerung berufen, um die Frage der Bedeutung zu beantworten? Nein, denn hierzu muss ich die richtige Erinnerung abrufen, die Erinnerung an „E“, und um das tun zu können, 10 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Das Blaue Buch, Eine philosophische Betrachtung, übersetzt von P. von Morstein, herausgegeben von R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1984), 16. 11 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, herausgegeben von G. E. M. Anscombe, G. H. von Wright und R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), 145.

Sprachspiele und private Sprachen

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muss ich bereits wissen, was „E“ bedeutet. Es gibt letztlich keine Möglichkeit, den Unterschied zwischen einer richtigen und einer falschen Verwendung von „E“ zu erkennen, und dies bedeutet, dass die Rede von einer „korrekten“ Verwendung fehl am Platz ist. Die private Definition, die ich mir selbst gegeben habe, ist keine wirkliche Definition. Das Ergebnis von Wittgensteins Argument lautet, dass es keine Sprache geben kann, deren Wörter sich auf etwas beziehen, das nur von einem einzelnen Sprecher der Sprache gewusst werden kann. Das deutsche Wort „Schmerz“ ist kein Wort in einer privaten Sprache, weil andere Menschen – was immer Philosophen dazu sagen mögen – wissen können, wann eine Person Schmerzen hat. „Schmerz“ wird nicht dadurch zum Namen einer Empfindung, dass dem Wort eine private ostentative Definition gegeben wird, sondern das Sprechen von Schmerzen wird auf den vorsprachlichen Ausdruck von Schmerzen aufgepfropft, wenn die Eltern einem Kind beibringen, sein anfängliches Schreien durch einen konventionellen, erlernten sprachlichen Ausdruck zu ersetzen. Worin besteht der Sinn des Privatsprachenarguments, und gegen wen ist es gerichtet? Wittgenstein schrieb einmal, dass die philosophische Therapie gegen den Philosophen in jedem von uns gerichtet ist. Es ist ziemlich plausibel anzunehmen, dass jeder von uns, wenn wir zu philosophieren beginnen, implizit an eine private Sprache glaubt. Studenten des ersten Studienjahres sind allemal durch diese skeptische Vermutung in Versuchung zu bringen. „Nach allem, was wir wissen, nennst du, was ich ‚rot‘ nenne, ‚grün‘, und umgekehrt.“ Diese Annahme lag Schlicks Unterscheidung zwischen der Form und dem Inhalt von Protokollsätzen zugrunde, und das gesamte Gebäude des logischen Positivismus fällt in sich zusammen, wenn eine private Sprache unmöglich ist. Das Gleiche gilt für die Erkenntnistheorie von Russell und für Wittgensteins eigene frühe Erkenntnistheorie. Doch die Reichweite des Privatsprachenarguments geht wesentlich weiter in die Geschichte der Philosophie zurück. Wenn Descartes seinen philosophischen Zweifel formuliert, nimmt er an, dass seine Sprache eine Bedeutung hat, während die Existenz seines eigenen und die anderer Körper ungewiss bleibt. Hume hielt es für möglich, Gedanken und Erfahrungen wiederzuerkennen und zu klassifizieren, während die Existenz der Außenwelt in Schwebe gehalten wird. Mill und Schopenhauer waren, auf unterschiedliche Weise, davon überzeugt, dass man den Inhalt seines Geistes sprachlich ausdrücken kann, während man gleichzeitig die Existenz des Fremdpsychischen infrage stellt. Alle diese Annahmen sind für die Struktur der jeweiligen Philosophie wesentlich, und alle von ihnen haben die Möglichkeit einer privaten Sprache zur Voraussetzung. Sowohl der Empirismus als auch der Idealismus enthalten die Voraussetzung, dass der Geist kein direktes Wissen von irgendetwas anderem als seinem eigenen Inhalt hat. Die Geschichte beider philosophischen Strömungen zeigt, dass sie in Richtung auf den Solipsismus führten, die Lehre, welche besagt: „Nur ich existiere.“ Wittgensteins Angriff auf private Definitionen untergräbt den Solipsismus, indem er

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5 Sprache

zeigt, dass die Möglichkeit der Sprache, in der er sich ausdrückt, von der Existenz einer öffentlichen, mit anderen geteilten Welt abhängt. Die definitive Widerlegung des Solipsismus überträgt sich auf die Widerlegung des Empirismus und Idealismus, die notwendigerweise mit ihm einhergehen. Wittgensteins Zerstörung der Vorstellung von einer Privatsprache war das wichtigste Ergebnis in der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Nach seinem Tod nahm die Sprachphilosophie aufgrund verschiedener Vorstellungen vom Wesen der Philosophie selbst eine andere Richtung. Wittgenstein hatte eine scharfe Trennung zwischen der Naturwissenschaft, der es darum geht, neue Erkenntnisse zu gewinnen, und der Philosophie vorgenommen, die danach strebt, ein Verständnis dessen zu erarbeiten, was wir bereits wissen. Quines Angriff auf die traditionelle Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen führte jedoch viele Philosophen, vor allem in den Vereinigten Staaten, dazu, die Frage zu stellen, ob es überhaupt eine deutliche Grenze zwischen der Philosophie und den empirischen Wissenschaften gibt. Insbesondere gab es eine Bestrebung, die Sprachphilosophie mit der Psychologie und der Linguistik zu vereinigen. Von philosophischer Seite wurde dies von Donald Davidson durch seine Suche nach einer systematischen Theorie der Bedeutung natürlicher Sprachen vorangetrieben, und vonseiten der Linguistik durch Noam Chomsky, dessen verschiedene Theorien verborgene Mechanismen postulierten, die dem Erwerb jeder Grammatik zugrunde liegen. Nach meiner Meinung hatte Wittgenstein Recht, als er sah, dass die Aufgabe der Philosophie von derjenigen der empirischen Wissenschaften völlig verschieden ist, und viele Entwicklungen in der Sprachphilosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dienten eher dazu, die Einsichten, die man in früheren Jahrzehnten gewonnen hatte, zu verdunkeln als zu bereichern.

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Erkenntnistheorie

Zwei wortgewandte Empiristen Mill beschrieb sein System der Logik als ein Lehrbuch des Grundprinzips, das alles Wissen aus der Erfahrung ableitet. Er war daher ein Vertreter des Empirismus, obwohl ihm die Beschreibung nicht gefiel. Tatsächlich war er in einer wichtigen Hinsicht einer der entschiedensten Empiristen, die es je gab. Er ging über seine Vorgänger darin hinaus, dass er behauptete, nicht nur die gesamte Wissenschaft, sondern auch die ganze Mathematik leite sich von der Erfahrung ab. Die Axiome der Geometrie und die Grundprinzipien der Mathematik waren ihm zufolge „ungeachtet allen gegenteiligen Anscheins, Ergebnisse der Beobachtung und der Erfahrung“ und sie „gründen, kurz gesagt, auf dem Zeugnis der Sinne“ (SL 2.3.24.4). Mill erklärte, dass die Definition jeder Zahl die Behauptung einer physikalischen Tatsache einschließe: „Jede der Zahlen, Zwei, Drei, Vier etc., bezeichnet ein materielles Phänomen und benennt eine physikalische Eigenschaft dieser Phänomene. Zwei bezeichnet zum Beispiel alle Paare von Dingen, und zwölf jedes Dutzend von Dingen. Sie bezeichnen, was sie zu einem Paar oder Dutzend macht, und dasjenige, was sie dazu macht, ist etwas Körperliches, da nicht zu leugnen ist, dass zwei Äpfel von drei Äpfeln körperlich unterscheidbar sind, zwei Pferde von einem, und so weiter: dass es sich um ein anderes sichtbares und greifbares Phänomen handelt.“ (SL 3. 24. 5)

Er macht nicht deutlich, um was es sich bei der Eigenschaft, die durch den Namen einer Zahl bezeichnet wird, genau handelt, und er gesteht zu, dass es schwer ist, mit den Sinnen zwischen 102 und 103 Pferden zu unterscheiden, wie leicht es auch sein mag, zwei von drei Pferden zu unterscheiden. Trotzdem gibt es eine durch Zahlen bezeichnete Eigenschaft, d. h. die charakteristische Art, auf die die Anhäufung zusammengesetzt ist und in Teile zerlegt werden kann. Es gibt beispielsweise Ansammlungen von Objekten, die – obwohl sie die Sinne in der Anordnung ; treffen – dennoch auf folgende Weise in zwei Teile zerlegt werden können: .. . „Nachdem dieser Satz zuzugeben ist, nennen wir alle derartigen Ansammlungen Drei“ (SL 2.6.2). Kritiker von Mill merkten an, es sei ein Segen, dass nicht alles in der Welt festgenagelt ist, denn wenn es so wäre, könnten wir Teile nicht voneinander trennen, und zwei und eins würden nicht drei ergeben. Wenn man die Sache nüchtern erwägt, scheint es keine physikalische Tatsache zu geben, die durch die Definition einer Zahl wie 777 864 behauptet wird. Allerdings steht oder fällt Mills Behauptung, dass die

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6 Erkenntnistheorie

Arithmetik im Wesentlichen eine empirische Wissenschaft sei, nicht mit seiner Erklärung der Definition von Zahlen. Er behauptet zum Beispiel, dass ein Prinzip wie „Die Summen von Gleichem sind Gleiche“ eine induktive Wahrheit oder ein Naturgesetz höchster Ordnung sei. Induktive Wahrheiten sind Verallgemeinerungen, die auf individuellen Erfahrungen basieren. Behauptungen solcher Wahrheiten müssen stets zu einem gewissen Grade vorläufig und hypothetisch sein; und so ist es in diesem Fall auch. Das Prinzip „ist niemals exakt wahr, weil ein Pfund Gewicht nie einem andern genau entspricht, noch eine Meile genau einer anderen. Eine bessere Waage oder genauere Messinstrumente würden stets einen Unterschied feststellen“ (SL 2.6.3). An dieser Stelle, wendeten Kritiker ein, verwechsele Mill die Arithmetik mit ihren Anwendungen. Doch es war für Mill wichtig zu behaupten, dass die Arithmetik eine empirische Wissenschaft ist, weil die Alternative, dass es eine apriorische Disziplin ist, die Quelle unendlichen Schadens war. „Die Vorstellung, dass äußere Wahrheiten aus innerer Anschauung oder aus dem Bewusstsein erkannt werden können, unabhängig von Beobachtung und Erfahrung, ist meiner Überzeugung nach in unseren Tagen die intellektuelle Hauptstütze falscher Doktrinen und schlechter Institutionen.“ (A 134) 1 Um diesem Unheil zu entgehen, war Mill bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Er hielt es für möglich, dass sich in der Zukunft in irgendeiner fernen Galaxie herausstellen könnte, dass 2  2 nicht 4, sondern 5 ist. Als Philosoph betrachtet gehörte John Henry Newman in dieselbe empiristische Tradition, der auch John Stuart Mill angehörte. Die deutsche Metaphysik, die während seiner Zeit in Oxford dort an Einfluss gewann, missfiel ihm. „Was für nutzlose Wortsysteme ohne Ideen scheinen diese Männer aufzuhäufen“, bemerkte er. Nach seiner Bekehrung zum Katholizismus sagte ihm die scholastische Philosophie, die seine Glaubensbrüder favorisierten, ebenso wenig zu. Die einzig direkte Bekanntschaft, die wir mit den Dingen außerhalb unserer selbst haben, so behauptete er, ist durch unsere Sinne vermittelt. Der Glaube, dass wir über Fähigkeiten verfügen, um immaterielle Gegenstände direkt zu erkennen, ist ein bloßer Aberglaube. Selbst unsere Sinne liefern uns nur Informationen aus nächster Nähe: Wir müssen uns in der Nähe von Dingen befinden, wenn wir sie berühren wollen. Dinge der Vergangenheit oder Zukunft können wir weder sehen, noch hören, noch berühren. Doch obwohl er ein entschiedener Empirist ist, weist Newman der Vernunft eine größere Bedeutung zu, als ihr von dem Idealisten Kant zugestanden wurde: „Nun ist die Vernunft dasjenige Vermögen des Geistes, durch welches dieser Mangel [der Sinne] ergänzt wird: Mit ihrer Hilfe gelangen wir zur Erkenntnis von Dingen außerhalb von uns, von Wesenheiten, Tatsachen und Ereignissen, die den Bereich der Sinne überschreiten. Sie ermittelt für uns nicht nur natürliche Dinge, oder nur immaterielle 1

Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 183.

Zwei wortgewandte Empiristen

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John Henry Newman, dessen Philosophie des Glaubens (Grammar of Assent), obwohl sie in religiöser Absicht geschrieben wurde, ein eigenständiger Klassiker der Erkenntnistheorie ist. Dinge, oder nur gegenwärtige oder vergangene oder künftige; und obwohl sie in ihrer Kraft eingeschränkt ist, ist ihre Reichweite unbegrenzt […] Sie reicht bis an die Enden des Universums und zum Thron Gottes, der jenseits von ihnen liegt. Sie liefert uns Wissen von allen Seiten, und sei es wirklich oder ungewiss, so ist es dennoch Wissen, mit welchem Grad der Vollkommenheit auch immer. Es hat allerdings dieses Merkmal, dass es indirekt, nicht direkt erworben wird.“ (US 199)

Die Vernunft nimmt selbst nichts wahr: Sie ist ein Vermögen, von den wahrgenommenen Dingen zu den Dingen, die nicht wahrgenommen werden, fortzuschreiten. Die Ausübung der Vernunft besteht darin, einer Sache aufgrund irgendeiner anderen Sache zuzustimmen. Newman unterscheidet zwei verschiedene Handlungen des Intellekts, die ausgeübt werden, wenn wir unsere Vernunft gebrauchen: Schlussfolgerungen (aus Prämissen) und Zustimmung (zu einer Schlussfolgerung). Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass diese beiden Handlungen voneinander deutlich verschieden sind. Wir stimmen häufig einem Satz zu, wenn wir die Gründe für die Zustimmung ver-

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6 Erkenntnistheorie

gessen haben; andererseits kann Zustimmung ohne ein Argument gegeben werden, oder auf der Grundlage schlechter Argumente. Argumente können besser oder schlechter sein, doch Zustimmung ist entweder vorhanden oder nicht. Es trifft zu, dass einige Argumente so zwingend sind, dass die Zustimmung der Schlussfolgerung unmittelbar folgt. Doch selbst im Falle eines mathematischen Beweises gibt es einen Unterschied zwischen diesen beiden intellektuellen Handlungen. Ein Mathematiker, der einen komplexen Beweis gefunden hat, würde seiner Schlussfolgerung nicht zustimmen, ohne seine Arbeit noch einmal durchzusehen und die Bestätigung von anderen einzuholen. Zustimmung kann, wie gesagt wurde, ohne angemessene Beweise oder Argumente gegeben werden. Dies führt zwar häufig zu Irrtümern; doch ist sie immer falsch? Locke behauptete, dass es so sei. Als ein Zeichen der Liebe zur Wahrheit gab er an, dass kein Satz mit größerer Sicherheit angenommen werde, als die Beweise, auf die er sich gründet, rechtfertigen. „Wer immer über dieses Maß der Zustimmung hinausgeht, der nimmt offenbar nicht Wahrheit in der Liebe zu ihr an, liebt nicht die Wahrheit um ihrer selbst willen, sondern wegen irgendeines Nebenzwecks“ (Versuch über den menschlichen Verstand, iv. xvi). Locke behauptete, dass es keine beweisbare Wahrheit in Bezug auf konkrete Tatsachen gebe, und dass daher die Zustimmung zu einer konkreten Aussage immer nur bedingt sein könne und hinter der Gewissheit zurückbleiben müsse. Eine bedingungslose Zustimmung ist niemals legitim, es sei denn, es handle sich um die Bestätigung von unmittelbaren Anschauungen oder um Beweise. Newman widerspricht. Er behauptet, dass es so etwas wie Grade der Zustimmung nicht gebe, obwohl es Raum für Meinungen ohne die für Wissen notwendige Zustimmung gebe. „Jeder Tag bringt neue Gelegenheiten mit sich, den Umfang unserer Zustimmungen zu erweitern. Wir lesen die Zeitungen; wir schauen durch die Debatten im Parlament, sehen uns Plädoyers vor Gericht, Leitartikel, Briefe von Korrespondenten, Buchbesprechungen und Kunst- und Literaturkritiken an und bilden uns entweder gar keine Meinungen über die jeweils strittigen Dinge, da sie nicht in unser Fachgebiet fallen, oder wir bilden uns nicht mehr als eine Meinung dazu. […] Aber wir sagen nie, dass wir [einer Aussage] einen Grad von Zustimmung geben. Statt von Graden der Zustimmung könnten wir ebensogut von Graden der Wahrheit sprechen.“ (GA 115)

Newman behauptet, dass es trotzdem sehr wohl legitim sein könne, und häufig auch legitim sei, unsere Zustimmung in Fällen zu geben, in denen wir es nicht mit einer unmittelbaren Anschauung oder einem Beweis zu tun haben. „Wir sind gewiss – ohne zu befürchten, dass wir uns darin irren könnten –, dass unser eigenes Selbst nicht das einzige existierende Wesen ist; dass es eine reale Außenwelt gibt; dass sie ein System aus Teilen und ein Ganzes ist, ein durch Gesetze gelenktes Universum; und dass die Vergangenheit sich auf die Zukunft auswirkt. Wir nehmen an

Zwei wortgewandte Empiristen

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und halten es mit einer bedingungslosen Zustimmung für wahr, dass die Erde, als Naturphänomen betrachtet, eine Kugel ist; dass alle ihre Regionen der Reihe nach der Sonne zugewendet werden; dass es riesige Wasser- und Landflächen auf ihr gibt; dass es an bestimmten Stellen der Erde wirklich existierende Städte gibt, die als London, Paris, Florenz und Madrid bezeichnet werden. Wir sind gewiss, dass Paris oder London, wenn sie durch kein Erdbeben verschlungen werden und nicht restlos niederbrennen, heute genau dieselben Städte sind, die sie gestern waren, als wir sie verließen.“ (GA 117)

Jeder von uns ist gewiss, dass er oder sie eines Tages sterben wird. Fragt man uns jedoch nach dem Beweis hierfür, können wir höchstens weitschweifige Argumente dafür anführen oder eine reductio ad absurdum. „Wir verlachen und verspotten die Vorstellung, wir hätten keine Eltern gehabt, obwohl wir uns an unsere Geburt nicht erinnern können; dass wir nie sterben werden, obwohl wir von der Zukunft keine Erfahrung haben; dass es uns möglich sein sollte, ohne Nahrungsmittel zu leben, obwohl wir es nie versucht haben; dass es vor uns nicht schon eine Welt von Menschen gab, oder dass diese Welt keine Geschichte gehabt habe; dass es keinen Aufstieg und Niedergang von Staaten gegeben habe, keine großen Männer, keine Kriege, keine Revolutionen, keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Literatur, keine Religion.“ (GA 117)

Zusammenfassend stellt Newman fest, dass wir allen diesen Wahrheiten unmittelbar und ohne jedes Zögern zustimmen, und wir halten uns keineswegs für schuldig, die Wahrheit nicht um ihrer selbst willen zu lieben, weil wir diese Wahrheiten nicht durch Beweise erreichen können, die aus einer Reihe von Sätzen über anschaulich gegebene Tatsachen bestehen. Niemand von uns kann denken oder handeln, ohne irgendwelche Wahrheiten anzunehmen, die „nicht intuitiv, nicht bewiesen, aber dennoch uneingeschränkt gültig“ sind. Obwohl er bestreitet, dass es Grade der Zustimmung gibt, unterscheidet Newman zwischen einer einfachen und einer komplexen Zustimmung oder Gewissheit. Einfache Zustimmung kann unbewusst sein, sie kann voreilig gegeben werden oder wenig mehr als eine bloße Laune sein. Eine komplexe Zustimmung hat drei Elemente: Sie muss auf einen Beweis folgen, sie muss von einem besonderen Gefühl intellektueller Zufriedenheit begleitet werden und sie muss unumkehrbar sein. Das Gefühl der Zufriedenheit und dass man sich selbst gratuliert, sind Merkmale der Gewissheit, die nicht mit dem Wissen selbst verbunden sind, sondern mit dem Bewusstsein, im Besitz des jeweiligen Wissens zu sein. Ein Unterschied zwischen Wissen und Gewissheit, auf den sich Philosophen im Allgemeinen einigen können, ist folgender: Wenn ich weiß, dass p, dann ist p wahr. Doch ich kann mir sicher sein, dass p, und p kann falsch sein. Newman ist in dieser Sache nicht ganz konsistent. Manchmal spricht er so, als ob es so etwas wie eine falsche Gewissheit gebe, während er an anderen Stellen nahelegt, dass eine Überzeu-

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gung nur dann eine Gewissheit sein kann, wenn die fragliche Aussage objektiv wahr ist (GA 128). Doch ob nun Gewissheit Wahrheit impliziert oder nicht: Es ist unbestreitbar, dass man sich einer Aussage nur gewiss sein kann, wenn man glaubt, dass sie wahr ist. Hieraus folgt: Wenn ich mir einer Sache gewiss bin, so glaube ich, dass sie auch dann bleiben wird, für was ich sie jetzt halte, wenn meinem Geist das Unglück widerfahren sollte, den Glauben daran aufzugeben. Wenn wir uns eines Glaubens gewiss sind, sind wir entschlossen, ihn beizubehalten, und wir verwerfen irgendwelche Einwände gegen ihn spontan als müßig. Wenn sich jemand einer Sache sicher ist, wenn er beispielsweise davon überzeugt ist, dass Irland westlich von England liegt, bleibt ihm, wenn er konsistent sein will, nichts anderes übrig, als eine Haltung „der gebieterischen Intoleranz gegenüber jeder widersprechenden Behauptung“ einzunehmen. Natürlich kann man, gegen den eigenen anfänglichen Entschluss, in einem gegebenen Fall seine Überzeugung aufgeben. Newman behauptet, dass dadurch, dass jemand seine Überzeugung in irgendeiner Sache verliert, bewiesen wird, dass er sich ihrer niemals gewiss war. Wie entscheiden wir dann, in irgendeinem gegebenen Moment, welches unsere Gewissheiten sind? Newman nimmt an, dass sich zwischen solchen realen Gewissheiten, die auf ihren Gegenstand zutreffen, und bloß scheinbaren Gewissheiten keine Trennlinie ziehen lässt. Es ist jederzeit möglich, dass sich etwas, was wie eine Gewissheit aussieht, als Irrtum erweist. Es gibt keinen inneren, unmittelbaren Test, der ausreichen würde, echte von falschen Gewissheiten zu unterscheiden (GA 145). Newman unterscheidet zu Recht zwischen Gewissheit und Unfehlbarkeit. Meine Erinnerung ist nicht unfehlbar. Ich erinnere mich mit Gewissheit daran, was ich gestern getan habe, doch das bedeutet nicht, dass ich mich in meiner Erinnerung niemals täusche. Ich bin mir sicher, dass 2  2 = 4 ist, doch ich mache beim Addieren längerer Summen häufig Fehler. Gewissheit betrifft einen bestimmten Satz, Unfehlbarkeit ist eine Fähigkeit oder ein Geschenk. Newman konnte gewiss sein, dass Viktoria die Königin Englands ist, ohne Anspruch auf irgendeine allgemeine Unfehlbarkeit zu erheben. Doch wie kann ich in Gewissheit verharren, wenn ich weiß, dass ich mir in der Vergangenheit der Wahrheit eines Satzes gewiss war, der sich als falsch erwies? Sicherlich kann, was einmal passiert ist, erneut geschehen. „Angenommen, ich gehe im Mondschein spazieren und sehe die unscharfen Umrisse irgendeiner Gestalt zwischen den Bäumen: Es ist ein Mensch. Ich trete näher, und es ist noch immer ein Mensch. Ich trete noch näher, und alles Zögern hat ein Ende: Ich bin gewiss, dass es ein Mensch ist. Doch wenn ich ihn anrede, bewegt er sich weder, noch spricht er. Daraufhin frage ich mich, warum er sich zu dieser Stunde zwischen den Bäumen versteckt. Ich komme recht nahe an ihn heran und strecke meinen Arm nach ihm aus. Dann stelle ich mit Gewissheit fest, dass dasjenige, was ich für einen Menschen hielt, nur ein seltsamer Schatten ist, den die Blätter und Zweige, durch die das Mondlicht fällt, geworfen haben. Soll ich meiner zweiten Gewissheit nun nicht nachgeben,

Zwei wortgewandte Empiristen

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weil ich mich mit meiner ersten irrte? Schwindet nicht jeder Einwand, der gegen meine zweite Gewissheit vorgebracht werden kann, weil ich mich in meiner ersten geirrt habe, angesichts der Beweise, auf die sich meine zweite Gewissheit stützt, einfach dahin?“ (GA 151)

Das Gefühl der Gewissheit ist sozusagen die Glocke des Intellekts, und manchmal läutet sie, wenn sie es nicht sollte. Doch wir verzichten nicht auf den Gebrauch von Uhren, weil sie uns manchmal die falsche Zeit anzeigen. Es lassen sich keine allgemeinen Regeln aufstellen, die verhindern könnten, dass wir uns in unserem konkreten Vernunftgebrauch bezüglich eines bestimmten Aspekts einer Sache irren. In seiner Ethik sagt uns Aristoteles, dass kein Gesetzbuch und keine moralphilosophische Abhandlung den tugendhaften Weg eines einzelnen Menschen im Voraus darstellen kann: Um von einem Moment zum nächsten entscheiden zu können, was jeweils zu tun ist, benötigen wir eine Tugend der praktischen Weisheit (phronesis). Newman sagt, dass für den theoretischen Vernunftgebrauch Entsprechendes gilt: Die Logik der Sprache führt uns nur bis an einen bestimmten Punkt, und wir benötigen eine spezielle intellektuelle Tugend, die er als „Folgerungssinn“ (illative sense) bezeichnet, die uns sagt, welches die richtige Schlussfolgerung ist, die in einem besonderen Fall gezogen werden sollte. „In keiner Klasse konkrete Sachverhalte betreffender Urteile, sei es in der experimentellen Wissenschaft, bei historischen Forschungen oder in der Theologie, gibt es irgendeinen letzten Prüfstein der Wahrheit oder des Irrtums in unseren Folgerungen, außer der Zuverlässigkeit des Folgerungssinnes, der sie sanktioniert. Es gibt ihn genauso wenig, wie es einen hinlänglichen Prüfstein für poetische Brillanz, heroische Taten, oder ehrbares Verhalten gibt, außer jenem speziellen geistigen Sinn, sei es Genie, Geschmack, Sinn für Anständigkeit, oder moralisches Gefühl, denen diese Lebensbereiche jeweils unterstellt sind.“ (GA 231 f.)

Newmans Erkenntnistheorie wurde von späteren Philosophen kaum studiert, weil er bei ihrer Darlegung ein übergreifendes religiöses Ziel verfolgte. Doch die Behandlung von Glauben, Wissen und Gewissheit in der Grammatik der Zustimmung (Grammar of Assent) 2 hat einen Wert, der von ihrem theologischen Kontext recht unabhängig ist. Sie hält dem Vergleich mit klassischen Texten der empiristischen Tradition von Locke bis Russell durchaus stand.

2

Anm. d. Übers.: Ins Deutsche übersetzt von T. Haecker, Philosophie des Glaubens (München: Wiechmann-Verlag, 1921).

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Peirce über die Methode der Wissenschaft Weniger als zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Newmans Grammatik versuchte in Amerika C. S. Peirce, eine für ein Zeitalter der wissenschaftlichen Forschung angemessene Erkenntnistheorie aufzustellen. Er stellte sie in einer Reihe von Aufsätzen in der Monatszeitschrift Popular Science Monthly unter dem Titel „Illustrations of the Logic of Science“ („Illustrationen zur Logik der Wissenschaft“) dar. Die berühmtesten Aufsätze sind die beiden ersten: „Die Festlegung einer Überzeugung“ („The Fixation of Belief“) und „Über die Klarheit unserer Gedanken“ („How to Make our Ideas Clear“) (CP 5. 358 ff., 388 ff.). In dem ersten Essay stellt Peirce fest, dass Nachforschungen immer mit einem Zweifel beginnen und mit einer Überzeugung enden. „Die Irritation des Zweifels ist das einzige unmittelbare Motiv für die Anstrengung, eine Überzeugung zu erlangen. Es ist sicherlich das Beste für uns, dass unsere Überzeugungen von der Art sind, dass sie unsere Handlungen wahrheitsgemäß so lenken, dass sie unsere Wünsche befriedigen. Und diese Reflexion wird zur Folge haben, dass wir jede Überzeugung verwerfen, die scheinbar nicht so entstanden ist, dass dieses Ergebnis sichergestellt wird. Doch dies wird nur dann der Fall sein, wenn sie anstelle der Überzeugung einen Zweifel entstehen lässt. Mit dem Zweifel beginnt also die Anstrengung, und mit dem Ende des Zweifels endet sie. Daher ist das einzige Ziel der Forschung, zu einer sicheren Überzeugung zu gelangen.“ (EWP 126)

Um uns über unsere Gedanken Klarheit zu verschaffen und unsere Überzeugungen festzulegen, verwenden wir Peirce zufolge normalerweise vier verschiedene Methoden: Dies sind seiner Meinung nach die Methode der Beharrlichkeit, die Methode der Autorität, die apriorische Methode und die Methode der Wissenschaft. Wir können uns einen Satz vornehmen, ihn für uns selbst wiederholen und uns auf all das konzentrieren, was ihn als wahr erscheinen lässt, und uns von allem abwenden, was ihn widerlegen könnte. So lesen beispielsweise einige Leute nur Zeitungen, die ihre politischen Überzeugungen bestätigen, und ein religiöser Mensch könnte sagen: „Oh, ich konnte So-und-so nicht glauben, weil ich zutiefst unglücklich wäre, wenn ich es tun würde.“ Dies ist die Methode der Beharrlichkeit. Sie hat den Vorzug, dass sie Zufriedenheit bietet und Seelenruhe. Es mag wahr sein, sagt Peirce, dass der Tod eine völlige Vernichtung bedeutet, doch ein Mensch, der glaubt, dass er nach dem Tode direkt in den Himmel kommt, „hat ein billiges Vergnügen, auf das nicht die geringste Enttäuschung folgt“. Das Problem, welches sich ergibt, wenn man die Methode der Beharrlichkeit befolgt, besteht darin, dass man vielleicht feststellen wird, dass die eigenen Ansichten mit denjenigen anderer, ebenso beharrlich Überzeugter in Konflikt geraten. Das Heilmittel hierfür wird durch die zweite Methode, die Methode der Autorität bereitgestellt. „Es sei eine Institution geschaffen, deren Ziel es ist, dem Volk richtige Lehren

Peirce über die Methode der Wissenschaft

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Die von Peirce verurteilte „Methode der Autorität“ erreichte ihren Höhepunkt, als das Vatikanische Konzil unter Pius IX. die Päpste für unfehlbar erklärte. Im Gegensatz dazu bestand Peirce zufolge die richtige Methode in der Erkenntnistheorie im „Fallibilismus“.

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6 Erkenntnistheorie

vor Augen zu halten, sie ständig zu wiederholen und die Jugend darin zu unterweisen. Außerdem habe sie die Macht zu verhindern, dass widersprechende Lehren unterrichtet, vertreten oder ausgedrückt werden.“ Diese Methode wurde am besten in Rom praktiziert, angefangen von den Tagen Numa Pompilius’ 3 bis zu Pius IX. Auf der ganzen Welt hat diese Methode von Ägypten bis Thailand majestätische steinerne Relikte hinterlassen, deren Erhabenheit mit den größten Werken der Natur vergleichbar ist. Die Methode der Autorität hat zwei Nachteile. Erstens wird sie immer von Grausamkeit begleitet. Zwar werden die Ketzerverbrennungen und die Massaker an Häretikern in modernen Staaten missbilligt, aber dennoch wird die Einheitlichkeit der Meinung durch eine Art von moralischem Terrorismus erzwungen. „Mache bekannt, dass du allen Ernstes eine tabuisierte Überzeugung vertrittst, und du kannst dir vollkommen sicher sein, dass du mit einer Grausamkeit behandelt werden wirst, die zwar weniger brutal, dafür aber raffinierter ist, als wenn man auf dich wie auf einen Wolf Jagd machte.“ Zweitens kann keine Institution die Meinungen zu jedem Thema vorschreiben, und es wird stets einige unabhängige Denker geben, die – indem sie ihre Kultur mit anderen vergleichen – feststellen werden, dass die durch Autorität eingeschärften Lehren lediglich aus Zufall und Gewohnheit resultieren. Solche Denker können eine dritte Methode verfolgen, indem sie durch eine apriorische Betrachtung versuchen, eine allgemeingültige Metaphysik aufzustellen. Diese Methode ist zwar intellektuell respektabler als die anderen beiden, doch es hat sich eindeutig erwiesen, dass auch dieser Versuch, die Festlegung von Überzeugungen zu erzielen, gescheitert ist. Von den frühesten Zeiten bis hinauf zur Gegenwart hat sich das Pendel zwischen einer idealistischen und einer materialistischen Metaphysik ständig hin- und herbewegt, ohne jemals zur Ruhe zu kommen. Wir müssen daher eine vierte Methode einführen: die Methode der Wissenschaft. Das erste Postulat dieser Methode ist die Existenz einer von unserem Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit. „Es gibt wirkliche Dinge, deren Eigenschaften von unseren Überzeugungen von ihnen vollkommen unabhängig sind. Diese Wirklichkeiten affizieren unsere Sinne nach regelmäßigen Gesetzen, und obwohl unsere Empfindungen so verschieden sind wie unsere Beziehungen zu den Gegenständen, können wir dank der Gesetze der Wahrnehmung dennoch mit Hilfe des Vernunftgebrauchs feststellen, wie es sich mit den Dingen in Wirklichkeit verhält, und jedermann, der über genug Erfahrung verfügt und ausreichend darüber nachsinnt, wird auf die eine wahre Schlussfolgerung geführt.“ (EWP 133)

Die Aufgabe der Logik besteht darin, uns die leitenden Prinzipien an die Hand zu geben, die es uns ermöglichen, auf der Grundlage dessen, was wir wissen, etwas 3

Anm. d. Übers.: Der legendäre, zweite König von Rom, der von 715 v. Chr. bis zu seinem Tod im Jahre 672 v. Ch. regiert haben soll.

Peirce über die Methode der Wissenschaft

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herauszufinden, was wir nicht wissen, und uns auf diese Weise dieser letzten Wirklichkeit immer mehr anzunähern. Obwohl Peirce darauf bestand, dass der Zweifel der Ausgangspunkt jeglicher Forschung ist, verwarf er Descartes’ Prinzip, nach dem alle wahre Philosophie mit einem allgemeinen methodischen Skeptizismus beginnen musste. Echter Zweifel muss Zweifel an einem bestimmten Satz aus einem bestimmten Grund sein. Descartes’ Zweifel war nicht mehr als eine nichtige Vorspiegelung und das kartesianische Unternehmen, Gewissheit auf dem Wege privater Meditation wiederzugewinnen, war sogar noch schädlicher. „Als Einzelne können wir nicht vernünftigerweise hoffen, die endgültige Philosophie zu finden; wir können sie daher nur für die Gemeinschaft der Philosophen suchen“ (EWP 87). Descartes hatte darin Recht, dass die erste Aufgabe der Philosophie darin besteht, Klarheit in unsere Vorstellungen zu bringen, doch es war ihm nicht gelungen, eine angemessene Erklärung dafür zu liefern, was er unter klaren und deutlichen Vorstellungen verstand. Wenn eine Vorstellung deutlich ist, muss sie den Test einer dialektischen Untersuchung bestehen. Treibt man sie weit genug voran, liefern Untersuchungsverfahren auf jede Frage, auf die sie anwendbar sind, eine einzige gewisse Antwort. Wissenschaftler können ein Problem – zum Beispiel die Geschwindigkeit des Lichts – mithilfe verschiedener Methoden untersuchen. Sie mögen anfänglich verschiedene Ergebnisse erzielen, doch in dem Maße, wie ein jeder seine Methode und seine Verfahren vervollkommnet, werden sich die Ergebnisse stetig auf einen vorbestimmten Mittelpunkt zubewegen. Dies ist der Punkt, in dem die Wahrheit zu finden ist. Steht diese Behauptung mit der These in Konflikt, dass die Wirklichkeit vom Denken unabhängig ist? Peirce’ Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und subtil. „Einerseits ist die Wirklichkeit vom Denken unabhängig, nicht notwendigerweise vom Denken im Allgemeinen, sondern nur von dem, was du oder ich oder irgendeine endliche Anzahl von Menschen über sie denken mag. […] Andererseits, obwohl der Gegenstand der endgültigen Überzeugung davon abhängt, was diese Überzeugung ist, hängt, was diese Überzeugung ist, nicht davon ab, was du oder ich oder irgendjemand denkt. Unsere eigene Verkehrtheit und die der anderen kann dazu führen, dass die Festlegung unserer Überzeugungen auf unbestimmt lange Zeit hinausgeschoben wird. Sie könnte sogar dazu führen, dass ein willkürlicher Satz allgemein akzeptiert wird, solange es die Menschheit gibt.“ (EWP 155)

Es ist daher möglich, dass p wahr ist, obwohl jeder Mensch glaubt, dass p falsch ist. Peirce zeigt zwei Wege auf, wie dies möglich ist. Er sagt, dass einerseits ein anderes Geschlecht die Menschen ablösen könnte, nachdem wir ausgestorben sind, und dass die wahre Überzeugung diejenige wäre, zu der dieses Geschlecht schließlich gelangt. Doch er sagt ebenfalls, dass „die allgemeine Zustimmung, die die Wahrheit ausmacht, keineswegs auf die Menschen in diesem irdischen Leben oder auf das Menschen-

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6 Erkenntnistheorie

geschlecht eingeschränkt ist, sondern sich auf die ganze Gemeinschaft der Geister erstreckt, zu der wir gehören“ (EWP 60). Es ist wichtig, sich über den Inhalt der Überzeugungen klar zu werden, zu denen wir im Laufe dieser gemeinschaftlichen, fortgesetzten Suche nach der Wahrheit gelangen. Überzeugungen haben Peirce zufolge drei Eigenschaften: Erstens sind sie etwas, dessen wir uns bewusst sind; zweitens lindern sie die Irritation des Zweifels; und drittens führen sie in uns zur Festlegung einer Regel für unser Handeln, d. h. zur Entstehung einer Gewohnheit. Unterschiedliche Überzeugungen lassen sich anhand der verschiedenen Handlungsweisen unterscheiden, die aus ihnen resultieren. „Wenn sich Überzeugungen in dieser Hinsicht nicht unterscheiden, wenn sie denselben Zweifel durch die Hervorbringung derselben Handlungsregel lindern, dann können keine weiteren Unterschiede, die die Art und Weise betreffen, wie wir uns dieser Überzeugungen bewusst sind, sie zu verschiedenen Überzeugungen machen.“ Um diese Behauptung zu veranschaulichen, verwendet Peirce ein Beispiel aus der Religion. Protestanten lehren, dass die Gaben auf dem Altar, nachdem die Segnungsworte gesprochen wurden, Brot und Wein sind; Katholiken sagen, dass sie es nicht sind. Doch die Angehörigen der beiden Konfessionen unterscheiden sich nicht bezüglich dessen voneinander, was sie als sinnliche Wirkungen des Sakraments erwarten. „Wir können unter Wein nichts anderes verstehen, als was bestimmte, direkte oder indirekte, Wirkungen auf unsere Sinne hat, und davon zu reden, dass etwas sämtliche sinnlichen Eigenschaften von Wein hat, in Wirklichkeit jedoch Blut ist, ist eine Redeweise ohne Sinn“ (EWP 146). Dies ist der Kontext, in dem Peirce erstmals sein Prinzip des Pragmatismus vorstellt, das er als die Regel präsentiert, um maximale Klarheit über unsere Vorstellungen zu erlangen. „Erwäge welche Wirkungen, die möglicherweise praktische Konsequenzen haben könnten, die Objekte unserer Vorstellungen nach unseren Begriffen von ihnen haben. Dann entspricht unsere Vorstellung von diesen Wirkungen der Gesamtheit unserer Vorstellung vom Objekt“ (EWP 146). Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Peirce’ Pragmatismus keine Theorie der Wahrheit, sondern eine Theorie der Bedeutung ist, und als solche nimmt sie die Verifikationstheorie der Bedeutung vorweg, die später von den logischen Positivisten aufgestellt wurde. Er wendet das Prinzip auf die Begriffe der Härte, des Gewichts, der Freiheit und der Kraft an und gelangt im letzten Fall zu der Schlussfolgerung: „Wenn uns die Wirkungen von Kraft bekannt sind, kennen wir jede Tatsache, die dadurch impliziert wird, dass jemand sagt, eine Kraft existiere, und es gibt außer diesem nichts, was gewusst werden könnte.“ (EWP 151) Es geht aus Peirce’ Schriften nicht immer eindeutig hervor, wie er die Beziehung zwischen Logik und Psychologie beurteilt. Zu Beginn seines Essays zur Illustration der Logik der Wissenschaft schreibt er Folgendes: „Das Ziel des Verstandesgebrauchs besteht darin, durch die Erwägung dessen, was wir bereits wissen, auf etwas anderes zu schließen, was wir nicht wissen. Daher ist logisches

Frege über Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie

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Denken dann gut, wenn es so erfolgt, dass es aus wahren Prämissen eine wahre Schlussfolgerung liefert, und ansonsten nicht. Daher betrifft die Frage seiner Gültigkeit lediglich einen Sachverhalt und ist keine Frage des Denkens.“ (EWP 122)

Einerseits schreibt Peirce manchmal so, als wären logische Wahrheiten Gesetze, die für das Verhalten des Geistes gelten. Nachdem er uns mitgeteilt hat, dass die drei Hauptklassen der logischen Schlüsse Deduktion, Induktion und Hypothese sind, sagt er weiter: „Bei der Deduktion steht der Geist unter der Herrschaft einer Gewohnheit oder Assoziation, durch die eine allgemeine Vorstellung in jedem Fall eine entsprechende Reaktion nahelegt“ (EWP 209). Vielleicht lassen sich diese beiden Aussagen auf folgende Weise in Einklang bringen: Der Verstandesgebrauch, unabhängig davon, ob er gut oder schlecht ist, ist zwar eine Frage der Gewohnheit; doch ob eine bestimmte Argumentation gültig ist oder nicht, ist eine Frage, die nicht das Denken, sondern Tatsachen betrifft.

Frege über Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie In den Schriften Freges besteht kein Mangel an ausdrücklichen Unterscheidungen zwischen Logik und Psychologie. Während er an seinen logizistischen Werken schrieb, war er, seit der Begriffsschrift, an der Erkenntnistheorie nicht um ihrer selbst willen interessiert, sondern es ging ihm darum, die Beziehung zwischen der Erkenntnistheorie und anderen verwandten Disziplinen darzustellen. In der Tradition von Descartes glaubte Frege, dass der Erkenntnistheorie in der Philosophie eine grundlegende Rolle gegeben worden war, die eigentlich der Logik zugewiesen werden sollte. Andererseits hatten Philosophen der empiristischen Tradition die Logik mit Psychologie verwechselt. Bei der Darlegung seines Systems der Logik war Frege darum bemüht, den Unterschied zwischen dem Wesen und der Rolle der Logik und diesen anderen Forschungsrichtungen aufzuzeigen. Frege übernahm von Kant die Unterscheidung zwischen apriorischem und aposteriorischem Wissen und passte sie an seine eigenen Zwecke an. Um sicherzustellen, dass die Rede von apriorischem Wissen nicht zu einer Verwechslung von Psychologie und Logik führt, erinnert er uns daran, dass es möglich ist, den Inhalt eines Satzes zu erkennen, bevor wir einen Beweis dafür gefunden haben. Wir müssen daher zwischen dem Weg unterscheiden, auf dem wir dazu kommen, von einer Aussage überzeugt zu sein, und der Art und Weise, wie wir sie schließlich rechtfertigen würden. Wenn überhaupt von Wissen die Rede sein soll, muss es eine Rechtfertigung geben, denn Wissen ist eine Überzeugung, die wahr und begründet ist. Es ist absurd, von einem apriorischen Irrtum zu reden, denn wissen kann man nur, was wahr ist. „Wenn man einen Satz in meinem Sinne aposteriori oder analytisch nennt, so urteilt man nicht über die psychologischen, physiologischen und physikalischen Verhältnisse,

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6 Erkenntnistheorie

die es möglich gemacht haben, den Inhalt des Satzes im Bewusstsein zu bilden, auch nicht darüber, wie ein anderer vielleicht irrtümlicherweise dazu gekommen ist, ihn für wahr zu halten, sondern darüber, worauf im tiefsten Grunde die Berechtigung des Fürwahrhaltens beruht.“ (FA 3) 4

Handelt es sich um eine mathematische Aussage, muss eine mathematische Begründung dafür gegeben werden. Es kann keine Frage der Psychologie sein, die mit den Vorgängen im Geiste des Mathematikers zu tun hätte. Sicherlich haben Mathematiker Empfindungen und geistige Vorstellungsbilder, und diese mögen, wenn jemand rechnet, bei seinen Gedanken eine Rolle spielen. Doch die Mathematik handelt nicht von diesen Bildern und Gedanken. Verschiedene Mathematiker bringen verschiedene Bilder mit derselben Zahl in Verbindung: Wenn sie mit der Zahl Hundert umgehen, kann eine Person an „100“ und eine andere an „C“ denken. Selbst wenn die Psychologie in der Lage wäre, eine kausale Erklärung für das Auftreten des Gedankens 102 = 100 zu geben, wäre sie dennoch von der Arithmetik vollkommen verschieden, denn der Arithmetik geht es um die Wahrheit solcher Sätze, der Psychologie hingegen um ihr Vorkommen im Denken. An einen Satz kann gedacht werden, ohne dass er wahr ist, und ein Satz kann wahr sein, ohne dass man an ihn denkt. Die Psychologie interessiert sich für die Ursache unseres Denkens, die Mathematik ist hingegen an den Beweisen für unsere Gedanken interessiert. Eine Ursache und ein Beweis sind zwei sehr verschiedene Dinge. Ohne eine entsprechende Menge von Phosphor in seinem Gehirn wäre Pythagoras zweifellos nicht in der Lage gewesen, seinen berühmten Lehrsatz zu beweisen, doch das bedeutet nicht, dass eine Aussage über den Phosphorgehalt seines Gehirns im Beweis des Lehrsatzes stehen sollte. Wenn der Mensch durch Evolution entstanden ist, hat es zweifellos eine Evolution des menschlichen Bewusstseins gegeben. Wäre daher die Mathematik eine Sache von Empfindungen und Vorstellungen, müssten wir Astronomen davor warnen, Schlussfolgerungen über Ereignisse der fernen Vergangenheit zu ziehen. Frege bringt die Absurdität dieser Position in einem ironischen Textabschnitt zum Ausdruck: „[D]u rechnest da 2 · 2 = 4; aber die Zahlvorstellung hat ja eine Entwicklung, eine Geschichte! Man kann zweifeln, ob sie damals schon so weit war. Woher weißt du, daß in jener Vergangenheit dieser Satz schon bestand? Könnten die damals lebenden Wesen nicht den Satz 2 · 2 = 5 gehabt haben, aus dem sich erst durch natürliche Züchtung im Kampf ums Dasein der Satz 2 · 2 = 4 entwickelt hat, der seinerseits vielleicht dazu bestimmt ist, auf demselben Wege sich zu 2 · 2 = 3 fortzubilden?“ (FA vi f.)5

4 5

Zitiert nach: G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, herausgegeben von C. Thiel (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988), 15. Ebd., 7.

Frege über Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie

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Die scharfe Trennung zwischen Logik und Psychologie behielt Frege im Laufe seines gesamten Lebens bei. In seinem Aufsatz „Der Gedanke“ warnt er vor der Doppeldeutigkeit der Aussage, dass es die Logik mit den Gesetzen des Denkens zu tun hat. Wenn wir unter „Gesetzen des Denkens“ psychologische Gesetze verstehen, die geistige Ereignisse mit ihren Ursachen in Beziehung setzen, dann handelt es sich hierbei nicht um Gesetze der Logik, da sie keinen Unterschied zwischen wahren und falschen Gedanken machen würden, denn Irrtum und Aberglaube haben ebenso Ursachen wie begründete Überzeugungen. Logische Gesetze sind Gesetze des Denkens nur in dem Sinne, in dem moralische Gesetze Gesetze des Verhaltens sind. Konkrete Denkvorgänge gehorchen den Gesetzen der Logik nicht immer, ebenso wenig wie tatsächliches Verhalten stets dem Moralgesetz entspricht. In seinem späten Aufsatz „Der Gedanke“ wagt sich Frege allerdings in einer Weise auf das Gebiet der Erkenntnistheorie vor, die dazu neigt, die von ihm so resolut verteidigten Unterscheidungen zu verwischen. Er fragt darin nach dem Sinn oder der Gegebenheitsweise des Personalpronomens der ersten Person Singular, „Ich“, das er als Eigenname behandelt, der seinen Benutzer als Bedeutung hat. Frege sagt: „Nun ist sich jeder selbst in einer besonderen und ursprünglichen Weise gegeben, wie er keinem anderen gegeben ist.“ 6 Angenommen, Horatio hat den Gedanken, dass er verwundet worden ist. Nur er kann den Sinn dieses Gedankens erfassen, da er nur sich selbst auf diese besondere Weise gegeben ist. „Einen Gedanken, den nur er allein fassen kann, kann er nicht mitteilen. Wenn er nun also sagt: ‚Ich bin verwundet worden‘, muß er das ‚ich‘ in einem Sinn gebrauchen, der auch andern faßbar ist, etwa in dem Sinne von ‚derjenige, der in diesem Augenblicke zu euch spricht‘, wobei er die sein Sprechen begleitenden Umstände dem Gedankenausdrucke dienstbar macht.“ (CP 360) 7

Dies scheint der von Frege bislang konsistent vertretenen Behauptung zu widersprechen, dass Gedanken – im Gegensatz zu geistigen Vorstellungsbildern, die privat sein können – das allgemeine Eigentum von uns allen sind. Nach seinen eigenen Prinzipien wäre ein Gedanke eines privaten Ego, der nicht mitteilbar ist, überhaupt kein Gedanke. Doch statt die Vorstellung abzulehnen, dass es sich bei „Ich“ um einen Eigennamen handelt, und die gesamte Idee des kartesianischen Ego zu verwerfen, präsentierte Frege auf höchst kartesianische Weise eine vollständig entwickelte Lehre von zwei getrennten Welten, von einer privaten Innenwelt und einer öffentlichen Außenwelt. Er sagte, dass wahrnehmbare Dinge der materiellen Welt uns allen zugänglich seien: Wir alle können dieselben Pferde sehen und dieselben Bäume be-

6 7

Zitiert nach: „Der Gedanke“, in: G. Frege, Logische Untersuchungen, herausgegeben von G. Patzig (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1966), 39. Ebd., 39 f.

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rühren. Doch er behauptete, dass es darüber hinaus eine innere Welt der Sinneseindrücke, der Schöpfungen der Einbildungskraft und Gefühle, eine Welt der Neigungen und Wünsche gebe – von Dingen, die wir für unsere gegenwärtigen Zwecke als „Vorstellungen“ bezeichnen können. Jeder, der behauptet, dass sich unser geistiges Leben in einer inneren privaten Welt vollzieht – wie Frege es in diesem Aufsatz getan hat –, muss sich irgendwann die folgende Frage stellen: Welche Gründe gibt es für die Annahme, dass es so etwas wie eine Außenwelt gibt? In seinen Meditationen verwendete Descartes skeptische Argumente, um dem Leser vorübergehend den Glauben an irgendetwas anderes als an sein privates Bewusstsein zu nehmen. Anschließend stellte er das Vertrauen des Lesers in die Existenz der realen Außenwelt wieder her, indem er sich auf die Wahrhaftigkeit Gottes berief. Frege akzeptierte an dieser Stelle die kartesianische Unterscheidung zwischen der Materie (der Welt der Dinge) und dem Geist (der Welt der Vorstellungen). Wie Descartes akzeptierte er, dass dem idealistischen Skeptizismus, der These, dass außer den Vorstellungen nichts existiert, eine Antwort gegeben werden muss. Wie aber, wenn alles nur Traum wäre, ein auf der Bühne meines Bewusstseins aufgeführtes Schauspiel (CP 363)? Ich scheine mit einem Begleiter auf einer grünen Wiese spazieren zu gehen; doch vielleicht ist das Reich der Dinge leer, und ich habe es lediglich mit Vorstellungen zu tun, deren Träger ich selbst bin. Kann nur, was eine meiner Vorstellung ist, Gegenstand meiner Aufmerksamkeit sein, dann gibt es, nach allem was ich weiß, keine grüne Wiese (denn eine Wiese ist keine Vorstellung und es gibt keine grünen Vorstellungen) und keinen Begleiter (denn menschliche Wesen sind keine Vorstellungen). Nach allem, was ich weiß, gibt es sogar außer meinen eigenen keine anderen Vorstellungen (denn ich kann von niemandem wissen, der sie besitzen könnte). Frege gelangt zu folgender Schlussfolgerung: „Entweder der Satz ist falsch, daß nur das Gegenstand meiner Betrachtung sein kann, was meine Vorstellung ist; oder all mein Wissen und Erkennen beschränkt sich auf den Bereich meiner Vorstellungen, auf die Bühne meines Bewußtseins. In diesem Falle hätte ich nur eine Innenwelt, und ich wüßte nichts von anderen Menschen.“ (CP 364) Ja, führt diese skeptische Argumentation nicht zu der Schlussfolgerung, dass ich selbst eine Vorstellung bin? Liege ich auf einem Liegestuhl, habe ich eine Reihe visueller Eindrücke, angefangen von den Spitzen meiner Stiefel bis zum verschwommenen Umriss meiner Nase. Mit welchem Recht wähle ich eine meiner Vorstellungen aus und mache sie zum Träger der anderen? Wozu soll es überhaupt einen Träger der Vorstellung geben? Hiermit gelangen wir an einen Endpunkt. Wenn es keinen Träger von Vorstellungen gibt, gibt es auch keine Vorstellungen. Es kann keine Erfahrung geben, ohne jemanden, der diese Erfahrung machen kann. Ein Schmerz muss empfunden werden, und was empfunden wird, muss von jemandem empfunden werden. Wenn dies zutrifft, dann gibt es etwas, das noch nicht meine Vorstellung ist, und dennoch Gegenstand meines Denkens werden kann, nämlich mich selbst. Wie Descartes bringt Frege den Skeptizismus mit einem Cogito, ergo sum an sein Ende. Doch während Descartes’

Frege über Logik, Psychologie und Erkenntnistheorie

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Ego ein nichtvorstellungshaftes Subjekt des Denkens war, ist Freges Ego ein nichtvorstellungshaftes Objekt des Denkens. Seine Existenz widerlegt die Behauptung, dass nur dasjenige Gegenstand meines Denkens sein kann, was zum Inhalt meines Bewusstseins gehört. Soll es so etwas wie Wissenschaft geben können, behauptet Frege, dann muss „ein drittes Reich […] anerkannt werden“: eine Welt, die zusätzlich zur Welt der Dinge und Vorstellungen existiert. Das Ich, der Träger der Vorstellungen, ist der erste Bürger dieses dritten Reiches. Es ist der Bereich der objektiven Gedanken. Was diesem Reich angehört, teilt mit den Vorstellungen die Eigenschaft, nicht von den Sinnen wahrgenommen werden zu können, und mit den materiellen Dingen die Eigenschaft, keines Trägers zu bedürfen. Der Lehrsatz des Pythagoras ist eine zeitlose Wahrheit, die keines Trägers bedarf. Er beginnt nicht wahr zu sein, wenn er das erste Mal gedacht oder bewiesen wird (CP 362). Andere Menschen, sagt Frege, können Gedanken ebenso gut erfassen wie ich selbst. Wir sind nicht die Besitzer unserer Gedanken, wie wir die Träger unserer Vorstellungen sind. Wir erzeugen keine Gedanken, sondern sie sind dasjenige, was wir im Denken erfassen. Was wir erfassen, existiert bereits: Wir nehmen es lediglich in Besitz. Unser Erfassen eines Gedankens wirkt sich nicht auf den Gedanken selbst aus, ebenso wenig wie sich unsere Beobachtung auf den Neumond auswirkt. Gedanken verändern sich nicht und entstehen und vergehen nicht. Sie sind nicht auf die Weise kausal wirksam oder unwirksam wie die Gegenstände der materiellen Welt. In dieser Welt wirkt ein Ding auf ein anderes ein und verändert es. Es selbst erfährt Einwirkungen und ändert sich. In der zeitlosen Welt, in der der Lehrsatz des Pythagoras existiert, ist dies nicht der Fall (PW 138). Nur wenige, die Frege auf dem Weg des kartesianischen Skeptizismus gefolgt sind, werden ihm auf dem Weg folgen, auf dem er sein Labyrinth verlässt. Seine Antwort auf die skeptische Herausforderung kann ebenso wenig überzeugen wie diejenige Descartes’. Nachdem beide Philosophen eine Trennung zwischen einer öffentlichen Welt materieller Gegenstände und einer privaten Welt des menschlichen Bewusstseins akzeptiert haben, versuchen sie, das von ihnen Getrennte unter Berufung auf eine dritte Welt wieder miteinander zu verbinden: auf den göttlichen Geist im Falle Descartes’ und auf die Welt der Gedanken bei Frege. In beiden Fällen besteht der fatale Irrtum darin, die ursprüngliche Dichotomie akzeptiert zu haben. Es gibt keine zwei Welten, sondern nur eine einzige, zu der nicht nur unbelebte materielle Gegenstände, sondern auch ihrer selbst bewusste, vernünftige Tiere gehören. Frege befand sich im Irrtum, und er sündigte gegen sein eigenes Grundprinzip der Trennung von Gedanken und Vorstellungen, als er akzeptierte, dass uns das Bewusstsein nicht mitteilbare Inhalte und Gewissheiten liefert, die wir nicht mit anderen teilen können.

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Wissen durch Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung Sechs Jahre bevor Frege seine Aufsätze über das Wesen des Denkens veröffentlichte, hatte Bertrand Russell seine kurze Darstellung der Probleme der Philosophie geschrieben, ein Buch, das für viele Generationen von Philosophiestudenten zur ersten Einführung in die Erkenntnistheorie wurde. Russell war ein Patenkind von John Stuart Mill und während vieler Jahre seines Lebens bemühte er sich, der britischen empiristischen Tradition, zu deren unerschütterlichsten Repräsentanten Mill gezählt hatte, treu zu bleiben. Doch Russell konnte Mills Auffassung, dass die Mathematik eine empirische Wissenschaft ist, nicht teilen, sodass sein Empirismus stets mit einem Element des Platonismus vermischt war, das er mit Frege teilte. Sein Ausgangspunkt in den Problemen ist der systematische Zweifel Descartes’. „Es scheint mir, daß ich jetzt auf einem Stuhl sitze, an einem Tisch von bestimmter Gestalt, auf dem ich beschriebene oder bedruckte Papiere sehe. Wenn ich meinen Kopf drehe, sehe ich vor dem Fenster Gebäude, Wolken und die Sonne. Ich glaube, daß die Sonne etwa 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt ist, daß sie eine heiße Kugel und sehr viel größer als die Erde ist, daß sie dank der Erdumdrehung jeden Morgen aufgeht und noch bis in die ferne Zukunft aufgehen wird.“ (PP 7 f.)8

Wie evident dies auch erscheinen mag: Russell behauptet, dass all dies auf vernünftige Weise bezweifelt werden kann. Der Tisch sieht aus verschiedenen Blickwinkeln und für verschiedene Personen unter verschiedenen Umständen unterschiedlich aus und fühlt sich unterschiedlich an. Der wirkliche Tisch ist nicht dasjenige, was wir unmittelbar erfahren, sondern er ist eine Schlussfolgerung aus dem, was wir unmittelbar wissen. Was auf dem Wege der Empfindung unmittelbar gewusst wird, ist sehr verschieden von irgendeinem wirklichen Tisch. „Als ‚Sinnesdaten‘ wollen wir die Dinge bezeichnen, die uns unmittelbar in der Wahrnehmung gegeben sind: z. B. Farben, Geräusche, Gerüche, Härten, Rauheiten usf. Als ‚Empfindung‘ wollen wir das Erlebnis bezeichnen, das wir haben, wenn wir diese Dinge unmittelbar wahrnehmen. So haben wir immer, wenn wir eine Farbe sehen, eine Empfindung dieser bestimmten Farbe, aber die Farbe selbst ist ein Sinnesdatum und keine Empfindung. Die Farbe ist das, was wir unmittelbar wahrnehmen, und das unmittelbare Wahrnehmen selbst ist die Empfindung.“ (PP 12) 9

8 9

Zitiert nach: B. Russell, Probleme der Philosophie, übersetzt von E. Bubser (Frankfurt: Suhrkamp, 1967), 9. Ebd., 13.

Wissen durch Bekanntschaft und Wissen durch Beschreibung

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Sinnesdaten sind das Einzige, dessen wir uns wirklich gewiss sein können. Descartes überwand seinen eigenen Zweifel mit dem Cogito, „Ich denke, also bin ich“. Russell warnt uns jedoch, dass dies mehr sagt, als gewiss ist: Die Sinnesdaten vergewissern uns nicht der Existenz eines dauerhaften Selbst, und was wirklich gewiss ist, ist nicht „Ich sehe eine braune Farbe“, sondern „Eine braune Farbe wird gesehen“. Sinnesdaten sind privat und individuell: Gibt es irgendeinen Grund, an die Existenz öffentlich zugänglicher, neutraler Gegenstände wie Tische zu glauben, die wir für solche Gegenstände halten? Wenn es keinen solchen Grund gibt, dann gibt es noch weniger einen Grund, an von meinem eigenen Selbst verschiedene Personen zu glauben, da ich nur über ihre Körper Zugang zum Bewusstsein anderer Menschen habe. Russell gab zu, dass es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass das ganze Leben nicht nur ein Traum ist. Unser Glaube an eine unabhängige Außenwelt ist eher instinktiv als dem Nachdenken entsprungen, doch dies bedeutet nicht, dass es irgendeinen guten Grund gibt, ihn zu verwerfen. Wenn wir provisorisch annehmen, dass es sowohl körperliche Gegenstände als auch Sinnesdaten gibt, sollten wir dann sagen, dass diese Gegenstände die Ursachen der Sinnesdaten sind? Tun wir dies, müssen wir sofort hinzufügen, dass es keinen Grund für die Annahme gibt, dass diese Ursachen den Sinnesdaten ähnlich sind – zum Beispiel, dass sie eine Farbe haben. Wenn es um ihre wahre Natur geht, lässt uns der gesunde Menschenverstand schnell im Dunkeln. Um den Unterschied zwischen Sinnesdaten und den Objekten, die sie hervorbringen, zu erläutern, führt Russell seine berühmte Unterscheidung zwischen dem Wissen durch Bekanntschaft und dem Wissen durch Beschreibung ein. „Wir wollen von Bekanntschaft immer dann sprechen, wenn uns etwas unmittelbar, ohne Vermittlung durch Schlußfolgerungen oder eine vorausgegangene Erkenntnis von Wahrheiten, bewußt ist. Angesichts meines Tisches sind mir die Sinnesdaten – Farbe, Form, Härte, Glätte usw. –, die die Erscheinung meines Tisches ausmachen, bekannt. […] Was ich hingegen von dem Tisch als materiellem Gegenstand weiß, wird mir nicht unmittelbar bewußt. Zu diesem Wissen komme ich erst durch die Bekanntschaft mit den Sinnesdaten, die die Erscheinung des Tisches ausmachen. Wir haben gesehen, daß es möglich ist, zu zweifeln, ob es überhaupt einen Tisch gibt: Aus dieser Annahme würde ein Widerspruch folgen. Andererseits ist es unmöglich, an den Sinnesdaten zu zweifeln. Was ich vom Tisch weiß, gehört also zur Erkenntnis durch Beschreibung. Der Tisch ist ‚der physikalische Gegenstand, der diese Sinnesdaten verursacht‘. So wird der Tisch mithilfe der Sinnesdaten beschrieben.“ (PP 46 f.)10

Sinnesdaten sind nicht das Einzige, mit dem wir bekannt sind. Die Introspektion macht uns mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen bekannt. Die Erinnerung macht uns mit vergangenen Daten des inneren und der äußeren Sinne 10 Zitiert nach: B. Russell, Probleme der Philosophie, übersetzt von E. Bubser (Frankfurt: Suhrkamp, 1967), 43.

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bekannt. Wir können sogar, obwohl dies nicht unumstritten ist, mit unserem eigenen Selbst bekannt sein. Mit materiellen Gegenständen oder dem Bewusstsein anderer Personen sind wir nicht bekannt. Allerdings haben wir Bekanntschaft mit sehr abstrakten Entitäten, nämlich mit Allgemeinbegriffen wie zum Beispiel Weiße, Bruderschaft usw. Wie Platon glaubte Russell, dass Universalien einer übersinnlichen Welt angehören: der Welt des Seins. Diese Welt war unveränderlich, starr, vollkommen und tot. Die Welt, die Gedanken, Gefühle und Sinnesdaten enthielt, war die Welt der Existenz. Je nach ihrem Temperament bevorzugten einige Menschen die eine Welt, andere Menschen hingegen die andere, aber „beide sind wirklich, und beide sind für den Metaphysiker wichtig“ (PP 100). Russell behauptete, dass jeder Satz, den wir verstehen können, vollständig aus Elementen zusammengesetzt sein muss, mit denen wir bekannt sind. Wie soll es dann möglich sein, Aussagen über Bismarck zu machen, den ich nie gesehen habe, oder über Europa, das viel zu groß ist, um es durch Sinnesdaten wahrzunehmen? Russell zufolge besteht jedes Urteil über Bismarck oder Europa in Wahrheit aus einer verschachtelten Reihe definitiver Beschreibungen und alles Wissen über diese beiden Gegenstände kann letztlich auf Wissen zurückgeführt werden, das auf Bekanntschaft beruht. Nur auf diese Weise können wir irgendein Wissen von Dingen haben, die uns in der Erfahrung nie begegnet sind. Als er sein Buch Our Knowledge of the External World (Unser Wissen von der Außenwelt) (1914) schrieb, beschrieb Russell die Beziehung zwischen physikalischen Gegenständen und Sinnesdaten so, dass er behauptete, materielle Gegenstände seien logische Konstrukte aus den Sinnesdaten. Während er in den Problemen der Philosophie angenommen hatte, dass Gegenstände Sinnesdaten verursachen, jedoch von ihnen verschieden waren, war er jetzt der Überzeugung, dass Aussagen über Gegenstände des täglichen Lebens, ebenso wie wissenschaftliche Aussagen, durch eine Analyse auf Aussagen über sinnliche Erfahrungen reduziert werden konnten. Doch auch dies sollte sich nur als Durchgangsphase seines Denkens erweisen, und in seinem letzten philosophischen Werk, Human Knowledge: Its Scope and Limits (Menschliches Wissen: Sein Umfang und seine Grenzen) (1948) kehrte er zu einer kausalen Theorie der Wahrnehmung zurück. In der Zwischenzeit war Vieles geschehen, was die gesamte Basis und Methode der Erkenntnistheorie infrage stellte.

Husserls epoché Husserl war der letzte große Philosoph in der Tradition Descartes’. Er betrachtete die phänomenologische Reduktion, und insbesondere das Programm der epoché, d. h. der Enthaltung des Urteils über die Existenz einer außerhalb des Geistes existierenden Wirklichkeit, als eine Verbesserung von Descartes’ methodischem Zweifel. Er glaubte in mehrerer Hinsicht, in dem Bestreben, aus der Grundlegung der Philosophie all das auszuschließen, was bezweifelt werden konnte, noch radikaler zu sein als Descartes.

Husserls epoché

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Erstens leugnete er die Unbezweifelbarkeit des Cogito, wenn damit statt der Existenz des Subjekts meiner gegenwärtigen Empfindungen die Existenz eines dauerhaften Selbst behauptet werden sollte. Zweitens glaubte er, dass Descartes die Daten des Bewusstseins nicht weiter hinterfragte und nicht zwischen dem unterschied, was in der Empfindung tatsächlich gegeben ist, und demjenigen an ihnen, was das Ergebnis einer metaphysischen Interpretation war, die die Existenz einer in Raum und Zeit ausgedehnten und vom Kausalgesetz bestimmten Außenwelt stillschweigend voraussetzt (LI 16). Die Unterschiede, die Husserl von Descartes trennen, sind jedoch unwichtig im Vergleich zu den Ähnlichkeiten, die sie verbinden. Beide Philosophen sahen die Erkenntnistheorie als die grundlegende Disziplin, die allen anderen Teilen der Philosophie und allen empirischen Wissenschaften vorausliegt. Wie Descartes zweifelte Husserl niemals an zwei Dingen: an der Gewissheit seiner eigenen geistigen Zustände und Vorgänge und an der Sprache, die er zur Beschreibung dieser Phänomene verwendete. Beide Denker glaubten, dass diese Gewissheiten jeglichen Zweifel an der Wirklichkeit der Außenwelt überleben können. Descartes war der Überzeugung, Gott könne meinen Geist, so wie er ist, geschaffen haben, ohne dass es so etwas wie die Materie gebe. Husserl behauptete, dass unser Bewusstsein von den Gegenständen der Außenwelt auf unseren flüchtigen Eindrücken und Kontakten mit ihnen beruht – bzw. auf unserem Erleben der „Abschattungen“ der Dinge, wie er sie nannte. Würden diese Abschattungen jedoch nicht die Ordnung darstellen, die wir in ihnen finden, könnten wir auf keine Weise Gegenstände aus ihnen konstruieren. Es ist jedoch durchaus vorstellbar, dass diese Ordnung verlorenginge, sodass nur eine chaotische Reihe von Empfindungen zurückbliebe. Wir würden dann nicht mehr körperliche Gegenstände erfahren, und unsere Welt wäre zerstört. Doch Husserl behauptete, dass unser Bewusstsein solch eine Zerstörung der Welt überleben würde (Ideen 49). Wenn mein eigenes Bewusstsein unbezweifelbar gewiss, die Welt der Materie hingegen wesentlich zweifelhaft ist, so schien nichts klüger, als sich des Urteils über die Welt der Materie zu enthalten, während man sich auf eine genaue Beschreibung und Analyse des eigenen Bewusstseins konzentriert. Doch Husserls epoché, oder Enthaltung des Urteils, ist nicht der neutrale Ausgangspunkt zwischen Realismus und Idealismus, der er zu sein scheint. Denn die Annahme, dass dem Bewusstsein in einer rein privaten Welt Ausdruck verliehen werden kann, hält von vornherein für bewiesen, was erst zu zeigen wäre, nämlich dass der Realismus falsch ist. Da sie den Inhalt des Bewusstseins von jeglicher Form einer nicht-zufälligen Verbindung mit ihrem sprachlichen Ausdruck und seinen Gegenständen in der Außenwelt trennen, sehen sich Husserl und Descartes in einer Form des Solipsismus gefangen, aus der sich Descartes durch Berufung auf die Wahrhaftigkeit Gottes zu retten versucht und Husserl – in seiner Spätphase – durch das Postulat eines transzendentalen Bewusstseins. Das Argument, das Husserl in Richtung auf einen transzendentalen Idealismus

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6 Erkenntnistheorie

drängte, war das folgende: Sein Ausgangspunkt war die natürliche Annahme, dass das Bewusstsein Teil der Welt ist und physikalische Ursachen hat. Wenn man jedoch vermeiden wollte, ein durch die Erfahrung nicht erreichbares Ding an sich zu postulieren, wie Kant es getan hatte, musste man behaupten, dass die physikalische Welt selbst eine Schöpfung des Bewusstseins ist. Wenn das Bewusstsein, das diese Welt erschafft, unser eigenes gewöhnliches psychologisches Bewusstsein ist, sind wir mit einem Paradox konfrontiert: Die Welt als Ganzes wird von einem ihrer Elemente, dem menschlichen Bewusstsein, konstituiert. Der einzige Weg, dieses Paradox zu vermeiden, besteht in der Behauptung, dass das die Welt konstituierende Bewusstsein kein Teil der Welt, sondern transzendental ist. 11 Die Welt, die das Bewusstsein erschafft, erhält ihre Form jedoch nicht nur durch unsere eigenen Erfahrungen, sondern auch durch die Kultur und die grundlegenden Annahmen, die unser Leben bestimmen, durch das, was Husserl als „die Lebenswelt“ bezeichnet. Die Lebenswelt ist keine Reihe von Urteilen, die auf Beweisen basiert, sondern sie ist die unbewiesene Grundlage, die allen Beweisen und Urteilen vorausliegt. Sie ist jedoch nichts Endgültiges und Unveränderliches. Unsere Lebenswelt wird durch Entwicklungen in der Wissenschaft ebenso beeinflusst, wie die Wissenschaft in der Lebenswelt wurzelt. Hypothesen erhalten zwar ihre Bedeutung durch ihre Verbindung mit der Lebenswelt, doch sie ändern diese Lebenswelt auch allmählich. In einem 1939 veröffentlichten Aufsatz, „Erfahrung und Urteil“, schrieb Husserl, „daß zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nichts von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so weit bestimmt vorgegeben, daß wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.“ 12

Es ist nur schwer zu erkennen, wie diese späten Gedanken mit den früheren Stufen von Husserls Denken in Einklang gebracht werden können. Ähnlich geht es Lesern von Wittgensteins letzten Schriften, in denen er neue und beunruhigende Ideen über das Wesen und die letzte Rechtfertigung von Wissen und Überzeugung untersucht. 13

11 An dieser Stelle stütze ich mich auf den Aufsatz „Transcendental Idealism“ von H. Philipse in CCH, 239–319. 12 Zitiert nach: E. Husserl, Erfahrung und Urteil, Untersuchungen zur Genealogie der Logik, ausgearbeitet und herausgegeben von L. Landgrebe (Prag: Academia Verlagsbuchhandlung, 1939), 39. 13 Die Ähnlichkeit zwischen beiden Denkern wird von Dagfinn Føllesdal in seinem Aufsatz „Ultimate Justification in Husserl and Wittgenstein“, in M. E. Reicher and J. C. Marek (eds.), Experience and Analysis (Wien: ÖBT & HPT, 2005) hervorgehoben, dem ich das obige Zitat entnommen habe.

Wittgenstein über Gewissheit

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Wittgenstein über Gewissheit Descartes’ Skeptizismus hat nachhaltiger gewirkt als sein Rationalismus: Die in der ersten und dritten Meditation aufgeworfenen Schwierigkeiten haben die Philosophen stärker beeindruckt als die Antworten auf diese Probleme in der vierten und sechsten Meditation. Husserls transzendentaler Idealismus ist nur der letzte in einer langen Reihe erfolgloser Versuche, auf den kartesianischen Zweifel an der Realität der Außenwelt zu antworten, während man das kartesianische Bild der Welt des Bewusstseins akzeptiert. Wittgensteins Privatsprachenargument, das bewies, dass es unmöglich ist, ein Element des Bewusstseins ohne Bezugnahme auf eine öffentliche Welt zu identifizieren, entzog der gesamten Vorstellung des kartesianischen Bewusstseins den Boden. Doch erst in seinen letzten Lebensjahren setzte sich Wittgenstein in den unter dem Titel Über Gewissheit nach seinem Tode herausgegebenen erkenntnistheoretischen Schriften mit dem kartesianischen Skeptizismus direkt auseinander. Als Antwort auf den skeptischen Zweifel von der Art, wie er in der ersten Meditation dargestellt wird, antwortet Wittgenstein zunächst mit zwei Hinweisen. Erstens benötige der Zweifel Gründe (OC 323, 458). Zweitens müsse sich aufgrund eines echten Zweifels das Verhalten einer Person ändern: Jemand, der seine Hände verwendet, wie wir es tun, zweifelt nicht wirklich daran, ob er ein Paar Hände hat (OC 428). Descartes könnte hierauf antworten, indem er dem ersten Hinweis zustimmt: Aus diesem Grunde erfand er den bösen Geist: um einen Grund für den Zweifel an unseren unmittelbaren Anschauungen angeben zu können. Auf den zweiten Hinweis würde er mit einer Unterscheidung antworten: Der von ihm empfohlene Zweifel ist ein theoretischer, methodischer Zweifel, kein praktischer. Wittgensteins weitere Kritik ist wesentlich tiefgreifender. Er behauptet, dass ein Zweifel voraussetzt, dass jemand ein Sprachspiel beherrscht. Um Zweifel an der Feststellung p formulieren zu können, muss man verstehen, was mit der Behauptung, dass p, gemeint ist. Ein radikaler kartesianischer Zweifel zerstört sich selbst, weil er die Bedeutung der Wörter infrage stellen muss, die er verwendet, um sich auszudrücken (OC 369, 456). Wenn mich der böse Geist vollständig täuscht, dann täuscht er mich auch über die Bedeutung des Wortes „täuschen“. Daher drücke der Satz „Der böse Geist täuscht mich in jeder Hinsicht“ nicht den umfassenden Zweifel aus, der damit formuliert werden soll. Selbst innerhalb des Sprachspiels muss es einige Sätze geben, die nicht bezweifelt werden können. „[D]ie Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welche jene sich bewegen.“14 (OC 341) Gibt es jedoch Sätze, die wir nicht bezweifeln können, handelt es sich dann bei diesen um Sätze, über deren Inhalt wir uns nicht irren können? Wittgenstein unterschied zwischen Irrtum und anderen Formen falscher 14 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Über Gewißheit, herausgegeben von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright (Frankfurt: Suhrkamp, 1997), 89.

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Überzeugung. Wenn sich jemand einbilden würde, er habe soeben für längere Zeit an einem anderen Ort gelebt als dem, an dem er tatsächlich gelebt hat, so wäre dies kein Irrtum, sondern eine geistige Verwirrung, von der man versuchen würde, ihn zu heilen; man würde nicht versuchen, ihn mit Gründen zu widerlegen. Der Unterschied zwischen Wahnsinn und Irrtum besteht darin, dass bei einem Irrtum ein falsches Urteil gefällt wird, während im Wahnsinn überhaupt nicht geurteilt wird, weder wahr noch falsch. Entsprechendes gilt für Träume: Das Argument „Vielleicht träume ich“ ist sinnlos, denn wenn ich träume, ist auch diese Äußerung geträumt, ja es ist dann auch geträumt, dass diese Worte eine Bedeutung haben (OC 383). Wittgensteins Absicht in Über Gewissheit besteht nicht nur darin, die Realität der Außenwelt gegen den Skeptizismus Descartes’ zu beweisen. Sein Ziel stand, wie er selbst zugab, demjenigen Newmans in dessen Grammatik der Zustimmung wesentlich näher: Er wollte untersuchen, wie es möglich war, über eine unerschütterliche Gewissheit zu verfügen, die nicht auf Beweisen beruht. Die Existenz von Gegenständen der Außenwelt war zwar gewiss, doch es war nichts, was bewiesen werden oder ein Gegenstand des Wissens sein konnte. Ihre Stellung in unserem Weltbild war wesentlich fundamentaler. In seinen letzten Lebensmonaten versuchte Wittgenstein, den Status einer Reihe von Aussagen zu klären, die in der Struktur unserer Erkenntnistheorie einen besonderen Platz einnehmen, von Aussagen, die für uns „feststehen“, wie er sagte (OC 116). Sätze wie „Den Mont Blanc gibt es schon seit langer Zeit“ und „Man kann nicht zum Mond fliegen, wenn man mit den Armen flattert“ sehen wie empirische Sätze aus. Doch sie sind „empirische“ Aussagen von besonderer Art: Sie sind nicht selbst das Ergebnis von Untersuchungen, sondern die Grundlage für Nachforschungen. Es sind erstarrte Erfahrungssätze, die als Leitung für die gewöhnlichen, flüssigen Erfahrungssätze fungieren. Es sind Sätze, die unser Weltbild ausmachen, und ein Weltbild erwirbt man nicht durch Erfahrung, sondern „es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“ (OC 94). Kinder lernen diese Sätze nicht, sie schlucken sie sozusagen zusammen mit dem, was sie lernen (OC 476). „Es ist ganz sicher, daß Automobile nicht aus der Erde wachsen. – Wir fühlen, daß, wenn einer das Gegenteil glauben könnte, er allem Glauben schenken könnte, was wir für unmöglich erklären, und alles bestreiten könnte, was wir für sicher halten. Wie aber hängt dieser eine Glaube mit allen anderen zusammen? Wir möchten sagen, daß, wer jenes glauben kann, das ganze System unserer Verifikation nicht annimmt. Dies System ist etwas, was der Mensch durch Beobachtung und Unterricht aufnimmt. Ich sage absichtlich nicht ‚lernt‘.“ (OC 279) 15

15 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Über Gewißheit, herausgegeben von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright (Frankfurt: Suhrkamp, 1997), 74 f.

Wittgenstein über Gewissheit

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Der Satz „Automobile wachsen nicht aus der Erde“ war eines von Wittgensteins Beispielen für Sätze, aus denen sich unser Weltbild aufbaut. Surrealisten wie Joan Miró erzielten ihre Effekte, indem sie Sätze wie diesen infrage stellten.

Wenn wir anfänglich etwas zu glauben beginnen, glauben wir keinen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Sätzen: Das Licht erhellt allmählich das Ganze. Obwohl diese Sätze die Grundlagen unserer Sprachspiele abgeben, stellen sie für Wittgenstein keine Gründe oder Voraussetzungen von Sprachspielen dar. Er sagt: „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten; also eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“ (OC 204) 16 Die Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert durchlief parallele Stadien der Entwicklung in unterschiedlichen Klimaten des Denkens. In jedem Fall erfolgte die Bewegung von einer anfänglichen Konzentration auf das Bewusstsein des Einzelnen in

16 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Über Gewißheit, herausgegeben von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright (Frankfurt: Suhrkamp, 1997), 59.

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6 Erkenntnistheorie

Richtung auf die Anerkennung der Rolle der sozialen Gemeinschaften im Aufbau des Netzes der Überzeugungen. In ähnlicher Weise vollzog sich eine Bewegung von der anfänglichen Konzentration auf den rein kognitiven Aspekt der Erfahrung zu einer Betonung ihrer emotionalen und praktischen Elemente. Diese Entwicklung vollzog sich sowohl innerhalb der verschiedenen philosophischen Schulen (der kontinentalen und analytischen), als auch innerhalb des Denkens einzelner Philosophen, wie zum Beispiel von Husserl und Wittgenstein. In jedem Fall führte diese Entwicklung zu einer Bereicherung eines Gebietes der Philosophie, das zunächst durch eine übermäßige Betonung des Individualismus eingeengt war.

7

Metaphysik

Verschiedene Formen des Idealismus Die meisten Philosophen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertraten irgendeine Form des Idealismus. Dieser Zeitraum war die Blütezeit des transzendentalen Idealismus in Deutschland: Fichte, Schelling und Hegel arbeiteten an einer Theorie des Universums als Entwicklungsgeschichte eines absoluten Bewusstseins. Doch selbst diejenigen, die dem absoluten Idealismus am kritischsten gegenüberstanden, waren Anhänger einer anderen Form des Idealismus, des empiristischen Idealismus Berkeleys, der Sein mit Wahrgenommenwerden gleichsetzt. John Stuart Mill in England und Arthur Schopenhauer in Deutschland nahmen beide Berkeleys These, dass die Welt der Erfahrung aus nichts anderem als Vorstellungen besteht, zum Ausgangspunkt ihres Philosophierens, und beide versuchten Berkeleys Theorie der Materie von ihrer theologischen Grundlage zu trennen. 1 Mill zufolge bedeutet unser Glaube, dass materielle Gegenstände weiterexistieren, wenn sie von uns nicht wahrgenommen werden, nichts anderes als unsere fortgesetzte Erwartung, in Zukunft weitere Wahrnehmungen von ihnen zu haben. Er definiert Materie als „permanente Möglichkeit der Empfindung“ und sagt uns, die Außenwelt sei die Welt möglicher Wahrnehmungen, die in gesetzmäßiger Weise aufeinanderfolgen. Der erste Satz von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung lautet: „Die Welt ist meine Vorstellung.“ Alles in der Welt existiert nur als Objekt für ein Subjekt, existiert nur in seiner Beziehung zu einem Bewusstsein. Um philosophische Besonnenheit zu erreichen, muss ein Mensch anerkennen, „daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt“ (WWI 3). Das Subjekt, sagt Schopenhauer, ist dasjenige, was alle Dinge erkennt, und selbst völlig unbekannt ist. Es ist daher der Träger der Welt. Schopenhauer übernimmt von Kant die Auffassung, dass Raum, Zeit und Kausalität universale Formen jedes Objekts sind, die in unserem Bewusstsein vor jeder Erfahrung angeschaut werden. Raum und Zeit sind apriorische Formen der Sinnlichkeit und die Kausalität ist eine apriorische Form des Verstandes. Verstand ist keine Eigentümlichkeit des Menschen, denn auch Tiere sind sich der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung bewusst. Der Verstand ist dasjenige, was rohe Empfindung in Wahrnehmung verwandelt, so wie die aufgehende Sonne Farbe in eine Landschaft bringt. Die den Menschen auszeichnende Fähigkeit ist die Vernunft, d. h. die Fähig1

Vgl. Band III, 87, 321.

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keit, abstrakte Begriffe zu bilden und miteinander zu verbinden. Die Vernunft verleiht dem Menschen zwar die Möglichkeit zu sprechen, vorsätzlich zu handeln und Wissenschaft zu betreiben, doch sie erweitert das Wissen nicht, sondern gibt ihm lediglich eine andere Form. Unser gesamtes Wissen stammt aus Wahrnehmungen, aus denen sich die Welt konstituiert. Die Behauptung, dass die Welt nur für ein Subjekt existiert, führt auf ein Paradox. Schopenhauer akzeptierte eine evolutionäre Sicht der Geschichte: Die Tiere existierten vor dem Menschen, Fische vor den Landtieren und Pflanzen vor den Fischen. Eine lange Reihe von Veränderungen fand statt, bevor sich das erste Auge öffnete. Und dennoch hängt nach der These, dass die Welt Vorstellung ist, die Existenz dieser ganzen Welt immer von diesem ersten Auge ab, und sollte es auch nur das Auge eines Insekts gewesen sein. „So sehen wir einerseits notwendig das Dasein der ganzen Welt abhängig vom ersten erkennenden Wesen, ein so unvollkommenes dieses immer auch sein mag; andererseits ebenso notwendig dieses erste erkennende Wesen völlig abhängig von einer langen ihm vorhergegangenen Kette von Ursachen und Wirkungen, in die es selbst als ein kleines Glied eintritt.“ (WWI 30) 2

Diese Antinomie kann nur aufgelöst werden, wenn wir von der Betrachtung der Welt als Vorstellung zur Betrachtung der Welt als Wille übergehen. Das zweite Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung beginnt mit einer Erörterung der Naturwissenschaften. Einige von ihnen, wie zum Beispiel die Botanik und Zoologie, beschäftigen sich mit den dauerhaften Formen von individuellen Wesen, während andere, wie zum Beispiel die Mechanik und Physik, Erklärungen von Veränderungen versprechen. Diese Wissenschaften geben uns Naturgesetze, wie zum Beispiel die Gesetze der Trägheit und Gravitation, die die Stellen der Phänomene in Zeit und Raum bestimmen. Doch diese Gesetze geben uns keine Auskunft über das innere Wesen der Naturkräfte – von Materie, Gewicht, Trägheit usw. –, auf die wir uns berufen, um die Gleichförmigkeit dieser Phänomene zu erklären. „[D]ie Kraft, vermöge welcher ein Stein zur Erde fällt, oder ein Körper den anderen fortstößt, [ist] ihrem inneren Wesen nach, uns nicht minder fremd und geheimnisvoll, als die, welche die Bewegungen und das Wachstum eines Tieres hervorbringt.“ (WWI 97) 3 Die wissenschaftliche Forschung, solange sie sich auf die Beschäftigung mit Vorstellungen beschränkt, lässt uns unbefriedigt. „Wir wollen die Bedeutung jener Vorstellung wissen: wir fragen, ob diese Welt nichts weiter als Vorstellung sei; in welchem Falle sie wie ein wesenloser Traum oder ein gespensterhaftes Luftgebilde, an uns vorüberziehen müßte, nicht unserer Betrachtung wert; oder ob sie noch etwas anderes, 2 3

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 65. Ebd., 148.

Verschiedene Formen des Idealismus

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noch etwas außerdem ist, und was sodann dieses sei.“ (WWI 99) Wir könnten niemals einen Schritt weiterkommen, wenn wir nur erkennende Subjekte wären – geflügelte Engelsköpfe ohne Körper. Nun wurzelt aber ein jeder von uns dank seines Leibes in der Welt. Mein Wissen über die Welt ist mir durch meinen Körper vermittelt, doch mein Körper ist nicht nur das Medium von Informationen, nur ein Objekt unter anderen: Er ist ein handelndes Subjekt, dessen Kraft ich mir direkt bewusst bin. Der Schlüssel zu meiner eigenen Existenz ist mein Wille, er offenbart mir den inneren Mechanismus meiner Aktionen. Die Handlungen meines Körpers sind nicht die Wirkungen, deren Ursache mein Wille ist: Die Handlung und der Wille sind identisch „Jeder wahre Akt seines Willens ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes.“ 4 Umgekehrt sind Einwirkungen auf den Leib auch Einwirkungen auf den Willen – behaglich, wenn sie dem Willen entsprechen, und schmerzhaft, wenn sie ihm zuwider sind. Jeder von uns kennt sich selbst als ein Objekt und als ein Wille; und dies ist der Schlüssel zum Verständnis des Wesens sämtlicher Naturphänomene. „Wir werden demzufolge die nunmehr zur Deutlichkeit erhobene doppelte, auf zwei völlig heterogene Weisen gegebene Erkenntnis, welche wir vom Wesen und Wirken unseres eigenen Leibes haben, weiterhin als einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur gebrauchen und alle Objekte, die nicht unser eigener Leib, daher nicht auf doppelte Weise, sondern allein als Vorstellungen unserem Bewußtsein gegeben sind, eben nach Analogie jenes Leibes beurteilen und daher annehmen, daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Dasein als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das dann noch übrig Bleibende, seinem inneren Wesen nach, dasselbe sein muß, als was wir an uns Wille nennen. Denn welche andere Art von Dasein oder Realität sollten wir der übrigen Körperwelt beilegen? Woher die Elemente nehmen, aus denen wir eine solche zusammensetzen? Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt, noch denkbar.“ (WWI 105) 5

Die Kraft, die den Kristall bildet, die Kraft, die die Magnetnadel zum Nordpol dreht, die Kraft, die die Pflanze aufkeimen und wachsen lässt – alle diese Kräfte, so unterschiedlich sie in ihrer phänomenalen Seinsweise auch sein mögen, sind ihrem inneren Wesen nach mit dem identisch, was in uns Wille ist. Die phänomenale Seinsweise ist bloße Vorstellung, doch der Wille ist ein Ding an sich. Dass Wort „Wille“ ist wie eine Zauberformel, die das innerste Wesen von allem in der Natur enthüllt. Dies bedeutet nicht – wie Schopenhauer schnell hinzufügt –, dass ein fallender Stein ein Bewusstsein oder Wünsche hat. Die Abwägung von Motiven ist lediglich die 4 5

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 151. Ebd., 157.

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Form, die der Wille in menschlichen Wesen annimmt; sie gehört nicht zum Wesen des Willens, der auf verschiedenen Stufen erscheint. Nur auf einer höchsten Stufe wird er von Wissen und Selbstbestimmung begleitet. Warum, möchte man fragen, sollen wir sagen, dass Naturkräfte niedrigere Stufen des Willens sind, statt zu behaupten, dass der menschliche Wille die höchste Stufe der Kraft ist? Schopenhauers Antwort auf diese Frage lautet, dass unser Begriff der Kraft eine Abstraktion aus der phänomenalen Welt von Ursache und Wirkung ist, während der Wille etwas ist, von dem wir ein unmittelbares Bewusstsein haben. Den Willen als eine Form der Kraft zu erklären, würde bedeuten, das uns besser Bekannte durch etwas uns weniger Bekanntes zu erklären und das einzige unmittelbare Wissen, das wir vom inneren Wesen der Welt haben, zu verleugnen. Der Wille ist grundlos: Er steht außerhalb des Reichs von Ursache und Wirkung. Es ist daher ein Fehler, nach der Ursache ursprünglicher Kräfte wie der Schwerkraft oder Elektrizität zu fragen. Gewiss: Die Manifestation dieser Kräfte erfolgt gemäß den Gesetzen von Ursache und Wirkung, doch die Ursache für das Fallen des Steins ist nicht die Gravitation, sondern seine Nähe zur Erde. Die Gravitationskraft ist selbst nicht Teil der Kausalkette, weil sie außerhalb der Zeit liegt. Dies gilt für alle Kräfte. „Jahrtausende schlummern die chemischen Kräfte in einer Materie, bis die Berührung der Reagenzien sie frei macht: dann erscheinen sie: aber die Zeit ist nur für diese Erscheinung, nicht für die Kräfte selbst da. Jahrtausende schlummert der Galvanismus in Kupfer und Zink, und sie liegen ruhig neben dem Silber, welches, sobald alle drei unter den erforderten Bedingungen sich berühren, in Flammen aufgehen muß.“ (WWI 136) 6

Diese Erklärung der Rolle der Kausalität in der Welt weist einige Parallelen mit dem Okkasionalismus von Malebranche auf, auf die Schopenhauer hinweist. 7 „Allerdings hat Malebranche Recht: jede natürliche Ursache ist nur Gelegenheitsursache.“ Während jedoch für Malebranche Gott die wahre Ursache jeder natürlichen Wirkung war, ist die wahre Ursache für Schopenhauer der universale Wille. Eine natürliche Ursache, sagt er, „gibt nur Gelegenheit, Anlaß zur Erscheinung jenes eigenen und unteilbaren Willens, der das An-sich aller Dinge ist und dessen stufenweise Objektivierung diese ganze sichtbare Welt. Nur das Hervortreten, das Sichtbarwerden an diesem Ort, zu dieser Zeit, wird durch die Ursache herbeigeführt und ist insofern von ihr abhängig, nicht aber das Ganze der Erscheinung, nicht ihr inneres Wesen.“ (WWI 138) 8

6 7 8

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 195. Vgl. Band III, 70. Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 197.

Verschiedene Formen des Idealismus

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Der allgemeine Wille objektiviert sich auf vielen verschiedenen Stufen. Der Hauptunterschied zwischen den höheren und niedrigeren Stufen des Willens liegt in der Rolle der Individualität. Auf den höheren Stufen tritt die Individualität deutlich hervor: Kein Mensch ist wie der andere, und es gibt deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Exemplaren höherer Tierarten. Doch je weiter wir in der Stufenfolge nach unten gehen, umso mehr verliert sich der Individualcharakter im allgemeinen Charakter der Art. Pflanzen haben fast gar keine individuellen Eigenschaften, und in der anorganischen Welt ist sämtliche Individualität verschwunden. Eine Naturkraft wie die Elektrizität muss sich in den Millionen von Phänomenen, in denen sie sich manifestiert, auf genau die gleiche Weise zeigen. Aus diesem Grund lassen sich die Phänomene auf den unteren Stufen der Objektivation des Willens leichter vorhersagen. In der gesamten Welt der Natur äußert sich der Wille in Form von Kämpfen. Es besteht ein Kampf zwischen den verschiedenen Stufen des Willens, zum Beispiel wenn ein Magnet ein Stück Eisen hebt, was einen Sieg der höheren Form des Willens (der Elektrizität) über eine niedrigere (die Schwerkraft) darstellt. Wenn ein Mensch einen Arm hebt, triumphiert der menschliche Wille über die Schwerkraft, und bei jedem gesunden Tier sehen wir, wie der seiner selbst bewusste Organismus über die physikalischen und chemischen Gesetze, die die Teile seines Körpers beherrschen, einen Sieg davonträgt. Es ist dieser immerwährende Kampf, der das körperliche Leben so mühsam macht und die Notwendigkeit des Schlafs und schließlich des Todes mit sich bringt, in dem „endlich, durch Umstände begünstigt, jene unterjochten Naturkräfte dem, selbst durch den steten Sieg ermüdeten, Organismus die ihnen entrissene Materie wieder abgewinnen, und zur ungehinderten Darstellung ihres Wesens gelangen“ (WWI 146) 9. Auch am unteren Ende der Stufenfolge sehen wir den allgemeinen wesentlichen Kampf, der den Willen offenbart. Die Bahn der Erde um die Sonne wird durch die ständige Spannung zwischen einer Zentrifugal- und einer Zentripetalkraft aufrechterhalten. Die Materie selbst wird durch Anziehungs- und Abstoßungskräfte im Sein erhalten: durch Schwerkraft und Undurchdringlichkeit. Dieser ständige Druck und Widerstand ist die Objektivität des Willens auf seiner untersten Stufe, und selbst dort, als bloßer blinder Drang, offenbart er seinen Charakter als Wille. Der Wille nimmt in Schopenhauers System die Stelle ein, die im System Kants das Ding an sich einnimmt. Erwägt man ihn unabhängig von seinen Aktivitäten in der Erscheinungswelt, existiert er außerhalb von Raum und Zeit. Da Raum und Zeit die Bedingungen der Möglichkeit von Mannigfaltigkeit sind, muss der Wille einer sein. Trotz der Vielfalt der Dinge in Raum und Zeit bleibt er unteilbar. Der Wille ist in einem Menschen auf einer höheren Stufe objektiviert als in einem Stein. Doch dies bedeutet nicht, dass im Menschen ein größerer Teil des Willens anwesend ist und im 9

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 207.

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7 Metaphysik

Eine Lithographie von F. Stassen zeigt den Moment in Wagners Oper, in dem Isolde Tristan das verhängnisvolle Gift reicht.

Stein ein kleinerer, weil die Beziehung zwischen einem Teil und dem Ganzen allein dem Raum angehört. Das Gleiche gilt für die Pluralität. Der Wille „offenbart sich ebenso ganz und ebenso sehr in einer Eiche, wie in Millionen“ (WWI 128). 10 Die verschiedenen Stufen der Objektivation des Willens werden von Schopen10 Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 185.

Metaphysik und Teleologie

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hauer den Ideen Platons gleichgesetzt. Auch diese befinden sich, wie der Wille selbst, außerhalb von Raum und Zeit. Er sagt, dass „jene verschiedenen Stufen der Objektivation des Willens, welche, in zahllosen Individuen ausgedrückt, als die unerreichten Musterbilder dieser, oder als die ewigen Formen der Dinge dastehen, nicht selbst in Raum und Zeit, das Medium der Individuen, eintretend; sondern fest stehend, keinem Wechsel unterworfen, immer seiend, nie geworden, während jene entstehen und vergehen, immer werden und nie sind“. (WWI 129) 11

Die Kombination aus platonischem Idealismus und indischem Mystizismus gibt Schopenhauers System eine einzigartige metaphysische Qualität. Wie sehr sie seinen Stil auch bewundert oder seinen Einfluss zugegeben haben mögen: Nur wenige Philosophen haben ihm ganz folgen können. Es hat niemals eine Schule der Schopenhauerianer gegeben, wie es Schulen von Kantianern und Hegelianern gegeben hat. Der Einzige, der bereit war, sich als Schüler von Schopenhauer zu bezeichnen, war der Wagner von Tristan und Isolde.

Metaphysik und Teleologie Es besteht ein großer Abstand zwischen Schopenhauers mythischem Idealismus und Darwins evolutionärem Naturalismus, ja es mag sogar seltsam erscheinen, in einem Kapitel über Metaphysik überhaupt einen Biologen zu erwähnen. Doch Darwins Theorien wirkten sich auf die allgemeine Theorie der Kausalität aus, die weit über seine unmittelbaren Interessen hinausging. Aristoteles, der als Erster die Metaphysik systematisierte, tat dies anhand von vier Arten von Ursachen: der materialen und formalen sowie der Wirk- und Zweckursache. Die Zweckursachen waren das Ziel oder der Zweck einer Struktur oder Aktivität. Erklärungen anhand von Zweckursachen wurden nach dem griechischen Wort für Zweck, telos, als „teleologisch“ bezeichnet. Für Aristoteles waren teleologische Erklärungen auf jeder Ebene angebracht: Sie erklärten das Wühlen eines Regenwurms ebenso wie die Bewegung der Himmelssphären. Viele Denker haben behauptet, dass seit Darwin in keiner wissenschaftlichen Disziplin mehr Platz für irgendwelche teleologischen Erklärungen sei. Aristotelische teleologische Erklärungen von Aktivitäten und Strukturen haben zwei Merkmale: Sie erklären Dinge anhand ihrer Zwecke, nicht ihrer Ursprünge, und sie berufen sich auf die Vorstellung des Gutseins für etwas. So wird zum Beispiel eine Aktivität nicht mit Bezug auf ihren Anfangs-, sondern auf ihren Endpunkt erklärt, und das Erreichen des Endpunkts wird als eine Art von Gut oder Nutzen für den Handlungsträger dargestellt, dessen Aktivität zu erklären ist. Die nach unten gerich11 Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 186 f.

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tete Bewegung der Körper auf der Erde erklärte Aristoteles als eine Bewegung in Richtung auf ihren natürlichen Ort, dem für sie besten Ort, und die Kreisbewegung der Himmelssphären wurde durch die Liebe zu einem höchsten Wesen erklärt. Auf ähnliche Weise zeigte die teleologische Erklärung der Entwicklung organischer Strukturen, wie ein Organ, in seinem vollentwickelten Zustand, einen Nutzen für den Gesamtorganismus erbrachte. Enten wachsen Häute zwischen den Zehen ihrer Füße, damit sie schwimmen können. Descartes verwarf die Verwendung teleologischer Erklärungen in der Physik oder der Biologie. Eine finale Kausalität, behauptete er, setze im Träger ein Wissen um das verfolgte Ziel voraus; doch ein solches Wissen könne nur in einem Geist existieren. Die Erklärung jeder physikalischen Bewegung und Aktivität müsse mechanistisch erfolgen, d. h., sie müsse anhand von Anfangs-, nicht Endbedingungen gegeben werden, und diese Bedingungen müssten in deskriptiven, nicht in bewertenden Begriffen formuliert werden. Descartes führte kein gutes Argument für diese Behauptung an, und seine These schloss die einfache Anziehung durch Gravitation ebenso aus wie das kosmische Ballett von Aristoteles. Außerdem irrte Descartes mit seiner Annahme, teleologische Erklärungen müssten bewusste Zwecke voraussetzen. Was immer Aristoteles über die Himmelskörper gedacht haben mag – er glaubte niemals, dass ein Regenwurm, geschweige denn ein fallender Kieselstein, einen Geist besitzt. Es war nicht Descartes, sondern es waren Newton und Darwin, die der aristotelischen Teleologie schwere Schläge versetzten, indem sie auf unterschiedliche Weise ihre beiden konstitutiven Elemente unterminierten. Newtons Gravitation bot, nicht weniger als die aristotelische Bewegung, eine Erklärung unter Bezug auf einen Endpunkt: Die Gravitation ist eine Zentripetalkraft, eine Kraft, „durch die Körper gezogen oder gedrängt werden oder auf irgendeine Weise dazu tendieren, einem Punkt als Mittelpunkt zuzustreben“. Doch Newtons Erklärung unterscheidet sich von derjenigen von Aristoteles grundsätzlich darin, dass sich mit ihr keinerlei Behauptung verbindet, dass es für einen Körper auf irgendeine Weise gut sei, den angestrebten Mittelpunkt zu erreichen. Andererseits gleichen Darwins Erklärungen mithilfe der natürlichen Zuchtwahl den Erklärungen von Aristoteles darin, dass sie verlangen, der Endpunkt des zu erklärenden Ablaufs oder die Komplexität der Struktur, die erklärt werden soll, müsse ein Zustand sein, der für den betreffenden Organismus vorteilhaft sei. Doch im Gegensatz zu Aristoteles erklärt Darwin die Vorgänge und Strukturen nicht mit der Anziehungskraft, die der Endzustand oder die vervollkommnete Struktur ausübt, sondern anhand des Drucks der Anfangsbedingungen des Systems und seiner Umwelt. Die blutigen Zähne und Klauen, die mit dem Kampf ums Dasein zu tun haben, entstanden natürlich bei der Verfolgung eines bestimmten Guts, nämlich des Überlebens des einzelnen Organismus, dem sie gehörten. Doch sie ergaben sich nicht bei der Verfolgung des letztendlichen Guts, das durch die natürliche Zuchtwahl erklärt werden soll, d. h. des Überlebens der am besten angepassten Art (survival of the fittest). Auf diese Weise konnte das Auftauchen bestimmter Arten im Verlauf der

Metaphysik und Teleologie

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Evolution nicht nur ohne Berufung auf einen bewussten Konstrukteur, sondern ohne jeglichen Bezug auf Teleologie erklärt werden. Natürlich verspricht Darwins System, die Teleologie nur auf einer bestimmten Ebene überflüssig zu machen. Menschliche Wesen, wie zum Beispiel Züchter, handeln nicht nur dann zielgerichtet, wenn sie ihren Tierbestand verbessern wollen, sondern im menschlichen Leben und in den menschlichen Angelegenheiten im Allgemeinen. Unter den höheren Tieren gibt es noch einige andere, die nicht nur aus Instinkt handeln, sondern die Ziele verfolgen, die sie durch Erfahrung erlernt haben. Außerdem haben darwinistische Wissenschaftler die Suche nach Endursachen keineswegs aufgegeben. Tatsächlich sind gegenwärtige Biologen wesentlich besser als ihre Vorgänger in der Zeit zwischen Descartes und Darwin, wenn es darum geht, die Funktion von Strukturen oder Verhaltensweisen zu erkennen. Darwin machte die teleologischen Erklärungen dadurch respektabel, dass er eine allgemeine Methode anbot, sie in Erklärungen mechanistischer Art zu übersetzen. Seine Nachfolger fühlen sich so freier, solche Erklärungen zu verwenden, ohne mehr als ein Versprechen darüber abzugeben, wie diese Erklärungen in einem besonderen Fall auf einen Mechanismus zurückgeführt werden können. Nachdem sie den Vorteil, G, erkannt haben, den eine Aktivität oder Struktur einem Organismus verleiht, fühlen sie sich berechtigt, ohne irgendwelche weitere Umschweife zu behaupten, dass sich „der Organismus auf solch eine Weise entwickelt hat, dass G“. Zwei gewichtige Fragen zur Teleologie bleiben durch das Werk Darwins unbeantwortet. Erstens: Sind die freien und bewussten Entscheidungen von Menschen auf eine irreduzible Weise teleologisch, oder kann für sie eine mechanistische Erklärung gegeben werden? Es gibt Denker, die davon überzeugt sind, dass es – wenn wir mehr über das menschliche Gehirn wissen – möglich sein wird zu beweisen, dass jeder menschliche Gedanke und jede menschliche Handlung das Ergebnis mechanistischer, physikalischer Abläufe ist. Bei dieser Überzeugung handelt es sich allerdings um einen Glaubensakt: Sie ist weder das Ergebnis einer wissenschaftlichen Entdeckung, noch irgendeiner philosophischen Analyse. Zweitens: Wenn wir annehmen, dass im weitesten Sinne darwinistische Erklärungen für die Existenz der teleologischen Organismen dieser Welt gefunden werden können, bedeutet dies dann das Ende unserer Forschung? Oder kann das Universum selbst als ein System betrachtet werden, das mithilfe mechanistischer Mittel auf dieselbe Weise das Ziel verfolgt, Arten von Organismen hervorzubringen, wie ein Kühlschrank durch mechanistische Mittel auf das Ziel einer konstanten Temperatur hinarbeitet? Ist das Universum selbst eine riesige Maschine, ein auf ein Ziel gerichtetes System? Die Biologen sind sich in der Frage, ob die Evolution ein Ziel hat, nicht einig. Einige glauben, dass sie über eine immanente Tendenz zur Hervorbringung von Organismen immer höherer Komplexität und Bewusstheit verfügt. Andere behaupten, dass es keine wissenschaftlichen Beweise dafür gibt, dass die Evolution irgendeine „privilegierte Achse“ hat. In beiden Fällen bleibt die Frage offen, ob die Erklärungen

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auf der untersten Ebene des Universums teleologische oder mechanistische Erklärungen sind. Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann werden mechanistische Erklärungen durch teleologische untermauert: Die grundlegendste Erklärung der Existenz und Seinsweise jedes Geschöpfs ist die Absicht des Schöpfers. Wenn es keinen Gott gibt und das Universum stattdessen auf notwendige Gesetze zurückzuführen ist, die nach blindem Zufall wirken, dann ist die mechanistische Erklärung die grundlegendere. Soweit ich weiß, hat niemand, kein Wissenschaftler und kein Philosoph, eine definitive Antwort auf diese Frage gegeben.

Der Gegensatz von Realismus und Nominalismus Im Laufe der Geschichte der Philosophie taucht ein metaphysisches Problem, wenn auch in unterschiedlichen Begriffen formuliert, immer wieder auf. Es betrifft die Frage, ob es, wenn es uns möglich sein soll, die Welt, in der wir leben, verständlich zu machen, außerhalb des Bewusstseins Entitäten von gänzlich anderer Art als die flüchtigen Einzeldinge, denen wir in unserer alltäglichen Erfahrung begegnen, geben muss. In der Antike diskutierten Platon und Aristoteles, ob es Ideen oder Formen gibt, die unabhängig von der Materie und von materiellen Gegenständen existieren. Während des gesamten Mittelalters stritten realistische und nominalistische Philosophen darüber, ob Allgemeinbegriffe eine eigene Wirklichkeit hatten, oder ob es bloße Symbole waren. In der modernen Philosophie haben Philosophen der Mathematik eine parallele Debatte über das Wesen der mathematischen Gegenstände geführt, in der Formalisten die Zahlen Zahlwörtern gleichsetzten und Realisten behaupteten, dass Zahlen eine von der Welt des Geistes und der Welt der Materie unabhängige Wirklichkeit haben und eine dritte, von beiden getrennte Welt ausmachen. Der lautstärkste Anwalt des Realismus in der modernen Ära ist Frege. In einer Vorlesung mit dem Titel „Formale Theorien der Arithmetik“ (CP 112–121) greift er die Vorstellung an, dass Zeichen für Zahlen, wie zum Beispiel „½“ und „p“, lediglich leere Symbole sind, die nichts bezeichnen. Allein, dass wir sie „Zeichen“ nennen, legt seiner Meinung nach bereits nahe, dass sie etwas bezeichnen. Ein konsequenter Formalist sollte die Zahlzeichen „Gestalten“ nennen. Wenn wir die Behauptung, dass „½“ nichts bezeichnet, ernst nehmen, dann ist es lediglich ein Klecks Druckertinte oder ein Kreidefleck mit verschiedenen physikalischen und chemischen Eigenschaften. Wie kann es dann die Eigenschaft haben, dass es, mit sich selbst addiert, 1 ergibt? Sollen wir behaupten, dass es diese Eigenschaft durch eine Definition erhält? Eine Definition dient dazu, einen Sinn mit einem Wort zu verbinden, doch wir hatten angenommen, dass dieses Zeichen keinen Inhalt hat. Sicherlich steht es uns frei, einem Zeichen eine Bedeutung zu geben, und daher ist es zum Teil eine Sache menschlicher Entscheidung, welche Eigenschaften der Inhalt eines Zeichens hat. Doch diese Eigenschaften sind Eigenschaften des Inhalts, nicht des Zeichens selbst,

Der Gegensatz von Realismus und Nominalismus

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und daher sind sie, dem Formalisten zufolge, nicht Eigenschaften der Zahl. Es ist uns nicht möglich, Dingen lediglich durch eine Definition Eigenschaften zu geben. In den Grundgesetzen verwendet Frege gegen die Formalisten ein Argument von der Art, wie es Wyclif im Mittelalter gegen die Nominalisten einsetzte.12 „Man kann auch nicht einem Dinge durch bloße Definition eine Eigenschaft anzaubern, die es nun einmal nicht hat, es sei denn die eine, nun so zu heißen, wie man es etwa benannt hat. Daß aber ein eirundes Gebilde, das man mit Tinte auf Papier hervorbringt, durch eine Definition die Eigenschaft erhalten sollte, zu Eins addiert, Eins zu ergeben, kann ich nur für einen wissenschaftlichen Aberglauben halten. Ebensogut könnte man durch bloße Definition einen faulen Schüler fleißig machen.“ (BLA 11) 13

Für Frege hatten nicht nur Zahlen, sondern auch Funktionen eine vom Geist unabhängige Wirklichkeit. Betrachten wir den Ausdruck „2x2 + x“. Er besteht aus zwei Teilen: einem Zeichen für ein Argument und einem Ausdruck für eine Funktion. In den Ausdrücken (2  12) + 1 (2  42) + 4 (2  52) + 5 können wir erkennen, wie dieselbe Funktion wiederholt, jedoch mit verschiedenen Argumenten vorkommt, nämlich mit 1, 4 und 5. Die Funktion ist dasjenige, was diesen Ausdrücken gemeinsam ist. Sie kann durch „2( )2 + ( )“ dargestellt werden, d. h. durch dasjenige, was wir zurückbehalten, wenn wir aus „2x2 + x“ die x weglassen. Das Argument ist nicht Teil der Funktion, sondern es ergibt zusammen mit der Funktion ein Ganzes. Eine Funktion muss von ihrem Wert für ein bestimmtes Argument unterschieden werden: Der Wert einer mathematischen Funktion ist immer eine Zahl, wie die Zahl 3 der Wert unserer Funktionen für das Argument 1 ist, sodass „(2  12) + 1“ die Zahl 3 bezeichnet. Eine Funktion selbst, im Gegensatz zu den Zahlen, die ihre Argumente sind, und ihren Werten, ist unvollständig oder „ungesättigt“, um mit Frege zu reden. Daher wird sie symbolisch am besten durch ein Zeichen wiedergegeben, das Lücken enthält. An sich ist sie kein Zeichen, sondern eine hinter dem Zeichen liegende Wirklichkeit. Frege war nicht nur in der Mathematik ein entschiedener Realist. Er erweiterte 12 Vgl. Band II, 159 f. 13 Zitiert nach: G. Frege, Grundgesetze der Arithmetik. Begriffsschriftlich abgeleitet. 2 Bde., herausgegeben von C. Thiel (Hildesheim: Olms Verlag, 1993), xiii f. (Vorrede). (Anm. d. Übers.: In einem Gemeinschaftsprojekt des Instituts für Philosophie und des Instituts für Kommunikationswissenschaften der Universität Bonn wurden die beiden Bände der Grundgesetze der Arithmetik digitalisiert und im Internet unter http://www.korpora.org/ Frege/ zugänglich gemacht.)

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die Idee der Funktion auf solche Weise, dass sämtliche Begriffe jeglicher Art sich als Funktionen erwiesen. Die Verbindung zwischen mathematischen Funktionen und Prädikaten wie etwa „… tötete …“ oder „… ist leichter als …“ wird in einem bemerkenswerten Abschnitt von „Funktion und Begriff“ hergestellt, wo wir aufgefordert werden, die Funktion „x2 = 1“ zu betrachten. „Die erste Frage, die hier auftaucht, ist die nach den Werten dieser Funktion für verschiedene Argumente. Setzen wir einmal der Reihe nach für x –1, 0, 1, 2, so erhalten wir (–1)2 = 1 02 = 1 12 = 1 22 = 1 Von diesen Gleichungen sind die erste und dritte wahr, die anderen falsch. Ich sage nun: ‚der Wert unserer Funktion ist ein Wahrheitswert‘ und unterscheide den Wahrheitswert des Wahren von dem des Falschen.“ (CP 144) 14

Nachdem er diese Festlegung getroffen hat, kann Frege einen Begriff als eine Funktion definieren, deren Wert für jedes Argument ein Wahrheitswert ist. Ein Begriff wird dadurch zum außersprachlichen Gegenstück des Prädikats einer Sprache, zum Beispiel dasjenige, was durch das Prädikat „… ist ein Pferd“ dargestellt wird. Begriffe haben, wie Zahlen, eine vom Geist oder der Materie unabhängige Existenz: Wir entdecken sie; doch wir entdecken sie nicht durch die Tätigkeit unserer Sinne. Sie sind objektiv, obwohl sie nicht die Art von Wirklichkeit haben, die die Gegenstände der physikalischen Welt der Ursachen und Wirkungen besitzen. Freges Realismus wird häufig als Platonismus bezeichnet, doch es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen Platons Ideen und Freges Begriffen. Für Platon war die Idee des Pferdes selbst ein Pferd: Nur weil sie selbst ein Pferd war, konnte die Idee einem nicht-idealen Pferd der alltäglichen Welt „Pferdheit“ verleihen.15 Freges Begriff Pferd ist demgegenüber etwas einem Pferd sehr Unähnliches. Jedes tatsächliche Pferd ist ein Gegenstand, und zwischen Gegenständen und Begriffen liegt für Frege eine tiefe Kluft. Nicht nur ist der Begriff Pferd kein Pferd; Frege sagt uns, dass es kein Begriff ist. Wenn wir diese Bemerkung zum ersten Mal hören, macht sie uns stutzig. Doch sie ist durchaus nicht unangebracht. Setzen wir „der Begriff“ vor „Pferd“, so führt dies dazu, dass ein Zeichen für einen Begriff in ein Zeichen für einen Gegenstand verwandelt wird, ebenso wie das Wort „schwimmt“, wenn wir es in Anführungsstriche setzen, das Zeichen für ein Verb in ein Nomen verwandelt, das – im Gegensatz zu einem Verb – das Subjekt eines Satzes sein kann. Wir können die wahre Aussage machen: „‚schwimmt‘ ist ein Verb“, jedoch auch „‚ ‚schwimmt‘‘ ist ein No14 Zitiert nach: G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, Fünf logische Studien, herausgegeben von G. Patzig (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980), 26. 15 Vgl. Band I, 221.

Erstheit, Zweitheit und Drittheit bei Peirce

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men“. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis von Freges Behauptung, dass der Begriff Pferd kein Begriff ist.

Erstheit, Zweitheit und Drittheit bei Peirce Das originellste System der Metaphysik, das im 19. Jahrhundert in der englischsprachigen Welt konzipiert wurde, was dasjenige von C. S. Peirce. Es ist zwar zutreffend, dass Peirce’ Prinzip des Pragmatismus dem Verifikationsprinzip der logischen Positivisten ähnlich ist und dass er von Zeit zu Zeit bereit war, die Metaphysik als „sinnloses Geschwätz“ abzukanzeln; trotzdem erdachte er selbst ein System, das so abstrus und kompliziert war wie irgendeiner der Gedanken, die sich in den Schriften der deutschen Idealisten finden. Wie Hegel war Peirce von Triaden fasziniert: Im Jahre 1891 schrieb er in The Monist: „Drei Auffassungen tauchen an jedem Punkt jeder Theorie der Logik immer wieder auf, und in den abgerundetsten Systemen kommen sie in Verbindung miteinander vor. Diese Auffassungen sind so weit gefasst und daher so unbestimmt, dass sie schwer zu fassen und leicht zu übersehen sind. Ich nenne sie die Auffassungen der Erstheit, Zweitheit und Drittheit. Erstheit ist die Auffassung von Sein oder Existenz, das bzw. die von allem anderen unabhängig ist. Zweitheit ist die Auffassung des Seins in Relationen zu, die Auffassung des Seins in Reaktion auf etwas anderes. Drittheit ist die Auffassung der Vermittlung, wodurch eine Erstheit und Zweitheit in Beziehung zueinander gebracht werden.“ (EWP 173)

Dieses triadische System war von Peirce’ Untersuchung der Logik der Relationen inspiriert. Er klassifizierte die Prädikate nach der Anzahl der Elemente, die durch sie in Beziehung gesetzt werden. „… ist blau“ ist ein monadisches oder einstelliges Prädikat, „… ist der Sohn von …“, mit zwei Stellen, ist dyadisch und „… gibt … an …“ ist triadisch. Der Sinneseindruck einer bestimmten Qualität ist ein Beispiel für eine „Erstheit“, Erblichkeit ist ein Beispiel für eine Zweitheit. Die Drittheit kann durch eine Beziehung veranschaulicht werden, bei der ein Zeichen einen Gegenstand für ein bestimmtes Bewusstsein bedeutet („vermittelt“). Allgemeine Ideen sind ein Musterbeispiel für Drittheit, ebenso wie Gesetze der Natur. Fällt ein Funken in ein Fass mit Sprengpulver (Erstheit), verursacht er eine Explosion (Zweitheit) und tut dies gemäß einem Gesetz, das die beiden verbindet (Drittheit). Peirce war bereit, diese triadische Klassifikation in vielen Gebieten anzuwenden: in der Psychologie und Biologie ebenso wie in der Physik und Chemie. Er wendete sie sogar im kosmischen Maßstab an: An einer Stelle schrieb er: „Geist ist Erstheit, Materie ist Zweitheit und Evolution ist Drittheit“ (EWP 173). Darüber hinaus legte er einen komplizierten Beweis dafür vor, dass, während eine wissenschaftliche Sprache monadische, dyadische und triadische Prädikate enthalten muss, es keine Phänomene

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gibt, die zu ihrer Beschreibung vierstellige Prädikate erforderlich machen. Ausdrücke, die solche Prädikate enthalten, können in jedem Fall in Ausdrücke übersetzt werden, die nur die ersten drei grundlegenden Arten von Prädikaten enthalten. Drittheit schien Peirce jedoch ein irreduzibles Element des Universums zu sein, das von nominalistischen Philosophen, die sich weigerten, die Wirklichkeit von Universalien anzuerkennen, vernachlässigt wurde. Das Ziel aller wissenschaftlichen Forschung besteht darin, die Drittheit in der Vielfalt unserer Erfahrung zu finden – Muster, Regelmäßigkeiten und Gesetze in der Welt zu finden, in der wir leben. Doch wir sollten nicht nach universalen Gesetzen suchen, die ausnahmslos alles Geschehen determinieren. Tatsächlich war die Lehre von der Notwendigkeit eine der Hauptzielscheiben von Peirce’ Kritik der Weltanschauung der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Er formuliert sie auf folgende Weise: „Der fragliche Satz behauptet, dass der Zustand der zu einer bestimmten Zeit existierenden Dinge, zusammen mit absolut sicheren, unveränderlichen Gesetzen, den Zustand der Dinge zu jeder anderen Zeit vollkommen bestimmt (denn eine Einschränkung auf die Zukunft lässt sich nicht verteidigen). Daher könnte ein Geist mit entsprechender Leistungskraft aus dem Zustand des Universums in den frühen Spiralnebeln mit Hilfe der Gesetze der Mechanik aus diesen Daten die exakte Form jedes Schnörkels eines jeden Buchstabens des Briefes, den ich momentan schreibe, exakt vorhersagen.“ (EWP 176)

Peirce glaubte, dieser Satz lasse sich auf keine Weise verteidigen. Er ließe sich weder als Postulat des Verstandes noch als Ergebnis einer Beobachtung begründen. „Versuche irgendein Naturgesetz zu bestätigen, und du wirst feststellen, dass sich, je präziser deine Beobachtungen sind, mit desto größerer Sicherheit unregelmäßige Abweichungen von diesem Gesetz ergeben werden“ (EWP 182). Peirce behauptete, dass das Universum ein irreduzibles Element der Zufälligkeit enthält, eine These, die er – in Anlehnung an das griechische Wort für Zufall, tÐch – als „Tychismus“ bezeichnete. Als zusätzliche Vertreter des Tychismus führte er Aristoteles und Darwin an. Peirce zufolge bezeichnete die Zulassung des Zufalls als möglicher Ursache das tiefste Wesen des Aristotelismus, und die einzige Art der Erklärung der Naturgesetze bestehe darin, sie als Ergebnisse einer Evolution anzusehen. „Dies nimmt an, dass sie nicht absolut sind, nicht genauestens befolgt werden. Es bringt ein Element der Unbestimmtheit, der Spontaneität oder des absoluten Zufalls in die Natur“ (EWP 163). Daher gab es genügend Raum für den Glauben and die Autonomie und Freiheit des menschlichen Willens. Es gab Peirce zufolge drei Möglichkeiten der Erklärung der Beziehung zwischen physikalischen und psychischen Gesetzen. Die erste war der Neutralismus, der sie als gleichberechtigt und voneinander unabhängig ansah. Die zweite war der Materialismus, der annahm, dass die psychischen Gesetze von physikalischen Gesetzen abgeleitet sind. Die dritte war der Idealismus, der die psychischen Gesetze für die ur-

Erstheit, Zweitheit und Drittheit bei Peirce

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Ein Vorlesungsmanuskript von Peirce, das die Schnörkel zeigt, von denen er glaubte, sie seien durch deterministische Gesetze nicht vorhersagbar.

sprünglicheren und die physikalischen Gesetze für abgeleitet hielt. Der Neutralismus war seiner Meinung nach durch Ockhams Rasiermesser ausgeschlossen: Suche niemals nach zwei erklärenden Faktoren, wo einer genügt. Der Materialismus beinhalte die abstoßende Idee, dass eine Maschine Gefühle haben könne. „Die einzig einleuchtende Theorie des Universums ist die des objektiven Idealismus, dass Materie eine kraftlose Form des Geistes ist, dass tief verwurzelte Gewohnheiten physikalische Gesetze werden.“ (EWP 168) Peirce schlug auch eine Erklärung der Entwicklung des Universums in den Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit vor. Er schrieb: „Drei Elemente sind in der Welt wirksam: erstens Zufall, zweitens Gesetzlichkeit und drittens die Übernahme von Gewohnheiten.“ (CP i. 409) Am unendlich weit entfernten Anfang aller Dinge

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gab es nur unpersönliches Gefühl ohne irgendeine Verbindung zur Regelmäßigkeit. Als Nächstes entstand auf spielerische Weise der Keim der generalisierenden Tendenz und dominierte über andere solche Tendenzen. „Auf solche Weise nahm die Tendenz zur Gewohnheit ihren Anfang, und hieraus entwickelten sich, zusammen mit den anderen Prinzipien der Evolution, alle Regelmäßigkeiten des Universums.“ (EWP 174) Peirce’ Theorie der kosmischen Evolution unterscheidet sich von derjenigen Darwins in mehrfacher Hinsicht. Erstens formuliert er sein Prinzip in völlig abstrakten Begriffen, ohne Bezug auf Tier- oder Pflanzenarten: „Wann immer eine große Anzahl von Objekten existiert, die die Tendenz haben, bestimmte Eigenschaften unverändert zu behalten, wobei diese Tendenz jedoch nicht absolut ist, sondern Raum für Variationen lässt, dann ergibt sich – wenn der Umfang der Variation in bestimmten Richtungen dadurch absolut begrenzt ist, dass alles, was diese Grenzen erreicht, vernichtet wird – eine allmähliche Tendenz zur Veränderung in Richtungen, die von diesen [Grenzen] wegführen.“ (EWP 164)

Zweitens: Während Darwins Lehre vom Überleben des am besten angepassten Organismus (survival of the fittest) die Notwendigkeit, die Entwicklung der Natur anhand von aristotelischen Endursachen erklären zu müssen, beseitigen wollte, sah Peirce, wie Aristoteles, das Streben nach einem letzten Ziel als eine Dynamik, die das Universum regiert. So erstaunlich es scheinen mag: Die treibende Kraft der Geschichte des Kosmos ist die Liebe. Das ursprüngliche schleimige Protoplasma hat die Kraft zu Wachstum und Vermehrung. Es hat die Fähigkeit des Gefühls und die Eigenschaft, Gewohnheiten auszubilden. „Die Liebe, die Keime des Liebenswerten im Hassenswerten erkennt, erweckt es durch ihre Wärme nach und nach zum Leben und macht es liebenswert.“ Für Peirce ist dies das Geheimnis der Evolution. Peirce unterschied drei Formen der Evolution: Evolution durch zufällige Variation, Evolution durch mechanische Notwendigkeit und Evolution durch kreative Liebe. Gemäß seiner Leidenschaft, englische Wörter griechischen Ursprungs zu bilden, nannte er diese Arten der Evolution – nach den griechischen Wörtern für Zufall, Notwendigkeit und Liebe – tychastisch, anankastisch und agapastisch. Darwins evolutionäre Theorie war tychastisch: Peirce zufolge gab es nur wenige positive Belege dafür, und ihre Popularität beruhe auf der Leidenschaft des 19. Jahrhunderts für das herzlose Wirtschaften nach dem Prinzip des Laissez-faire. „Es macht das Glück der Lämmer, auf die andere Seite der Gleichung versetzt, zum Unheil der Ziegen.“ Das Prinzip der Notwendigkeit, das die anankastische Evolution untermauert, glaubte Peirce durch seine Argumente bereits widerlegt zu haben. So bleibt uns die dritte Form, die agapastische Evolution. Eine solche Form der Evolution war von Lamarck vorgeschlagen worden: Die Bestrebungen von Eltern führen zu nützlichen Modifikationen, die auf den Nachwuchs vererbt werden. „Eine genuin evolutionäre Philosophie“, sagt uns Peirce abschließend, „das heißt, eine solche, die das Prinzip des

Die Metaphysik des logischen Atomismus

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Wachstums zu einem Urelement des Universums macht, ist der Idee eines persönlichen Schöpfer so wenig entgegengesetzt, dass sie von dieser Idee in Wahrheit nicht getrennt werden kann.“ (EWP 214) Hiermit haben wir uns vom empiristischen Verifikationsprinzip, das die Mitte von Peirce’ Pragmatismus auszumachen schien, ziemlich weit entfernt.

Die Metaphysik des logischen Atomismus Auch in Wittgensteins Tractatus gehen Metaphysik und Logik Hand in Hand. Obwohl das Buch größtenteils dem Wesen der Sprache gewidmet ist, finden sich auf seinen ersten Seiten eine Reihe von Thesen über das Wesen der Welt. Historisch und logisch betrachtet sind die Thesen über die Welt zwar von Wittgensteins Auffassung der Sprache abhängig, doch sie machen ein metaphysisches System aus, das eine eigene Betrachtung verdient. Dem Tractatus zufolge entspricht jedem Paar kontradiktorischer Sätze genau eine Tatsache: die Tatsache, die einen von ihnen wahr und den anderen falsch macht. Die Gesamtheit solcher Tatsachen ist die Welt. Tatsachen können positiv oder negativ sein: Eine positive Tatsache entspricht der Existenz eines Sachverhalts, eine negative Tatsache der Nichtexistenz eines Sachverhalts. Ein Sachverhalt oder eine Situation ist eine Verbindung von Gegenständen. Es ist einem Ding wesentlich, dass es der Bestandteil eines Sachverhalts sein kann, und die Möglichkeit, in Verbindung mit anderen Gegenständen in Sachverhalten vorkommen zu können, entspricht seinem Wesen. Daraus, dass jeder Gegenstand in seinem Wesen alle Möglichkeiten seiner Verbindung mit anderen Gegenständen enthält, folgt, dass, wenn irgendein Gegenstand gegeben ist, alle Gegenstände gegeben sind (TLP 1.1–2.011). Gegenstände sind einfach und haben keine Teile, doch sie können sich zu Komplexen verbinden. Sie können weder hervorgebracht noch zerstört werden, weil jede mögliche Welt dieselben Gegenstände enthalten muss wie diese Welt. Wechsel ist lediglich die Veränderung der Konfiguration der Gegenstände. Gegenstände können sich voneinander durch ihr Wesen oder durch ihre äußeren Eigenschaften unterscheiden oder sie können lediglich numerisch verschieden sein, ununterscheidbar, aber nicht identisch (TLP 2.022–2.02331). Diese Gegenstände machen die unveränderliche, bestehende Form, Substanz und den Inhalt der Welt aus. Gegenstände konfigurieren sich zu Sachverhalten: Die Art und Weise, wie sie im Sachverhalt verbunden sind, ist die Struktur des Sachverhalts. Die Möglichkeit einer Struktur ist die Form des Sachverhalts. Die Sachverhalte sind voneinander unabhängig: Daraus, dass ein Sachverhalt besteht oder nicht besteht, lässt sich nicht auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines anderen Sachverhalts schließen. Da Tatsachen der Existenz oder Nichtexistenz von Sachverhalten entsprechen, folgt hieraus, dass Tatsachen ebenfalls voneinander unabhängig sind. Die Gesamtheit der Sachverhalte ist die Welt.

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Diese dichten Seiten des Tractatus sind schwer zu verstehen. Für die Gegenstände, die die Grundbestandteile des Universums sind, werden keine Beispiele angeführt. Kommentatoren haben höchst verschiedene Interpretationen für sie vorschlagen. Für einige sind Gegenstände Sinnesdaten, für andere sind es Universalien. Möglicherweise wurden beide von Wittgenstein als Gegenstände angenommen; schließlich sind sie mit den Dingen identisch, die wir nach Russell erkennen, indem wir mit ihnen bekannt werden. Doch es ist kein Zufall, dass uns im Tractatus keine Beispiele gegeben werden. Wittgenstein glaubt nicht deshalb an einfache Gegenstände und atomare Sachverhalte, weil er annahm, er könne Fälle von ihnen angeben, sondern weil er dachte, dass es sie als Korrelate der Namen und elementaren Sätze einer vollständig analysierten Sprache in der Welt geben müsse. Seine Argumentation mit diesem Ergebnis basiert auf drei Voraussetzungen. Erstens: Es ist eine Sache der Logik, ob ein Satz eine Bedeutung hat oder nicht. Zweitens: Welche besonderen Dinge existieren, ist eine Sache der Erfahrung. Drittens: Die Logik geht jeder Erfahrung voraus. Daher kann, ob ein Satz eine Bedeutung hat oder nicht, niemals davon abhängen, ob bestimmte Dinge existieren. Diese Schlussfolgerung nennt eine Bedingung, die jedes System der Logik erfüllen muss. Wittgenstein nahm an, dass man, um diese Bedingung zu erfüllen, festlegen muss, dass Namen nur einfache Gegenstände bezeichnen können. Wenn „N“ der Name eines Komplexes ist, dann hätte „N“ keine Bedeutung, wenn der Komplex auseinandergenommen würde, und Sätze, die den Namen enthielten, wären sinnlos. Wenn daher jeder derartige Satz vollständig analysiert ist, muss der Name „N“ verschwinden und seine Stelle von Namen eingenommen werden, die Einfaches benennen (TLP 3.23, 3.24; PI i. 39). Einfache Gegenstände sind, in der Welt des Tractatus, zu atomaren Sachverhalten zusammengesetzt, die den Elementarsätzen entsprechen, die aus Verkettungen von Namen bestehen. Die Welt kann durch die Auflistung sämtlicher Elementarsätze und die Angabe, welche von ihnen wahr und welche falsch sind, vollständig beschrieben werden (TLP 4.26). Denn die wahren Elementarsätze werden alle positiven Tatsachen angeben, und die falschen Elementarsätze werden allen negativen Tatsachen entsprechen, und die Gesamtheit der Tatsachen ist die Welt (TLP 2.06).

Schlechte und gute Metaphysik Der Tractatus ist eines der philosophischsten Werke, die je geschrieben wurden. Seine Ähnlichkeit mit Spinozas Ethik ist kein Zufall; und dennoch wurde es von einer der anti-metaphysischsten Gruppen von Philosophen, dem Wiener Kreis, als Bibel genommen. Die logischen Positivisten griffen die Idee auf, dass notwendige Wahrheiten nur deshalb notwendig waren, weil es sich bei ihnen um Tautologien handelte: Dies erlaubte es, so nahmen sie an, die Notwendigkeit der Mathematik mit einem kompromisslosen Empirismus zu verbinden. Folglich verwendeten sie das Verifikationsprinzip als Waffe, mit der sie sämtliche metaphysischen Aussagen als sinnlos verwarfen.

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Wittgenstein teilte während seines gesamten Lebens die Auffassung der Positivisten, dass die Beseitigung, die Auflösung der Metaphysik eine der Aufgaben des Philosophen sei. Er sah die Aufgabe des Philosophen darin, „die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung“ zurückzuführen (PI I 116). 16 Er verurteilte die Metaphysik, die in einer Suche nach dem verborgenen Wesen der Sprache oder der Welt besteht. Doch auf seine Weise war er selbst ein Metaphysiker – und nicht nur zur Zeit des Tractatus, dessen Sätze er als unsinnig bezeichnete, sondern in seiner gesamten späteren Philosophie. Er erkannte an, dass es einen legitimen Versuch geben konnte, das Wesen von etwas zu verstehen, den er selbst unternahm. Er sagte, dass er in seinen Untersuchungen danach trachte, „das Wesen der Sprache – ihre Funktion, ihren Bau – zu verstehen“ (PI I 92). 17 Er hielt es für falsch, das Wesen nicht als etwas zu sehen, was offen zutage liegt, und das nur übersichtlich beschrieben werden muss, sondern als etwas Inneres und Verborgenes: eine Art von metaphysischem Ektoplasma oder metaphysischer Hardware, die die Funktion des Geistes und der Sprache erklärt. Es gab drei besondere Arten der Metaphysik, gegen die Wittgenstein sich wendete: spiritualistische Metaphysik, szientistische Metaphysik und fundamentalistische Metaphysik. Wenn wir das menschliche Denken betrachten, kann uns der metaphysische Impuls dazu führen, geistige Substanzen oder geistige Prozesse zu postulieren. Wir werden durch die Grammatik in die Irre geführt. Wenn uns die Grammatik eine körperliche Substanz erwarten lässt, es jedoch keine gibt, erfinden wir eine metaphysische Substanz; wo sie uns einen empirischen Vorgang erwarten lässt, wir jedoch keinen finden können, postulieren wir einen körperlosen Vorgang. Dies ist der Ursprung des kartesianischen Dualismus. Der kartesianische Geist ist eine metaphysische Substanz und seine Einwirkung auf den Körper ist ein metaphysischer Vorgang. Der Kartesianismus ist in dem Sinne metaphysisch, dass er Aussagen über das Leben des Geistes von jeder Möglichkeit einer eindeutigen Bestätigung oder Widerlegung in der öffentlichen Welt isoliert. Außer der dualistischen Metaphysik gibt es eine materialistische Metaphysik. „[C]harakteristisch für eine metaphysische Frage ist, daß wir eine Unklarheit über die Grammatik von Wörtern in der Form einer naturwissenschaftlichen Frage ausdrücken.“ (BB 35) 18 Metaphysik ist Philosophie, die sich als Naturwissenschaft verkleidet, und dies ist die Form der Metaphysik, die bei Materialisten besonders beliebt ist. So ist es beispielsweise ein metaphysischer Irrtum zu glauben, dass eine Erforschung des Gehirns uns helfen wird zu verstehen, was in unserem Bewusstsein vor sich geht, wenn wir denken und verstehen.

16 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), 80. 17 Ebd., 73. 18 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Das Blaue Buch, Eine philosophische Betrachtung, herausgegeben von R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1984), 63.

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Die großen Metaphysiker der Vergangenheit haben oft angenommen, dass ihr Fach Vorrang vor allen anderen Teilen der Philosophie hat. Aristoteles nannte die Metaphysik „erste Philosophie“, und Descartes war der Überzeugung, dass die Metaphysik die Wurzel des Baumes der Erkenntnis ist. Wittgenstein bestritt, dass irgendein Teil der Philosophie auf diese Weise privilegiert werden sollte. Die Philosophie hatte keine Grundlagen und sie stellte anderen Fächern keine Grundlagen zur Verfügung. Die Philosophie sei weder ein Haus, noch ein Baum, sondern ein Netz. „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die die Philosophie zur Ruhe bringt, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst infrage stellen. – Sondern es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. – Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem.“ (PI I 133) 19

Während Wittgenstein jedoch im Laufe seines gesamten Lebens der szientistischen und fundamentalistischen Metaphysik feindlich gegenüberstand, lieferte er in seinen späteren Arbeiten wichtige Beiträge zu Gebieten der Philosophie, die traditionellerweise als metaphysisch bezeichnet wurden. Ein großer Teil von Aristoteles’ Metaphysik ist philosophischen Aktivitäten gewidmet, die Wittgensteins eigener Methode sehr ähnlich sind. Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit und die Klassifikation verschiedener Arten von Möglichkeit werden (von Freunden und Feinden) im Allgemeinen als einer der charakteristischsten Beiträge angesehen, die die Philosophie Aristoteles verdankt, insbesondere die Philosophie des Geistes. Seine Unterscheidungen wurden später von den Philosophen des Mittelalters systematisiert. In seinem Braunen Buch führte Wittgenstein eine längere Untersuchung des Wesens der Möglichkeit durch. Die Abschnitte 58 bis 67 sind verschiedenen Sprachspielen mit dem Hilfszeitwort „können“ gewidmet. Die von Wittgenstein vorgenommenen Unterscheidungen zwischen Vorgängen und Zuständen und zwischen verschiedenen Arten von Zuständen entsprechen Aristoteles’ Unterscheidungen zwischen kinesis, hexis und energeia. Die Kriterien, anhand deren die beiden Philosophen diese Unterscheidung vornehmen, sind häufig dieselben. Das Beispiel, das Wittgenstein ausführlich erörtert, um das Verhältnis zwischen einem Vermögen und seinem Gebrauch zu veranschaulichen, d. h. das Lesenlernen (PI i. 156 ff.), ist Aristoteles’ Standardbeispiel für eine mentale hexis, nämlich der Kenntnis der Grammatik, sehr ähnlich. Wir können das systematische Studium von Wirklichkeit und Möglichkeit als dynamische Metaphysik bezeichnen, und wenn wir dies tun, müssen wir sagen, dass Wittgenstein einer der unübertroffenen Meister dieser besonderen Form der Metaphysik war. In der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts sollte sich jedoch keine aristotelische, 19 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, herausgegeben von G. E. M. Anscombe, G. H. von Wright und R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), 85 f.

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sondern eine leibnizsche Version der Metaphysik als diejenige erweisen, die am stärksten aufblühte. Die Entwicklung der modalen Semantik in Form der Rede von möglichen Welten 20 hätte, für sich genommen, keine metaphysischen Konsequenzen haben müssen. Doch eine Reihe von Philosophen interpretierten sie in einem metaphysischen Sinne, und sie waren bereit, die Vorstellung zu akzeptieren, dass es identifizierbare Einzeldinge gibt, die nur über eine mögliche, keine wirkliche Existenz verfügen. Meines Erachtens war dies eine Fehlentwicklung. Es ist schwer, ein Kriterium zur Identifizierung bloß möglicher Gegenstände anzugeben. Soll etwas ein Gegenstand sein können, über den etwas aussagbar ist, dann muss es unbedingt möglich sein, anzugeben, unter welchen Umständen zwei Aussagen über diesen selben Gegenstand gemacht werden. Ansonsten werden wir niemals in der Lage sein, das Prinzip anzuwenden, dass über denselben Gegenstand nicht widersprüchliche Aussagen gemacht werden sollten. Wir verfügen über verschiedene komplizierte Kriterien, anhand derer wir entscheiden, ob zwei Aussagen über denselben wirklichen Mann gemacht werden; doch anhand welcher Kriterien können wir entscheiden, ob zwei Aussagen über denselben möglichen Mann gemacht werden? Diese Schwierigkeiten wurden von Quine in seinem berühmten Aufsatz „On What There Is“ („Was es gibt“) aus dem Jahre 1961 auf scherzhafte Weise hervorgehoben: „Nehmen wir zum Beispiel den möglichen dicken Mann in jenem Eingang; und dann noch den möglichen kahlen Mann in jenem Eingang. Sind die beiden der gleiche mögliche Mann oder zwei mögliche Männer? Wie entscheiden wir uns? Wie viele mögliche Männer sind dort am Eingang? Gibt es mehr mögliche dünne als dicke? Wie viele von ihnen sind gleich? Oder würde die Tatsache ihrer Gleichheit sie zu einem machen? Sind keine zwei möglichen Dinge gleich? Heißt das das Gleiche wie, daß es für zwei Dinge unmöglich ist, gleich zu sein? Oder, ist schließlich der Begriff der Identität einfach auf nicht aktualisierte Möglichkeiten nicht anwendbar? Aber welchen Sinn kann es haben, über Entitäten zu sprechen, von denen man nicht sinnvollerweise sagen kann, daß sie mit sich selbst identisch sind und voneinander verschieden?“ (FLPV 666) 21

Die von Quine gestellten Fragen scheinen unbeantwortbar und auf solche Weise die Inkohärenz der Vorstellung nichtwirklicher möglicher Einzeldinge herauszustellen. Doch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben sich höchst begabte Philosophen darum bemüht, Quines Fragen zu beantworten und so das sogenannte „Problem der Identität in verschiedenen Welten“ zu lösen. Im Lichte der in diesen Bänden aufgezeichneten Geschichte scheint es mir vernünftiger zu sein, an dem bedeutenden aristotelischen Prinzip festzuhalten, dass es keine Individuation ohne Ver20 Vgl. oben 128. 21 Zitiert nach: „Was es gibt“, übersetzt von W. Hoering, in: Das Universalien-Problem, herausgegeben von W. Stegmüller (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1978), 105.

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Quine, der große Gegner der Metaphysik der möglichen Welten. Wie viele mögliche Männer, würde er gefragt haben, teilen sich hier das Zimmer mit ihm?

wirklichung geben kann – dem Gegenstück zu dem grundlegenden anti-platonischen Prinzip, dass es keine Verwirklichung ohne Individuation geben kann. In der englischsprachigen Welt blühte die Metaphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf: Peirce verkündete in Amerika das Prinzip der kosmischen Liebe und die britischen Neuhegelianer zeichneten die Konturen des Absoluten nach. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts standen die Philosophen der Metaphysik zunehmend feindlicher gegenüber. Diese Feindschaft erreichte im Positivismus der 1930er Jahre ihren Höhepunkt, doch sie blieb bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts einflussreich. Als sich das 21. Jahrhundert näherte, wurde die Metaphysik wieder respektabel, allerdings mit einem Unterschied gegenüber der früheren. An die einst von der monistischen Metaphysik der britischen Idealisten besetzte Stelle trat die pluralistische, ja sogar überschwängliche Metaphysik der Erforscher möglicher Welten. Es wird interessant sein zu verfolgen, ob das metaphysische Denken im 21. Jahrhundert einen ähnlichen Zyklus durchläuft.

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Bentham über Absicht und Motiv Benthams Prinzipien der Moral und Regierung enthielten eine detaillierte Analyse menschlicher Handlungen. Ihre Absichten oder Motive behandelte das Werk in längeren Kapiteln. Seit dem Mittelalter hatte kein bedeutender Philosoph den verschiedenen kognitiven und emotionalen Elementen, deren Vorhandensein oder Fehlen etwas zur moralischen Beschaffenheit einzelner Handlungen beitragen kann, eine solch detaillierte Aufmerksamkeit geschenkt. Benthams Vorgehensweise bei diesem Thema gleicht derjenigen von Thomas von Aquin, doch er ist wesentlich großzügiger, wenn es darum geht, seine Argumente mit konkreten Beispielen zu versehen. Wichtiger ist hingegen, dass es zwischen den beiden Philosophen einen bedeutsamen Unterschied hinsichtlich der Terminologie und der moralischen Bewertung gibt. 1 Für Thomas von Aquin war eine Handlung absichtlich, wenn sie als Mittel zu einem Zweck gewählt wurde. War eine Handlung lediglich ein unvermeidbarer Begleitumstand oder eine Konsequenz einer solchen Wahl, so war sie nicht absichtlich, sondern nur willentlich. Das Wort „willentlich“ (voluntary) missfiel Bentham. Er sagte, es sei irreführend, da es manchmal die Bedeutung von „freiwillig“ und manchmal die Bedeutung von „spontan“ habe. Er zog es vor, das Wort „absichtlich“ (intentional) zu verwenden. Er nahm dieselbe Unterscheidung wie Thomas von Aquin vor, bezeichnete sie jedoch als Unterscheidung zwischen zwei Arten von Absicht. Er sagte, eine Folge könne entweder auf direkte Weise absichtlich sein („wenn die Aussicht darauf, sie herbeizuführen, eines der Glieder in der Ursachenkette war, durch die die Person zum Handeln bestimmt wurde“) oder auf indirekte Weise absichtlich („wenn die Folge als wahrscheinlich vorausgesehen wurde, die Aussicht darauf, sie herbeizuführen, aber kein Glied der Ursachenkette war“). Für Bentham konnte eine Begebenheit, die auf direkte Weise absichtlich war, entweder im Grunde oder mittelbar absichtlich sein, je nachdem, ob die Aussicht darauf, sie herbeizuführen, als Motiv gewirkt hätte oder nicht, wenn sie nicht als Ursache für eine weitere Begebenheit angesehen worden wäre. Diese Unterscheidung zwischen im Grunde oder mittelbar absichtlichen Handlungen entspricht der scholastischen Unterscheidung zwischen Zwecken und Mitteln. Bentham veranschaulichte diese Vielzahl von Unterscheidungen anhand der Geschichte vom Tode König Wilhelms II. von England, der bei der Hirschjagd an einer Verwundung starb, die ihm Sir Walter Tyrell zugefügt hatte. Er lieferte eine genaue 1

Vgl. Band II, 266.

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Analyse der möglichen Stufen von Bewusstheit und Absicht im Geist von Tyrell und teilte jeden vorgestellten Fall in die passende Handlungsklasse ein: unabsichtlich, indirekt absichtlich, direkt absichtlich, mittelbar absichtlich und im Grunde absichtlich. Benthams Terminologie hatte zur Folge, dass die Absicht selbst in rein kognitiven Begriffen definiert wurde: Um festzustellen, was eine Person beabsichtigte, musste man ermitteln, was sie wusste, nicht was sie wollte. Was sie wollte, ist nur für die untergeordnete Klasse der Absichtlichkeit relevant, um die es hierbei geht. Eine Handlung ist nur dann unabsichtlich, wenn ihr Ergebnis völlig unvorhergesehen war. So ist es möglich, dass man „die Absicht haben kann, einen Mann zu berühren, ohne die Absicht zu haben, ihn zu verletzen; und dennoch kann sich als Konsequenz ergeben, dass man riskiert, ihn zu verletzen“. Der kognitive Anstrich, den Bentham der Absicht gibt, ist von großer Bedeutung, da für ihn die Absicht ein Schlüsselkriterium für die moralische und juristische Bewertung von Handlungen ist. Bentham sagt uns jedoch, dass wir nicht annehmen sollten, Absichten wären an sich gut oder schlecht. „Wenn [eine Absicht] in irgendeinem Sinne für gut oder schlecht gehalten wird, muss dies entweder daher rühren, dass man meint, sie würde gute oder schlechte Folgen herbeiführen, oder weil man meint, dass sie aus einem guten oder schlechten Motiv entspringt.“ (P 8. 13) Nun hängen Folgen von den Begleitumständen ab, und diese sind dem Handelnden entweder bekannt oder unbekannt. Was immer daher über die Güte oder Schlechtigkeit der Absicht einer Person aufgrund der Folgen ihrer Handlung zu sagen ist, hängt von ihrer Kenntnis („Bewusstheit“) der Umstände der Handlung ab. Im neunten Kapitel der Prinzipien klassifiziert Bentham die verschiedenen möglichen Grade solcher Bewusstheit. Wenn sich ein Mensch bei seiner Handlung eines bestimmten Umstands bewusst ist, so sagte man, dass seine Handlung eine hinsichtlich dieses Umstands überlegte (advised) Handlung ist, ansonsten eine unüberlegte Handlung. Außer der Tatsache, dass sich ein Handelnder der tatsächlich bestehenden Umstände nicht bewusst sein kann, kann er annehmen, dass Umstände vorliegen, die in Wahrheit nicht bestehen. Dies ist eine falsche Annahme (missupposal), woraus eine schlecht beratene (misadvised) Handlung resultiert. Wenn eine Handlung absichtlich erfolgt, und im Hinblick auf sämtliche Umstände, die für eine bestimmte Konsequenz relevant sind, überlegt erfolgt und keine Fehlannahme bezüglich verhindernder Umstände vorliegt, so ist die Konsequenz absichtlich. „Überlegtheit, in Bezug auf die Umstände, wenn sie frei ist von der fehlerhaften Annahme irgendwelcher verhindernden Umstände, erweitert die Absichtlichkeit von der Handlung auf die Folgen.“ (P 9. 10) Bentham nimmt eine Unterscheidung zwischen Absichten und Motiven vor: Die Absichten eines Mannes können gut und seine Motive schlecht sein. Angenommen, „ein Mann verfolge dich aus Bosheit gerichtlich für eine Straftat, deren er dich für schuldig hält, der du dich jedoch in Wahrheit nicht schuldig gemacht hast“. In diesem Fall ist das Motiv böse und die tatsächlichen Konsequenzen sind nachteilig. Dennoch ist die Absicht gut, denn die Folgen der Handlung des Mannes wären gut gewesen, wenn sie sich als Folge so eingestellt hätten, wie er es voraussah.

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Bei der Erörterung von Motiven betont Bentham die wertenden Untertöne von Wörtern wie „Wollust“, „Geiz“ und „Grausamkeit“. Er sagt, für sich genommen sei ein Motiv weder gut noch schlecht. Diese Wörter bezeichneten schlechte Motive nur in dem Sinne, dass sie niemals richtig angewendet werden, außer in den Fällen, in denen die Motive, die sie bezeichnen, zufällig schlecht sind. „Wollust“ sei zum Beispiel „der Name, der sexuellem Verlangen gegeben wird, wenn seine Folgen als schlecht angesehen werden“. Motive können nur in Einzelfällen gut oder schlecht sein. „Ein Motiv ist gut, wenn die Absicht, die daraus hervorgeht, gut ist; es ist schlecht, wenn diese Absicht eine schlechte ist; und ein Gefühl ist gut oder schlecht je nach den wesentlichen Folgen, die seine Ziele sind.“ (P 10. 33) Unter einem „Motiv“ versteht Bentham dasjenige, was er in einer neutralen Beschreibung als im Grunde oder auf direkte Weise absichtliche Konsequenz bezeichnen würde. Aus seiner Erklärung geht deutlich hervor, dass eine Handlung durch ein Motiv keine eigene Qualität erhält oder moralisch eingeschränkt wird. Der einzige geistige Zustand, der für die Moralität einer absichtlichen Handlung in erster Linie relevant ist, ist der kognitive Zustand hinsichtlich der Folgen. Benthams Erklärung der Motive stimmt mit der allgemeinen utilitaristischen Position überein, nach der die moralische Qualität von Handlungen (dass sie gut oder schlecht sind) nach ihren erfreulichen oder schmerzlichen Folgen zu beurteilen ist. Sein kognitives Verständnis der Absicht brachte seine Anhänger in Konflikt mit der Lehre der doppelten Wirkung, nach der es einen moralischen Unterschied geben kann, der davon abhängt, ob etwas absichtlich getan oder ob es lediglich als unbeabsichtigte Konsequenz der eigenen Entscheidung vorausgesehen wird. Diese moralischen Fragen werden in Kapitel 9 noch ausführlich erörtert werden. In seiner Grundlegung bewertete Kant die Bedeutung der Motive höher als irgendein Moralphilosoph vor ihm. Benthams Auffassung markiert die äußerste ethische Gegenposition. Um es in den Worten zu sagen, die J. S. Mill verwenden sollte, waren die Utilitaristen „darin weiter als fast alle anderen gegangen, dass sie behaupteten, die Motive haben mit der Moralität einer Handlung nichts zu tun“. Nicht nur Motive, sondern auch Absichten, wie sie normalerweise verstanden werden, sind für eine utilitaristische moralische Beurteilung des Verhaltens irrelevant. Es ist ein erfreuliches Paradox, dass dem Gründer des Utilitarismus eine Analyse der Begriffe Absicht und Motiv gelungen ist, die umfassender war als die irgendeines Autors vor ihm.

Vernunft, Verstand und Wille Auf dem europäischen Kontinent nahm die Analyse der Begriffe, die geistige Vorgänge beschreiben, eine andere Richtung. Der absolute Idealismus eines Philosophen wie Hegel macht es schwer, in seinem Werk zwischen der Philosophie des Geistes und der Metaphysik zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu bietet Schopenhauer, der von Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft ausgeht, eine detaillierte Unter-

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suchung der Merkmale, die die kognitiven Fähigkeiten des Menschen von denen der Tiere unterscheiden. Der Verstand ist etwas, ebenso wie die Empfindung, das die Tiere mit dem Menschen gemeinsam haben, da Verstand in der Fähigkeit besteht, Kausalbeziehungen zu erfassen, wozu Tiere offensichtlich in der Lage sind. Der Scharfsinn von Tieren wie Füchsen und Elefanten ist dem menschlichen Verstand sogar manchmal überlegen. Vernunft, d. h. in Begriffen verkörpertes, abstraktes Wissen, besitzt hingegen allein der Mensch. Die Vernunft ist die Fähigkeit der Reflexion, die den Menschen weit über die Tierwelt erhebt, sodass er sie an Macht und Leiden übertrifft. Tiere leben allein in der Gegenwart, der Mensch hingegen zugleich in der Zukunft und der Vergangenheit (WWI 36). Die Vernunft verleiht dem Menschen drei große Geschenke: Sprache, Freiheit und Wissenschaft. Das erste und wesentlichste ist die Sprache. „Durch Hilfe der Sprache allein bringt die Vernunft ihre wichtigsten Leistungen zu Stande, nämlich das übereinstimmende Handeln mehrerer Individuen, das planvolle Zusammenwirken vieler Tausende, die Zivilisation, den Staat; ferner die Wissenschaft, das Aufbewahren früherer Erfahrung, das Zusammenfassen des Gemeinsamen in einen Begriff, das Mitteilen der Wahrheit, das Verbreiten des Irrtums, das Denken und Dichten, die Dogmen und die Superstitionen.“ (WWI 37) 2

Die Bedeutung des abstrakten Wissens besteht darin, dass es aufbewahrt und mitgeteilt werden kann. Der Verstand kann die Verwendung eines Hebels begreifen oder die stützende Funktion eines Torbogens; doch für die Konstruktion von Maschinen und Gebäuden ist mehr als Verstand erforderlich. Für praktische Verrichtungen ist bloßer Verstand manchmal vorzuziehen: Es nützt mir nichts, wenn ich – auf Grade und Minuten genau – den Winkel angeben kann, in dem ich meine Rasierklinge ansetzen muss, wenn ich es nicht intuitiv weiß, d. h., wenn ich nicht „den richtigen Dreh“ herausbekommen habe. Ist eine längere Vorplanung erforderlich oder wird die Hilfe anderer benötigt, ist abstraktes Wissen unerlässlich. Schopenhauer zufolge haben Tiere und Menschen einen Willen, doch nur der Mensch kann überlegt handeln. Verschiedene Motive können dem Bewusstsein nur auf abstrakte Weise zur Auswahl vorgehalten werden. Ethisches Verhalten muss auf Prinzipien beruhen, diese sind jedoch abstrakt. So ist Vernunft zwar für die Tugend notwendig, aber nicht hinreichend. „Vernunft [findet] sich ebenso wohl mit großer Bosheit, als mit großer Güte im Verein […] und [sie verleiht] der einen wie der anderen durch ihren Beitritt große Wirksamkeit.“ (WWI 86) 3

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Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 73. Ebd., 135.

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Der Wille ist für Schopenhauer im gesamten Universum gegenwärtig und aktiv, doch wir erfassen sein Wesen nur durch das menschliche Wollen, dessen wir uns selbst direkt bewusst sind. Alles Wollen, behauptet Schopenhauer, entspringt aus einem Bedürfnis, einem Mangel und daher aus einem Leiden. „Dauernde, nicht mehr weichende Befriedigung kann kein erlangtes Objekt des Wollens geben: sondern es gleicht immer nur dem Almosen, das dem Bettler zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Qual auf morgen zu verlängern.“ (WWI 196) 4 Als allgemeine Regel steht die Erkenntnis im Dienste des Willens und ist mit der Befriedigung seiner Wünsche beschäftigt. Bei Tieren ist dies ausnahmslos der Fall, und es kommt symbolisch darin zum Ausdruck, dass der Kopf niederer Tiere auf den Boden gerichtet ist. Auch beim Menschen ist die Erkenntnis größtenteils die Sklavin des Willens, doch er kann sich über die Betrachtung von Gegenständen als bloßer Werkzeuge zur Befriedigung seiner Wünsche erheben. Der Mensch steht aufrecht und wie der Apollon von Belvedere kann er in weite Ferne blicken und, die Bedürfnisse des Körpers vergessend, eine kontemplative Haltung einnehmen. In diesem Zustand begegnet dem menschlichen Geist eine neue Klasse von Objekten: nicht nur Lockes Vorstellungen (ideas) der Wahrnehmung und auch nicht die abstrakten Ideen der Vernunft, sondern die von Platon beschriebenen allgemeinen Ideen. Der Weg zur Erfassung der Ideen ist folgender: Lasse dein ganzes Bewusstsein von der ruhigen Betrachtung einer Landschaft oder eines Bauwerks erfüllt sein, und vergesse deine eigene Individualität, deine eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Was du dann erkennst, ist nicht mehr ein einzelnes Ding, sondern eine ewige Idee, eine bestimmte Stufe der Objektivation des allgemeinen Willens, und du wirst dich selbst verlieren und zu einem reinen, willen-, schmerz- und zeitlosen Subjekt der Erkenntnis werden, das die Dinge sub specie aeternitatis wahrnimmt. „In solcher Kontemplation nun wird mit einem Schlage das einzelne Ding zur Idee seiner Gattung und das anschauende Individuum zum reinen Subjekt des Erkennens.“ (WWI I 179) 5 In der von der Knechtschaft des Willens befreiten Kontemplation verlieren wir unsere Sorge um Glück und Unglück, ja wir hören sogar auf, ein Individuum zu sein: Wir sind nur noch da als das „eine Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen allein aber völlig frei vom Dienste des Willens werden kann“ 6. Jeder Mensch verfügt über die Kraft, die Ideen der Dinge zu erkennen, doch bei einem besonders begünstigten Individuum kann diese Erkenntnis intensiver und ununterbrochener sein als bei den gewöhnlichen Sterblichen. Solch eine Person nennen wir ein Genie.

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Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 265. Ebd., 245. Ebd., 267.

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Schopenhauer zählt uns die wesentlichen Merkmale eines Genies auf: Genies haben eine lebhafte Einbildungskraft und sind ruhelos, sie haben eine Abneigung gegen die Mathematik und leben an der Grenze zum Wahnsinn. Ihre Begabung äußerst sich vor allem in Kunstwerken, und durch Werke der Kunst können diejenigen unter uns, die keine Genies sind, an die befreiende Wirkung der Kontemplation herangeführt werden. Schopenhauer erläutert dies durch eine detaillierte Betrachtung der verschiedenen Künste. Die Erlösung von der Tyrannei des Willens, die uns die Kunst gewährt, ist jedoch nur begrenzt und vorübergehend. Der einzige Weg zur völligen Befreiung vom Willen besteht in der gänzlichen Verneinung des Willens zum Leben.7 Wie versteht Schopenhauer die Beziehung zwischen Seele und Körper? Erstens wird die dualistische Vorstellung, dass es zwischen dem Inneren und Äußeren Kausalbeziehungen gibt, vollständig verworfen. Die Willensakte und die Bewegungen des Körpers sind nicht zwei durch Kausalität verbundene, verschiedene Ereignisse: Die Bewegungen des Körpers sind die wahrnehmbar gewordenen Akte des Willens. Der ganze Körper mit all seinen Teilen ist Schopenhauer zufolge nichts anderes als die Objektivation des Willens und seiner Wünsche: „Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivierte Hunger; die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen. Wie die allgemeine menschliche Form dem allgemeinen menschlichen Willen, so entspricht dem individuell modifizierten Willen, dem Charakter des Einzelnen, die individuelle Korporisation, welche daher durchaus und in allen Teilen charakteristisch und ausdrucksvoll ist.“ (WWI 108) 8

Schopenhauer antizipiert hier eine berühmte Bemerkung Wittgensteins: „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“ (PI ii. 178) 9 Der Körper ist mit dem Erkennen ebenso eng verbunden wie mit dem Wollen. Mein eigener Körper ist der Ausgangspunkt meiner Wahrnehmung der Welt, und meine Erkenntnis anderer wahrnehmbarer Gegenstände hängt von ihren Wirkungen auf meinen Körper ab. Doch selbst wenn wir uns über die Erkenntnis bloß sinnlicher Vorstellungen zur Erkenntnis von Ideen erheben, fällt dem Körper noch immer eine Rolle zu, wie uns Schopenhauer überraschenderweise erklärt: „[D]er Mensch [ist] zugleich ungestümer und finsterer Drang des Wollens (bezeichnet durch den Pol der

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Schopenhauers Ästhetik und seine Ethik werden in den Kapiteln 9 und 10 genauer betrachtet. Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 162. Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, herausgegeben von G. E. M. Anscombe, G. H. von Wright und R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), 284.

Experimentelle im Gegensatz zur philosophischen Psychologie

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Genitalien als seinem Brennpunkt), und ewiges, freies, heiteres Subjekt des reinen Erkennens bezeichnet durch den Pol des Gehirns.“ (WWI 203) 10 Gibt es einen Teil des Menschen, der den Tod des Körpers überlebt oder gehen wir einer völligen Vernichtung entgegen? Einerseits sagt Schopenhauer: „Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts.“ 11 Andererseits kann er jedoch auch sagen: „[W]enn, per impossibile, ein einziges Wesen, und wäre es das geringste, gänzlich vernichtet würde, [müßte] mit ihm die ganze Welt untergehen“. (WWI 129) 12 Diese Behauptung ist von dem metaphysischen Prinzip abgeleitet, dass der Wille, der die innerste Wirklichkeit jedes Einzelwesens ist, selbst einer und unteilbar ist. Kommentatoren haben versucht, die beiden Erklärungen miteinander zu vereinbaren, indem sie als mögliche Deutung vorschlugen, dass die menschliche Person im Tode von dem einen Willen aufgenommen wird: Sie existiert daher zwar weiter, verliert jedoch jegliche Individualität.

Experimentelle im Gegensatz zur philosophischen Psychologie Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts versuchten Psychologen, eine neue Wissenschaft vom Geist des Menschen ins Leben zu rufen, die geistige Phänomene mithilfe empirischer und experimenteller Methoden untersuchen würde. Das erste psychologische Labor in Europa wurde im Jahre 1879 an der Universität Leipzig von Wilhelm Wundt gegründet, einem Professor der Physiologie, der sich auf das Nervensystem spezialisiert hatte. Fünf Jahre vorher hatte er ein einflussreiches Buch mit dem Titel Grundzüge der physiologischen Psychologie veröffentlicht. William James, der nach Deutschland gegangen war, um dieses Fachgebiet zu studieren, nahm Wundts Gründung vorweg, indem er ein psychologisches Labor in Harvard aufbaute, und 1878 wurde der erste Doktorgrad in der Psychologie verliehen. James fasste die Ergebnisse der neuen Wissenschaft in seinen Bänden über die Prinzipien der Psychologie (1890) zusammen, einem Werk, von dem Bertrand Russell sagte, es besitze „den höchstmöglichen Grad von Vortrefflichkeit“. Die Aufgabe der neuen Psychologie bestand darin, geistige Vorgänge und Zustände Abläufen im Gehirn und im Nervensystem zuzuordnen. James’ Lehrbuch gab dem Studenten eine Einführung in die relevante Physiologie und gab eine Darstellung der Arbeiten der europäischen Psychologen über die Reaktionszeiten von Versuchspersonen in Experimenten. Es ging auf eine Vielzahl von Themen ein, die vom instink-

10 Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 274. 11 Ebd., 527. 12 Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Brendel (München: Georg Müller Verlag, 1912), 627 (Anhang). Diesen Satz hatte Schopenhauer in der dritten Auflage von 1859 weggelassen.

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Die Phrenologie war ein früher Versuch, die Psychologie zu einer Wissenschaft zu machen. Diese Abbildung aus einem Lehrbuch von 1825 versucht, der Form des Schädels Charaktereigenschaften zuzuordnen.

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tiven Verhalten der Tiere bis zu den Phänomenen der Hypnose reichten. James gab in erster Linie einen Überblick über die Arbeiten anderer Autoren; doch von Zeit zu Zeit lieferte er auch eigene originelle Beiträge zu seinem Fach. James’ berühmteste Neuerung in der philosophischen Psychologie war seine Theorie der Gefühle. Während seine Zeitgenossen versuchten, die genaue Beziehung zwischen Gefühlen und den sie begleitenden körperlichen Vorgängen zu ermitteln, schlug James die These vor, die Gefühle seien nichts anderes als die Wahrnehmung dieser Vorgänge. In seinem Werk Die Prinzipien der Psychologie schrieb er: „Nach unserer natürlichen Denkweise über weniger kultivierte Gefühle erregt die Wahrnehmung irgendeiner Tatsache die geistige Rührung, die als Gefühl bezeichnet wird, und führt dieser seelische Zustand einen körperlichen Ausdruck herbei. Meine Theorie behauptet im Gegenteil, dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung der erregenden Tatsache folgen und dass unsere Wahrnehmung dieser gleichen Veränderungen, während sie sich ereignen, das Gefühl IST. Der gesunde Menschenverstand sagt, dass wir unser Vermögen verlieren, traurig sind und weinen; dass wir einem Bär begegnen, Angst bekommen und davonlaufen, dass wir von einem Gegner beleidigt werden, wütend werden und zuschlagen. Die hier zu verteidigende Hypothese behauptet, dass diese Reihenfolge der Ereignisse falsch wiedergegeben ist, dass der eine geistige Zustand nicht unmittelbar durch den anderen veranlasst wird, [sondern] dass die körperliche Manifestation zuerst dazwischengeschaltet werden muss, und dass die vernünftigere Beschreibung lautet, dass wir traurig sind, weil wir weinen, wütend, weil wir schlagen, furchtsam, weil wir zittern.“ (ii. 250)

Um die große Vielzahl der gefühlsmäßigen Zustände erklären zu können, bestand James darauf, dass es fast keine Grenze für die Permutationen und Kombinationen möglicher winziger körperlicher Änderungen gebe, und jede von diesen, so behauptete er, werde im Moment ihres Auftretens deutlich oder undeutlich wahrgenommen. Für das Vorkommen solcher Gefühle konnte er allerdings kein unabhängiges Kriterium anführen. James’ Theorie der Gefühle war von Descartes vorweggenommen worden. Tatsächlich ist der Einfluss Descartes’ in seiner Beschreibung des menschlichen Geistes allgegenwärtig. Die Psychologen des 19. Jahrhunderts waren bestrebt, sich von der Gängelung durch die Philosophie zu befreien, doch während ihre Untersuchungen der physiologischen Phänomene echte wissenschaftliche Entdeckungen lieferten, hatten sie ihre Vorstellung vom bewussten Geist voll und ganz von der kartesianischen Tradition der Philosophie übernommen. Dies wird in James’ Prinzipien überdeutlich, doch am offensten ausgesprochen ist es vielleicht in seinem frühen Aufsatz „Die Funktion der Kognition“ (T 1–42) von 1884. James behauptet darin, dass alle Zustände des Bewusstseins als „Gefühle“ (feelings) bezeichnet werden können, und unter einem „Gefühl“ versteht er dasselbe, was Locke als „Vorstellung“ (idea) und Descartes als „Gedanke“ bezeichnet hat. Einige

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Gefühle sind kognitiv und einige sind es nicht. Um festzustellen, was den Unterschied zwischen kognitiven und nichtkognitiven Zuständen ausmacht, fordert uns James auf, ein Gefühl der grundlegendsten Art zu betrachten: „Nehmen wir an, es sei mit keiner Materie verbunden, an keinem Punkt des Raumes lokalisiert, sondern es schwinge im Vakuum, durch das direkte schöpferische fiat eines Gottes. Und um der Verstrickung in Schwierigkeiten zu entgehen, die mit der physischen oder psychischen Natur dieses ‚Objekts‘ zu tun haben, wollen wir es außerdem nicht ein Gefühl von Duft oder irgendeiner bestimmten Art nennen, sondern uns darauf beschränken anzunehmen, es sei ein Gefühl von q.“ (T 3)

Wir werden weiterhin aufgefordert, dies als ein Gefühl zu betrachten, das ein gesamtes Universum ausmacht und nur einen verschwindend kleinen Bruchteil einer Minute lang existiert. James untersucht die Frage, was zusätzlich zu diesem Urgefühl benötigt würde, um es zu einem kognitiven Zustand zu machen. Er antwortet: (a) dass es in der Welt eine andere Entität geben muss, die dem Gefühl hinsichtlich seiner Qualität q ähnlich ist; und (b) dass das Gefühl entweder direkt oder indirekt auf diese andere Entität einwirken muss. James’ Erklärung des Wissens scheint wenig plausibel. Es ist jedoch weniger seine Schlussfolgerung als vielmehr sein Ausgangspunkt, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Er stellt sich das Bewusstsein im Wesentlichen so vor, dass es aus einer Reihe einsamer Atome bestehe, ohne jeglichen Kontext und jegliche Beziehung zu irgendeinem Verhalten oder irgendeinem Körper. In seinen späteren Jahren vertrat James eine weniger atomistische Auffassung vom Wesen des Gefühls und er glaubte, es sei eine empirische Tatsache, dass das Bewusstsein aus einem kontinuierlichen Strom ohne deutliche Brüche zwischen einem Element und dem nächsten besteht. Doch die Vorstellung von Bewusstsein als einem wesentlich privaten, inneren Phänomen, das nur zufällig mit äußeren Manifestationen in Sprache und Verhalten verbunden ist und im Prinzip ohne Verbindung mit irgendeinem Körper existieren kann, behielt er bei. Dies entspricht natürlich exakt der Art und Weise, auf die sich Descartes das Bewusstsein vorgestellt hatte. Die physiologischen Psychologen nahmen an, dass sie sich von der Philosophie befreiten, indem sie als Methode zur Untersuchung des Geistes die Introspektion durch Experimente ersetzten. Doch hierin irrten sie sich auf doppelte Weise: Erstens behielten Denker wie James ein Bild des Bewusstseins bei, nach dem es ein Gegenstand der Introspektion ist: etwas, das wir wahrnehmen können, wenn wir nach innen schauen, etwas, das uns selbst direkt zugänglich ist, von dem andere jedoch nur indirekt etwas erfahren können, indem sie unser sprachliches Zeugnis akzeptieren oder indem sie aus dem Verhalten unseres Körpers kausale Schlussfolgerungen ziehen. Zweitens geht die Philosophie des Geistes, was immer Locke und Hume gedacht haben mögen, nicht so vor, dass sie innere Phänomene genauestens beobachtet,

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sondern indem sie die Begriffe untersucht, die wir zur Beschreibung unserer Erfahrung verwenden. Wie leer Descartes’ Begriff des Bewusstseins war, sollte im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts durch das Werk von Wittgenstein (der James als einen besonders offenen und ehrlichen Vertreter der kartesianischen Tradition bewunderte) herausgestellt werden. Doch zu James’ Lebzeiten kam, was die ernsthafteste Herausforderung der Arbeit der experimentellen Psychologen zu sein schien, aus einer anderen Richtung: vom Bild der Seele, das von der Psychoanalyse Freuds vorgestellt wurde.

Das freudsche Unbewusste In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse nennt Freud als eine der beiden Grundlagen seiner Theorie, dass sich der größte Teil unseres Seelenlebens, handle es sich dabei um Gefühle, Gedanken oder Willensregungen, unbewusst vollzieht. Bevor wir uns entscheiden, ob wir dieses Prinzip akzeptieren sollten, müssen wir uns genauer ansehen, was mit „unbewusst“ gemeint ist. Das Wort hat mehrere mögliche Bedeutungen, und je nachdem, wie wir es verstehen, stellt sich Freuds These entweder als Binsenweisheit oder aber als kühne Spekulation heraus. Es ist offensichtlich, dass in einem gegebenen Moment nur ein winziger Teil unseres Wissens und unserer Überzeugungen uns in dem Sinne bewusst ist, dass es Gegenstand unserer unmittelbaren Aufmerksamkeit ist. Seit mehr als 60 Jahren kenne ich den Kinderreim „Drei kleine Mäuse“ und habe geglaubt, dass die Schlacht von Waterloo im Jahre 1815 stattfand, doch die Gelegenheiten, bei denen ich den Reim aufgesagt und mich an das Datum erinnert habe, sind sehr selten. Der Unterschied zwischen dem Wissen und seiner Anwendung wurde bereits von Aristoteles als der Unterschied zwischen erster und zweiter Wirklichkeit bezeichnet. Griechisch verstehen und sprechen zu können, sagte er, sei eine Wirklichkeit im Vergleich zu der bloßen Fähigkeit, Sprachen zu lernen, über die alle Menschen verfügen. Doch die Kenntnis des Griechischen sei nur eine erste Wirklichkeit, eine Fähigkeit, die nur dann realisiert wird, wenn ich Griechisch spreche, höre oder lese oder wenn ich in der griechischen Sprache denke. Dies entsprach der zweiten Wirklichkeit. Eine parallele Unterscheidung kann in Bezug auf die eigenen Wünsche, Pläne und Absichten vorgenommen werden. Zweifellos möchte man ausreichende Vorsorge für seine Rente treffen. Doch der Gedanke an die eigene Rente beschäftigt einen nicht ständig: Nur wenn man sich darum sorgt oder konkrete Schritte unternimmt, um die entsprechende Vorsorge zu treffen, ist man sich dieses Wunsches bewusst. Wenn wir die Unterscheidung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten auf diese Weise vornehmen, dann ist Freuds Behauptung, dass der größte Teil unseres Seelenlebens unbewusst ist, nicht mehr als ein philosophischer Gemeinplatz. Doch Freud meinte natürlich mehr als dies. Kenntnisse, Gedanken und Gefühle der von mir beschriebenen Art können unter entsprechenden Umständen mühelos ins Be-

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wusstsein gerufen werden. Wenn mich jemand nach dem Datum der Schlacht von Waterloo fragt, kann ich es angeben. Wenn uns ein Finanzberater fragt, welche Vorkehrungen wir für unsere Rente getroffen haben, haben wir keine Probleme zuzugeben, dass dies eine Angelegenheit ist, die uns Sorgen macht. Das Unbewusste, dessen Existenz Freud postulierte, ist im Gegensatz dazu nicht ebenso leicht ins Bewusstsein zu holen. Freud unterschied drei Ebenen des Unbewussten. Um sie zu entwirren, müssen wir uns daran erinnern, dass es Freud zufolge drei verschiedene Arten von Phänomenen gibt, die uns die Existenz des Unbewussten enthüllen, d. h. triviale Fehler im Alltag, Erlebnisse in Träumen und neurotische Symptome. Wir alle versprechen uns häufig, können uns an einen Namen nicht erinnern oder verlegen einen Gegenstand. Freud war davon überzeugt, dass derartige „Fehlleistungen“, wie er sie nannte, nicht so zufällig sind, wie sie zu sein scheinen, und dass sie verborgene Motive haben können. Er zitierte den Fall eines Wiener Professors, der in seiner Antrittsvorlesung, statt – seinem Manuskript entsprechend – zu sagen „Ich habe nicht die Absicht, die Leistungen meines berühmten Vorgängers zu schmälern“ sagte: „Ich habe durchaus die Absicht, die Leistungen meines berühmten Vorgängers zu schmälern.“ Freud hielt den Versprecher des Professors für einen besseren Hinweis auf seine Absichten als die Worte, die er sich für seinen Vortrag notiert hatte. Doch der Professor war sich natürlich seiner wahren Haltung zur Leistung seines Vorgängers wohl bewusst: Seine Absicht war höchstens in dem Sinne „unbewusst“, dass er sie nicht öffentlich äußern wollte. Ähnliches kann nicht nur beim Sprechen, sondern auch beim Schreiben vorkommen. Freud erzählt von einem Ehemann, der seine von ihm getrennt lebende Frau – einige Jahre, nachdem die Lusitania gesunken war – drängte, ihm über den Atlantik zu folgen, indem er ihr schrieb: „Reise mit der Lusitania“, obwohl er „Reise mit der Mauretania“ schreiben wollte. Freud behauptete, dass Dramatiker sich der Bedeutung solcher Fehlleistungen schon lange bewusst gewesen sind. Im Kaufmann von Venedig legt Shakespeare Portia, die mit dem Zwiespalt zwischen ihrer öffentlichen Verpflichtung, zwischen ihren Verehrern neutral zu sein, und ihrer geheimen Liebe für Bassanio ringt, folgende Worte in den Mund: „Halb bin ich Eu’r, die andre Hälfte Euer – Mein, wollt’ ich sagen!“ 13

Dass solche „Freud’schen Versprecher“ seelische Zustände offenbaren können, die die Sprecher lieber verbergen möchten, ist mittlerweile weithin akzeptiert. Es ist jedoch zu beachten, dass es sich bei der fraglichen Haltung um etwas handelt, das auf vollkommen einfache Weise überprüft werden kann, indem man die Person, die sich 13 Zitiert nach: W. Shakespeare, Sämtliche Werke in vier Bänden, übersetzt von D. Tieck und A. W. Schlegel u. a., herausgegeben von A. Schlösser (Berlin: Aufbau-Verlag, 1975), III. Akt, 2. Szene.

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versprochen hat, um ein ehrliches Geständnis bittet. Derartige Haltungen befinden sich für Freud in der obersten Schicht des Unbewussten, die er manchmal auch als das „Vorbewusste“ bezeichnet (NIL 96). Die Dinge ändern sich, wenn wir uns der zweiten Methode zuwenden, mit der wir Zugang zum Unbewussten bekommen können: der Analyse von Traumerlebnissen. Die Traumdeutung war Freud zufolge der „Königsweg“ zur Erkenntnis der unbewussten Vorgänge in der Seele. Doch diese Deutung ist nicht etwas, was der Träumende beiläufig für sich selbst vornehmen könnte: Sie erfordert lange und vielleicht schmerzliche Sitzungen mit einem Psychoanalytiker. Freud behauptete, dass es sich bei Träumen fast immer um die in der Fantasie erlebte Befriedigung eines unterdrückten Wunsches handelt. Gewiss: Einige Träume sind offensichtlich Darstellungen einer Befriedigung und andere Träume, wie zum Beispiel Albträume, scheinen das genaue Gegenteil davon zu sein. Freud zufolge ist der Grund hierfür, dass unsere Träume verschlüsselt sind. Dem wahren, latenten Inhalt des Traumes wird vom Träumenden eine symbolische Form gegeben. Dies ist die „Traumarbeit“, die den unscheinbaren, manifesten Inhalt erzeugt, den der Träumende berichtet. Wenn der Mantel der symbolischen Form des latenten Trauminhalts entfernt wurde, kann für gewöhnlich die sexuelle, ja ödipale Natur des Traumes offengelegt werden. Freud warnt uns allerdings, dass der eindeutige Traum, mit der eigenen Mutter zu schlafen, auf den Jokaste in König Ödipus anspielt, verglichen mit der Vielfalt der Träume, die die Psychoanalyse in demselben Sinne deuten muss, eine Seltenheit ist (SE xix. 131 ff.). Wie ist ein Traum zu entschlüsseln und wie kann die Traumarbeit rückgängig gemacht werden? Jedem Traum kann leicht eine sexuelle Bedeutung gegeben werden, wenn man jeden spitzen Gegenstand, wie etwa einen Regenschirm, als Symbol eines Penis und jedes geräumige Objekt, wie zum Beispiel eine Handtasche, als Symbol der weiblichen Geschlechtsorgane ansieht. Doch so plump war Freuds Methode nicht. Er glaubte nicht, dass es möglich sei, ein Universalwörterbuch zusammenzustellen, das Symbole mit dem von ihnen bedeuteten Inhalt verbindet. Die Bedeutung eines bestimmten Traumgegenstandes konnte nur verstanden werden, indem man herausfand, was der Träumende selbst damit assoziierte. Nur nach einer solchen Untersuchung konnte man das Wesen des unbewussten Wunsches entdecken, dessen Erfüllung im Traum fantasiert worden war. Die dritte (obwohl zeitlich erste) Methode, mit der Freud behauptete, das Unbewusste erforschen zu können, war die Untersuchung neurotischer Symptome. Ein typischer Fall ist der folgende. Einer seiner Patienten, ein junger österreichischer Student, verbrachte seine Ferien an einem Urlaubsort. Plötzlich überkam ihn die zwanghafte Vorstellung, er habe Übergewicht. Er sagte sich: „Ich bin zu dick.“ Daher verzichtete er auf sämtliche fettigen Lebensmittel und sprang vom Tisch auf, bevor das Dessert serviert wurde, um in der Augustsonne Berge hinaufzurennen. Sein Patient konnte sich dieses scheinbar sinnlose, zwanghafte Verhalten nicht erklären, bis ihm plötzlich einfiel, dass zur gleichen Zeit seine Verlobte in Begleitung eines

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attraktiven englischen Cousins namens Dick den Urlaubsort besucht hatte. Der Zweck seines Abnehmens, meinte Freud, habe darin bestanden, diesen Dick loszuwerden (SE x. 183). Freuds Verfahren, die tieferen Schichten des Unbewussten aufzudecken, zeichnet sich durch eine gewisse Zirkelhaftigkeit aus. Die Existenz dieser tieferen Schichten soll angeblich durch das Beweismaterial aus Träumen und Neurosen belegt werden. Doch Träume und neurotische Symptome offenbaren, für sich genommen, weder auf offensichtliche Weise noch in der Deutung des Patienten allein, die Überzeugungen, Wünsche und Gefühle, aus denen das Unbewusste bestehen soll. Damit eine Behandlung erfolgreich sein kann, muss der Patient das angebliche, verborgene Verlangen zugeben. Doch die Entschlüsselung des Analytikers wird vom Patienten häufig verworfen, und das Kriterium für den Erfolg der Deutung besteht darin, dass die verschlüsselte Botschaft mit der Vorstellung übereinstimmen sollte, die der Analytiker vom Unbewussten hat. Doch diese Vorstellung sollte sich aus der Erforschung der Träume und Symptome ergeben und ihr nicht vorausgehen. Gegen Ende seines Lebens ersetzte Freud die Dichotomie zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten durch ein dreiteiliges Schema. Das Über-Ich, Ich und Es, sagt Freud in der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, seien die drei Reiche, Regionen oder Provinzen, in die der seelische Apparat des Einzelnen unterteilt sei (NIL 97). Das Es sei der unbewusste Ort von Hunger und sexuellem Begehren und der instinktiven Triebe, es regiere nach dem Lustprinzip und sei sowohl umfassender als auch rätselhafter als die anderen Teile der Seele. Freud erklärt, dass die Gesetze des logischen Denkens für das Es nicht gelten, und dies treffe insbesondere auf das Gesetz vom verbotenen Widerspruch zu. Widersprüchliche Bestrebungen existierten nebeneinander, ohne sich gegenseitig aufzuheben oder zu schwächen (SE xxii. 73). Das Ich stelle im Gegensatz dazu Vernunft und gesunden Menschenverstand dar, und es sei dem Realitätsprinzip verpflichtet. Es sei derjenige Teil der Seele, der mit der durch die Sinne wahrgenommenen Außenwelt am engsten in Kontakt stehe. Das Ich ist der Reiter und das Es das Pferd. „Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten.“ (SE xx. 201) 14 Doch die Herrschaft des Ichs ist nicht absolut: Es gleicht vielmehr einem konstitutionellen Monarchen, der sich lange überlegen muss, ob er gegen einen Vorschlag des Parlaments sein Veto einlegt. Die Psychoanalyse kann jedoch die Herrschaft des Ichs über das Es stärken und ihm bei seiner Aufgabe, seine instinktiven Bestrebungen zu kontrollieren, harmlose Wege für ihre Befriedigung zu wählen oder ihren Aus-

14 Zitiert nach: S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: S. Freud, Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Freud, E. Bibring und E. Kris (Frankfurt: Fischer Verlag, 1999), Band XV, 83.

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druck umzulenken, behilflich sein. In einer anderen Metapher spricht Freud in hydraulischen Begriffen von der Funktion des Es als einem Energiestrom, der sich normal entladen, in alternative Kanäle umgelenkt oder mit katastrophalen Ergebnissen unterdrückt werden kann. Das Über-Ich ist schließlich eine Instanz, die das Verhalten des Ichs beobachtet, richtet und bestraft. Eine Form, in der es sich manifestiert, ist die Stimme des Gewissens, die Handlungen im Voraus verbietet und sie dem Ich im Nachhinein vorhält (NIL 82). Das Über-Ich existiert nicht von Anfang an: In der frühen Kindheit wird seine Stelle von der elterlichen Autorität besetzt. Im Laufe der Entwicklung des Kindes übernimmt das Über-Ich eine Hälfte der Funktion der Eltern – nicht ihre liebenden und fürsorglichen Aktivitäten, sondern lediglich ihre Strenge und Härte, ihre verbietenden und strafenden Funktionen. Das Über-Ich „ist auch der Träger des Ichideals, an dem das Ich sich mißt, dem es nachstrebt, dessen Anspruch auf immer weitergehende Vervollkommnung es zu erfüllen bemüht ist“ (SE xxii. 65). 15 Freud erklärte, dass die Modifikation seiner früheren Theorie ihm durch die Beobachtung seiner Patienten auf seiner Couch aufgezwungen wurde. Dennoch gleicht die Seele, in ihrer späteren Form, stark der dreiteiligen Seele in Platons Dialog Politeia. 16 Das Es korrespondiert dem, was Platon als das Begehrungsvermögen (epithumetikon) bezeichnet, das die Quelle des Verlangens nach Nahrung und sexueller Befriedigung ist. Das Ich hat vieles mit Platons Verstand (logistikon) gemeinsam: Es ist derjenige Teil der Seele, der der Wirklichkeit am nächsten ist und die Aufgabe hat, das Verlangen der Instinkte zu kontrollieren. Das Über-Ich gleicht schließlich dem, was Platon Eifer (thumoeides) nennt. Beides sind nichtrationale, strafende Instanzen im Dienste der Moralität, die Quelle von Scham und gegen das Selbst gerichteter Entrüstung. Das Ich, wie es von Freud beschrieben wurde, muss versuchen, drei tyrannische Herren zufriedenzustellen: die reale Außenwelt, das Über-Ich und das Es. „So vom Es getrieben, vom Über-Ich eingeengt, von der Realität zurückgestoßen, ringt das Ich um die Bewältigung seiner ökonomischen Aufgabe, die Harmonie unter den Kräften und Einflüssen herzustellen, die in ihm und auf es wirken, und wir verstehen, warum wir so oft den Ausruf nicht unterdrücken können: Das Leben ist nicht leicht!“ (NIL 104) 17

15 Zitiert nach: S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: S. Freud, Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Freud, E. Bibring und E. Kris (Frankfurt: Fischer Verlag, 1999), Band XV, 71. 16 Vgl. Band I, 249 ff., sowie A. Kenny, The Anatomy of the Soul (Oxford: Blackwell, 1974), 10–14. 17 Zitiert nach: S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: S. Freud, Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Freud, E. Bibring und E. Kris (Frankfurt: Fischer Verlag, 1999), Band XV, 84 f.

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Wie Platon versteht Freud seelische Gesundheit als Harmonie zwischen den Teilen der Seele und seelische Erkrankungen als ungelöste Konflikte zwischen ihnen. Solange das Ich und seine Beziehungen zum Es diese idealen Anforderungen (nach harmonischer Kontrolle) erfüllen, gibt es auch keine nervösen Störungen (SE xx. 201). Das ganze Bestreben des Ichs ist darauf gerichtet, eine Versöhnung zwischen den verschiedenen abhängigen Beziehungen herzustellen (xix. 149). Ist eine solche Aussöhnung nicht gegeben, entwickeln sich seelische Störungen, und Freud gibt eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Formen interner Konflikte.

Philosophische Psychologie im Tractatus Während Freud in der österreichischen Hauptstadt seine Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse hielt, entwarf Wittgenstein als Soldat der österreichischen Armee, in seinen Notizbüchern, ein anderes Modell des Geistes. Wittgenstein akzeptierte, dass die Psychologie eine echte empirische Wissenschaft ist, und er sah das Verhältnis der Philosophie des Geistes zur Philosophie auf dieselbe Weise wie dasjenige der Philosophie im Allgemeinen zu den Naturwissenschaften: Ihre Aufgabe bestand darin, naturwissenschaftliche Aussagen zu verdeutlichen und die Grenzen ihrer Kompetenz zu bestimmen (TLP 4.112, 4.113). Sie würde dies durch die Analyse von Sätzen erreichen, die Überzeugungen, Urteile, Wahrnehmungen und Ähnliches ausdrücken, und vor allem dadurch, dass sie das Licht der Logik auf das Wesen des Denkens richtete. Das Erste, was uns der Tractatus über einen Gedanken sagt, ist, dass er ein logisches Bild von Tatsachen ist. Ein logisches Bild ist ein Bild, dessen Form der Abbildung – dasjenige, was es mit dem von ihm Dargestellten gemeinsam hat – eine logische Form ist. Gewöhnliche Bilder können mit dem von ihnen Dargestellten mehr als die logische Form gemeinsam haben, wie ein Gemälde mit einer Landschaft die räumliche Form gemeinsam hat. Ein Gedanke ist jedoch ein Bild im Geist, das mit dem von ihm Dargestellten außer der logischen Form nichts anderes gemeinsam hat. Manchmal setzt Wittgenstein Gedanken Sätzen (propositions) gleich (TLP 4). Untersuchen wir jedoch seine „Sätze“ genauer, wird deutlich, dass es hierbei um zwei verschiedene Elemente geht. Da ist zum einen das Satzzeichen oder der geschriebene oder gesprochene Satz (sentence), bei dem es sich um eine Beziehung zwischen geschriebenen oder gesprochenen Wörtern handelt. Zum anderen gibt es dasjenige, was von diesem Satzzeichen ausgedrückt wird, nämlich den Gedanken, der seinerseits mit dem Bestehen einer Beziehung zwischen psychischen Elementen identisch ist, deren genaues Wesen anzugeben Wittgenstein sich weigert, da dies Sache der empirischen Psychologie sei (TLP 3.1, 3.11 f.). Ein Satzzeichen kann nur ein Satz sein, wenn es durch einen Gedanken auf die Welt angewendet wird, und umgekehrt kann eine Beziehung zwischen psychischen Elementen nur dann ein Gedanke sein, wenn es sich dabei um ein auf die Welt angewandtes Satzzeichen handelt (TLP 3.5).

Philosophische Psychologie im Tractatus

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„Im Satz“, sagt Wittgenstein in 3.2, „kann der Gedanke so ausgedrückt sein, daß den Gegenständen des Gedankens Elemente des Satzzeichens entsprechen.“ Die „Gegenstände des Gedankens“ sind die psychischen Elemente, deren Beziehung zueinander den Gedanken konstituiert. Ein Satz ist vollständig analysiert, wenn die Elemente des Satzzeichens den Elementen des Gedankens korrespondieren. Bei einem unanalysierten Satz der Umgangssprache besteht diese Beziehung zu einem Gedanken nicht. Im Gegenteil: Er verschleiert den Gedanken. Wir können die Umgangssprache verstehen und den unter ihren Falten verborgenen Gedanken nur deshalb erfassen, weil sie auf äußerst komplizierten stillschweigenden Konventionen basiert. Der Wittgenstein des Tractatus gleicht Freud darin, dass er den unbewussten Vorgängen in der Seele eine große Bedeutung beimisst. Der Struktur unserer Gedanken, die hinter unseren Äußerungen liegt, sind wir uns in keiner Weise bewusst. Von unseren Gedanken scheinen einige Gedanken über Gedanken zu sein: zum Beispiel Sätze, die Aussagen über Annahmen und Urteile machen. Dies sind scheinbare Gegenbeispiele zu der generellen Behauptung des Tractatus, dass ein Satz innerhalb eines anderen nur als Wahrheitsfunktion vorkommen kann, weil ein Satz wie „A glaubt, dass p“ keine Wahrheitsfunktion von p ist. Wittgenstein schlägt für das Problem eine drastische Lösung vor: Solche Sätze sind überhaupt keine echten Sätze. In 5.542 wird uns gesagt: „Es ist aber klar, daß ‚A glaubt, daß p‘, ‚A denkt p‘, ‚A sagt p‘ von der Form ‚›p‹ sagt p‘ sind: Und hier handelt es sich nicht um eine Zuordnung von einer Tatsache und einem Gegenstand, sondern um die Zuordnung von Tatsachen durch die Zuordnung ihrer Gegenstände.“ „‚p‘ sagt p“ ist nur scheinbar ein Satz: Es ist ein Versuch zu sagen, was nur gezeigt werden kann. Ein Satz kann seinen Sinn nur zeigen und ihn nicht aussprechen. Wir könnten annehmen, dass es dem Tractatus zufolge die Tatsache ist, dass zum Beispiel in dem Satz „London ist größer als Paris“ „London“ links von „ist größer als“ und „Paris“ rechts von „ist größer als“ steht, was besagt, dass London größer als Paris ist. Doch nur wenn wir diese Tatsache mit den Konventionen der deutschen Sprache zusammennehmen, ergibt sich eine solche Aussage. Was erklärt, dass der Satz etwas aussagt, ist dasjenige, was das Satzzeichen mit allen anderen Satzzeichen gemeinsam hat, die denselben Zweck erfüllen könnten. Und was dies ist, könnte – per impossibile – nur beschrieben werden, indem wir die stillschweigenden Konventionen des Deutschen angeben und explizit machen. Angenommen, ich denke einen bestimmten Gedanken. Mein Denken dieses Gedankens wird aus bestimmten seelischen Elementen bestehen – vielleicht aus inneren Bildern oder inneren Eindrücken –, die zueinander in Beziehung stehen. Dass diese Elemente in der und der Beziehung zueinander stehen, wird eine psychologische Tatsache sein, die in den Geltungsbereich der Wissenschaft fällt. Doch die Tatsache, dass diese Elemente die Bedeutung haben, die sie haben, wird keine Tatsache der Wissenschaft sein. Eine Bedeutung erhalten Zeichen durch uns, durch unsere Konventionen. Doch wo befinden sich die Willensakte, die die Bedeutung verleihen, indem sie die Konventionen einrichten? Sie können sich nicht in der empirischen Seele

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befinden, die von der oberflächlichen Psychologie untersucht wird: Jede Beziehung zwischen diesem Willen und irgendeinem Paar von Gegenständen wäre eine wissenschaftliche Tatsache, die als solche die unaussprechliche Leistung der Bedeutungsübertragung nicht übernehmen könnte. Wenn ich den Symbolen, die ich verwende, eine Bedeutung gebe, muss das Ich, das dies tut, ein metaphysisches Ich sein, nicht das von der introspektiven Psychologie studierte Selbst. Das Denken wird, im Gegensatz zur Sprache, die angemessene Komplexität aufweisen, um die Tatsachen der Welt zu beschreiben. Doch seine Komplexität gibt ihm lediglich die Möglichkeit der Beschreibung. Dass ein Gedanke tatsächlich etwas – wahr oder falsch – beschreibt, hängt von der Bedeutung seiner Elemente ab, und die ist durch den extra-psychologischen Willen gegeben, der diesen Elementen eine Anwendung und einen Gebrauch gibt (TLP 5.631 ff.).

Intentionalität Die im Tractatus dargestellte Philosophie des Geistes ist kärglich und nicht überzeugend. Wittgenstein hat dies später selbst erkannt, doch vielen, die das Buch, als es erschienen war, gelesen haben, muss aufgefallen sein, dass es etwas ignorierte, was viele für den zentralen Aspekt der geistigen Akte und Vorgänge hielten: d. h. die Intentionalität. Der Begriff der Intentionalität, der mittelalterlichen Ursprungs ist, wurde im 19. Jahrhundert von Brentano erneut in die Philosophie eingeführt. In Husserls Logischen Untersuchungen (1901–1902) und in seinen Ideen 18 (1913) wurde ihm eine große Bedeutung beigemessen. In seinem Buch Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874) hatte Brentano versucht, ein Merkmal zu finden, anhand dessen sich psychische von physischen Phänomenen unterscheiden lassen würden. Er erwog und verwarf die These, die Besonderheit der psychischen Phänomene bestehe darin, dass sie keine räumliche Ausdehnung haben. Anschließend schlug er ein anderes Unterscheidungskriterium vor: Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt u. s.w.

18 Anm. d. Übers.: Der vollständige Titel des Werkes lautet: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.

Intentionalität

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Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definieren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten.“ (PES ii. 1. 5) 19

Was dieser berühmte Text sagen will, ist nicht ganz klar. Es ist zwar wahr, dass dort, wo es Liebe gibt, etwas geliebt wird, und wo es Hass gibt, etwas gehasst wird – doch ist es nicht ebenso wahr, dass dort, wo es Wärme gibt, etwas erwärmt wird? Und doch ist „erwärmen“ kein psychologisches Verb. Wie kann Brentano behaupten, dass das Gerichtetsein auf einen Gegenstand ein den psychologischen Phänomenen vorbehaltenes Merkmal ist, wenn es ein Merkmal aller transitiven Verben zu sein scheint, d. h. aller Verben, die ein Akkusativobjekt verlangen? Die Antwort wird deutlich, wenn wir uns Brentanos scholastische Quellen ansehen, die zwischen zwei Arten von Handlungen unterschieden: immanenten und transienten. Transiente Handlungen sind Handlungen, die ihre Objekte verändern. (Erwärmen ist ein transienter Vorgang, der sein Objekt warm macht.) Immanente Handlungen verändern nicht ihre Objekte, sondern die Handlungsträger. Um festzustellen, ob der Arzt den Patienten geheilt hat, müssen wir den Patienten untersuchen. Wollen wir hingegen wissen, ob sich der Arzt in seine Patientin verliebt hat, müssen wir den Arzt beobachten. Brentanos Unterscheidung zwischen psychischen und physischen Phänomenen entspricht dem Unterschied zwischen immanenten und transienten Handlungen. 20 Husserl übernahm von Brentano den scholastischen Begriff der Intentionalität und machte ihn, ab 1901, zum Zentralbegriff seines Systems. In der fünften der Logischen Untersuchungen sagt er uns, dass das Bewusstsein aus intentionalen Erfahrungen oder Akten besteht, und er nimmt eine Reihe von Unterscheidungen zwischen verschiedenen uns im Bewusstsein begegnenden Elementen vor. Die Intentionalität eines Aktes ist dasjenige, worauf er gerichtet ist. Es wird auch als die Aktmaterie bezeichnet, als der Sinn und – in den späteren Werken – als das Noema. Ein Element des Geistes erhält seine Intentionalität durch einen Akt des Meinens. Es gibt zwei Arten von Bedeutung: Die eine ist diejenige, die einem Wort einen Sinn verleiht, und die andere ist diejenige, die einem Satz einen Sinn gibt: „Jede Bedeutung ist im Sinne dieser Lehre entweder nominale oder propositionale Bedeutung, oder, wie wir noch besser sagen können, jede ist entweder die Bedeutung eines ganzen Aussagesatzes oder ein möglicher Teil einer solchen Bedeutung.“ (LI vi. 1) 21 Jeder geistige Akt wird ein Akt einer bestimmten Art sein, der einer bestimmten Klasse angehört, die von seiner Materie bestimmt wird. Jeder Gedanke an ein Pferd, 19 Zitiert nach: F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte (Leipzig: Duncker & Humblot, 1874), 115 f. 20 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, 1a 18. 3 ad 1. 21 Zitiert nach: E. Husserl. Logische Untersuchungen II (Halle: Max Niemeyer Verlag, 1901), 482.

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wessen Gedanke er auch sein mag, gehört zu derselben Klasse, und der Begriff Pferd entspricht genau der Klasse, zu der alle diese Gedanken gehören. In ähnlicher Weise gilt: Wann immer jemand das Urteil fällt, dass Blut dicker ist als Wasser, dann entspricht die Bedeutung dieses Urteils, der Satz ‚Blut ist dicker als Wasser‘, exakt der Klasse, der alle derartigen Urteile angehören. Wenn A mit dem Urteil von B übereinstimmt, dann sind die Urteile von A und B, obwohl es verschiedene geistige Ereignisse sind, Exemplare derselben Klasse, weil sie dieselbe Materie haben. In seinen späteren Schriften nannte Husserl den einzelnen Akt die Noesis und den speziellen Inhalt das Noema. Außer einem Inhalt haben Akte Qualitäten. Nicht nur Wörter und Sätze haben Bedeutungen und nicht nur die entsprechenden geistigen Akte, wie Wissen und Glauben. Auch Wahrnehmung, Einbildungskraft, Gefühl und Wille haben Bedeutung. Wenn ich Rom sehe und mir Rom bildlich vorstelle, so sind dies Akte mit derselben Materie oder demselben intentionalen Objekt. Da Sehen jedoch von bildlichem Vorstellen verschieden ist, sind es Akte unterschiedlicher Qualität (LI vi. 22). Husserls Theorie der Intentionalität war fruchtbar, und die Erklärung, die er ihr gab, enthält zahlreiche scharfsinnige Beobachtungen und wertvolle Unterscheidungen. Doch das Wesen des Akts, mit dem etwas gemeint wird, der das Universum der geistigen Phänomene abstützt, bleibt zutiefst rätselhaft. In den 1920er und 1930er Jahren haben einige Philosophen versucht, Philosophien des Geistes zu entwickeln, die auf den Begriff der Intentionalität völlig verzichten. In seiner Analyse des Geistes (Analysis of Mind) legte Russell eine Erklärung des Begehrens vor, die es anhand derjenigen Ereignisse definierte, die es beendeten. „Ein psychischer Vorgang irgendwelcher Art – Empfindung, Vorstellung, Glaube oder Gemütsbewegung –“, schrieb er, „kann die Ursache einer Reihe von Handlungen werden, die, wenn sie nicht unterbrochen wird, solange fortgeht, bis ein mehr oder weniger bestimmter Zustand erreicht ist. Eine solche Reihe von Handlungen nennen wir einen ‚Zyklus des Verhaltens‘. […] Die Eigenschaft, einen solchen Zyklus hervorzurufen, heißt ‚Unlust‘. […] Der Zyklus endet mit einem Zustand der Ruhe oder mit einer Handlung, die nur dazu dient, den status quo zu erhalten. Der Zustand, in dem diese Ruhe erreicht wird, heißt das ‚Ziel‘ des Zyklus und der anfängliche psychische Vorgang, der mit Lust verbunden ist, heißt ein ‚Begehren‘ nach demjenigen Zustand, der die Ruhe herbeiführt. Ein Begehren heißt ‚bewußt‘, wenn es von der richtigen Meinung über den Zustand begleitet wird, der die Ruhe herbeiführen wird; andernfalls heißt sie ‚unbewußt‘.“ (AM 75) 22

Die Kausalursachen von Verhaltenszyklen sind Russell zufolge psychische Ereignisse, die die Eigenschaft der Unlust haben. Das Wesen dieser Ereignisse bleibt in seinem System unklar. In den von anderen Philosophen und Psychologen gegebenen Erklä22 Zitiert nach: B. Russell, Die Analyse des Geistes, übersetzt von K. Grelling (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2006), 87 f.

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rungen des Begehrens und der Gefühle spielen psychische Ereignisse überhaupt keine Rolle. Für den Behaviorismus war die Beziehung zwischen psychischen und körperlichen Ereignissen, besonders nachdem Pawlow 1927 seine Theorie der bedingten Reflexe vorgelegt hatte, keine kausale Beziehung mehr. Verhaltenszyklen waren nicht die Wirkung psychischer Ereignisse: Es waren die konkreten Bestandteile solcher Phänomene wie Begehren und Befriedigung. Behavioristen hielten Angaben über psychische Akte und Zustände für verschleierte Angaben über Teile körperlichen Verhaltens, oder zumindest von Tendenzen, sich auf bestimmte Weise körperlich zu verhalten. Dadurch verschwand die Intentionalität aus der Psychologie.

Wittgensteins spätere Philosophie des Geistes Seine späte Philosophie des Geistes entwickelte Wittgenstein als Reaktion auf Russells Theorie des Begehrens und der Erwartung. Was an Russells Theorie falsch sei, sei genau dies: dass sie die Intentionalität ignoriere. Husserls Auffassung, dass die Intentionalität für das Verständnis von Sprache und Denken unerlässlich sei, stimmte er zu. Eine korrekte Theorie der Intentionalität zu entwickeln sei eine der Hauptaufgaben der Philosophie. „‚Das soll er sein‘ (dieses Bild stellt ihn vor), darin liegt das ganze Problem der Darstellung. Was ist das Kriterium dafür, wie ist es zu verifizieren, daß dieses Bild das Portrait dieses Gegenstandes ist – d. h., ihn darstellen soll? Die Ähnlichkeit macht das Bild nicht zum Portrait (es könnte dem Einen täuschend ähnlich und dabei das Portrait eines Anderen sein, dem es weniger ähnlich sieht). […] Wenn ich mich an meinen Freund erinnere, ihn ‚vor mir sehe‘, was ist hier der Zusammenhang des Erinnerungsbildes mit seinem Gegenstand? Die Ähnlichkeit?“ (PG 102) 23

Wittgensteins Leistung in der Philosophie des Geistes bestand darin, eine Theorie vorgelegt zu haben, die die von den Behavioristen geleugnete Intentionalität bewahrte, ohne das kartesianische Bild des Bewusstseins zu akzeptieren, in das Husserls Theorie eingebettet war. Wittgensteins Beitrag zur Philosophie des Geistes ließe sich so beschreiben, dass er mit unvergleichlicher Sensibilität dargestellt hat, dass die Seele des Menschen kein Geist ist, noch nicht einmal ein mit einem Körper verbundener Geist. Vor allen Dingen gibt es nicht so etwas wie das kartesianische Ego, ein Selbst, oder moi, auf das in Äußerungen der ersten Person Singular Bezug genommen wird. Der Grund hierfür ist nicht, dass das Wort „Ich“ auf etwas anderes als das Selbst Bezug nimmt, sondern 23 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, herausgegeben von R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1984), 102.

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Ein Foto von Wittgenstein, das ihn zu der Zeit zeigt, zu der er seine endgültige Philosophie des Geistes ausarbeitete.

der, dass „Ich“ überhaupt kein Ausdruck ist, der etwas kennzeichnet. Das Selbst ist ein Beispiel für philosophischen Unsinn, der auf dem Missverständnis des Reflexivpronomens beruht. Als Descartes behauptete, er könne bezweifeln, ob er einen Körper hat, doch nicht, ob er existiert, war es eine wesentliche Voraussetzung seines Arguments, dass es ihm möglich sein sollte, sich durch die Verwendung von „Ich“ auf etwas zu beziehen, zu dem sein Körper nicht als ein Teil gehörte. Doch das war ein großes Missverständnis. Mein „Selbst“ ist kein Teil von mir, nicht einmal ein besonders zentraler Teil von mir. Es ist, offensichtlich genug, was ich selbst bin. Wir reden zwar von „meinem Körper“, doch das Possessivpronomen bedeutet nicht, dass es ein von mir selbst verschiedenes Ich gibt, das der Besitzer eines Körpers ist. Mein Körper ist nicht der Körper, den ich habe, sondern der Körper, der ich bin; wie auch die Stadt Rom nicht eine Stadt ist, die Rom hat, sondern die Stadt, die Rom ist. Das Zweite, was damit gemeint ist, dass die Seele kein Geist ist, ist, dass sie kein geisterhaftes Medium und kein Ort mentaler Ereignisse und Vorgänge ist, der allein

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durch Introspektion zugänglich ist. Wittgenstein griff häufig eine mythologische Vorstellung über das Wesen des Geistes an, der wir alle nur zu leicht erliegen. Wir stellen uns dabei vor, dass sich in unserem Geist ein Mechanismus befindet, ein seltsamer Mechanismus, der in seinem eigenen rätselhaften Medium bestens funktioniert, jedoch nicht verstanden werden kann, wenn man ihn als einen Mechanismus im gewöhnlichen Sinne versteht. Wittgenstein hielt dies für verdeckten oder latenten Unsinn. Die Methode, diesen latenten in offensichtlichen Unsinn zu verwandeln, bestand darin, sich vorzustellen, dieser Mechanismus existiere tatsächlich. Wir sind zum Beispiel versucht, Folgendes anzunehmen: Wenn wir jemanden wiedererkennen, so geschieht dies dadurch, dass wir ein inneres Vorstellungsbild von ihm mit ihm vergleichen und überprüfen, ob, was wir sehen, mit diesem Bild übereinstimmt. Wittgenstein ist der Meinung, dass wir uns, wenn wir diese unsinnige Vorstellung im Kopf haben, dazu bringen können zu erkennen, dass sie unsinnig ist, und dass sie das Wiedererkennen in keiner Weise erklärt. Wenn wir uns vorstellen, dass sich der Vorgang in der realen Welt ereignet, wobei das Bild ein wirkliches Bild und nicht nur ein inneres Vorstellungsbild ist, stellt sich unser anfängliches Problem einfach erneut, denn: Woran erkennen wir, dass dies ein Bild einer bestimmten Person ist, um es dazu verwenden zu können, sie wiederzuerkennen? Das Einzige, was in diesem Fall den illusionären Eindruck einer Erklärung erweckte, war die Ungenauigkeit der ursprünglichen Annahme, der Vorgang spiele sich im nebulösen Medium des Geistes ab. Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Theorie des Geistes besteht einigen Philosophen und Psychologen zufolge darin, ein Prinzip der Korrelation zwischen dem Auftreten mentaler Zustände und Vorgänge und dem Vorkommen von Zuständen und Vorgängen im Gehirn herzustellen. Diese Korrelation stellte nur dann eine Möglichkeit dar, wenn mentale Ereignisse (zum Beispiel Gedanken, plötzliche Einsichten) selbst auf die Weise messbar wären, auf die physikalische Ereignisse messbar sind. Denken und Verstehen sind jedoch keine Vorgänge in einem psychischen Medium, wie Elektrolyse und Oxidation Vorgänge in einem physischen Medium sind. Denken und Verstehen sind überhaupt keine Vorgänge, wie Wittgenstein durch eine akribische Analyse der Wörter „denken“ und „verstehen“ gezeigt hat. Die Kriterien, nach denen wir entscheiden, ob jemand einen Satz versteht, sind zum Beispiel sehr verschieden von den Kriterien, nach denen wir entscheiden, welche mentalen Vorgänge ablaufen, während er einen Satz ausspricht oder niederschreibt (PG 148). Diejenigen, die sich das Psychische als ein geisterhaftes Medium vorstellen, und Denken und Verstehen als Vorgänge, die sich darin abspielen, sind der Meinung, dass dieses Medium allein durch Introspektion zugänglich ist, und auf keine andere Weise. Der Geist ist nach dieser Auffassung ein innerer Raum, der es ebenso wert ist, erforscht zu werden, wie der äußere Raum. Während jedoch – vorausgesetzt, genug Zeit, Geld und Energie sind dafür vorhanden – jeder denselben äußeren Raum erforschen kann, kann den eigenen inneren Raum jeder nur selbst erforschen. Wir tun dies, indem wir nach innen blicken und etwas anschauen, zu dem wir direkten Zu-

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gang haben, doch von dem andere nur indirekt etwas erfahren können, indem sie unserem sprachlichen Zeugnis vertrauen oder Schlüsse aus unserem körperlichen Verhalten ziehen. In dieser Sicht der Dinge ist der Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein einerseits und der Sprache und dem Verhalten andererseits lediglich eine kontingente Beziehung. Diese Vorstellung endgültig zerstört zu haben, war eines von Wittgensteins größten Verdiensten. Wenn die Verbindung zwischen dem Bewusstsein und seinem Ausdruck lediglich zufällig ist, dann hat, nach allem was wir wissen, vielleicht alles im Universum ein Bewusstsein. Es steht nicht im Widerspruch zu der Vorstellung, dass Bewusstsein etwas Privates ist, mit dem wir nur im Falle unserer eigenen Person in Kontakt stehen, wenn ich annehme, dass der Stuhl, auf dem ich jetzt sitze, Bewusstsein hat. Könnte er nicht, soviel wir wissen, entsetzliche Schmerzen erleiden? Wenn dies so ist, müssen wir natürlich sogleich die Hypothese hinzufügen, dass er außerdem eine stoische Tapferkeit an den Tag legt. Doch warum sollte es nicht so sein? Wenn das Bewusstsein nur zufälligerweise mit seinem Ausdruck im Verhalten verbunden ist, können wir uns dann sicher sein, wenn wir es anderen Menschen zuschreiben? Unser einziger Beweis dafür, dass Menschen ein Bewusstsein haben, besteht darin, dass jeder von uns, wenn er in sich hineinschaut, Bewusstsein dort findet. Doch wie kann ein Mensch die Erfahrung seines eigenen Falls auf so unverantwortliche Weise verallgemeinern? Er kann in andere nicht hineinschauen: Es ist das Wesen der Introspektion, dass sie etwas ist, was jeder für sich selbst tun muss. Ebenso wenig kann er etwas aus dem Verhalten anderer Menschen kausal ableiten. Eine Korrelation zwischen dem Bewusstsein anderer Menschen und ihrem Verhalten könnte niemals aufgestellt werden, wenn das erste Element der Korrelation prinzipiell unbeobachtbar ist. Wittgenstein schrieb, man könne „nur vom lebenden Menschen, und was ihm ähnlich ist (sich ähnlich benimmt) sagen, es habe Empfindungen; es sähe; sei blind; höre; sei taub; sei bei Bewußtsein, oder bewußtlos“ (PI i. 281). 24 Dies bedeutet nicht, dass er Behaviorist ist. Er setzte die Erfahrung nicht dem Verhalten gleich, nicht einmal mit Verhaltensdispositionen. Worum es Wittgenstein geht, ist dies: Welche Erfahrungen jemand machen kann, hängt davon ab, wie er sich verhalten kann. Nur jemand, der Schach spielen kann, kann den Wunsch haben, eine Rochade zu machen. Nur jemand, der sprechen kann, kann von einem Wunsch zu fluchen überwältigt werden. Nur ein Wesen, das essen kann, kann Hunger haben, und nur ein Wesen, das zwischen Licht und Dunkelheit unterscheiden kann, kann visuelle Erfahrungen machen. Die Beziehung zwischen Erfahrungen einer bestimmten Art und der Fähigkeit, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, stellt keine bloß zufällige Verbindung dar. Wittgenstein unterschied zwischen zwei Arten von Beweisen, die wir dafür haben 24 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, herausgegeben von G. E. M. Anscombe, G. H. von Wright und R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), 152.

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können, dass ein bestimmter Stand der Dinge der Fall ist, nämlich zwischen Symptomen und Kriterien. Wo die Verbindung zwischen einer bestimmten Art von Beweis und der daraus gezogenen Schlussfolgerung eine Sache empirischer Entdeckung ist, mithilfe von Theorie und Induktion, kann man den Beweis als Symptom für den Stand der Dinge bezeichnen. Ist die Beziehung zwischen dem Beweismaterial und der Schlussfolgerung nicht etwas, was durch eine empirische Untersuchung entdeckt werden könnte, sondern etwas, das von jemandem verstanden werden muss, der über den Begriff des fraglichen Stands der Dinge verfügt, ist der Beweis kein bloßes Symptom, sondern ein Kriterium des fraglichen Ereignisses. Ein roter Abendhimmel mag ein Symptom für gutes Wetter am nächsten Morgen sein, doch ein wolkenloser Himmel und das Scheinen der Sonne etc. am nächsten Morgen sind keine Symptome, sondern Kriterien für gutes Wetter. In ähnlicher Weise ist Kratzen ein Kriterium für Jucken, und das Aufsagen eines Kinderreims ist ein Kriterium dafür, dass man ihn kennt – obwohl sich natürlich nicht jeder, den es juckt, auch kratzt und man den Reim jahrelang kennen kann, ohne ihn jemals aufzusagen. Mithilfe des Begriffs eines Kriteriums gelang es Wittgenstein, zwischen der Scylla des Dualismus und der Charybdis 25 des Behaviorismus hindurchzukommen. Er stimmte mit den Dualisten darin überein, dass bestimmte psychische Vorgänge ohne begleitendes körperliches Verhalten auftreten können; andererseits war er sich mit den Behavioristen darin einig, dass die Möglichkeit, Menschen geistige Handlungen zuzuschreiben, davon abhängt, dass sich solche Handlungen im Allgemeinen in ihrem Verhalten ausdrücken. Es ist ein Irrtum, das Geistige dem Verhalten gleichzusetzen: Es mit dem Gehirn gleichzusetzen hielt Wittgenstein für einen noch größeren Irrtum. Ein solcher Materialismus ist tatsächlich ein noch schlimmerer philosophischer Irrtum als der Behaviorismus, da die Verbindung zwischen dem Geist und dem Verhalten enger ist als diejenige zwischen Geist und Gehirn. Die Beziehung zwischen Geist und Verhalten beruht auf Kriterien, auf etwas, was der Erfahrung vorausliegt. Die Verbindung zwischen Geist und Gehirn ist hingegen eine kontingente Verbindung, die durch empirische Wissenschaft entdeckt werden kann. Jede Erforschung der Verbindung zwischen Geist und Gehirn muss als ihren Ausgangspunkt die alltäglichen Begriffe verwenden, die wir zur Beschreibung des Geistes benutzen, bei denen es sich um Begriffe handelt, die auf die Verhaltenskriterien aufgepfropft sind. Seltsamerweise haben die Entwicklungen in der Philosophie des Geistes seit Wittgenstein gezeigt, dass es möglich ist, die Irrtümer des Materialismus mit denen des Dualismus zu verbinden. Eines der am weitesten verbreiteten Missverständnisse der Natur des Geistes stellt sich die Beziehung des Geistes zum Körper so vor, wie das zwischen einer kleinen Person oder einem Homunkulus auf der einen Seite und einem Werkzeug oder Instrument oder einer Maschine auf der anderen. Wir lächeln, 25 Anm. d. Übers.: Scylla und Charybdis sind zwei Meeresungeheuer der griechischen Mythologie, die in der Straße von Messina gelebt haben sollen.

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Ein Mosaik in S. Marco in Venedig zeigt, wie Gott Adam eine Seele verleiht, wobei die Seele als geflügelter Homunkulus dargestellt ist.

wenn wir sehen, wie mittelalterliche Maler den Tod der Jungfrau Maria dadurch darstellen, dass sie zeigen, wie eine kleine Version der Jungfrau ihren Mund verlässt. Doch die prinzipiell gleiche Vorstellung findet man in den unwahrscheinlichsten Kontexten, einschließlich der Schriften von Forschern in den Kognitionswissenschaften. Als Descartes erstmals auf das Vorhandensein von Bildern auf der Retina einging, warnte er seine Leser davor, sich durch die Ähnlichkeit zwischen den Bildern und ihren Gegenständen zu der irrigen Annahme verleiten zu lassen, dass wir den Gegenstand dadurch sehen, dass wir in unserem Gehirn über ein zweites Paar Augen verfügen, um diese Bilder sehen zu können. Doch er selbst glaubte, das Sehen sei dadurch zu erklären, dass die Seele in der Zirbeldrüse auf ein Bild treffe. Dies war eine besonders augenfällige Version des sogenannten „Homunkulus-Fehlschlusses“ – des Versuchs, die menschliche Erfahrung und das menschliche Verhalten dadurch zu erklären, dass man einen kleinen Menschen innerhalb eines gewöhnlichen Menschen postuliert.

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Worin besteht der Irrtum des Homunkulus-Fehlschlusses? An sich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand von Bildern im Gehirn spricht, wenn damit Muster im Gehirn gemeint sind, die von einem Neurophysiologen beobachtet und Merkmalen der sichtbaren Umwelt zugeordnet werden können. Was irreführend ist, ist die Annahme, dass es sich bei diesen Zuordnungen um Darstellungen handelt, anzunehmen, dass sie für den Geist sichtbar sind, und zu behaupten, der Sehvorgang bestehe darin, dass der Geist diese Bilder wahrnehme. Irreführend hieran ist, dass eine solche Erklärung vorgibt, das Sehen verständlich zu machen, während die Erklärung jedoch die gleichen rätselhaften Eigenschaften in Anspruch nimmt, die sie hatte erklären sollen. Denn nur, wenn wir uns die Beziehung zwischen einem Geist und einem Bild in der Zirbeldrüse genauso vorstellen wie die Beziehung zwischen einem menschlichen Wesen und in der Umwelt gesehenen Bildern, werden wir überhaupt annehmen, dass die Rede davon, dass der Geist einem Bild begegnet, irgendeine erhellende Kraft hat. Doch was immer im Menschen nach einer Erklärung verlangt: In Form des kleinen Männchens taucht es grinsend und unerklärt wieder auf. In der Gegenwart, in der man sich angestrengt bemüht, eine neue kognitive Wissenschaft des Geistes aufzubauen, ist es das Gehirn, oder sind es Teile des Gehirns, dem bzw. denen die Rolle des Homunkulus zugewiesen wird. Man sagt uns vielleicht, dass unsere Gehirne Fragen stellen, Probleme lösen, Signale dekodieren und Hypothesen konstruieren. Wer Teilen eines Menschen menschliche Fähigkeiten zuschreibt, missachtet Wittgensteins Warnung, dass wir „nur vom lebenden Menschen, und was ihm ähnlich ist (sich ähnlich benimmt) sagen [können], es habe Empfindungen; es sähe; sei blind; höre; sei taub; sei bei Bewußtsein, oder bewußtlos“ (PI i. 281). 26 Doch dasselbe Argument war schon 2000 Jahre früher von Aristoteles vorgebracht worden, der geschrieben hatte: „Doch zu sagen, die Seele zürne, wäre das Gleiche, wie wenn man sagte, die Seele webe oder sie baue ein Haus. Denn statt zu sagen, die Seele empfinde Mitleid, lerne oder denke, wäre es wohl besser zu sagen, der Mensch tue dies mit der Seele“ (De Anima 408b 12–15). 27 Tatsächlich stand Wittgensteins Philosophie des Geistes Aristoteles näher als der zeitgenössischen materialistischen Psychologie. An einer Stelle ließ er die Möglichkeit zu, dass es geistige Handlungen gibt, die kein Korrelat im Gehirn haben: „Keine Annahme scheint mir natürlicher, als daß dem Assoziieren oder Denken kein Prozeß im Gehirn zugeordnet ist; so zwar, daß es also unmöglich wäre, aus Gehirnprozessen Denkprozesse abzulesen. […] Es ist also wohl möglich, daß gewisse psychologische Phänomene physiologisch nicht untersucht werden können, weil ihnen physiolo-

26 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, herausgegeben von G. E. M. Anscombe, G. H. von Wright und R. Rhees (Frankfurt: Suhrkamp, 1980), 152. 27 Zitiert nach: Aristoteles, Über die Seele, übersetzt und herausgegeben von G. Krapinger (Stuttgart: Reclam, 2011), 39 f.

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gisch nichts entspricht. […] Ich habe diesen Mann vor Jahren gesehen; nun sehe ich ihn wieder, erkenne ihn, erinnere mich seines Namens. Und warum muß es nun für dies Erinnern eine Ursache in meinem Nervensystem geben? Warum muß irgend etwas, was immer, in irgendeiner Form dort aufgespeichert worden sein? Warum muß er eine Spur hinterlassen haben? Warum soll es keine psychologische Gesetzmäßigkeit geben, der keine physiologische entspricht? Wenn das unsere Begriffe von der Kausalität umstößt, dann ist es Zeit, daß sie umgestoßen werden.“ (Z 608 ff.) 28

Dieser Frontalangriff auf die Idee, dass es eine physiologische Entsprechung für geistige Phänomene geben muss, sollte keineswegs der Verteidigung irgendeiner Art von Dualismus dienen. Die Entität, die assoziiert, denkt und sich erinnert, ist keine geistige Substanz, sondern ein körperliches menschliches Wesen. Doch scheint Wittgenstein hier die Möglichkeit ins Auge gefasst zu haben, dass es eine aristotelische Seele oder Entelechie gibt, die ohne materiellen Träger tätig ist – eine Form- und Zweckursache, der keine mechanistische Wirkursache entspricht.

28 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Zettel, herausgegeben von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright, in: Werkausgabe, Band VIII (Frankfurt: Suhrkamp, 1984), 416 f.

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Ethik

Das größte Glück der größten Zahl In den meisten Moralsystemen hat der Begriff des Glücks große Bedeutung. Eine lange Reihe von Moralphilosophen, die Platon und Aristoteles zu ihren Vorgängern zählen konnte, hatte das Glück als höchsten Wert behandelt, und einige Ethiker behaupteten sogar, dass Menschen in all ihren Entscheidungen ihr Glück verfolgen.1 Darin, dass er diesen Primat des Glücks anzweifelte, war Kant eine Ausnahme. In seiner Grundlegung hatte er erklärt, dass nicht das Glück, sondern die Pflicht das oberste ethische Motiv sei. Daher könnte es auf den ersten Blick so scheinen, als ob Bentham, indem er behauptete, dass jede Handlung nach der Tendenz bewertet werden sollte, mit der sie scheinbar zur Vermehrung oder Verringerung des Glückes beitrug, lediglich einen seit langer Zeit bestehenden Konsens neu bekräftigte. Doch bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich, dass Benthams größtes Glück der größten Zahl vom herkömmlichen Eudämonismus sehr verschieden ist. Erstens erklärt Bentham Glück und Lust für identisch: Lust ist das oberste Motiv der Handlung. Seine Einführung in die Prinzipien der Moral und Regierung beginnt mit den berühmten Worten: „Die Natur hat den Menschen unter die Herrschaft von zwei souveränen Herren gestellt: den Schmerz und die Lust. Sie allein können uns zeigen, was wir tun sollen, und festlegen, was wir tun werden. Einerseits ist der Maßstab des Richtigen und Falschen und andererseits die Kette der Ursachen und Wirkungen an ihrem Thron befestigt. Sie regieren uns in allem, was wir tun, in allem was wir sagen, in allem was wir denken: Jeder Versuch, den wir unternehmen können, unsere Joch abzuwerfen, wird nur dazu dienen, es zu veranschaulichen und zu bestätigen.“ (P 1. 1)

Das Glück zu maximieren ist daher für Bentham dasselbe wie die Maximierung der Lust. Die Utilitaristen könnten Platon als einen ihrer Ahnherren zitieren, da er in seinem Dialog Protagoras die These zur Diskussion gestellt hatte, dass die Tugend in der richtigen Wahl von Lust und Schmerz bestehe.2 Andererseits hatte Aristoteles zwischen Glück und Lust unterschieden und sich insbesondere geweigert, das Glück mit der durch die Sinne vermittelten Lust gleichzusetzen. Im Gegensatz dazu behan-

1 2

Vgl. Band I, 98; Band II, 275. Vgl. Band I, 274.

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delte Bentham das Glück nicht nur als der Lust gleichwertig, sondern hielt die Lust selbst für nichts anderes als eine Empfindung. „In dieser Sache suchen wir keine Läuterung, keine Metaphysik. Es ist nicht erforderlich, dass wir Platon oder Aristoteles konsultieren. Schmerz und Lust sind das, was jeder als solche empfindet.“ Bentham war darum bemüht, darauf hinzuweisen, dass Lust eine Empfindung ist, die nicht nur durch Essen, Trinken und sexuelle Betätigung verursacht werden kann, sondern auch durch eine Vielzahl so unterschiedlicher Dinge wie den Erwerb von Wohlstand, die Freundlichkeit zu Tieren oder den Glauben an die Gunst eines höchsten Wesens. Kritiker, die Benthams Hedonismus als einen Aufruf zur Sinnesfreude ansahen, befanden sich daher im Irrtum. Während von einem Denker wie Aristoteles die Lust mit freudiger Aktivität gleichgesetzt wurde, war für Bentham die Beziehung zwischen einer Aktivität und ihrer Lust eine Beziehung von Ursache und Wirkung. War für Aristoteles der Wert der Lust derselbe wie der Wert der Lust bringenden Aktivität, so war für Bentham der Wert jeder Lust identisch, unabhängig davon, wie sie zustande kam. Er schrieb: „Sofern der Umfang der daraus resultierenden Lust derselbe ist, ist Pushpin 3 so gut wie Poesie.“ Was für die Lust galt, galt auch für den Schmerz. Die Größe eines Schmerzes, nicht seine Ursache, ist der Maßstab für seinen Unwert. Daher ist die Bestimmung des Umfangs von Lust und Schmerz für den Utilitaristen von höchster Bedeutung: Bei der Entscheidung über eine Handlung oder einen Grundsatz müssen wir den Umfang der Lust und des Schmerzes abschätzen, der daraus resultiert. Bentham war sich darüber klar, dass solch eine Bestimmung keine leicht zu lösende Aufgabe ist, und er schlug verschiedene Regeln hierfür vor. Lust A ist wertvoller als Lust B, wenn sie intensiver ist, wenn sie länger empfunden wird oder wenn sie sich mit größerer Sicherheit einstellt oder unmittelbarer ist. Bei diesem „Glückskalkül“ (felicific calculus) müssen diese verschiedenen Faktoren berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. Bei der Beurteilung von Handlungen, die uns Lust bereiten, müssen wir außerdem ihre Fruchtbarkeit und Reinheit bedenken: Eine Lust bereitende Handlung ist fruchtbar, wenn es wahrscheinlich ist, dass aus ihr eine Reihe weiterer lustvoller Erfahrungen resultiert, und sie ist rein, wenn es unwahrscheinlich ist, dass sie zu einer Reihe sich daran anschließender Schmerzen führt. Alle diese Faktoren sind zu berücksichtigen, wenn wir den Kalkül auf unsere eigenen Angelegenheiten anwenden. Geht es um die Öffentlichkeit betreffende Fragen, müssen wir noch einen weiteren Faktor in unsere Überlegungen einbeziehen, den Bentham als „Ausweitung“ (extension) bezeichnet – d. h. die Frage, wie weit sich die Gefühle von Schmerz und Lust in der Bevölkerung verbreiten. Bentham ersann einen Merkreim, der bei der Durchführung dieses Kalküls helfen sollte:

3

Anm. d. Übers.: Zu Benthams Zeit beliebtes englisches Kinderspiel.

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„Intensiv, von langer Dauer, sicher, direkt, fruchtbar und rein – Dies sind die Merkmale von Lust und Schmerz, die dauern. Such’ im Privaten nach Lüsten solcher Art. Geht’s um die öffentliche Welt, lass sie sich breiten aus. Schmerz dieser Art vermeide, was immer du sonst für das Richtige hältst. Sind Schmerzen hinzunehmen, schränk’ sie auf wenige ein.“ (P 4. 2) 4

Wird der Glückskalkül dazu verwendet, Richtlinien für das öffentliche Leben festzulegen, ist die Ausweitung von Lust und Schmerz der ausschlaggebende Faktor. „Das größte Glück der größten Zahl“ ist ein beeindruckender Wahlspruch; nimmt man ihn jedoch unter die Lupe, erweist sich, dass er voller Doppeldeutigkeiten steckt. Die erste Frage, die gestellt werden muss, lautet: Wer wird bei der „größten Zahl“ mitgezählt? Sollten wir hinzufügen „der Wahlberechtigten“ oder „der Bürger“ oder „der Männer“ oder „der Menschen“ oder „der empfindungsfähigen Wesen“? Die Antwort auf diese Frage macht einen großen Unterschied. Während der 200 Jahre der Geschichte des Utilitarismus würden die meisten seiner Anhänger wahrscheinlich geantwortet haben: „der Menschen“. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch Bentham diese Antwort gegeben haben würde. Er trat zwar nicht für das Wahlrecht der Frau ein, doch tat er es nur deshalb nicht, weil er davon überzeugt war, dies würde zu einem Skandal führen. Grundsätzlich glaubte er, dass auf der Grundlage des Prinzips des größten Glücks „der Anspruch des weiblichen Geschlechts [auf das Wahlrecht], wenn nicht sogar noch größer, zumindest ebenso groß ist wie der des anderen“ (B ix. 108–9). In den letzten Jahren haben viele Utilitaristen das Prinzip des Glücks über die Grenzen der Menschheit auf alle empfindungsfähigen Wesen ausgedehnt und behauptet, dass Tiere die gleichen Rechte haben wie Menschen. Obwohl er sehr tierlieb war (besonders liebte er Katzen), ging Bentham selbst nicht so weit und würde die Idee, dass Tiere Rechte besitzen, verworfen haben, da er nicht an natürliche Rechte irgendwelcher Art glaubte. Indem er jedoch das höchste moralische Kriterium zu einer Sache der Empfindungen machte, war es zumindest eine angemessene Frage, ob Tiere zur selben moralischen Gemeinschaft gehören wie wir selbst, da sie wie der Mensch Lust und Schmerz empfinden. Auf längere Sicht erwies sich dies als eine der bedeutsamsten Konsequenzen von Benthams Bruch mit der klassischen und christlichen Moraltradition, die höchsten moralischen Wert nicht auf die Aktivitäten der Sinne, sondern auf die Vernunft legte. Die unvernünftigen Tiere standen für sie außerhalb der moralischen Gemeinschaft. Eine zweite Frage, die sich bezüglich des Prinzips der Nützlichkeit stellt, ist diese: 4

„Intense, long, certain, speedy, fruitful, pure – Such marks in pleasures and in pains endure. Such pleasures seek if private be thy end; If it be public, wide let them extend. Such pains avoid, whichever be thy view If pains must come, let them extend to few.“ (P 4. 2)

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Sollten Einzelpersonen oder Politiker bei der Befolgung des Prinzips des größten Glücks versuchen, die Zahl der Anwärter auf dieses Glück (wie immer sie definiert werden) zu beschränken? Bedeutet die Ausweitung des Glücks auf eine größere Zahl, dass wir versuchen sollten, mehr Menschen (oder Tiere) in die Welt zu bringen? Unsere Antwort auf diese Frage ist mit einer dritten, noch schwierigeren Frage verbunden: Wenn wir das Glück einer Bevölkerung messen, berücksichtigen wir dann nur vollkommenes Glück oder sollten wir auch durchschnittliches Glück einrechnen? Sollten wir die Verteilung des Glücks ebenso berücksichtigen wie seinen Umfang? Wenn wir diese Frage bejahen, müssen wir eine schwierige Balance zwischen dem Umfang des Glücks und der Anzahl der Menschen finden. Die Frage ist eher ein Problem für die politische Philosophie als für die Ethik. Doch selbst wenn wir unsere Betrachtungen auf Fragen der Moral von Einzelpersonen einschränken, bleibt ein Problem bestehen, das durch den aus der Einführung zitierten Text aufgeworfen wird. Der darin verkündete Hedonismus hat zwei Aspekte: Es gibt einen psychologischen Hedonismus (Luststreben bestimmt all unsere Handlungen) und einen ethischen Hedonismus (die Lust ist der Maßstab für das moralisch Richtige und Falsche). Doch die Lust, um die es im psychologischen Hedonismus geht, ist die Lust der einzelnen Person, während die Lust, die der ethische Hedonismus anführt, die (wie auch immer gemessene) Lust der gesamten moralischen Gemeinschaft ist. Wenn ich in Wirklichkeit in jeder meiner Handlungen dazu vorherbestimmt bin, meine eigene Lust zu maximieren: Welchen Sinn macht es dann überhaupt noch, mir zu sagen, dass ich verpflichtet bin, nach dem größten allgemeinen Gut zu streben? Hierbei handelte es sich um ein Problem, das einige von Benthams Nachfolgern in der utilitaristischen Tradition noch beschäftigen sollte. Bentham empfahl den Utilitarismus dadurch, dass er ihn mit anderen ethischen Systemen verglich. Das zweite Kapitel der Einführung trägt die Überschrift „Von den der Nützlichkeit entgegengesetzten Prinzipien“. Er führt zwei solcher Prinzipien an: Das erste ist das Prinzip der Askese und das zweite das Prinzip der Sympathie und Antipathie. Das Prinzip der Askese ist der genaue Gegensatz zum Prinzip der Nützlichkeit. Nach diesem Prinzip sind Handlungen in dem Maße lobenswert, in dem sie dazu tendieren, den Umfang des Glücks zu verringern. Andererseits beurteilt ein Mann, der das Prinzip der Sympathie und Antipathie akzeptiert, die moralische Qualität von Handlungen je nach dem Umfang, in dem sie mit seinen eigenen Gefühlen übereinstimmen (P 2. 2). Benthams Prinzip der Askese baut einen Strohmann auf. Religiöse Traditionen haben tatsächlich der Selbstverleugnung und der Abtötung des Fleisches einen hohen Wert beigemessen. Doch selbst unter religiösen Lehrern findet sich nur selten einer, der es zum übergeordneten Prinzip jeder Handlung erhebt, sich selbst Leiden zuzufügen. 5 Niemand, keine religiöse oder säkulare Person, hat jemals vorgeschlagen, das 5

Ein Beispiel ist Johannes vom Kreuz, doch selbst er betrachtet dies als ein Mittel, um letztlich einen Zustand höchsten Glücks zu erreichen (vgl. Band III, 258).

Das größte Glück der größten Zahl

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Prinzip des größten Elends der größten Zahl zu befolgen, und Bentham selbst gibt zu: „Das Prinzip der Askese wurde noch nie von einem lebenden Wesen konsequent befolgt, und kann auch nicht befolgt werden“ (P 2. 10). Das Prinzip der Sympathie und Antipathie ist ein Sammelbegriff, der Moralsysteme sehr unterschiedlicher Art enthält. Bentham erklärt, Sympathie und Antipathie könnten verschiedene hochtrabende Namen gegeben werden: moralischer Sinn, gemeiner Menschenverstand, Vernunft, Herrschaft des Rechts, Tauglichkeit der Dinge, Gesetze der Natur, Recht der Vernunft und so weiter. Bentham ist der Meinung, dass Moralsysteme, die sich unter solchen Bannern präsentieren, lediglich eine grandiose Leinwand vor einem Appell an die subjektiven Gefühle des Einzelnen aufstellen. „Sie bestehen allesamt aus nichts als Vorwänden, um der Notwendigkeit zu entgehen, sich auf einen externen Maßstab zu berufen und um den Leser dazu zu überreden, die Meinung oder Ansicht des Autors als einen Grund für sich gelten zu lassen“ (P 2. 14). Wir können uns nicht auf den Willen Gottes berufen, um die Frage zu beantworten, ob etwas moralisch richtig ist. Wir müssen erst wissen, ob es richtig ist, um zu wissen, ob es dem Willen Gottes entspricht. „Was das Wohlgefallen Gottes genannt wird, ist, und kann (wenn man von Offenbarung absieht) nichts anderes sein als das Wohlgefallen der Person, wer immer sie sein mag, die das, was sie glaubt – oder zu glauben vorgibt –, als etwas ausgibt, das Gott wohlgefällt.“ (P 2. 18) Der wirklich bedeutsame Unterschied zwischen dem Utilitarismus und anderen Moralsystemen wird von Bentham nicht hervorgehoben. Wir können die Moralphilosophen in Absolutisten und Konsequenzialisten unterteilen. Absolutisten glauben, dass es einige Arten von Handlungen gibt, die ihrem Wesen entsprechend moralisch verwerflich sind und niemals ausgeführt werden sollten, unabhängig von sämtlichen Abwägungen ihrer Konsequenzen. Konsequenzialisten glauben, dass die Moralität von Handlungen nach ihren Konsequenzen beurteilt werden sollte, und dass es keine Kategorie von Handlungen gibt, die – unter besonderen Umständen – durch ihre Konsequenzen gerechtfertigt werden könnten. Vor Bentham waren die meisten Philosophen Absolutisten, weil sie an ein Naturrecht oder an Naturrechte glaubten. Wenn es natürliche Rechte und ein Naturrecht gibt, dann sind einige Arten von Handlungen, Handlungen, die diese Rechte verletzen oder mit diesem Gesetz in Konflikt stehen, völlig unabhängig von ihren Konsequenzen, moralisch verwerflich. Bentham lehnte den Begriff des Naturrechts ab, und zwar mit der Begründung, dass keine zwei Personen sich darauf einigen könnten, was es sei. Er verhöhnte die Idee natürlicher Rechte und meinte, wirkliche Rechte könnten allein durch positive Gesetze gewährt werden. Seinen bittersten Spott richtete er gegen die Vorstellung, dass man sich über natürliche Rechte nicht hinwegsetzen könne. „Naturrechte sind einfach Unsinn: natürliche und unveräußerliche Rechte, rhetorischer Unsinn – Unsinn auf Stelzen“ (B ii. 501). Wenn es kein Naturrecht und keine natürlichen Rechte gibt, dann kann keine Klasse von Handlungen vor der Abwägung der Konsequenzen einer solchen Handlung in einem besonderen Fall ausgeschlossen und verworfen werden.

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9 Ethik

Der Unterschied zwischen Bentham und früheren Moralphilosophen ist höchst bedeutsam, wie sich leicht zeigen lässt. Aristoteles, Thomas von Aquin und fast alle christlichen Moralphilosophen glaubten, dass Ehebruch immer moralisch verwerflich ist. Bentham sah es anders: Die von einem bestimmten Ehebrecher vorausgesehenen Konsequenzen müssen mitberücksichtigt werden, bevor ein moralisches Urteil gefällt wird. Ein Anhänger des Naturrechts, dem gesagt wird, dass ein Herodes oder Nero 5000 unschuldige Bürger getötet hat, wird ohne jegliches Zögern sagen: „Das war eine niederträchtige Handlung.“ Ein extremer Konsequenzialist muss, bevor er ein solches Urteil fällt, weitere Fragen stellen. Was waren die Konsequenzen des Massakers? Was sah der Monarch voraus? Was wäre geschehen, wenn er die 5000 am Leben gelassen hätte?

Spielarten des Utilitarismus John Stuart Mill war, wie Bentham, Konsequenzialist. Doch in anderer Hinsicht milderte er einige Aspekte von Benthams Lehre, die man höchst anstößig gefunden hatte, ab. In seiner Abhandlung Utilitarismus, die er in den späten 1850er Jahren schrieb, gab er zu, viele Menschen glaubten, dass die Idee, das Leben habe kein höheres Ziel als die Lust, eine Lehre sei, die nur für Schweine gelten könne. Er antwortete hierauf, dass es töricht wäre zu bestreiten, dass Menschen über Fähigkeiten verfügen, die höher als diejenigen sind, die sie mit den Tieren gemeinsam haben. Dies erlaubt es uns, Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten des Vergnügens nicht nur hinsichtlich ihrer Quantität, sondern auch hinsichtlich ihrer Qualität vorzunehmen. „Die Anerkennung der Tatsache, dass einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere, ist mit dem Prinzip der Nützlichkeit durchaus vereinbar.“ (U 258) 6 Doch wie stufen wir die verschiedenen Arten des Vergnügens ein? „Von zwei Freuden“, sagt Mill, „ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide erfahren haben – ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen zu müssen –, entschieden bevorzugt wird.“ Mit dieser Unterscheidung ausgestattet, kann ein Utilitarist zu einem Schwein deutlich auf Distanz gehen. Nur wenige Menschen würden in ein niedrigeres Tier verwandelt werden wollen, selbst wenn ihnen tierische Vergnügen im Überfluss versprochen würden. Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedenes Schwein. Ebenso würde kein intelligenter, gebildeter Mensch ein dummer Ignorant werden wollen, wie viel Geld man ihm dafür auch immer bieten würde. Es ist „besser, ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr zu sein“ (U 260). 7

6 7

J. S. Mill, Der Utilitarismus, übersetzt und herausgegeben von D. Birnbacher (Stuttgart: Reclam, 2010), 27. Ebd., 33.

Spielarten des Utilitarismus

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Zum Glück gehört für Mill nicht nur Zufriedenheit, sondern auch ein Sinn für Würde. Ohne Würde würden die niedrigeren Vergnügen, wie umfangreich sie auch genossen würden, kein Glück ausmachen. Daher muss das Prinzip des größten Glücks neu formuliert werden: „Nach dem Prinzip des größten Glücks ist, wie oben erklärt, der letzte Zweck, bezüglich dessen und um dessentwillen alles andere wünschenswert ist (sei dies unser eigenes Wohl oder das Wohl anderer), ein Leben, das so weit wie möglich frei von Unlust und in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist; wobei der Maßstab, an dem Qualität gemessen und mit der Quantität verglichen wird, die Bevorzugung derer ist, die ihrem Erfahrungshorizont nach – einschließlich Selbsterfahrung und Selbstbeobachtung – über die besten Vergleichsmöglichkeiten verfügen.“ (U 262) 8

Nehmen wir also an, ein Kritiker gestehe Mill zu, dass der Utilitarismus nicht nur zu Schweinen passt. Dennoch könnte er darauf bestehen, dass er das Beste im Menschen nicht anspricht. Tugend ist wichtiger als Glück, und Entsagung und Selbstaufopferung sind die edelsten Handlungen des Menschen. Mill stimmt der Behauptung zu, dass es eine edle Fähigkeit ist, auf das eigene Glück um der anderen willen zu verzichten – doch würde der Held oder Märtyrer sein Opfer bringen, wenn er nicht glaubte, dass dadurch das Glück in der Welt vermehrt wird? Ein Mensch, der aus irgendeinem anderen Grund auf die Freuden des Lebens verzichtet, verdient unsere Bewunderung ebenso wenig wie der Asket auf seiner Säule. Die Einwände gegen den Utilitarismus sind von zweierlei Art. Man kann ihn als Moralkodex entweder für zu streng oder für nicht streng genug halten. Diejenigen, die beklagen, dass er eine zu strenge Moral lehrt, sagen Folgendes: Darauf zu bestehen, dass sie in jeder einzelnen Handlung nicht nur unser eigenes, sondern das Glück aller berücksichtigen sollten, verlangt einen Grad von Altruismus, der nur von Heiligen erreichbar ist. Ja, es verlangt sogar übermenschliche geistige Kräfte, zu entscheiden, welche der in einem bestimmten Moment möglichen Handlungen das größte Glück herbeiführen wird. Diejenigen, die den Utilitarismus für zu lax halten, behaupten, dass die Abschaffung des absoluten Verbots bestimmter Handlungen eine Hintertür öffnet, die es dem moralisch Handelnden, wann immer er will, erlaubt sich einzureden, dass eine ansonsten ungeheuerliche Tat in den besonderen Umständen, in denen er sich befindet, gerechtfertigt ist. Sie könnten Worte anführen, die Mill selbst, kurz nachdem sie sich begegnet waren, an Harriet Taylor schrieb: „Wo ein echter und starker Wunsch besteht, dasjenige zu tun, was dem Glück aller am meisten dient, sind allgemeine Regeln lediglich Hilfen für die Klugheit bei der Wahl der Mittel, keine unabweisbaren Pflichten. Lass nur die Wünsche richtig sein und die ‚Fan8

J. S. Mill, Der Utilitarismus, übersetzt und herausgegeben von D. Birnbacher (Stuttgart: Reclam, 2010), 37 f.

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tasie erhaben und veredelt‘, und vorausgesetzt aller falscher Schein wird verachtet, sind dem Reinen alle Dinge rein.“ 9

Im seiner Abhandlung Utilitarismus bietet Mill eine Verteidigung auf zwei Fronten. Gegen den Vorwurf der übermäßigen Strenge drängt er auf die Unterscheidung zwischen einem moralischen Maßstab und einem Handlungsmotiv: Obwohl der Utilitarismus das allgemeine Glück als letzten moralischen Maßstab aufstellt, verlangt er nicht, dass es das Ziel jeder einzelnen Handlung sein muss. Außerdem ist es nicht erforderlich, bei jeder Handlung den vollständigen Glückskalkül durchzugehen: Es sei absurd so zu reden, „als müsste sich einer in dem Augenblick zum ersten Mal die Frage stellen, ob Mord und Diebstahl dem menschlichen Glück abträglich sind, in dem er sich versucht fühlt, einem anderen an Eigentum und Leben zu gehen“. (U 275) 10 Denjenigen, die dem Utilitarismus vorwerfen, er sei zu lax, antwortet er mit einem tu quoque11-Argument: Alle Moralsysteme müssen konkurrierenden Pflichten Raum geben, und der Utilitarismus ist nicht die einzige Lehre, „die uns Entschuldigungsgründe für unser Unrechttun liefert und uns die Mittel verschafft, unser eigenes Gewissen zu betrügen“ (U 277). 12 Der Vorwurf gegen den Utilitarismus, den Mill selbst am ernstesten nimmt, ist der Vorwurf, er sei eine Lehre, nach der die Zweckdienlichkeit der Gerechtigkeit vorgezogen werden könnte. Mill antwortete hierauf, dass die Vorschriften der Gerechtigkeit in Wirklichkeit selbst einen Teil des Bereichs der allgemeinen Zweckdienlichkeit ausmachen, dass es aber dennoch einen Unterschied gibt zwischen dem, was zweckdienlich, was moralisch und was gerecht ist. Wenn etwas zweckdienlich ist (in dem Sinne, dass es zum allgemeinen Glück beiträgt), dann sollte es – nach utilitaristischen Prinzipien – getan werden. Doch um Fragen der Pflicht muss es hierbei nicht gehen. Wenn etwas nicht nur zweckdienlich, sondern auch moralisch ist, stellt sich die Frage der Pflicht, und es gehört zum Begriff der Pflicht, dass eine Person zu Recht gezwungen werden kann, sie zu erfüllen. Allerdings führen nicht alle Pflichten zu entsprechenden Rechten anderer Personen, und es ist dieses zusätzliche Element, was den Unterschied zwischen der Moral im Allgemeinen und der Gerechtigkeit im Besonderen ausmacht: Gerechtigkeit impliziert etwas, das zu tun nicht nur richtig ist, und das nicht zu tun falsch ist, sondern das eine einzelne Person von uns als ihr moralisches Recht einfordern kann (U 301). Es ist Mill wichtig, die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und moralischen Rechten herauszustellen, denn er betont, dass es legale Rechte geben kann, die ungerecht sind, und gerechte Forderungen, die mit dem Gesetz in Konflikt stehen. 9 F. A. Hayek, John Stuart Mill and Harriet Taylor (London: Routledge, 1957), 59. 10 J. S. Mill, Der Utilitarismus, übersetzt und herausgegeben von D. Birnbacher (Stuttgart: Reclam, 2010), 71. 11 Anm. d. Übers.: lat. für „du auch“. 12 J. S. Mill, Der Utilitarismus, übersetzt und herausgegeben von D. Birnbacher (Stuttgart: Reclam, 2010), 75.

Schopenhauer über Entsagung

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Mill erläutert, wie verschiedene mit der Gerechtigkeit verbundene Begriffe – Verdienst, Unparteilichkeit, Gleichheit – mit dem utilitaristischen Prinzip der Zweckdienlichkeit in Einklang gebracht werden können. Bezüglich der Gleichheit zitiert er eine Maxime von Bentham: „jeder zählt als einer, niemand als mehr als einer“ – das Glück jeder Person gilt genauso viel wie das jeder anderen. Doch er geht nicht wirklich auf das Problem ein, das dem Prinzip des größten Glückes inhärent ist: dass es nach diesem Prinzip vertretbar ist, das Elend eines Einzelnen unberücksichtigt zu lassen, um das Gesamtglück der Gemeinschaft zu erhöhen. In seinem Utilitarismus hat Mill über Verteilungsgerechtigkeit wenig zu sagen. Er bemerkt lediglich, dass die verfügbaren Formen je nach System verschieden sind: „Manche Kommunisten halten es für ungerecht, den Arbeitsertrag der Gemeinschaft nach einem anderen Prinzip als dem der völligen Gleichheit zu verteilen. Andere finden es gerecht, dass die das meiste bekommen, deren Bedürfnisse am größten sind, während wiederum andere meinen, dass die Fleißigeren oder die, die mehr produzieren oder deren Leistungen für die Gemeinschaft wertvoller sind, bei der Aufteilung des Ertrages mit Recht einen größeren Anteil beanspruchen dürfen. Und jede dieser Auffassungen wird sich mit einiger Plausibilität auf das natürliche Gerechtigkeitsempfinden berufen können.“ (U 301) 13

Schopenhauer über Entsagung Schopenhauers Ethik ist eng mit seiner Metaphysik verbunden, insbesondere mit seinen Thesen, dass die Welt der Erfahrung eine Welt der Täuschung und die wahre Realität, das Ding an sich, der hinter allem stehende Wille ist. Wir sehen, wie Individuen aus dem Nichts entstehen, ihr Leben als Geschenk empfangen, im Tod den Verlust dieses Geschenks erleiden und wieder zum Nichts zurückkehren. Betrachten wir das Leben jedoch philosophisch, erkennen wir, dass der Wille, das Ding an sich in allen Phänomenen, von Geburt und Tod nicht betroffen wird. „Denn nicht [das Individuum], sondern die Gattung allein ist es, woran der Natur gelegen ist, und auf deren Erhaltung sie mit allem Ernst dringt und für dieselbe hinlänglich sorgt durch die ungeheure Überzahl der Keime und die große Macht des Befruchtungstriebes. Hingegen hat das Individuum für sie keinen Wert und kann ihn nicht haben, da unendliche Zeit, unendlicher Raum und in diesen unendliche Zahl möglicher Individuen ihr Reich sind: daher ist sie stets bereit, das Individuum fallen zu lassen, welches demnach nicht nur auf tausendfache Weise, durch die unbedeutendsten Zufälle dem Un-

13 J. S. Mill, Der Utilitarismus, übersetzt und herausgegeben von D. Birnbacher (Stuttgart: Reclam, 2010), 139.

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tergang ausgesetzt, sondern ihm schon ursprünglich bestimmt ist und ihm von der Natur selbst entgegengeführt wird, von dem Augenblick an, wo es der Erhaltung der Gattung gedient hat.“ (WWI 276) 14

Wir sollten durch den Gedanken, dass im Tode unsere Individualität durch andere Individuen ersetzt wird, ebenso wenig beunruhigt werden, wie dadurch, dass das Leben im Wesentlichen aus dem beständigen Wechsel von Aufnahme und Ausscheidung von Nahrung besteht. Der Tod ist lediglich ein Schlaf, in dem das Individuum vergessen wird. Dass ein Individuum von einem anderen verschieden ist, gilt nur in der Erscheinungswelt. „[A]ls Ding an sich ist er der Wille, der in Allem erscheint, und der Tod hebt die Täuschung auf, die sein Bewußtsein von dem der Übrigen trennt: dies ist die Fortdauer.“ (WWI 282) 15 Moralität ist eine Frage der Bildung des Charakters, doch worin diese besteht, kann Schopenhauer zufolge nur verstanden werden, wenn wir die kantische Versöhnung zwischen Freiheit und Notwendigkeit akzeptieren. Der Wille, der das Ding an sich ist, ist in alle Ewigkeit frei; doch alles andere in der Natur, einschließlich der Natur des Menschen, wird von Notwendigkeit bestimmt. Ebenso wie die unbelebte Natur sich ihren Kräften und Gesetzen gemäß verhält, verfügt jeder Mensch über einen Charakter, aus dem bei verschiedenen Motiven seine Handlungen mit Notwendigkeit erfolgen. Wären wir im Besitz einer umfassenden Kenntnis des Charakters einer Person und der Motive, die auf sie wirken, könnten wir ihr künftiges Verhalten ebenso sicher vorausberechnen wie eine Sonnen- oder Mondfinsternis. Wir glauben, dass wir frei sind, uns zwischen Alternativen zu entscheiden, da wir vor unserer Entscheidung nicht wissen, wie sich der Wille entscheiden wird; doch der Glaube an die Freiheit der Indifferenz ist eine Illusion. Wenn unser gesamtes moralisches Verhalten durch unseren Charakter festgelegt ist, könnte der Versuch, sich selbst moralisch zu bessern, als vergebliche Mühe erscheinen. Wäre es nicht besser, einfach jeder Neigung, die uns erfasst, nachzugeben? Indem Schopenhauer dies verneint, trifft er eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Charakteren. Da gibt es zum einen den von ihm als intelligibel bezeichneten Charakter, der außerhalb der Zeit liegt. Hierbei handelt es sich um die reale Wesenheit, die bestimmt, wie wir auf die verschiedenen Situationen, denen wir in der Welt begegnen, jeweils reagieren. Außerdem gibt es einen empirischen Charakter. Er besteht aus dem, was wir selbst und andere im Laufe unseres Lebens über das Wesen unseres eigenen intelligiblen Charakters in Erfahrung bringen. Und schließlich gibt es noch einen erworbenen Charakter, der von denjenigen erlangt wird, die über das Wesen und die Grenzen ihres eigenen individuellen Charakters belehrt worden sind. Hierbei handelt es sich um Personen von Charakter im besten 14 Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 363. 15 Ebd., 371.

Schopenhauer über Entsagung

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Eine Fotografie Schopenhauers aus der Zeit um 1850.

Sinn: um Menschen, die ihre eigenen Stärken und Schwächen anerkennen und ihre Pläne und Ambitionen daran anpassen. Unser Wille kann sich niemals ändern, doch man kann sich des Willens in unterschiedlichem Maße bewusst sein. Im Gegensatz zu den Tieren verfügt der Mensch über abstraktes und vernünftiges Wissen. Dies befreit ihn nicht von der Lenkung durch konkurrierende Motive, doch es führt dazu, dass er sich des Konflikts zwischen den Motiven bewusst ist, und es ist dies, was die Freiheit der Entscheidung ausmacht. Reue ist zum Beispiel niemals das Ergebnis einer Änderung des Willens, welche unmöglich ist, sondern einer Änderung des Wissens, einer tieferen Selbsterkenntnis. „Kenntnis seiner eigenen Gesinnung und seiner Fähigkeiten jeder Art und ihrer un-

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abänderlichen Grenzen ist in dieser Hinsicht der sicherste Weg, um zur möglichsten Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen.“ (WWI 306) Selbst die besten Menschen haben Schopenhauer zufolge wenig Hoffnung auf ein zufriedenes Leben. Wir alle sind Kreaturen des Willens, und der Wille ist seinem Wesen nach unersättlich. Die Grundlage jeglichen Wollens ist Mangel und Schmerz, und wir leiden, bis unsere Bedürfnisse befriedigt sind. Doch wenn es dem Willen, ist er einmal befriedigt, an Gegenständen des Verlangens fehlt, wird das Leben zu einer langweiligen Last. „Denn zwischen Schmerz und Langeweile wird jedes Menschenleben hin und her geworfen.“ (WWI 312) Gehen ist lediglich ein beständig aufgefangenes Fallen, das Leben unseres Körpers ist lediglich ein ständig aufgeschobener Tod, das Leben unseres Geistes ist ständig abgewehrte Langeweile. Das Bedürfnis nach Nahrung ist die Geißel der arbeitenden Klasse, das stete Verlagen nach Zeitvertreib die Plage der feinen Gesellschaft. Alles Glück ist in Wirklichkeit und seinem Wesen nach negativ, niemals positiv. Der einzige Weg der Tyrannei des Willens zu entkommen besteht in der völligen Entsagung. Was der Wille will, ist immer das Leben. Wollen wir daher dem Willen entsagen, müssen wir dem Willen zum Leben entsagen. Dies klingt wie eine Empfehlung zum Selbstmord, doch tatsächlich verurteilt Schopenhauer den Selbstmord als einen falschen Fluchtweg aus dem Elend der Welt. Selbstmord kann nur durch eine Überschätzung des individuellen Lebens motiviert sein: Sein Beweggrund ist ein verborgener Wille zum Leben. Entsagung ist eine Aufgabe des Selbst, und moralischer Fortschritt besteht in der Verringerung des Egoismus, d. h. der Tendenz des Individuums, sich selbst zum Mittelpunkt der Welt zu machen und seiner eigenen Existenz und seinem Wohlergehen alles andere zu opfern. Alle schlechten Menschen sind Egoisten: Sie behaupten ihren eigenen Willen zum Leben und leugnen die Gegenwart dieses Willens in den anderen. Sie beeinträchtigen, ja zerstören vielleicht sogar das Leben der anderen, wenn sie sich ihnen in den Weg stellen. Es gibt Menschen, die nicht nur schlecht, sondern boshaft sind. Sie gehen über den Egoismus hinaus und erfreuen sich am Leiden der anderen nicht nur als Mittel zu ihren eigenen Zwecken, sondern als einem Zweck an sich selbst. Als Beispiele für ein solches Maß von Grausamkeit nennt Schopenhauer Nero und Robespierre. Ein schlechter Mensch der durchschnittlichen Art behält jedoch, obwohl er seine eigene Person durch eine tiefe Schlucht von anderen getrennt sieht, ein schwaches Bewusstsein davon, dass sein eigener Wille nicht mehr ist als die Erscheinung des einen Willens zum Leben, der sich in allen regt. Er nimmt auf dunkle Weise wahr, dass er selbst dieser ganze Wille ist, und daher ist er nicht nur jemand, der Schmerzen zufügt, sondern auch jemand, der sie erleidet und nur durch den illusionären Traum von Raum und Zeit von diesen Schmerzen getrennt ist. Dieses Bewusstsein drückt sich in Reue aus. Reue ist im schlechten Menschen das Gegenstück der Resignation, die das Kennzeichen des guten Menschen ist. Zwischen dem schlechten und dem guten Menschen gibt es einen Charakter in der

Schopenhauer über Entsagung

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Mitte zwischen ihnen: den gerechten Menschen. Im Gegensatz zum schlechten Menschen sieht der gerechte Mensch die Individualität nicht als eine absolute Trennwand zwischen sich und den anderen. Andere Menschen sind für ihn nicht nur bloße Masken, deren Wesen von seinem eigenen sehr verschieden ist. Er ist bereit anzuerkennen, dass der Wille zum Leben in anderen auf derselben Stufe erscheint, die er in ihm erreicht hat, mit dem Ergebnis, dass er seinen Mitmenschen keinen Schaden zufügt. In einem wahrhaft guten Menschen ist die Barriere der Individualität wesentlich durchlässiger geworden, und das Prinzip der Individuation stellt keine absolute Trennwand mehr dar. Der gute Mensch erkennt, dass der Unterschied zwischen sich selbst und den anderen, der für den schlechten Menschen so ein breiter Graben ist, nur einem flüchtigen und illusionären Erscheinungsbild angehört. „Er ist […] so wenig im Stande andre darben zu lassen, während er selbst Überflüssiges und Entbehrliches hat, wie irgend jemand einen Tag Hunger leiden wird, um am folgenden mehr zu haben als er genießen kann.“ (WWI 373) Doch Gutes tun und Wohlwollen sind nicht der höchste moralische Zustand und der gute Mensch wird bald darüber hinausgehoben. „Wenn […] [er] nicht mehr den egoistischen Unterschied zwischen seiner Person und der fremden macht, sondern an den Leiden der anderen Individuen ebenso viel Anteil nimmt, wie an seinen eigenen, und dadurch nicht nur im höchsten Grade hilfreich ist, sondern sogar bereit, sein eigenes Individuum zu opfern, sobald mehrere fremde dadurch zu retten sind; dann folgt von selbst, daß ein solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein innerstes und wahres Selbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muß.“ (WWI 379) 16

Dies führt ihn über die Tugend hinaus zur Askese. Es wird nicht mehr genug sein, die anderen wie sich selbst zu lieben: Angesichts der gesamten Natur, deren Ausdruck auch seine eigene phänomenale Existenz ist, wird ihn ein Entsetzen ergreifen. Er wird dem Willen zum Leben, der der Kern dieser ganzen elenden Welt ist, endgültig entsagen. Er wird alles tun, um das Wesen der Welt, wie es in seinem eigenen Körper zum Ausdruck kommt, zu verleugnen: Er wird ein vollkommen keusches Leben führen, freiwillig in Armut leben, fasten und sich selbst züchtigen. Der moralisch ideale Mensch Schopenhauers übernimmt tatsächlich das von Bentham verworfene asketische Prinzip: Er zwingt sich, auf alles zu verzichten, was er gerne tun möchte, und alles zu tun, was er nicht tun möchte, selbst wenn dies keinem anderen Zweck dient, als seinen Willen zum Absterben zu bringen (WWI 382). Eine solche Askese ist kein leeres Ideal. Sie kann durch Leiden gelernt werden und ist von vielen christlichen und von noch mehr hinduistischen und buddhistischen Heiligen praktiziert worden. 16 Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 488.

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Es trifft zu, dass das Leben vieler Heiliger voll von höchst absurdem Aberglauben war. Schopenhauer war der Überzeugung, dass religiöse Systeme die mythische Verkleidung von Wahrheiten sind, die die ungebildete Menge in ihrer nackten Form nicht erfassen kann. Doch er meinte, dass es ebenso wenig nötig sei, dass ein Heiliger ein Philosoph, als dass ein Philosoph ein Heiliger sei (WWI 383). Durch die Kraft seiner Prosa und den Zauber seiner Metaphern macht Schopenhauers ethisches System einen grandiosen Eindruck. Doch es beruht auf einer falschen Metaphysik und führt zu einer selbstlähmenden Schlussfolgerung. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass die Welt nichts als eine illusionäre Vorstellung ist, oder zu akzeptieren, dass ein unersättlicher Wille die letzte Wirklichkeit ist. Ausgehend vom Wechsel von Verlangen und Befriedigung entschied Schopenhauer, das Leben sei eine Geschichte von Leiden und Langeweile. Aus derselben Prämisse hätte er mit gleichem Recht den Schluss ziehen können, dass das Leben eine Geschichte von Begeisterung und Zufriedenheit ist. Um die Welt als Wille von der Welt als Vorstellung zu unterscheiden und das Ding an sich zu erreichen, muss er jeden von uns überreden, dass unsere eigene Individualität die grundlegende Wirklichkeit ist, und um uns zu überreden, über den Pfad der Tugend zur Askese aufzusteigen, muss er uns dazu bringen zu akzeptieren, dass unsere Individualität nichts als eine Illusion ist. Außer einem Vorurteil zugunsten des Pessimismus liefert uns Schopenhauer keinen überzeugenden Grund, warum wir das asketische Programm übernehmen sollten, mit dem seine Philosophie endet. Gewiss: Je philanthropischer eine Person ist, umso mehr wird sie sich mit dem Leben anderer identifizieren. Doch warum sollte sie sich nur mit ihrem Leiden identifizieren und nicht ebenso mit ihrer Freude? Der heilige Franz von Assisi kasteite sich so streng wie irgendein indischer Mystiker. Und doch betete er, er möge dort, wo Verzweiflung, Dunkelheit und Traurigkeit herrschen, Hoffnung, Licht und Freude bringen. Die vollständige Verneinung des Willens, zu der Schopenhauer aufruft, scheint einen Selbstwiderspruch darzustellen, denn wenn die Verneinung freiwillig geschieht, ist sie selbst ein Akt des Willens, und wenn sie mit Notwendigkeit geschieht, dann ist sie keine wirkliche Verneinung des Willens. Schopenhauer versucht, diesem Widerspruch zu entkommen, indem er sich auf die kantische Unterscheidung zwischen einem Phänomen, das notwendig ist, und einem Ding an sich, das frei ist, beruft. Doch der Wille, der frei ist, befindet sich außerhalb der Zeit, während die Geschichte jedes sich selbst verleugnenden Heiligen zur Welt der Phänomene gehört. Ein und derselbe Akt der Selbstverleugnung kann nicht zugleich innerhalb und außerhalb der Zeit liegen.

Der moralische Aufstieg bei Kierkegaard Kierkegaards Moralsystem gleicht demjenigen Schopenhauers in mehrfacher Hinsicht. Beide Philosophen haben eine zutiefst pessimistische Sicht vom ethischen Zustand des Durchschnittsmenschen und beide Philosophen halten uns einen spirituel-

Der moralische Aufstieg bei Kierkegaard

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len Weg vor, der zur Entsagung führt. Doch während Schopenhauers System auf einer atheistischen Metaphysik errichtet war, entwickelt sich das System Kierkegaards vor dem Hintergrund des protestantischen Christentums. Für ihn ist die Entsagung, die den Höhepunkt des ethischen Lebens darstellt, nur eine Vorstufe für den letztendlichen Sprung in den Glauben. Während Schopenhauers Weg der Erlösung dazu bestimmt ist, zur Auslöschung der Individualität zu führen, besteht das Ziel Kierkegaards darin, dem Einzelnen den Vollbesitz seiner eigenen Person als eines einmaligen Geschöpfs Gottes zu ermöglichen. Das letzte Stadium von Kierkegaards spiritueller Reise werden wir in Kapitel 12 betrachten. Im vorliegenden Kapitel wird uns das Vorstadium interessieren – das ethische Stadium, das zwischen dem ästhetischen und dem religiösen Stadium liegt. Kierkegaards ästhetischer Mensch wird von seinen Gefühlen beherrscht und ist geistlichen Werten gegenüber blind. Doch wir dürfen ihn uns nicht als sinnlichen Grobian, spießigen Vielfraß oder sexuell perversen Menschen vorstellen. Wie er als einer der beiden Protagonisten in Entweder/Oder dargestellt ist, handelt es sich um eine kultivierte, gesetzestreue Person, die in der Gesellschaft beliebt und nicht ohne Rücksicht auf andere ist. Was ihn von einem ernsthaft moralisch Handelnden unterscheidet, ist dies: dass er es vermeidet, sich in irgendwelche verbindlichen Beziehungen zu begeben, die seine Fähigkeit, dasjenige zu tun, was ihm gerade attraktiv erscheint, einschränken würde. Um seine Freiheit der Wahl zu bewahren, weigert er sich, irgendwelche öffentlichen oder privaten Ämter zu übernehmen. Er vermeidet tiefe Freundschaften, vor allem die Ehe. Kierkegaard behauptet, dass sich die ästhetische Person täuscht, wenn sie glaubt, ihre Existenz sei ein Leben der Freiheit. In Wahrheit ist sie höchst eingeschränkt. „Wenn man sich ein Haus denken wollte, bestehend aus Keller, Erdgeschoß und erstem Stock, so bewohnt oder eingerichtet, daß es auf einen Standesunterschied zwischen den Bewohnern jeder Etage berechnet wäre – und dann das Menschsein mit einem solchen Haus verglichen würde: so ist leider bei den meisten Menschen dies Traurige und Lächerliche der Fall, daß sie es vorziehen, in ihrem eigenen Haus im Keller zu wohnen. Jeder Mensch ist die seelisch-leibliche Synthese, die darauf angelegt ist, Geist zu sein, dies ist das Gebäude; aber er zieht es vor, im Keller zu wohnen, das ist, in den Bestimmungen der Sinnlichkeit. Und er zieht es nicht bloß vor, im Keller zu wohnen, nein, er liebt dies in dem Grade, daß er verbittert würde, wenn jemand ihm vorschlagen wollte, die Beletage 17 zu beziehen, die frei zu seiner Verfügung steht –, denn es ist ja sein eigenes Haus, in dem er wohnt.“ (SD 176) 18

17 Anm. d. Übers.: Früher üblicher Ausdruck für das erste Stockwerk eines mehrstöckigen Hauses. Die Beletage (aus dem Französischen: bel étage = „schönes Geschoss“) galt als bevorzugte Wohnung eines bürgerlichen Wohnhauses. 18 Zitiert nach: S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, übersetzt und herausgegeben von L. Richter (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2002), 41 f.

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Solch eine Person, sagte Kierkegaard, befindet sich in einem Zustand der Verzweiflung. „Verzweiflung“, wie dieses Wort in der Krankheit zum Tode und in anderen Werken verwendet wird, bedeutet keinen Zustand der Trübsal und Niedergeschlagenheit. Die ästhetische Person kann sogar glauben, dass sie glücklich ist. Eine im Sinne Kierkegaards verzweifelte Person ist eine Person ohne Hoffnung auf etwas Höheres als ihr gegenwärtiges Leben. Verzweifelt zu sein heißt, dass einem das Bewusstsein für die Möglichkeit fehlt, ein höheres, geistliches Selbst zu erreichen. So verstanden ist Verzweiflung kein seltenes, sondern ein nahezu universales Phänomen. Die meisten Menschen, um es in Kierkegaards ausdrucksstarken Worten zu sagen, „verschreiben sich der Welt“. „Sie gebrauchen ihre Fähigkeiten, sammeln Geld, treiben weltliche Geschäfte, berechnen klug usw. usw., werden vielleicht in der Weltgeschichte genannt, aber sie sind nicht sie selbst, sie haben, geistig verstanden, kein Selbst, um dessentwillen sie alles wagen könnten.“ (SD 168) 19 Der erste Schritt in Richtung auf eine Heilung besteht in der Erkenntnis, dass man verzweifelt ist. In den verborgenen Untiefen des Glücks der ästhetischen Person lebt bereits ein heimliches Grauen. Nach und nach kommt sie vielleicht zu der Erkenntnis, dass ihre Zerstreuung eine Zerstreuung ihres Selbst ist. Sie steht dann vor der Wahl, sich entweder der Verzweiflung zu überlassen, oder daraus aufzusteigen, indem sie sich zu einer ethischen Existenz verpflichtet. Das Wesen einer solchen Existenz und die Notwendigkeiten, sie zu übernehmen, ist am umfassendsten in der Korrespondenz des Richters Vilhelm beschrieben, des fiktiven Autors des zweiten Teils von Entweder/Oder. Vilhelm ist selbst ein vollwertiges Mitglied der ethischen Gesellschaft: Er ist glücklich verheiratet, Vater von vier Kindern und Richter an einem Zivilgericht. Unglücklicherweise verfügt er, sehr zulasten des Lesers, außerdem noch über einen schwerfälligen Schreibstil voller Wiederholungen, ganz im Gegensatz zum geistreichen und rührseligen Stil, den Kierkegaard dem ästhetischen Autor des ersten Teils von Entweder/Oder verlieh, der nunmehr der Empfänger dieser erbaulichen Briefe ist. Vilhelm beschreibt den Gegensatz zwischen dem ästhetischen und dem ethischen Charakter auf äußerst ausführliche Weise und fasst ihn folgendermaßen zusammen: „Jede ästhetische Lebensanschauung – wurde gesagt – ist Verzweiflung; das kam daher, weil sie sich auf das gründete, was existieren und nicht existieren kann. Dies ist bei der ethischen Lebensanschauung nicht der Fall; denn sie gründet das Leben auf dasjenige, was ihm wesentlich angehört. Das Ästhetische – sagte ich – ist im Menschen das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische aber das, wodurch ein Mensch wird, was er wird.“ (E/O 525) 20

19 Zitiert nach: S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, übersetzt und herausgegeben von L. Richter (Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2002), 33. 20 Zitiert nach: S. Kierkegaard, Entweder/Oder, übersetzt von A. Michelsen und O. Gleiß (Leipzig: Verlag von Fr. Richter, 1885), 518.

Der moralische Aufstieg bei Kierkegaard

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Kierkegaard misst dem Begriff des Selbst große Bedeutung bei. Menschen wünschen sich oft, sie hätten die Talente oder Tugenden anderer; doch sie wünschen sich niemals ernsthaft, eine andere Person zu sein, ein anderes Selbst als das eigene zu haben (E/O 517). Im ästhetischen Stadium ist das Selbst unentwickelt und undifferenziert, ein Sumpf unrealisierter und miteinander in Konflikt stehender Möglichkeiten: Das Leben ist eine hysterische Folge von Experimenten ohne Ergebnis. Der Ästhet befindet sich in einem Zustand permanenter Schwangerschaft: ständig in den Wehen, doch niemals fähig, ein Selbst zu gebären. In das ethische Stadium einzutreten, bedeutet, die Gestaltung des eigenen wahren Selbst auf sich zu nehmen, wobei „Selbst“ so viel bedeutet wie ein frei gewählter Charakter. Statt lediglich die eigenen Talente zu entwickeln, folgt man einer Berufung. Das ethische Leben ist ein Leben der Pflicht; allerdings einer Pflicht, die nicht von außen aufgezwungen ist, sondern von innen her verwirklicht. Zur vollen Entwicklung des Einzelnen gehört die Internalisierung des allgemeinen Gesetzes. „Erst wenn das Individuum selber das Allgemeine ist, erst dann läßt sich das Ethische realisieren. Und es ist das Geheimnis, das im Gewissen liegt, das Geheimnis, welches das individuelle Leben in sich selber trägt, daß es zugleich ein individuelles Leben und doch das allgemeine ist […]. Wer das Leben ethisch betrachtet, sieht das Allgemeine, und wer ethisch lebt, drückt in seinem Leben das Allgemeine aus, macht sich zu dem allgemeinen Menschen, nicht dadurch, daß er seine Konkretion ablegt, denn dann würde er zu einem absoluten Nichts, sondern dadurch, daß er dieselbe anlegt und sie mit dem Allgemeinen durchdringt.“ (E/O 547) 21

In den Grammatiklehrbüchern von Fremdsprachen wird ein bestimmtes Wort ausgewählt, das als Musterbeispiel für die Deklination der Nomen bzw. für die Konfiguration der Verben dient. Die ausgewählten Wörter haben keine besondere Priorität vor irgendeinem anderen Nomen oder Verb, doch sie lehren uns etwas über jedes Nomen und jedes Verb. Auf ähnliche Weise, sagt Vilhelm, kann jeder Mensch, „wenn er will, ein paradigmatischer Mensch werden, nicht dadurch, daß er seine Zufälligkeit abstreift, sondern dadurch, daß er in ihr bleibt und sie veredelt. Aber er veredelt sie dadurch, daß er sie wählt.“ (E/O 552) Das Schema, das er zur Befolgung vorlegt, führt über den Erwerb persönlicher Tugenden über die bürgerlichen Tugenden schließlich zu den religiösen Tugenden. Der Mensch, den Kierkegaard am häufigsten als Paradigma einer ethischen Person anführt, ist Sokrates. Sein Leben veranschaulicht die Tatsache, dass das ethische Stadium an den Einzelnen hohe Ansprüche stellen und zum heldenhaften Selbstopfer auffordern kann. Der Richter Vilhelm bietet uns nicht Kierkegaards letztes Wort über die Moral, da in seinem System das Ethische nicht die höchste Kategorie ist. Beruf und Ehe sind die 21 Zitiert nach: S. Kierkegaard, Entweder/Oder, übersetzt von A. Michelsen und O. Gleiß (Leipzig: Verlag von Fr. Richter, 1885), 550.

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beiden Merkmale des ethischen Lebens. Kierkegaard selbst übernahm nie eine Anstellung und heiratete nicht. Aufgrund seiner eigenen und der Geschichte seiner Familie hielt er sich für unfähig, alle Geheimnisse zu teilen, was er in einer guten Ehe für unerlässlich hielt. Er sagt uns, dass der Einzelne, wenn er mit den Forderungen, die das ethische Leben an ihn stellt, konfrontiert wird, sich seiner eigenen menschlichen Schwäche lebhaft bewusst wird. Er kann versuchen, sie mit Willenskraft zu überwinden, wird dabei jedoch feststellen, dass er dazu nicht in der Lage ist. Er wird sich bewusst, dass seine eigenen Kräfte nicht ausreichen, die Forderungen des moralischen Gesetzes zu erfüllen. Dies führt zu einem Gefühl der Schuld und zu einem Bewusstsein der Sündhaftigkeit. Will er ihnen entkommen, muss er sich über die ethische in die religiöse Sphäre erheben: Er muss den „Sprung in den Glauben“ machen.22

Nietzsche und die Umwertung der Werte Nietzsche stimmte mit Kierkegaard darin überein, dass der Ruf zu einem christlichen Leben etwas war, das nicht mit der Vernunft gerechtfertigt werden konnte. Doch während Kierkegaard hieraus den Schluss zog „um so schlimmer für die Vernunft“, schloss Nietzsche hieraus „um so schlimmer für den Ruf des Christentums“. Nicht dass Nietzsche viel Zeit damit verbracht hätte zu beweisen, dass das Christentum irrational ist: Sein Hauptvorwurf gegen das Christentum lautete, es sei minderwertig und erniedrigend. In Werken wie der Genealogie der Moral versucht er weniger, die Behauptungen der christlichen Ethik zu widerlegen, als vielmehr ihren unedlen Stammbaum nachzuzeichnen. Nietzsche zufolge zeigt die Geschichte zwei Arten von Moral. In frühesten Zeiten bezeichneten starke, privilegierte Aristokraten, die sich einer höheren Ordnung als ihre Mitmenschen zugehörig fühlten, ihre eigenen Eigenschaften – adelige Abstammung, Tapferkeit, Ehrlichkeit, Blondheit usw. – als „gut“. Sie betrachteten die Eigenschaften des Pöbels – Gemeinheit, Feigheit, Lügenhaftigkeit und dunkle Hautfarbe – als „schlecht“. Dies ist die Herrenmoral. Die Armen und Schwachen, die den Aristokraten ihre Macht und ihre Reichtümer verübelten, stellten dieses System auf den Kopf. Sie entwarfen ihr eigenes, entgegengesetztes Wertesystem, eine Moral für die Herde, die solchen Eigenschaften wie Demut, Mitleid und Wohlwollen, die den Unterlegenen nützt, einen hohen Wert beimisst. Sie sahen den aristokratischen Typ des Menschen nicht nur als schlecht an, sondern als regelrecht böse. Die Errichtung dieses neuen Systems nennt Nietzsche die „Umwertung der Werte“, und er macht die Juden dafür verantwortlich. „Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folge22 Kierkegaards Auffassungen über Glaube und Religion werden in Kapitel 12 dargestellt.

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richtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich ‚die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!‘“ (GM 19) 23

Der von den Juden begonnene Sklavenaufstand triumphierte mit dem Aufstieg des Christentums. In Rom selbst, einst das Vaterland der aristokratischen Tugend, verbeugte man sich jetzt vor vier Juden: vor Jesus, Maria, Petrus und Paulus (GM 36). Das Christentum gibt sich selbst als Religion der Liebe aus, doch in Wahrheit wurzelt es Nietzsche zufolge in Schwachheit, Angst und Niederträchtigkeit. Das vorrangige Motiv des Christentums bezeichnet er als Ressentiment, bei dem es sich um die Sehnsucht der Schwachen nach Rache an den Starken handele, die sich selbst als Wunsch nach der Bestrafung des Sünders verschleiert. Christen geben vor, die Vollstrecker göttlicher Befehle zu sein, doch dies ist nur ein Deckmantel ihres eigenen schlechten Gewissens. Christen verherrlichen die Tugend des Mitleids, doch wenn sie den Bedrängten helfen, so geschieht dies in der Regel, weil sie Freude daran haben, Macht über sie auszuüben. Selbst wenn Menschenliebe nicht geheuchelt ist, richtet sie mehr Schaden an, als dass sie hilft, indem sie den Leidenden demütigt. Mitleid ist ein Gift, das den barmherzigen Menschen mit dem Leiden anderer infiziert (Z 112). Der Erfolg des Christentums hat zur Entartung der Menschheit geführt. Systematische Zartheit mit den Schwachen senkt die allgemeine Gesundheit und Kraft der Menschheit. Dies hatte zur Folge, dass der moderne Mensch nur noch ein Zwerg ist, der den Willen, wahrhaft menschlich zu sein, verloren hat. Gemeinheit und Mittelmaß sind die Norm geworden. Nur noch selten blitzt eine Verkörperung des aristokratischen Ideals auf. „Auf der anderen Seite gibt sich heute der Herdenmensch in Europa das Ansehen, als sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er zahm, verträglich und der Herde nützlich ist, als die eigentlich menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiß, Mäßigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber, wo man Führer und Leithammel entraten zu können glaubt, macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addieren kluger Herdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohltat, welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlen-

23 Zitiert nach: F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band V, 267.

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den für diese Herdentier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen Napoleons machte, das letzte große Zeugnis: – die Geschichte der Wirkung Napoleons ist beinahe die Geschichte des höheren Glücks, zu dem es dieses ganze Jahrhundert in seinen wertvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat.“ (BGE 86) 24

Soll die Menschheit vor der Dekadenz bewahrt werden, muss der erste Schritt darin bestehen, die Werte des Christentums umzukehren und eine zweite Umwertung der Werte vorzunehmen. „Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe“, schrieb Nietzsche auf der ersten Seite seiner Schrift Der Antichrist. Menschen gehören zu zwei Linien: zur „aufsteigenden“ oder „absteigenden“ Linie menschlicher Entwicklung. Es war nicht immer leicht, die beiden zu identifizieren – nur Nietzsche selbst besaß ein untrügliches Gespür für die Unterschiede zwischen beiden –, doch waren sie einmal erkannt, mussten die absteigenden Kreaturen den wohlgeratenen Raum geben und durften ihnen „so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein“ wegnehmen (WP 373). Es ist jedoch mehr erforderlich, als die christliche Moral umzustoßen: Wir müssen den Gegensatz zwischen gut und böse, der das Kennzeichen jeder Sklavenmoral ist, hinter uns lassen. Es sind zum Beispiel nicht nur die Christen, die die Wahrheit als grundsätzlichen Wert anerkennen. Doch Nietzsche zufolge ist seine Falschheit kein Einwand gegen ein Urteil. „Die Frage ist, wie weit es lebensfördernd, lebenserhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, – daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehen: das heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse. (BGE 7) 25

Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne die ein bestimmtes Wesen nicht überleben könnte. Leben ist der höchste Wert, an dem alle anderen zu messen sind. „Wenn wir von Werten reden“, schrieb Nietzsche, „reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns, Werte anzusetzen, das Leben selbst 24 Zitiert nach: F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band V, 120. 25 Ebd., 18.

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Der Übermensch in einer Darstellung auf einem der Bücher Nietzsches.

wertet durch uns, wenn wir Werte ansetzen“ (TI 24). 26 Das menschliche Leben ist die höchste Form des Lebens, die bislang aufgetaucht ist, doch in der gegenwärtigen Welt ist es auf die Stufe der Formen zurückgesunken, die ihm vorausgingen. Wir müssen das Leben bejahen und auf eine neue Stufe heben, eine Synthese herstellen, die den Gegensatz von Herr und Knecht überschreitet: den Übermenschen. Die Verkündigung des Übermenschen ist die prophetische Botschaft von Zarathustra, Nietzsches orakelhaftem Wortführer. Der Übermensch wird die höchste Form des Lebens sein, die äußerste Bejahung des Willens zum Leben. Doch unser Wille zum Leben darf nicht, wie derjenige Schopenhauers, ein Wille sein, der die Schwachen begünstigt: Es muss ein Wille zur Macht sein. Der Wille zur Macht ist das Geheimnis allen Lebens. Jedes lebende Wesen versucht, seine Kraft zu entladen, seine Fähigkeiten in vollem Umfang zu realisieren. Lust ist lediglich das Bewusstsein, das die Ausübung der Macht begleitet. Das Wissen – in dem Maße, wie es Wissen überhaupt geben kann, angesichts der Tatsache, dass es keine absolute Wahrheit gibt – ist lediglich ein Instrument der Macht. Die höchste Verwirklichung der Macht des Menschen wird die Erschaffung des Übermenschen sein. Die Menschheit ist nur ein Stadium auf dem Weg zum Übermenschen, der der Welt ihren Sinn gibt. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss, er ist „eine Brücke und kein Ziel“ (Z 44). Der Übermensch wird jedoch nicht durch die Kräfte der Evolution entstehen, sondern nur durch eine Anstrengung des Willens. „Euer Wille sage: Der Übermensch sei der Sinn der Erde!“ Zarathustra sagt: „Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch um26 Zitiert nach: F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band VI, 86.

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schaffen des Übermenschen: und dies sei euer bestes Schaffen!“ 27 Die Ankunft des Übermenschen wird die Vollendung der Welt sein und ihr einen Sinn geben. Doch aufgrund der ewigen Wiederkehr wird dies nicht das Ende der Geschichte sein. Der Übermensch wird eine zweite und eine dritte und eine unendliche Anzahl von Ankünften haben. Was für ein Mensch wird der Übermensch sein? Soll er unser Maßstab für die Beurteilung menschlicher Tugenden und Laster sein können, müssen wir dies wissen. Doch Zarathustra hat uns wenig über ihn zu sagen, und in seinen späteren philosophischen Werken hat Nietzsche diesen Begriff nicht mehr verwendet. Er spricht jedoch weiterhin von „höheren Menschen“, und wir gewinnen den Eindruck, dass sein Ideal eine Kombination aus Goethe und Napoleon wäre, von denen jeder auf unterschiedliche Weise eine Vielzahl von Talenten bis zum Äußersten entwickelt hat. Diese Kombination ist plausibler als eine andere, die Nietzsche einmal in ein Notizbuch kritzelte: „römischer Cäsar mit der Seele Christi“. Es ist schwer, zu einem kritischen Urteil über Nietzsches Moralphilosophie zu gelangen, da seine Schriften häufig absichtlich chaotisch sind, und es ist nicht verwunderlich, dass sich die Forschung in ihrer Bedeutung und Bewertung alles andere als einig ist. Es ist zum Beispiel nicht leicht festzustellen, wie Nietzsche zum moralischen Problem der Grausamkeit steht. Wenn er die Rolle anprangert, die das Schuldgefühl in der Sklavenmoral spielt, beschreibt er in wortgewaltiger Empörung die Qualen, die eifernde Frömmler den von ihnen Verfolgten zufügen. Doch gegenüber den Exzessen seiner aristokratischen „blonden Bestien“, die „vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermut und seelischen Gleichgewicht davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei“, ist er unendlich nachsichtig. 28 Wenn es um Krieg geht, ist Nietzsche mit Sicherheit Enthusiast. Er schreibt: „Man hat auf das große Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet.“ (TI 23) 29 Der Krieg ist eine Erziehung zur Freiheit, und Freiheit bedeutet, dass die männlichen und siegesfrohen Instinkte über alle anderen die Herrschaft gewinnen, einschließlich über das Verlangen nach Glück. „Der freigewordene Mensch, um wie viel mehr der freigewordene Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen.“ 30 27 Zitiert nach: F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band IV, 109. 28 Zitiert nach: F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band V, 275. 29 Zitiert nach: F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band VI, 84. 30 Ebd., 139 f.

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Auch die Selbsttötung wird von Nietzsche unter bestimmten Umständen bewundert. Ärzte sollten ihre Patienten daran erinnern, dass Kranke Parasiten der Gesellschaft sind und dass eine Zeit gekommen sein kann, ab der es unanständig ist, länger zu leben. „Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so daß ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung des Lebens – alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat.“ 31

Wer sich selbst abschaffe, so fasst Nietzsche seine Ausführungen zusammen, führe eine Handlung aus, die höchste Achtung verdiene: Man verdiene dadurch beinahe zu leben. Doch ist Nietzsche überhaupt ein Ethiker? Ist er ein echter Moralist mit höchst unkonventionellen Ansichten über Tugend und Laster, oder ist er ein vollkommen amoralischer Mensch, der an dem, was moralisch richtig und falsch ist, kein Interesse hat? Einerseits beschäftigt er sich offensichtlich mit denselben Fragen wie einige große Moralphilosophen der Vergangenheit: Sein Ideal eines Menschen weist Ähnlichkeiten mit dem großherzigen Menschen in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik auf. Andererseits verkündet er, nicht lediglich neue Ansichten über gut und böse vorzutragen, sondern diese Kategorien hinter sich zu lassen. Er nennt sich selbst einen Immoralisten und sagt uns, es gebe keine moralischen Tatsachen, und er gibt sich alle Mühe, zwei Schlüsselbegriffe der meisten Moralsysteme, d. h. Gerechtigkeit und Schuld, abzuwerten. Ich denke, die Antwort auf diese Fragen muss folgendermaßen lauten: Nietzsche teilt mit der traditionellen Moral eine letzte Sorge um das Gedeihen des Menschen, und er verwirft viele konventionelle Tugenden, weil er glaubt, dass sie ein gelingendes Leben eher behindern als fördern. Doch dass er das Große dem Guten und den Edelmann dem Gentleman vorzieht, beweist, dass sein Kriterium für das gute Leben letztlich kein moralisches Kriterium, sondern ein ästhetisches ist. Es ist nicht nur so, dass sein idealer Mensch seinen Nächsten nicht liebt: Er hat keinen Nächsten.

31 Zitiert nach: F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band VI, 134 f.

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Analytische Ethik Als Ethiker steht G. E. Moore an dem Nietzsche gegenüberliegenden Ende des Spektrums: Er stellte das Gute an die Spitze einer Pyramide der moralischen Begriffe. An genealogischen Fragen nach dem Ursprung und der Entwicklung des Begriffs hatte er nicht das geringste Interesse. Seine Principia Ethica (1903) sieht er als den Versuch, die Frage zu beantworten: „Wie wird das Gute definiert?“, und seine Methode besteht in der Betrachtung des Gegenstandes oder der Idee, für die das Wort „gut“ steht. Er behauptet, dies sei die grundlegende Frage, die man beantworten müsse, bevor man fragen könne, welche Arten von Handlungen wir ausführen sollten. Denn die moralisch gebotenen Handlungen sind diejenigen, die dazu führen, dass es im Universum mehr des Guten gibt als von seinen möglichen Alternativen. Bevor wir daher fragen, welche Dinge gut sind, müssen wir fragen, welche Art von Eigenschaft das Gute selbst ist. Moore behauptete, diese Frage lasse sich nicht dadurch beantworten, dass man irgendeine Definition des Guten anführt, weil das Gute, ähnlich wie der Begriff des Gelben, ein einfacher Begriff sei, der nicht definiert werden könne. Doch im Gegensatz zur Gelbheit, bei der es sich um eine natürliche Eigenschaft von Dingen handele, ist das Gute Moore zufolge eine nichtnatürliche Eigenschaft. Wenn wir das Gute betrachten und irgendeine andere ihm ähnliche Eigenschaft, wie zum Beispiel das Angenehme, erkennen wir, dass wir „zwei verschiedene Begriffe vor uns haben“. Selbst wenn alles Gute tatsächlich angenehm wäre, so folgt daraus nicht, dass „gut“ und „angenehm“ dasselbe bedeuten. Wer das Gute irgendeiner Eigenschaft, wie zum Beispiel dem Angenehmen, gleichsetzt, begeht einen Fehlschluss: den naturalistischen Fehlschluss, bei dem eine nichtnatürliche Eigenschaft mit einer natürlichen verwechselt wird. Obwohl Moore behauptete, dass Gutheit keine natürliche Eigenschaft sei, leugnete er nicht, dass sie die Eigenschaft natürlicher Dinge sein konnte. Ja, es war sogar die Hauptaufgabe der Moralphilosophie festzustellen, welche Dinge diese nichtnatürliche Eigenschaft besaßen. Nach längeren Untersuchungen gelangte Moore zu der Schlussfolgerung, die einzigen guten Dinge, die intrinsisch gut seien, seien Freundschaft und ästhetische Erfahrung. Die Argumente der Principia Ethica waren äußerst schwach, und Moore selbst sollte später zugeben, dass er keine haltbare Erklärung dafür gegeben habe, was er mit der Behauptung, „gut“ sei keine natürliche Eigenschaft, gemeint habe.32 Dennoch war das Buch äußerst einflussreich, besonders weil es zwei bedeutsame Gruppen von Bewunderern fand. Die Bloomsbury-Gruppe, besonders J. M. Keynes, Lytton Strachey und E. M. Forster, lobte das Buch als Charta eines Lebensstils, der konventionelle Vorstellungen von Anständigkeit und Rechtschaffenheit über Bord warf. Die zweite Gruppe bestand aus den Fachphilosophen, die zwar die Idee, dass „gut“ eine nichtnatürliche Eigenschaft ist, nicht akzeptieren konnten, den Vorwurf des „natura32 P. A. Schilpp (ed.), The Philosophy of G. E. Moore (Chicago: Open Court, 1942), 582.

Analytische Ethik

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listischen Fehlschlusses“ jedoch trotzdem als Mantra verwendeten, mit dem man sich ungeliebter Moraltheorien entledigen konnte. Unter dem Einfluss des logischen Positivismus begannen jedoch einige Philosophen zu bestreiten, dass Gutsein überhaupt irgendeine – natürliche oder nichtnatürliche – Eigenschaft ist, und zu behaupten, dass ethische Äußerungen überhaupt keine Sätze über Tatsachen sind. So erklärte zum Beispiel A. J. Ayer, dass ich, wenn ich sage: „Das Stehlen von Geld ist unrecht“, einen Satz äußere, „der keine faktische Bedeutung hat, das heißt, der keine Proposition ausdrückt, die entweder wahr oder falsch sein kann. Es ist so, als ob ich geschrieben hätte ‚Das Stehlen von Geld!!‘ – wobei, durch eine entsprechende Konvention, Gestalt und Dicke der Ausrufezeichen zeigen, daß damit die Empfindung einer besonderen Art moralischer Mißbilligung ausgedrückt wird. Es ist klar, daß damit nichts gesagt wird, was wahr oder falsch sein kann. Ein anderer mag mit mir übereinstimmen, was die Unrechtmäßigkeit des Stehlens betrifft, in dem Sinne, daß er bezüglich des Stehlens nicht in gleicher Weise empfindet wie ich, und er kann mit mir über meine moralischen Gefühle streiten. Er kann mich aber, genau genommen, nicht widerlegen.“ (LTL 107) 33

Diese Sichtweise ethischer Äußerungen wurde als „Emotivismus“ bezeichnet. Während Ayer besonders den Ausdruck der eigenen Gefühle betonte, sahen andere Emotivisten die Funktion der moralischen Sprache in der Bekräftigung der Gefühle und Haltungen anderer Personen. Doch kein Emotivist konnte eine überzeugende Erklärung des besonderen Charakters der fraglichen Gefühle liefern oder zeigen, auf welche Weise die Logik in unseren ethischen Vernunftgebrauch Einzug erhält, wenn wir Wörter wie „weil“ und „deshalb“ verwenden. R. M. Hare (1919–2002), zunächst Tutor in Oxford und später Whites Professor für Moralphilosophie, war darum bemüht, in der Ethik für die Logik Platz zu schaffen. In seinen Büchern The Language of Morals (Die Sprache der Moral) (1952) und Freedom and Reason (Freiheit und Vernunft) (1952) zeigte er, dass es ebenso eine Logik der imperativischen wie der indikativischen Aussagen gibt, auf die er sich bei seinem Versuch stützte, eine Theorie des moralischen Argumentierens zu entwerfen. Er unterschied zwischen einer präskriptiven und einer deskriptiven Bedeutung von Sätzen. Eine deskriptive Aussage ist eine Aussage, deren Bedeutung durch die faktischen Bedingungen ihrer Wahrheit bestimmt wird. Ein präskriptiver Satz ist ein Satz, der – möglicherweise in Verbindung mit einer deskriptiven Aussage – mindestens einen Imperativ enthält. Einem Imperativ zuzustimmen bedeutet, eine Handlung vorzuschreiben: sich selbst oder anderen zu befehlen, dies oder das zu tun. Die präskriptive Sprache hat zwei Formen: Es gibt direkte Imperative und Werturteile. Werturteile können ein Wort wie „gut“ oder „sollen“ enthalten. Etwas „gut“ zu 33 Zitiert nach: A. J. Ayer, Sprache, Wahrheit und Logik, übersetzt und herausgegeben von H. Herring (Stuttgart: Reclam, 1970), 141 f.

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nennen heißt, es zu empfehlen. Etwas ein gutes X zu nennen, bedeutet zu behaupten, dass es die Art von X ist, die von jedem gewählt werden sollte, der ein X will. Für die Güte von Xs und Ys wird es unterschiedliche Kriterien geben, doch dies läuft nicht auf einen Unterschied in der Bedeutung von „gut“ hinaus, die allein darin besteht, etwas zu empfehlen. Aussagen, die eine Form des Wortes „sollen“ enthalten – von denen Hare, Hume folgend, behauptete, sie könnten niemals aus „ist“-Aussagen abgeleitet werden –, beinhalten Imperative. „A sollte F 34“ enthält einen Befehl zu F, der nicht nur an A gerichtet ist, sondern an jeden anderen, der sich in einer auf relevante Weise ähnlichen Situation befindet. Zu den Adressaten des Satzes gehört auch der Sprecher selbst. Das Kriterium für die Ernsthaftigkeit, mit der der Satz geäußert wird, ist die Bereitschaft des Sprechers, den Befehl zu befolgen, wenn die fragliche Situation eintritt. Aussagen, die eine Form des Wortes „sollen“ enthalten, sind nicht nur präskriptiv, aber im Gegensatz zu gewöhnlichen Befehlen können sie verallgemeinert werden. Hare unterschied zwischen ethischen und moralischen Systemen. Ethik ist das Studium der allgemeinen Eigenschaften der Sprache der Moral. Die wichtigsten dieser Eigenschaften sind, dass die moralische Sprache Vorschriften macht und Aussagen verallgemeinert: Moralische Urteile schreiben bestimmte Handlungen vor oder verbieten sie. Im Prinzip ist die Ethik den verschiedenen und einander widersprechenden Moralsystemen gegenüber neutral. Doch dies bedeutet nicht, dass die Ethik keinen Inhalt hat: Wenn ein bestimmtes Ethikverständnis mit den Wünschen und Überzeugungen eines moralischen Handlungsträgers verbunden wird, kann es zu konkreten und wichtigen moralischen Urteilen führen. Der Weg, auf dem Präskriptivität und Universalisierbarkeit in konkrete moralische Urteile Einzug halten, wird von Hare auf folgende Weise beschrieben: Obwohl sich die Autorität meiner moralischen Urteile aus nichts anderem als meinen eigenen Abwägungen ergibt, entsteht aus meinen Entscheidungen, zusammen mit den logischen Eigenschaften der moralischen Sprache, so etwas wie eine goldene Regel. Angenommen, A schuldet B Geld, B schuldet C Geld, und keiner ist in der Lage, seine Schulden zum Fälligkeitstermin zu begleichen. B könnte urteilen: „A sollte ins Gefängnis geschickt werden.“ Doch da sein Urteil verallgemeinert werden kann und sich B in derselben Position wie A befindet, impliziert das Urteil für B „Ich sollte ins Gefängnis geschickt werden“ – ein Urteil, welches seine Zustimmung wahrscheinlich nicht finden wird. Hare behauptete, dass Überlegungen dieser Art zur Annahme eines mehr oder weniger utilitaristischen Systems moralischer Urteile führen würden, da er der – wenig plausiblen – Auffassung war, dass nur eine kleine Gruppe von Fanatikern bereit sein würde, sich so behandeln zu lassen, wie sie sich anderen gegenüber verhalten hatte. In den späten 1950er Jahren wurde Hares Präskriptivismus von einer Reihe seiner

34 Anm. d. Übers.: wobei F für ein Verb im Infinitiv steht.

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in Oxford lebenden Kollegen, insbesondere von Foot, Geach und Anscombe, einer vernichtenden Kritik unterzogen. Philippa Foot griff in „Moral Beliefs“ („Moralische Überzeugungen“) (1958) und „Goodness and Choice“ („Gutheit und Wahlfreiheit“) (1961) den Unterschied zwischen deskriptiven und wertenden Prädikaten an, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die Namen bestimmter Tugenden und Laster richtete. Sie fordert uns auf, Wörter wie „unanständig“ und „mutig“ zu betrachten. Es ist nicht schwer, in rein beschreibenden Begriffen ein Verhalten zu kennzeichnen, das diese Charakterisierung verdient. Und dennoch ist es eine Sache der Bewertung, jemanden unanständig oder mutig zu nennen. Foot behauptete, ein Urteil könne nicht allein auf der Grundlage formaler Eigenschaften, wie der Universalisierbarkeit oder Präskriptivität, als moralisches Urteil behandelt werden. Es ist unmöglich, allein durch die richtige Wahlentscheidung (choice), die Tatsache, dass man in einer Stunde dreimal die Hände faltet, zu einer guten Handlung zu machen oder festzulegen, dass dasjenige, was einen Menschen zu einem guten Menschen macht, die Tatsache ist, dass er rote Haare hat. Moralische Überzeugungen müssen Eigenschaften und Handlungen zum Gegenstand haben, die für Menschen förderlich oder schädlich sind. Da es keine Sache menschlicher Entscheidung ist, welche Eigenschaften und Handlungen das Gedeihen des Menschen fördern oder ihm schaden, können moralische Urteile ebenso wenig von menschlichen Entscheidungen abhängen. In der antiken und mittelalterlichen Welt war die Analyse der Tugenden und Laster und die Untersuchung ihres Verhältnisses zum Glück des Menschen ein sehr wichtiger Teil der Moralphilosophie. Es ist zu einem großen Teil Philippa Foot zu verdanken, dass die Tugendlehre in den letzten Jahrzehnten, nachdem sie viele Jahrhunderte lang vernachlässigt worden war, wieder einen wichtigen Platz in der Moralphilosophie einnahm. Peter Geach (geb. 1919) griff in „Good and Evil“ („Gut und Böse“) (1956) die Unterscheidung zwischen Beschreibung und Bewertung auch im Fall der allgemeinsten Begriffe an, wie zum Beispiel „gut“. Er behauptete, dass die wichtige Unterscheidung diejenige zwischen attributiven und prädikativen Ausdrücken sei. Im Falle eines prädikativen Ausdrucks wie „rot“ kann man wissen, was es für ein X bedeutet, rot zu sein, ohne zu wissen, was ein X ist. Bei attributiven Ausdrücken wie „groß“ oder „falsch“ liegen die Dinge anders. Geach behauptete, dass „gut“ und „schlecht“ attributive, keine prädikativen Ausdrücke sind. Wenn wir von einem Individuum A sagen, es sei gut, so meinen wir eigentlich, dass es ein guter Mensch ist, und wenn wir ein bestimmtes Verhalten gut nennen, meinen wir, dass es eine gute menschliche Handlung ist. Daher ist es töricht, nach einer Eigenschaft namens Gutheit oder einer Handlung zu suchen, die als Empfehlen bezeichnet wird, die stets vorhanden sind, wenn wir etwas gut nennen. In seinem Aufsatz „Assertion“ („Behauptung“) (1965) zeigte Geach, dass die Bedeutung von „gut“ nicht mithilfe des Empfehlens erklärt werden kann, da wir das

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Wort in vielen Kontexten verwenden, ohne etwas empfehlen zu wollen. So kann „gut“ beispielsweise in Bedingungssätzen ausgesagt werden. Jemand, der sagt „Wenn die Verwendung von Verhütungsmitteln gut ist, dann ist die kostenlose Verteilung von Kondomen eine gute Sache“ muss weder die Verwendung von Verhütungsmitteln noch die kostenlose Verteilung von Kondomen empfehlen. Selbstverständlich kann „gut“ bei manchen Gelegenheiten verwendet werden, um etwas zu empfehlen, doch dies bedeutet nicht, dass seine primäre Bedeutung nicht deskriptiv ist. Elizabeth Anscombe, die Ehefrau von Peter Geach, schrieb 1958 einen einflussreichen Aufsatz mit dem Titel „Modern Moral Philosophy“. Er war ein Frontalangriff nicht nur auf Hare, sondern auf die gesamte englischsprachige Moralphilosophie seit Sidgwick. Sein erster Absatz stellte eine weitreichende Behauptung auf: „Die Begriffe der Verbindlichkeit und der Pflicht – das heißt, der moralischen Verbindlichkeit und Pflicht – und dessen, was moralisch richtig und falsch ist, und des moralischen Sinnes von ‚sollen‘, sollten verworfen werden, wenn dies psychologisch möglich ist, denn es sind überlebende Reste oder Derivate von überlebenden Resten eines früheren Ethikverständnisses, das sich weitgehend überlebt hat, und sie sind ohne dieses schädlich.“ (ERP 26)

Aristoteles hat über die Tugenden und Laster viel zu sagen, doch er verfügt über keinen Begriff zur Übersetzung unseres Adjektivs „moralisch“. Es war das Christentum, welches seine moralischen Begriffe der Thora entnahm, das den Begriff des Gesetzes in die Ethik einführte. Ein den Tugenden entsprechendes und die Laster meidendes Leben wurde von nun eine Forderung des göttlichen Gesetzes. „Natürlich ist es unmöglich, ein solches Verständnis zu haben, es sei denn man glaubt – wie die Juden, Stoiker und Christen – an Gott als den Gesetzgeber. Doch wenn ein solches Verständnis über Jahrhunderte dominant war und dann aufgegeben wird, ist es eine natürliche Konsequenz, dass die Begriffe der Verpflichtung, dass man durch das Gesetz verpflichtet oder gefordert ist, erhalten bleiben, obwohl sie ihre Wurzel verloren haben, und wenn das Wort ‚sollen‘ in bestimmten Kontexten mit einer Bedeutung des Verpflichtetseins befrachtet wurde, wird auch dieses Wort in diesen Kontexten mit einem besonderen Nachdruck und einem besonderen Gefühl ausgesprochen werden. Es ist so, als ob der Begriff ‚kriminell‘ überlebte, nachdem das Strafgesetz und Strafgerichte abgeschafft oder vergessen worden wären.“ (ERP 30)

Es ist wahr, was Philosophen seit Hume immer wieder gesagt haben, dass man aus dem „Sein“ kein „Sollen“ – ein moralisches Sollen – ableiten kann. Doch der Grund hierfür ist, dass dieses „Sollen“ zu einem Wort mit nur noch hypnotischer Kraft geworden ist, als der Begriff eines göttlichen Gesetzgebers fallen gelassen wurde. Das wichtigste praktische Ergebnis dieser Tatsache ist, behauptete Anscombe, dass alle Philosophen Konsequenzialisten geworden sind, da sie glauben, dass die

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Elizabeth Anscombe und Peter Geach, das intellektuell beeindruckendste philosophische Ehepaar des 20. Jahrhunderts.

richtige Handlung die Handlung mit den bestmöglichen Folgen ist. Jeder Einzelne der bekanntesten englischen akademischen Moralphilosophen „hat eine Philosophie vorgelegt, der zufolge es zum Beispiel unmöglich ist, die Ansicht zu vertreten, dass es – zu welchem Zweck auch immer – niemals richtig sein kann, Unschuldige zu töten, und dass diejenigen, die anders denken, sich im Irrtum befinden“. Dies bedeutet, dass sämtliche ihrer Philosophien mit der jüdisch-christlichen Ethik unvereinbar sind, die lehrte, dass einige Dinge unabhängig davon, was ihre Folgen sein mochten, verboten waren. Anscombe glaubte, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Philosophen seit Sidgwick im Vergleich mit dieser Unvereinbarkeit unwichtig und kleinlich seien. Anscombe schlug vor, dass die Begriffe der Pflicht und des moralisch Richtigen

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9 Ethik

und Falschen zugunsten der Begriffe der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die einen echten Inhalt hatten, verworfen werden sollten. Selbst von diesen Begriffen lasse sich nur schwer eine deutliche Erklärung geben, solange wir nicht über eine zufriedenstellende philosophische Psychologie verfügten. Denn man kann solche Begriffe wie Gerechtigkeit und Tugend nicht analysieren, wenn man über keine zufriedenstellende Erklärung von Begriffen wie „Handlung“, „Absicht“, „Vergnügen“ und „Wollen“ verfügt. Mit ihrem Buch Intention (1957), das als Modell für viele spätere Untersuchungen diente, leistete Anscombe selbst einen monumentalen Beitrag zu diesem Gebiet der Philosophie. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von englischsprachigen Philosophen eine Vielzahl unterschiedlicher moralphilosophischer Vorgehensweisen ausgelotet, und in Großbritannien ragte kein einzelner Philosoph als Hauptvertreter der Ethik hervor, wie man es von Hare hatte sagen können. Als Reaktion auf Hares Wiederbelebung der kantischen Ethik konzentrierte sich eine Reihe von Philosophen erneut auf Themen der Ethik von Aristoteles. So legte beispielsweise Philippa Foot besonderes Gewicht auf die zentrale Rolle der Tugenden in der Ethik und regte auf diese Weise die Entstehung einer Schule der „Tugendethik“ an, und Bernard Williams erinnerte Philosophen daran, welch große Rolle zufällige Umstände (moral luck) bei der Bewertung einer moralischen Situation spielen. Foots Ausgangspunkt war, dass die Tugenden charakteristische Wesensmerkmale sind, die jeder Mensch braucht, um seiner selbst und der anderen willen. Sie unterscheiden sich von anderen Merkmalen, die für das Gedeihen des Menschen erforderlich sind – wie zum Beispiel Gesundheit, Kraft, Intelligenz und Geschicklichkeit –, dadurch, dass sie keine bloßen Fähigkeiten sind, sondern den Willen einbeziehen. Sie haben es mit Dingen zu tun, die für den Menschen schwierig sind, mit Situationen, in denen Versuchungen zu widerstehen ist. Doch hatte Kant darin Unrecht, dass er meinte, der moralische Wert einer Handlung bemesse sich nicht nach der Schwierigkeit, die mit ihrer Ausführung verbunden ist. Der wahrhaft tugendhafte Mensch ist jemand, der gute Handlungen fast mühelos vollbringt: So ist ein wahrhaft wohltätiger Mensch zum Beispiel jemand, dem es leicht, nicht schwer, fällt, die Opfer zu bringen, die die Wohltätigkeit verlangt. Ohne die Tugenden ist das Leben eines Menschen verkümmert, auf ähnliche Weise, auf die das Leben eines Tieres, dem ein Sinnesvermögen fehlt, verkümmert ist. Am Anfang von Williams’ Reflexionen steht die Erinnerung daran, dass in der klassischen Tradition das Glück als Produkt der Selbstgenügsamkeit angesehen worden war: Was außerhalb des Bereichs des Selbst lag, unterlag nicht seiner Kontrolle und war daher eine Sache des Zufalls und der kontingenten, der Seelenruhe feindlichen Einflüsse. In der neueren Moralphilosophie wurde das Ziel, das Ganze des Lebens gegen den Zufall immun zu machen, aufgegeben, doch für Kant gab es einen allerhöchsten Wert, den moralischen Wert, der als in dieser Weise immun angesehen werden konnte: Das gelingende moralische Leben war eine Laufbahn, die einem nicht nur dank bestimmter Talente offenstand, sondern dank eines Talents, über das alle

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vernünftigen Wesen notwendigerweise im selben Umfang verfügten. Williams behauptete demgegenüber, dass das Streben, die Moralität gegen den Zufall immun zu machen, zwangsläufig enttäuscht werden müsse. Da gibt es zum einen den konstitutiven Zufall des Temperaments, das wir geerbt haben, und der Kultur, in die wir geboren worden sind. Diese geben die Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer unsere moralischen Neigungen, Motive und Absichten wirksam werden müssen. Zum anderen gibt es auch noch den – von Williams in aufschlussreichen Details dargestellten – konkreten Zufall, der bei einem erfolgreichen Abschluss jedes Projekts von moralischer Bedeutung mit im Spiel ist. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts begannen Philosophen ihre Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die abstrakteren Fragen nach der Natur der moralischen Sprache oder der Beziehung zwischen Prinzipien, Charakter, Zufall und Tugend zu konzentrieren, sondern auf bestimmte konkrete Probleme bezüglich der Richtigkeit oder Falschheit besonderer Handlungen wie zum Beispiel Lügen, Abtreibung, Folter und Euthanasie. Foot und Williams spielten eine wichtige Rolle bei dieser Verschiebung der hauptsächlich behandelten Fragestellungen. An den Universitäten zeigte sich dies unter anderem darin, dass verstärkt Kurse zu Themen der medizinischen Ethik sowie zur Ethik des wirtschaftlichen Handelns angeboten wurden. Foot und Williams lehrten auf beiden Seiten des Atlantiks. Der bedeutendste amerikanische Moralphilosoph der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war John Rawls. Wie Foot und Williams war er ein Gegner des Utilitarismus, eines Systems, von dem er glaubte, es biete keine Sicherheit gegen zahlreiche Formen unfairer Diskriminierung. Sein philosophisches Projekt war die Ableitung einer Theorie der Gerechtigkeit aus dem Begriff der Fairness. Hierzu führte er eine neue Version der Theorie des Gesellschaftsvertrages in die Ethik ein. Da die wichtigsten Implikationen seiner Theorie eher politische Institutionen als die Moral von Einzelnen betreffen, wird seine Arbeit an späterer Stelle 35 behandelt.

35 In Kapitel 11, 301 f.

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Ästhetik

Das Schöne und das Erhabene Als Gründer der Ästhetik als einer unabhängigen philosophischen Disziplin wird normalerweise Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) angesehen. Fest steht zumindest, dass er es war, der das Wort „Ästhetik“ geprägt hat, und zwar in einer kurzen Abhandlung über Dichtkunst, die er 1735 herausgab. Der Zweck der Kunst besteht für Baumgarten darin, Schönes hervorzubringen, wobei er Schönheit als die geordnete Beziehung der Teile zu ihrem Ganzen definierte. Der Zweck des Schönen ist es, Vergnügen zu bereiten und Sehnsucht zu wecken. Die größte Schönheit sei in der Natur zu finden, weshalb das höchste Ziel der Kunst darin bestehe, die Natur nachzuahmen. Andere Philosophen des 18. Jahrhunderts versuchten, eine genauere Analyse des Schönen vorzulegen. In dem Abschnitt „Über Schönheit und Häßlichkeit“ seines Traktats über die menschliche Natur erklärt Hume, Schönheit sei „eine Anordnung und Verbindung von Teilen, die vermöge einer ursprünglichen Beschaffenheit unserer Natur, oder vermöge der Gewohnheit, oder vermöge bloßer Laune geeignet ist, unserer Seele Freude und Befriedigung zu gewähren. Dies ist der unterscheidende Charakter der Schönheit, und hierin besteht der ganze Unterschied zwischen Schönheit und Häßlichkeit, in deren Natur es liegt, Unbehagen hervorzurufen. Lust und Unlust sind also nicht nur notwendige Begleiterscheinungen von Schönheit und Häßlichkeit, sondern sie machen ihr eigenstes Wesen aus.“ (ii. i. 8) 1

Später war Hume mit der Vorstellung, ungeprüfte Gewohnheit und unkultivierte Launen könnten festlegen, was Schönheit ist, unzufrieden. Er war bemüht, für ästhetische Urteile den Unterschied von Wahrheit und Irrtum zu begründen. In seinem Essay Der Maßstab des Geschmacks (The Standard of Taste) (1757) verteidigte er die These, dass die Kriterien ästhetischer Urteile dadurch ermittelt werden sollten, dass man in Erfahrung bringt, welche Merkmale von Kunstwerken qualifizierten und unparteiischen Kennern am meisten gefielen. Edmund Burke (1729–1797) führte zusätzlich zum Begriff des Schönen den Begriff des Erhabenen in die Ästhetik ein. Das Erhabene kann ebenso wie das Schöne Ziel der Kunst sein: Ein Gefühl der Schönheit ist eine Form der Liebe ohne Verlangen, und wer etwas als erhaben erlebt, fühlt ein Erstaunen ohne Furcht. In seinen Philoso1

Zitiert nach: D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, übersetzt von T. Lipps (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1978), Band II, 29.

Das Schöne und das Erhabene

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phischen Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (A Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful) versuchte Burke zu erklären, durch welche Eigenschaften Gegenstände diese Gefühle in uns hervorrufen. Er führte das Gefühl des Erhabenen auf die Ängste und Schrecken zurück, die mit unserem ursprünglichen Instinkt der Selbsterhaltung verbunden sind. Das Gefühl des Schönen, dessen Musterbeispiel die keusche Bewunderung vollendeter weiblicher Schönheit ist, leitete sich, so behauptete er, von dem Bedürfnis nach gesellschaftlichem Kontakt und letztlich aus dem Instinkt zur Fortpflanzung der eigenen Art ab. Das Werk, das die Ästhetik des 19. Jahrhunderts dominierte, war Kants Kritik der Urteilskraft aus dem Jahre 1790. In seiner „Analytik des Schönen“ und der „Analytik des Erhabenen“ versuchte er, für die Ästhetik zu leisten, was er in den früheren Kritiken für die Erkenntnistheorie und die Ethik geleistet hatte. Der Mensch besitzt, zusätzlich zum theoretischen Verstand und zur praktischen Vernunft, ein drittes Vermögen, die Urteilskraft, das Vermögen des Geschmacks, welches die Grundlage der ästhetischen Erfahrung ausmacht. In Übereinstimmung mit Burke und gegen Baumgarten sieht Kant Interesselosigkeit als für die ästhetische Reaktion wesentlich an. Er sagt: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“ (M 45; B 16) 2 Kant unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Arten des Gefallens. Er bezeichnet das sinnliche Vergnügen als „Genuss“ und behält den Begriff des „Geschmacks“ der interesselosen Kontemplation des Schönen vor. Er schreibt: „Angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt; schön, was ihm bloß gefällt; gut, was geschätzt […] wird.“ (B 16) An angenehmen Dingen erfreuen sich auch Tiere, nur dem Menschen gefällt Schönheit. Nur der Sinn für Schönheit ist vollkommen interesselos, weil die praktische Vernunft, die das Gute bestimmt, sich auf unser Wohlergehen bezieht. Um den Unterschied hervorzuheben, weist Kant darauf hin, dass sich beim Guten unterscheiden lasse, ob etwas gut an sich oder nur mittelbar gut ist, während wir eine entsprechende Unterscheidung zwischen dem, was mittelbar schön ist und demjenigen, was an sich schön ist, nicht vornehmen (M 42; B 12). Kant zufolge bringt ein Geschmacksurteil nicht die Erfahrung auf Begriffe, wie es in einem gewöhnlichen Urteil geschieht, sondern es setzt die Erfahrung direkt zum interesselosen Wohlgefallen in Beziehung. Im Gegensatz zu einer Aussage über einen sinnlichen Genuss verlangt es allgemeine Zustimmung. Wenn ich den Geschmack von Madeira mag, dann behaupte ich nicht, dass jeder andere ihn auch mögen sollte. 2

Zitiert nach: I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, herausgegeben von W. Weischedel (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1957), Band V, 288. (Anm. d. Übers.: Die durch ein Semikolon abgetrennten Angaben entsprechen der für Kants Werke üblichen Zitierweise.)

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10 Ästhetik

Halte ich hingegen ein Gedicht, ein Gebäude oder eine Symphonie für schön, so fordere ich von anderen, dass sie mir hierin zustimmen. Geschmacksurteile sind ihrer Form nach Einzelurteile („Diese Rose ist schön“), ihrem Anspruch nach jedoch universal. Sie erheben „Anspruch auf Allgemeingültigkeit“, wie Kant sagt. Da jedoch ein Geschmacksurteil seinen Gegenstand nicht auf Begriffe bringt, kann kein Grund dafür angeführt werden, und es ist unmöglich, die Zustimmung zu einem solchen Urteil durch Argumente zu erzwingen. Werturteile stehen zu Zwecken in Beziehung. Wenn ich wissen will, ob ein X ein gutes X ist, muss ich wissen, was für einen Zweck ein X hat. Auf diese Weise entscheide ich, ob etwas ein gutes Messer, jemand ein guter Klempner etc. ist. Urteile über Vollkommenheiten sind ähnlich: Ich kann nicht wissen, was ein vollkommenes X ist, ohne die Funktion eines X zu kennen. Urteile über Schönheit sind hiermit jedoch nicht vergleichbar, da sie ihre Gegenstände nicht unter Begriffe subsumieren. Kant behauptet allerdings, dass schöne Gegenstände eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ aufweisen. Hiermit will er vielleicht zum Ausdruck bringen, dass Schönheit, obwohl sie keinen Zweck hat, uns dennoch einlädt, bei ihrer Betrachtung zu verweilen. Diese unklare Behauptung wird deutlicher, wenn Kant einen Unterschied zwischen verschiedenen Formen der Schönheit vornimmt. Es gibt zwei Arten von Schönheit: freie Schönheit (pulchritudo vaga) und bloß anhängende Schönheit (pulchritudo adhaerens). Die erste setzt keinen Begriff von dem voraus, was der Gegenstand sein soll, die zweite setzt hingegen einen solchen Begriff und die Vollkommenheit des Gegenstandes gemäß diesem Begriff voraus. Die erste wird als für sich bestehende Schönheit dieses oder jenen Dinges bezeichnet, die zweite, als von einem Begriff abhängige (bedingte Schönheit), wird Objekten mit einem bestimmten Zweck zugeschrieben. Ein Urteil über einen schönen Gegenstand ohne Rücksicht auf irgendeinen Zweck, dem der Gegenstand dienen soll, ist ein reines Geschmacksurteil. Kants Musterbeispiel für eine solche freie Schönheit eines Naturgegenstandes ist eine Blume. Für die andere Art von Schönheit gilt: „[D]ie Schönheit eines Menschen (und unter dieser Art die eines Mannes, oder Weibes, oder Kindes), die Schönheit eines Pferdes, eines Gebäudes (als Kirche, Palast, Arsenal, oder Gartenhaus) setzt einen Begriff vom Zwecke voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll, mithin einen Begriff seiner Vollkommenheit; und ist also bloß adhärierende Schönheit.“ (M 66; B 50) Aus dieser Textpassage geht deutlich hervor, dass Kants Ästhetik mit der Naturschönheit wesentlich leichter umzugehen weiß als mit der Schönheit von Gegenständen, die von Menschen hergestellt werden. Doch das Problem, um das es ihm hauptsächlich geht, stellt sich in beiden Fällen: Wie kann ein Urteil über Schönheit, ein Urteil, das nicht auf Vernunftgründen beruht, dennoch allgemeine Gültigkeit beanspruchen? Wenn ich ein solches Urteil abgebe, behaupte ich nicht, dass mir jeder zustimmen wird, ich behaupte jedoch, dass mir jeder zustimmen sollte. Dies ist nur möglich, wenn der Mensch über einen Gemeinsinn verfügt, eine Sensibilität, die – da sie normativ ist – nicht aus der Erfahrung ableitbar sein kann, und daher transzendental sein muss.

Das Schöne und das Erhabene

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Kant beginnt seine „Analytik des Erhabenen“ mit einer Unterscheidung zwischen zwei Arten des Erhabenen, die er (nicht gerade glücklich) als das mathematisch-Erhabene und das dynamisch-Erhabene bezeichnet. In beiden Fällen ist der erhabene Gegenstand riesig, groß, überwältigend. Doch im Falle des mathematisch-Erhabenen wird unsere Wahrnehmung überwältigt, im Fall des dynamisch-Erhabenen unsere Macht. Was mathematisch-erhaben ist, ist zu groß, um von unseren Sinnen aufgefasst werden zu können. Es erweckt in uns ein Gefühl eines übersinnlichen Vermögens, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft und ins Unendliche reicht. Das dynamisch-Erhabene ist etwas, dem zu widerstehen zu versuchen vollkommen vergeblich wäre, das uns aber dennoch erlaubt, in einem furchtlosen Zustand der Sicherheit zu bleiben. „Kühne, überhängende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen im Vergleich mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.“ (M 100 f.; B 105) 3

Die Natur kann schön und erhaben, die Kunst jedoch nur schön sein. Was ist dann die Beziehung zwischen der Schönheit in der Natur und der Schönheit in der Kunst? Kant gibt eine subtile Antwort auf diese Frage: Einerseits ist die Natur schön, weil sie wie Kunst aussieht; andererseits müssen wir, um ein schönes Kunstwerk bewundern zu können, uns bewusst sein, dass es ein Kunst- und kein Naturprodukt ist. Dennoch sagt uns Kant, dass „die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheine, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei“ (M 149; B 179). Für ein Urteil über schöne Kunst ist Geschmack erforderlich, für seine Produktion Genie. Die Hervorbringung des Schönen ist der Zweck der Kunst, doch die von der Kunst hervorgebrachte Schönheit ist kein schönes Ding, sondern die schöne Darstellung eines Dinges. Schöne Kunst kann sogar Dinge schön darstellen, die in der Natur hässlich und abstoßend sind. Es gibt drei Arten schöner Künste, deren jede ihre schönen Produkte hat. Es gibt die redenden Künste, d. h. Rhetorik und Dichtkunst. Es gibt die bildenden Künste, d. h. Malerei und die plastischen Künste der Bildhauerei und der Baukunst. Es gibt noch eine dritte Art der Kunst, die des Spiels der Empfindungen: Die wichtigste unter ihnen ist die Musik. 3

Zitiert nach: I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, herausgegeben von W. Weischedel (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1957), Band V, 349.

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10 Ästhetik

„Unter allen [Künsten]“, sagt Kant, „behauptet die Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beispiele geleitet sein will) den obersten Rang“ (M 170; B 215). Es ist interessant, Kants Auffassungen über Ästhetik mit denjenigen zu vergleichen, die einige Jahre später von den englischen romantischen Dichtern formuliert wurden. Bei seiner Behandlung von Kunstwerken beginnt Kant sozusagen auf der Seite des Konsumenten und geht von dort zur Seite des Herstellers zurück. Er beginnt damit, das Wesens des Urteils der Kritiker zu analysieren, und endet mit einer Ableitung der von einem Genie benötigten Eigenschaften (d. h. Einbildungskraft, Verstand, Geist und Geschmack). Die Romantiker beginnen hingegen mit dem Produzenten der Kunst: Für sie ist Kunst vor allem der Ausdruck der ureigenen Gefühle des Künstlers. Wordsworth sagt uns im Vorwort zu Lyrischen Balladen, dass dasjenige, was den Dichter von anderen Menschen unterscheide, die größere Direktheit der Gedanken und Gefühle ohne unmittelbare äußere Anregung sei sowie die größere Kraft, solche Gedanken und Gefühle auszudrücken: „Dichtung ist das spontane Überfließen starker Gefühle: Sie nimmt ihren Ausgang von in Ruhe gesammeltem Gefühl: Das Gefühl wird betrachtet, bis, durch eine Art von Reaktion, die Ruhe nach und nach schwindet und allmählich ein Gefühl erzeugt wird, das demjenigen ähnlich ist, das dem Subjekt der Kontemplation vorschwebte, und nun tatsächlich im Geist [des Dichters] existiert.“

Während er seinen Gefühlen in Versform Ausdruck verleiht, besteht die grundlegende Pflicht des Dichters darin, dem Leser ein unmittelbares Vergnügen zu bereiten. Coleridge teilt diese Auffassung. Er schreibt: „Ein Gedicht ist die Art von Komposition, die Werken der Wissenschaft dadurch entgegengesetzt ist, dass sie als unmittelbares Ziel den Genuss hat, nicht die Wahrheit.“ Bei seiner Beschreibung des Wesens dichterischen Genies verbesserte Coleridge die Theorien von Kant und Wordsworth, indem er eine hierfür erforderliche, spezielle Begabung benannte. Während Kant und frühere Autoren die Einbildungskraft als ein Vermögen angesehen hatten, das allen Menschen gemeinsam ist – die Fähigkeit, die Erfahrungen des täglichen Lebens sich nochmals vor Augen zu führen und ihnen eine andere Ordnung zu verleihen –, zog Coleridge es vor, diese banale, wenn auch wichtige Fähigkeit als „Fantasie“ (fancy) zu bezeichnen. Die zu recht so genannte Einbildungskraft war demgegenüber die besondere, schöpferische Begabung des Künstlers: In ihrer primären Form war sie nichts Geringeres als „die lebende Macht und die ursprünglich wirkende Kraft aller menschlichen Wahrnehmung, und die Darstellung des ewigen Aktes der Schöpfung im unendlichen ICH BIN in einem endlichen Geist“. Dies schrieb Coleridge im Jahre 1817 im dreizehnten Kapitel seiner Biographia Literaria; und seit diesem Tag haben die Kritiker bis heute diskutiert, worin genau das Wesen dieser erhabenen Fähigkeit besteht.

Die Ästhetik Schopenhauers

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Die Ästhetik Schopenhauers Kein Philosoph hat der Ästhetik in seinem System eine wichtigere Rolle zugewiesen als Schopenhauer. Das dritte Buch seiner Welt als Wille und Vorstellung ist größtenteils dem Wesen der Kunst gewidmet. In der Nachfolge Kants sagt Schopenhauer, dass ästhetisches Vergnügen in der interesselosen Betrachtung der Natur oder von Kunstwerken besteht. Wenn wir ein Kunstwerk betrachten – wie zum Beispiel die Skulptur einer nackten Gestalt –, so kann sie in uns ein Verlangen wachrufen: vielleicht ein sexuelles Verlangen oder den Wunsch, in den Besitz der Statue zu gelangen. Ist dies der Fall, befinden wir uns immer noch unter dem Einfluss des Willens und nicht im Zustand der Kontemplation. Nur wenn wir etwas betrachten und seine Schönheit bewundern, ohne dabei an unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu denken, behandeln wir es als Kunstwerk und erfreuen wir uns einer ästhetischen Erfahrung. Die interesselose Kontemplation, die uns von der Tyrannei des Willens befreit, kann eine von zwei Formen annehmen, die Schopenhauer anhand der Beschreibung von zwei verschiedenen Landschaften veranschaulicht. Wenn die von mir betrachtete Landschaft meine Aufmerksamkeit mühelos auf sich zieht, wird mein Sinn für Schönheit erregt. Ist die Landschaft hingegen bedrohlich und muss ich mich durch einen inneren Kampf von Angst befreien, um einen Zustand der Kontemplation zu erreichen, so ist das, was mir begegnet, nicht etwas Schönes, sondern etwas Erhabenes. Wie Kant zeichnet Schopenhauer verschiedene Bilder, um den Sinn des Erhabenen anhand von Beispielen zu erläutern: schäumende, reißende Gewässer, die zwischen überhängenden Felsen unter einem Himmel mit schwarzen Wolken hinabstürzen; ein Sturm auf dem Meer mit gegen Klippen andrängenden, haushohen Wellen, welche ihren Schaum hoch in die von Blitzen durchzuckte Luft spritzen. In solchen Fällen, sagt er, „erreicht im unerschütterten Zuschauer dieses Auftritts die Duplizität seines Bewußtseins die höchste Deutlichkeit: Er empfindet sich zugleich als Individuum, als hinfällige Willenserscheinung, die der geringste Schlag jener Kräfte zertrümmern kann, hilflos gegen die gewaltige Natur, abhängig, dem Zufall Preis gegeben, ein verschwindendes Nichts, ungeheuren Mächten gegenüber; und dabei nun zugleich als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens, das, als Bedingung alles Objekts, der Träger eben dieser ganzen Welt ist und der furchtbare Kampf der Natur nur seine Vorstellung, es selbst in ruhiger Auffassung der Ideen, frei und fremd allem Wollen und allen Nöten. Es ist der volle Eindruck des Erhabenen.“ (WWI 205) 4

4

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 276.

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10 Ästhetik

Der auf diese Weise erzeugte Eindruck kann „das dynamische Erhabene“ genannt werden. Doch derselbe Eindruck kann durch die ruhige Betrachtung der Unendlichkeit von Raum und Zeit hervorgerufen werden, wenn wir den nächtlichen Sternenhimmel auf uns wirken lassen. Dieser Eindruck des Erhabenen (den Schopenhauer, indem er sich Kants wenig hilfreichen Ausdruck borgt, das „mathematische Erhabene“ nennt) kann auch durch riesige eingeschlossene Räume entstehen, wie etwa die Kuppel des Petersdoms in Rom, und durch Bauwerke, die sehr alt sind, wie die Pyramiden. In jedem dieser Fälle entspringt der Eindruck aus dem Gegensatz zwischen unserer Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit als Einzelwesen und der Unermesslichkeit, deren Schöpfer als reine Subjekte des Erkennens wir selbst sind. Das Erhabene ist sozusagen die obere Grenze des Schönen. Seine untere Grenze ist das, was Schopenhauer als „das Reizende“ bezeichnet. Während das Erhabene aus dem, was dem Willen feindlich ist, einen Gegenstand der Kontemplation macht, verwandelt das Reizende einen Gegenstand der Kontemplation in etwas, das den Willen anzieht. Als Beispiele hierfür nennt Schopenhauer „nackte Gestalten, deren Stellung, halbe Bekleidung und ganze Behandlungsart darauf hinzielt im Beschauer Lüsternheit zu erregen“, und – weniger überzeugend – niederländische Stillleben, die „Austern, Heringe, Seekrebse, Butterbrot, Bier, Wein u. s. w.“ darstellen. Derartige Artefakte heben die rein ästhetische Betrachtung auf und sind vollständig zu verwerfen (WWI 208). 5 In jeder Begegnung mit der Schönheit finden sich zwei Elemente: das willenlose erkennende Subjekt und ein Gegenstand, bei dem es sich um die erkannte Idee handelt. Bei der Betrachtung der Naturschönheit und von Werken der Baukunst besteht das Vergnügen hauptsächlich in der Reinheit und Schmerzlosigkeit der Erkenntnis, da die Ideen, denen wir hierbei begegnen, niedrige Manifestationen des Willens sind. Wenn wir jedoch den Menschen betrachten (zum Beispiel in einer Tragödie), so besteht das Vergnügen eher in der Kontemplation der Ideen, die vielfältig, reich und bedeutsam sind. Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen nimmt Schopenhauer eine Einteilung der schönen Künste vor. Auf der untersten Stufe steht die Architektur, die niedrigen Ideen wie Schwere, Festigkeit und Licht zum Ausdruck verhilft: „[D]ie Schönheit eines Gebäudes [liegt] in der augenfälligen Zweckmäßigkeit jedes Teiles, nicht zum äußeren willkürlichen Zweck des Menschen (insofern gehört das Werk der nützlichen Baukunst an); sondern unmittelbar zum Bestande des Ganzen, zu welchem die Stelle, Größe und Form jedes Teiles ein so notwendiges Verhältnis haben muß, daß, womöglich, wenn irgend ein Teil weggezogen würde, das Ganze einstürzen müßte. Denn nur indem jeder Teil grade soviel trägt, als er füglich kann, und jeder gestützt ist,

5

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 280.

Die Ästhetik Schopenhauers

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grade da und grade so sehr als er muß, entfaltet sich jenes Widerspiel, jener Kampf zwischen Starrheit und Schwere, welche das Leben, die Willensäußerungen des Steines ausmachen, zur vollkommensten Sichtbarkeit.“ (WWI 215) 6

Natürlich dient die Baukunst außer ästhetischen auch praktischen Zwecken, doch die Größe eines Architekten zeigt sich an der Art, auf die es ihm gelingt, rein ästhetische Ziele zu verfolgen, obwohl er sie den praktischen Anforderungen seines Auftraggebers unterordnen muss. Die darstellenden Künste haben es Schopenhauer zufolge statt mit dem Besonderen mit dem Allgemeinen zu tun. Bei Gemälden und Skulpturen von Tieren, davon ist er überzeugt, geht es um die jeweilige Art, nicht das Individuum: Die typischsten Löwen, Wölfe, Pferde, Schafe und Stiere sind stets auch die schönsten. Die Darstellung von Menschen ist hingegen komplizierter. Man irrt, wenn man annimmt, dass die Kunst Schönheit erzielt, indem sie die Natur nachahmt. Wie soll ein Künstler ein vollkommenes, nachzuahmendes Exemplar für seine Darstellung auswählen, wenn er nicht in seinem Geist, unabhängig von aller Erfahrung, über ein Muster der Schönheit verfügte? Was der Künstler versteht, ist etwas, was die Natur nur in halben Worten stammelt. Der Bildhauer drückt dem harten Marmor die Schönheit der Form auf, welche der Natur „in tausend Versuchen mißlingt“, und ruft ihr gleichsam zu: „Das war es, was du sagen wolltest!“ (WWI 222) 7 Die allgemeine Idee des Menschen muss durch den Maler oder Bildhauer in der Form eines Individuums dargestellt werden, und sie kann in Individuen verschiedener Art dargestellt werden. In einem Genre-Bild ist es unerheblich, ob „Minister über der Landkarte um Länder und Völker streiten, oder Bauern in der Schenke über Spielkarten und Würfeln sich gegenseitig ihr Recht dartun wollen“. Ebenso unwichtig ist es, ob die in einem Kunstwerk dargestellten Charaktere historisch oder fiktiv sind: Die Verbindung zu einer historischen Person gibt einem Gemälde seine nominale, nicht seine reale Bedeutung. „[J]ene [nominale Bedeutung] sei Moses, von der ägyptischen Prinzessin gefunden; ein für die Geschichte höchst wichtiger Moment: die reale Bedeutung hingegen, das der Anschauung wirklich Gegebene, ist ein Findelkind von einer vornehmen Frau aus seiner schwimmenden Wiege gerettet: ein Vorfall, der sich öfter ereignet haben mag.“ (WWI 231) 8

Aus diesem Grunde waren die Gemälde der Maler der Renaissance, die Schopenhauer am meisten bewunderte, nicht Gemälde bestimmter Ereignisse (wie etwas die Szenen 6 7 8

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 288. Ebd., 297. Ebd., 309.

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der Geburt oder der Kreuzigung Jesu), sondern stattdessen einfache Gruppen von Heiligen, die tatenlos neben dem Heiland stehen. In den Augen dieser Gestalten sehen wir den Ausdruck der vollkommenen Selbstaufhebung des Willens, welchen darzustellen der Gipfel aller Kunst ist. Schopenhauers Theorie der Kunst verbindet Elemente von Platon und Aristoteles. Er war der Überzeugung, dass der Sinn der Kunst weder in der Darstellung besonderer Individuen, noch abstrakter Ideen bestehe, sondern in der Darstellung einer platonischen Idee. Doch während Platon Kunstwerke missbilligte, weil es sich bei ihnen um Kopien von materiellen Gegenständen handelt, die selbst nichts anderes als Nachahmungen von Ideen waren, glaubt Schopenhauer, dass der Künstler der Idee näher kommt als der bloße handwerkliche Nachahmer oder Historiker. Dies gelte insbesondere für die Dichtkunst und für Dramen, die höchsten Formen der Kunst. Die Geschichte verhält sich zur Dichtkunst wie die Porträtmalerei zur Historienmalerei: Die eine gibt uns die Wahrheit im einzelnen Individuum, die andere im allgemeinen Fall. Wie Aristoteles glaubt auch Schopenhauer, dass die Dichtkunst wesentlich mehr innere Wahrheit enthält als die Geschichte. Und was Darstellungen der Geschichte betrifft, so ist er der – eher exzentrischen – Meinung, dass den größten Wert Autobiografien haben.

Kierkegaard über Musik In den Werken Kierkegaards kommen das Wort „ästhetisch“ und ihm verwandte Wörter häufig vor. Für ihn ist „das Ästhetische“ allerdings eher eine ethische als eine im gewöhnlichen Sinne ästhetische Kategorie. Der ästhetische Charakter ist jemand, der in seinem Leben nach unmittelbarem Vergnügen strebt. Die von ihm verfolgten Vergnügungen können sowohl natürlich (Essen, Trinken, sexuelle Betätigung) als auch künstlerisch sein (Malerei, Musik und Tanz). Kierkegaards Hauptinteresse bei der Erörterung der ästhetischen Lebenseinstellung (insbesondere in Entweder/Oder) besteht in der Betonung der oberflächlichen und letztlich unbefriedigenden Natur dieser Haltung und im Drängen auf eine tiefer gehende ethische und schließlich sogar religiöse Haltung dem Leben gegenüber. Doch im Rahmen einer detaillierten Darstellung des ästhetischen Lebens findet er Gelegenheit, ästhetische Fragen zu erörtern, die im engeren Sinne mit dem Wesen der Kunst zu tun haben. So enthält zum Beispiel der erste Teil von Entweder/Oder einen langen Abschnitt mit der Überschrift „Die unmittelbar-erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische“. Bei dem Essay, der vorgibt von einem leidenschaftlichen Vertreter des ästhetischen Hedonismus geschrieben worden zu sein, handelt es sich größtenteils um eine Meditation über Mozarts Oper Don Giovanni. Don Juan ist die höchste Personifikation des erotischen Verlangens und Mozarts Oper drückt es in einzigartiger Vollkommenheit aus. Die Musik, so wird uns gesagt, ist von allen Künsten diejenige, welche die reinste Sinnlichkeit am besten zum Ausdruck bringen kann. Der eher unerwartete

Kierkegaard über Musik

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Grund, der uns hierfür genannt wird, lautet, dass die Musik die abstrakteste aller Künste sei. Wie die Sprache wende sie sich an das Ohr; wie das gesprochene Wort entfalte sie sich in der Zeit, nicht im Raum. Doch während die Sprache das Medium des Geistes sei, sei die Musik das Medium der Sinnlichkeit. Kierkegaards Essayist stellt sodann eine erstaunliche Behauptung auf: Obwohl die religiösen Puritaner der Musik, da sie die Stimme der Sinnlichkeit ist, gegenüber misstrauisch sind und lieber dem Wort des Geistes lauschen, sind die Entwicklung der Musik und die Entdeckung der Sinnlichkeit in Wahrheit beide auf das Christentum zurückzuführen. Selbstverständlich war die sinnliche Liebe ein Element im Leben der Griechen, der Menschen oder Götter; doch zur Absonderung der Sinnlichkeit bedurfte es des Christentums, das sie der Spiritualität gegenüberstellte. „Denke ich mir nun das Sinnlich-Erotische als ein Prinzip, eine Kraft, ein Reich (durch den Geist soweit bestimmt, als dieser es eben verneint und ausschließt), denke ich es mir in einem Individuum konzentriert: alsdann geht mir die Idee einer sinnlich-erotischen Genialität auf. Dieses ist eine Idee, welche das Griechentum nicht besaß, welche erst das Christentum, ob auch nur in indirektem Sinne, aufgebracht hat. Fordert nun diese sinnliche, erotische Genialität in aller ihrer Unmittelbarkeit einen leibhaften Ausdruck, so fragt sich, welches Medium sich dafür eigne, wohlgemerkt so, daß jene eben in ihrer Unmittelbarkeit zum Ausdruck und zur Darstellung komme. In ihrer Mittelbarkeit nämlich und, wenn in einem andern reflektiert, fällt sie dem Dominium der Sprache anheim und unterliegt von nun an ethischen Bestimmungen. In ihrer Unmittelbarkeit kann sie nur mittels der Musik ausgedrückt werden.“ (E/O 75) 9

Kierkegaard veranschaulicht verschiedene Formen und Stadien des erotischen Strebens anhand von Charakteren aus Mozarts Opern. Das erste Erwachen der Sinnlichkeit erfolgt in einer melancholischen, diffusen Gestalt ohne spezielles Objekt: Dies ist das traumähnliche Stadium Cherubinos in Die Hochzeit des Figaro. Das zweite Stadium kommt in dem fröhlichen, kraftvollen und begeisternd zwitschernden Papageno der Zauberflöte zum Ausdruck: die Liebe auf der Suche nach einem besonderen Objekt. Doch dies sind nichts als Vorahnungen von Don Giovanni, der die umfassendste Inkarnation des Sinnlich-Erotischen ist. Balladen und Legenden stellen ihn als Individuum dar. „Wird er dagegen musikalisch aufgefaßt, dann habe ich nicht das einzelne Individuum; dann habe ich die Naturmacht, das Dämonische, was ebensowenig des Verführens müde, oder hiermit fertig wird, wie der Wind müde wird zu stürmen, das Meer zu wallen, oder ein Wasserfall, sich von seiner Höhe herabzustürzen.“ (E/O 90) 10 Da Don Giovanni nicht nach einem strategischen Plan verführt, sondern durch 9

Zitiert nach: S. Kierkegaard, Entweder/Oder, übersetzt von A. Michelsen und O. Gleiß (Leipzig: Verlag von Fr. Richter, 1885), 66. 10 Ebd., 95.

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Ein Billett für die Prager Erstaufführung von Mozarts Oper Don Giovanni, die Kierkegaard für die vollkommenste aller möglichen Opern hielt.

die schiere Energie des Verlangens, fällt er in keine ethische Kategorie – was der Grund dafür ist, dass seine Kraft allein in Musik ausgedrückt werden kann. Das Geheimnis der ganzen Oper ist, dass ihr Held diejenige Kraft ist, die alle anderen Charaktere belebt: Er ist die Sonne, die anderen Charaktere sind die Planeten, die sich halb im Dunklen befinden und nur auf der ihm zugewandten Seite erleuchtet sind. Nur der Komtur ist unabhängig, doch er befindet sich außerhalb des substanziellen Geschehens der Oper, dem er vorausgeht und folgt. Vor und nach seinem Tode ist er die Stimme des Geistes. Da die Musik in einzigartiger Weise geeignet ist, die Unmittelbarkeit des sinnlichen Verlangens auszudrücken, haben wir in Don Giovanni eine vollkommene Entsprechung von thematischem Inhalt und schöpferischer Form vor uns. Kierkegaard zufolge sind sowohl der Stoff als auch die Form für ein Kunstwerk unerlässlich, obwohl Philosophen einmal die eine und dann wieder die andere Komponente hervorheben. Deshalb würde Don Giovanni, selbst wenn es sein einziges Werk gewesen wäre, ausreichen, um Mozart zu einem klassischen Komponisten und absolut unsterblich zu machen.

Nietzsche über die Tragödie Für den jungen Nietzsche sind die besten Opern nicht diejenigen Mozarts, sondern Wagners. Der Grund hierfür ist, dass beide, sowohl Nietzsche als auch Wagner, Schopenhauer viel verdanken. 1854 schrieb Wagner an Franz Liszt, Schopenhauer sei wie

Nietzsche über die Tragödie

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ein Geschenk des Himmels in sein Leben gekommen. Sein zentraler Gedanke, die endgültige Verneinung des Willens zum Leben, sei furchtbar bedrückend, doch weise sie den einzig möglichen Weg zur Erlösung. 11 In seiner Geburt der Tragödie von 1872 gründet auch Nietzsche seine Theorie der Kunst auf Schopenhauers pessimistischer Lebensanschauung und wählt als seinen Text die Sage von der Jagd des König Midas auf den Satyr Silen. „Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellendem Lachen in diese Worte ausbricht: ‚Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.‘“ (BT 22) 12

Schopenhauer hatte seinen Lesern die Hoffnung gemacht, dass der Tyrannei des Lebens am einfachsten auf dem Weg der Kunst zu entkommen ist. Auch Nietzsche sieht den Ursprung der Kunst in dem Bedürfnis der Menschen, das Elend des Lebens dem Anblick zu entziehen. Die Griechen, so sagt uns Nietzsche, mussten, um überhaupt leben zu können, zwischen sich und die Entsetzlichkeiten des Daseins „die glänzende Traumgeburt“ (BT 22) der Götter des Olymp stellen. Es gibt zwei Arten, der Wirklichkeit zu entfliehen: durch Traum und Rausch. Nietzsche behauptet, dass in der griechischen Mythologie diese beiden Formen der Illusion durch zwei verschiedene Gottheiten symbolisiert sind: durch Apollon, den Gott des Lichts, und Dionysos, den Gott des Weines. „[D]ie Fortentwicklung der Kunst [ist] an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden“, in ähnlicher Weise, wie die Fortpflanzung an die „Zweiheit der Geschlechter“ (BT 14). 13 Der Prototyp des apollinischen Künstlers ist Homer, der Begründer der epischen Dichtung. Er ist der Schöpfer der glänzenden Traumwelt der olympischen Gottheiten. Apollon ist ein ethischer Gott, der im Interesse der Schönheit seinen Anhängern Maß und Ordnung auferlegt. Doch die apollinische Herrlichkeit wird schon bald von einer dionysischen Flut verschlugen, vom Strom des Lebens, der Schranken und Hindernisse niederreißt. Die Nachfolger des Dionysos singen und tanzen in verzückter Ekstase, kosten das Leben aus bis zum Exzess. Die Musik ist der höchste Ausdruck des dionysischen Geistes, wie die Epik derjenige des apollinischen.

11 A. Goldman, Wagner on Music and Drama (New York: Dutton, 1966). 12 Zitiert nach: F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band I, 35. 13 Ebd., 25.

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Die ganze Pracht der griechischen Kultur zeigt sich in der attischen Tragödie, und sie ist, als Kombination von Musik und Dichtkunst, das Kind des Apollon und des Dionysos. Die Chöre der griechischen Tragödie stellen die Welt des Dionysos dar, während sich der Dialog in der lichten apollinischen Welt der Bilder abspielt. Der griechische Geist fand seinen höchsten Ausdruck in den Dramen von Aischylos (besonders in der Tragödie Der gefesselte Prometheus) und Sophokles (König Ödipus). Doch mit den Stücken des dritten berühmten Tragikers, Euripides, stirbt die Tragödie von eigener Hand, vergiftet durch den Einfluss einer rationalistischen Vorgehensweise. Die Schuld hierfür muss Sokrates zugeschrieben werden, der eine neue Ära einleitete, die die Wissenschaft höher als die Kunst bewertete. Nietzsche zufolge war Sokrates der vollkommene Gegensatz zu allem, was Griechenland groß gemacht hatte. Seine Instinkte waren statt positiv und schöpferisch gänzlich negativ und kritisch. Durch seine Ablehnung des dionysischen Elements zerstörte er die „Synthese“ der Tragiker. „Man vergegenwärtige sich nur die Konsequenzen der sokratischen Sätze: ‚Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche‘ ; in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie.“ (BT 69) 14 In den Stücken des Euripides nahm die Tragödie den Todessprung in das bürgerliche Schauspiel. Der sterbende Sokrates, durch Einsicht und Vernunft von der Todesangst befreit, wurde der Mystagoge der Wissenschaft. War es im modernen Deutschland möglich, die von Sokrates ererbte Krankheit zu heilen und die Einheit von Apollon und Dionysos wiederherzustellen? Nietzsche hatte kein Verständnis von der Kunstform des Romans, von dem man im 19. Jahrhundert hätte glauben können, er sei dasjenige Genre, das die wohltuende Illusion, worin nach seiner Meinung die Funktion der Kunst bestand, am meisten fördern könne. Der Roman war für ihn eine im Wesentlichen sokratische Kunstform, die die Dichtkunst der Philosophie unterordnete. Seltsamerweise machte er seine Erfindung Platon zum Vorwurf. „Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie samt allen ihren Kindern rettete: auf einem engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich untertänig …, fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem fantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Romans.“ (BT 69) 15 Auch von der italienischen Oper hatte Nietzsche keine hohe Meinung, obwohl darin Dichtung und Musik kombiniert sind. Er beklagte, dass sie durch die Trennung von

14 Zitiert nach: F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band I, 94. 15 Ebd., 93 f.

Kunst und Moral

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Rezitativ und Arie ruiniert wurde, wodurch dem Verbalen vor dem Musikalischen der Vorzug gegeben worden sei. Allein in Deutschland gebe es Hoffnung auf die Wiedergeburt der Tragödie: „Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“ (BT 94) 16

Gegen ihr Ende läuft die Geburt der Tragödie in eine Reihe verzückter und unzusammenhängender Anmerkungen zum dritten Akt von Tristan und Isolde aus. Niemand hat ihre Schwächen kraftvoller verurteilt als Nietzsche selbst: Nachdem er sich aus dem Bann von Wagner befreit hatte, stellte er späteren Ausgaben des Buches einen „Versuch einer Selbstkritik“ voran, worin er für seinen Versuch, eine Verbindung zwischen der Geistesgröße Griechenlands und dem fiktiven „deutschen Geist“ herzustellen, Abbitte leistet. Doch die grundsätzliche These des Buches, d. h., dass die Kunst und nicht die Moral die wahrhaft metaphysische Aktivität des Menschen ist, und dass das Dasein der Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt ist, widerrief er nicht.

Kunst und Moral Für Nietzsche ist die Kunst nicht nur autonom, sondern ihre Ansprüche sind höhere als die der Moral. Nietzsches Verständnis diametral entgegengesetzt waren die Auffassungen von zwei Kunsttheoretikern des 19. Jahrhunderts, die Kunst und Moral für unauflösbar miteinander verbunden hielten. Der eine von ihnen war John Ruskin (1819–1900), der andere Leo Tolstoi (1828–1910). Ruskin hielt die Kunst für eine äußerst ernste Angelegenheit. In seiner mehrbändigen Geschichte der modernen Malerei (Modern Painters) (1843) schrieb er: „Kunst, die diesen Namen verdient, ist keine Freizeitbeschäftigung, sie kann nicht zwischendurch in freien Momenten erlernt werden oder wenn wir nichts Besseres zu tun haben. Sie ist nichts, womit man sich an den Tischen von Salons beschäftigen oder in Damenzimmern die Langeweile vertreiben könnte. Sie muss ernst aufgefasst und un-

16 Zitiert nach: F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band I, 127.

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ternommen werden, oder überhaupt nicht. Um sie voranzubringen, müssen Menschen ihr das Leben widmen, und um sie zu verstehen, ihre Herzen.“ 17

Doch die von der Kunst gestellten Anforderungen können nur durch die Ernsthaftigkeit ihres moralischen Zwecks gerechtfertigt werden, der darin besteht, fundamentale Aspekte des Universums zu offenbaren. Schönheit ist etwas Objektives, kein Produkt bloßer Gewohnheit. Die Erfahrung der Schönheit entspringt aus einer ihrem Wesen entsprechenden Wahrnehmung der Natur und führt weiter zur Auffassung des Göttlichen. Nur ein Künstler, der selbst ein moralisch guter Mensch ist, wird dazu fähig sein, uns diese Offenbarung in einer unverdorbenen Form mitzuteilen und uns die Herrlichkeit Gottes zu zeigen. Doch in einer untergehenden Gesellschaft – wie es Ruskin zufolge die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts war – ist es fast unmöglich, moralische und künstlerische Integrität zu erreichen. Sowohl die schöpferische Einbildungskraft als auch das „theoretische“ 18 Vermögen der Auffassung des Kunstwerkes sind von Grund auf verdorben. Die Arbeit wird durch die moderne Arbeitsteilung entwertet, dem Arbeiter der Status eines Perfektion anstrebenden Handwerkers genommen. Ruskin wendete seine moralisierende Theorie der Kunst besonders auf zwei Formen der Kunst an: die Malerei und die Baukunst. Malerei ist für ihn im Wesentlichen eine Form der Sprache: Rein technische Fähigkeiten entsprechen lediglich der Beherrschung der Sprache, und der Wert eines Gemäldes hängt von dem Wert der darin ausgedrückten Gedanken ab. Ruskin versuchte, diese These anhand einer genauen Untersuchung der Werke von J. M. W. Turner zu belegen. In The Seven Lamps of Architecture legte er die Kriterien dar, nach denen er die gotische Architektur derjenigen der Renaissance und des Barock für überlegen hielt. Die „Lampen“ sind vornehmlich moralische Kategorien: Opfer, Wahrheit, Macht, Gehorsam und ähnliche Begriffe. Denn die Architektur ist, seiner Definition zufolge, die Kunst, die Gebäude so anlegt und verziert, dass ihre Betrachtung zur seelischen Gesundheit, zur Kraft und zum Vergnügen des Menschen beiträgt. Und das entscheidende Element der seelischen Gesundheit war eine seinsgemäße Auffassung der Stellung des Menschen in einem göttlich geordneten Universum. Für Tolstoi kann Kunst nur gut sein, wenn sie einen moralischen Zweck verfolgt. In seiner Schrift Was ist Kunst? beschreibt er die Kosten, in Geld und harter Arbeit aufgerechnet, die die künstlerischen Projekte seiner Zeit, besonders von Opernaufführungen, verursachen. Solche Kunst, behauptete er, konnte nur das Ergebnis der massenhaften Sklavenarbeit von Menschen sein, und er fragte, ob der dafür zu zahlende, gesellschaftliche Preis gerechtfertigt werden könne. Es handle sich um eine

17 Zitiert nach: J. Ruskin, Modern Painters (London: Smith, Elder & Co, 1857), Part II, chapter III, § 24. 18 Anm. d. Übers.: Hier in der griechischen Grundbedeutung von theoria, d. h. Betrachtung.

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Kunst, die nur die Lebenseinstellung der oberen Gesellschaftsschichten anspreche, deren Horizont nicht mehr umfasse als Stolz, Sex und Langeweile. Tolstoi bestritt die Behauptungen früherer Autoren, dass das Ziel der Kunst die Schönheit sei und dass die Schönheit an dem Vergnügen erkannt werden könne, das sie bereite. Der wahre Zweck der Kunst sei die Kommunikation zwischen Menschen. Während er die romantische Idee, dass die Kunst Vergnügen bereiten muss, verwarf, stimmte er Wordsworth darin zu, dass das Wesen der Kunst in der Mitteilung von Gefühlen besteht: „Um das einfachste Beispiel zu nehmen: Ein Mann lacht, und ein anderer, der dies hört, wird fröhlich, oder ein Mann weint, und ein anderer, der es hört, empfindet Traurigkeit. Ein Mann ist aufgeregt oder gereizt, und ein anderer Mann, der ihn sieht, wird in einen ähnlichen Geisteszustand versetzt. […] Ein Mann drückt seine Gefühle der Bewunderung, Verehrung, Angst, Achtung oder Liebe für irgendwelche Dinge, Personen oder Phänomene aus, und andere werden von denselben Gefühlen der Bewunderung, Verehrung, Angst, Achtung oder Liebe für dieselben Dinge, Personen oder Phänomene angesteckt.“ (WA 66)

Die Kunst im weitesten Sinne durchdringt unser gesamtes Leben, das voll ist von Kunstwerken aller Art, von Schlafliedern, Witzen und Nachahmungen, den Verzierungen von Kleidern, Häusern und Gegenständen des täglichen Gebrauchs bis hin zu Gottesdiensten und triumphalen Prozessionen. Doch die Gefühle, die diese Kunstwerke in uns hervorrufen, können gut oder schlecht sein. Kunst ist nur dann gut, wenn die von ihr geweckten Gefühle gut sind, und diese Gefühle können nur gut sein, wenn sie von grundsätzlich religiöser Natur sind und zu einem Gefühl der allgemeinen Bruderschaft aller Menschen beitragen. Bei den von der Kunst mitzuteilenden Gefühlen muss es sich um Gefühle handeln, die von allen Menschen geteilt werden können, nicht nur von einer verwöhnten Elite. Ist dies nicht der Fall, so haben wir es entweder mit schlechter Kunst oder nur scheinbarer Kunst zu tun. Tolstoi ist bereit zu akzeptieren, dass dieses Urteil viele der am meisten bewunderten Werke der Musik und Literatur – einschließlich seiner eigenen Romane – als Kunstwerke verwirft. Er behauptete, der größte Roman des 19. Jahrhunderts sei Onkel Toms Hütte, der die Botschaft einer allgemeinen Bruderschaft über die Grenzen der verschiedenen Rassen und Klassen hinweg verkündete. Zu den von Tolstoi verurteilten Kunstwerken gehörte auch Beethovens Neunte Sinfonie. Übermittelt sie die höchsten religiösen Gefühle? Nein: Keine Musik kann das. Verbindet sie alle Menschen in einem gemeinsamen Gefühl? Nein, antwortet Tolstoi: „Ich kann mir unmöglich eine Menge normaler Menschen vorstellen, die von dieser langen, verwirrten und künstlichen Produktion mehr versteht als kurze Ausschnitte, die in einem Meer der Unverständlichkeit verloren sind.“ Es ist zwar wahr, dass der letzte Satz ein Gedicht von Schiller ist, der genau den Gedanken ausdrückt, dass es Gefühle sind, insbesondere solche der Freude, was Menschen mit-

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einander verbindet. „Doch obwohl dieses Gedicht am Ende der Sinfonie gesungen wird, passt die Musik nicht zu dem in Gedichtform ausgedrückten Gedanken, denn die Musik ist ausschließend und vereinigt nicht alle Menschen, sondern nur wenige, die sie vom Rest der Menschheit abtrennt.“ (WA 249)

Kunst um der Kunst willen Tolstois moralistische Sicht der Kunst geriet im 20. Jahrhundert schnell außer Mode. Wenn schon nicht der von Nietzsche behauptete Primat, so wurde zumindest die Autonomie der Kunst weithin akzeptiert: Ein Kunstwerk konnte ein gutes, selbst hervorragendes Werk sein, obwohl seine moralische oder politische Wirkung schädlich war. Der künstlerische Wert eines Kunstwerks sollte sogar seine moralische Fragwürdigkeit aufwiegen können, und in vielen Ländern wurden die Gesetze, die die Herstellung und Veröffentlichungen von Kunstwerken verboten, die dazu tendierten, einen „verderblichen und pervertierenden“ Einfluss auszuüben, wieder aufgehoben. Einer der einflussreichsten Kunsttheoretiker des 20. Jahrhunderts war der italienische Philosoph Benedetto Croce (1866–1952). In der Metaphysik war Croce Idealist, und zusammen mit Giovanni Gentile (1875–1944) entwickelte er ein hegelsches System, bis sich die Wege der beiden 1925 über die Frage des Faschismus trennten. Gentile wurde ein Theoretiker des Faschismus, während Croce, der in der Zeit vor und nach dem Faschismus Minister in italienischen Regierungen war, in den 1930er Jahren zu einem führenden intellektuellen Gegner Mussolinis wurde. Für Croce steht die Kunst zwischen Geschichte und Wissenschaft. Wie die Geschichte hat sie es, statt mit allgemeinen Gesetzen, mit einzelnen Fällen zu tun, doch sind ihre Einzelfälle nur erdacht, nicht wirklich, und sie veranschaulichen, wie die Wissenschaft, allgemeine Wahrheiten. Croce selbst unterschied vier verschiedene Phasen seiner ästhetischen Theorie, vom ersten Band seiner Filosofia dello Spirito aus dem Jahre 1902 bis zu seinem Werk La Poesia von 1936. Doch einige Themen treffen wir in jeder Phase seines Denkens an. Im Zentrum der Kunst steht für Croce die Intuition. Intuition ist nicht dasselbe wie Gefühl, was immer die Positivisten hierzu sagen mochten: Gefühle erfordern einen Ausdruck, und Ausdruck ist eine Sache des Verstandes, nicht bloßer Gefühle. Im Gegensatz zu den Gefühlen der Tiere ist die Kunst des Menschen etwas Spirituelles und nicht bloß Sinnliches. Andererseits haben rationalistische Kunsttheoretiker Unrecht, wenn sie behaupten, die Kunst sei etwas Intellektuelles: Sie bedient sich der Bilder, nicht der Begriffe. Auf diese Weise distanziert sich Croce von Romantikern auf der einen und Klassizisten auf der anderen Seite. Die künstlerische Intuition ist ihrem Wesen nach lyrisch. Was dies bedeutet, erklärt Croce hauptsächlich anhand von Gegensätzen. Der Kunst geht es weder um die Wahrheit (wie der Logik), noch um das Nützliche (wie der Ökonomie), noch um das

Kunst um der Kunst willen

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Gute (wie der Ethik). Sie hat ihren eigenen Gegenstand, das Schöne, der unabhängig von den drei anderen ist und mit ihnen auf einer Stufe steht. (Den Begriff des Erhabenen hielt Croce lediglich für einen Pseudobegriff.) Ein künstlerischer Ausdruck ist nur dann lyrisch, wenn es ihm ausschließlich um das Schöne geht. So gehört beispielsweise Lukrez’ Gedicht De rerum natura, das mit wissenschaftlichen und moralischen Inhalten befrachtet ist, nicht zur Lyrik, sondern lediglich zur Literatur. Echte Dichtung darf keine nützlichen, moralischen oder philosophischen Ziele verfolgen. Ansichten, die denen Croces sehr ähnlich waren, wurden in der englischsprachigen Welt von R. G. Collingwood (1889–1943) verbreitet, der Croces Artikel über Ästhetik für die 1928er Ausgabe der Encyclopaedia Britannica übersetzte. Collingwood, ein bedeutender Altphilologe und Archäologe, wurde 1936 in Oxford Waynefleet Professor für Metaphysik. Am bekanntesten ist er zwar für seine Beiträge zur Philosophie der Geschichte, einem Fach, für das er besonders qualifiziert war, doch sein Buch über die Prinzipien der Kunst (Principles of Art) (1938) war ein bedeutsamer Beitrag zur Theorie der Kunst. Ein großer Teil des Buches erklärt, was die Kunst nicht ist. Kunst ist nicht bloße Unterhaltung, obwohl Vieles von dem, was als Kunst bezeichnet wird, nichts anderes als Unterhaltung ist. Echte Kunst ist etwas anderes. Sie ist keine magische Aufführung wie ein Kriegstanz. Unter Magie, erklärt Collingwood, versteht er ein Verfahren zur Erregung von Gefühlen zu einem vorbestimmten Zweck, wie zum Beispiel vaterländische Gefühle oder glühenden proletarischen Eifer. Am allerwichtigsten ist es, Kunst von Handwerk oder technischer Fertigkeit zu unterscheiden. Die Kunst ist keine Nachahmung oder Darstellung (mimesis), denn auch das ist eine bestimmte Fähigkeit. Natürlich wird ein großes Kunstwerk auch eine handwerkliche Leistung darstellen, doch was es zu einem Kunstwerk macht, ist nicht dasselbe wie das, was es zu einer handwerklichen Leistung macht. Wenn die Kunst eine handwerkliche Fähigkeit wäre, könnten wir an ihr Mittel und Zwecke unterscheiden. Hat die Kunst hingegen einen Zweck, so kann dies nur die Erregung von Gefühlen sein, und dies ist nichts, was man getrennt von der künstlerischen Aktivität identifizieren kann, wie man einen Schuh als etwas vom Akt seiner Herstellung Verschiedenes identifizieren kann. Die Kunst sollte nicht als Aktivität der Erregung von Gefühlen, sondern als eine Aktivität angesehen werden, die dem Ausdruck von Gefühlen dient. Das wahre Kunstwerk ist eigentlich das Gefühl im Künstler selbst. Erfolgreiche Künstler erzielen ihren Erfolg in ihrer eigenen Einbildungskraft, der Ausdruck ihrer Bilder in einem öffentlichen Kunstwerk ist lediglich eine Sache handwerklichen Geschicks. Die innere Arbeit, die wahre Arbeit der Kunst, besteht darin, etwas Vorbewusstes, ein unartikuliertes Gefühl, zu einem expliziten, verständlichen Inhalt zu erheben. Im Anschluss an Croce akzeptierte Collingwood im Ausgang von dieser These, dass die Einbildungskraft und der Ausdruck ein und dasselbe sind. Die Transformation des Vorbewussten in eine verständliche Form geschieht durch die Sprache, und in diesem

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Sinne ist aller künstlerische Ausdruck, in welchem Medium er auch erfolgt, im Wesentlichen sprachlich. Collingwood behauptete: Ist Kunst der Ausdruck von Gefühlen, so verschwindet der Gegensatz zwischen Künstler und Publikum. „Drückt ein Dichter zum Beispiel eine bestimmte Form der Angst aus, sind die einzigen Menschen, die ihn verstehen können, diejenigen, die diese Form der Angst selbst erleben können. Wenn jemand daher ein Gedicht liest und es versteht, versteht er den Ausdruck des Dichters nicht nur als seinen, des Dichters, Ausdruck, sondern er drückt eigene Gefühle in den Worten des Dichters aus, die dadurch zu seinen eigenen Worten geworden sind. Um es mit Coleridge zu sagen: Wir erkennen, dass jemand ein Dichter ist, daran, dass er uns zu Dichtern macht.“ (PA 118)

Das gleiche Gefühl wird von Dichter und Leser verstanden und ausgedrückt: Der Unterschied besteht darin, dass der Dichter das Problem des Ausdrucks für sich selbst lösen kann, während der Leser den Dichter braucht, um gezeigt zu bekommen, wie dies geschehen kann. Indem wir selbst (mit oder ohne Hilfe) eine imaginäre Erfahrung machen oder in unserer Einbildungskraft einer Aktivität nachgehen, drücken wir unsere Gefühle aus; und dies ist es, was wir Kunst nennen. Croce und Collingwood unterschieden sich darin von Tolstoi, dass sie die Kunst als von der Moral verschieden und unabhängig ansahen. Doch allen drei Autoren war die Auffassung gemeinsam, dass Kunst ein Ausdruck des Gefühls ist. Die meisten Philosophen des 20. Jahrhunderts verwarfen die Ansicht Tolstois, die Funktion der Kunst bestehe in der Mitteilung von Gefühlen. So schrieb zum Beispiel Wittgenstein: „Aus Tolstoys falschem Theoretisieren, das Kunstwerk übertrage ‚ein Gefühl‘, könnte man viel lernen. – Und doch könnte man es, wenn nicht den Ausdruck eines Gefühls, einen Gefühlsausdruck benennen, oder einen gefühlten Ausdruck. Und man könnte auch sagen, daß die Menschen, die ihn verstehen, gleichermaßen zu ihm ‚schwingen‘, auf ihn antworten. Man könnte sagen: Das Kunstwerk will nicht etwas anderes übertragen, sondern sich selbst. Wie, wenn ich einen besuche, ich nicht bloß die & die Gefühle in ihm zu erzeugen wünsche, sondern vor allem ihn besuchen, & freilich auch gut aufgenommen werden will. Und schon erst recht unsinnig ist es, zu sagen, der Künstler wünsche, daß, was er beim Schreiben, der Andre beim Lesen fühlen solle. Ich kann wohl glauben, ein Gedicht (z. B.) zu verstehen, es so zu verstehen, wie sein Erzeuger es sich wünschen würde, – aber was er beim Schreiben gefühlt haben mag, das kümmert mich gar nicht.“ (CV 67) 19

19 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Eine Auswahl aus dem Nachlaß, herausgegeben von G. H. von Wright unter Mitarbeit von H. Nyman. Neubearbeitung des Textes durch A. Pichler (Frankfurt: Suhrkamp, 1994), 115 f.

Kunst um der Kunst willen

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Die Unabhängigkeit eines Kunstwerks von seinem Erzeuger wurde, in der englischsprachigen Welt und auf dem europäischen Kontinent, zu einem wichtigen Thema. Amerikanische Kritiker verwarfen jeden Versuch, dadurch zum Verständnis eines Textes zu gelangen, dass man, statt sich auf die im isolierten Text erkennbaren Merkmale zu stützen, Elemente der Biografie, Psychologie oder Motivation des Autors berücksichtigt, als „intentionalen Fehlschluss“ (intentional fallacy). In Frankreich gingen Philosophen sogar so weit, vom „Tod des Autors“ zu sprechen. Sie behaupteten, der Text sei das primäre Objekt. Der Begriff des Autors sei ein ökonomisches und juristisches Konstrukt. Was die Interpretation betreffe, so sei die Rezeption eines Textes durch Generationen von Lesern von größerer Bedeutung als irgendein Aspekt der Biografie der Person, die ihn zu Papier gebracht hatte. Die These vom Tod des Autors fand in britischen philosophischen Kreisen keine freundliche Aufnahme. Doch die Idee, dass bei der Interpretation eines Kunstwerks seinem Erzeuger kein privilegierter Status zukommt, wurde von einem Engländer im 19. Jahrhundert vorweggenommen. Der viktorianische Dichter Arthur Hugh Clough schrieb ein umstrittenes, manche meinten sogar blasphemisches Gedicht über die Auferstehung, Easter Day. In einem später verfassten Gedicht stellt er sich vor, dass man ihn nach seiner Bedeutung fragt: War es ironisch oder sarkastisch gemeint? Er antwortet: „Interpretieren kann ich es nicht. Ich habe es nur geschrieben.“

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Politische Philosophie

Utilitarismus und Liberalismus Bei der Einführung seines Prinzips des größtmöglichen Glücks ging es Bentham weniger darum, ein Kriterium für die moralischen Entscheidungen Einzelner anzugeben, als darum, Regierenden und Gesetzgebern eine Richtlinie für die politische Führung von Gemeinwesen zu geben. Doch genau in diesem Bereich, wenn es nicht nur darum geht, die Gesamtsumme des Glücks in einer Gemeinschaft zu betrachten, sondern auch seine Verteilung, lässt uns das Prinzip des größtmöglichen Glücks – wird es nicht durch andere Prinzipien ergänzt – im Stich. Es ist kein akzeptables Verfahren zur Lösung des Problems einer gerechten Verteilung. Angenommen, es sei uns – auf welchem Wege auch immer – gelungen, eine Skala zur Messung des Glücks aufzustellen: eine Skala von 0 bis 10, auf der 0 für das größte Elend, 10 für das größte Glück und 5 für einen indifferenten Zwischenzustand steht. Wir stellen uns vor, dass wir politische und rechtliche Institutionen für eine Gesellschaft einrichten und zwischen der Einführung von zwei verschiedenen Modellen wählen können. Führen wir Modell A ein, so wird das Glück von 60 Prozent der Bevölkerung einem Wert von 6 und das Glück von 40 Prozent der Bevölkerung einem Wert von 4 entsprechen. Wenn wir Modell B einführen, wird das Glück von 80 Prozent der Bevölkerung einem Wert von 10 und das Glück von 20 Prozent der Bevölkerung einem Wert von 0 entsprechen. Jeder, der zwischen diesen beiden Modellen wählen muss und dem die Menschen und ihre Gleichberechtigung nicht gleichgültig sind, wird sicherlich Modell A Modell B vorziehen. Wenn wir jedoch den Glückskalkül von Bentham in der üblichen Weise anwenden, ergibt sich für Modell A ein Gesamtglück mit dem Wert von nur 520 Punkten, während sich für Modell B ein Gesamtwert von 800 Punkten ergibt. Das Prinzip, dass wir das größtmögliche Glück der größten Zahl anstreben sollten, führt offensichtlich zu verschiedenen Ergebnissen, je nachdem, ob wir uns entscheiden, das Glück oder die Anzahl der glücklichen Menschen zu maximieren. Um zu verhindern, dass das Prinzip zu Ergebnissen führt, die grobe Verletzungen der Verteilungsgerechtigkeit darstellen, muss es zumindest durch einige Regeln, die die Grenzen der zulässigen Ungleichheit zwischen den glücklichsten und unglücklichsten Menschen und die Grenzen des Elends der Unglücklichsten betreffen, ergänzt werden. Trotz der Probleme, die dieses umfassende Prinzip aufwirft – Probleme, die Bentham an seine Nachfolger weitergab –, leistete er gewichtige Beiträge zur politischen Philosophie. In Höchstform ist er, wenn er – in den Worten von J. S. Mill – „den bloß geschäftlichen Teil gesellschaftlicher Regelungen organisiert und ordnet“.

Utilitarismus und Liberalismus

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Über solche Themen kann er sich in einem leidenschaftlichen und lebhaften Stil äußern, scharfsinnige Unterscheidungen treffen, übliche Fehlschlüsse aufdecken und in kurzen und klaren Absätzen gewichtige Argumente darlegen. Seine Behandlung der staatlich verfügten Bestrafung ist ein hervorragendes Beispiel für seine diesbezügliche Begabung. Er fragt: Worin besteht der Zweck des Strafvollzugs? „Das unmittelbare Hauptziel der Bestrafung ist die Kontrolle von Handlungen. Dies sind entweder die Handlungen des Straftäters oder anderer: Die Handlungen des Straftäters kontrolliert sie, indem sie entweder seinen Willen beeinflusst (wir sagen dann, dass sie reformierend wirkt), oder seine physische Macht (wir sagen dann, dass sie restriktiv wirkt). Die Handlungen anderer Personen kann die Bestrafung nur dadurch beeinflussen, dass sie auf ihren Willen einwirkt, in welchem Fall wir sagen, dass sie durch ein Exempel wirkt.“ (P 13. 1)

Jede Bestrafung, da sie in der Zufügung von Schmerzen besteht, ist als solche ein Übel. Sie sollte daher nur insofern zugelassen werden, als sie die Verhinderung irgendeines größeren Übels verspricht. Die Vergeltungstheorie der Strafe lehnt Bentham ab. Nach dieser Theorie verlangt die Gerechtigkeit, dass derjenige, der Schmerzen zugefügt hat, selbst Schmerzen erleiden soll. Wenn die Durchsetzung einer Strafe keine abschreckende oder bessernde Wirkung auf den Straftäter oder andere hat, ist die Strafe lediglich eine Vergeltung von Bösem mit Bösem. Sie vermehrt in diesem Fall die Summe des Übels in der Welt, ohne die Gerechtigkeit in irgendeiner Weise wiederherzustellen. Es ist zwar zutreffend, dass die Bestrafung eines Übeltäters, selbst wenn sie keine abschreckende oder bessernde Wirkung hat, einem Opfer oder der gesetzestreuen Öffentlichkeit ein Gefühl der Zufriedenheit gibt. Dieses Vergnügen muss, wie jedes andere, mit in die Waagschale des utilitaristischen Kalküls geworfen werden. Bentham ist allerdings der Auffassung, dass eine Strafe niemals zum Zweck der Rache auferlegt werden sollte, da keine durch eine Bestrafung herbeigeführte Befriedigung jemals mit einem Schmerz aufgewogen werden könne. Da der Hauptzweck der Strafe in der Abschreckung besteht, sollte eine Strafe nicht verhängt werden, wenn sie auf den Straftäter oder auf andere keine abschreckende Wirkung haben würde. Das Ausmaß der Strafe sollte auch nicht größer sein, als zur Abschreckung erforderlich ist. Bentham zufolge sollte keine Strafe verhängt werden, die unwirksam (weil sie nicht abschrecken kann) oder unnütz (weil sie mehr Schaden anrichtet, als sie verhindert) oder nicht erforderlich ist (weil sich der Schaden auf andere Weise verhindern lässt). Im 14. Kapitel seines Werkes stellt Bentham eine Reihe von Regeln auf, die das Verhältnis zwischen Straftaten und Bestrafungen festlegt, und zwar nicht auf der Grundlage des Vergeltungsprinzips „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sondern nach der Wirkung, die die Aussicht auf Bestrafung auf die Vernunft eines potenziellen

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Straftäters hat. Bentham stellt sich eine kriminelle Person vor, die eine Straftat erwägt und die die Vorzüge und Nachteile abschätzt, die sich daraus wahrscheinlich für sie ergeben werden. Er hielt es für die Aufgabe des Strafsystems, sicherzustellen, dass der Verlust den Nutzen übertrifft. Das Gesetz muss daher Strafen verhängen, die zur Abschreckung ausreichen. Die Strafen sollten jedoch andererseits nicht härter sein, als zur Abschreckung genügt. Die Bestrafung sollte, in den Worten Benthams, verhältnismäßig sein. Während Abschreckung das Hauptziel der Strafe ist, hält Bentham untergeordnete Zwecke für zulässig, wie zum Beispiel die Besserung des Straftäters oder die Einschränkung seiner Möglichkeiten. Unter den Bedingungen der meisten Gefängnisse war und ist es unwahrscheinlich, dass eine Besserung des Straftäters erreicht wird, und Bentham macht einige konkrete Vorschläge zu bestimmten erzieherischen Maßnahmen. Eine Gefängnisstrafe bewirkt eine vorübergehende Einschränkung der Freiheit des Straftäters, doch die effektivste Einschränkung der Möglichkeiten des Straftäters lässt sich offensichtlich durch die Todesstrafe erzielen. Hierzu bemerkt Bentham: „Gleichzeitig ist diese Strafe offensichtlich im höchsten Grade unverhältnismäßig, was einer der vielen Gründe gegen ihren Gebrauch in allen, mit der Ausnahme von in höchstem Maße außergewöhnlichen Fällen ist.“ (P 15. 19) Die politische Philosophie John Stuart Mills hat, wie seine Moralphilosophie, Bentham viel zu verdanken, doch auch in diesem Bereich hielt er es für seine Pflicht, den strikten Utilitarismus seines Meisters abzuschwächen. Benthams System, das die Existenz natürlicher Rechte leugnete, konnte unter bestimmten Umständen dazu verwendet werden, eine höchst autokratische Regierung und wesentliche Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen prinzipiell zu rechtfertigen. Gleiches galt für die Auffassungen der Frühsozialisten, mit denen Mill in seiner Jugend sympathisiert hatte und aus denen das positivistische System von Auguste Comte hervorgegangen war. In seinen reifen Jahren hielt Mill es für außerordentlich wichtig, den Einschränkungen der Unabhängigkeit, die gesellschaftliche Systeme – wie gut sie auch gemeint sein mochten – den Einzelnen auferlegen konnten, Grenzen zu setzen. Er beschrieb das Système de Politique Positive als eine Einrichtung, „durch die das Joch der allgemeinen Meinung in der Hand einer organisierten Körperschaft geistiger Lehrer und Machthaber zum Herrscher über jede Handlung gemacht würde, und soweit dies menschenmöglich ist, über jeden Gedanken jedes Mitglieds der Gemeinschaft“. Er warf Comte vor, „das vollständigste System des geistlichen und weltlichen Despotismus [vorzuschlagen], das jemals von einem menschlichen Hirn ersonnen wurde“. In seiner Schrift Über die Freiheit (On Liberty) bemühte er sich, ein allgemeines freiheitliches Prinzip aufzustellen, das den Einzelnen vor ungesetzlichen autoritären Eingriffen schützt, seien diese utilitaristisch, sozialistisch oder positivistisch motiviert. Mill behauptete, dass es zum Schutz der Freiheit nicht genüge, eine autokratische Monarchie durch eine einem Parlament verantwortliche, demokratische Regierung zu ersetzen, da in einer demokratischen Gesellschaft die Mehrheit die Minderheit tyrannisieren könne. Es reiche hierzu auch nicht aus, die Befugnisse der Regierung

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Benthams „Auto-Ikone“: seine in einer Wachsfigur im University College in London aufbewahrten sterblichen Überreste.

einzuschränken, da die Gesellschaft noch andere, subtilere Formen des Zwangs ausüben könne. „Es braucht auch Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens, gegen die Tyrannei der Gesellschaft, durch andere Mittel als zivile Strafen ihre eigenen Ideen und Praktiken als Lebensregeln denen aufzulegen, die eine abweichende Meinung haben, die Entwicklung in Fesseln zu schlagen, wenn möglich die Bildung jeder Individualität, die nicht mit ihrem eigenen Kurs harmoniert, zu verhindern.“ (L 130) 1

Um dem Zwang durch körperliche Gewalt oder öffentliche Meinung eine gerechte Grenze zu ziehen, müssen wir es als Grundprinzip anerkennen, dass der einzige Teil des Verhaltens eines jeden, für den er der Gesellschaft gegenüber verantwortlich ist, 1

Zitiert nach: J. S. Mill, Über die Freiheit, übersetzt von B. Lemke, herausgegeben von B. Gräfrath (Stuttgart: Reclam, 2009), 21.

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derjenige Teil ist, der andere betrifft. In dem Teil, der nur ihn selbst betrifft, sollte seine Unabhängigkeit absolut sein. Die wichtigste Anwendung dieses Prinzips betrifft die Freiheit des Denkens und die damit zusammenhängenden Freiheiten der mündlichen und schriftlichen Meinungsäußerung. Mill zufolge hat keine Obrigkeit, sei diese autokratisch oder demokratisch, das Recht, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. „Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser Einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die ganze Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte“ (L 130) 2. Der Grund hierfür ist, dass die ganze Menschheit beraubt, wer eine Meinung unterdrückt. Denn die unterdrückte Meinung kann sich, nach allem was wir wissen, als wahr herausstellen, da keiner von uns unfehlbar ist. Entspricht sie nicht vollständig der Wahrheit, kann sie dennoch einen Teil der Wahrheit enthalten, der ansonsten vernachlässigt würde. Selbst eine vollkommen falsche Meinung hat einen Wert, insofern sie eine Herausforderung der entgegengesetzten Meinung darstellt und auf diese Weise sicherstellt, dass die Wahrheit nicht nur als bloßes Vorurteil angenommen wird oder als bloß formales Bekenntnis. Freiheit der Meinung, so beendet Mill seine Ausführungen, und die Freiheit der Meinungsäußerung sind für das geistige Wohlergehen der Menschheit unerlässlich. Doch die Freiheit der Meinung ist nicht das Einzige, was erforderlich ist. Die Menschen sollten die Freiheit haben, sich ihren Meinungen entsprechend zu verhalten und sie in ihrem Leben, ungehindert durch physischen oder moralischen Zwang ihrer Mitmenschen, umzusetzen. Natürlich reicht diese Freiheit nicht so weit, dass sie das Recht, anderen zu schaden, einschließt – selbst die Freiheit der Rede muss in Umständen, in denen der Ausdruck der eigenen Meinung einer Anstiftung zu unheilvollem Verhalten gleichkommt, eingeschränkt werden. Doch der Vielfalt der Charaktere und Lebensexperimente sollte ein breiter Raum gegeben werden, vorausgesetzt sie betreffen allein die Angelegenheiten des Einzelnen oder die Angelegenheiten Anderer „mit deren freier, absichtlicher und auf ehrlichem Wege erlangten Zustimmung und Teilnahme“. Die Lebensregeln des Einzelnen sollten seinem oder ihrem eigenen Charakter entsprechen, nicht den Traditionen oder Sitten anderer Menschen. Wenn dieses Prinzip abgelehnt wird, „fehlt es an einem der hauptsächlichsten Bestandteile menschlichen Glücks, ja dem wichtigsten Bestandteil individuellen und sozialen Fortschritts“ (L 185). 3 Ohne Individualität werden Menschen zu bloßen Maschinen, die einem ihnen von außen aufgezwungenen Muster entsprechen. Doch die menschliche Natur „ist nicht eine Maschine, nach Modell gebaut und ans Werk gesetzt, um genau die vor-

2 3

Zitiert nach: J. S. Mill, Über die Freiheit, übersetzt von B. Lemke, herausgegeben von B. Gräfrath (Stuttgart: Reclam, 2009), 53. Ebd., 161.

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geschriebene Arbeit zu machen, sondern ein Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten ausbreiten will“ (L 188). 4 Wenn Exzentrizität verboten wird, wird nicht nur dem eingeschränkten Individuum ein Schaden zugefügt, sondern der Gesellschaft im Ganzen. Wir alle mögen von unkonventionellen Charakteren etwas lernen können. „Es fehlt immer an Personen, nicht nur, um neue Wahrheiten zu entdecken und aufzuzeigen, dass ehemalige Wahrheiten nun nicht mehr als solche zu gelten haben, sondern auch, um neue Bräuche einzuführen und ein Beispiel zu geben für eine aufgeklärtere Lebensführung, besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben.“ (L 193) 5 Energische und unorthodoxe Charaktere sind in einem Zeitalter, in dem die öffentliche Meinung die Welt dirigiert und die Einzelnen in der Menge untergehen, mehr als je zuvor vonnöten. Genies müssen die Freiheit haben, sich in der Praxis ebenso wie in der Theorie zu entfalten. Was genau schwebt Mill vor, wenn er „Lebensexperimente“ empfiehlt? Leider trägt er diese These nur in einer Reihe sprachgewandter Metaphern vor, statt uns konkrete Beispiele solcher wohltuenden Exzentrizität vorzuhalten. Wenn es darum geht, praktische Beispiele seiner Prinzipien anzuführen, beschränkt er sich darauf, Gesetze zu verurteilen, die die alltäglichen Aktivitäten alltäglicher Menschen einschränken, nicht Bestimmungen, die die Entwicklung von Genies behindern. Als Beispiele für – wirkliche oder hypothetische – schlechte Gesetze nennt er Gesetze, die den Verzehr von Schweinefleisch und den Genuss alkoholischer Getränke verbieten, oder Gesetze, die das Reisen am Sabbat untersagen oder Tanzveranstaltungen und Theateraufführungen einschränken. Als Mill das Recht auf ein nonkonformes Verhalten verteidigte, wird ein Beispiel, an das er dabei dachte, zweifellos seine unkonventionelle Beziehung zu Harriet Taylor in den langen Jahren vor ihrer Eheschließung gewesen sein. Seltsamerweise ist jedoch das einzige konkrete Beispiel für ein Lebensexperiment, auf das er tatsächlich eingeht, das von ihm leidenschaftlich abgelehnte Recht der Mormonen auf mehrere Ehefrauen. Dieses Experiment, gab er zu, stand in direktem Konflikt mit freiheitlichen Prinzipien, da es „die Ketten der einen Hälfte der Gesellschaft nur fester nietet, während [es] die andere Hälfte von der wechselseitigen Verpflichtung befreit“ (L 224). 6 Da jedoch die Welt die Frauen gelehrt habe, dass die Ehe das eine sei, was sie in ihrem Leben wirklich brauchten, hielt er es für verständlich, dass es manche Frau vorziehen sollte, eine von mehreren Ehefrauen statt gar nicht verheiratet zu sein. Mill empfahl nicht die Polygamie, sondern drängte lediglich darauf, dass man die Mormonen nicht zwingen sollte, sie aufzugeben, und es muss fairerweise gesagt werden, dass er gegen

4 5 6

Zitiert nach: J. S. Mill, Über die Freiheit, übersetzt von B. Lemke, herausgegeben von B. Gräfrath (Stuttgart: Reclam, 2009), 169. Ebd., 183. Ebd., 261.

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die englische Monogamie seiner Zeit eine ebenso große Abneigung empfand wie gegen die Institutionen von Salt Lake City. Anlässlich seiner eigenen Eheschließung im Jahre 1851 verfasste er einen Protest gegen die Gesetze, die einer Partei des Vertrages vollständige Kontrolle über die Person und das Eigentum der anderen übertrug. „Da es mir nicht möglich ist, auf rechtlichem Wege auf diese abstoßenden Befugnissen zu verzichten […] halte ich es für meine Pflicht, gegen die existierenden Ehegesetze einen formalen Protest zu Protokoll zu geben, was die Übertragung solcher Befugnisse betrifft, und feierlich zu versprechen, zu keiner Zeit und unter keinen Umständen davon Gebrauch zu machen.“ (CCM 396) Seine Einwände gegen die englischen Ehegesetze legte er in seiner Kampfschrift Die Hörigkeit der Frau (On the Subjection of Women) ausführlich dar. Die rechtliche Unterordnung des einen Geschlechts unter das andere war prinzipiell verwerflich und ein Haupthindernis für den menschlichen Fortschritt. Eine Frau war nichts anderes als eine leibeigene Dienerin ihres Mannes. Sie war ihm zu lebenslangem Gehorsam verpflichtet, und jegliches von ihr erworbene Eigentum ging augenblicklich auf ihn über. In mancher Beziehung war ihre Situation schlechter als die eines Sklaven. In einem christlichen Land hatte eine Sklavin das Recht und die Pflicht, sexuelle Annäherungen ihres Herrn zurückzuweisen. Ein Ehemann hatte jedoch das Recht, seiner Frau „die größte Erniedrigung eines menschlichen Wesens [aufzuzwingen], d. h. sie gegen ihren Willen zu einem Instrument einer tierischen Funktion zu machen“ (L 504). Die Unterwerfung der Frauen unter die Männer hatte keinen anderen Ursprung als die größere Muskelkraft der Männer, und sie wurde nur aufgrund des männlichen Selbstinteresses bis in ein zivilisiertes Zeitalter fortgesetzt. Niemand konnte behaupten, die Erfahrung habe gezeigt, dass das bestehende System der männlichen Vorherrschaft irgendeiner Alternative vorzuziehen sei; denn keine andere Alternative war jemals ausprobiert worden. Die Frauen waren durch Jahrhunderte der Erziehung von frühester Jugend an dazu gebracht worden, dieses System stillschweigend zu erdulden. „Bedenkt man drei Dinge: erstens, die natürliche Anziehung zwischen den beiden Geschlechtern; zweitens, die völlige Abhängigkeit der Frau vom Mann, sodass jedes Privileg, jede Freude, die sie erfährt, entweder sein Geschenk oder vollkommen von seinem Willen abhängig ist; und drittens, dass die Hauptgegenstände menschlicher Wünsche und menschlicher Überlegung sowie sämtliche Gegenstände gesellschaftlichen Strebens für die Frau im Allgemeinen nur durch den Mann zu erreichen sind –, so käme es tatsächlich einem Wunder gleich, wäre das Ziel, für Männer attraktiv zu sein, nicht zum Leitstern der weiblichen Erziehung und Charakterbildung geworden.“ (L 487)

Wenn Frauen ihre Hörigkeit abwerfen wollten, sei die Rebellion gegen ihre Herren schwerer, als jeder Aufstand gegen Despoten es je gewesen ist. Männer haben mehr Möglichkeiten, als irgendeinem Monarchen je zur Verfügung standen, um eine Er-

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Ein Punch7-Cartoon mit einer satirischen Darstellung von Mills Kreuzzug für die Gleichheit der Geschlechter. Der Text unter dem Cartoon lautet: Mills Logik; oder Wahlrecht für Frauen. „Platz da bitte für diese Personen.“

hebung gegen ihre Macht zu verhindern: Ihre Untertanen leben vor ihren Augen und – im wahrsten Sinne des Wortes – in ihren Händen. Es sei kein Wunder, dass die Tyrannei der Männer alle anderen Formen ungerechter Herrschaft überlebt habe.

Kierkegaard und Schopenhauer über Frauen Welche Bedeutung die Schrift Die Hörigkeit der Frau im gesellschaftlichen Klima der damaligen Zeit hatte, lässt sich zeigen, indem man sie mit der Behandlung der Ehe und des Frauseins in den Werken von zwei kontinentalen Philosophen, Kierkegaard und Schopenhauer, vergleicht. Neunzig Seiten von Kierkegaards Entweder/Oder sind 7

Anm. d. Übers.: Eine 1841 von H. Mayhew und E. Landells begründete satirische Zeitschrift.

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einer Bejahung „der ästhetischen Gültigkeit der Ehe“ gewidmet – d. h. dem Bemühen, den Leser davon zu überzeugen, dass der Eintritt in die Ehe nicht die Schwächung der Verzückungen der ersten Liebe bedeuten muss, sondern sie sogar noch verstärken kann. Romantische Balladen und Romane haben Unrecht, wenn sie die Liebe als ein Streben darstellen, das Hindernisse und Versuchungen überwindet, um ihr Ziel in der Ehe zu erreichen: Eine Hochzeit ist der Beginn, nicht das Ende einer wahrhaft romantischen Liebe. Der Essay hat die Form eines Briefes an einen romantischen Briefpartner, der grundsätzliche Bedenken gegen die Vorstellung einer kirchlichen Eheschließung hat. Kierkegaard legt ihm die folgenden Worte in den Mund: [D]iese Jungfrau, vor der ich anbetend niedersinken könnte, sie, deren Liebe – ich fühle es im tiefsten Herzen – mich aus dem ganzen Labyrinth des Lebens herausreißen und mich von neuem gebären könnte, sie soll ich zum Altar des Herrn hinaufführen, sie soll als eine Sünderin dastehen, und es soll von ihr und zu ihr gesagt werden, daß es Eva war, die Adam verführte. Sie, vor der meine stolze Seele sich beugt, soll es hören, daß ich ihr Herr sei und daß sie ihrem Manne unterthan sein müsse! Der Augenblick ist gekommen, schon streckt die Kirche ihre Arme nach ihr aus, und ehe ich sie aus ihren Händen zurückerhalte, will sie einen Brautkuß auf ihre Lippen drücken, nicht den Kuß, für den ich die Schätze der ganzen Welt geben würde; schon streckt sie ihre Arme nach ihr aus, um sie zu umarmen; aber durch diese Umarmung verwelkt all ihre Schönheit, und dann will sie sie mir hinwerfen und mir sagen: Seid fruchtbar und mehret euch. Was ist das für eine Macht, die sich zwischen mich und meine Braut zu drängen wagt, sie, die ich selber gewählt habe, und die mich gewählt hat? Und diese Macht will ihr befehlen, mir treu zu bleiben bis an den Tod? Bedarf sie denn eines solchen Befehls? Und wenn sie mir nur treu bliebe, weil eine dritte Macht, die sie in der Stunde mehr liebte als mich, es ihr befahl? Und sie befiehlt mir, ihr treu zu bleiben! Braucht man mir das zu befehlen, mir, der ich ihr von ganzer Seele angehöre? Und diese Macht bestimmt unser Verhältnis zueinander, sie sagt, ich solle befehlen und sie solle gehorchen; aber wenn ich nun nicht befehlen will, wenn ich mich dazu zu arm und niedrig fühle?“ (E/O 408) 8

Der Richter Vilhelm, dem Kierkegaard die Rolle des Verteidigers der traditionellen Ehe gibt, drängt seinen Briefpartner anzuerkennen, dass er in der Ehe der Herr sein muss, dass seine Frau nicht mehr Sünderin ist als jede andere Frau und dass die Anerkennung einer dritten Macht nur bedeutet, dass man Gott für die Liebe zwischen Braut und Bräutigam dankt. Bei der Hochzeit beginnt der Mann zu verstehen, dass echte Liebe darin besteht, sich alle Tage ein ganzes Leben lang anzugehören, und nicht in der außergewöhnlichen Kraft einer flüchtigen Verliebtheit; und dass er seine Braut, statt sie am Ende seiner Eroberung in Besitz zu nehmen, als eine Gabe aus Gottes 8

Zitiert nach: S. Kierkegaard, Entweder/Oder, übersetzt von A. Michelsen und O. Gleiß (Leipzig, Verlag von Fr. Richter, 1885), 381.

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Hand empfängt. Dies ermögliche seiner Frau, „den Geliebten auf genug Distanz zu halten, daß sie Luft holen kann“ (E/O 411). Vilhelm erklärt mit Nachdruck, dass der einzig würdige Grund für eine Heirat die Liebe zum Ehepartner ist. Er führt andere Gründe an, aus denen Menschen heiraten oder zur Heirat gedrängt werden: weil die Ehe eine Schule für den Charakter ist, weil man eine Pflicht zur Fortpflanzung der Menschheit hat, weil man ein Zuhause braucht. Keines dieser Motive ist ein angemessenes Motiv, weder aus ästhetischer, noch aus ethischer Sicht. Er behauptet: Würde eine Frau heiraten, um der Welt einen Erlöser zu gebären, so wäre diese Ehe in gleicher Weise unästhetisch, unmoralisch und irreligiös (E/O 417). Liebe ist das Einzige, was das Sinnliche und Geistige zu einer Einheit verbindet. Es ist zwar wahr, dass die Ehe, im Gegensatz zur romantischen Liebe, Pflichten mit sich bringt. Doch Pflicht ist nicht der Feind der Liebe, sondern ihr Freund. In der Ehe „gibt es nur eine Pflicht: die Pflicht wahrhaft zu lieben, mit der Ehrlichkeit des Herzens. Und die Pflicht ist so vielgestaltig wie die Liebe selbst; sie erklärt alles für heilig und gut, wenn es um der Liebe willen geschieht, und verurteilt alles, wie angenehm und auf den ersten Blick betörend es auch sei, wenn es nicht um der Liebe willen geschieht“ (E/O 470). Wenn Die Hörigkeit der Frau ein Klassiker des Feminismus ist, und Richter Vilhelms Beitrag zu Entweder/Oder eine klassische Verteidigung der traditionellen Ehe, ist Schopenhauers Essay Über die Weiber ein Klassiker des männlichen Chauvinismus. Er beginnt mit der Behauptung, die Frau sei von der Natur dazu bestimmt, Kinder zu gebären, für sie zu sorgen und sich einem Mann zu unterwerfen, dem sie eine geduldige und aufheiternde Gefährtin sein solle. Als Pflegerinnen und Erzieherinnen der Kinder sind Frauen Schopenhauer zufolge besser geeignet als Männer, da sie selbst große Kinder sind: Sie leben in der Gegenwart und sind geistig kurzsichtig. Die Natur habe sie mit genügend Schönheit ausgestattet, damit ein Mann verleitet werden könne, sie zu unterstützen, diese Schönheit ihnen jedoch in weiser Voraussicht wieder genommen, nachdem sie ein oder zwei Kinder zur Welt gebracht haben, damit sie nicht von ihren Aufgaben als Mutter abgelenkt würden. Als Grundfehler des weiblichen Charakters meint Schopenhauer einen Mangel an Gerechtigkeitsempfinden erkennen zu können. Als das schwächere Geschlecht seien Frauen von Natur auf List angewiesen. „Denn wie den Löwen mit Klauen und Gebiß, den Elephanten mit Stoßzähnen, den Eber mit Hauern, den Stier mit Hörnern und die Sepia mit der wassertrübenden Tinte, so hat die Natur das Weib mit Verstellungskunst ausgerüstet, zu seinem Schutze und [seiner] Wehr“ (EA 83). 9 Frauen hielten sich für berechtigt, einzelne Männer zu hintergehen, da ihre Loyalität in erster Linie ihrer Gattung und nicht Einzelnen gelte, da die Fortpflanzung ihrer Art ihre ganze Berufung sei. 9

Zitiert nach: A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, herausgegeben von L. Lütkehaus (Zürich: Haffmans Verlag, 1988), 530.

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Frauen seien den Männern nicht nur hinsichtlich der Kraft ihrer Vernunft, sondern auch in Bezug auf die Produktion und den Genuss von Kunst unterlegen. Es ist nicht nur so, dass sie im Theater oder bei Konzerten schwatzen (was Schopenhauer offensichtlich höchst ärgerlich fand), sondern es fehlt ihnen an jeglicher kreativer Begabung. „Die eminentesten Köpfe des ganzen Geschlechts [haben] es nie zu einer einzigen wirklich großen, echten und originellen Leistung in den schönen Künsten […] bringen, überhaupt nie irgendein Werk von bleibendem Wert […] in die Welt setzen können: Dies ist am auffallendsten in Betracht der Malerei, da deren Technisches ihnen wenigstens ebenso gut angemessen ist, wie uns, daher sie solche auch fleißig betreiben, jedoch keine einzige große Malerei aufzuweisen haben.“ (EA 86) 10

Die schlimmste Art von Frau ist die Dame, die auf einen Sockel erhobene Frau, die von Männern mit Galanterie umworben und zu arroganter Überheblichkeit erzogen werde. Die europäische Dame sei ein unnatürliches Wesen, über das man in ganz Asien lache, und schon durch ihre bloße Existenz mache sie die große Mehrzahl ihres eigenen Geschlechts zutiefst unglücklich. Die Gesetzgeber hätten einen großen Fehler begangen, meinte Schopenhauer, als sie Frauen die gleichen Rechte wie Männern gaben, ohne sie gleichzeitig mit der männlichen Kraft der Vernunft auszustatten. Unter gleichen Rechten versteht Schopenhauer nichts so Unerhörtes wie Eigentumsrechte oder das Wahlrecht. Er bezieht sich vielmehr allein auf die Institution der Monogamie, die es den Angehörigen beider Geschlechter erlaubt, einen und nur einen Partner zu heiraten. Die Polygamie sei jedoch die wesentlich bessere Einrichtung: Sie stelle sicher, dass jede Frau versorgt sei, während in einer monogamen Gesellschaft viele Frauen ohne Unterstützung seien, entweder als alte Jungfern oder zu schwerer körperlicher Arbeit oder einem Leben als Prostituierte gezwungen. „In London allein gibt es deren 80,000. Was sind denn diese Anderes als […] Menschenopfer auf dem Altar der Monogamie?“ Polygamie sei für das weibliche Geschlecht, als Ganzes betrachtet, eine Wohltat und regele die Befriedigung des männlichen Geschlechtstriebs. „Wo gibt es denn wirkliche Monogamisten? Wir alle leben, wenigstens eine Zeit lang, meistens aber immer, in Polygamie.“ Da jeder Mann mehrere Frauen brauche, gebe es nichts Gerechteres, dass es ihm freistehe, ja dass er verpflichtet sein sollte, mehrere Frauen zu unterstützen. Wir können dankbar sein, dass die nachfolgenden Generationen Mill folgten und nicht Schopenhauer. Tatsächlich ist die Schrift Die Hörigkeit der Frau als Ergebnis ihres Erfolgs mittlerweile veraltet. Der Kampf, in dem sie als eine frühe Salve abge10 Zitiert nach, A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II,2, nach dem Text der von A. Hübscher besorgten historisch-kritischen Ausgabe herausgegeben von A. Hübscher, redigiert von C. Schmölders, F. Senns und G. Haffmans (Zürich: Diogenes Verlag, 1977), 674.

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feuert wurde, ist seit Langem gewonnen, zumindest in den Ländern, für die Mill geschrieben hat. Die von Mill angeprangerten Ehegesetze wurden schon vor langer Zeit aufgehoben, und in allen rechtlichen Angelegenheiten werden Frauen jetzt in jeder Hinsicht als Männern gleichberechtigt behandelt. Man muss allerdings zugeben, dass die grausame Gefangenschaft, die die viktorianischen Ehegesetze der Frau auferlegten, durch die Erzählungen und Dialoge von Romanautoren wie Eliot und Trollope dem Leser wesentlich näher gebracht werden als durch den schwerfälligen Ernst von Mills endlosen Sätzen. Im Gegensatz dazu sind die von Mill in der Schrift Über die Freiheit erörterten Themen nach wie vor höchst relevant, obwohl gegenwärtige Liberale sich häufig von Mill unterscheiden, wenn es um die Grenzziehung zwischen solchen staatlichen Eingriffen in die Freiheit des Einzelnen geht, die gerechtfertigt, und solchen, die ungerechtfertigt sind. Die meisten Liberalen akzeptieren Gesetzespakete, deren Zweck darin besteht, das Wohlergehen des Einzelnen zu fördern, statt andere vor Nachteilen zu schützen: zum Beispiel Gesetze, die es vorschreiben, sich zu versichern oder Schutzhelme zu tragen. Rechtfertigt ein moderner Liberaler dies damit, dass so verhindert werden soll, dass Einzelne der Gesellschaft zur Last fallen, statt zu erklären, dass diese Bestimmungen die Gesundheit und das Wohlergehen der Einzelnen zum Ziel haben, sollte allerdings auf Folgendes hingewiesen werden: Die Möglichkeit, dass die Armen und Kranken eine Bürde darstellen, setzt ein auf Kosten des Steuerzahlers unterhaltenes soziales Netz voraus – eine Einrichtung, für die sich Mill ganz und gar nicht begeistern konnte. Andererseits billigte Mill Einschränkungen der Freiheit, die die meisten modernen Liberalen ablehnen würden. Er war zum Beispiel davon überzeugt, dass eine Regierung das Recht habe, die Größe von Familien zu beschränken, und er brachte diese Ansicht mit seinem liberalen Grundprinzip auf folgende Weise in Einklang: „In einem schon überbevölkerten oder mit Überbevölkerung bedrohten Lande mehr als eine sehr kleine Zahl von Kindern zu zeugen, wodurch bewirkt wird, dass durch erhöhten Wettbewerb der Arbeitslohn sinkt, ist ein ernstes Vergehen gegen alle, die von ihrem Arbeitslohn leben.“ 11 Viele Liberale teilen Mills lebenslange Begeisterung für die Geburtenkontrolle durch Verhütungsmittel (eine Sache, für die er sogar bereit war, kurzzeitig ins Gefängnis zu gehen). Als in China jedoch Gesetze erlassen wurden, durch die die Kinderzahl einer Familie auf ein Kind begrenzt wurde, reagierten die meisten westlichen Liberalen mit Entsetzen.

11 Zitiert nach: J. S. Mill, Über die Freiheit, übersetzt von B. Lemke, herausgegeben von B. Gräfrath (Stuttgart: Reclam, 2009), 307.

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Marx über Kapital und Arbeit Zur selben Zeit, zu der Mill Klassiker des liberalen Denkens schrieb, entwickelte Karl Marx in derselben Stadt die Theorie des Kommunismus, der für mehr als hundert Jahre einer der erbittertsten Gegner des Liberalismus sein sollte. Die Grundlage dieser Theorie war der historische Materialismus: die These, dass die vorherrschende ökonomische Produktion und der Handel einer Geschichtsepoche die politische und intellektuelle Geschichte ihrer Gesellschaft bestimmen. Im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie heißt es: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (CPE x) 12 Es gibt zwei Faktoren, die den Gang der Geschichte bestimmen: die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse. Unter Produktivkräften versteht Marx die Rohstoffe, die Technik und die Arbeitskraft, die zur Herstellung eines Endprodukts erforderlich sind. Zur Produktion von Mehl sind Weizen, eine Mühle und jemand, der in der Mühle arbeitet, erforderlich. Die Produktionsverhältnisse sind hingegen die ökonomischen Verhältnisse, die diese Kräfte bestimmen, wie zum Beispiel die Besitzverhältnisse der Mühle und die Anstellung des Arbeiters. Die Produktionsverhältnisse sind nicht statisch. Sie ändern sich mit der Entwicklung der Technik. Im Zeitalter der Handmühle ist der Arbeiter der Leibeigene des Feudalherrn, und er hat nicht die Freiheit, ihn zu verlassen. Im Zeitalter der dampfgetriebenen Mühle ist er der mobile Angestellte des Kapitalisten. Die Produktionsverhältnisse sind vom Willen des Einzelnen unabhängig, sie entsprechen einer bestimmten Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft. Geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen in Widerspruch, so kommt es zu einer Epoche sozialer Revolution. Marx unterteilte die vergangene, gegenwärtige und künftige Geschichte der Produktionsverhältnisse in sechs Phasen: drei vergangene, eine gegenwärtige und zwei künftige. Die vergangenen Phasen entsprachen dem Urkommunismus, der Sklavenhaltergesellschaft und dem Feudalismus. Die gegenwärtige, kritische Phase war die des Kapitalismus. An den unabwendbaren Zusammenbruch des Kapitalismus würde sich eine Phase des Sozialismus und an diesen erneut ein Kommunismus anschließen. In Anschluss an Engels glaubte Marx, dass die Menschen in der frühesten Phase ihrer Geschichte in einfachen kommunistischen Sippen organisiert waren, die sich den Grundbesitz teilten, kein Privateigentum hatten und von einem Matriarchat regiert wurden. In der Eisenzeit wurde die Gesellschaft patriarchalisch. Es wurde möglich, persönlichen Wohlstand anzuhäufen, und es kam zur Einführung der Sklaverei, 12 Zitiert nach: K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (Berlin: Franz Duncker Verlag, 1859), 8 f.

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die das dominante ökonomische Merkmal der klassischen Antike war. Die Gesellschaft zerfiel in Klassen: in Patrizier und Plebejer, Freie und Sklaven. Auf diese Weise kam es zur Entstehung von Klassengegensätzen, die fortan das grundlegende Merkmal der menschlichen Geschichte waren. Der Glanz der klassischen Kultur Griechenlands und Roms war lediglich ein ideologischer Überbau, der sich über den Produktionsverhältnissen der Klassen erhob. Die antike Welt wich dem Feudalsystem, das durch die Beziehung zwischen Herren und Leibeigenen sowie zwischen Zunftangehörigen und wandernden Gesellen gekennzeichnet war. Auch im Mittelalter waren die Philosophie und Religion ein ideologischer Überbau, der durch das ökonomische System des Zeitalters aufrechterhalten wurde. Aus den Leibeigenen des Mittelalters wurden die Bürger der frühen Städte mit ihren verbrieften Freiheiten: Sie waren die ersten Besitzbürger, eine Mittelklasse zwischen den versklavten Arbeitern und den aristokratischen Landbesitzern. Seit der Zeit der Französischen Revolution hatte die Bourgeoisie den Aristokraten gegenüber immer mehr die Oberhand gewonnen. „Die aus dem Untergange der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große einander direkt gegenüberstehende Klassen – Bourgeoisie und Proletariat.“ (CM 3) 13

Marx glaubte, dass die kapitalistische Gesellschaft seiner Zeit einen Krisenzustand erreicht hatte. Der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat würde sich zunehmend verstärken und zu revolutionären Veränderungen führen, die die Endstadien der Geschichte herbeiführen würden: zunächst den Sozialismus, in dem sämtliches Eigentum in den Besitz des Staates übergehen würde, und schließlich – nachdem der Staat abgestorben sein würde – den Kommunismus. Marx behauptete, dass die Krise, in der sich der Kapitalismus befand, keine zufällige geschichtliche Tatsache sei: Sie gehöre zum Wesen des Kapitalismus selbst. Er gründete diese Schlussfolgerung auf eine Analyse der Natur des ökonomischen Werts. Wie wird der Wert von Waren berechnet? In einem ersten Schritt können wir sagen, dass der Wert eines Dinges der Rate entspricht, zu der es mit anderen Waren getauscht werden kann. Ein Viertelzentner Weizen mag ebenso viel Eisen wert sein usw. Doch der wahre Wert einer Sache muss von den zahlreichen unterschiedlichen Raten, zu denen sie mit zahllosen anderen Waren umgetauscht werden kann, ver13 Zitiert nach: K. Marx und F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei (Stuttgart: Reclam, 1972), 24.

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schieden sein. Wir benötigen eine Methode, mit der sich der Wert von Waren angeben lässt, der allen verschiedenen besonderen Tauschraten zwischen ihnen gemeinsam ist, und doch von ihnen verschieden. „Da die Tauschwerte der Waren nur gesellschaftliche Funktionen dieser Dinge sind und gar nichts zu tun haben mit ihren natürlichen Qualitäten, so fragt es sich zunächst: Was ist die gemeinsame gesellschaftliche Substanz aller Waren? Es ist die Arbeit. Um eine Ware zu produzieren, muß eine bestimmte Menge Arbeit auf sie verwendet oder in ihr aufgearbeitet werden. Dabei sage ich nicht bloß Arbeit, sondern gesellschaftliche Arbeit. Wer einen Artikel für seinen eignen unmittelbaren Gebrauch produziert, um ihn selbst zu konsumieren, schafft zwar ein Produkt, aber keine Ware. Als selbstwirtschaftender Produzent hat er nichts mit der Gesellschaft zu tun. Aber um eine Ware zu produzieren, muß der von ihm produzierte Artikel nicht nur irgendein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen, sondern seine Arbeit selbst muß [ein] Bestandteil und Bruchteil der von der Gesellschaft verausgabten Gesamtarbeitssumme bilden. Seine Arbeit muß unter die Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft subsumiert sein.“ (VPP 30) 14

Um den Wert einer Ware zu bestimmen, sollten wir sie als ein Stück kristallisierter Arbeit ansehen. Doch wie bemisst sich der Wert der Arbeit selbst? Nach der Dauer der Arbeitszeit. Ein seidenes Taschentuch ist wertvoller als ein Ziegelstein, weil seine Herstellung länger dauert als die eines Ziegelsteins. Marx formuliert seine Theorie in folgenden Worten: „[D]er Wert einer Ware verhält sich zum Wert einer anderen Ware wie das Quantum der in der einen Ware dargestellten Arbeit zu dem Quantum der in der anderen Ware dargestellten Arbeit.“ (VPP 31) 15 Diese einfache Gleichung muss unter zwei Vorbehalte gestellt werden. Ein fauler oder ungeschickter Arbeiter braucht für die Herstellung einer Ware länger als ein fleißiger und geschickter: Bedeutet dies, dass seine Ware einen höheren Wert hat? Natürlich nicht: Wenn wir von der Menge der in einer Ware enthaltenen Arbeit reden, so meinen wir die Durchschnittszeit, die ein Arbeiter mit durchschnittlicher Arbeitsintensität bei durchschnittlichem Geschick zu ihrer Herstellung benötigt. Außerdem müssen wir in die Gleichung die Arbeit aufnehmen, die früher in den Rohstoff der Ware sowie in die zur Herstellung verwendeten Maschinen und Werkzeuge investiert wurde. „Zum Beispiel ist der Wert einer bestimmten Menge Baumwollgarn die Kristallisation des Arbeitsquantums, das der Baumwolle während des Spinnprozesses zugesetzt worden, des Arbeitsquantums, das früher in der Baumwolle selbst vergegenständlicht

14 Zitiert nach: K. Marx, Lohn, Preis und Profit, in: K. Marx und F. Engels: Ausgewählte Werke (Berlin: Dietz Verlag, 1987), Band III, 93. 15 Ebd., 94.

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worden, des Arbeitsquantums, vergegenständlicht in Kohle, Öl und andern verbrauchten Hilfsstoffen, des Arbeitsquantums, dargestellt in der Dampfmaschine, den Spindeln, den Fabrikgebäuden usw. (VPP 32) 16

Natürlich wird nur ein Teil des Wertes der Spindel auf den Wert einer bestimmten Menge Garn übertragen: Der genaue Anteil wird von der durchschnittlichen Lebensdauer einer Spindel abhängen. Der Wert, den eine Ware zu einer bestimmten Zeit hat, wird von der zu der jeweiligen Zeit vorherrschenden Produktivität abhängig sein. Führt eine Zunahme der Bevölkerung dazu, dass Boden, der weniger fruchtbar ist, kultiviert werden muss, steigt der Wert von landwirtschaftlichen Produkten, da zu ihrer Herstellung mehr Arbeit erforderlich ist. Als es andererseits durch die Einführung des Dampfwebstuhls nur noch halb so aufwendig war, eine bestimmte Menge Garn herzustellen, sank der Garnpreis entsprechend. Wird der Wert in Geld ausgedrückt, sprechen wir von einem Preis. Da die Arbeit selbst einen Preis hat, muss auch sie einen Wert haben. Doch wie ist dieser zu definieren? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir beachten, dass dasjenige, was der Arbeiter seinem Lohnherrn verkauft, nicht seine tatsächliche Arbeit ist, sondern seine Arbeitskraft. Erhält er für eine 60-Stunden-Woche 10 Pfund, verkauft er für 10 Pfund seine Arbeitskraft für 60 Stunden. Doch wie ist der Wert der Arbeitskraft selbst zu ermitteln? „Wie der jeder andern Ware ist der Wert [der Arbeitskraft] bestimmt durch das zu ihrer Produktion notwendige Arbeitsquantum. Die Arbeitskraft eines Menschen existiert nur in seiner lebendigen Leiblichkeit. Eine gewisse Menge Lebensmittel muß ein Mensch konsumieren, um aufzuwachsen und sich am Leben zu erhalten. Der Mensch unterliegt jedoch, wie die Maschine, der Abnutzung und muß durch einen andern Menschen ersetzt werden. Außer der zu seiner eignen Erhaltung erheischten Lebensmittel bedarf er einer andern Lebensmittelmenge, um eine gewisse Zahl Kinder aufzuziehen, die ihn auf dem Arbeitsmarkt zu ersetzen und das Geschlecht der Arbeiter zu verewigen haben.“ (VPP 39) 17

Hieraus folgt, dass sich der Wert der Arbeitskraft aus den Kosten für die Lebensmittel ergibt, die benötigt werden, um das Leben und Wohlergehen des Arbeiters zu sichern und ihm die Möglichkeit zu geben, sich fortzupflanzen. Um zu zeigen, dass der Kapitalist den Arbeiter ausbeutet, lenkt Marx die Aufmerksamkeit seiner Leser auf einen dem weiter oben beschriebenen ähnlichen Fall. Angenommen, es kostet 20 Stunden Arbeit, um die Mittel für den einwöchigen Le16 Zitiert nach: K. Marx, Lohn, Preis und Profit, in: K. Marx und F. Engels: Ausgewählte Werke (Berlin: Dietz Verlag, 1987), Band III, 95. 17 Ebd., 102 f.

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bensunterhalt des Arbeiters zu produzieren. Er würde in diesem Falle, indem er 20 Stunden arbeitet, einen Wert erzeugen, der für seine Subsistenz ausreicht. Er verkauft seine Arbeitskraft jedoch für 60 Stunden. Er arbeitet demnach über die 20 zum Ersatz seines Arbeitslohns notwendigen Stunden hinaus 40 weitere Stunden. Marx bezeichnet diese Stunden als Stunden der Mehrarbeit und das Produkt dieser Arbeitsstunden als Mehrwert. Es ist dieser Mehrwert, der den Profit des Kapitalisten erzeugt. Der Profit entspricht dem Unterschied zwischen dem Wert des Produkts (sechs Tage Arbeit) und dem Wert der Tätigkeit des Arbeiters (zwei Tage Arbeit). Dies sei so, erklärt Marx, als arbeite er zwei Tage die Woche für sich selbst und vier Tage unbezahlt für den Lohnherrn. In dem Maße, in dem sich die Technologie weiterentwickelt und mit ihr die Produktivität, nimmt auch der Mehrwert zu, und derjenige Anteil der Tätigkeit des Arbeiters, den er in Form des Lohns zurückerhält, wird zunehmend kleiner. Der Mehrwert der Produktionsmenge der Fabrik wird zwischen dem Vermieter, der Miete erhält, dem Bankier, der Zinsen bekommt, und dem Unternehmer aufgeteilt, der einen kommerziellen Profit erzielt. Der Arbeiter erhält lediglich den ständig kleiner werdenden Betrag, der zur Erhaltung seines Lebens erforderlich ist. „Diese wenigen Andeutungen werden genügen, um zu zeigen, daß die ganze Entwicklung der modernen Industrie die Waagschale immer mehr zugunsten des Kapitalisten und gegen den Arbeiter neigen muß und daß es folglich die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken oder den Wert der Arbeit mehr oder weniger bis zu seiner Minimalgrenze zu drücken.“ (VPP 61) 18

Angesichts der unerbittlichen Tendenzen des kapitalistischen Systems ist es vergeblich, die Forderung zu erheben: „Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!“ Nur durch die völlige Abschaffung des zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeiter bestehenden Lohnsystems kann eine gerechte Bezahlung für die Arbeit erreicht werden. Die mit dem Lohnsystem verbundene systematische Ausbeutung muss schließlich einen Punkt erreichen, ab dem sie das Proletariat nicht länger erdulden kann und es sich in einer Revolution erheben wird. Der Kapitalismus wird durch die Diktatur des Proletariats ersetzt werden, die das Privateigentum abschaffen und einem sozialistischen Staat den Weg bereiten wird. Im Sozialismus werden sich die Produktionsmittel vollständig unter der Kontrolle der zentralen Regierung befinden. Der sozialistische Staat wird selbst nur ein vorübergehendes Stadium der Entwicklung der Gesellschaft sein. Er wird schließlich absterben und durch eine kommunistische Gesellschaft ersetzt werden, in der die Interessen der Einzelnen und der Gemeinschaft 18 Zitiert nach: K. Marx, Lohn, Preis und Profit, in: K. Marx und F. Engels: Ausgewählte Werke (Berlin: Dietz Verlag, 1987), Band III, 126 f.

Marx über Kapital und Arbeit

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Eine Fotografiepostkarte von Karl Marx aus der Zeit kurz vor seinem Tod.

übereinstimmen werden. Ebenso wie christliche Denker im Laufe der Jahrhunderte von der Hölle eine detailliertere Beschreibung gegeben haben als vom Himmel, sind auch Marx’ Beschreibungen der Übel des Kapitalismus im 19. Jahrhundert in wesentlich lebhafteren Farben dargestellt als seine Vorhersagen bezüglich des glücklichen kommunistischen Endzustands. Es wird uns lediglich gesagt, dass die kommunistische Gesellschaft es dem Einzelnen ermöglichen werde, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (GI 66). 19 19 Zitiert nach: K. Marx und F. Engels, Die Deutsche Ideologie, in: K. Marx und F. Engels: Ausgewählte Werke (Berlin: Dietz Verlag, 1987), Band I, 225.

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Marx’ Analyse des Mehrwerts gibt einiges zu denken, und sie enthält tiefe philosophische Einsichten. Versteht man sie jedoch als eine wissenschaftliche Theorie mit voraussagender Kraft, wie Marx sie verstanden wissen wollte, so leidet sie an einer fatalen Schwäche: Marx gibt uns keinen überzeugenden Grund, warum der Kapitalist, wie groß sein Profit auch sein mag, dem Arbeiter nicht mehr zahlen sollte als einen Lohn, der sein Überleben sichert. Doch dies war ein wesentliches Element der These, dass eine Revolution die unausweichliche Folge der technischen Entwicklung innerhalb des kapitalistischen Systems sein würde. Wäre Marx’ Hypothese zutreffend gewesen, dann hätte es in denjenigen Staaten, in denen die Technologie – und damit die Ausbeutung – am schnellsten vorangeschritten war, am frühesten zur Revolution kommen müssen. Tatsächlich kam es jedoch im rückständigen Russland zur ersten kommunistischen Revolution, und in den entwickelten Ländern Westeuropas begannen die Arbeitgeber bald – und haben dies seither auch weiterhin getan – Löhne zu zahlen, die deutlich über dem zur Erhaltung der Existenz erforderlichen Minimum lagen. Fairerweise muss allerdings gesagt werden, dass es ohne das erhöhte Bewusstsein von der entsetzlichen Lage der Fabrikarbeiter, zu dem das Werk von Marx und Engels einen wesentlichen Beitrag geleistet hat, nicht zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse gekommen wäre. Der einflussreichste der im Gefolge von Marx und Engels schreibenden Autoren war V. I. Lenin, der Anführer der Russischen Revolution von 1917. Lenins Einfluss beruhte weniger auf seinen philosophischen Schriften, obwohl er zwei Werke über den Materialismus und dessen Erkenntnistheorie schrieb, als vielmehr auf seiner Führung der Kommunistischen Partei. Im Gegensatz zu den russischen Kommunisten, die der Meinung waren, man solle die unweigerliche Auflösung des Kapitalismus abwarten, bestand er darauf, dass man die Geburtswehen der neuen Ordnung durch eine gewaltsame Revolution beschleunigen sollte. Er bestand ferner darauf, dass die Partei von einer autoritären Elite geführt werden sollte, deren Ideen die ökonomischen Änderungen prägen würden, statt von ihnen geformt zu werden. Kennzeichnend für die sowjetische Demokratie sollte nicht so sehr die Regierung der Mehrheit als vielmehr die Ausübung von Gewalt, im Namen der Mehrheit, gegen die Minderheit sein.

Die geschlossene und die offene Gesellschaft Es enttäuschte Lenin, dass die anderen Länder Russlands Beispiel nicht folgten und sich nicht gegen ihre kapitalistischen Herrschaftssysteme erhoben. Er erklärte das Ausbleiben ihres von Marx vorhergesagten wirtschaftlichen Zusammenbruchs mit ihrer imperialistischen Ausbeutung von Kolonien, in die ihr überschüssiges Kapital abfließen konnte und die ihnen als Quelle billiger Arbeit und billiger Rohstoffe dienen konnten. Der Imperialismus, so lautete seine berühmte These, war das Monopolstadium des Kapitalismus. Lenins Nachfolger, Josef Stalin, begnügte sich damit,

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die Erhaltung des Sozialismus in einem Lande als seine Aufgabe zu übernehmen, und die Macht der kommunistischen Elite wurde durch die starken patriotischen Gefühle des nationalen Kampfes gegen Nazi-Deutschland von 1941–1945 gestützt und aufrechterhalten. Weder Hitlers Deutschland noch Mussolinis Italien brachten irgendein Werk der politischen Philosophie von bleibender Bedeutung hervor. Es wäre jedoch ein Fehler, die beiden Ideologien unter der Bezeichnung „Faschismus“ zusammenzufassen. Es trifft zwar zu, dass sowohl Hitler als auch Mussolini nationalistische Diktatoren waren, die an einen totalitären Staat glaubten, doch im Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie stand ein Rassismus, während der Korporatismus, der eine zentrale Lehre des italienischen Faschismus war, mit rassistischen Auffassungen nichts zu tun hatte. Der Korporatismus war als eine nach Berufen organisierte Gesellschaft gedacht, in der die Einzelnen zum Zweck der gesellschaftlichen Vertretung nach ihren Funktionen zu Gruppen zusammengefasst werden sollten. Der auf diese Weise organisierte Staat würde die Beziehungen zwischen Kapitalisten, Arbeitern, den verschiedenen Berufen und der Kirche auf solche Weise lösen, dass die zu einer Revolution führenden Klassenkonflikte vermieden werden könnten. Dies war ein anderes politisches Glaubensbekenntnis als die Vorstellung, dass eine Rasse allen anderen überlegen sei und sie beherrschen oder eliminieren sollte. Hitler und Mussolini waren zwar während des Krieges Verbündete, doch das galt auch für Stalin und Churchill. Im Zweiten Weltkrieg wurde allerdings von dem im Exil lebenden Österreicher Karl Popper ein weiterer Klassiker der politischen Philosophie verfasst: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Popper vertrat in diesem Buch die Auffassung, dass eine politische Organisation, um gedeihen zu können, ihren Institutionen möglichst umfassende Möglichkeiten der Selbstkorrektur einräumen muss. Ebenso wie die Wissenschaft durch die ständige Korrektur unzureichender Hypothesen voranschreitet, kann auch die Gesellschaft nur Fortschritte machen, wenn politische Programme als Experimente behandelt werden, die bewertet und abgebrochen werden können. Wichtig sind daher zwei Dinge: dass die Regierten in hohem Maße über die Freiheit verfügen, die von den Regierenden vorgeschlagenen Maßnahmen zu diskutieren und zu kritisieren, und dass es ohne Gewalt und Blutvergießen möglich sein sollte, einen Regierungswechsel herbeizuführen, wenn die Regierenden das Wohlergehen der Bürger nicht fördern. Dies sind die zentralen Merkmale einer offenen Gesellschaft, und es sind wichtigere Elemente der Demokratie als die bloße Wahl einer Regierung durch eine Mehrheit. Eine offene Gesellschaft ist das genaue Gegenteil der Art von zentral gesteuertem politischem System, wie man es in Deutschland, Italien und Russland während der Kriegsjahre vorfand. Popper schloss jedoch nicht jede Form der staatlichen Intervention aus. Unbegrenzte Toleranz würde zu Intoleranz führen und ein uneingeschränkter Kapitalismus zu einem unakzeptablen Ausmaß von Armut. Die Anstiftung zur Intoleranz sollte daher als kriminell angesehen werden, und der Staat muss die wirtschaftlich Schwachen vor den wirtschaftlich Starken schützen.

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„Dies bedeutet natürlich, dass das Prinzip der Nichtintervention, eines vollkommen uneingeschränkten ökonomischen Systems, aufgegeben werden muss. Soll die Freiheit geschützt werden, müssen wir fordern, dass die Politik der unbeschränkten ökonomischen Freiheit durch geplante ökonomische Eingriffe des Staates ersetzt wird. Wir müssen verlangen, dass der schrankenlose Kapitalismus einem wirtschaftlichen Interventionismus weicht.“ (OSE ii. 125)

Unbegrenzte wirtschaftliche Freiheit sei ohnehin ein Widerspruch in sich: Die unbegrenzte Freiheit des Arbeitsmarktes wäre mit der unbegrenzten Freiheit der Arbeiter nicht zu vereinbaren. Im zweiten Band seines Werkes griff Popper zwei Philosophen an, die er für Feinde der offenen Gesellschaft hielt: Platon und Marx. Seine detaillierte Kritik einiger platonischer politischer Institutionen war vielleicht nicht mehr als ein nützliches Korrektiv zu der einfältigen Bewunderung der Politeia, die an britischen Universitäten seit der Zeit von Benjamin Jowett in Mode war. Die Kritik an Marx war hingegen wesentlich effektiver und einflussreicher. Das Hauptziel von Poppers Kritik war Marx’ Überzeugung, er habe wissenschaftliche Gesetze entdeckt, die die Zukunft der Menschheit bestimmen, Tendenzen, die mit eiserner Konsequenz auf ein unausbleibliches Resultat zulaufen. Popper zeigte, dass der weitere Lauf der Geschichte seit der Veröffentlichung des Kapitals in Wahrheit viele von Marx’ spezifischen, angeblich wissenschaftlichen Voraussagen widerlegt hatte. Marx’ Determinismus war nur ein Beispiel für einen allgemeinen Irrtum, den Popper in einem späteren Buch, Das Elend des Historismus (1957), anprangerte: „Unter ‚Historismus‘ verstehe ich eine Vorgehensweise in den Sozialwissenschaften, die annimmt, dass die historische Voraussage ihr hauptsächliches Ziel ist, und die davon ausgeht, dass dieses Ziel durch die Entdeckung der ‚Rhythmen‘ oder der ‚Muster‘, der ‚Gesetze‘ oder der ‚Tendenzen‘, die der Entwicklung der Geschichte zugrunde liegen, erreichbar ist.“ Weitere Beispiele für den Historismus liefern außer dem Marxismus der frühchristliche Glaube an die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi sowie der Glaube der Aufklärung an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts der Menschheit. Alle Formen des Historismus können Popper zufolge mit einem einzigen Argument widerlegt werden. Wie die Zukunft aussehen wird, hängt, unter anderem, davon ab, welchen Fortschritt die Wissenschaft machen wird. Wollen wir daher die Zukunft der Gesellschaft vorhersagen, müssen wir die Zukunft der Wissenschaft vorhersagen. Doch es ist logisch unmöglich, das Wesen einer wissenschaftlichen Entdeckung vorherzusagen. Um dies tun zu können, müsste man die Entdeckung tatsächlich machen. Folglich ist der Historismus unmöglich, und den einzigen Sinn, den wir in der vergangenen und künftigen Geschichte finden können, besteht in dem Sinn, den sie durch die freien, kontingenten und unvorhersagbaren Entscheidungen des Menschen erhält. Der umfassendste Versuch, ein systematisches theoretisches Modell für die Art von liberaler Demokratie darzulegen, die die meisten Staaten der westlichen Welt

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anstreben, wurde von John Rawls (1921–2002) in seinem Buch Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) unternommen. Rawls bestritt, dass der Utilitarismus als Grundlage für einen freiheitlichen Staat ausreiche, da er Wohlergehen höher bewerte als Gerechtigkeit und damit ignoriere, was er „die Priorität des Gerechten vor dem Guten“ nannte. „Jeder Mensch besitzt eine auf der Gerechtigkeit beruhende Unverletzlichkeit, die selbst das Wohl der Gesellschaft im Ganzen nicht aufheben kann. Daher stehen in einer gerechten Gesellschaft die durch die Gerechtigkeit gesicherten Rechte nicht zur Disposition und können gegen gesellschaftliche Interessen nicht aufgerechnet werden.“ (TJ 66) Statt des Utilitarismus schlägt Rawls als Grundlage zur Bestimmung der unveräußerlichen Freiheiten eine neue Art von Sozialvertrag vor, einen einem Gedankenexperiment ähnlichen gedanklichen Vertrag. Angenommen, es gebe noch keine gesellschaftlichen Institutionen, doch alle haben ursprünglich gleiche Rechte. In diesem „Urzustand“ (original position) kennen wir die Tatsachen noch nicht, die unsere Position in der erst noch zu entwerfenden Gesellschaft festlegen werden. Wir kennen unsere Rasse, unser Geschlecht, unsere Religion, unsere soziale Klasse, unsere Talente und Fähigkeiten nicht. Wir wissen noch nicht einmal, was wir für ein gutes Leben halten werden. Unter diesem „Schleier des Nichtwissens“ sollen wir auf der Grundlage des vernünftigen Wunsches, unsere eigenen Ziele und Interessen – wie immer diese aussehen mögen – zu fördern, eine Verfassung entwerfen. Da wir die Faktoren, die uns von anderen unterscheiden werden, nicht kennen, werden wir in diesem Gedankenexperiment dazu gedrängt, uns um das Schicksal eines jeden auf gleiche Weise zu sorgen. Rawls behauptet, dass die am Aufbau dieser Verfassung Beteiligten sich dafür entscheiden würden, nach zwei Prinzipien der Gerechtigkeit vorzugehen. Das erste Prinzip besagt, dass jeder Mensch das Recht auf die größtmöglichen Grundfreiheiten haben sollte, die mit denselben Freiheiten aller anderen vereinbar sind. Der zweite Grundsatz lautet, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten mit Ämtern und Positionen verbunden sein müssen, die in einem fairen Wettbewerb allen offenstehen und dass diese Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie so geregelt werden können, dass sie den in der Gesellschaft am meisten Benachteiligten Vorteile bringen. Geraten die beiden Prinzipien miteinander in Konflikt, ist dem Prinzip der gleichen Freiheit vor dem Prinzip der Chancengleichheit der Vorrang zu geben. Rawls hält es für evident, dass in der Ausgangssituation niemand einem System zustimmen würde, in dem Sklaverei existiert, aus Angst davor, dass er – wenn der Schleier des Nichtwissens gehoben wird – sich als Sklave wiederfände. Doch er wendet seine beiden Grundprinzipien auch auf eine Reihe umstrittenerer Themen an, wie zum Beispiel auf die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Generationen und des zivilen Ungehorsams. Er behauptet, dass in einer pluralistischen Gesellschaft wenig Aussicht darauf besteht, in Fragen der Ethik völlige Einigkeit zu erzielen. Man kann bestenfalls hoffen, dass alle Mitglieder der Gesellschaft eine Reihe allgemeiner Werte akzeptieren. Rawls hofft jedoch, dass wir, indem wir unsere moralischen Urteile dis-

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kutieren, bedenken und anpassen, in ethischen Fragen zu etwas gelangen werden, was er als „übergreifenden Konsens“ bezeichnet. Das von Rawls in Aussicht gestellte Ziel ist ein Zustand des „Überlegungsgleichgewichts“ (reflective equilibrium). Die anfänglichen Intuitionen verschiedener Bürger werden miteinander in Konflikt stehen, und sogar die verschiedenen Auffassungen eines Einzelnen können einander widersprechen. Wenn wir jedoch über diese unterschiedlichen Auffassungen reflektieren und versuchen, sie in vertretbaren Prinzipien zu formulieren, können wir hoffen, für uns selbst und unsere Gesellschaft schließlich zu einer Reihe immer mehr miteinander im Einklang stehender Moralprinzipien zu gelangen.

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Der Gegensatz von Glaube und Entfremdung Hegel betrachtete sein philosophisches System als die durchdachte und definitive Darstellung von philosophischen Wahrheiten, die in den Religionen der Welt einen schwankenden, mythischen Ausdruck gefunden hatten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die beiden wichtigsten Reaktionen auf Hegels Behandlung der Religion aus zwei unterschiedlichen Richtungen des philosophischen Spektrums. Während Ludwig Feuerbach (1804–1872) zufolge Hegel der Religion viel zu wohlwollend gegenüberstand, war Søren Kierkegaard (1813–1855) der Ansicht, dass er ihr auf vermessene Weise den Respekt versage. Bei seiner Kritik an Hegel stützte sich Feuerbach auf den hegelschen Begriff der Entfremdung, der einen Zustand bezeichnet, in dem der Mensch etwas als fremdartig behandelt, das in Wahrheit ein Teil seiner selbst ist. Der Grundgedanke seiner Schrift Das Wesen des Christentums (1841) ist, dass Gott eine Projektion des menschlichen Geistes ist. Der Mensch ist das höchste Wesen, doch er projiziert sein eigenes Leben und sein Bewusstsein in einen unwirklichen Himmel. Er nimmt sein eigenes Wesen, stellt es sich als von seinen Einschränkungen befreit vor, projiziert es in eine eingebildete transzendente Sphäre und verehrt es dann als getrenntes, unabhängiges Wesen. „Gott als Gott, d. h. als nicht endliches, nicht menschliches, nicht materiell bestimmtes, nicht sinnliches Wesen ist nur Gegenstand des Denkens.“ (EC 35) 1 Was immer Hegel über den Geist sagen mag: Für Feuerbach besteht das wahre Wesen des Menschen darin, dass er ein materielles Wesen und Teil der Natur ist. „Der Mensch“, lautet ein bekannter Ausspruch von ihm, „ist, was er isst.“ Doch der Mensch ist anders als andere Wesen: Der große Unterschied zwischen ihnen und dem Menschen ist, dass er eine Religion besitzt. Das Bewusstsein seiner Abhängigkeit von der Natur lässt ihn anfänglich Naturgegenstände, wie Bäume und Quellen, als Gottheiten verehren. Die monotheistische Vorstellung eines persönlichen Gottes taucht auf, wenn die Menschen sich ihrer Vernunft, ihres Willens und ihrer Liebe bewusst werden. In der Religion reflektiert der Mensch über sein eigenes, verborgenes Wesen, jedoch als etwas von ihm selbst Verschiedenes: „Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist – der Mensch 1

Zitiert nach: L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, herausgegeben von W. Schuffenhauer (Berlin: Akademie Verlag, 1956), Band I, 85.

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nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten.“ (EC 33) 2

Feuerbach stimmt Hegel darin zu, dass die Religion ein wesentliches, aber unvollkommenes Stadium des menschlichen Selbstbewusstseins darstellt. Feuerbach zufolge ist jedoch auch Hegels eigene Philosophie eine weitere Form der Entfremdung: Sie ist das letzte Refugium der Theologie. Indem sie die Natur als durch die Idee gesetzt betrachtet, bietet sie uns lediglich eine verschleierte Version der christlichen Schöpfungslehre. Wir müssen Hegel auf seine Füße und die Philosophie auf den festen Boden des Materialismus stellen. Wie Hegels Lehre von der Entfremdung hatte Feuerbachs Kritik der Religion und des Idealismus einen großen Einfluss auf Marx und Engels. Marx sah jedoch nicht in der Religion, sondern im Kapitalismus die höchste Form der Entfremdung: Der Kapitalist bete nicht Gott, sondern das Geld an. Die Religion, sagte Marx, sei das Opium des Volkes. Hiermit wollte er nicht sagen, dass die Religion ein Hirngespinst ist (obwohl er auch das glaubte), sondern dass der Glaube an ein glücklicheres Leben nach dem Tod ein notwendiges Betäubungsmittel ist, um die Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen ertragen zu können. „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ (EW 257) 3 Während Hegel und Schopenhauer herkömmliche religiöse Glaubensüberzeugungen als allegorische oder mythische Darstellungen philosophischer Wahrheiten in für das Volk fassbarer Form ansahen, von Wahrheiten, die nur von einer gebildeten Elite verstanden werden konnten, und während Feuerbach und Marx sie als illusionäre Projektionen eines entfremdeten Bewusstseins ansahen, stellte Kierkegaard den Glauben stets an die Spitze der menschlichen Entwicklung. Er sah die religiöse Sphäre als den Bereichen der Wissenschaft und Politik überlegene Sphäre an. Auch die Ethik müsse, so lehrte er, der Verehrung Gottes rigoros untergeordnet werden. Seit Platons Dialog Euthyphron haben Philosophen über die Jahrhunderte immer wieder die Beziehung zwischen Religion und Moral erörtert. Hängt der moralische Wert einer Handlung einfach davon ab, ob sie von Gott geboten oder verboten ist, oder gebietet oder verbietet Gott einige Handlungen allein deshalb, weil sie an sich gut oder schlecht sind? Thomas von Aquin war der Auffassung, dass die Zehn Gebote 2 3

Zitiert nach: L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, herausgegeben von W. Schuffenhauer (Berlin: Akademie Verlag, 1956), Band I, 81. Zitiert nach: K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: K. Marx und F. Engels, Werke Band 1 (Berlin: Dietz Verlag, 1976), 378.

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zu einem Naturrecht gehörten, von dessen Befolgung einen noch nicht einmal Gott freisprechen konnte. Im Gegensatz dazu behauptete Duns Scotus, dass Gott einen vom Verbot des Mordes ausnehmen konnte und dass er dies getan hatte, als er Abraham befahl, Isaak zu opfern. 4 In Furcht und Zittern ging Kierkegaard auf neue Weise an dieses schwierige Thema heran. Auch er wählte die Erzählung von Abraham und Isaak im 1. Buch Mose als Testfall für seine Erörterung des Problems. „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. Da stand Abraham des Morgens früh auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging an den Ort, davon ihm Gott gesagt hatte. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel! Ich und der Knabe wollen dorthin gehen; und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak; er aber nahm das Feuer und Messer in seine Hand, und gingen die beiden miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen beide miteinander. Und als sie kamen an die Stätte, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham daselbst einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete.“ (1. Mose 22, 1–10)

Es liegt zweifellos etwas Heroisches in Abrahams Bereitschaft, Isaak zu opfern – den Sohn, auf den er 80 Jahre lang gewartet hatte und in dem seine ganze Hoffnung auf Nachkommenschaft lag. Doch ist dieses Verhalten, ethisch betrachtet, nicht abscheulich? Er ist bereit, einen Mord zu begehen, die Pflicht eines Vaters, seinen Sohn zu lieben, zu verletzen und auf diese Weise die Menschen zu hintergehen, die ihm am nächsten stehen. Kierkegaard erinnert seine Leser daran, dass die biblische und klassische Literatur voll von Beispielen von Eltern ist, die ihre Kinder opfern. Agamemnon opfert Iphigenie, um den Fluch der Götter abzuwenden, der auf der griechischen Expedition nach 4

Vgl. Band I, 301 ff.; Band II, 272 ff.

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Gustave Dorés Darstellung von Abrahams Opfer (1866).

Troja lag, Jephthah opferte seine Tochter in Erfüllung eines unbedachten Gelübdes, und Brutus verurteilte seine verräterischen Söhne zum Tode. All dies waren Opfer, die für das höhere Gut einer Gemeinschaft erbracht wurden. Es war, im ethischen Sinne, die Preisgabe des Besonderen für das Allgemeine. Abrahams Opfer war von völlig anderer Art: Es war eine Sache zwischen ihm und Gott. Wäre er ein tragischer

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Held wie die anderen, hätte er, auf dem Berge Moriah angekommen, sich selbst das Messer in die Brust gestoßen, statt seinen Sohn zu töten. Kierkegaard erklärt uns, dass er stattdessen völlig aus dem Bereich des Ethischen heraustrat und um eines wesentlich höheren Zweckes willen handelte. Kierkegaard bezeichnet eine solche Handlung als „teleologische Suspension des Ethischen“. Abrahams Handlung überschritt die ethische Ordnung mit Blick auf ein höheres Ziel oder Telos außerhalb dieser Ordnung. Während ein ethischer Held, wie zum Beispiel Sokrates, sein Leben um eines höheren moralischen Gesetzes willen hingibt, lag Abrahams Heldentum in seinem Gehorsam gegenüber einem besonderen göttlichen Gebot. Außerdem war seine Handlung keine Form der Entsagung, wie es bei dem wohlhabenden Jüngling im Evangelium der Fall gewesen wäre, wenn er seinen Reichtum weggegeben hätte: Niemand hat seinem Geld gegenüber eine Pflicht, wie er sie seinem Sohn gegenüber hat, und Abraham bewies seinen Gehorsam gegenüber Gott genau dadurch, dass er diese Pflicht verletzte. War seine Handlung sündhaft? Verstehen wir eine jede Pflicht als eine Pflicht Gott gegenüber, so war sie es zweifellos. Doch eine derartige Gleichsetzung Gottes mit der Pflicht nimmt dem Begriff der Pflicht gegenüber Gott in Wahrheit jeglichen Inhalt. „Das ganze Dasein des Menschengeschlechtes rundet sich somit vollkommen kugelförmig in sich selbst, und das Ethische stellt zugleich das Begrenzende und das Ausfüllende dar. Gott wird zu einem unsichtbaren, schwindenden Punkt, zu einem ohnmächtigen Gedanken, seine Macht beruht nur in jenem Ethischen, welches das Dasein ausfüllt. Sofern einer somit darauf verfallen sollte, Gott in einer anderen als der hier angegebenen Bedeutung lieben zu wollen, so ist er überspannt, er liebt ein Phantom, welches, falls ihm nur so viel Kraft eigen wäre, sprechen zu können, zu ihm sagen würde: ich verlange deine Liebe nicht, bleibe nur, wo du hingehörst.“ (FT 78) 5

Soll es einen Gott geben können, der mehr ist als eine Personifikation der Pflicht, so muss es eine Sphäre geben, die höher ist als das Ethische. Wenn Abraham ein Held ist, als welchen ihn die Bibel darstellt, so kann dies nur vom Standpunkt des Glaubens aus verstanden werden. „Das Paradoxon des Glaubens ist somit dies, dass der Einzelne höher ist als das Allgemeine.“ Doch selbst wenn wir akzeptieren, dass die einzigartige Beziehung zwischen Gott und einem Einzelnen die aus allgemeinen Gesetzen hervorgehenden Verpflichtungen außer Kraft setzen kann, stellt sich dennoch eine entscheidende Frage. Wenn sich ein Einzelner berufen fühlt, ein moralisches Gesetz zu verletzen: Wie soll er entscheiden können, ob es sich hierbei um einen echten göttlichen Befehl oder um eine bloße 5

Zitiert nach: S. Kierkegaard, Furcht und Zittern, in: Die Krankheit zum Tode, herausgegeben von H. Diem und W. Rest, übersetzt von G. Jungbluth (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010), 255.

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Versuchung handelt? Kierkegaard besteht darauf, dass kein anderer ihm dies sagen kann. Dies ist der Grund, warum Abraham seinen Plan vor Sarah, Isaak und seinen Freunden geheim hielt. Der Ritter des Glaubens (wie Kierkegaard Abraham nennt) hat die fürchterliche Verantwortung der Einsamkeit. Doch wie kann er auch nur wissen oder sich selbst beweisen, was ein echter göttlicher Befehl ist? Kierkegaard hebt lediglich hervor, dass der Sprung des Glaubens blind getan wird. Seine Unfähigkeit, ein Kriterium anzugeben, mit dessen Hilfe sich eine echte von einer trügerischen Berufung unterscheiden lässt, schreit uns förmlich an in einem Zeitalter, in dem immer mehr Menschen sich durch einen persönlichen göttlichen Befehl dazu berufen fühlen, ihr eigenes Leben hinzugeben, um so viele unschuldige Opfer wie möglich zu töten. Kierkegaards Schweigen in diesem Punkt ist kein Zufall. In seinen Philosophischen Brocken und seiner Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift legt er eine Reihe von Argumenten dar, mit denen er zeigen will, dass der Glaube nicht das Ergebnis irgendeiner vernünftigen Schlussfolgerung ist. Die Form des religiösen Glaubens, an die er hierbei denkt, ist der christliche Glaube, dass Jesus die Menschheit durch seinen Kreuzestod erlöst hat. Dieser Glaube enthält definitive historische Elemente, und Kierkegaard fragt: „Ist es möglich, eine ewige Glückseligkeit auf historisches Wissen zu gründen?“ Er gibt drei Argumente für eine negative Antwort. Erstens ist es durch objektive Forschung unmöglich, über irgendein historisches Ereignis Gewissheit zu erlangen. Es bleibt stets eine Möglichkeit des Zweifels bestehen, wie klein sie auch sei, und wir können niemals mehr als eine Annäherung an die historische Wahrheit erreichen. Doch der Glaube lässt keinen Raum für Zweifel, er ist ein Entschluss, die Möglichkeit des Irrtums zu verwerfen. Kein bloßes Wahrscheinlichkeitsurteil reicht für diesen Glauben aus, der die Grundlage ewiger Glückseligkeit sein soll. Folglich lässt sich der Glaube nicht auf die objektive Geschichte gründen. Zweitens ist die geschichtliche Forschung niemals definitiv abgeschlossen: Sie wird ständig verbessert und revidiert, ständig tauchen Schwierigkeiten auf und werden überwunden. „Jede Generation erbt von ihren Vorgängern die Illusion, dass die Methode unanfechtbar ist, doch die Gelehrten haben noch keinen Erfolg erzielt.“ Soll unsere religiöse Bindung auf einem historischen Dokument basieren, muss diese Bindung ständig aufgeschoben werden. Drittens muss der Glaube eine leidenschaftliche Hingabe der eigenen Person sein, während eine objektive Untersuchung eine distanzierte Haltung verlangt. Da der Glaube Leidenschaft verlangt, behauptet Kierkegaard, dass die Unwahrscheinlichkeit des Geglaubten nicht nur kein Hindernis des Glaubens, sondern sogar eines seiner wesentlichen Elemente ist. Der Glaubende muss sich auf ein Risiko einlassen, denn ohne Risiko gibt es keinen Glauben. „Glaube ist genau der Widerspruch zwischen der unendlichen Leidenschaft der Innerlichkeit des Einzelnen und der objektiven Ungewissheit.“ Je größer das Risiko ist, dass das Geglaubte nicht der Wahrheit entspricht, mit umso größerer Leidenschaft wird es geglaubt. Wir müssen alle vernünftigen Stützen des Glaubens wegwerfen, „um das Absurde in aller Klarheit hervorstechen zu lassen, sodass der Einzelne glauben kann, wenn er es will“ (P 190).

Der Theismus von John Stuart Mill

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Ist die Unwahrscheinlichkeit eines Glaubens das Maß für die Leidenschaft, mit der er geglaubt wird, dann muss der Glaube, den Kierkegaard eine „unendliche persönliche Leidenschaft“ nennt, etwas zu seinem Gegenstand haben, das über alle Maßen unwahrscheinlich ist. Von solcher Art war der Glaube Abrahams, der bis zu dem Moment, in dem er das Messer zog, um Isaak zu opfern, an das göttliche Versprechen der Nachkommenschaft weiterglaubte. Und sein Glaube wurde belohnt, als der Engel Gottes ihm gebot, Isaak nichts anzutun, der, vom Opferaltar befreit, zum Vater vieler Völker wurde. Nur wenige überzeugte Christen sind bereit gewesen anzuerkennen, dass das Christentum über alle Maßen unwahrscheinlich ist, und Nichtgläubigen bietet Kierkegaard kein Motiv, geschweige denn einen Grund, warum sie den Glauben annehmen sollten. Paradoxerweise war dieser Irrationalismus nicht unter seinen Glaubensbrüdern am einflussreichsten, sondern unter den Atheisten des 20. Jahrhunderts. Existenzialistische Denker wie Karl Jaspers in Deutschland und Jean-Paul Sartre in Frankreich sprach seine Behauptung an, man müsse, um eine authentische Existenz führen zu können, der Menge den Rücken zukehren und die Verantwortung für das eigene Schicksal durch einen blinden irrationalen Sprung übernehmen.

Der Theismus von John Stuart Mill In den 15 Jahre nach der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift veröffentlichten Schriften John Stuart Mills schlug die Religionsphilosophie in England eine deutlich andere Richtung ein. Jeremy Bentham und James Mill hatten sichergestellt, dass in der Erziehung von John Stuart die religiöse Unterweisung keine Rolle spielen sollte. Dementsprechend schreibt Mill in seiner Autobiografie, er sei „eines der sehr wenigen Beispiele in diesem Lande für eine Person, die ihren religiösen Glauben nicht abgeworfen, sondern nie einen solchen gehabt hat“. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass er bezüglich der Religion nicht dieselbe Feindseligkeit empfand wie viele andere Utilitaristen. In seinen postum veröffentlichten Drei Essays über die Religion betrachtete er die Argumente für und gegen die Existenz Gottes sowie die positiven und negativen Auswirkungen eines religiösen Glaubens auf bemerkenswert unvoreingenommene Weise. Während er die ontologischen und kausalen Argumente für die Existenz Gottes verwarf, nahm Mill das teleologische Argument, das einzige, das sich auf die Erfahrung beruft, ernst. Er schrieb: „Beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens liefern die Anpassungen in der Natur bei der Abwägung der Wahrscheinlichkeiten einen deutlichen Ausschlag zugunsten einer Schöpfung durch Intelligenz.“ Er glaubte allerdings nicht, dass diese Anzeichen die Existenz eines allmächtigen und wohlwollenden Schöpfers auch nur wahrscheinlich machen konnten. Ein allmächtiges Wesen würde sich nicht auf die Anpassung von Mitteln zu Zwecken, auf die sich das teleologische Argument beruft, stützen müssen; und ein allmächtiges Wesen, das Böses in dem

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Umfang zugelassen hätte, wie wir ihm in der Welt begegnen, könnte nicht wohlwollend sein. Der Gott des traditionellen Christentums könne noch weniger als gütig angesehen werden. In Erinnerung an seinen Vater schrieb er in seiner Autobiografie: „Denke dir, pflegte er zu sagen, ein Wesen, das eine Hölle schaffen konnte und daneben bei seiner Allwissenheit, folglich mit bedachter Absicht, die große Mehrzahl der von ihm geschaffenen Menschen einer schrecklichen, endlosen Qual anheimgab. Ich glaube, die Zeit rückt heran, in welcher diese furchtbare Vorstellung von einem Gegenstand der höchsten Verehrung aus dem Begriff des Christentums weichen muss und jedermann, der einen Sinn für das Gute und Schlechte in der Moral hat, mit dem selben Unwillen auf sie zurückschauen wird wie mein Vater.“ (A 26) 6

Mill war der Auffassung, dass wir kein Wesen gut nennen können, sofern es nicht die Eigenschaften besitzt, die Güte in unseren Mitmenschen ausmacht – „und wenn solch ein Wesen mich zur Hölle verurteilen kann, weil ich es nicht so nenne, dann werde ich in die Hölle kommen“. Doch selbst wenn der Begriff der Hölle als mythische Vorstellung aufgegeben wird, reicht das Ausmaß der Übel, von denen wir wissen, dass es sie in dieser Welt gibt, Mill zufolge aus, die Vorstellung einer allmächtigen Güte auszuschließen. Dabei war Mill ein Optimist bezüglich der Welt, in der wir leben. Er schrieb: „Alle wichtigen Ursachen menschlichen Leidens lassen sich in erheblichem Umfang – und viele fast gänzlich – durch menschliche Mühe und Anstrengung beseitigen.“ (U 266) 7 Dennoch lebt die große Mehrzahl aller Menschen unter elenden Bedingungen, und dies größtenteils aufgrund von menschlicher Inkompetenz und mangelndem gutem Willen, was für sich selbst gegen die Vorstellung spricht, dass wir von einer allmächtigen Güte regiert werden. Mills Essay Theismus schließt mit den folgenden Zeilen: „Dies also sind die Ergebnisse der natürlichen Theologie bezüglich der Frage der göttlichen Eigenschaften. Ein Wesen von großer, aber begrenzter Macht – wie und wodurch diese Macht begrenzt wird, können wir noch nicht einmal vermuten –, von großer und vielleicht unbegrenzter, jedoch möglicherweise auch enger begrenzter Intelligenz, das das Glück seiner Geschöpfe will und berücksichtigt, aber auch andere Motive für sein Handeln hat, die ihm wichtiger sind und von dem sich schwerlich glauben lässt, dass es das Universum allein zu diesem Zweck geschaffen hat. Von solcher Art ist die Gottheit, auf die die natürliche Religion hindeutet, und jede andere, bestechendere Vorstellung von Gott beruht allein auf menschlichen Wünschen oder auf ihrer wirklichen oder eingebildeten Offenbarung.“ (3E 94)

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Zitiert nach: J. S. Mill, Autobiographie (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 34. J. S. Mill, Der Utilitarismus, übersetzt und herausgegeben von D. Birnbacher (Stuttgart: Reclam, 2010), 49.

Der Theismus von John Stuart Mill

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John Stuart Mill mit seiner Stieftochter Helen, die seine Schriften über die Religion nach seinem Tode herausgab.

Wenn dies so ist: Was lässt sich dann zugunsten der bzw. gegen die Wünschbarkeit eines religiösen Glaubens sagen? Mill hält es für unbestreitbar, dass die Religion für einzelne Menschen eine Quelle persönlicher Befriedigung und erhabener Gefühle ist. Manche Religionen geben dem Menschen als Anreiz zu moralischem Verhalten die Hoffnung auf Unsterblichkeit, doch diese Erwartung beruht auf schwachen Gründen,

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und in dem Maße, in dem die Menschheit zivilisierter wird, mag es dahin kommen, dass diese Aussicht weniger wünschenswert erscheint. „Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass in einem höheren und vor allem glücklicheren Zustand des menschlichen Lebens nicht die Vernichtung, sondern die Unsterblichkeit die bedrückende Vorstellung wäre; und dass der Mensch, obwohl mit seinem gegenwärtigen Leben zufrieden und keineswegs in Eile, es zu verlassen, den Gedanken, nicht in alle Ewigkeit an eine bewusste Existenz gekettet zu sein, von der er nicht sicher sein kann, dass er sie immer erhalten wollen würde, tröstlich und nicht traurig fände.“ (3E 122)

Schöpfung und Evolution Als Mills Essays im Jahre 1887 erschienen, fühlten sich religiöse Menschen in ihrem Glauben stärker von der evolutionären Biologie als von der empiristischen Philosophie bedroht. Darwins Bücher Die Entstehung der Arten und Die Abstammung des Menschen wurden in manchen christlichen Kreisen mit Entsetzen aufgenommen. Bei der Sitzung der British Association 8 im Jahre 1860 wurde der Evolutionist T. H. Huxley, nach seinem eigenen Bericht, vom Bischof von Oxford gefragt, ob seine Behauptung, von einem Affen abzustammen, väterlicher- oder mütterlicherseits zutreffe. Huxley antwortete hierauf – nach seiner eigenen Darstellung – mit der Bemerkung, dass er lieber einen Affen zum Großvater haben würde als einen Mann, der seine Geistesgaben zur Behinderung der Wissenschaft durch Rhetorik missbrauche. Der Streit zwischen den darwinistischen Evolutionisten und christlichen Fundamentalisten hält bis auf den heutigen Tag an. Darwins Theorie steht mit einer wörtlichen Auslegung des biblischen Schöpfungsberichts, nach dem die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde, offensichtlich im Widerspruch. Außerdem wäre die Zeitspanne, die für den Ablauf der Evolution erforderlich wäre, unendlich viel länger als die 6000 Jahre, die nach der Auffassung der christlichen Fundamentalisten dem Alter des Universums entsprechen. Doch eine nichtwörtliche Interpretation der Schöpfungsgeschichte wurde schon vor langer Zeit von so orthodoxen Theologen wie dem heiligen Augustinus übernommen, und viele gegenwärtige Christen sind bereit zu akzeptieren, dass es die Erde seit Milliarden von Jahren gibt. Schon schwieriger ist es, eine Anerkennung des Darwinismus mit dem Glauben an die Erbsünde in Einklang zu bringen. Hat der Kampf um das Leben schon seit Äonen stattgefunden, bevor der Mensch auftauchte, ist es unmöglich anzunehmen, dass der Tod durch den Ungehorsam des Menschen und die Frucht des verbotenen Baumes in die Welt gekommen ist. 8

Anm. d. Übers.: Die British Association for the Advancement of Science ist eine gelehrte Gesellschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Wissenschaft populär zu machen. Seit 2009 trägt sie den Namen British Science Association.

Schöpfung und Evolution

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Andererseits wäre es unzutreffend zu behaupten, wie es oft geschieht, Darwin habe die Existenz Gottes widerlegt. Nach allem, was Darwin dargelegt hat, könnte der ganze Mechanismus der natürlichen Zuchtwahl Teil des göttlichen Plans für das Universum gewesen sein. Schließlich wurde der Glaube, dass wir Menschen Geschöpfe Gottes sind, niemals als mit der Tatsache unvereinbar angesehen, dass wir die Kinder unserer Eltern sind. Er ist ebenso wenig damit unvereinbar, dass wir väterlicher- und mütterlicherseits von den Vorfahren der Affen abstammen. Darwin hat allenfalls ein Argument für die Existenz Gottes entkräftet, d. h. das Argument, dass die Anpassung der Organismen an ihre Umwelt das Werk eines wohlwollenden Schöpfers darstellt. Doch selbst hiermit würde man schon zu viel behaupten. Das einzige Argument, das von Darwin widerlegt wurde, wäre das folgende: Wo immer wir einen Fall von Anpassung an die Umwelt vorfinden, müssen wir auf die direkte Aktivität eines intelligenten Wesens schließen. Doch dies wurde vom ursprünglichen teleologischen Gottesbeweis nicht behauptet. Vielmehr war es ein wesentlicher Schritt in dem Argument, dass die niedrigeren Tiere und andere natürlichen Handlungsträger (agents) über keinen Verstand verfügen. Das Argument besagte lediglich, dass die letzte Ursache derartiger Anpassungen in einer Intelligenz liegen musste; und wenn dieses Argument jemals gültig war, dann hat der Erfolg des Darwinismus zwischen die zu erklärenden Phänomene und ihre letztendliche Erklärung lediglich einen zusätzlichen Schritt eingefügt. Der Darwinismus lässt Vieles ungeklärt. Der Ursprung einzelner Arten aus früheren Arten mag durch den Mechanismus des evolutionären Drucks und der natürlichen Auslese erklärbar sein. Doch diese Mechanismen können nicht verwendet werden, um den Ursprung von Arten selbst zu erklären, denn einer der Ausgangspunkte der Erklärung durch natürliche Auslese ist die Existenz sich fortpflanzender Populationen gleichartiger Organismen, d. h. von Arten. Viele Darwinisten behaupten, dass der Ursprung und der Aufbau der Welt sowie das Auftauchen menschlichen Lebens und menschlicher Institutionen bereits vollständig durch die Wissenschaft erklärt werden, sodass für die Postulierung der Existenz der Aktivität irgendeiner die Natur überschreitenden Entität kein Raum bleibt. Darwin selbst war in diesem Punkt vorsichtiger. Obwohl er glaubte, dass es zur Erklärung der Vollkommenheit komplexer Organe und Instinkte nicht notwendig sei, sich auf „der menschlichen Vernunft überlegene, obwohl analoge Mittel (means)“ zu berufen, ließ er an mehreren Stellen der zweiten Ausgabe der Entstehung der Arten ausdrücklich Platz für die Aktivität eines Schöpfers. Bei der Verteidigung seiner Theorie gegen geologische Einwände beruft er sich darauf, dass die Lückenhaftigkeit der geologischen Geschichte nicht ausreiche, die Theorie der Abstammung von einigen geschaffenen Formen durch anschließende Modifikation umzustoßen (OS 376). Er sagt uns, dass er in einem Analogieschluss zu der Auffassung gelangt sei, dass alle organischen Wesen, die jemals auf dieser Erde gelebt haben, von irgendeiner Urform abstammen, der der Schöpfer das Leben eingehaucht hat (OS 391).

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Ja, Darwin ist sogar der Auffassung, dass sein System den Vorzug habe, besser zu unserem Wissen über Gottes Wirksamkeit in der Welt zu passen: „Meines Erachtens stimmt es nach allem, was wir wissen, besser mit den vom Schöpfer der Materie eingeprägten Gesetzen überein, daß das Entstehen und Vergehen der früheren und heutigen Erdenbewohner genauso wie Geburt und Tod der Individuen eine Folge sekundärer Ursachen ist. Wenn ich die Organismen nicht als Sonderschöpfungen, sondern als unmittelbare Nachkommen weniger Wesen betrachte, die schon lebten, ehe die erste kambrische Schicht sich gebildet hatte, so scheinen sie mir dadurch veredelt zu werden.“ (OS 395) 9

Darwin erhob Einwände gegen die Sonderschöpfung einzelner Arten, nicht gegen die Schöpfung überhaupt. Wenn Neodarwinisten behaupten, dass Darwins Einsichten es uns ermöglichen, den gesamten Kosmos zu erklären, ergeben sich an drei wichtigen Stellen philosophische Schwierigkeiten: bezüglich des Ursprungs der Sprache, des Lebens und des Universums. Im Falle der menschlichen Art besteht eine besondere Schwierigkeit darin, den Ursprung der Sprache durch natürliche Auslese zu erklären, da es sich bei der Sprache um ein System von Konventionen handelt. Die Erklärung des Ursprungs eines bestimmten Merkmals in einer Population durch natürliche Auslese setzt voraus, dass dieses Merkmal bei bestimmten Individuen der Population auftritt. Die natürliche Auslese könnte beispielsweise eine bestimmte Beinlänge begünstigen, und die Individuen mit längeren Beinen würden sich stärker vermehren als die anderen Individuen der Population. Doch damit diese Art der Erklärung von Merkmalen gegeben werden kann, muss es möglich sein, sich das Auftauchen des Merkmals bei einzelnen Individuen vorzustellen. Es ist unproblematisch, ein einzelnes Individuum mit einer Beinlänge von n zu beschreiben. Die Vorstellung, dass es einen einzelnen menschlichen Sprachbenutzer geben könnte, ist hingegen sehr wohl problematisch. Es ist nicht leicht zu erklären, wie der Mensch begonnen haben mag, Sprache zu verwenden, indem man behauptet, dass die sprechenden Individuen der Population Vorteile hatten und sich deshalb stärker vermehrten als die nicht sprechenden Individuen. Das Problem besteht hierbei nicht allein darin, sich vorzustellen, wie eine spontane Mutation ein Sprache verwendendes Individuum hervorbringen könnte, sondern es besteht vielmehr darin zu verstehen, wie irgendjemand als ein sprechendes Individuum beschrieben werden könnte, bevor eine Gemeinschaft von Sprachbenutzern existiert. Die menschliche Sprache ist eine regelgeleitete, gemeinschaftliche Aktivität, die von den Signalsystemen, die man bei nichtmenschlichen Tieren findet, vollkommen verschieden ist. Wenn wir uns das soziale und konventionelle Wesen 9

Zitiert nach: C. Darwin, Die Entstehung der Arten, übersetzt von C. W. Neumann (Stuttgart: Reclam, 1976), 677.

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Darwins Theorie der Evolution in der Darstellung des Jahrbuchs für das Jahr 1882 des satirischen Magazins Punch, 22 Jahre nach dem Erscheinen von Die Entstehung der Arten. Die Bildunterschrift lautet: Der Mensch ist nur ein Wurm.

der Sprache vergegenwärtigen, müssen wir erkennen, dass die Vorstellung, die Sprache könne sich aufgrund der Vorteile entwickelt haben, die sprachbenutzende Individuen im Gegensatz zu den anderen hatten, sehr merkwürdig ist. Sie scheint fast ebenso absurd wie die Vorstellung, dass sich Banken entwickelt haben könnten, weil Individuen, die über die angeborene Fähigkeit, Schecks auszustellen, verfügten, im Vergleich zu denen, die diese Fähigkeit nicht besaßen, im Vorteil waren. Die Sprache kann nicht das Ergebnis eines Lernvorgangs anhand von Versuch

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und Irrtum sein, denn eine solche Art des Lernens setzt feste Ziele voraus, die wiederholte Versuche entweder erreichen oder nicht (wie eine Ratte in einem Labyrinth eine Futterkugel finden kann oder nicht). Doch es gibt kein Ziel, zu dem die Sprache das Mittel ist: Man kann nicht das Ziel haben, eine Sprache zu erwerben, denn man benötigt eine Sprache, in der man diesen Wunsch formulieren kann. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie die Sprache durch natürliche Auslese entstanden sein könnte. Ebenso schwer ist es zu verstehen, wie Leben auf diese Weise entstehen könnte. Wie erfolgreich die natürliche Auslese bei der Erklärung des Ursprungs bestimmter Arten von Lebewesen auch sein mag: Wie es dazu kam, dass es so etwas wie Arten überhaupt gibt, kann sie offensichtlich nicht erklären. Darwin hat nie behauptet, dass sie dies kann. Eine Erklärung für den Ursprung des Lebens hat er nicht vorgeschlagen. Im Gegensatz dazu versuchen Neodarwinisten uns häufig zu beschreiben, wie das Leben begann. Sie spekulieren dabei zum Beispiel über elektrische Entladungen in einer organischen Ursuppe. Diese Erklärungen sind von völlig anderer Art als diejenigen, die Darwin zur Erklärung der Evolution vorgeschlagen hat. Neodarwinisten versuchen das Leben als Produkt der zufälligen Wechselwirkung nichtlebender Stoffe und Kräfte zu erklären, die ausschließlich physikalischen Gesetzen gehorchen. Bei diesen Erklärungen, wie immer es um ihren Wert ansonsten bestellt sein mag, handelt es sich nicht um Erklärungen mithilfe der natürlichen Auslese. Natürliche Auslese und „Intelligent Design“ sind nicht auf die Weise miteinander unvereinbar, wie natürliche Auslese und die Schöpfungsgeschichte miteinander unvereinbar sind. Doch obwohl „Intelligent Design“ in bestimmten politischen Kreisen als Euphemismus für einen biblischen Fundamentalismus verwendet werden mag, liegt in der bloßen Idee einer extrakosmischen Intelligenz nichts, was einen zu einem Glauben an die jüdisch-christliche oder irgendeine andere religiöse Offenbarung verpflichten würde. Gewiss: Diskussionen über die Möglichkeit, dass eine solche Intelligenz existiert, gehören nicht in den naturwissenschaftlichen Schulunterricht. Wenn es anders wäre, handelte es sich nicht um eine extrakosmische Intelligenz, sondern um einen Teil der Natur. Doch das ist kein Grund dafür, warum Philosophen diese Vorstellung nicht ernst nehmen und in ihre Betrachtungen einbeziehen sollten. Das grundsätzlichste Argument für die Postulierung einer extrakosmischen, handlungsfähigen Instanz irgendwelcher Art ist sicherlich das Bedürfnis, den Ursprung des Universums selbst zu erklären. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Gott die Antwort auf die Frage „Warum existiert überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ darstellt. Die Frage selbst ist schlecht durchdacht: Dem Satz „Es gibt nichts“ kann kein kohärenter Sinn gegeben werden, und deshalb ist es nicht erforderlich zu fragen, warum er falsch ist. Was nach einer Erklärung verlangt, ist nicht die Existenz des Universums, sondern der Beginn seiner Existenz. Zu einer Zeit, zu der Philosophen und Wissenschaftler bereitwillig annahmen, dass es das Universum schon immer gegeben hatte, gab es keinen Grund, nach einer Ursache für seinen Ursprung zu suchen, sondern lediglich nach einer Erklärung für sein Wesen. Wird jedoch behaup-

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tet, dass das Universum ein bestimmtes Alter hat, d. h., dass es vor einer bestimmten Anzahl von Jahren angefangen hat zu existieren, dann scheint es vollkommen abwegig, einfach mit den Schultern zu zucken und es abzulehnen, nach einer Erklärung dafür zu suchen. Bei jedem anderen gewöhnlichen Ding könnten wir uns mit der unbekümmerten Erklärung, dass es einfach keinen Grund dafür gebe, warum es zu existieren begonnen habe, nicht beruhigen. Sofern wir keine kantische Sicht von den Grenzen der Vernunft akzeptieren, scheint es irrational, diese Fragehaltung aufzugeben, wenn das existierende Ding, dem diese Frage gilt, so allumfassend ist wie das Universum.

Newmans Philosophie der Religion Wenn man davon überzeugt ist, dass der Ursprung des Universums einer extrakosmischen Erklärung bedarf, so reicht dies allein für einen Glauben an Gott, wie er von den großen monotheistischen Religionen verstanden wird, nicht aus. Ja, einigen Gläubigen zufolge ist diese Überzeugung noch nicht einmal notwendig. Ein so frommer Philosoph wie John Henry Newman konnte schreiben: „Es ist in der Tat eine große Frage, ob der Atheismus mit den Phänomenen der physikalischen Wirklichkeit, für sich genommen, philosophisch nicht ebenso konsistent ist wie die Lehre von einer schöpferischen und lenkenden Macht.“ (US 186) Für Newman hatte die Rechtfertigung des religiösen Glaubens völlig andere Quellen, die er in seinem religionsphilosophischen Werk The Grammar of Assent 10 erläutert. Das Wort „Glaube“ hat für Newman einen sehr präzisen Sinn. Glaube an Gott ist mehr als die bloße Überzeugung, dass ein Gott existiert: Aristoteles glaubte, dass es einen ersten unbewegten Beweger gibt, doch diese Überzeugung war kein Glaube. Der Glaube an Gott war nicht notwendigerweise eine völlige Hingabe an Gott: Marlowes 11 Faust glaubt am Rande der Verdammnis noch immer an die Möglichkeit der Erlösung. Glaube unterscheidet sich von Vernunft und Liebe. Das besondere Merkmal einer Überzeugung, das sie zu einem Glauben im religiösen Sinne macht, ist, dass es ein Glaube an etwas ist, das von Gott offenbart wurde, ein Glaube an die Wahrheit einer Aussage auf das Wort Gottes hin. Dies war Newmans Glaubensverständnis. Es ist eine katholische Auffassung, die sich von derjenigen Luthers, die uns bei Kierkegaard begegnet ist, unterscheidet. Glaube, nicht als Hingabe, sondern als Überzeugung begriffen, ist ein Akt des Verstandes, nicht des Willens oder der Gefühle. Ist es jedoch ein rationaler, oder ein unüberlegter und irrationaler Akt des Verstandes? Newman erkennt an, dass das Zeugnis, 10 Anm. d. Übers.: Ins Deutsche übersetzt von T. Haecker, Philosophie des Glaubens (München: Wiechmann-Verlag, 1921) 11 Anm. d. Übers.: Christopher Marlowe (1564–1593) war ein englischer Dichter, Dramatiker und Übersetzer.

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auf das sich der Glaube beruft, für sich genommen schwach ist. Es kann nur jemanden überzeugen, der schon vorher für den Inhalt des Zeugnisses eingenommen ist. „Der Glaube […] verlangt nicht Beweise, die so schlüssig sind, wie es für […] eine Überzeugung aus Vernunftgründen erforderlich ist. Und warum? Aus folgendem Grund: Weil er hauptsächlich durch vorgängige Betrachtungen beeinflusst wird […] durch frühere Informationen, durch Voreingenommenheiten sowie durch Vorurteile (im guten Sinne dieses Wortes). Auf die Seele, die glaubt, wirken ihre eigenen Hoffnungen, Ängste und vorhandenen Überzeugungen.“ (US 179 f.)

Newman ist sich sehr wohl bewusst, dass der Nachdruck, den er auf die Notwendigkeit legt, das Herz für den Glauben vorzubereiten, den Anschein erwecken kann, der Glaube sei lediglich ein Wunschdenken. Er weist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass das Missverhältnis zwischen den Beweisen für eine Aussage und der Überzeugung von ihrer Wahrheit sowie die Bedeutung vorgängiger Haltungen sich nicht nur im religiösen Glauben, sondern auch in anderen Fällen von Glauben findet. „Wir hören eine Nachricht auf der Straße oder lesen etwas in einer Zeitung darüber. Wir wissen nichts über die Indizien; wir wissen weder, wer ihre Zeugen sind, noch haben wir irgendwelche Kenntnisse über sie: Doch manchmal glauben wir vorbehaltlos, und ein anderes Mal nicht. Manchmal glauben wir, ohne nach Beweisen zu fragen, während wir bei anderer Gelegenheit erst glauben, wenn wir sie erhalten haben. Würden wir von einem Gerücht erfahren, dass es in Syrien oder Südeuropa ein Erdbeben gegeben hat, würden wir es bereitwillig glauben, da es leicht der Wahrheit entsprechen könnte und weil es uns persönlich nichts anginge, wenn es wahr wäre. Hätte die Nachricht mit uns näher gelegenen Ländern zu tun, würden wir ihr nachgehen und versuchen, ihre Glaubwürdigkeit zu bestätigen. Wir fragen erst nach Beweisen, wenn wir uns auf keine vorgängigen Wahrscheinlichkeiten stützen können.“ (US 180)

Gegen Newmans Behauptung, dass Glaube vernünftig ist, obwohl seine Annahme weniger von Beweisen als von vorgängigen Wahrscheinlichkeiten abhängt, lassen sich zwei Einwände vorbringen. Der erste lautet, dass vorgängige Wahrscheinlichkeiten für dasjenige, was wahr ist, und das, was lediglich wahr zu sein scheint, in gleicher Zahl vorhanden sein können. Sie liefern keine vernünftige Regel, mit der sich eine echte von einer falschen Offenbarung unterschieden ließe. „Wenn eine Behauptung, dass Wunder geschehen sind, schon deshalb anzuerkennen ist, weil sie nun einmal aufgestellt wurde: Warum dann nicht bezüglich der Wunder Indiens ebenso wie derjenigen in Palästina? Wenn die abstrakte Möglichkeit einer Offenbarung der Maßstab für ihre Echtheit in einem konkreten Fall sein soll: Warum dann nicht im Falle Mohammeds ebenso wie im Falle der Apostel?“ (US 226)

Newmans Philosophie der Religion

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Newman, der niemals wortgewandter ist, als wenn es darum geht, mögliche Kritik an seiner eigenen Position zu formulieren, gibt uns nirgendwo eine befriedigende Antwort auf diesen Einwand. Zweitens kann man Newman entgegenhalten, dass es einen Unterschied zwischen einem religiösen Glauben und vernünftigen, wenn auch unzureichend begründeten Überzeugungen gibt, die wir im täglichen Leben als wahr akzeptieren. Um es in seinen eigenen Worten zu sagen: Das Christentum muss „ergriffen und als wahr festgehalten werden, weil es göttlich ist, nicht als wahr aus inneren Gründen, noch als wahrscheinlich wahr oder teilweise wahr, sondern als absolut sicheres Wissen, gewiss in einem Sinn, in dem sonst nichts gewiss sein kann“. In alltäglichen Fällen sind wir stets bereit, Indizien in Betracht zu ziehen, die gegen unsere Überzeugungen sprechen, doch der im religiösen Sinne Glaubende macht sich eine Gewissheit zu eigen, die sich weigert, irgendwelche Zweifel an den Glaubensartikeln zuzulassen. Newman entgegnet auf diesen Einwand, dass es selbst in profanen Angelegenheiten durchaus vernünftig sein kann, Einwände als gegenstandslose Trugbilder abzuweisen, wie sehr ein hartnäckiger Gegner auch auf ihnen bestehen oder wie lebhaft sie eine zwanghafte Einbildungskraft uns auch vorhalten mag. „Ich meine: ich wäre sicherlich ganz intolerant gegenüber einer Idee, wie der, daß ich eines Tages Kaiser der Franzosen sein werde; ich würde sie für zu absurd halten, um auch nur lächerlich zu sein, und denken, daß ich irrsinnig sein müßte, ehe ich sie haben könnte. Und versuchte ein Mann, mich zu überreden, daß Verräterei, Grausamkeit oder Undankbarkeit so preiswürdig seien, wie Ehrenhaftigkeit und Mäßigung, und daß ein Mann, der das Leben eines Schurken lebte und den Tod eines Unmenschen starb, von der künftigen Vergeltung nichts zu fürchten habe, so würde ich dafür halten, daß von mir nicht verlangt werden kann, auf seine Argumente zu hören, ausgenommen in der Hoffnung, ihn zu bekehren – wiewohl er mich wegen meiner Weigerung, seine Anschauungen zu untersuchen, einen bigotten Menschen und einen Feigling nennte.“ (GA 122) 12

Andererseits kann ein Glaubender natürlich die Argumente untersuchen, die für oder gegen seine religiöse Position sprechen. Dies zu tun, muss nicht Ausdruck einer Glaubensschwäche sein. Aber kann es nicht vorkommen, dass jemandes Nachforschungen zur Folge haben, dass er die Zustimmung zu seinem Bekenntnis aufgibt? Dies ist sehr wohl möglich, aber: „mein vages Bewußtsein von der Möglichkeit einer Umstürzung meines Glaubens im Lauf meiner Untersuchungen widerstreitet so wenig der Ehrlichkeit und Festigkeit je-

12 Zitiert nach: T. Haecker, Philosophie des Glaubens (München: Wiechmann-Verlag, 1921), 167.

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nes Glaubens, während die Untersuchungen vor sich gehen, wie die Anerkennung der Möglichkeit, daß mein Zug entgleise, ein Beweis ist für eine Absicht meinerseits, einem so großen Unglück mich auszusetzen.“ (GA 127) 13

Es ist nicht erforderlich, die Einzelheiten der Argumente zu verfolgen, mit denen Newman nach Kräften zu zeigen versucht, dass die Annahme des katholischen Glaubens ein Schritt einer vernünftigen Person sein kann. Er behauptet, dass die fortdauernde Geschichte des Judentums und der Christenheit trotz der Wechselfälle der menschlichen Angelegenheiten ein Phänomen ist, in dem sich die Wahrscheinlichkeit eines göttlichen Ursprungs deutlich zu erkennen gibt. Doch Newman gibt zu, dass dies nur für jemanden gilt, der bereits glaubt, dass es einen Gott gibt, der die Welt richten wird. Doch welchen Grund gibt es, überhaupt an Gott und ein künftiges Gericht zu glauben? In seiner berühmt gewordenen Antwort auf diese Frage beruft sich Newman auf das Zeugnis des Gewissens: „Wenn wir, indem wir Unrecht tun, denselben tränenvollen, herzbrechenden Gram fühlen, der uns erschüttert, wenn wir eine Mutter verletzen; wenn wir, indem wir Recht tun, dieselbe lichtvolle Heiterkeit des Geistes genießen, dieselbe sänftigende, wohltuende Freude, welche einem Lob folgt, das wir von einem Vater empfangen, so haben wir gewiß in uns das Bild einer Person, auf die unsere Liebe und Verehrung blicken; in deren Lächeln wir unser Glück finden; nach der wir uns sehnen; an die wir unsere Klagen richten; in deren Zorn wir uns verwirren und dahinschwinden. Diese Gefühle in uns sind derart, daß sie als erregende Ursache ein intelligentes Wesen erfordern.“ (GA 76) 14

Für Angehörige einer Generation nach Freud ist es schwer, diesen Text ohne ein deutlich spürbares Unbehagen zu lesen. Es ist nicht nur die bloße Tatsache des Gewissens – eines moralischen Urteils über das Gute und Böse –, was Newman als Andeutung der Existenz Gottes ansieht. Solche Urteile können als Schlussfolgerungen erklärt werden, zu denen wir durch den Gebrauch der natürlichen Vernunft und des gesunden Menschenverstandes gelangen, und werden von zahlreichen christlichen und utilitaristischen Philosophen auch so erklärt. Was Newman für das Echo der Ermahnungen eines höchsten Richters hält, ist die emotionale Färbung des Gewissens. Die Gefühle, die er so wortgewandt beschreibt, mögen tatsächlich nur angemessen sein, wenn es einen Vater im Himmel gibt. Doch wo es an Gründen fehlt, können keine Gefühle ihre eigene Angemessenheit garantieren. An früherer Stelle sind uns Parallelen zwischen den Glaubensverständnissen von 13 Zitiert nach: T. Haecker, Philosophie des Glaubens (München: Wiechmann-Verlag, 1921), 161. 14 Ebd., 90 f.

Der Tod Gottes und das Überleben der Religion

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Newman und Frege aufgefallen. Frege selbst hatte an Religionsphilosophie wenig Interesse. In den Grundlagen der Arithmetik findet sich jedoch eine Passage, die für jeden an der Möglichkeit von Gottesbeweisen Interessierten höchst bedeutsam ist. Frege weist darin auf eine Ähnlichkeit zwischen Existenz und Zahl hin. „Es ist ja Bejahung der Existenz nichts anderes als Verneinung der Nullzahl.“ (FA 65) 15 Was er hiermit sagen will, ist, dass die Bejahung der Existenz von etwas (zum Beispiel „Engel existieren“ oder „Es gibt [so etwas wie] Engel“) der Behauptung gleichkommt, dass es etwas gibt, das unter einen bestimmten Begriff (zum Beispiel Engel) fällt. Und zu behaupten, dass etwas unter einen bestimmten Begriff fällt, ist gleichbedeutend mit der Behauptung, dass die zu diesem Begriff gehörende Zahl nicht Null ist. Frege zufolge erreicht der ontologische Beweis für das Dasein Gottes aus folgendem Grund nicht sein Ziel: Existenz ist eine Eigenschaft von Begriffen, nicht von Gegenständen. Dies bedeutet, dass „dass es einen Gott gibt“ nicht Teil des Begriffs von Gott sein kann. Ebenso wenig kann „dass es nur einen Gott gibt“ Teil dieses Begriffs sein. Gibt es tatsächlich einen und nur einen Gott, dann ist dies keine Eigenschaft Gottes, sondern des Begriffs Gott. Freges Argument wurde von vielen späteren Philosophen – unter anderen von Bertrand Russell – so verstanden, dass dadurch dem ontologischen Gottesbeweis der Todesstoß versetzt wird. Doch so einfach ist die Sache nicht. Frege hat nicht bewiesen, dass es niemals möglich ist, von den Komponenten eines Begriffs auf seine Eigenschaften zu schlussfolgern, wie es im ontologischen Argument geschieht. Frege selbst zieht aus den Komponenten des Begriffs gleichseitiges rechtwinkliges Dreieck den Schluss, er habe die Eigenschaft, dass ihm die Zahl Null beigelegt wird. Vielleicht, so könnte man argumentieren, könnte es Fälle geben, in denen aus den Teilmerkmalen eines Begriffs auf Existenz oder Einzigkeit geschlossen werden kann. Wenn man darüber hinaus – wie einige spätere Logiker – bereit ist, in seine Ontologie nicht nur wirkliche, sondern auch mögliche Gegenstände aufzunehmen, dann ist Existenz in der Tat eine Eigenschaft eines Objekts: Sie ist dann genau dasjenige, was einige von ihnen wirklich und nicht nur möglich macht.

Der Tod Gottes und das Überleben der Religion Zwei Jahre bevor Frege seine Kritik des ontologischen Gottesbeweises veröffentlichte, hatte Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft verkündet, dass Gott tot sei, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden sei. Er tat dies jedoch nicht in der Sprache eines Philosophen, sondern eines Evangelisten. Er stellte keine Argumente gegen eine bestimmte These vor, sondern verkündete die froheste aller frohen

15 Zitiert nach: G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, herausgegeben von C. Thiel (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988), 64.

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Botschaften. „[E]ndlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, […] das Meer, unser Meer liegt wieder offen da.“ 16 Der christliche Gott, mit seinen Geboten und Verboten, stand bislang als größtes Hindernis der Fülle des Lebens im Wege. Nun, da er tot ist, sind wir frei, unseren Willen zum Leben auszudrücken. Nietzsche hatte wenig Geduld mit solchen Denkern – besonders in England –, die die christliche Moral erhalten wollten, obwohl sie den christlichen Glauben verwarfen. Besonders verächtlich sprach er von dem „Moral-Weiblein“ George Elliot, das nach der Emanzipation von der Theologie an der Moral festhalten wolle. „Das Christentum“, sagt Nietzsche, „ist ein System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. Bricht man aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht man damit auch das Ganze: Man hat nichts Notwendiges mehr zwischen den Fingern. Das Christentum setzt voraus, daß der Mensch nicht wisse, nicht wissen könne, was für ihn gut, was böse ist: er glaubt an Gott, der allein es weiß. Die christliche Moral ist ein Befehl; ihr Ursprung ist transzendent; sie ist jenseits aller Kritik, allen Rechts auf Kritik; sie hat nur Wahrheit, falls Gott die Wahrheit ist – sie steht und fällt mit dem Glauben an Gott.“ (TI 45) 17 Die Vorstellung von einem moralischen Gesetz ohne einen Gesetzgeber ist leer. Engländer, die glauben, dass sie gut und böse durch Intuition erkennen können, befinden sich noch unter dem Einfluss des Christentums, das sie abgeworfen haben. Während eine gesunde Moral „von einem Instinkt des Lebens beherrscht“ werde, ist die herkömmliche Moral widernatürlich. Sie wendet sich gegen die Instinkte des Lebens. „Indem sie sagt ‚Gott sieht das Herz an‘, sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens […]. Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Kastrat […]. Das Leben ist zu Ende, wo das ‚Reich Gottes‘ anfängt.“ (TI 23) 18 Ein Denker, der Nietzsches Kritik der Heiligkeit ernst nahm, war William James. Für Nietzsche, bemerkte er, stehe der Heilige für wenig mehr als Kriecherei und sklavisches Verhalten. Er ist der verdrehte Kranke, der Typus des Degenerierten par excellence, der Mann, dem es an ausreichender Lebendigkeit fehlt. Erlangte er die Vorherrschaft, geriete der Typus Mensch in Gefahr. Die Antipathie des armen Nietzsche, sagte James, sei selbst krankhaft genug, doch das von ihm beschriebene Aufeinanderprallen von zwei Idealen sei real und wichtig. „Der ganze Streit“, schrieb er, „dreht sich hauptsächlich um zwei Punkte: Sollen wir uns vor allem der sichtbaren oder eher der unsichtbaren Welt anpassen? Und sollen die Mittel unserer Anpassung

16 Zitiert nach: F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band III, 574. 17 Zitiert nach: F. Nietzsche, Götzendämmerung, in: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari (München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1999), Band VI, 114. 18 Ebd., 85.

Der Tod Gottes und das Überleben der Religion

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Philosophen haben seit Langem Beweise für und gegen die Existenz Gottes diskutiert, doch der Aufstieg und Niedergang von Religionen wurde weniger von Argumenten als von Gewohnheiten und Zwängen bestimmt. Die Abbildung zeigt einen Beleg für die Zahlung einer Strafe, die in der UdSSR „für den Glauben an Gott“ verhängt wurde.

in dieser sichtbaren Welt Aggressivität oder Widerstandslosigkeit sein?“ (VRE 361) 19 James widmete fünf seiner Gifford Lectures (1902) der Verteidigung des Wertes der Heiligkeit. Doch seine Verteidigung stand unter einer Einschränkung. „Abstrakt betrachtet ist der Heilige der am höchsten entwickelte Menschheitstypus, in seiner jeweiligen Umgebung kann er jedoch scheitern. So machen wir uns auf eigene Gefahr zu Heiligen.“ (VRE 10) 20 Die Vielfalt religiöser Erfahrung ist kein Werk der Philosophie, deren Leistungsfähigkeit auf diesem Gebiet James skeptisch gegenüberstand, und ebenso wenig ein Werk der Anthropologie, da es nicht auf empirischen Untersuchungen, sondern auf schriftlichen Quellen basiert. Es ist eher einem Kamasutra-Leitfaden zu den Erfahrungen von Personen vergleichbar, die in der Religion Erlösung und Erfüllung gesucht haben. (Nicht, dass James irgendeine Angleichung von Religion und Sexualität begrüßt hätte. „Es gibt kaum eine Vorstellung“, schrieb er, „die weniger instruktiv ist als diese Neuinterpretation der Religion als pervertierte Form der Sexualität.“ [VRE 33]) 19 Zitiert nach: W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, übersetzt von E. Herms und C. Stahlhut (Frankfurt: Insel Verlag, 1997), 378. 20 Ebd., 8.

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12 Gott

Außer der Heiligkeit betrachtete James religiöse Phänomene wie zum Beispiel das Sündenbewusstsein, das Erlebnis der Bekehrung und mystische Zustände. Die Behandlung von Heiligkeit und Bekehrung ließ die Frage unbeantwortet, ob „die Erfahrung göttlicher Gegenwart die Erfahrung von etwas objektiv Wahrem“ ist. James gelangte zu der Schlussfolgerung, dass die Mystik zu persönlich und zu vielfältig sei, um irgendeinen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben zu können. In den letzten Vorträgen seiner Vorlesungsreihe ging James der Frage nach, ob die Philosophie die Erfahrung des Göttlichen, die der religiöse Mensch mache, mit dem Siegel der Wahrheit versehen könne. James hatte wenig Hoffnung, dass ihm die traditionellen Gottesbeweise helfen könnten, weder das kosmologische und teleologische Argument, noch das Argument, das vom moralischen Gesetz auf einen Gesetzgeber schließt. Er schrieb: „Die Argumente für die Existenz Gottes widerstanden jahrhundertelang den Wogen der ungläubigen Kritik, die sich an ihnen brachen, die sie in den Ohren der Gläubigen nie ganz widerlegen konnten, langsam, aber sicher jedoch den Mörtel aus ihren Fugen wuschen.“ (VRE 420) 21 James listete die Eigenschaften Gottes auf, die die Theologen jahrhundertelang zu beweisen versucht hatten: die Selbstursprünglichkeit seiner Existenz (Aseität), seine Notwendigkeit, seine Einzigartigkeit, seine Geistigkeit, seine metaphysische Einfachheit, seine Unermesslichkeit und seine Allgegenwart, seine Allwissenheit und seine Allmacht. James verfährt mit diesen Begriffen der natürlichen Theologie auf die knappe, geradlinige Art eines Pragmatisten. Um die Bedeutung eines Gedankens zu entwickeln, behauptete er mit einer Verbeugung in Richtung von Peirce, müssten wir lediglich ermitteln, welches praktische Verhalten daraus folgte, und dieses Verhalten sei für ihn seine einzige Bedeutung. Wende man dieses Prinzip auf die metaphysischen Eigenschaften Gottes an, müsse man zugeben, dass ihnen jegliche verständliche Bedeutung fehle. „Nehmen wir z. B. die Ansichheit Gottes oder seine Notwendigkeit, seine Immaterialität, seine ‚Einfachheit‘ bzw. Überlegenheit gegenüber der inneren Vielfalt und Entwicklung endlicher Wesen, seine Unteilbarkeit, die in ihm fehlende Unterscheidung von Sein und Handeln, Substanz und Akzidenz, Potentialität und Aktualität, und alles übrige; seine Weigerung, einer Gattung anzugehören, seine aktualisierte Unendlichkeit, seine ‚Persönlichkeit‘, abgesehen von den moralischen Qualitäten, die sie in ihrem Verhalten zeigen mag, sein duldendes, aber nicht verursachendes Verhältnis zur Realität des Bösen, seine Selbstgenügsamkeit, Selbstliebe und absolute Seligkeit – um es klar zu sagen: wie will man von solchen Eigenschaften einen konkreten Bezug zu unserem Dasein herstellen? Und wenn sie alle keine bestimmte Anpassung unseres Verhaltens erfor-

21 Zitiert nach: W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, übersetzt von E. Herms und C. Stahlhut (Frankfurt: Insel Verlag, 1997), 431.

Der Tod Gottes und das Überleben der Religion

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dern, ist es dann für die Religion des Menschen überhaupt noch von Bedeutung, ob sie wahr oder falsch sind?“ (VRE 428) 22

So viel zu Gottes metaphysischen Eigenschaften. Doch wie verhält es sich mit seinen moralischen Eigenschaften, wie zum Beispiel mit seiner Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gnade? Gewiss stehen diese aus der Sicht des Pragmatismus auf einer anderen Stufe: Sie beeinflussen Angst, Hoffnung und Erwartungen auf konkrete Weise und sind die Grundlagen für einen heiligen Lebenswandel. Nun ja, diese Attribute mögen zwar eine Bedeutung haben, doch die dogmatische Theologie hat noch nie irgendwelche überzeugenden Argumente dafür vorgelegt, dass sie tatsächlich Attribute Gottes sind. Und der moderne Idealismus, davon war James überzeugt, habe der dogmatischen Theologie endgültig Lebewohl gesagt. James gelangt schließlich zu der Position, dass das Gefühl und nicht die Vernunft die Quelle der Religion ist. Philosophische und theologische Formeln sind ihm gegenüber sekundär. Das Einzige, was die Philosophie leisten kann, ist Folgendes: Sie kann bei der Artikulierung der religiösen Erfahrung behilflich sein, verschiedene ihrer Formen vergleichen, lokale und zufällige Elemente ihrer Ausdrucksformen beseitigen, zwischen verschiedenen Gläubigen vermitteln und zu einem Konsens der Meinungen beitragen. Die Aufzählung der göttlichen Attribute durch den Theologen ist nicht wertlos, doch ihr Wert ist ein ästhetischer, kein wissenschaftlicher Wert. „Diese Epitheta verleihen unserer Frömmigkeit eine besondere Aura und einen höheren Klang. Sie sind wie ein Loblied, wie ein herrlicher Gottesdienst, und klingen um so erhabener, je unbegreiflicher sie sind.“ (VRE 437 ff.) 23 Ist in einer von der Wissenschaft und ihren Gesetzten regierten Welt Raum für das Gebet? James unterscheidet zwischen Bittgebeten und Gebeten im weiteren Sinne. Innerhalb der Bittgebete trifft er eine weitere Unterscheidung zwischen Gebeten für besseres Wetter und Gebeten für die Genesung kranker Menschen. Erstere sind vergeblich, Letztere jedoch nicht unbedingt. „So steht fest, wenn innerhalb der Medizin überhaupt irgend etwas feststeht, daß Gebete unter bestimmten Umständen zur Genesung beitragen und als therapeutische Maßnahme unterstützt werden sollten.“ (VRE 443) 24 In einem weiteren Sinne verstanden ist ein Gebet „jede Art innerer Gemeinschaft oder Unterredung mit der als göttlich anerkannten Macht“. Sie bleibt James zufolge von wissenschaftlicher Kritik unberührt. Ja, das Gesamtergebnis seiner Untersuchung der religiösen Erfahrung besteht darin, dass „zur Religion, wo sie eine aktive Angelegenheit ist, der Glaube an die Gegenwart von etwas Geistigem gehört und die Über-

22 Zitiert nach: W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, übersetzt von E. Herms und C. Stahlhut (Frankfurt: Insel Verlag, 1997), 438 f. 23 Ebd., 450. 24 Ebd., 454.

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12 Gott

zeugung, dass in unserer Gebetsgemeinschaft mit dieser Gegenwart etwas Reales geschieht und geschaffen wird“. 25 Doch ist dieser Glaube wahr oder ist er nur ein anachronistischer Überrest eines vorwissenschaftlichen Zeitalters? Dass eine Religionswissenschaft das Wesen der Religion für wahr hält, ist ebenso wahrscheinlich wie, dass sie dieser Behauptung ablehnend gegenübersteht. James ist jedoch der Meinung, dass die Wissenschaft nicht notwendigerweise das letzte Wort haben muss. Die Religion hat es mit dem Einzelnen und seinem persönlichen Schicksal zu tun, die Wissenschaft hingegen mit dem Unpersönlichen und Allgemeinen. „Der einzige Gott, den die Wissenschaft gelten lässt, ist ein Gott universaler Gesetze, ein Gott, der einen Großhandel, keinen Krämerladen betreibt.“ (VRE 472) Doch was ist wirklicher: das Allgemeine oder das Besondere? James zufolge haben wir es „bei der Beschäftigung mit dem Kosmischen und dem Allgemeinen nur mit den Symbolen der Wirklichkeit zu tun […], während wir es mit Realitäten im vollen Wortsinn zu tun haben, sobald wir uns mit privaten und persönlichen Phänomenen als solchen beschäftigen“ (VRE 476). 26 Es ist absurd, wenn die Wissenschaft fordert, dass die ichhaften Elemente der Erfahrung unterdrückt werden sollten. „Die Religion ist aus der menschlichen Geschichte nicht wegzudenken, weil sie sich mit unseren persönlichen Schicksalen beschäftigt und dadurch in Kontakt bleibt mit den einzigen absoluten Realitäten, die wir kennen.“ (VRE 480) 27 In seinen letzten Schlussfolgerungen ist James bereit, die höchste Wirklichkeit im Universum „Gott“ zu nennen. Doch seine Beschreibung Gottes ist höchst nebulös. Sie ähnelt Matthew Arnolds Definitionen von Gott als „der Tendenz, mit der alle Dinge danach trachten, das Gesetz ihres Seins zu erfüllen“ oder „einer ewigen Macht, nicht wir selbst, die Gerechtigkeit schafft“. Die mangelnde Präzision von James’ Ausdrucksweise ist allerdings zu erwarten, da er die Religion letztlich für eine Sache des Gefühls hielt und davon überzeugt war, dass sich Gefühle ihrem Wesen nach nicht klar und deutlich ausdrücken lassen. Doch seine Beschreibung Gottes enttäuschte viele seiner Freunde, die ihn – wenn es um andere Themen ging – für einen Autor von beispielhafter Offenheit und Bestimmtheit hielten. Sein langjähriger Freund Oliver Wendell Holmes Jr. sagte: „Seine Wünsche ließen ihn die Lichter ausschalten, um dem Wunder eine Chance zu geben.“ 28

25 Zitiert nach: W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, übersetzt von E. Herms und C. Stahlhut (Frankfurt: Insel Verlag, 1997), 477. 26 Ebd., 481. 27 Ebd., 483. 28 Brief vom 1. September 1910, zitiert in: L. Menand, The Metaphysical Club (London: Flamingo, 2001), 436.

Freud über religiöse Illusion

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Freud über religiöse Illusion Freud hingegen wollte die Lichter heller machen und die dunklen Ecken der Seele ausleuchten, um die Welt von Verzauberungen zu befreien. Die Religion, erklärte er, sei eine Illusion, und er verwendete das Wort „Illusion“ in einem präzisen Sinne als ein Fürwahrhalten, das durch menschliche Wünsche bestimmt sei. Illusionen sind für Freud nicht notwendigerweise falsche Überzeugungen, wie es Täuschungen sind, sondern es sind Überzeugungen, die auf keinerlei Beweismaterial basieren. Wenn sie wahr sind, dann nur durch einen glücklichen Zufall. Ein Bürgermädchen könne sich zum Beispiel der Illusion hingeben, ein Prinz werde kommen, um sie zu heiraten. Dies wäre durchaus möglich, denn einige Fälle von dieser Art haben sich ereignet. Freuds Definition bedeutet, dass er behaupten kann, die Religion sei eine Illusion, während er – zumindest theoretisch – die Frage nach der Wahrheit der religiösen Überzeugungen offenlässt. Er meint, es sei nicht wahrscheinlich, dass der Messias kommen und ein goldenes Zeitalter gründen werde; doch religiöse Lehren könnten ebenso wenig widerlegt wie bewiesen werden. Religiöse Vorstellungen, sagt Freud in Die Zukunft einer Illusion, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens: „Es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines – aber nun mächtigeren – Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen.“ (FI 47 f.)29

Obwohl Freud erklärt, er wolle sich keineswegs anmaßen, die Behauptungen der Religion zu widerlegen, denkt er ganz offensichtlich, dass es für alle Beteiligten besser wäre, wenn die Religion allmählich verschwände. Die Religion habe große Dienste geleistet, indem sie geholfen habe, die Instinkte des Menschen im Zaum zu halten.

29 Zitiert nach: S. Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: S. Freud, Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Freud, E. Bibring und E. Kris (Frankfurt: Fischer Verlag, 1999), Band XIV, 352.

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12 Gott

Doch in den Tausenden von Jahren, in denen sie die Welt beherrschte, hat sie nur wenig erreicht. Es gibt keine Belege dafür, dass die Menschen im Allgemeinen glücklicher waren, als religiöse Lehren generell als wahr anerkannt wurden, und sie handelten mit Sicherheit nicht moralischer als in der Gegenwart. Durch den Fortschritt der Wissenschaft hat die Religion viel von ihrem Einfluss verloren. „Die Kritik hat die Beweiskraft der religiösen Dokumente angenagt, die Naturwissenschaft die in ihnen enthaltenen Irrtümer aufgezeigt, der vergleichenden Forschung ist die fatale Ähnlichkeit der von uns verehrten religiösen Vorstellungen mit den geistigen Produktionen primitiver Völker und Zeiten aufgefallen.“ (FI 63) 30 Bis zu diesem Punkt macht Freuds Religionskritik keinerlei Anleihen bei der Psychoanalyse. Doch seit seiner Schrift Totem und Tabu von 1913 vertrat er eine psychoanalytische Rekonstruktion des Ursprungs der religiösen Moral. In ihrer frühen Geschichte haben die Menschen in Horden gelebt, wobei jede Horde von einem Urvater regiert wurde, der die anderen Männer versklavte und alle Frauen besaß. Eines Tages schlossen sich die Männer zusammen und töteten den Urvater und richteten Tabus gegen Mord und Inzest ein. Diese Freveltat hinterließ ein Schuldbewusstsein, sodass die Menschen den ermordeten Vater in ihrer Einbildungskraft vergötterten und sich entschlossen, seinen Willen fortan zu respektieren. Die Religion wäre demnach die allgemeine Zwangsneurose der Menschheit. „[W]ie die [Zwangsneurose] des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung. Nach dieser Auffassung wäre vorauszusehen, daß sich die Abwendung von der Religion mit der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehen muß und daß wir uns gerade jetzt mitten in dieser Entwicklungsphase befinden.“ (FI 71) 31

Freud erklärt zwar, die Zeit sei gekommen, die Wirkungen der Verdrängung durch die Ergebnisse rationaler Geistesarbeit zu ersetzen. Doch tatsächlich ersetzt er keineswegs die Religion durch Wissenschaft, sondern er ersetzt den Mythos von Adams Sündenfall durch einen anderen Mythos, der als historische Darstellung nicht glaubwürdiger ist. Die Plausibilität, die Totem und Tabu gehabt haben mag, wurde durch Freuds spätere Schriften nicht erhöht, sondern verringert. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion behauptete er, dass der prähistorische Mord sich in historischer Zeit zweimal wiederholt habe: Einmal, als das jüdische Volk Moses ermordete (man lese und staune), und ein zweites Mal, als sie Jesus ermordeten. Daher „ist auch an der Auferstehung Christi ein Stück historischer Wahrheit, denn er war der wie-

30 Zitiert nach: S. Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: S. Freud, Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Freud, E. Bibring und E. Kris (Frankfurt: Fischer Verlag, 1999), Band XIV, 362. 31 Ebd., 367.

Philosophische Theologie nach Wittgenstein

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dergekehrte Urvater der primitiven Horde, verklärt und als Sohn an die Stelle des Vaters gerückt“ (SE xxiii. 89 f.). 32

Philosophische Theologie nach Wittgenstein Gott wird in Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus kaum erwähnt: Zweifellos gehört er zu den Dingen, über die man schweigen sollte. Doch während seines gesamten Lebens nahm Wittgenstein, obwohl er seinen katholischen Glauben schon früh aufgab, die Religion sehr ernst. „An einen Gott glauben“, schrieb er während des Ersten Weltkrieges in ein Notizbuch, „heißt sehen, dass das Leben einen Sinn hat.“ Doch an einen Gott glauben war keine Sache der Zustimmung zu einer Lehre. Die Evangelien liefern keine historische Grundlage für den Glauben. „Das Christentum gründet sich nicht auf eine historische Wahrheit, sondern es gibt uns eine (historische) Nachricht & sagt: jetzt glaube! Aber nicht glaube diese Nachricht mit dem Glauben, der zu einer geschichtlichen Nachricht gehört, – sondern: glaube, durch dick & dünn & das kannst Du nur als Resultat eines Lebens. Hier hast Du eine Nachricht! – verhalte Dich zu ihr nicht, wie zu einer anderen historischen Nachricht! Laß sie eine ganz andere Stelle in Deinem Leben einnehmen. – Daran ist nichts Paradoxes!“ (CV 32) 33

Wittgenstein war kein Gegner der Auffassung, dass das Christentum vertretbar sei und dass seine Vernünftigkeit durch einen als natürliche Theologie bezeichneten Zweig der Philosophie bewiesen werden könne. Er war der Ansicht, dass die Philosophie dem Leben keinen Sinn geben könne; sie könne bestenfalls eine Form von Weisheit lehren. Verglichen mit der brennenden Leidenschaft des Glaubens ist Weisheit jedoch nur kalte, graue Asche. Doch obwohl nur ein Glauben, nicht die Philosophie, dem Leben einen Sinn geben kann, bedeutet dies nicht, dass die Philosophie auf dem Gebiet des Glaubens keinerlei Rechte hat. Es kommt vor, dass in Glaubensdingen Unsinn geredet wird, und die Philosophie darf darauf hinweisen, wenn dies geschieht. Nachdem Wittgenstein uns im Tractatus ermahnt hatte, wir sollten über Dinge, über die wir nicht (sinnvoll) reden können, schweigen, erklärte er nach seiner Rückkehr zur Philosophie: „Scheue Dich ja nicht davor, Unsinn zu reden!“ (CV 56) 34 Doch er fuhr mit der Bemerkung fort: „Nur mußt Du auf deinen Unsinn lauschen.“ 32 Zitiert nach: S. Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: S. Freud, Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Freud, E. Bibring und E. Kris (Frankfurt: Fischer Verlag, 1999), Band XVI, 196. 33 Zitiert nach: L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Eine Auswahl aus dem Nachlaß, herausgegeben von G. H. von Wright unter Mitarbeit von H. Nyman. Neubearbeitung des Textes durch A. Pichler (Frankfurt: Suhrkamp, 1994), 72. 34 Ebd., 112.

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12 Gott

Die logischen Positivisten waren ebenfalls der Auffassung, die religiöse Sprache sei unsinnig; doch den paradoxen Respekt, den Wittgenstein ihr erwies, empfanden sie ihr gegenüber nicht. In Sprache, Wahrheit und Logik legte A. J. Ayer einen knappen Beweis dafür vor, dass religiöse Rede sinnlos war und „Gott“ kein echter Name. Ein religiöser Mensch, sagt er uns, würde sagen, dass Gott ein transzendentes Wesen sei, das nicht anhand seiner erfahrbaren Manifestationen definiert werden könne. Doch in diesem Fall sei „Gott“ ein metaphysischer Begriff: „Denn die Aussage ‚Gott existiert‘ ist eine metaphysische Äußerung, die weder wahr noch falsch sein kann. Demselben Kriterium zufolge kann kein Satz, der vorgibt, das Wesen eines transzendenten Gottes zu beschreiben, irgendeine wissenschaftliche Bedeutung haben. Es ist wichtig, diese Auffassung von religiösen Behauptungen nicht mit der von Atheisten oder Agnostikern zu verwechseln. Denn für einen Agnostiker ist die Meinung bezeichnend, daß die Existenz Gottes eine Möglichkeit ist, an die zu glauben oder nicht zu glauben es keinen guten Grund gibt; und für einen Atheisten ist der Standpunkt bezeichnend, daß die Nichtexistenz Gottes zumindest wahrscheinlich ist. Unsere Ansicht jedoch, daß alle Äußerungen über das Wesen Gottes unsinnig sind, ist weit davon entfernt, mit ihnen identisch zu sein oder auch nur einer dieser gängigen Meinungen irgendwelche Unterstützung zu geben; sie ist mit ihnen unvereinbar. Denn wenn die Behauptung, daß es einen Gott gibt, unsinnig ist, dann ist die Behauptung des Atheisten, daß es keinen Gott gibt, gleichermaßen unsinnig, da nur eine sinnvolle Position sinnvoll widerlegt werden kann.“ (LTL 115) 35

Einige Jahre lang waren gläubige Philosophen durch die Argumente der Verifikationisten gegen religiöse Lehren beunruhigt, sie versuchten ihre Bedeutung zu verteidigen, ohne sich sonderlich darum zu bemühen, ihre Wahrheit zu beweisen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts nahm das Selbstvertrauen einiger Vertreter der natürlichen Theologie wieder zu, und sie waren längst nicht mehr so defensiv in ihrer Haltung. Ein typischer Philosoph dieser Richtung ist Alvin Plantinga, der zunächst am Calvin College in Grand Rapids und später an der Universität von Notre Dame unterrichtete. So hat Plantinga beispielsweise eine komplizierte Neuformulierung des ontologischen Arguments für das Dasein Gottes vorgelegt. In einer vereinfachten Version lautet seine Neuformulierung folgendermaßen: Beginnen wir zunächst damit, die Eigenschaft der maximalen Vortrefflichkeit zu definieren, eine Eigenschaft, die Allwissenheit, Allmacht und moralische Vollkommenheit umfasst. Nun ist offensichtlich, dass Gott, wenn er existiert, in der wirklichen Welt über maximale Vortrefflich-

35 Zitiert nach: A. J. Ayer, Sprache, Wahrheit und Logik, übersetzt und herausgegeben von H. Herring (Stuttgart: Reclam, 1970), 153.

Philosophische Theologie nach Wittgenstein

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keit verfügt. Doch maximale Vortrefflichkeit ist für die Gottheit nicht ausreichend: Wir müssen auch andere als die wirkliche Welt in unsere Überlegungen einbeziehen. „Diejenigen, die Gott verehren, stellen ihn sich nicht als ein Wesen vor, das in dieser Welt zufällig eine überragende Vortrefflichkeit besitzt, das in anderen Welten dagegen machtlos oder unwissend ist und einen zweifelhaften moralischen Charakter hat. Wir können hier einen Unterschied zwischen Größe und Vortrefflichkeit machen; wir könnten sagen, dass die Vortrefflichkeit eines Wesens in einer gegebenen Welt W nur von seinen […] Eigenschaften in W abhängt, während seine Größe in W nicht nur von seiner Vortrefflichkeit in W abhängt, sondern auch von seiner Vortrefflichkeit in anderen Welten. Das äußerste Ausmaß an Größe würde damit in einer Welt W nur von einem Wesen genossen werden, das maximale Vortrefflichkeit in W und ebenso in jeder anderen Welt hat.“ 36

Maximale Größe ist daher maximale Vortrefflichkeit in jeder möglichen Welt, und es ist maximale Größe, nicht nur maximale Vortrefflichkeit, was der Göttlichkeit oder Gottheit entspricht. Alles, was maximale Größe besitzt, muss in jeder möglichen Welt existieren, denn in einer Welt, in der es nicht existiert, besitzt es keine Eigenschaften. Wenn es möglich ist, dass maximale Größe exemplifiziert ist, dann ist sie in jeder Welt exemplifiziert. Wenn dies so ist, dann ist sie in unserer Welt, der wirklichen Welt, exemplifiziert. Dies bedeutet, dass die Gottheit exemplifiziert ist und dass Gott existiert. Plantingas Argument hängt offensichtlich von der Stimmigkeit des Gedankenmodells der möglichen Welten ab sowie davon, dass für das Problem der Identität in verschiedenen Welten eine Lösung gefunden worden ist. Er ist der Überzeugung, dass er eine solche Lösung gefunden hat, und er legt sie in seinem Buch ausführlich dar. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass das Problem im Falle eines möglichen Gottes, statt eines möglichen Menschen, nicht so dringlich erscheint. Es scheint töricht, Plantinga die Frage zu stellen: „Die Existenz welchen Gottes beweist du?“ Es bleibt jedoch der Fall, dass das ganze Argument – wie Plantinga selbst einräumt – von der Wahrheit der Voraussetzung abhängt, dass maximale Größe exemplifiziert sein kann, d. h. in seiner eigenen Begrifflichkeit, dass sie in einer möglichen Welt exemplifiziert ist. In seiner Philosophie des Abendlandes behauptete Russell, es gebe Fälle, in denen die Philosophie in zentralen Fragen zu einer definitiven Antwort gelangt sei. Als Beispiel führt er das ontologische Argument für die Existenz Gottes an. „[W]ie wir sahen, wurde es von Anselm erfunden, von Thomas von Aquin verworfen, von Des-

36 A. Plantinga, The Nature of Necessity (Oxford: Clarendon Press, 1974), 214. Zitiert nach: A. Plantinga, Gott und Notwendigkeit, übersetzt von M. Siebel, in: Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, herausgegeben von J. Bromand und G. Kreis (Berlin: Suhrkamp, 2011), 473.

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12 Gott

cartes akzeptiert, von Kant widerlegt und von Hegel erneut aufgestellt. Ich glaube, man kann ganz entschieden sagen, dass die moderne Logik durch eine Analyse des Existenzbegriffs die Ungültigkeit dieses Beweises dargelegt hat.“ 37 Plantingas Formulierung einer neuen Version dieses Beweises mithilfe von logischen Mitteln, die moderner sind als die, welche Russell zur Verfügung standen, sollte jedem Historiker der Logik, der ein philosophisches Problem für endgültig gelöst erklärt, als ein heilsamer Hinweis auf die Gefahr dienen, der er sich mit dieser Behauptung aussetzt.

37 Zitiert nach B. Russell, Philosophie des Abendlandes, übersetzt von E. Fischer-Wernecke und R. Gillischewski (Zürich: Europa Verlag, 1975), 795.

Zeittafel 1757

Burkes Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen 1789 Benthams Einführung in die Prinzipien der Moral und Regierung 1790 Kants Kritik der Urteilskraft 1800 Wordsworths Vorwort zu Lyrischen Balladen 1841 Feuerbachs Wesen des Christentums 1843 Mills System der deduktiven und induktiven Logik 1844 Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (zweite Auflage) 1846 Kierkegaards Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 1848 Marx’ und Engels’ Kommunistisches Manifest 1859 Mills Über die Freiheit; Darwins Die Entstehung der Arten 1867 Marx’ Das Kapital, Band I 1870 Newmans Philosophie des Glaubens 1872 Nietzsches Die Geburt der Tragödie 1874 Sidgwicks Methoden der Ethik 1879 Freges Begriffsschrift 1884 Freges Grundlagen der Arithmetik 1887 Nietzsches Zur Genealogie der Moral 1897 Tolstois Was ist Kunst? 1900 Freuds Die Traumdeutung 1900–1901 Husserls Logische Untersuchungen 1905 Russells Über das Kennzeichnen 1910 Russells und Whiteheads Principia Mathematica 1918 Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus 1927 Heideggers Sein und Zeit 1929 Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis 1936 Ayers Sprache, Wahrheit und Logik 1943 Sartres Das Sein und das Nichts 1945 Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1953 Wittgensteins Philosophische Untersuchungen 1957 Anscombes Absicht 1959 Strawsons Einzelding und logisches Subjekt 1960 Quines Wort und Gegenstand 1967 Derridas Grammatologie 1970 Davidsons „Mentale Ereignisse“ 1971 Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit

Siglen und Abkürzungen Sofern nichts anderes angegeben ist, werden die Werke nach Seitenzahlen zitiert. Anscombe ERP Ayer LTL

Bentham B P

Brentano PES

Collingwood PA Darwin OS

Davidson EA ITI

Derrida Diff. G P SP

Ethics, Religion and Politics (Oxford: Blackwell, 1981)

Language, Truth and Logic (Sprache, Wahrheit und Logik), 2nd edn. (London: Gollancz, 1949)

The Works of Jeremy Bentham, J. Bowring (ed.), 10 vols. (New York: Russell & Russell, 1962) Introduction to the Principles of Morals and Legislation, J. H. Burns and H. L. A. Hart (eds.) (London: Athlone, 1982); zitiert nach Kapitel, Abschnitt und/oder Unterabschnitt

Psychologie vom empirischen Standpunkt, O. Kraus (Hrsg.), 2 vols. (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1955)

Principles of Art (Prinzipien der Kunst) (Oxford: Clarendon Press, 1938)

On the Origin of Species (Die Entstehung der Arten), Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1996)

Essays on Actions and Events (Handlung und Ereignis) (Oxford: Oxford University Press, 1980) Inquiries into Truth and Interpretation (Wahrheit und Interpretation) (Oxford: Oxford University Press, 1984)

Writing and Difference (Die Schrift und die Differenz), trans. A. Bass (London: Routledge & Kegan Paul, 1978) Of Grammatology (Grammatologie), trans. G. C. Spivak (Baltimore, Md.: Johns Hopkins University Press, 1976) Positions, trans. A. Bass (Chicago: Chicago University Press, 1981) Speech and Phenomena (Die Stimme und das Phänomen) (Evanston, III.: Northwestern University Press, 1973)

Engels Siehe unter Marx.

Siglen und Abkürzungen

Feuerbach EC W Frege BLA CN CP

FA PW Freud EI FI NIL SE

Husserl CCH CM Ideas

LI

James T VRE

Kant M

Kierkegaard E/O FT

335

The Essence of Christianity (Das Wesen des Christentums), trans. G. Eliot (New York: Harper, 1957) Sämtliche Werke, 12 Bände (Stuttgart: Bolin, 1959–60)

The Basic Laws of Arithmetic (Die Grundgesetze der Arithmetik): Exposition of the System, trans. M. Furth (Berkeley: University of California Press, 1964) Conceptual Notation and Related Articles (Begriffsschrift und verwandte Aufsätze), trans. T. W. Bynum (Oxford: Oxford University Press, 1972) Collected Papers on Mathematics, Logic and Philosophy (Gesammelte Aufsätze zur Mathematik, Logik und Philosophie), B. McGuinness (ed.) (Oxford: Blackwell, 1984) The Foundations of Arithmetic (Die Grundlagen der Arithmetik), trans. J. L. Austin (Oxford: Oxford University Press, 1950, 1980) Posthumous Writings (Nachgelassene Schriften) (Oxford: Blackwell, 1979)

The Ego and the Id (Das Ich und das Es) (London: Hogarth Press, 1962) The Future of an Illusion (Die Zukunft einer Illusion) (Garden City, NY: Doubleday, 1964) New Introductory Lectures on Psychoanalysis (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse) (London: Hogarth Press, 1949) The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, 24 vols. (London: Hogarth Press, 1981)

B. Smith and D. Woodruff Smith (eds.), The Cambridge Companion to Husserl (Cambridge: Cambridge University Press, 1995) Cartesian Meditations (Cartesianische Meditationen) (Dordrecht: Kluwer, 1988) Ideas Pertaining to a Pure Phenomenology (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie), 3 vols. (Dordrecht: Kluwer, 1980, 1982, 1989) Logical Investigations (Logische Untersuchungen), J. N. Findlay (ed.), 2 vols. (London: Routledge, 2001)

The Meaning of Truth (Die Bedeutung der Wahrheit) (New York: Prometheus Books, 1997) Varieties of Religious Experience (Die Vielfalt religiöser Erfahrung) (London: Fontana, 1960)

Critique of Judgement (Kritik der Urteilskraft), J. C. Meredith (ed.) (Oxford: Oxford University Press, 1978)

Either/Or (Entweder/Oder), trans. A. Hannay (Harmondsworth: Penguin, 1992) Fear and Trembling (Furcht und Zittern), trans. A. Hannay (Harmondsworth: Penguin, 1985)

336 P SD

Marx C CM

CPE EW GI TF VPP

Mill 3E A CCM CW L SL U Newman GA US Nietzsche BGE BT GM TI WP Z

Siglen und Abkürzungen

Papers and Journals: A Selection (Aufsätze und Tagebücher: Eine Auswahl), trans. A. Hannay (Harmondsworth: Penguin, 1996) Sickness unto Death (Die Krankheit zum Tode), trans. A. Hannay (Harmondsworth: Penguin, 1989)

Capital (Das Kapital), D. McLellan (ed.), Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1995) K. Marx and F. Engels, The Communist Manifesto (Das Kommunistische Manifest), D. McLellan (ed.), Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1992) Critique of Political Economy (Kritik der politischen Ökonomie) (Moscow: Progress, 1971) Early Writings (Frühschriften) (Harmondsworth: Penguin, 1975) The German Ideology (Die deutsche Ideologie), C. J. Allen (ed.) (London: Lawrence & Wishart, 1920, 2004) Theses on Feuerbach (Thesen über Feuerbach) (New York: Prometheus Books, 1998) Values, Price and Profit (Lohn, Preis und Profit), E. M. Aveling (ed.) (New York: International Publishers, 1935)

Three Essays on Religion (Drei Essays über die Religion) (London: Longman, 1887) Autobiography, J. Stillinger (ed.) (Oxford: Oxford University Press, 1969) The Cambridge Companion to Mill, J. Skorupski (ed.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1998) The Collected Works of John Stuart Mill, J. M. Robson (ed.), 33 vols. (Toronto: University of Toronto Press, 1963–91) On Liberty and Other Essays (Über die Freiheit und andere Essays), Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1991) A System of Logic (System der deduktiven und induktiven Logik); zahlreiche Auflagen; zitiert nach Buch und Abschnittsnummer Utilitarianism (Utilitarismus), M. Warnock (ed.) (London: Collins, 1962)

The Grammar of Assent (Die Grammatik der Zustimmung, dtsch. Philosophie des Glaubens), I. Ker (ed.) (Oxford: Oxford University Press, 1985) University Sermons (Universitätspredigten) (London: Rivington, 1844)

Beyond Good and Evil (Jenseits von Gut und Böse), trans. M. Faber, Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1998) The Birth of Tragedy (Die Geburt der Tragödie), trans. S. Whiteside (Harmondsworth: Penguin, 1993, 2003) The Genealogy of Morals (Zur Genealogie der Moral), trans. D. Smith, Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1996) Twilight of the Idols (Götzendämmerung), trans. D. Langan, Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1998) The Will to Power (Der Wille zur Macht) (New York: Vintage, 1968) Thus Spoke Zarathustra (Also sprach Zarathustra) (Harmondsworth: Penguin, 1961)

Siglen und Abkürzungen

Peirce CP EWP P Popper OSE

Quine FLPV WO Rawls TJ

Russell A AM IMP PM PP

Ryle CM CP Sartre BN EH

Schopenhauer EA WWI

Sidgwick ME

337

Collected Papers of Charles Sanders Peirce (Gesammelte Aufsätze von Charles Sanders Peirce), 8 vols. (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1931–58) The Essential Writings of Charles Peirce (Die wichtigsten Schriften von Charles Peirce), E. C. Moore (ed.) (New York: Prometheus Books, 1998) Pragmatism (Der Pragmatismus) (New York: Prometheus Books, 1997)

The Open Society and its Enemies (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde), 2 vols. (London: Routledge, 1945)

From a Logical Point of View (Von einem logischen Standpunkt) (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1953) Word and Object (Wort und Gegenstand) (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1960)

A Theory of Justice (Eine Theorie der Gerechtigkeit) (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1971)

The Autobiography of Bertrand Russell, 1872–1916 (London: Allen & Unwin, 1967) The Analysis of Mind (Die Analyse des Geistes) (London: Allen & Unwin, 1921) Introduction to Mathematical Philosophy (Einführung in die mathematische Philosophie) (London: Allen & Unwin, 1917) Principia Mathematica (Die Prinzipien der Mathematik) (Cambridge: Cambridge University Press, 1903; 2nd edn., 1927) The Problems of Philosophy (Die Probleme der Philosophie) (London: Oxford University Press, 1912)

The Concept of Mind (Der Begriff des Geistes) (London: Hutchinson, 1949) Collected Papers (Gesammelte Aufsätze), 2 vols. (London: Hutchinson, 1949)

Being and Nothingness (Das Sein und das Nichts), trans. H. Barnes (London: Routledge, 1969) Existentialism and Humanism (Ist der Existentialismus ein Humanismus?) (London: Methuen, 1947)

Essays and Aphorisms, trans. R. J. Hollingdale (London: Penguin, 2004) The World as Will and Representation (Die Welt als Wille und Vorstellung), trans. E. F. Payne, 2 vols. (New York: Dover, 1969); sämtliche Zitate stammen aus Band I

Methods of Ethics (Methoden der Ethik) (London: Macmillan, 1901)

338

Siglen und Abkürzungen

Strawson I

Individuals (Einzelding und logisches Subjekt) (London: Methuen, 1959)

Tolstoi WA

What is Art? (Was ist Kunst?) (Oxford: Oxford University Press, 1966)

Wittgenstein BB CV NB OC PG PI

TLP Z

The Blue and Brown Books (Das Blaue und das Braune Buch) (Oxford: Blackwell, 1958) Culture and Value (Vermischte Bemerkungen) (Oxford: Blackwell, 1980) Notebooks 1914–1916 (Notizbücher 1914–1916) (Oxford: Blackwell, 1961) On Certainty (Über Gewißheit) (Oxford: Blackwell, 1969) Philosophical Grammar (Philosophische Grammatik), trans. A. Kenny (Oxford: Blackwell, 1974) Philosophical Investigations (Philosophische Untersuchungen), trans. G. E. M. Anscombe (Oxford: Blackwell, 1953, 1997); Teil I nach Absatz zitiert, Teil II nach Seite Tractatus Logico-Philosophicus (London: Routledge, 1921, 1961); nach Absatz zitiert Zettel (Oxford: Blackwell, 1967)

Bibliografie Allgemeine Werke Die Routledge History of Philosophy enthält fünf Bände, die sich mit dem in diesem Band behandelten Zeitraum überschneiden. Dies sind Band VI, The Age of German Idealism (Die Zeit des Deutschen Idealismus), R. Solomon and K. Higgins (ed.); VII, The Nineteenth Century (Das neunzehnte Jahrhundert), C. L. Ten (ed.); VIII, Continental Philosophy in the 20th Century (Kontinentale Philosophie im 20. Jahrhundert), R. Kearney (ed.); IX, Philosophy of Science, Logic and Mathematics in the 20th Century (Philosophie der Wissenschaft, Logik und Mathematik im 20. Jahrhundert), S. G. Shanker (ed.); und X, Philosophy of Meaning, Knowledge and Value in the 20th Century (Philosophie der Bedeutung, Erkenntnis und des Wertes im 20. Jahrhundert), J. V. Canfield (ed.). Auch die Routledge Encyclopaedia of Philosophy enthält zahlreiche Artikel über die in diesem Band behandelten Philosophen und Themen. Mit „AP“ markierte Titel sind in der Routledge-Reihe Arguments of the Philosophers erschienen, mit „PM“ markierte Titel in der Oxford-Reihe Past Masters („Meister der Vergangenheit“). Copleston, F. C., A History of Philosophy, vols. vii–ix (London: Burnes Oates, 1963–75) Kenny, A., A Brief History of Western Philosophy (Oxford: Blackwell, 1998) – (ed.), The Oxford Illustrated History of Western Philosophy (Oxford: Oxford University Press, 1994) Kneale, W. and M., The Development of Logic (Oxford: Oxford University Press, 1962) MacIntyre, A., A Short History of Ethics (London: Macmillan, 1966) – After Virtue: A Study in Moral Theory (London: Duckworth, 1981)

Bentham The Collected Works of Jeremy Bentham, J. H. Burns, J. R. Dinwiddy and F. Rosen (ed.) (London: Athlone, 1968–) Introduction to the Principles of Morals and Legislation, J. H. Burns and H. L. A. Hart (ed.) (London: Oxford University Press, 1982) Dinwiddy, J. R., Bentham (Oxford: Oxford University Press, 1989) Harrison, R., Bentham (London: Routledge, 1983) (AP) Hart, H. L. A., Essays on Jurisprudence and Political Theory (Oxford: Oxford University Press, 1982)

Mill und Sidgwick The Collected Works of John Stuart Mill, J. M. Robson (ed.), 33 vols. (Toronto: University of Toronto Press, 1963–91) Mill, J. S., On Liberty, Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1991) –, Principles of Political Economy, Oxford World’s Classics (Oxford: Oxford University Press, 1994)

340

Bibliografie

The Cambridge Companion to Mill, J. Skorupski (ed.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1998) Sidgwick, Methods of Ethics (1874); die am einfachsten erhältliche Ausgabe ist (London: Macmillan, 1901) Alexander, E., Matthew Arnold and John Stuart Mill (London: Routledge & Kegan Paul, 1965) Berlin, I., Four Essays on Liberty (London: Oxford University Press, 1969) Crisp, R., A Guidebook to J. S. Mill’s Utilitarianism (London: Routledge, 1997) Mackie, J. L., The Cement of the Universe (Oxford: Oxford University Press, 1973) Ryan, A., The Philosophy of John Stuart Mill, 2nd edn. (New York: Macmillan, 1988) Schultz, B., Henry Sidgwick, Eye of the Universe (Cambridge: Cambridge University Press, 2004) Skorupski, J., John Stuart Mill (London: Routledge, 1989) (AP)

Schopenhauer Die Werke Schopenhauers sind in mehreren deutschen Ausgaben erhältlich. Die neueste ist: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand, herausgegeben von L. Lütkehaus, 5 Bände (Zürich: Haffmans Verlag, 1988). Die am einfachsten erhältliche neuere englische Ausgabe seines Hauptwerks ist The World as Will and Representation, trans. E. F. Payne, 2 vols. (New York: Dover, 1969). Zu den englischen Übersetzungen seiner anderen Werke gehören: Essays and Aphorisms, trans. R. J. Hollingdale (London: Penguin, 2004) Essay on the Freedom of the Will, trans. K. Kolenda (Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1960) On the Fourfold Root of the Principle of Sufficient Reason, trans. E. F. Payne (La Salle, Ill.: Open Court, 1974) The Cambridge Companion to Schopenhauer, C. Janaway (ed.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1999) Gardiner, P., Schopenhauer (Bristol: Thoemmes Press, 1997) Hamlyn, D. W., Schopenhauer (London: Routledge & Kegan Paul, 1980) (AP) Magee, B., The Philosophy of Schopenhauer (Oxford: Clarendon Press, 1997) Tanner, M., Schopenhauer: Metaphysics and Art (London: Phoenix, 1998)

Kierkegaard Es gibt eine zwanzigbändige dänische Ausgabe von Kierkegaards Werken, die drei Auflagen erlebt hat. Eine vollständige englische, von H. V. Hong und anderen übersetzte Ausgabe wird in 26 Bänden von Princeton University Press herausgegeben. In England hat Penguin von A. Hannay erstellte Übersetzungen mehrerer Werke Kierkegaards herausgegeben (Fear and Trembling [1985]; The Sickness unto Death [1989]; Either/Or [1992]; Papers and Journals: A Selection [1996]) The Cambridge Companion to Kierkegaard, A. Hannay and G. D. Marino (ed.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1998) Gardiner, P., Kierkegaard (Oxford: Oxford University Press, 1998) (PM) Hannay, A., Kierkegaard (London: Routledge, 1991) (AP) Pojman, L., The Logic of Subjectivity: Kierkegaard’s Philosophy of Religion (Tuscaloosa: University of Alabama Press, 1984) Rudd, A., Kierkegaard and the Limits of the Ethical (Oxford: Oxford University Press, 1993)

Bibliografie

341

Marx Die erste vollständige deutsche Ausgabe der Werke von Marx und Engels wurde 1968 von der Regierung der DDR herausgegeben (Marx-Engels Werke). Eine englische Übersetzung seiner Werke wurde vom Londoner Verlagshaus Lawrence & Wishart begonnen. Zwischen 1974 und 1984 sind englische Übersetzungen der Hauptwerke in der Marx Library (New York: Random House; Harmondsworth: Penguin) erschienen. Eine praktische, gekürzte Fassung von Das Kapital wurde 1995 von D. McLellan in der Reihe Oxford World’s Classics herausgegeben. The Cambridge Companion to Marx, T. Carver (ed.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1991) Berlin, I., Karl Marx, 4th edn. (Oxford: Oxford University Press, 1978) Kolakowski, L., Main Currents in Marxism, trans. P. S. Falla, 3 vols. (Oxford: Oxford University Press, 1978) Mclellan, D., Karl Marx: His Life and Thought (New York: Harper & Row, 1973) Singer, P., Marx (Oxford: Oxford University Press, 1980) (PM) Wheen, F., Karl Marx (London: Fourth Estate, 1999)

Darwin On the Origin of Species ist in vielen Ausgaben erhältlich. Die bekannteren sind die Ausgaben in den Reihen Oxford World’s Classics und Penguin Classics. Neuere philosophische Erörterungen dieses Werkes findet der Leser in folgenden Büchern: Ruse, M., Taking Darwin Seriously: A Naturalistic Approach to Philosophy (Oxford: Oxford University Press, 1986) Sober, E., Philosophy of Biology (Oxford: Oxford University Press, 1993)

Newman Newmans philosophisches Hauptwerk ist sein Essay in Aid of a Grammar of Assent (I. Ker [ed.] [Oxford: Oxford University Press, 1985]). Es wurde von T. Haecker als Philosophie des Glaubens ins Deutsche übersetzt (München: Wiechmann-Verlag, 1921). (Eine gute Biografie über Newman ist die in der Reihe Past Masters erschienene Biografie von O. Chadwick (Oxford: Oxford University Press, 1983.) Grave, S. A., Conscience in Newman’s Thought (Oxford: Oxford University Press, 1989)

Nietzsche Die kritische Ausgabe der gesammelten Werke Nietzsches ist die Kritische Gesamtausgabe der Werke, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, 30 Bände in acht Teilen (Berlin: de Gruyter, 1967–). Eine praktischere deutsche Ausgabe ist Werke in drei Bänden, herausgegeben von K. Schlechta (München: Carl Hanser Verlag, 1965). Die folgenden Werke wurde von W. Kaufmann ins Englische übersetzt und bei Random House in New York herausgegeben: Beyond Good and Evil (1966), The Birth of Tragedy (1967), On the Genealogy of Morals (1967), The Gay Science (1974). Mehrere Werke Nietzsches, einschließlich Thus Spoke Zarathustra, sind in den Reihen Oxford World’s Classics und Penguin Classics verfügbar.

342

Bibliografie

Danto, A., Nietzsche as Philosopher: An Original Study (New York: Columbia University Press, 1965) Hollingdale, R. J., Nietzsche (London: Routledge & Kegan Paul, 1973) Schacht, R., Nietzsche (London: Routledge & Kegan Paul, 1983)

Peirce Die Collected Papers of Charles Sanders Peirce wurden von 1931 bis 1958 von Harvard University Press in acht Bänden herausgegeben. Eine neue, chronologische Ausgabe wird von Indiana University Press herausgegeben und befindet sich seit 1982 in Arbeit. Zwischenzeitlich kann auf folgende praktische Sammlungen von Peirce’ wichtigsten Aufsätzen zurückgegriffen werden: die zweibändige Ausgabe The Essential Peirce, N. Houser und C. Kloesel (ed.) (Bloomington: Indiana University Press, 1992–1994) sowie die einbändige Ausgabe The Essential Writings, E. C. Moore (ed.) (New York: Prometheus Books, 1998) Brent, J., Charles Sanders Peirce: A Life (Bloomington: Indiana University Press, 1993) Hookway, C., Peirce (London: Routledge, 1985) (AP)

Frege Die am einfachsten greifbaren englischen Übersetzungen von Freges Werken sind: Conceptual Notation and Related Articles, trans. T. W. Bynum (Oxford: Oxford University Press, 1972) The Foundations of Arithmetic, trans. J. L. Austin (Oxford: Oxford University Press, 1950, 1980) Collected Papers on Mathematics, Logic and Philosophy, B. McGuinness (ed.) (Oxford: Blackwell, 1984) The Basic Laws of Arithmetic: Exposition of the System, trans. M. Furth (Berkeley: University of California Press, 1964) Dummett, M., Frege: Philosophy of Language (London: Duckworth, 1973) –, The Interpretation of Frege’s Philosophy (London: Duckworth, 1981) –, Frege: Philosophy of Mathematics (London: Duckworth, 1991) Kenny, A., Frege (London: Penguin, 1995; Oxford: Blackwell, 2000)

James The Principles of Psychology von 1890 wurden mehrfach neu aufgelegt. Ein praktischer Nachdruck ist die Dover-Taschenbuchausgabe (zwei Bände in einem; New York: Dover Publications, 1950). Auch das Werk Varieties of Religious Experience ist in mehreren Ausgaben verfügbar, darunter eine, die 1961 bei Collier Macmillan in London erschienen ist. Ayer, A. J., The Origins of Pragmatism (London: Macmillan, 1968) Bird, G., William James (London: Routledge & Kegan Paul, 1987) (AP)

Bibliografie

343

Die britischen Idealisten und ihre Kritiker Ayer, A. J., Language, Truth and Logic, 2nd edn. (London: Gollancz, 1949) Bradley, F. H., Appearance and Reality (Oxford: Oxford University Press, 1893) –, Ethical Studies, 2nd edn. (Oxford: Oxford University Press, 1927) Green, T. H., Prolegomena to Ethics (Oxford: Oxford University Press, 1883) McTaggart, J. M. E., The Nature of Existence (Cambridge: Cambridge University Press, 1910, 1927) Moore, G. E., Principia Ethica (Cambridge: Cambridge University Press, 1903) Baldwin, T., G. E. Moore (London: Routledge, 1990) Geach, P., Truth, Love, and Immortality: An Introduction to McTaggart’s Philosophy (London: Methuen, 1979) Wollheim, R., F. H. Bradley (Harmondsworth: Penguin, 1959)

Russell Zu den wichtigsten von Russells zahlreichen Veröffentlichungen gehören: The Principles of Mathematics (Cambridge: Cambridge University Press, 1903; 2nd edn., 1927); „On Denoting“, in: Mind, 14 (1905) (häufig nachgedruckt); The Problems of Philosophy (Oxford: Oxford University Press, 1912); Our Knowledge of the External World (London: Allen & Unwin, 1914); Introduction to Mathematical Philosophy (London: Methuen, 1917); The Analysis of Mind (London: Allen & Unwin, 1921); Human Knowledge: Its Scope and Limits (London: Allen & Unwin, 1948) Ayer, A. J., Bertrand Russell (Chicago: University of Chicago Press, 1988) Pears, D. F., Bertrand Russell and the British Tradition in Philosophy (London: Fontana, 1967) Sainsbury, M., Russell (London: Routledge, 1979) (AP)

Wittgenstein Wittgensteins vollständiger Nachlass ist als Faksimile sowie in transkribierter Form auf der Webseite der Universität Bergen verfügbar und wurde außerdem von Oxford University Press (Oxford, 1998) herausgegeben. Der Tractatus Logico-Philosophicus wurde 1921 von Routledge & Kegan Paul in London herausgegeben. Eine neuere Übersetzung von D. F. Pears und B. McGuinness wurde 1961 herausgegeben. Alle anderen Schriften Wittgensteins wurden erst nach seinem Tode von Blackwell in Oxford herausgegeben, unter anderem Notebooks 1914–1916 (1961); Philosophical Investigations (1953, 1997); Philosophical Remarks (1966); Philosophical Grammar (1974); Culture and Value (1980); Remarks on the Philosophy of Psychology (1980); Last Writings on the Philosophy of Psychology (1982, 1992); On Certainty (1969). Ein umfassender, wissenschaftlicher Kommentar zu den Philosophischen Untersuchungen wurde zwischen 1980 und 1996 von G. P. Baker und P. M. S. Hacker verfasst. 1994 habe ich selbst zusammen mit Blackwell eine Textsammlung unter dem Titel The Wittgenstein Reader herausgegeben. Eine zweite Auflage erschien 2006. Anscombe, G. E. M., An Introduction to Wittgenstein’s ‚Tractatus‘ (London: Hutchinson, 1959) Kenny, A., Wittgenstein (Harmondsworth: Penguin, 1973; Oxford: Blackwell, 2006) Kripke, S., Wittgenstein on Rules and Private Language (Oxford: Blackwell, 1982) Pears, D., The False Prison (Oxford: Oxford University Press, 1997, 1998) Rundle, B., Wittgenstein and Contemporary Philosophy of Language (Oxford: Blackwell, 1990)

344

Bibliografie

Analytische Philosophie Eine ausgezeichnete Übersicht bietet P. M. S. Hacker in Wittgenstein’s Place in Twentieth Century Analytic Philosophy (Oxford: Blackwell, 1996). Wichtige Werke einzelner analytischer Philosophen sind: Anscombe, G. E. M., Intention (Oxford: Blackwell, 1957) Austin, J. L., How to Do Things with Words (Oxford: Oxford University Press, 1961) Davidson, D., Essays on Actions and Events (Oxford: Oxford University Press, 1980) –, Inquiries into Truth and Interpretation (Oxford: Oxford University Press, 1984) Føllesdal, D., Referential Opacity and Modal Logic (London: Routledge, 2004) Geach, P., Mental Acts (London: Routledge & Kegan Paul, 1958) Quine, W. v. O., From a Logical Point of View (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1953) –, Word and Object (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1960) Rawls, J., A Theory of Justice (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1971) Ryle, G., The Concept of Mind (London: Hutchinson, 1949) –, Collected Papers (London: Hutchinson, 1949) Strawson, P. F., Individuals (London: Methuen, 1959)

Freud Freuds Werke sind auf Deutsch erschienen als Sigmund Freud. Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Freud und anderen (Frankfurt: S. Fischer Verlag, 1960–87). Im Englischen gibt es The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, 24 vols. (London: Hogarth Press, 1981). Sämtliche der wichtigsten Werke sind in der von A. Richards und A. Dickson herausgegebenen Penguin Freud Library verfügbar. The Cambridge Companion to Freud, J. Neu (ed.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1991) Gay, P., Freud: A Life for our Time (New York: Norton, 1988) Lear, J., Freud (London: Routledge, 2005) Rieff, P., Freud: The Mind of the Moralist (Chicago: Chicago University Press, 1979) Wollheim, R., Sigmund Freud (Cambridge: Cambridge University Press, 1971) –, and Hopkins, J. (eds.), Philosophical Essays on Freud (Cambridge: Cambridge University Press, 1982)

Husserl Die kritische Ausgabe der Werke Husserls begann 1950 mit der Veröffentlichung der Cartesianischen Meditationen. Seither sind 28 Bände erschienen, die zunächst von L. van Breda und später von S. Ijsseling herausgegeben wurden. Die Ausgabe erscheint jetzt bei Kluwer (Dordrecht). Die nützlichsten englischen Übersetzungen sind Logical Investigations, trans. J. N. Findlay, 2nd edn. (London: Routledge, 2001); Ideas Pertaining to a Pure Phenomenology and to a Phenomenological Philosophy, First Book, trans. F. Kersten (The Hague: Nijhoff, 1982); Second Book, trans. R. Rojcewicz and A. Schuwer (Dordrecht: Kluwer, 1989); Third Book, trans. T. E. Klein and W. E. Phol (Dordrecht: Kluwer, 1980); Husserl, Shorter Works, ed. and trans. P. McCormick and F. Elliston (Notre Dame, Ind.: University of Notre Dame Press, 1981). The Cambridge Companion to Husserl, B. Smith and D. W. Smith (eds.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1995).

Bibliografie

345

Bell, D., Husserl (London: Routledge, 1989) (AP) Dreyfus, H. L. (ed.), Husserl, Intentionality and Cognitive Science (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1982) Mohanty, J. N. and McKenna, W. R. (eds.), Husserl’s Phenomenology: ATextbook (Lanham, Md.: Centre for Advanced Research in Phenomenology, 1989) Simons, P., Philosophy and Logic in Central Europe from Bolzano to Tarski (Dordrecht: Kluwer, 1992)

Heidegger Der geplante Umfang der Gesamtausgabe der Werke Heideggers beträgt ungefähr 100 Bände, wovon mittlerweile etwa 70 bei Klostermann (Frankfurt) erschienen sind. Zu den englischen Übersetzungen der Hauptwerke gehören: Being and Time, trans J. Stambaugh (Albany, NY: SUNY Press, 1996); Basic Writings, D. F. Krell (ed.) (New York: Harper & Row, 1977); What is Philosophy?, trans. W. Kluback and J. T. Wilde (New Haven, Conn.: College & University Press, 1958) The Cambridge Companion to Heidegger, C. Guignon (ed.) (Cambridge: Cambridge University Press, 1993) Dreyfus, H. L., Being-in-the-World: A Commentary on Heidegger’s ‚Being and Time‘ Division I (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1991) Mulhall, S., On Being in the World: Wittgenstein and Heidegger on Seeing Aspects (London: Routledge, 1990) Pöggler, O., Martin Heidegger’s Path of Thinking, trans. D. Magurshak and S. Barber (Atlantic Highlands, NJ: Humanities Press, 1987) Steiner, G., Martin Heidegger (Chicago: University of Chicago Press, 1987)

Sartre La Nausée (Paris, 1938), trans. R. Baldick as Nausea (Harmondsworth: Penguin, 1965) L’Être et le néant (Paris, 1943), trans. H. Barnes als Being and Nothingness (London: Routledge, 1969) L’Existentialisme est un humanisme (Paris, 1946), trans. P. Mairet als Existentialism and Humanism (London: Methuen, 1948) Caws, P., Sartre (London: Routledge, 1979) (AP) Cooper, D., Existentialism, a Reconstruction (Oxford: Blackwell, 1990) Warnock, M., The Philosophy of Sartre (London: Hutchinson, 1965)

Derrida De la grammatologie (Paris, 1967), trans. G. C. Spivak als Of Grammatology (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1976) L’Écriture et la différence (Paris, 1967), trans. A. Bass als Writing and Difference (London: Routledge & Kegan Paul, 1978) Positions, trans. A. Bass (Chicago: University of Chicago Press, 1981) Norris, C., Derrida (London: Routledge, 1987) (AP) Royle, N., Jacques Derrida (London: Routledge, 2003)

Liste der Abbildungen S. 16 S. 23 S. 32 S. 45 S. 49

S. 61

S. 72 S. 84 S. 95 S. 105 S. 112

S. 118 S. 130 S. 147 S. 155 S. 161 S. 177

S. 184

S. 193 S. 200

Benthams Plan eines perfekten Gefängnisses: des Panopticons Time Life Pictures/Getty Images H. Taylor National Portrait Gallery, London Ein postum gezeichnetes Bildnis Kierkegaards von V. Marstrand akg-images Salomé, Rée und Nietzsche akg-images C. S. Peirce mit seiner zweiten Frau Juliette Preston Tuttle Collection, Institute for Studies in Pragmaticism, Texas Tech University – mit Erlaubnis des philosophischen Seminars der Universität Harvard Der Speisesaal von Trinity College, Cambridge Wim Swaan Photographic Collection Research Library, The Getty Research Institute, Los Angeles, California (96.P.21) A. J. Ayer Suzanne Bernard/Camera Press, London Ryle im Christ Church College, Oxford, ca. 1970 M. Heidegger akg-images J. Derrida Steve Pyke/Getty Images Lady Glencora Palliser Das Syndikat von Cambridge University Library, aus Anthony Trollopes Phineas Finn 1869, W.18.10 Freges Symbolismus Ein Brief Freges an Husserl Wittgensteins Haus akg-images/ullstein bild John Henry Newman Getty Images Das Vatikanische Konzil unter Pius IX. Getty Images Bestelltes Feld J. Miró, Das bestellte Feld (La Terre labourée) 1923–1924. Öl auf Leinwand 66  92,7 cm (26  36,5 Zoll). S. R. Guggenheim Museum, New York 72.2020 © Succession Miro/ ADAGP, Paris und DACS, London 2006 Eine Lithographie von F. Stassen zeigt den Moment in Wagners Oper, in dem Isolde Tristan das verhängnisvolle Gift reicht akg-images Ein Vorlesungsmanuskript von Peirce Mit Erlaubnnis der Houghton-Bibliothek der Universität Harvard; MS CSP 301 W. v. O. Quine Harvard University

Liste der Abbildungen

S. 208

S. 222 S. 226 S. 239 S. 249 S. 257 S. 270 S. 283 S. 287

S. 297 S. 306 S. 311 S. 315

S. 323

347

Phrenologisches Diagramm Das Syndikat der Universitätsbibliothek von Cambridge, aus Spurzheims Phrenology: or the Doctrine of the Mind (Phrenologie: oder die Lehre vom Geist) 1825, c.82.23 Wittgenstein in der Zeit, zu der er seine endgültige Philosophie des Geistes ausarbeitete Anthony Kenny Ein Mosaik in S. Marco in Venedig, das zeigt, wie Gott Adam eine Seele verleiht © Photo SCALA, Florenz (Basilica di San Marco, Venedig, 1998) Eine Fotografie Schopenhauers aus der Zeit um 1850 akg-images Der Übermensch in einer Darstellung auf einem der Bücher Nietzsches akg-images E. Anscombe und P. Geach Steve Pyke/Getty Images Ein Billett für die Prager Erstaufführung von Mozarts Oper Don Giovanni akg-images Jeremy Benthams „Auto-Ikone“ University College, London Ein Punch-Cartoon mit einer satirischen Darstellung von Mills Kreuzzug für die Gleichheit der Geschlechter Getty Images Eine Fotografiepostkarte von K. Marx akg-images G. Dorés Darstellung von Abrahams Opfer (1866) Time Life Pictures/Getty Images J. S. Mill mit seiner Stieftocher Helen Getty Images Darwins Theorie der Evolution in der Darstellung des Jahrbuchs für das Jahr 1882 des satirischen Magazins Punch Getty Images Beleg für die Zahlung einer Strafe, die 1974 in der UdSSR „für den Glauben an Gott“ verhängt wurde

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Register abbildende Beziehung von Bildern 143 Abbildung, Form der 143, 144, 216 Abduktion 117–119 Abraham 30, 305–309 Abschreckung 281, 282 Absicht, Arten von 201, 202 Absichten vs. Motive 202 absichtliche Handlung 201 absolute Gottheit 58 absolute Freiheit des Menschen 99, 100 absolute Wahrheit 48, 249 absoluter Idealismus 179, 203 Absolutes 59, 70, 71, 200 absolutes Sein 93 Absolutisten vs. Konsequenzialisten 233 Adler, Alfred 85 Allgemeinbegriffe 21, 65, 107, 188 ampliative Schlüsse 117 Analyse 63, 64, 67, 68, 81 –, Russells 140–142 analytische Philosophie 50, 63, 74–82 Anomalie des Mentalen 80 Anscombe, Elizabeth 74, 75, 256–258 Apollo 43, 205, 271, 272 Aquin, Thomas von 201, 234, 304, 305 Arbeit 292–296 Architektur 266, 267, 274 Argument vs. Funktion 111–117, 135, 136, 189, 190 Aristoteles 37, 74, 159, 185, 186, 198, 211, 227, 228, 229, 230, 317 Arithmetik 52–55, 62, 89, 90, 124, 125, 154, 166 –, analytisch vs. synthetisch 53 Arnold, Matthew 326 Arten siehe Gattungen und Arten Aseität 321 Askese 26, 29, 232, 233, 241, 242 Ästhetik 12, 260–279 Atheismus 317, 330 atomare Aussagen 65, 67, 68 atomare Fakten 64 atomare Gegenstände 68 atomare Sachverhalte 196

Attribute Gottes 325 Auden, W. H. 88 Auferstehung 82, 328 Auge 39, 180 Augustinus, heiliger 87, 312 Ausdrücke –, ohne Gegenstand 63, 64, 140, 141 –, prädikative vs. attributive 255 Aussagen 63, 64, 67, 68, 69, 76, 77, 141–146, 216–218 –, Analyse komplexer 141, 142 Aussagenlogik 51, 114, 115, 122–125 Austin, J. L. 101, 102 Auto-Ikone 17, 283 Autorität, Methode der 160–162 Axiom der Unendlichkeit 62 axiomatische Systeme 51, 115, 120, 123, 126, 127 Axiome 54, 55, 120, 122–124 Ayer, A. J. 71, 72, 99, 253, 329, 330 Bacon, Francis 109 Bauer, Bruno 31 Beauvoir, Simone de 100 Beccaria, Cesare 15 Bedeutung 75, 76, 77, 79, 90, 100, 132–152, 196, 217, 219, 220, 324 –, prädikative vs. attributive 253 –, vs. Sinn 132–135, 144 Befindlichkeit 96 Begriffe 52, 53, 60, 190, 191 –, der Zahl 89, 90 –, und Logik 91 –, vs. Gegenstände 53, 54 Beharrlichkeit 160 Behaviorismus 221, 224, 225 Bekanntschaft 149, 150, 154, 170–172 Bekanntsein mit 64, 65 Bentham, Jeremy 14–19, 26, 201–203, 229–234, 237, 280–283 Bereich der objektiven Gedanken 169 Berkeley, George 20, 179 Bernays, Paul 124 Bestrafung 281, 282

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Register

–, verhältnismäßige 282 Beweis –, vs. Glauben 318 –, vs. Ursache 166 Beweise 41, 42, 123–125, 156–159, 174, 224, 225 Bewusstheit der Umstände einer Handlung 202 Bewusstsein 33, 36, 58, 93, 99, 169, 173–175, 197, 210, 211, 219, 224 Bezeichnung von Dingen 21, 107 Bildtheorie der Aussage/des Satzes/des Gedankens 68, 141–146, 216 Blackstone, William 14 Bloomsbury-Gruppe 85, 252 Blumenstrauß-Methode 104 böser Geist 175 Bosheit 27, 202, 204, 240 siehe auch gut und böse Bourgeoisie 34, 293 Bradley, F. H. 59 Brentano, Franz 89, 218, 219 Breuer, Joseph 84 Burke, Edmund 260, 261 Cambridge, Universität von 59, 60, 61, 66, 70, 71, 74, 75 Carnap, Rudolf 69 Charakter, menschlicher 238–241 Charcot, Jean-Martin 84 Chomsky, Noam 152 Christentum 246–248, 256, 269, 308–310, 312, 319, 322, 329 Clough, Arthur Hugh 279 Cogito, ergo sum 168, 169, 171, 173 Coleridge, Samuel Taylor 19, 264 Collingwood, R. G. 277, 278 Comte, Auguste 19, 20, 282 Croce, Benedetto 276, 277 Dame, die europäische 290 Darwin, Charles 36–40, 185–187, 312–316 –, Abstammung des Menschen 37, 312 –, Entstehung der Arten 36, 37, 40, 312 , 313, 315 –, Die Fahrt der Beagle 36 Darwin, Erasmus 38 Dasein 94–96 Davidson, Donald 78–80, 152 de dicto vs. de re 127 Deduktion 117, 118, 165

definite Beschreibungen 52, 130–132 Dekonstruktion des Gegensatzes von Rede und Schrift 102 Denken, Gesetze des 122, 167 deontische Logik 129 Derrida, Jacques 100–106 Descartes, René 94, 151, 163, 168, 170–173, 175, 186, 209–211, 222, 226 Determinismus 86, 87, 192, 300 Dichtung 133, 264, 277 différance 103, 104 Ding an sich 27, 174, 181, 183, 237, 238, 242 Dinge, die Werkzeuge sind 94, 98 Dionysos 43, 271, 273 DNA 40 Don Giovanni 268–270 Doppeldeutigkeit von Wörtern 133 drittes Reich (Frege) 169 Drittheit 191–193 Dualismus, kartesischer 81, 197, 225 Dublin, Universität von 41 dynamische Metaphysik 198 Edwards, Jonathan 47 Ego 81, 94, 97, 168, 169, 221, 222 siehe auch Ich Egoismus 25, 240 Ehe 24, 245, 246, 285–289 Eigentlichkeit 96 Einbildungskraft 97, 98, 264, 274 einfache Gegenstände 67, 71 Einfaches (simples) 196 Einzeldinge vs. Universalien 64, 188 Elementarsätze 51, 70, 71, 122, 142, 196 Elgar, Edward 41 Eliot, George 322 Emerson, Ralph Waldo 47 Emotivismus 253 Empedokles 37 Empfängnisverhütung 291 Empfehlen einer Handlung 253–256 Empirismus 20–22, 24, 74, 107–110, 151, 153–159 Engels, Friedrich 33, 34, 36, 298 Entelechie 228 Entfremdung 31, 32, 303, 304 Enthaltung des Urteils 172, 173 Entsagung 27, 29, 237–242, 243, 307 Entscheidungsverfahren 123–125 epistemische Möglichkeit 129 epoché 92, 93, 172–174

Register

Erfahrungssätze 176 Erhabene, das 260–263, 265, 266, 277 Erkenntnistheorie 48, 71, 149, 153–178 Es 86, 214–216 Ethik 146, 159, 229–259, 301, 304 Eudämonismus 229 Evolution 36–40, 166, 180, 187, 188, 194 Existenzialismus 83, 93–100, 309 experimentelle Untersuchungen, Richtlinien für 109 Exzentrizität 285 Faktizität 95 Fallibilismus 48 Falsifikation 70, 118 Familienähnlichkeit zwischen Sprachspielen 73 Farbe eines Textes 133–135 Faschismus 276, 299 Feudalismus 33, 292, 293 Feuerbach, Ludwig 31, 32, 303, 304 Fichte, Johann Gottlieb 179 Folgen(s), Begriff des 52, 53 Folgerungssinn (illative sense) 159 Føllesdal, Dagfinn 128 Foot, Philippa 255, 258, 259 Form vs. Inhalt 70 Formalisten 188, 189 Fortschritt 20, 22 –, menschlicher 286, 300 –, moralischer 27, 240 –, sozialer 284, 299 –, wissenschaftlicher 42, 300, 328 Fossilien und Schöpfung 40 Fox, Charles James 15 Franklin, Benjamin 47 Franz von Assisi 242 Französische Revolution 14, 20, 293 Frauen 19, 24, 44, 231, 285–291 Frege, Gottlob 50–56, 90, 110–118, 120, 122, 132–135, 136, 140, 141, 144, 165–169, 188–191, 321 –, Begriffsschrift 51–53, 111, 113, 135, 136, 165 –, Grundgesetze der Arithmetik 52, 54, 55, 189 –, Grundlagen der Arithmetik 52, 53, 321 Freiburg, Universität von 93, 97 freie Assoziation 84, 86 Freiheit 11, 272–4 –, der Indifferenz 238 –, des Einzelnen 22, 23, 282–285

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–, des menschlichen Willens 192 –, menschliche 99, 100 –, unbegrenzte wissenschaftliche 300 –, und Notwendigkeit 238 Freud, Sigmund 83–88, 211–216, 327–329 freudsche Versprecher 212 Funktion (Frege) 111–117, 189, 190 Gattungen und Arten 37 Gavagai, die Lautfolge 77 Geach, Peter 255–257 Gebet 325, 326 Geburtenkontrolle 291 Gedanken 67, 89, 91, 133, 135, 144, 169, 216, 217, 324 Gedankenexperiment 77, 150, 301 Gefängnis siehe Panopticon Gefühle 98, 209, 210, 261, 264, 275, 276, 277, 278 Gegenstände 195, 196 –, Zahlen als 54, 55 Gehirn 56, 187, 197, 207, 223, 225–228 Geist 20, 59, 81, 92, 149, 151, 186, 191, 197, 201–228 geistige Akte 89, 93 geistiger Mechanismus 149, 223 geistiges Vorstellungsbild 133, 166, 167, 223 Gemeinsinn 262 Genie 205, 206, 263, 264, 285 Gentile, Giovanni 276 Gentzen, Georg 123 Geometrie 21, 53, 61, 153 Georg III. 15 Gerechtigkeit 14, 71, 236, 237, 258, 259, 281, 301, 326 Gerechtigkeitsempfinden 237, 289 Geschichte des Judentums 42, 320 geschichtliche Forschung und Glaube 308 Geschmacksurteil 261–263 Gewissheit 41, 42, 157–159, 175–178, 319 Geworfenheit 95 Glaube –, religiöser 25, 30, 41, 42, 58, 304, 307–309, 317–320, 322, 329 –, und Gewissheit 158 –, und Verifikation 176 –, und Wahrheit 57, 76 Glauben an eine unabhängige Außenwelt 171 Glaubensüberzeugungen 28, 327 Gleichförmigkeit der Natur 109 Gleichungen 146

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Register

Glück 19, 25, 27, 205, 235–237, 240, 258 –, größtmögliches 14, 15, 229–234, 280 Glückseligkeit, ewige 308 Glückskalkül 230, 231, 236, 280 Gödel, Kurt 55, 124, 125, 126 goldene Regel 254 Gott 25, 30, 31, 42, 56–58, 104, 188, 233, 256, 303–332 Green, T. H. 59 Grice, Paul 80 Gründe bestimmen Verhalten 79 gut und böse 246–251 Güte 27, 202, 254, 310 Gute, das 252, 261 guter Mensch 240, 241, 255, 274 Gutsein, das 185, 253 Hamilton, Sir William 22 Handlungen, immanente vs. transiente 210 Handwerk vs. Kunst 268, 274, 277, 278 Hare, R. M. 253–256 Harvard-Universität 47, 50, 56, 75, 207 Hedonismus 25, 232 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 29, 31, 32, 59, 60, 83, 179, 203, 303, 304 Heidegger, Martin 74, 83, 93–97, 98, 99 Heiligkeit 322, 323 Herrenmoral 44, 246 Hintikka, Jaakko 128 Historismus 300 Hitler, Adolf 66, 97, 299 Hobbes, Thomas 107 Holismus 76, 77 Hölle 100, 310 Holmes, Oliver Wendell 47, 326 Homosexualität 88 Homunkulus-Fehlschluss 225–227 Hume, David 14, 20, 97, 151, 256, 260 Husserl, Edmund 89–93, 97, 172–174, 218–221 Huxley, Thomas Henry 37 Hypothese 117–119, 174, 299 Ich 86, 214, 216 siehe auch Ego ideale Sprache 145 Idealismus 59, 60, 151, 179–185, 192, 193, 203 –, transzendentaler vs. empirischer 179 Ideen (Locke) 26, 205 Ideen (Platon) 185, 188, 190, 205, 268 Identität (Quine) 128, 199 Identität in verschiedenen Welten 199, 331

Ikons 136 illokutionärer Akt 101 Illusion, religiöse 327–329 Imperialismus 298 Implikation, strenge vs. materiale 126 indexikalische Ausdrücke 135 Individualität 29, 183, 241, 242, 243, 284 Indizes 136 Induktion 21, 108–110, 117–119 Intelligent Design 316 intentionale Begriffe 77 intentionaler Fehlschluss (intentional fallacy) 279 intentionales Objekt 91, 220 Intentionalität 91, 92, 218–221 Interpretation, Prinzip der wohlwollenden 79 Introspektion 149, 171, 210, 223, 224 Intuition 22, 276 Intuitionismus 25 intuitionistische Logik 123 Irrtum 175, 176 James, Henry 56, 58 James, William 47, 56–58 –, Die Vielfalt der religiösen Erfahrung 57, 323, 324 –, Pragmatismus 57 –, Prinzipien der Psychologie 56, 207, 209 Johannes vom Kreuz 232 Jowett, Benjamin 59, 300 Juden 246, 247 Jung, Carl Gustav 85 Kant, Immanuel 26, 27, 47, 53, 55, 83, 203, 229, 258, 261–264 Kapitalismus 35, 292–297, 299, 300, 304 kartesianisches Ego 81, 94, 97, 167, 221 Kennzeichnungen, Theorie der (definite descriptions) 140, 141 Kierkegaard, Søren Aabye 29, 30, 41, 243–246, 268, 270, 287–289, 303–309 –, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 30, 308 –, Entweder/Oder 29, 243–245, 268, 269, 287–289 –, Furcht und Zittern 30, 305–307 Klassen, gesellschaftliche 33 Klassengegensätze 293 Klassenkampf 33, 34 Knoten des Denkens 73 Kommunismus 33–35, 237, 292, 293, 297, 298

Register

Kommunistisches Manifest 33–35 Konnotationen 21, 107 Konsequenzen 57, 118, 137, 201–203 Konsequenzialisten vs. Absolutisten 233, 234 Konsistenz 124 Körper, menschlicher 26, 81, 82, 171, 181, 205–207, 209, 222, 228 Korrespondenz 58 Kraft und Willen 27, 181, 182 Krieg 250 Kripke, Saul 128–131 Kriterien vs. Symptome 225 Kunst 27, 43, 88, 206, 260–279 l’en-soi (das Ansichsein) 98, 99 Lamarck, J. B. 37, 38, 194 Landschaften der Kontemplation 265 le pour-soi (das Fürsichsein) 99 Leben, ästhetisches vs. ethisches 29, 30, 243–246, 268 Lebensexperimente 284, 285 Lebenswelt 174 Leibniz, Gottfried Wilhelm 60, 199 Leidenschaft 308, 309, 329 Lenin, V. I. 298 Lewis, C. I. 125–129 Liberalismus 24, 280–287 Liebe 194, 247, 260, 269, 288, 289 Liebe zur Wahrheit 156, 157 Linné, Carl von 37 Locke, John 26, 41, 156, 205, 209 Logik 21, 51–56, 62–64, 68, 76, 77, 107–132, 162, 163 –, der imperativischen Aussagen 253, 254 –, und Psychologie 90, 164–167 logische Form 67, 68, 142, 144, 145 logische Konstanten 120 logischer Atomismus 64–66, 195, 196 logischer Positivismus 69–71, 149, 151, 164, 196, 253 logisches Bild 67, 144 Logizismus 51–56, 60, 120–125 lokutionärer Akt 101 Lust 229–232 Madison, James 17 Magnetismus 27, 181 Malebranche, Nicholas 182 Malerei 263, 267, 273, 274 Manchester 33, 66

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männlicher Chauvinismus 289 Märtyrer 235 Marx, Karl 18, 31–36, 292–298, 300, 304 –, Das Kapital 34, 36, 300 –, Deutsche Ideologie 33 –, Kommunistisches Manifest 33, 34, 35 Materialismus 31–36, 80, 192, 193, 225, 292, 304 Mathematik 21, 51–54, 60, 61, 89, 123, 124, 146, 153, 166, 188 mauvais foi 100 Maya-Lehre 28 McTaggart, J. M. E. 59, 60 mechanistische Erklärungen 186, 188 Mehrwert 296 siehe auch Warenwert und Wert der Arbeitskraft Meinung 156 Mendel, Gregor 40 mentaler Prozess 149 Metaphysik 26–28, 69, 70, 73, 78, 80, 81, 102, 179–200, 242 Mill, James 17, 24, 309 Mill, John Stuart 17–25, 53, 107–110, 151, 153, 15 4, 179, 234–237, 282–287, 291, 309–312 –, Die Hörigkeit der Frau 22, 24, 286, 287, 289, 290 –, Drei Essays über Religion 24, 309–312 –, System der deduktiven und induktiven Logik 20–22, 107–110, 153–154 –, Über die Freiheit 22, 23, 28, 282–285, 291 –, Untersuchung der Philosophie von Sir William Hamilton 22 Modallogik 125–131 modelltheoretischer Ansatz 124 modus ponens 115 mögliche Welten –, und Metaphysik 199, 200 –, und Modalitäten 128–131 Möglichkeit vs. Notwendigkeit 126–129 Monismus 59, 65 Moore, G. E. 60, 63, 90, 252 Morgenstern identisch mit dem Abendstern 132, 133 Mormonen 285 Motive vs. Absichten 202 Mugwump 119 Musik 258–60 Mussolini, Benito 276, 299 Mynster, J. P. 30

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Register

Namen 21, 65, 67, 71, 72, 107, 114, 132–134, 140, 144, 150, 196 Napoleon 248 Nationalsozialismus 44, 89, 97, 299 naturalistischer Fehlschluss 252, 253 natürliche Auslese 313–316 natürliche Zuchtwahl 36–40, 186, 313 natürlicher Ort der Körper 186 Naturrecht 233, 234 Neurosen 85, 86, 88, 214 Neutralismus 192, 193 Newman, John Henry 40–42, 154–159, 176, 317–321 –, Apologia pro vita sua 41 –, Philosophie des Glaubens 41, 155–159, 317–320 Newton, Isaac 186 nichtnatürliche Eigenschaft 252, 253 Nichts, das 99 Nietzsche, Friedrich 42–46, 246–251, 270–273, 321, 322 –, Also sprach Zarathustra 44 –, Die Geburt der Tragödie 41, 270–273 –, Jenseits von Gut und Böse 44 –, Zur Genealogie der Moral 44 Noema 219, 220 Nominalismus vs. Realismus 107, 188–191 Notwendigkeit vs. Möglichkeit 126–129 Null-Klasse 52, 62 Ockham, William 51, 193 Ödipuskomplex 86, 213, 328 Okkasionalismus 182 Omnium, Herzogin von 111 Onkel Toms Hütte 275 ontologisches Argument 321, 330–332 Oper 268–270, 272, 273 ostentative Definition 70, 149–151 Oxford, Universität von 14, 40, 58, 59, 75, 80, 84, 154, 277 Oxford-Bewegung (Oxford Movement) 40 Panopticon 15, 16 Parlamentsreformen 17 Parmenides 99, 139 Partitur 143, 144 Peano, Giuseppe 61, 62, 83, 120 Peirce, Charles Sanders 47–50, 56–58, 117–119, 135–138, 160–165, 191–195, 200 performative Äußerungen 101 perlokutionärer Akt 101

Personalpronomen der 1. Person Singular –, Gegebenheitsweise 167 –, und Ego 221 –, und Gedanke eines Satzes 135 Personen als logische Kategorie 81 Pflicht 236, 245, 256, 289, 307 Phänomenalismus 20, 92 Phänomenologie 91–93, 94, 97 Philo 114 Philosophie 66, 68, 73, 80, 146, 197, 198 –, in Amerika, Beginn der 47 Phonozentrismus 102 Plantinga, Alvin 330–332 Platon 185, 188, 205, 215, 216, 229, 268, 272, 300, 304 Platonismus 60, 90, 172, 190 Polygamie 285, 290 Popper, Karl 71, 299, 300 Positivismus 19, 20, 43, 200 Positivismus, logischer 69–71, 72, 151, 253 Potemkin, Prinz 15 Prädikatenlogik 51, 111–115, 123, 124, 125 Pragmatismus 47–50, 57, 58, 137, 138, 164, 191, 325 Pragmatizismus 50, 57 Präskriptivismus 254 Priestley, Joseph 14 Prior, A. N. 129 private ostentative Definition 149, 151 Privatsprache 68, 102, 149–152, 175 Proletariat 21–3, 282–4 Prostitution 290 Protokollsätze 70, 71, 151 Psychoanalyse 83–88, 213, 214, 328 psychobiografische Darstellung 88 Psychologie 56, 207–211 Psychologismus 90 Psychose 86 Pythagoras 166 Quantifikation 48, 52, 113–117 quantifizierte Modallogik 127, 128 Quine, W. v. O. 75–78, 80, 128, 152, 199, 200 Rasiermesser, Ockhams 193 Raum 170, 173 Rawls, John 259, 301, 302 Realismus vs. Nominalismus 107, 188–191 Rée, Paul 43, 45 referentielle Opakheit 129 Reizende, das 266

Register

Relationen, Logik der 48, 60, 111, 136, 191, Religion 28, 31, 42, 59, 85, 242, 247, 293, 303–332 Renouvier, Charles 56 Ressentiment 247 Rhees, Rush 74, 75 Rheinische Zeitung 32, 33 rundes Quadrat 63, 139, 141 Ruskin, John 273, 274 Russell, Bertrand 50, 54, 55, 60–66, 78, 120–126, 138–142, 170–172, 220, 331 –, Analyse des Geistes 65, 220 –, Einführung in die Philosophie der Mathematik 63 –, Principia Mathematica 61, 62, 63, 120–125 –, Prinzipien der Mathematik 62 –, Probleme der Philosophie 170, 171 –, „Über das Kennzeichnen“ 63, 64, 140, 141 Russells Paradoxon 55, 62 Ryle, Gilbert 74, 80, 84, 90, 91, 96 S1–S5, Lewis’ Systeme 126–129 Sachverhalt 195, 196 Saint-Simon, Graf von 19, 20 Sakrament 164 Sartre, Jean-Paul 83, 97–100, 309 Sätze 133–135, 141–148, 152, 216, 217, 253 –, ohne Bedeutung 134 scheinbare Aussagen 68 Scheinsätze 145, 146 Schiller, F. C. S. 58 Schlechtigkeit siehe Bosheit Schleier des Nichtwissens 301 Schlick, Moritz 69–71, 151 Schlussfolgerung 51, 108–111, 117, 119, 141, 155, 156, 159 Schmerz 150, 151, 229–231 Schönheit 43, 260–267, 274, 275 Schopenhauer, Arthur 26–28, 87, 151, 179–185, 203–207, 237–242, 265–268, 289–290 –, Die Welt als Wille und Vorstellung 26–28, 42, 179–185, 265–268 Schweine 234, 235 Schwerkraft 182, 183 Scotus, Duns 48, 305 Sein 94, 98, 99, 139 siehe auch absolutes Sein Selbst 171–173, 221, 222, 241, 244, 245 siehe auch kartesianisches Ego Selbstgenügsamkeit 258 Selbstmord 27, 240

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Selbsttötung 251 Selbstverleugnung 27, 28, 43, 232, 242 Semantik 128, 136 Semiotik 50, 136 Sexualität 84–87, 104, 213 Sidgwick, Henry 24, 25, 256, 257 Sinn des Lebens 68 Sinn vs. Bedeutung 132–135, 144 Sinnesdaten 64, 65, 102, 170–172, 196 Sklavenmoral 248, 250 Sklaverei 292, 293, 301 Society for Psychical Research 25 Sokrates 30, 43, 245, 272, 307 Solipsismus 93, 151, 152, 173 Sollen vs. Sein 256 Sozialismus 19, 35, 44, 282, 292, 293, 296, 299 Spielzeuge im Gerichtssaal 143 Spinoza, Baruch 196 Spiritualismus 197, 221, 222 Sprache 63, 68, 71–73, 77, 79, 80, 81, 132–152, 204, 314–316 Sprachspiele 72, 73, 148–152, 175–177, 198 Sprechakte 101, 102 Sprung in den Glauben 243, 246 Stalin, Josef 298, 299 starrer Designator 130, 131 Stein, Gertrude 56 Stimme des Gewissens 42, 215 siehe auch Zeugnis des Gewissens Strawson, Peter 80–82 Subjekt vs. Prädikat 111–113 Sublimierung 85 Surrealismus 177 Syllogismus 21, 108, 109, 110, 111 Symbole 135, 136 Symbolismus 51, 116 Symptome vs. Kriterien 225 Synonymie 76 Syntaktik 136 Szientismus 78, 79 Tatsachen 67, 143, 144, 165, 195, 196, 217, 218 Tautologien 68, 122, 146 Taylor, Harriet 22, 23, 235, 285 Technologie 296, 298 Teleologie 185–188 teleologische Aufhebung/Suspension des Ethischen 30, 307 Tiere 169, 179, 180, 187, 204, 205, 231

356

Register

Tod 27, 102, 160, 207, 238, 240 –, des Autors 268 –, Gottes 42, 321, 322 Todesstrafe 282 Tolstoi, Leo 273, 274–276 Trägheit 26, 180 Tragödie 270–273 Traum, das Leben ein 168, 171 Träume 85, 176, 213, 214 Triaden 191 Trollope, Anthony 111, 112, 291 Tugendethik, Schule der 258 Tychismus 192 Typentheorie 62 Tyrell, Sir Walter 201, 202 Über-Ich 86, 214, 215 Überleben der bestangepassten Individuen 36–40 Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) 302 Übermensch 44, 249, 250 Überzeugungen 20, 57, 79, 80, 317–319 Umgangssprache 51, 67, 146, 148, 217 –, Sätze der 114, 115, 116, 145 Umwertung der Werte 246–251 Unabhängigkeit von Axiomen 124 siehe auch Axiome Unbestimmtheit 77 Unbewusste, das 85, 86, 211–216 Unfehlbarkeit, päpstliche 41, 138, 161 Universalien vs. Einzeldinge 64, 188 Universalisierbarkeit 254, 255 University College, London 17, 283 Unsterblichkeit der Person 25, 69, 81, 82, 207, 311, 312 unvollständige Symbole 64 Ursache –, und Wirkung 182 –, vs. Beweis 173 Urteile 59, 63, 174, 220, 248 –, ästhetische 260–263 –, ästhetische vs. Werturteile 262 –, moralische 254, 255, 301, 302, 320 Urvater 328 Urzustand (original position) 301 Utilitarismus 14–18, 19, 25, 203, 229–237, 281–282 Valenz 136 Vergeltung 281

Verhaltenszyklen 220, 221 Verifikationsprinzip 69, 70, 196 Vernunft 154, 155, 179, 180, 204 Verpflichtung 256 Verstand 179, 204 Verstehen 96, 144, 148, 149, 223 Verteilungsgerechtigkeit 237, 280 siehe auch Gerechtigkeit Verzweiflung 244 Vorsokratiker 94 Wagner, Richard 42, 43, 44, 184, 185, 270, 271, 273 Wahre, das 134, 135 Wahrheit 48, 57, 59, 76, 137, 138, 163, 248 Wahrheiten –, analytische vs. synthetische 76 –, induktive 154 Wahrheitsfunktionen 51, 115, 121, 122 Wahrheitstabellen 122–124 Wahrheitstheorie 79, 138 Wahrheitswerte 51, 134, 135, 144, 190 Wahrnehmung, immanente vs. transzendente 92, 93 Waismann, Friedrich 69 Wallace, Alfred Russell 36 Warenwert 293–295 siehe auch Wert der Arbeitskraft und Mehrwert Welby, Victoria 50 Welt, öffentliche vs. private 71, 167, 169 Weltauge 205 Weltbild 176, 177 Wert der Arbeitskraft 295, 296 siehe auch Warenwert und Mehrwert Wesen vs. Existenz 99 Wesenheiten 20, 90 Westminster Review 17, 18 Whitehead, A. N. 62, 120, 124, 126 Wien 66, 69, 83, 85, 89, 147, 212 Wiener Kreis 69–71, 75, 196 Wilberforce, Samuel 37 Wille 26, 27, 181–184, 204–207 Williams, Bernard 258, 259 Wirklichkeit 58, 59, 60, 162, 163 –, erste und zweite 211 –, vs. Möglichkeit 74, 198, 211 –, vs. Wahrheit 57, 137 Wissen 19, 21, 69, 92, 117, 153–178, 180, 181, 204, 239, 249 Wissenschaft vs. Religion 40, 42, 326 wissenschaftliche Methode 48, 160–165

Register

Wittgenstein, Ludwig 66–69, 71–74, 120–123, 141–152, 175–178, 195–198, 206, 216–218, 221–228, 278, 329 –, Nachlass 75 –, Philosophische Untersuchungen 74 –, Tractatus 66–69, 71, 72, 78, 141–146, 195–197, 216–218, 329 –, Über Gewissheit 75, 175–178 Wollust 203 Wordsworth, William 18, 264, 275 Wright, Georg Henrik von 74, 75, 120 Wünsche 27, 79, 80, 86, 100, 160, 205, 206, 254, 327 Wyclif, John 189 Zahl und Begriff 54 Zahlen 52–55, 62, 89, 90, 114, 125, 153, 154, 188, 189

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Zeichen, natürliche vs. ikonische 136 Zeit, Logik der 129 Zeitstufen des Verbs 135 Zeugnis des Gewissens 320 siehe auch Stimme des Gewissens Zirbeldrüse 226, 227 zufällige Umstände bei der Bewertung einer moralischen Situation 258, 259 Zugänglichkeit 129 Zuhandene, das 94, 96 Zustand vs. Vorgang (Verstehen von Sprache) 149 Zustimmung –, einfache vs. komplexe 157 –, zu einer Schlussfolgerung 155–157 Zweckdienlichkeit 236, 237 Zweifel 68, 160, 163, 164, 170–173, 175, 308